Protokoll:
12041

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 12

  • date_rangeSitzungsnummer: 41

  • date_rangeDatum: 19. September 1991

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:52 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 12/41 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 41. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 Inhalt: Begrüßung des Präsidenten der Nationalversammlung der Republik Ungarn und einer Delegation sowie Hinweis auf die Enthüllung einer Gedenktafel am Reichstagsgebäude 3355 A Erweiterung der Tagesordnung 3355 C Vertagung der von der PDS/Linke Liste beantragten Aktuellen Stunde 3355 D Tagesordnungspunkt 4: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Juni 1988 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die gegenseitige Hilfeleistung bei Katastrophen einschließlich schweren Unglücksfällen (Drucksache 12/758) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Stasi-Unterlagen-Gesetz — StUG) (Drucksache 12/1093) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Mai 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Bangladesch zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen (Drucksache 12/756) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. Oktober 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Indonesien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksache 12/757) e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. November 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Neuseeland über den Luftverkehr (Drucksache 12/938) f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. September 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Argentinischen Republik über den Luftverkehr (Drucksache 12/759) g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. April 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Venezuela über den Luftverkehr (Drucksache 12/1057) h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. April 1989 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika zur Ergänzung des Abkommens vom 7. Juli II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 1955 über den Luftverkehr (Drucksache 12/1058) i) Erste Beratung des von der Bundesrepublik eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 16. Mai 1991 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Beendigung der Tätigkeit der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut (Drucksache 12/939) j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Eichgesetzes (Drucksache 12/746) k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Übertragung der Auf gaben der Bahnpolizei und der Luftsicherheit auf den Bundesgrenzschutz (Drucksache 12/1091) 1) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juni 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit (Drucksache 12/1131) m) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 14. November 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze (Drucksache 12/1132) n) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes, des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze (Drucksache 12/1134) o) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Maßnahmen gegen Israel-Boykott-Verpflichtungen deutscher Firmen bei Verträgen mit Drittländern (Drucksache 12/554) p) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Moratorium für Rüstungsexporte in den Nahen und Mittleren Osten (Drucksache 12/744) q) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Keine weiteren israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten (Drucksache 12/824) r) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Bericht zu Stand und Perspektiven der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland (Drucksache 12/825) s) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundesrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1990 — Einzelplan 20 — (Drucksache 12/893 [neu]) t) Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen: Einwilligung in die Veräußerung eines Grundstücks in Berlin gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung (Drucksache 12/1008) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zum Ausgleich von Auswirkungen besonderer Schadensereignisse in der Forstwirtschaft (Forstschäden-Ausgleichsgesetz) (Drucksache 12/1056) 3355 D Tagesordnungspunkt 5: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses zu den gegen die Gültigkeit der Wahl zum 12. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen (Drucksache 12/1002) Horst Eylmann CDU/CSU 3358 A Johannes Singer SPD 3358 C Tagesordnungspunkt 6: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten Jahresbericht 1990 (Drucksachen 12/230, 12/1073) Alfred Biehle, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages 3359 C Paul Breuer CDU/CSU 3361 A Dieter Heistermann SPD 3362 C Jürgen Koppelin FDP 3364 B Vera Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE 3365 D Günther Friedrich Nolting FDP . . . 3366 B Claire Marienfeld CDU/CSU 3367 A Walter Kolbow SPD 3368 B Paul Breuer CDU/CSU 3368 C Heinz-Alfred Steiner SPD 3368 D Günther Friedrich Nolting FDP . . . 3369 D Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister BMVg 3370 D Walter Kolbow SPD 3371D, 3373 A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 III Tagesordnungspunkt 7: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Roth, Gert Weisskirchen (Wiesloch), Manfred Opel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Ausgleich der Folgen von Abrüstung, Truppenreduzierungen und Standortauflösungen in strukturschwachen Regionen (Drucksache 12/882) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Achim Großmann, Norbert Formanski, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Verbilligte Abgabe von Grundstücken sowie von Wohnungen aus Bundesbesitz für den sozialen Wohnungsbau und für andere gemeinnützige Zwecke (Drucksache 12/884) Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD . . . 3373 D Ernst Hinsken CDU/CSU 3375 B Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 3377 C Dr. Walter Hitschler FDP 3378 D Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär BMWi 3380 B Brigitte Schulte (Hameln) SPD 3381 D Jürgen Koppelin FDP 3382B, C Elke Wülfing CDU/CSU 3383 D Ernst Schwanhold SPD 3385 D Ernst Hinsken CDU/CSU . . . 3386A, 3387B Günther Friedrich Nolting FDP . . . 3386 B Günther Friedrich Nolting FDP 3388 A Ernst Schwanhold SPD 3388 C Walter Kolbow SPD 3388D, 3389 A Dieter Heistermann SPD 3389 C Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär BMF 3390 D Otto Reschke SPD 3391 B Hans-Wilhelm Pesch CDU/CSU 3393 D Karl Diller SPD 3394 A Dr. Walter Hitschler FDP 3394 B Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär BMBau 3395 D Otto Reschke SPD 3396 A Tagesordnungspunkt 8: Beratungen ohne Aussprache a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Dezember 1989 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Ungarn über den Luftverkehr (Drucksache 12/341) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr (Drucksache 12/789) b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 19 zu Petitionen (Rechtsstellung der Dienstpflichtigen — Entlassungsgeld) (Drucksache 12/685) c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 24 zu Petitionen (Einkommensteuer) (Drucksache 12/810) d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zur Unterrichtung durch die Bundesregierung: Verringerung der Schuldenlast der AKP-Staaten gegenüber der Gemeinschaft — Mitteilung der Kommission an den Rat — Ratsdok. Nr. 4345/91 — (Drucksachen 12/187 Nr. 2.2, 12/311 [Berichtigung], 12/1113) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Einhundertvierzehnte Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste — Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz — (Drucksachen 12/623, 12/1157) 3397 C Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung): Fragestunde — Drucksache 12/1141 vom 13. September 1991 — Vollstreckungshilfevertrag mit dem Königreich Thailand; Betreuung der deutschen Inhaftierten in thailändischen Gefängnissen MdlAnfr 12,13 Jürgen Koppelin FDP Antw StMin Helmut Schäfer AA . 3398C, 3399 A ZusFr Jürgen Koppelin FDP . . . 3398D, 3399 A ZusFr Dr. Hans de With SPD 3399 C Kontrollmöglichkeiten der internationalen Atombehörde (IAEO) im Irak MdlAnfr 15 Klaus Harries CDU/CSU Antw StMin Helmut Schäfer AA 3399 D ZusFr Klaus Harries CDU/CSU 3400 A Hilfe für die Bevölkerung der sowjetischen Republiken bei einer drohenden Hungersnot im Winter; Bedingungen für die Gewährung finanzieller und wirtschaftlicher Hilfe MdlAnfr 16, 17 Gernot Erler SPD Antw StMin Helmut Schäfer AA . 3400B, 3401B ZusFr Gernot Erler SPD . . . . 3400D, 3401B ZusFr Eike Ebert SPD 3401 D IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 Intervention gegen die weitere Versteigerung enteigneten sudetendeutschen Immobilienbesitzes durch CSFR-Behörden, insbesondere in Karlsbad MdlAnfr 18 Eike Ebert SPD Antw StMin Helmut Schäfer AA 3402 A ZusFr Eike Ebert SPD 3402 B ZusFr Gernot Erler SPD 3402 C Gespräche von Bundesaußenminister Genscher über die Auslieferung von Erich Honecker bei seinem jüngsten Besuch in Moskau MdlAnfr 20, 21 Dr. Hans de With SPD Antw StMin Helmut Schäfer AA . 3402D, 3403 B ZusFr Dr. Hans de With SPD . . 3402D, 3403 B ZusFr Gernot Erler SPD 3403 C Ausstattung von Bundestag und Bundesbehörden mit Öko-Lampen MdlAnfr 64 Jutta Müller (Völklingen) SPD Antw PStSekr Bernd Schmidbauer BMU . 3403 D ZusFr Jutta Müller (Völklingen) SPD . . . 3404 B Ausklammerung der Beanstandungen der Trinkwasserqualität in den neuen Bundesländern im von Bundesumweltminister Dr. Töpfer vorgelegten Bericht „Sofortprogramm Trinkwasser 1990" ; Bereitstellung der Mittel zur Untersuchung und Sanierung der Trinkwasseraufbereitungs- und versorgungsanlagen MdlAnfr 65, 66 Susanne Kastner SPD Antw PStSekr Bernd Schmidbauer BMU . 3404 C, 3405 A ZusFr Susanne Kastner SPD . . . 3404D, 3405 C Änderung der vom Bundesnachrichtendienst (BND) dem Bundeskanzleramt vorgeschlagenen Antwort auf die Schriftliche Anfrage 1 in Drucksache 11/6737 betr. Unterstützung des ehemaligen DDR-Staatssekretärs Dr. Schalck-Golodkowski bei dessen Flucht aus der DDR durch den BND MdlAnfr 67, 68 Peter Conradi SPD Antw StMin Dr. Lutz G. Stavenhagen BK . 3406C, 3408 C ZusFr Peter Conradi SPD . . . . 3406D, 3408 C ZusFr Friedhelm Julius Beucher SPD 3407A, 3409 B ZusFr Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE 3407 C, 3409 C ZusFr Horst Peter (Kassel) SPD 3407 C ZusFr Wolfgang Roth SPD . . . 3407D, 3409 B ZusFr Dorle Marx SPD 3408 A Information der „beteiligten Stellen" über die „Gesamtdarstellung der BND-Behandlung der Schalck-Golodkowski-Angelegenheit einschließlich der Frage der Personaldokumente"; personelle Konsequenzen aus der falschen Unterrichtung des Bundeskanzleramtes MdlAnfr 69 Horst Peter (Kassel) SPD Antw StMin Dr. Lutz G. Stavenhagen BK . 3409D Tagesordnungspunkt 9: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 13 zu Petitionen (Abfallbeseitigung) (Drucksache 12/381) . 3409D Tagesordnungspunkt 10: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 23 zu Petitionen (Verkehrstarife) (Drucksache 12/809) . . . 3410A Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung der Familien und zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze (Steueränderungsgesetz 1992 — StÄndG 1992) (Drucksache 12/1108) Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 3410 C Ingrid Matthäus-Maier SPD . . 3411A, 3414 D Dr. Norbert Wieczorek SPD 3417 A Wilfried Seibel CDU/CSU 3419B Hans H. Gattermann FDP 3421 C Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU 3425 A Ingrid Matthäus-Maier SPD 3426 C Dr. Theodor Waigel CDU/CSU . . . 3427 C Dr. Ulrich Briefs PDS/Linke Liste . . . 3429 B Hans H. Gattermann FDP 3431 A Eike Ebert SPD 3434 B Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU . . . 3435 C Gunnar Uldall CDU/CSU 3437 B Dr. Peter Struck SPD 3437 C Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Linke Liste 3439 B Hermann Rind FDP 3440 C Dr. Ulrich Briefs PDS/Linke Liste . . . 3440 D Michael Habermann SPD 3442 C Peter Harald Rauen CDU/CSU 3445 B Tagesordnungspunkt 12: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (FGO-Änderungsgesetz) (Drucksache 12/1061) . 3446D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 V Tagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom 8. Oktober 1990 über die Internationale Kommission zum Schutz der Elbe (Drucksache 12/869) 3447 A Tagesordnungspunkt 14: Beratung des Antrags der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Transparenz über Reisen des Deutschen Bundestages gegenüber den Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen (Drucksache 12/612 [neu]) Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . 3447 C Wolfgang Lüder FDP 3448 A Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von der Gruppe PDS/ Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rechtsgleichstellung von Homosexualität und Heterosexualität im Strafrecht (Sexualgleichstellungsgesetz) (Drucksache 12/850) Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . . 3448 D Tagesordnungspunkt 16: Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/Linke Liste Einsetzung eines Untersuchungsausschusses (Stasi-Unterlagen) (Drucksache 12/881) 3450 C Vizepräsidentin Renate Schmidt 3450 B Nächste Sitzung 3450 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 3451*A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 9 (Sammelübersicht 13 zu Petitionen — Abfallbeseitigung —) Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU 3451*D Horst Peter (Kassel) SPD 3454 B Birgit Hamburger FDP 3454' D Jutta Braband PDS/Linke Liste 3456* A Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 10 (Sammelübersicht 23 zu Petitionen — Verkehrstarife —) Jürgen Augustinowitz CDU/CSU 3456*D Horst Peter (Kassel) SPD 3457' B Horst Friedrich FDP 3457' D Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste 3458* C Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär BMV 3459* A Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 11 (Steueränderungsgesetz 1992) Werner Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 3459*C Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 12 (Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze) Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ . . 3461*D Dr. Franz-Hermann Kappes CDU/CSU . . 3463* A Dr. Hans de With SPD 3463' D Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 3464* C Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 13 (Entwurf eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom 8. Oktober 1990 über die Internationale Kommission zum Schutz der Elbe) Dr. Norbert Rieder CDU/CSU 3465* C Dietmar Schütz SPD 3466' C Reinhard Weis (Stendal) SPD 3467*D Dr. Jürgen Starnick FDP 3469*A Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU 3470*A Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU . 3471*A Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 14 (Antrag betr. Transparenz über Reisen des Deutschen Bundestages gegenüber den Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen) Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU 3471*C Gudrun Weyel SPD 3472*B Wolfgang Lüder FDP 3473* A Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste 3473* C Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 15 (Sexualgleichstellungsgesetz) Horst Eylmann CDU/CSU 3474*B Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD 3474* D Jörg van Essen FDP 3475' C Christina Schenk Bündnis 90/GRÜNE . 3476*C Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ . 3477* A Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 16 (Einsetzung eines Untersuchungsausschusses) VI Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU 3478* A Rolf Schwanitz SPD 3479' A Dr. Jürgen Schmieder FDP 3479* D Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . 3480*C Ursula Jelpke PDS/Linke Liste 3481* D Anlage 10 Neugestaltung der Politik gegenüber Zaire MdlAnfr 14 — Drs 12/1141 — Ortwin Lowack fraktionslos SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . . 3483* C Anlage 11 Revisionsvorschläge der Bundesregierung an die verbündeten Streitkräfte zum NATOTruppenstatut und zum Zusatzabkommen MdlAnfr 19 — Drs 12/1141 — Ludwig Stiegler SPD SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . . 3483 D Anlage 12 Einführung des Katalysators für dieselbetriebene Pkw und Lkw MdlAnfr 61 — Drs 12/1141 — Klaus Harries CDU/CSU SchrAntw PStSekr Bernd Schmidbauer BMU 3484* A Anlage 13 Einsatz von Altöl und nicht handelsüblichen Brennstoffen in Zementwerken MdlAnfr 62, 63 — Drs 12/1141 — Dr. Peter Paziorek CDU/CSU SchrAntw PStSekr Bernd Schmidbauer BMU 3484* D Anlage 14 Information der „beteiligten Stellen" über die „Gesamtdarstellung der BND-Behandlung der Schalck-Golodkowski-Angelegenheit einschließlich der Frage der Personaldokumente" ; personelle Konsequenzen aus der falschen Unterrichtung des Bundeskanzleramtes MdlAnfr 70 — Drs 12/1141 — Horst Peter (Kassel) SPD SchrAntw StMin Dr. Lutz G. Stavenhagen BK 3484*D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3355 41. Sitzung Bonn, den 19. September 1991 Beginn: 9.00 Uhr
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    *) Anlage 9 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Antretter, Robert SPD 19. 09. 91 * Bargfrede, Heinz-Günter CDU/CSU 19. 09. 91 Bindig, Rudolf SPD 19. 09. 91* Blunck, Lieselott SPD 19. 09. 91 ' Böhm (Melsungen), CDU/CSU 19. 09. 91* Wilfried Börnsen (Ritterhude), SPD 19. 09. 91 Arne Brandt, Willy SPD 19. 09. 91 Dr. Brecht, Eberhard SPD 19. 09. 91* Büchler (Hof), Hans SPD 19. 09. 91* Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 19. 09. 91* Bulmahn, Edelgard SPD 19. 09. 91 Buwitt, Dankward CDU/CSU 19. 09. 91* Daubertshäuser, Klaus SPD 19. 09. 91 Ehlers, Wolfgang CDU/CSU 19. 09. 91 Dr. Ehmke (Bonn), Horst SPD 19. 09. 91 Dr. Feige, Klaus-Dieter Bündnis 19. 09. 91 90/GRÜNE Feilcke, Jochen CDU/CSU 19. 09. 91* Dr. Feldmann, Olaf FDP 19. 09. 91* Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 19. 09. 91* Gansel, Norbert SPD 19. 09. 91 Gibtner, Horst CDU/CSU 19. 09. 91* Großmann, Achim SPD 19. 09. 91 Günther (Plauen), FDP 19. 09. 91 Joachim Dr. Gysi, Gregor PDS 19. 09. 91 Haack (Extertal), SPD 19. 09. 91 Karl-Hermann Heise, Manfred Harald CDU/CSU 19. 09. 91 Heinrich Hilsberg, Stephan SPD 19. 09. 91 Dr. Holtz, Uwe SPD 19. 09. 91* Iwersen, Gabriele SPD 19. 09. 91 Junghanns, Ulrich CDU/CSU 19. 09. 91* Kittelmann, Peter CDU/CSU 19. 09. 91* Koltzsch, Rolf SPD 19. 09. 91 Koschyk, Hartmut CDU/CSU 19. 09. 91 Krause (Dessau), CDU/CSU 19. 09. 91 Wolfgang Kubicki, Wolfgang FDP 19. 09. 91 Lenzer, Christian CDU/CSU 19. 09. 91 ' Dr. Leonhard-Schmid, SPD 19. 09. 91 Elke Lintner, Eduard CDU/CSU 19. 09. 91 Lühr, Uwe FDP 19. 09. 91 Lummer, Heinrich CDU/CSU 19. 09. 91 Dr. Luther, Michael CDU/CSU 19. 09. 91 Männle, Ursula CDU/CSU 19. 09. 91 Marten, Günter CDU/CSU 19. 09. 91* Mascher, Ulrike SPD 19. 09. 91* Dr. Meyer zu Bentrup, CDU/CSU 19. 09. 91* Reinhard Abgeordneter) entschuldigt t einschließlich Michels, Meinolf CDU/CSU 19. 09. 91* Dr. Möller, Franz CDU/CSU 19. 09. 91 Molnar, Thomas CDU/CSU 19. 09. 91 Mosdorf, Siegmar SPD 19. 09. 91 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 19. 09. 91 * Nitsch, Johannes CDU/CSU 19. 09. 91 Nolte, Claudia CDU/CSU 19. 09. 91 Opel, Manfred SPD 19. 09. 91** Dr. Pfennig, Gero CDU/CSU 19. 09. 91* Pfuhl, Albert SPD 19. 09. 91 * Dr. Pohler, Hermann CDU/CSU 19. 09. 91 Priebus, Rosemarie CDU/CSU 19. 09. 91 Dr. Probst, Albert CDU/CSU 19. 09. 91 * Reddemann, Gerhard CDU/CSU 19. 09. 91* Reimann, Manfred SPD 19. 09. 91* Rempe, Walter SPD 19. 09. 91 von Renesse, Margot SPD 19. 09. 91 Sauer (Salzgitter), Helmut CDU/CSU 19. 09. 91 Schartz (Trier), Günther CDU/CSU 19. 09. 91 von Schmude, Michael CDU/CSU 19. 09. 91* Dr. Schulte (Schwäbisch CDU/CSU 19. 09. 91 Gmünd), Dieter Sielaff, Horst SPD 19. 09. 91 Skowron, Werner H. CDU/CSU 19. 09. 91 Dr. Soell, Hartmut SPD 19. 09. 91* Dr. Sperling, Dietrich SPD 19. 09. 91 Dr. Frhr. von Stetten, CDU/CSU 19. 09. 91 Wolfgang Dr. von Teichman und FDP 19. 09. 91 * Logischen, Cornelie Terborg, Margitta SPD 19. 09. 91* Vogel (Ennepetal), CDU/CSU 19. 09. 91* Friedrich Vosen, Josef SPD 19. 09. 91 Wiechatzek, Gabriele CDU/CSU 19. 09. 91 Zierer, Benno CDU/CSU 19. 09. 91 * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 9 (Sammelübersicht 13 zu Petitionen Abfallbeseitigung -) Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Technik und Industrie dienen dem Menschen, aber ihre Entfaltung verbindet sich auch mit bedrohlichen Nebenwirkungen. Die globalen Umweltgefahren zeigen uns die Ambivalenz des Fortschritts, das Janusgesicht der Technik. Die Bürger spüren die schleichende Umweltzerstörung. Es ist gut, wenn sie sich in Initiativen zusam- 3452' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 menschließen, um die Politiker zu zwingen, sich mit den Umweltproblemen zu beschäftigen. Bürger aus Kassel lenken unsere Aufmerksamkeit auf einen Teil der Bedrohung, den lawinenartig ansteigenden Hausmüll. Seit den 50er Jahren hat sich der Umfang des Hausmülls verfünffacht. Er beträgt in der Bundesrepublik zur Zeit etwa 14 Millionen Tonnen im Jahr. Ein Blick in unsere Mülltonne genügt, um die Ursache des Müllberges auszumachen: Verpackungen aller Art. Etwa die Hälfte des Umfangs unseres Hausmülls besteht aus Kartons, Flaschen, Dosen, Kunststoffbeuteln, Styropor-Füllseln usw. 1960 wurden bei uns 1,8 Millionen Tonnen Verpakkungen hergestellt, 1970 waren es bereits 10 Millionen. Marketingstrategien führten zu einer Funktionsänderung von Verpackungen: von der Schutzaufgabe zum Werbeträger. 1990 erzielte die Verpackungsindustrie einen Jahresumsatz von 48 Milliarden DM. Mit jeder Verpackung steigen der Energieverbrauch und die Umweltbelastung. Mit der Energie, die z. B. für die Herstellung von Kunststoff-Joghurtbechern in Deutschland jährlich verbraucht wird, könnten etwa 10 000 Einfamilienhäuser ein Jahr lang beheizt werden. Der gesamte EG-Müllberg beträgt eine Milliarde Tonnen im Jahr. Ein Viertel davon kommt aus Deutschland. Viele Deponien sind randvoll oder werden es in zwei oder drei Jahren sein. Die Bürger wehren sich gegen neue Müllhalden, oft auch gegen die Müllverbrennung. Der Müllexport ist heute ebenfalls keine Lösung mehr. Werden wir also am Müll erstikken? Es sieht fast so aus. Im Jahr 2030 werden 10 Milliarden Menschen auf der Welt leben. Fast alle wünschen sich einen ähnlichen Lebensstandard, wie ihn die Bewohner des reichen Nordens und Westens unserer Erde kennen. Würden sie pro Kopf so viel Müll produzieren wie heute ein Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika, so würde das jährlich 400 Milliarden Tonnen festen Abfall bedeuten, ausreichend, um das Saarland mehr als 60 Meter tief zu begraben. Es gibt deshalb eine große strategische Aufgabe: Wir müssen das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch abkoppeln. Wir brauchen eine Mülldiät — durch Abfallvermeidung, Abfallverwertung und ordnungsgemäße Abfallentsorgung. Was die Verwirklichung dieser Zielsetzung angeht, so ist die Bundesrepublik Deutschland weltweit Spitzenreiter. Die Umweltminister Walter Wallmann und — noch mehr — Klaus Töpfer haben innerhalb weniger Jahre einen Rechtsrahmen geschaffen, der trotz des anhaltenden Wirtschaftswachstums schon in wenigen Jahren zu einer deutlichen Entschärfung des Müllproblems führen wird. Frances Cairncross von der britischen Zeitschrift „The Economist" führt dazu aus: „Andere europäische Länder rennen hinter Deutschland her. " In der Tat: Qualität und Tempo der rechtlichen Umsetzung der Koalitionsvereinbarungen zum Thema Abfall sind beeindruckend. Es entsteht ein völlig neuer Ordnungsrahmen für unsere Wirtschaft, wir sind auf dem besten Weg zu einer ökosozialen Marktwirtschaft. Die Bürgerinitiative verweist auf § 14 des Abfallgesetzes, der die Bundesregierung zum Erlaß von Rechtsverordnungen zur Durchsetzung der Grundforderungen Abfallvermeidung, Abfallverwertung und ordnungsgemäße Abfallentsorgung ermächtigt. Er verpflichtet die Bundesregierung jedoch auch, der Wirtschaft die Möglichkeit zu geben, vor dem Erlaß von Verordnungen die wesentlichen Ziele der Mülldiät freiwillig zu erreichen. Die erste Verordnung auf der Grundlage des Abfallgesetzes ist die Altölverordnung, die am 1. November 1987 in Kraft trat. Sie trägt entscheidend dazu bei, daß Altöle nicht mehr in den Hausmüll gelangen oder mit Abfällen aus Industrie und Gewerbe vermischt werden. In keinem anderen EG-Staat gibt es eine vergleichbare Regelung. Am 1. Januar 1990 trat ferner eine Verordnung der Bundesregierung zur Rücknahme und Verwertung gebrauchter halogenierter Lösemittel in Kraft. Damit wurde die Praxis beendet, diese Stoffe auf See zu verbrennen. Am 21. Juni 1991 trat die Verpackungsordnung in Kraft, die das wesentliche Anliegen der Bürgerinitiative aus Kassel nach meiner Überzeugung berücksichtigt. Industrie und Handel wird die Rücknahme und Wiederverwendung bzw. stoffliche Verwertung von Verpackungen als Pflicht auferlegt. Der Verbraucher hat das Recht, Verpackungen dem Laden zurückzugeben. Ab 1. Dezember 1991 müssen Industrie und Handel Transportverpackungen zurücknehmen, ab 1. April 1992 Umverpackungen und ab 1. Januar 1993 Verkaufsverpackungen. Diese müssen im Laden oder in dessen unmittelbarer Nähe zurückgenommen werden, um anschließend einer Verwertung zugeführt zu werden. Als zusätzlichen Anreiz für den Verbraucher, Verpackungen wirklich zurückzugeben, wird ebenfalls ab dem 1. Januar 1993 zusätzlich ein Pflichtpfand von 50 Pfennig für Wasch- und Reinigungsmittel- und für alle Einweg-Getränkeverpakkungen erhoben. Ein generelles Verbot von Einwegflaschen wäre nicht EG-vertragsgemäß, da durch ein solches Verbot ausländische Anbieter benachteiligt würden, indem diesen ein unmittelbares Handelshemmnis aufgezwungen würde. Der Einweg ist auch ohne Verbot ein Weg, dessen Ende in Sicht ist. Statt „ex und hopp" nun „ex und stop". Es ist zu begrüßen, daß die Bundesregierung in erster Linie nicht mit Verboten und Geboten ihre Umweltziele verfolgt, sondern mit Anreizen bzw. finanziellen Zusatzbelastungen. Dadurch wird ein Steuerungseffekt ausgeübt, der der Wirtschaft die Möglichkeit zur Anpassung vor allem durch die Entwicklung neuer Produkte, Produktionsverfahren und Entsorgungstechniken gibt. Die Verpackungsverordnung gibt der Wirtschaft die Möglichkeit, durch verbraucherfreundliche Erfassungssysteme die Rücknahme-und Pfandpflicht am Laden zu ersetzen. Allerdings muß gewährleistet sein, daß die Zielsetzung der Verpackungsverordnung auch wirklich erfüllt wird. Deshalb hat die Bundesregierung festgelegt, daß ab 1. Januar 1993 bis zum 30. Juni 1995 jährlich mindestens 50 % aller Verpackungen durch ein solches System Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3453 erfaßt werden müssen. Danach beträgt die Quote mindestens 80 %, und zwar nicht mehr auf die Verpakkungsmenge insgesamt, sondern auf jeden einzelnen Rohstoff bezogen. Ab 1. Juli 1995 müssen bestimmte Sortierungsquoten erreicht werden: Für Glas, Weißblech und Aluminium betragen sie 90 %, für die übrigen Verpackungen jeweils 80 %. Alle aussortierten Wertstoffe müssen stofflich verwertet werden. Die Verbrennung von Verpackungswertstoffen wird ausgeschlossen. Ferner ist festgelegt, daß der Mehrweganteil bei Getränkeverpackungen nicht unter den heutigen Anteil von 72 % sinken darf. Um diese Anforderungen zu erreichen, muß die Wirtschaft große Anstrengungen auf sich nehmen. Von Flensburg bis Passau müssen Holsysteme organisiert werden oder flächendeckend Sammelcontainer aufgestellt werden. Über 400 Firmen haben sich zum „Dualen System Deutschland (DSD) " zusammengeschlossen, um dieses gewaltige Verfahren zu organisieren. Ihr Ziel ist es, einen „Meilenstein in der Geschichte unserer Industriegesellschaft" zu setzen. Sie will „Abfallvermeidung ohne Verarmung der Sortimentsvielfalt, ohne Gängelung der Verbraucher, ohne Diskriminierung von kleinen und mittleren Handelsunternehmen und ohne Einrichtung von Handelsbarrieren im europäischen Markt" organisieren. Die Teilnehmer am dualen System erhalten das Privileg, ihre Verpackungen mit einem grünen Punkt zu kennzeichnen. Damit wird dem Verbraucher signalisiert, welche Produkte von welchen Unternehmen sich an dem umweltfreundlichen dualen System beteiligen. Wer nicht mitmacht, den kann der Verbraucher bestrafen. Er läßt die Ware im Regal liegen. Die Einwohner von Potsdam werden die Pioniere beim Einstieg in die Verwertungsgesellschaft sein. Hier sollen erste Erfahrungen mit dem Recyclingsystem gesammelt werden. Insgesamt werden für die Stadt 300 Stationen mit je 5 und 300 Kilogramm fassenden Containern für Glas und Papier sowie für Metall, Kunststoff und Verbundstoffe bereitstehen. Wir werden ein Volk von Vorsortierern und Sammlern. Den Rahmen für freiwillige Vereinbarungen zu setzen und damit der Wirtschaft Spielräume für eigene Entscheidungen und branchengerechte Anpassung zu ermöglichen hat die Politik der Koalition auch in anderen Bereichen geprägt. Am 9. September 1989 kam es zu einer freiwilligen Selbstbindung der Batterie-Industrie und des Handels zur Reduzierung des Quecksilbergehalts in Batterien sowie zur Zurücknahme und Verwertung schadstoffhaltiger Batterien. Diese Vereinbarung bewirkte eine drastische Verringerung der Schwermetallgehalte bereits an der „Quelle" und hat wegen der Rückgabemöglichkeit bereits jetzt zu einer deutlichen Senkung des Quecksilbereintrags in den Hausmüll geführt. Es gibt weitere ähnliche Vereinbarungen, z. B. zwischen dem Bundesumweltminister und dem Verband der chemischen Industrie vom 30. Mai 1990. Darin haben sich die FCKW-Hersteller verpflichtet, die bei der Entsorgung von Kühlschränken und Klimageräten anfallende FCKW-haltige Kältehöhle zurückzunehmen, aufzuarbeiten oder einer ordnungsgemäßen Entsorgung zuzuführen. Für die nahe Zukunft sind weitere Verordnungen geplant. Wir alle sollten Bundesminister Töpfer bei seinem Vorhaben unterstützen, die Rücknahmepflicht für Altautos anzustreben. Sie ist als Teil einer neuen Produktverantwortung von großer Bedeutung. Die Produktion von Gütern, ihre Verteilung, ihr Ge- und Verbrauch sowie die stoffliche Verwertung oder umweltverträgliche Entsorgung sind als geschlossenes System zu verstehen. Wir müssen lernen, vom Abfall her zu denken, also bereits beim Produzieren ans Entsorgen zu denken. Volkswagen ist das erste deutsche Unternehmen, das jetzt freiwillig angekündigt hat, Altautos zurückzunehmen. Auch die Berufung des Umweltexperten Professor Steger in den Vorstand von VW zeigt den Bewußtseinswandel in unserer Wirtschaft. Immer mehr Unternehmen erkennen, daß sie sich Marktvorteile verschaffen können, wenn sie umweltbewußt handeln. In immer mehr Unternehmen werden heute bereits bei der Planung eines Produktes Vermeidungs- und Verwertungsaspekte berücksichtigt, wird nach Möglichkeiten zur Energieeinsparung gesucht und wird der Schadstoffausstoß reduziert. Ökobilanzen und Stoffkreisläufe setzen sich durch. Solch ökologisches Verantwortungsbewußtsein zu fördern und verantwortungsloses Handeln gegenüber der Umwelt zu erschweren — darin liegt ein besserer Weg als in der Verbotsmethode. Ökologie kann letztlich nur mit Hilfe der Ökonomie wirklich durchgesetzt werden. Wir brauchen die große Kraft und Phantasie von Wirtschaft und Technik, um die Umweltgefahren unserer Zeit zu bannen. Ich unterstütze deshalb die Bundesregierung nachhaltig bei ihrem Vorhaben, durch eine Abfallabgabe im Rahmen eines Abfallabgabengesetzes weitere Anreize zur Abfallvermeidung zu schaffen und Eigeninitiative und Innovationskraft der Wirtschaft zu stärken. Die von der Koalition geplante Abfallabgabe ist zugleich umweltfreundlich und wirtschaftsverträglich. Sie dient nicht dazu, dem Staat eine neue Einnahmequelle zu erschließen, sondern fließt den Bundesländern zur Förderung von Vermeidungs- und Verwertungsstrategien sowie der Altlastensanierung zu. Der Einwand, daß die Konkurrenzfähigkeit deutscher Produkte auf dem Weltmarkt unter zusätzlichen Belastungen nicht leiden dürfe, ist ernst zu nehmen. Es ist deshalb darauf hinzuwirken, daß die weitgehenden deutschen Bestimmungen in ganz Europa und schließlich in der ganzen industrialisierten Welt schrittweise zur Anwendung gebracht werden. In einer Übergangszeit mag es gewisse Nachteile für die Wirtschaft geben. Auf mittlere und erst recht auf lange Sicht wird sich aber aus unserer konsequenten Umweltrahmenpolitik ein Wettbewerbsvorteil entwikkeln. Unsere Unternehmen werden durch den Rahmen gezwungen, Energie zu sparen und neue Technologien zu entwickeln. Damit werden sie schon bald an der Spitze stehen, umweltfreundliche Technologien werden überall auf der Welt verlangt, ein riesiger Exportmarkt. Bereits heute sind durch den Umweltschutz Millionen neuer Arbeitsplätze entstanden, z. B. in den Vereinigten Staaten arbeiten heute bereits mehr Menschen in der Wiederverwertung als im Kohlebergbau. Hanskarl Willms vom BDE — Bundesverband der Deutschen Entsorgungswirtschaft — hat darauf hingewiesen, daß allein in der Entsorgungsindustrie heute 1000 Unternehmen mit 100 000 Beschäftigten arbeiten, die etwa 14 Milliarden DM im 3454 * Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 laufenden Jahr erwirtschaften. Mit seiner Verpakkungsverordnung habe Klaus Töpfer eine „Investitionslawine" losgetreten. Allein für die Aufbereitung der gebrauchten Verpackungen aus Aluminium müßten 5 neue Anlagen errichtet werden. Diejenigen Unternehmer sind gut beraten, die die neuen großen Märkte für Umwelttechnologien frühzeitig erkennen und Konsequenzen daraus ziehen. Man kann immer argumentieren, all diese Anstrengungen und Erfolge reichten noch nicht. Aber es ist leichter, über Umweltschutz zu reden und großartige Forderungen aufzustellen, als sie in der Praxis durchzusetzen. Daß es auch andere Parteien damit nicht immer leicht haben, beweist ein Flugblatt der Arbeitsgemeinschaft Giftmüll im „Landesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz Niedersachsen e. V. ". Dort wird der Entwurf des niedersächsischen Abf allgesetzes scharf kritisiert und festgestellt: „Die beabsichtigte Novellierung des Abfallgesetzes des Bundes geht weit über den von der Koalition SPD/Die Grünen in Niedersachsen vorgelegten Entwurf hinaus." Ein besseres Kompliment für ihre Mülldiät-Politik von unverdächtiger Seite kann sich die CDU/CSU- und FDP-geführte Regierung nicht vorstellen! Im Jahr 2000 soll in Hannover die Weltausstellung unter dem Motto „Mensch, Natur, Technik" stattfinden. Sie soll zeigen, wie Natur und Technik, wie Ökologie und Ökonomie versöhnt werden können. Sie könnte als Kristallisationspunkt für das Konzept der ökosozialen Marktwirtschaft im internationalen Maßstab dienen. Umweltschutz gegen Technik und Wirtschaft zu betreiben, dieser Versuch wird scheitern. Es geht um wirtschaftsverträglichen Umweltschutz, denn nur der ist bei seiner Konkretisierung wirklich mehrheitsfähig. Horst Peter (Kassel) (SPD): Den Petenten, rund 250 Bürgerinnen und Bürgern aus Kassel, die sich bei der Vermeidung von Abfällen selbst engagieren, geht es darum, zur Verringerung des Abfallaufkommens Maßnahmen nach § 14 Abfallgesetz anzuregen, insbesondere die Abfallmenge durch Verbote, beispielsweise von Einwegpackungen, schon beim Hersteller zu verringern. Die SPD-Fraktion macht sich das Anliegen der Petenten zu eigen und fordert den Deutschen Bundestag auf, die Petition zur Berücksichtigung an die Bundesregierung zu überweisen. Wir tun das deshalb, weil nach unserer Auffassung — auch nach den Verbesserungen durch den Bundesrat — die Verordnung über die Vermeidung von Verpackungsabfällen mit dem Konzept einer Dualen Abfallwirtschaft den Erfordernissen der Abfallvermeidung nicht gerecht wird. Wir bleiben dabei: Da über die Hälfte des Hausmülls und ein beträchtlicher Teil des Gewerbemülls bereits aus Verpackungsmaterialien bestehen, muß das Ziel sein, überflüssige Verpackungen gar nicht mehr auf den Markt zu bringen. Deshalb fordern wir im Einklang mit den Petenten: — Verbot überflüssiger Verpackungen, insbesondere aus Kunststoff; — Erhebung einer Einwegabgabe — soweit Verbote nicht möglich sind — , um die Einwegflasche oder -dose gegenüber dem Mehrwegbehälter zu verteuern; — klare Kennzeichnungsvorschriften zur Information des Verbrauchers; — flächendeckenden Ausbau vorhandener Recyclingsysteme; — Verbot schadstoffhaltiger Verpackungsmaterialien, beispielsweise aus PVC. Demgegenüber ist das Duale System ein teurer Umweg und spart keine einzige Verpackung ein. Die Ursachen liegen auf der Hand: — Es erzeugt keinen Vermeidungsdruck. — Es begünstigt die Einwegbehälter, insbesondere im Getränkebereich, weil im Gegensatz zur Mehrwegflasche kein Pfand dafür bezahlt werden muß. — Es wird dazu führen, daß das Mehrwegsystem weiter schrumpft, statt gestärkt zu werden. — Es wiegt den Verbraucher in der Illusion, er verhalte sich beim Kauf von Waren mit dem grünen Punkt umweltfreundlich, während er in Wahrheit die Abfallberge stabilisiert oder sogar noch erhöht. — Es erfordert ein doppeltes Entsorgungssystem: Neben dem kommunalen Mülleimer müßte in Zukunft noch der Industriemülleimer stehen. — Es bringt bestehende kommunale Bringsysteme wie Containersammelanlagen in Gefahr. — Die Entsorgungswege des Dualen Systems sind nicht kontrollierbar: Was wird wirklich verwertet, was wandert in die Verbrennung, was wird exportiert und zu welchem Zweck? — Erste Erfahrungen mit dem Dualen System bestätigen diese Befürchtungen. Die Verpackungsverordnung vom 12. Juni 1991 gerät im Zusammenwirken mit der Dualen Abfallwirtschaft zur Mogelpackung. So bleibt die Petition der Bürgerinnen und Bürger aus Kassel weiter aktuell und wird durch die vielfältige Kritik aus Verbraucher- und Umweltverbänden, aus Ländern und Gemeinden gestützt. Insbesondere sei auf die vielfältige Kritik aus den neuen Bundesländern hingewiesen, wo durch das Sero-System ein entwickeltes Bewußtsein für die Problematik der Abfallvermeidung und -verwertung entstanden ist. So wurde der Arbeitsgruppe Petitionen während einer Delegationsreise nach Halle in dieser Woche eindrucksvoll vermittelt, wie kontraproduktiv sich die gegenwärtige Linie des Bundesumweltministers für Gemeinden auswirkt, die Abfallvermeidung und -verwertung zum Herzstück ihres Abfallkonzeptes machen wollen. Deshalb bitte ich Sie nochmals, unseren Berücksichtigungsantrag anzunehmen. Birgit Homburger (FDP): Die Petition der Bürgerinnen und Bürger aus Kassel an den Bundestag, die wir heute zu besprechen haben, fordert Verbote — z. B. von Einwegverpackungen —, die zur Vermeidung von Verpackungsmüll schon beim Hersteller beitra- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3455* gen sollen. Die Petenten fordern den Bundestag und die Bundesregierung auf, in ihrem Sinne auf der Grundlage des § 14 des Abfallgesetzes zu handeln. In der Tat bietet der § 14 des Abfallgesetzes eine Palette von Handlungsmöglichkeiten, wobei Verbote nur eine Möglichkeit unter vielen darstellen. Die entsprechende Stelle des § 14 Abs. 1 Ñr. 4 lautet: Die Bundesregierung wird ermächtigt, ... zu bestimmen, daß bestimmte Erzeugnisse nur in bestimmter Beschaffenheit, für bestimmte Verwendungen, bei denen eine ordnungsgemäße Entsorgung der anfallenden Abfälle gewährleistet ist, oder überhaupt nicht in den Verkehr gebracht werden dürfen, wenn bei ihrer Entsorgung die Freisetzung schädlicher Stoffe nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand verhindert werden könnte. An der notwendigen Reduzierung des heutigen Abfallaufkommens besteht kein Zweifel, da der Deponieraum in der BRD nach derzeitigem Kenntnisstand noch etwa zwei bis fünf Jahre ausreicht. Am Hausmüllaufkommen von jährlich 14 Millionen Tonnen — 1987: 20 Millionen Tonnen — sind die Verpackungen mit einem Mengenanteil von 28 % und volumenmäßig zur Hälfte beteiligt. Im Bereich der Abfallwirtschaft ist die zu entsorgende Hausmüllmenge u. a. nur durch eine umweltverträglichere Gestaltung und Handhabung der Verpackung zu senken. Primär von Bedeutung ist die Vermeidung von Verpackungsabfällen. In diesem Ziel sieht die FDP sich mit den Petenten einig. Darüber hinaus kommen der verwertungsgerechten Gestaltung und der Wiederverwertbarkeit große Bedeutung zu. Schon lange hat die FDP in ihrem ökologischen Programm festgelegt, daß die Zielhierarchie „Vermeidung bis zu einem Mindestmaß, umweltfreundliche stoffliche Verwertung als Rohstoff- und Energieeinsparungsmöglichkeit sowie Emissionsreduzierung gegenüber der thermischen Verwertung" klar definiert sein muß. Für diese Legislaturperiode ist aufgrund der Erfahrungen, besonders mit § 14 des Abfallgesetzes, seit der letzten Novellierung des Abfallgesetzes 1986 eine umfassende Novellierung vorgesehen. Schwerpunkt dieses Gesetzgebungsvorhabens ist u. a., ein vorrangiges Vermeidungsgebot zur Rückführung des Verpackungsübermaßes und zur Stabilisierung und Entwicklung von Mehrwegsystemen sowie eine Rückgabe- und Pfandpflicht und ein Verbot besonders problematischer Stoffe und Produkte festzulegen. Die FDP begrüßt die Verpackungsverordnung des BMU und die von der Wirtschaft eingeleiteten Maßnahmen zur Einführung privater Entsorgungssysteme. Die Verpackungsverordnung sieht vor, daß auf Seiten der Anbieter zur Vermeidung und Verringerung des heutigen Verpackungsaufkommens u. a. folgende Maßnahmen zu treffen sind, die von der FDP schon lange gefordert wurden: erstens, Volumen- und Gewichtsbeschränkungen auf das zur Vermarktung notwendige Maß; zweitens, Verpackungen müssen so gestaltet sein, daß sie wiederbefüllt werden können; drittens, Garantie der stofflichen Wiederverwertung. Darüberhinaus fordert die FDP: erstens, umweltgefährdende Produkte schrittweise aus dem Verkehr zu ziehen; zweites, nur Verpackungen auf den Markt zu bringen, die mehrfach wiederverwendbar sind; drittens, Produkte von vornherein aus gleichen Stoffen herzustellen; viertens, Verpackungen und Verbrauchsgüter nach Art der Verwendbarkeit zu kennzeichnen; fünftens, Konzeptionen zur Wiederverwertung (Mehrwegsystem) zu unterstützen. Der zeitliche Rahmen der neuen Verpackungsverordnung sieht folgendermaßen aus: Erstens. Ab dem 1. Dezember 1991 müssen Erzeuger und Vertreiber Transportverpackungen zurücknehmen und verwerten. Zweitens. Ab dem 1. April 1992 hat der Käufer das Recht, Umverpackungen im Laden zu lassen. Drittens. Ab dem 1. Januar 1993 muß der Handel Verkaufsverpackungen zurücknehmen und verwerten. Viertens. Ab dem 1. Januar 1993 wird ein Pflichtpfand von 0,50 DM bei Getränkeeinwegverpackungen, Verpackungen für Wasch- und Reinigungsmittel und Verpackungen für Dispersionsfarben eingeführt. Die Rücknahme- und Pfandpflichten der neuen Verordnung führten schon im Vorfeld der Verhandlungen zu heftigen Protesten, besonders des Einzelhandels. Deshalb haben sich bereits im vergangenen Jahr Teile der deutschen Wirtschaft zu der Dualen System Deutschland GmbH (DSD) zusammengeschlossen, um über die Errichtung eines zweiten Abfallsystems die für den Einzelhandel unangenehmen Folgen zu vermeiden. Auf der Basis von privatwirtschaftlicher Organisation sollen die in den Umlauf gebrachten Verpackungen vollständig abgenommen und dem Recycling zugeführt werden. Die Verordnung sieht die Einhaltung bestimmter Sortierungsquoten als Bedingung der Alternativlösung vor: Erfassung von 50 % aller Verpackungen bis zum 30. Juni 1995 und die Erfassung von 80 % jedes Rohstoffs — Glas, Papier, Metalle, Kunststoffe — ab dem 1. Januar 1995. Es ist traurig, daß die Unternehmen erst dann bereit waren, sich umweltgerechter zu verhalten, als der Umweltminister mit der Einführung einer Verpakkungsverordnung drohte. Trotz des Angebots der DSD GmbH ist die Verpackungsverordnung gleichwohl notwendig. Sie gibt die Mindestbedingungen vor, wenn das System der Unternehmen, die Duale Abfallwirtschaft, nicht so, wie erhofft, funktionieren sollte. Wir müssen weiterhin die Entwicklung des Dualen Systems abwarten und kritisch begleiten. Allerdings erhofft sich die FDP erhebliche Lenkungswirkung hinsichtlich der Vermeidung von Verpackungsabfällen davon, daß die Produzenten nun selber die Entsorgung des Verpackungsabfalls übernehmen müssen, wodurch ihnen erhebliche Kosten entstehen. Sie werden gezwungen, darüber nachzudenken, ob nicht durch Weglassen überflüssiger Ver- 3456* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 packung bzw. entsprechender umweltfreundlicher Gestaltung diese Kosten verhindert werden können. Weitere Möglichkeiten zur Abfallverringerung in bezug auf Verpackungen bietet das neue Abfallabgabengesetz. Dabei sollen primär die Verursacher von Abfällen zur Verantwortung gezogen werden. Die Kosten der Abfallentsorgung sind unmittelbar vom Abfallerzeuger selber zu tragen. Von der Abfallabgabe werden auch im Bereich des Hausmülls vermeidungsund verwertungsfördernde Lenkungseffekte erhofft. Ziel der FDP ist es, eine Reduzierung des Müllaufkommens und gleichzeitig eine Reduzierung der Schadstoffhaltigkeit zu erreichen. Die FDP ist der Meinung, daß das Ziel über marktwirtschaftliche Steuerungsinstrumente besser erreicht werden kann als über Verbote. Denn das geforderte generelle Verbot der Einwegverpackung bedeutet einen zusätzlichen Eingriff in bestehende wirtschaftliche Strukturen und führt auf lange Sicht beim Verbraucher nicht zum gewünschten umweltbewußten Handeln, während unser Modell in der Lage ist, auch Umdenkprozesse zu fördern. Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Vernünftige Abfallpolitik läßt sich auf einen kurzen Nenner bringen: Müll vermeiden und verwerten — statt vergraben und verbrennen. Angesichts der ungeheuren Müllflut und des immer knapper werdenden Deponieraums ist also der Müllvermeidung höchste Priorität einzuräumen. In der vorliegenden Petition werden Bundestag und Bundesregierung aufgefordert, hierzu geeignete gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen. Dem kann sich die PDS/Linke Liste im Bundestag nur anschließen. Es muß jedoch besonders betont werden, daß Müllvermeidung schon beim Herstellen von Produkten anfangen muß. Die Bundesregierung feiert die am 8. Mai 1991 im Kabinett beschlossene Verpackungsverordnung und das daraus resultierende sogenannte duale System bereits als Erfolg. Doch in Richtung Müllvermeidung ist nichts geschehen — im Gegenteil: Durch den „Grünen Punkt" erhält die Getränkedose — und sie ist wohl das eindringlichste Symbol der Wegwerfgesellschaft — vermeintlich ökologische Weihen. Da nutzen die vollmundigen Appelle Töpfers auf der „Entsorga" wenig. Es bleibt wohl dabei, daß in der Verpackungswirtschaft jährlich 100 000 Tonnen Aluminium eingesetzt werden — und das bei einem Aufwand von 14 000 Kilowattstunden Energie, die zur Herstellung einer Tonne Primäraluminium nötig sind. Lassen Sie mich zur Kritik des dualen Systems noch drei kompetente Stimmen zitieren: Erstens. Hubert Weinzierl, der Vorsitzende des BUND: Das DSD ist der letzte Versuch der Verpackungsindustrie, die Ex- und -hopp-Kultur ins nächste Jahrtausend zu retten. Zweitens. Das Ökoinstitut Darmstadt: DSD ist lediglich die Umlenkung der Abfallströme von der öffentlichen Deponierung und Verbrennung in private Anlagen der Industrie. Umweltbeeinträchtigungen werden nicht vermindert. Drittens schließlich das Ökoinstitut Freiburg: Die Zustimmung der Wirtschaft wurde erkauft mit zahlreichen Zugeständnissen, die die Verpakkungsverordnung als stumpfes, inadäquates, ja sogar kontraproduktives Mittel erscheinen lassen. Dem ist nichts hinzuzufügen. Was wir brauchen, ist nicht fragwürdiges Recycling, sondern der konsequente Aufbau und die konsequente Förderung von Mehrwegsystemen. Hier können wir uns den Forderungen des Bundesverbandes „Das bessere Müllkonzept" nur anschließen: Festlegung von Mehrwegquoten, Verbot gefährlicher Verpackungen wie PVC, Einführung einer Verpackungsabgabe, die sich auf Produktion, Produktionsverfahren und Produktionsabfälle bezieht. Und schließlich: Setzen wir bei Produktion und beim Verbrauch auf langlebige, reparaturfreundliche und wiederverwertbare Produkte. Abfall darf nicht zum reinen Wirtschaftsgut werden — der beste Müll ist der, der gar nicht erst entsteht. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 10 (Sammelübersicht 23 zu Petitionen — Verkehrstarife —) Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Die mit über 100 000 Unterschriften unterstützte Sammeleingabe des Verkehrsclubs der Bundesrepublik Deutschland zur Einführung eines Halbpreis-Passes bei der Deutschen Bundesbahn halte ich grundsätzlich für ein überlegenswertes Anliegen. Angesichts der einschneidend veränderten verkehrspolitischen Situation in Deutschland und in Anbetracht des enorm gewachsenen und weiterhin anwachsenden Verkehrs ist eine Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene dringend erforderlich. Daher sollten wir für alle Überlegungen offen sein, die die Attraktivität der umweltfreundlichen Bahn steigern könnten. Die Zusammenlegung der Deutschen Bundesbahn mit der Deutschen Reichsbahn gibt eine gute Gelegenheit zur grundlegenden Umgestaltung des Tarifsystems. Die Umstellung des Tarifsystems muß dabei auf die Wünsche der Kunden eingehen, aber natürlich auch die finanzielle Machbarkeit berücksichtigen. Im Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages haben ja bereits entsprechende, umfassende Beratungen stattgefunden. Der Einführung eines Halbpreis-Passes könnte bei der Veränderung des Tarifsystems eine besondere Bedeutung zukommen. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß diese Vergünstigungen je nach Ausgestaltung zu teilweise erheblichen Mindereinnah- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3457* men bei der Deutschen Bundesbahn führen würden. Es ist zwar bei der Einführung eines solchen Angebotes mit einem entsprechenden Mehrverkehr und damit mit zusätzlichen Einnahmen zu rechnen, diese können jedoch die entstehenden Mindereinnahmen nicht kompensieren. Der Bundesminister für Verkehr verweist in diesem Zusammenhang auf eine Untersuchung, die die Deutsche Bundesbahn zur Bewertung des Vorschlages der Petentin in Auftrag gegeben hatte. Danach sei bei einem Kaufpreis von DM 100 mit Ertragsverlusten zwischen 96 Millionen und 159 Millionen DM, bei einem Paßpreis von 200 DM mit 26 Millionen bis 40 Millionen DM zu rechnen. Diese Mindereinnahmen müßten durch Ausgleichszahlungen des Bundes an die Deutsche Bundesbahn kompensiert werden. Im Bundeshaushalt ist aber kein Spielraum für ausgabenerhöhende Entscheidungen. Es muß in allen Politikbereichen akzeptiert werden, daß die wirtschaftliche Stabilität unseres Landes in den nächsten Jahren nur durch eine strikte Ausgabendisziplin bewahrt werden kann. Trotzdem gibt es im Verkehrshaushalt erfreuliche Tendenzen, den Verkehrsträger Bahn in Zukunft deutlicher als bisher finanziell zu fördern. In einem Gesamtkonzept zur Sanierung der Deutschen Bundesbahn könnten Anregungen zur tariflichen Neuorientierung — wie die des Verkehrsclubs der Bundesrepublik Deutschland — aufgegriffen und durch gesetzgeberische Initiativen unterstützt werden. Die Eingabe den Fraktionen zur Kenntnis zu geben, ermöglicht es, das Anliegen auch in eine breitere politische Diskussion einzubringen. In den verschiedenen Arbeitskreisen und -gruppen der Fraktionen besteht dann die Möglichkeit, zu prüfen, inwieweit die Vorschläge in ein umfassendes Bahngesamtkonzept, das auch die Forderungen des Umwelt- und Naturschutzes einschließt, aufgenommen werden könnten. Ich meine, wir sollten entsprechend verfahren. Horst Peter (Kassel) (SPD): Der Verkehrsclub der Bundesrepublik Deutschland verfolgt mit der eingereichten Sammelpetition das Ziel einer Einführung des sogenannten Halbpreispaß-Angebots bei der Deutschen Bundesbahn. Der Halbpreispaß sollte so gestaltet sein, daß er alle Altersstufen erfaßt und der Maximalpreis 200, — DM beträgt. Damit können alle Fahrkarten ein Jahr lang zum halben Preis gekauft werden. Mitfahrer zahlen die Hälfte, sind sie im Besitz eines Halbpreispasses ein Viertel des Normalpreises. Innerhalb des Bundesgebietes gilt ein Maximalpreis für Rückfahrkarten mit Halbpreispaß von 90, — DM. Für Monatskarten im Nahverkehr beträgt der Maximalpreis mit Halbpreispaß 50, — DM. Die Halbpreispässe, die Mitfahrerermäßigungen und die Höchstpreise gelten an allen Tagen, in allen Zügen und für alle Entfernungen. Die Petenten verweisen auf das bestehende Schweizer Modell und dessen Erfolge. Sie haben in Bonn in einer Anhörung zu ihrer Petition der Öffentlichkeit und damit auch allen Abgeordneten die Chance zu umfassender Information gegeben. Um so mehr ist zu bedauern, daß die Regierungsfraktionen im Ausschuß nicht bereit waren, in eine ernsthafte Auseinandersetzung über den Vorschlag einzutreten. Angesichts der direkten und indirekten Förderung des Individualverkehrs durch den Bund ist die Verweigerung der Bürgschaft für Einnahmeausfälle durch den Bund als negative Programmaussage gegen den umweltfreundlichen Schienenverkehr zu werten, was angesichts der Struktur der gegenwärtigen Verkehrspolitik und der begrenzten Sicht des Verkehrsministers nicht überrascht. Daß der Ansatz des Verkehrsclubs der Bundesrepublik Deutschland auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stößt, zeigt allein die Tatsache, daß mehr als 100 000 Bürgerinnen und Bürger die Petition mit ihrer Unterschrift unterstützt haben. Wir wollen mit unserem Antrag, die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen, erreichen, daß die Bundesregierung in ihrer in der letzten Legislaturperiode gegenüber dem Abgeordneten Kretkowski zum Ausdruck gebrachten Bitte, von der Deutschen Bundesbahn ein Paßmodell für jedermann entwickeln zu lassen, das sowohl marktfähig sei als auch den kapazitätsmäßigen Möglichkeiten gerecht werde (Antwort des Staatssekretärs Dr. Knittel vom 21. November 1989, Drucksache 11/5824), bestärkt wird. Besonders begrüße ich in diesem Zusammenhang, daß die Länder Hessen und Niedersachsen die Einführung eines Halbpreispasses bei der Bahn angestoßen haben und damit bei der Deutschen Bundesbahn durchaus auf Interesse gestoßen sein sollen. Ich bitte Sie deshalb, unserem Antrag auf Berücksichtigung zuzustimmen. Horst Friedrich (FDP): Es ist eine glückliche Termingestaltung, daß unsere heutige Debatte einen Tag nach einer Sitzung des Verkehrsausschusses erfolgt, in welcher der neue Vorsitzende des Vorstandes der Deutschen Bahnen, also der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Reichsbahn, Heinz Dürr, einen Bericht über die gegenwärtige Lage und die künftige Entwicklung der Bahn gegeben hat. Ich will hier nicht alle Einzelheiten der Diskussion wiedergeben, möchte allerdings zur Information kurz einige Highlights darstellen. Die wirtschaftliche Entwicklung der DB (für die Deutsche Reichsbahn liegen gesicherte Zahlen noch nicht vor, zumindest keine vergleichbaren) im Jahre 1991 ist weiterhin durch die schlechte Ertragskraft des Unternehmens gekennzeichnet. Durch steigende Leistungen im Personen- und Güterverkehr werden zwar Mehrerlöse in Höhe von ca. 300 Millionen DM erwartet, diese werden aber um ca. 600 Millionen DM durch den Anstieg der betrieblichen Aufwendungen übertroffen. Da zusätzlich auch der Zinsaufwand um rund 300 Millionen DM zunehmen wird, ist mit einem gegenüber dem Jahr 1990 um rund 900 Millionen DM schlechteren Jahresergebnis von voraussichtlich rund 6 Milliarden DM zu rechnen, das allerdings durch einen einmaligen außerordentlichen Ertrag von 420 3458* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 Millionen auf rund 5,5 Milliarden DM gemildert wird. Um es zu vereinfachen: Der tägliche Verlust der Bahn (Deutsche Bundesbahn) beträgt derzeit 20 Millionen DM. — Sie haben richtig gehört: täglich! Zur Beseitigung dieser Mißstände unterhalten wir uns in diesen Tagen — auch das ist kein Geheimnis — über die Möglichkeiten einer durchgreifenden, wirkungsvollen großen Bahnstrukturreform. Vor diesem Hintergrund ist der Antrag des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) dahin gehend zu untersuchen, ob er und gegebenenfalls wie er dazu beitragen kann, das wirtschaftliche Ergebnis der Bahn zu verbessern, nicht, dieses durch die vorgeschlagenen Maßnahmen weiter zu verschlechtern. Selbst der VCD unterstellt in seinem Antrag, daß ein Halbpreispaß mit limitierter Preisobergrenze (90 DM bei Paßinhabern in ganz Deutschland — unabhängig von der Entfernung, 180 DM bei Nichtpaßinhabern) nicht dazu führt, daß mehr Ertrag in die Kassen der Bundesbahn fließt. Angesichts dieser Tatsache fordert auch der VCD — weil er die Maßnahme politisch ja dann nicht umsetzen muß — eine Ausgleichspflicht des Bundes, insbesondere durch Einführung neuer Verkehrsabgaben bzw. eine weitere Erhöhung der Mineralölsteuer. Beides ist im Interesse sowohl des Steuerzahlers als auch im Hinblick auf die Wettbewerbsbedingungen des gemeinsamen europäischen Marktes eine schwere Hypothek, die von der FDP in dieser Form nicht mitgetragen werden kann. Hinzu kommt, daß selbst im vom VCD zitierten Modelland, der Schweiz, sich das Betriebsergebnis der Schweizer Bundesbahnen trotz Ertragssteigerung von 13 % verschlechtert hat. Daß das Modell Schweiz wegen der unterschiedlichen Größe der Schweiz und der anderen Struktur der Bahnen und der Märkte in der Schweiz nicht auf das Gebiet von Deutschland übertragen werden kann, macht die ganze Sache nicht einfacher. Wenn vor dem Hintergrund der eingangs geschilderten Wirtschaftssituation der Bahn eine vom Bundesminister für Verkehr in Auftrag gegebene Untersuchung ergibt, daß die Deutsche Bundesbahn bei der Bewertung des Vorschlags des VCD bei einem Paß-preis von 100 DM mit Ertragsverlusten zwischen 96 und 159 Millionen DM zu rechnen hat und bei einem doppelten Paßpreis noch mit Verlusten von 26 bis 40 Millionen DM, dann ist ein wirtschaftlich abgesichertes und somit kommerziell vertretbares Paßmodell mit einer Ermäßigung von 50 To nicht zu realisieren. Die Zahlen verdeutlichen andererseits auch, daß eine Politik, die ausschließlich über den Preis Steigerungen der Beförderungszahlen zu erzielen versucht, nicht geeignet ist, die eigentliche Problemlösung der Bahn zu sein. Was wir brauchen — und das hat die FDP seit 1983 oft genug und hinlänglich gefordert — , ist eine Strukturreform der Bahn an Haupt und Gliedern, und zwar in dieser Legislaturperiode. Es muß gelingen, den unseligen Zielkonflikt zwischen der Behördenstrukturvorgabe des Grundgesetzes mit der allgemeinen Beförderungspflicht und dem Wirtschaftlichkeitsgebot im Bahngesetz aufzulösen; denn dieser Spagat führt die Bahn immer mehr in rote Zahlen. Wir brauchen weiterhin eine völlige Neugestaltung des öffentlichen Personennahverkehrs in der Richtung, daß sowohl die Verantwortung als auch die Finanzmittel auf Kommunen und/oder Länder verlagert werden; der ÖPNV führt vernetzt und vertaktet den Nahverkehr an die Haltepunkte des Fernverkehrs heran. Im Fernverkehr — sowohl im Güter- als auch im Personenverkehr — kommen die eigentlichen Stärken des Verkehrsträgers Bahn voll zur Geltung. Diese Leistung muß einen Preis haben, und der darf kein Dumpingpreis sein. Aus diesem Grund lehnt die FDP den Vorschlag des VCD ab, weil er nur tendenziell auf eine Verbilligung des Fahrpreises abzielt, was konsequenterweise zur weiteren Verschlechterung der Ertragssituation der Bahn führen muß. Die FDP setzt sich allerdings nach wie vor dafür ein, die Strukturreform der Bahn zum Erfolg zu führen, damit der umweltfreundliche Verkehrsträger Bahn auch tatsächlich den ihm zustehenden Anteil im Modal Split der Verkehrsträger erhält. Dazu gehört dann sicher auch ein Nachdenken über die Tarifgestaltung innerhalb der Bahnverkehre. Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Fast vier Jahre sind seit dem Eingang der Petition im Petitionsausschuß bis zur heutigen Abstimmung im Deutschen Bundestag vergangen. Sicherlich ein Indiz für die Kompliziertheit der Materie und ein Indiz dafür, daß es sich die Mitglieder des Ausschusses nicht leichtgemacht haben. Enttäuschend für die immerhin 108 000 Bürgerinnen und Bürger, die die Petition unterschrieben haben, bleibt dennoch das Resultat, das jedoch ohne eine grundlegende Neuorientierung in der Verkehrspolitik zwangsläufig so lauten mußte. Grundlage für die Betrachtung im Bundesministerium für Verkehr, und das zeigt gerade der Umgang mit dieser Petition, ist leider nach wie vor ein unkomplexes altes Denken. Dabei wird deutlich: Die alleinige Orientierung auf den Markt löst höchstens punktuelle Probleme. Vertraut man den Marktkräften aber die gesamtgesellschaftliche Verantwortung an, erschöpfen sich ihre kreativen Möglichkeiten, werden sie zu Destruktivmitteln, die die Umweltzerstörung beschleunigen und dringende gesellschaftliche Veränderungen be- oder gar verhindern. Der Nenner, auf den Minister Krause alles bringt, heißt noch immer: „Das rechnet sich nicht." Meinen Sie nicht, Herr Minister, daß es sich, gemessen an gesellschaftlichen Maßstäben und am Maßstab „Zukunft der Menschheit", vielleicht auch rechnen würde, wenn alle Faktoren — Umwelt, Ressourcen, Folgekosten inbegriffen — berücksichtigt würden? Wir fordern die Bundesregierung daher auf, endlich ein gesellschaftliches Gesamtkonzept zu erarbeiten, das einen radikalen Bruch mit alten Herangehensweisen in der Verkehrspolitik ermöglicht und den heutigen Erfordernissen Rechnung trägt. Wir fordern deutlich spürbare Anstrengungen für den Ausbau des öf- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3459* fentlichen Personennah- und -fernverkehrs. Seit 1960 vergrößerte sich das Autobahnnetz in der Bundesrepublik um 30 %. Im gleichen Zeitraum aber mußte die Bundesbahn 25 % ihrer Strecken für den Personenverkehr stillegen. Eine progressive Verkehrspolitik, Herr Krause, setzt meines Erachtens eine deutliche Umverteilung der Finanzmittel in Ihrem Haushaltsbereich voraus. Das würde auch die Bedingungen dafür schaffen, über die Subventionierung der Fahrpreise dazu beizutragen, daß das Fahren mit der Bahn erschwinglich ist und einen Anreiz darstellt, das Auto stehenzulassen. Hätte man mir die Petition vorgelegt, ich hätte sie ebenso unterschrieben. Die Gruppe PDS/Linke Liste unterstützt daher auch den Änderungsantrag der SPD-Fraktion. Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr: Die Deutsche Bundesbahn muß bei ihrer Preisgestaltung selbständig wie ein Wirtschaftsunternehmen handeln. Die Einführung eines generellen Halbpreispaß-Angebotes muß sich deshalb den Marktbedingungen stellen. Alle bisher von der DB durchgeführten Modellrechnungen haben nicht zu einem Paßmodell geführt, das marktfähig und finanzierbar wäre. Vielmehr setzt die Deutsche Bundesbahn zur Steigerung ihrer Attraktivität auf eine Vielzahl von differenzierten Angeboten, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Bahnbenutzer entgegenzukommen. So werden für den Fernverkehr erheblich ermäßigte Tarife angeboten; im Nahverkehr hat die Deutsche Bundesbahn ihre Preisangebote auf einzelne Zielgruppen ausgerichtet. Beispielhaft möchte ich hier nur den Spar- oder Super-Sparpreis für den Fernverkehr, den Familienpaß und die Jahreskarte oder die übertragbare Monatskarte für Pendler anführen. Angebote zu entwickeln, Service zu verbessern etc. ist Aufgabe der DB und der DR. Die Aufgabe des Bundes, des Bundestages und der Bundesregierung ist es, der Bahn bei der wohl bedeutendsten Herausforderung der 90er Jahre für die Verkehrspolitik — der umweltgerechten Bewältigung der in ganz Europa stark anwachsenden Verkehrsströme — eine besondere Rolle einzuräumen. Lassen Sie mich dies an drei Beispielen verdeutlichen: Erstens. Entwicklung des Verkehrshaushaltes: Der Schwerpunkt des Haushaltsplanes 1992 und der Finanzplanung bis 1995 liegt eindeutig bei der Schiene. Der Haushaltsanteil der beiden Bahnen liegt bei über 50 %. Investitionen haben Vorrang: 72 % der für die Schiene veranschlagten Mittel sind Investitionen. Zweitens. „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit" : Die „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit" spielen für das Zusammenwachsen der Bevölkerungs- und Wirtschaftsschwerpunkte im Osten und Westen des 40 Jahre lang künstlich geteilten Deutschland eine entscheidende Rolle. Sie haben zugleich große Bedeutung für die Integration der osteuropäischen Nachbarn in das vereinte Europa. Mit neun von insgesamt siebzehn Projekten und einem Investitionsvolumen von rund 29 Milliarden DM hat hier die Schiene eindeutig den Vorrang vor der Straße mit 7 Projekten und einem Investitionsvolumen von rund 23 Milliarden DM. Drittens. Strukturreform der Bahn: Eine attraktive Bahn braucht aber vor allem eine neue und bessere Struktur. Eine Bahn, die sich dem Wettbewerb stellen soll, muß eine unternehmerische Bahn sein. Die Zeit zum Handeln drängt, denn ohne grundlegende Reform von Deutscher Bundesbahn und Deutscher Reichsbahn kumuliert der Finanzbedarf beider Bahnen auf über 400 Milliarden DM bis zum Jahr 2000. Schnellstmöglich werden wir nach Vorlage des Berichts der Bahnkommission den Reformvorschlag erarbeiten und einen breiten politischen Konsens anstreben. Die Überführung in privatwirtschaftliche Organisationsformen und die dafür erforderliche Grundgesetzänderung ist ein möglicher Weg und sollte nicht von vornherein tabuisiert werden. Die eigentliche Stärke der Bahn gegenüber den anderen Verkehrsträgern ist die schnelle, sichere und zuverlässige Überwindung großer Distanzen. Die deutsche Verkehrspolitik wird mit dem Netzausbau und der Strukturreform der Bahn ihren Beitrag dazu leisten, daß die Bahn die Stärke in ganz Europa ausspielen kann. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 11 (Steueränderungsgesetz 1992) Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Die Bundesregierung läßt auch diesmal die Gelegenheit nicht aus, ihre wirtschafts- und finanzpolitische Konzeptionslosigkeit mit wohlklingenden Worten zu kaschieren. Das vorliegende Paket wird als Gesetz zur Entlastung der Familien und zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze bezeichnet. Tatsächlich verdeckt das Etikett nur, daß die Regierung mit ihrem finanzpolitischen Latein am Ende ist. Bekanntlich ist sie schon im Koalitionsvertrag, Anfang des Jahres, von den Wahlversprechungen abgerückt, mit denen sie im letzten Jahr Wählerinnen und Wähler getäuscht hatte. Deswegen vertrauen immer weniger Menschen dieser Regierung. Kaum jemand nimmt ihr noch ab, daß sie die Probleme, die sie ja zu einem beträchtlichen Teil mit verursacht hat, lösen kann. Selbst aus den Reihen der Koalition wächst die Kritik am finanzpolitischen Kurs. Leider blieb mit der Vorlage zum Haushaltsgesetz 1992 die Stunde der Wahrheit aus. Statt dessen hörten die Bürgerinnen und Bürger aus dem Munde des Finanzministers beruhigende Worte. Aber was soll weiße Salbe und Zahlenakrobatik? Wem hilft es, wenn die tatsächlichen Belastungen der kommenden Jahre verschleiert werden? In der Rechnung fehlen gewichtige Posten, die schon heute in ihren Auswirkungen absehbar sind. 3460' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 Ich nenne nur die Ausgleichs- und Entschädigungsregelungen für die Enteignungen in den neuen Bundesländern, die Altlasten im Umweltbereich, die Ausfälle bei den staatlichen Exportbürgschaften und die absehbare Finanzlücke bei der Bundesanstalt für Arbeit. Auch die Hilfen für die Sowjetunion oder die einzelnen Republiken werden noch einmal hohe Finanzbeträge erforderlich machen. Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses hat bereits Alarm geschlagen: Die Neuverschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden sowie der Sondervermögen ergibt in diesem Jahr einen Betrag von mindestens 160 Milliarden DM. Es braucht nicht viel Phantasie, sich auszumalen, mit welchen Maßnahmen diese Regierung — falls sie dann überhaupt noch im Amt ist — die fiskalischen Belastungen auffangen wird. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 16 % ist ja bereits von einigen vorlauten Koalitionsvertretern in Aussicht gestellt worden. Im Hinblick auf die Haushaltsrisiken ist die Vorlage zum Steueränderungsgesetz 1992 ein weiterer Beleg für Realitätsferne. Nach den verhängnisvollen Fehleinschätzungen der vergangenen Monate, die zum berechtigten Vorwurf der Steuerlüge führten, gibt es für den Finanzminister nur noch wenige Möglichkeiten. Der angekündigte Subventionsabbau erweist sich als klägliche Zahlenmanipulation, die nur das Ziel hatte, den ehrgeizigen Wirtschaftsminister nicht völlig bloßzustellen. Im vorliegenden Gesetzentwurf werden sogar die wenigen Ansätze zum Subventionsabbau noch einmal verwässert. An Niederlagen und Kummer gewöhnt, wechselt die Bundesregierung ihre ursprüngliche Erfolgsstrategie und optiert nun für massive Steuererhöhungen. Der Entwurf zum Steueränderungsgesetz setzt die einschneidenden Steuererhöhungen fort, die schon in diesem Jahr zu einer steuerlichen Mehrbelastung von etwa 31 Milliarden DM führen werden. Mit einer erhöhten Mehrwertsteuer ab 1993 um 1 %, wie es im Entwurf vorgesehen ist, werden die Zusatzbelastungen nach den Berechnungen des Bundes der Steuerzahler sogar eine Größenordnung von mehr als 50 Milliarden DM erreichen. Wir haben schon im Jahre 1990 darauf verwiesen, daß der Finanzbedarf für den wirtschaftlichen Aufbau im Osten auch im Westen außerordentliche Anstrengungen erforderlich machen würde. Allerdings sollte der Finanzminister die Ausgaben für die neuen Bundesländer richtig darstellen. Von den einigungsbedingten Ausgaben, die auf 109 Milliarden DM veranschlagt sind, wird nur knapp die Hälfte den neuen Ländern zugute kommen. Auch hier ist Ehrlichkeit gefragt. Meine Damen und Herren, man kann über die Unternehmensbesteuerung diskutieren. Was Sie allerdings hier vorlegen, ist schon in ökonomischer Hinsicht mehr als zweifelhaft. Sie verstoßen gegen Ihre eigene Logik: Die vorgeschlagene Streichung von Gewerbekapitalsteuer und Vermögensteuer reduziert die relativen Vorteile, die der Wirtschaft in den neuen Bundesländern im Steueränderungsgesetz 1991 eingeräumt wurden. Hinzu kommt: Der wirtschaftliche Effekt der Steueränderungen erregt sogar koalitionsintern Zweifel. So hat sich die Landesregierung von Baden-Württemberg bereits gegen die Pläne der Bundesregierung ausgesprochen. Sie bestreitet zu Recht, daß die vorgeschlagenen Steuersenkungen den mittelständischen Unternehmen zugute kommen. Es ist ein „besonders mittelstandsfreundliches Konzept", behauptet der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Grünewald. Die beabsichtigten Steuermaßnahmen, vor allem die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, schlagen jedoch vornehmlich bei größeren Unternehmen zu Buche, während kleine Unternehmen davon kaum etwas haben. Auch CDU-Mittelstandspolitiker der Regierungsparteien haben dies längst erkannt. Es wird Zeit, daß die Regierung Konsequenzen daraus zieht. Eine Bemerkung zu den finanzpolitischen Wirkungen für die Gebietskörperschaften — ich hatte bereits bei der Debatte zum Steueränderungsgesetz 1991 darauf verwiesen — : Die finanzielle Substanz von Ländern und Gemeinden wird weiter ausgehöhlt. Die Stellungnahme des Deutschen Städtetages bleibt aktuell. Gerade die strukturschwachen Gemeinden werden durch die Beseitigung der Gewerbekapitalsteuer erneut schlechter gestellt. Das Wagnis, diese — in ihrer ökonomischen Wirkung dubiosen — Unternehmersteuersenkungen mit einer Anhebung der Mehrwertsteuer zu verknüpfen, kann ich nur als frivol bezeichnen. Womit begründen Sie die Dreistigkeit, daß nach den massiven Steuererhöhungen der letzten Monate nun auch noch die Steuersenkungen für Unternehmen durch die Steuerzahler finanziert werden sollen? Die soziale Asymmetrie dieser Steuerpolitik ist so offensichtlich, daß in Ihren eigenen Reihen auf Verzicht des Steuerpaketes gedrängt wird. Ich kann Heiner Geißler in dieser Hinsicht nur zustimmen. Eine Mehrwertsteuererhöhung würde die ohnehin schon stark belasteten Durchschnittseinkommen besonders treffen. Das Prinzip der Bundesregierung aber lautet: Umverteilung zu Lasten der kleinen und mittleren Einkommen. Die Steuersenkungen für Unternehmen sind keinesfalls aufkommensneutral gestaltet worden — übrigens im Gegensatz zur Behauptung des Finanzministers. Den Entlastungen von ca. 7 Milliarden DM bei den ertragsunabhängigen Steuern stehen als echte Gegenfinanzierung lediglich 1,6 Milliarden DM gegenüber. Es bleibt damit eine Finanzierungslücke von über 5 Milliarden DM. Somit sind die gesamtwirtschaftlichen Wirkungen der Steuerpolitik der Bundesregierung nicht anders zu beurteilen als vor einem halben Jahr. Mit der Mehrwertsteuererhöhung kommen allerdings neue Risiken hinzu. Eine Anhebung wird einen neuen Preisschub auslösen. Die jüngsten Warnungen der Deutschen Bundesbank an den Finanzminister besagen eindeutig: Die Reduzierung der Neuverschuldung muß vor allem über eine Begrenzung des Ausgabenanstiegs erfolgen. Die Finanzpolitik steht in vollem Widerspruch zu den besonderen Schwierigkeiten und Herausforderungen, denen sich die Wirtschaft in den neuen Bun- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3461* desländern gegenübersieht. Auf Grund der geringeren Konkurrenzfähigkeit wird es vielen ostdeutschen Betrieben noch schwerer fallen, sich im Wettbewerb zu behaupten. Außerdem entwerten diese Maßnahmen jene speziellen Steuerentlastungen, die gerade für die neuen Bundesländer beschlossen worden sind. Der Wirrwarr an Fördermaßnahmen für die neuen Bundesländer wird auch im Steueränderungsgesetz nicht aufgehoben. Besonders nachteilig ist: Das Steuerpaket der Bundesregierung hat in ökologischer Hinsicht nichts zu bieten. Die Steuersenkungen für Unternehmen lösen keine Anreize für Umweltinvestitionen aus. Eine Unternehmensteuerreform, die diesen Namen tatsächlich verdient, ist aber daran zu messen, ob sie umweltfreundliches Investieren und Wirtschaften begünstigt. Die angestrebte — recht zahme — Besteuerung von Motorbooten kann über die umweltpolitische Schief-lage der Steuerpolitik nicht hinwegtäuschen. Nach wie vor besteht Bedarf an einer ökologisch wirksamen Steuerpolitik. Doch was tut die Regierung? Mit rein fiskalisch orientierten Maßnahmen verbaut sie zunehmend die Chancen für umweltpolitisch orientierte Steuern. Bereits die Erhöhung der Mineralölsteuer war ein falsches Signal. Im Entwurf zum Steueränderungsgesetz 1992 dominieren nach wie vor die fiskalischen Motive. Ziel ist für 1994 eine Haushaltsentlastung von 4,2 Milliarden DM (1995: 8,0 Milliarden). Es zeigt sich deutlich, daß der schon bisher nur vorgetäuschte Subventionsabbau und der Abbau von ökonomisch nicht zu rechtfertigenden Steuervergünstigungen kaum stattfinden. Denn die Besitzstände der strategischen Wählergruppen der Regierungsparteien werden natürlich nicht angetastet. Aus dem Steueränderungsgesetz werden von den Lobbyisten wieder Stück für Stück Steuervergünstigungen und Finanzhilfen herausgebrochen. Es strotzt vor Halbheiten. Ein Beispiel ist die Besteuerung der sogenannten Policen-Darlehen. Die eigentlich vorgesehene Regelung wurde abgeschwächt. Andere Subventionskürzungen tauchen erst gar nicht auf: Abbau der Mineralölsteuerbefreiung für die Luftfahrt, für die Binnenschiffahrt. Selbstverständlich fehlt der Subventionsabbau bei der Landwirtschaft. Wann wird die seit Jahren übliche Praxis, mit Steuertricks Subventionen in Anspruch zu nehmen, endlich unterbunden? Offenbar liegt der Regierung nicht an einer sozial ausgewogenen Finanzierung der Staatsausgaben. Nach wie vor gibt es Einsparmöglichkeiten im Verteidigungsetat. Zusammen mit einem Verzicht auf die Entlastungen bei der Gewerbe- und Vermögensteuer ergäbe das ein Finanzvolumen, das die vorgesehene Erhöhung der Mehrwertsteuer entbehrlich macht. Wenn Einnahmeverbesserungen wirklich unerläßlich werden, dann doch nicht über eine Mehrwertsteuererhöhung, sondern durch die Verlängerung des bis 1992 befristeten Solidaritätsbeitrages, auch durch eine Arbeitsmarktabgabe von Beamten und Selbständigen, damit die Solidarität wieder ins Lot kommt. Die finanzpolitische Strategie der Regierungsparteien ist einfach: dort nehmen, wo die Wählerbasis den geringsten Schaden nimmt. Deshalb blieb der Bundesregierung auch nur eine relevante Größe übrig, nachdem der Finanzminister sich bei der Einkommensteuer (Solidaritätsgesetz) zunächst nicht mehr bedienen kann. Doch wie gesagt, die Einnahmeverbesserung über die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist sozial unausgewogen. Sie trifft die ohnehin schon belasteten Durchschnittshaushalte besonders stark. Daran ändern auch die familienpolitischen Verbesserungen nichts. Noch ist die steuerliche Freistellung des Existenzminimums von Kindern keineswegs gewährleistet. Ich fasse zusammen: Das vorliegende Steuerpaket dient kaum dem wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Bundesländern. Es vertieft dagegen die sozialen Gegensätze und verschärft durch unnütze Ausgaben die Haushaltslage. Es ist kein Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze. Wir fragen an dieser Stelle: Wo bleibt die Intervention des Wirtschaftsministers, der doch sein ganzes Amt in die Waagschale geworfen hat, um die ökonomisch ineffizienten Steuerbegünstigungen und Subventionen zu reduzieren? Dies ist ihm nicht gelungen. Das vorliegende Flickwerk bestätigt das nachdrücklich. Wenn Herr Möllemann glaubwürdig bleiben möchte, dann ist es an der Zeit, seine Ankündigung wahrzumachen und zurückzutreten. Ich bin gespannt, was das Wort des Ministers wert ist. Zum Abschluß ein Wort zur SPD. Sie haben die Ablehnung der Mehrwertsteuer zur verbindlichen Parteiposition erklärt. Gut so. Anders sieht es auf Länderebene aus: Eine Mehrwertsteueranhebung wird dort offensichtlich nicht einhellig abgelehnt. Zu befürchten ist, daß die geplante Umlenkung der Strukturhilfe-Mittel in die Verhandlungen einbezogen wird. Es fehlt eine klare finanzpolitische Linie. Die konzeptionelle Vorstellung der Fraktion wird auf Länderebene angesichts anderer Interessenlagen ad absurdum geführt. Und wir fragen uns schon heute, was der Bundesfinanzminister den SPD-geführten Ländern anbieten wird, um ihnen die Zustimmung zur Mehrwertsteuererhöhung im Vermittlungsausschuß abzukaufen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 12 (Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und ande- rer Gesetze) Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister der Justiz: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung der Finanzgerichtsordnung ist die derzeit mögliche verfahrensrechtliche Antwort auf die schwierige Situation in der Finanzgerichtsbarkeit: Die Finanzgerichte gehen in der Verfahrensflut unter. Der Bürger muß viel zu lange — oft mehrere Jahre, manchmal sogar über ein Jahrzehnt — auf eine gerichtliche Entscheidung warten. Das ist für einen Rechtsstaat unerträglich und im Grunde genommen Verweigerung des Rechtsschutzes. 3462* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 Als Kernpunkt schlägt der vorliegende Entwurf vor, die beiden für die Finanzgerichtsbarkeit geltenden und mehrfach verlängerten Entlastungsgesetze, das Gesetz zur Entlastung des Bundesfinanzhofs, das Ende dieses Jahres ausläuft, und das Gesetz zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit, das Ende kommenden Jahres ausläuft, im wesentlichen in Dauerrecht zu übernehmen. Darüber hinaus faßt der Entwurf weitere, insgesamt konsensfähige prozeßrechtliche Vorschläge zur Straffung, Vereinfachung und Beschleunigung finanzgerichtlicher Verfahren zusammen. Ich will keinen Zweifel daran lassen, daß der Entwurf, rechtspolitisch gesehen, auch Verzicht bedeutet: Der Abschied von der Streitwertrevision ist, insbesondere aus der Sicht der steuerberatenden Berufe, eine bittere Pille. Die Zweistufigkeit der Finanzgerichtsbarkeit, die wir in der augenblicklich sehr angespannten Situation auch nicht in eine Dreistufigkeit umwandeln können, war bei Inkrafttreten der Finanzgerichtsordnung vor allem mit dem Argument begründet worden, infolge der geringen Streitwertgrenze für Revisionen — damals 1 000 DM — könnten alle Verfahren von gewissem Gewicht zum Bundesfinanzhof kommen. Über eine 1 000 DM-Grenze redet natürlich niemand. Aber schon bei einer Streitwertgrenze von ca. 60 000 DM für Revisionen müßten wir wohl davon ausgehen, daß sich die Zahl der vom Bundesfinanzhof zu entscheidenden Revisionen in etwa verdoppeln würde. Das könnte der ohnehin überlastete Bundesfinanzhof nicht verkraften. Auch die endgültige Abschaffung des Begründungszwangs bei der Beschlußverwerfung von Revisionen — was natürlich nicht heißt, daß nicht begründet werden darf — verursacht Unbehagen. Aber: Wir haben keine andere Wahl. Die Geschäftslage in der Finanzgerichtsbarkeit und speziell auch beim Bundesfinanzhof und die zusätzlichen Aufgaben durch den Aufbau der Justiz in den neuen fünf Ländern lassen keinen Handlungsspielraum. Die gestiegene Belastung soll mit ein paar Zahlen verdeutlicht werden: Die Eingänge bei den Finanzgerichten sind von 1970 bis jetzt um fast 400 % gestiegen, beim Bundesfinanzhof im gleichen Zeitraum um etwa 50 %. Die Erledigungen pro Richter konnten von durchschnittlich 64 im Jahre 1970 auf 123,5 im vergangenen Jahr gesteigert, also fast verdoppelt werden; zum Teil sicher ein Erfolg des durch die Entlastungsmaßnahmen des Gesetzgebers gestrafften Verfahrensrechts, zum Teil aber sicher auch das Ergebnis eines starken und erfreulichen Engagements der Richter. Die Ursachen für die ständig steigende Inanspruchnahme der Finanzgerichte mögen zum Teil in dem gestiegenen Rechtsschutzbewußtsein der Bürger und zum Teil in der Verbesserung der Steuerberatung liegen. Beides sind Entwicklungen, die im Grunde begrüßenswert sind. Als wichtige Ursache wird — sicher nicht zu Unrecht — das komplizierte und zum Teil schwer überschaubare materielle Steuerrecht genannt. Viele Steuervorschriften sind nur noch für Experten verständlich und werden zudem häufig geändert. Natürlich sind Bund und Länder gemeinsam gefordert, hier abzuhelfen — aber diese Forderung wird seit Jahren regelmäßig erhoben, und ich fürchte, darauf wird man nicht warten können. Wir sollten das andererseits auch nicht überbewerten: 64 000 Eingänge bei den Finanzgerichten sind im Vergleich zu den Eingangszahlen von 1970 viel. Bei 2,5 Millionen Einsprüchen, dem mehr als 20-fachen an rechtsmittelfähigen Finanzverwaltungsakten, ca. 50 000 Angehörigen der steuerberatenden Berufe und etwa der gleichen Zahl von Rechtsanwälten, nimmt sich die Zahl von 64 000 Eingängen doch eher bescheiden aus. Ich denke jedenfalls nicht, daß wir mit einem Rückgang der Eingänge bei den Finanzgerichten in nächster Zeit rechnen können. Die Zahl der Einsprüche gegen Steuerbescheide, aber auch die Einspruchsentscheidungen der Finanzämter ist in den vergangenen Jahren ständig gestiegen. Darüber hinaus hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dem Grundfreibetrag und zu den Kinderfreibetägen zu einer Flut von Einsprüchen geführt. Die Flutwelle wird noch zusätzlich auf die Finanzgerichtsbarkeit zukommen, zum Teil ist sie schon angekommen. Ich möchte vor der Illusion warnen, daß wir mit den Mitteln des Verfahrensrechts allein die Belastung der Finanzgerichtsbarkeit bei eventuell noch steigenden Eingängen nachhaltig reduzieren können. Wir werden uns fragen müssen, ob wir bei den Gerichten nicht Binnenreserven mobilisieren können. Eine Studie der WIBERA-Wirtschaftsberatung AG, die im Frühjahr dieses Jahres fertiggestellt worden ist, hat erhebliche Defizite im Bereich der Gerichtsorganisation festgestellt. Eine von dem Betriebswirtschaftlichen Insitut für Organisation und Automation der Universität Köln im Auftrag von Nordrhein-Westfalen durchgeführte Arbeitsablaufuntersuchung ist auch zu dem Ergebnis gekommen, daß im richterlichen Bereich noch „Luft" ist. Hier sind die Länder gefordert. Ein wirksamer Beitrag zur Verbesserung der Rechtsschutzsituation kann nach meiner Überzeugung auch durch eine Verbesserung der außergerichtlichen Streitbeilegung bei den Finanzämtern geleistet werden. Die vom BMF veranlaßten rechtstatsächlichen Untersuchungen deuten darauf hin, daß der im Bundesfinanzministerium vorbereitete Referentenentwurf zur Verbesserung des Rechtsbehelfsverfahrens nach der Abgabenordnung noch in diesem Jahr im Kabinett verabschiedet werden kann. Nochmals zurück zu der FGO-Novelle, und zwar zum Einzelrichter, der von manchem als eine Art „Allheilmittel" zur Verkürzung gerichtlicher Verfahren angesehen wird. Der Bundesrat hat vorgeschlagen, die Finanzgerichtsordnung um eine Vorschrift zu ergänzen, nach der der Senat die Sache auf den Einzelrichter überträgt, wenn sie keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und nicht von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung ist. Dieser Vorschlag, der auch in dem Bundesratsentwurf eines Rechtspflegeentlastungsgesetzes enthalten ist, trägt im Grundsatz der zutreffenden Einschätzung Rechnung, daß es auch in der Finanzgerichtsbarkeit eine Reihe von Verfahren gibt, die ebenso gut und darüber hinaus auch schneller vom Einzelrichter erledigt werden können. Wenn die Bundesregierung gegenüber diesem Vorschlag Vorbehalte anmeldet, und das tut sie in ihrer Gegenäußerung, dann vor allem aus Gründen der Praktikabilität: Nach dem Bundes- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3463* ratsvorschlag muß sich zunächst der gesamte Senat des Finanzgerichts mit dem Verfahren befassen und bewerten, ob die Sache einfach, schwer oder grundsätzlicher Art ist. Dies bedeutet: verfahrensrechtlicher Mehraufwand, der einen möglichen Entlastungs- und Beschleunigungseffekt aufwiegen kann. Wenn der Einzelrichter zu einem späteren Zeitpunkt die Sache wieder auf den Senat übertragen muß, weil sich ergeben hat, daß sie besonders schwierig oder grundsätzlich ist, führt das zu einem weiteren Verfahrensaufwand. Darüber hinaus muß die Gefahr gesehen werden, daß die Rechtsprechung innerhalb der einzelnen Senate der Finanzgerichte auseinanderläuft, womit zugleich der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Be-. steuerung und der einheitlichen Rechtsanwendung innerhalb des Bundesgebietes gefährdet wäre. Im übrigen würde der ohnehin überlastete Bundesfinanzhof noch mehr belastet. Das vom Bundesrat vorgeschlagene Einzelrichtersystem ist deshalb unter dem Aspekt angemessener Rechtsschutzgewährung äußerst problematisch. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme abschließend den Deutschen Bundestag gebeten, den Gesetzentwurf vordringlich zu beraten und zu verabschieden. Ich teile diese Einschätzung und schließe mich der Bitte des Bundesrats an. Dr. Franz-Hermann Kappes (CDU/CSU): Die Novellierung eines Gerichtsverfahrensgesetzes wie der Finanzgerichtsordnung ist natürlich zunächst einmal keine sehr spannende Sache, sondern ein eher trockenes Thema, das vordergründig die wenigsten Bürger interessiert. Dennoch: Die Menschen draußen im Lande werden sehr einverstanden sein, wenn sie hören oder lesen, daß hier ein weiterer Versuch der Vereinfachung und Beschleunigung von gerichtlichen Verfahren unternommen wird. Jedermann in Deutschland weiß, und jedenfalls haben es viele leidvoll ertragen müssen, daß gerichtliche Verfahren bei uns oft viel zu lange dauern. Und Kenner wissen, daß dies derzeit in besonderem Maße für die Finanzgerichte gilt. Das hat natürlich seine Gründe, meine Damen und Herren, und zwar zunächst einmal gewissermaßen vorgerichtliche, die uns nachdenklich stimmen müssen. In der uns vorliegenden Gesetzesbegründung sind hierzu eindrucksvolle Zahlen genannt: Nach ca. 1,58 Millionen Einsprüchen bei den Finanzämtern im Jahre 1987 waren es nur zwei Jahre später bereits ca. 2,14 Millionen solcher Rechtsbehelfe — ein enormer Anstieg also! Was sind die Gründe hierfür, woran liegt das? Sind die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ganz einfach noch mündiger geworden oder auch weniger ängstlich, wenn es darum geht, vom Staat Gerechtigkeit einzufordern? Das wäre dann nur positiv. Oder sind es nicht mindestens ebenso die unglaubliche Kompliziertheit unseres Steuersystems — vornehm zurückhaltend, der Ministerialbürokratie angemessen, heißt es an einer Stelle der Gesetzesbegründung: „Das Verständnis der Steuervorschriften erschließt sich oft nicht leicht" — und zudem viel zu häufig Unklarheiten, eine unklare Sprache, die wir als Gesetzgeber selbst zu vertreten haben? Vom letzteren bin ich nach meinen persönlichen Erfahrungen als Rechtsanwalt nur leider allzu überzeugt. Ist es denn nicht tatsächlich so, daß wir viel zu häufig Unklares — freilich oft in unguter Eile — bewußt in Kauf nehmen und allenfalls für die späteren Entscheidungen der Judikative noch etwas in die Gesetzesbegründung hineinschreiben? Ich könnte dazu eine ganze Reihe von Beispielen anführen. Nun, dessenungeachtet ist es aus der Sicht meiner Fraktion sehr zu begrüßen, daß das derzeitige Nebeneinander der Finanzgerichtsordnung und zweier Entlastungsgesetze beendet werden soll und uns in der Gesetzesvorlage der Bundesregierung eine Reihe weiterer Vorschläge zur Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren unterbreitet werden. Im einzelnen werden wir das in den Ausschüssen erörtern, aber im Grundsatz können wir, wie ich meine, durchaus schon jetzt unsere Zustimmung ankündigen. Ebenso, meine Damen und Herren, bin ich der Überzeugung, daß wir nicht zögern dürfen, außer diesen Verfahrenshemmnissen auch den anderen Ursachen des Arbeitsstaus bei den Finanzgerichten energisch nachzugehen. Dabei denke ich auch etwa an die häufigen Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die naturgemäß die Betroffenen verunsichern, also zu Rechtsunsicherheit und zu entsprechenden Folgewirkungen führen müssen. Die Wartefristen bei den Finanzgerichten dürfen in dem Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland nicht faktisch einer Rechtsverweigerung gleichkommen. Es bleibt deshalb unsere Aufgabe, auf jedwede Weise auch in Zukunft die Verkürzung der Verfahren zu betreiben. Dies ist keine einmalige Aufgabe, sondern muß uns auch in Zukunft beschäftigen. In diesem Sinne stimmen wir einer Überweisung der Vorlage in die Ausschüsse zu. Dr. Hans de With (SPD): Vor keinem Richter muß der rechtssuchende Bürger länger warten als vor dem der Finanzgerichtsbarkeit, obwohl dieser Gerichtszweig als einziger nur zwei Instanzen kennt. Wer im Schnitt in der ersten Instanz zwei Jahre und acht Monate und im Revisionsverfahren gar drei Jahre und zwei Monate auf die Gerichtsentscheidung warten muß — und das sind leider nur Durchschnittszahlen, es kann also auch länger dauern — , sagt sich nicht nur: Spätes Recht ist halbes Recht. Ihn wird das Gefühl der Rechtsverweigerung beschleichen. Es kommt hinzu, daß bis vor dem Gang zum Finanzgericht bereits eine nicht geringe Zeit für das Verfahren bei den Finanzbehörden verflossen ist. Die Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg ist zwar gemeinhin nur dem Juristen bekannt, aber wir sollten nicht verschweigen, daß dort auch schon die Bundesrepublik wegen zu langer Verfahrensdauer vor Gerichten gerügt worden ist. Diese mißliche Situation kennen wir nicht erst seit heute. Wir haben die Richterplanstellen beim Bundesfinanzhof jeweils ohne Zögern aufgestockt. Die Länder haben ihren Part zur Vermehrung der Richter bei den Finanzgerichten geleistet. In jeder Haushaltsberatung im Rechtsausschuß ist der Bundesminister der 3464* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 Justiz — wer auch immer er war — seit Jahren mit Fragen nach der Verfahrensdauer in der Finanzgerichtsbarkeit gequält worden. Zwei Beschleunigungsnovellen haben wir hinter uns. Sie sind allerdings befristet. Sie laufen am 31. Dezember 1991 bzw. am 31. Dezember 1992 aus. Schon deswegen ist bei der Behandlung dieser Vorlage Eile geboten. Bundesrat und Bundesregierung — so in der Drucksache nachzulesen — mahnen Eile an. Auch wir Sozialdemokraten dringen mit Nachdruck auf Beschleunigung. Mit uns kann die Änderungsnovelle sehr rasch verwirklicht werden. Nur, sie wäre wahrscheinlich schon verabschiedet worden, hätte die Bundesregierung ihre Vorlage nicht erst am 24. Mai dieses Jahres eingebracht. Sie hat ohnehin ihren entsprechenden Gesetzentwurf vom 27. Mai 1988 beinahe unverändert abschreiben können. Im wesentlichen soll durch diese Vorlage das bisher in den beiden erwähnten Beschleunigungsgesetzen enthaltene befristete Recht Dauerrecht werden. Hinzu kommen einige weitere Vorschriften. Es geht jetzt um sieben Kernmaßnahmen, sechs auf Vorschlag der Bundesregierung und eine auf Vorschlag des Bundesrates. Nämlich um die Neuregelung des Revisionsrechts in Form der Zulassungsrevision, Fristsetzung für bestimmte Prozeßhandlungen, Vereinfachung der Beiladung in Massenverfahren, Erweiterung der Befugnisse des vorbereitenden Richters, Einführung eines Gerichtsbescheides, erleichterte Zurückverweisung der Streitsache an die Finanzbehörden und Einführung des Einzelrichters. Alle diese Vorschläge stoßen bei uns grundsätzlich auf positive Zustimmung. Sorgfältig prüfen müssen wir aber noch einmal die Auswirkungen der Zulassungsrevision, die Regelung der Vertretung vor dem Bundesfinanzhof und die Folgen der Einführung des Einzelrichters. Bei der Ausgestaltung der Revision als bloße Zulassungsrevision auf Dauer ist genau zu fragen, welche Bedeutung dies für die Korrektur fehlerhafter Entscheidungen im Einzelfall hat. Denn die bloße Zulassungsrevision bedeutet nichts anderes, als daß mit dem Vehikel der Einzelfallkorrektur generelle Rechtsfortbildung betrieben wird, ohne daß die Einzelfallgerechtigkeit im Vordergrund steht. Freilich weiß auch jedermann um die Bedenken der Streitwertrevision. Die vorgeschlagene Vertretungsregelung vor dem Bundesfinanzhof sollte noch einmal unter dem Licht der Tatsache geprüft werden, daß noch immer rund 30 % aller Revisionen unzulässig sind, also nicht die erforderliche juristische Form durch den Revisionsführer erhalten haben. Beim Bundesgerichtshof ist das anders. Daß der Einzelrichter im Finanzgerichtswesen umstritten ist — vor allem bei den Finanzrichtern selber —, ist bekannt. Trotzdem sollte der hier vorgelegte Länderentwurf völlig unvoreingenommen geprüft werden. Haben wir diese Hürden genommen und erreichen wir, daß das Änderungsgesetz sehr rasch im Bundesgesetzblatt nachzulesen sein wird — rasche Hilfe ist doppelte Hilfe — , so darf gleichwohl keiner derer die Hände in den Schoß legen, die weitere Chancen der Beschleunigung in der Finanzgerichtsbarkeit in der Hand haben. Da sind auch die Richter als Rechtsgestalter zu nennen. Auch der Bundesfinanzhof sollte nicht ohne Not — was die Bundesregierung mit Recht bemerkt — seine Rechtsprechung ändern oder auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hoffen. Bundesregierung und Bundestag — hier müssen wir uns selbst auf die Schulter klopfen — können jedoch von der Kritik nicht ausgenommen werden. Wir sind uns alle einig, daß die allzu häufigen Änderungen von Steuergesetzen und deren für den Normalbürger nicht immer nachzuvollziehende Bedeutung Mitursache für viele Rechtsmittel sind. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an die vom Bundesminister der Finanzen noch nicht umgesetzten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Kinderfreibeträgen und damit zu den nicht besteuerungsfähigen Grundfreibeträgen. Als Hausaufgabe bleibt weiter, wie das Vorverfahren verkürzt werden kann. Alles in allem: Das Steuerschiff muß wieder flott werden. Zu viele Kursänderungen und eine zu alte Takelage haben es gefährlich ins Schlingern gebracht. Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Beschleunigung — das war zeitweise die oberste Losung der deutschen Wiedervereinigungspolitik, nämlich solange es dabei uni Wahltermine ging. Als die Verfassungsfrage am Horizont auftauchte, griff eine auffallende Gemächlichkeit um sich. Hartnäckig freilich hält sich die Devise ,,Beschleunigung" in der Gesetzgebung. Der Verkehrsminister beschleunigt, die Landesjustizminister beschleunigen, und nun soll sogar die lange Bank des Bundesfinanzhofs beschleunigt abgeräumt werden. Wer wollte etwas gegen so gute Vorsätze einwenden, wenn — ja, wenn nur klar wäre, was da eigentlich beschleunigt wird. Ich will es ohne Umschweife sagen: Es sind die Rechte betroffener Bürger und Bürgerinnen, denen es beschleunigt an den Kragen gehen soll. Wir werden die hier zu thematisierende Grundfrage demokratischer Rechtspraxis ausführlich zu diskutieren haben im Zusammenhang mit dem von den Landesjustizministern favorisierten und von den Anwaltsverbänden attaktierten, in Vorbereitung befindlichen Verfahrensbeschleunigungsgesetz. Aber da der vorliegende Gesetzesentwurf zur Änderung der Finanzgerichtsordnung dem gleichen, auch in jenen anderen oben erwähnten Gesetzesinitiativen dominierenden Argumentationsmuster folgt, will ich schon jetzt die Frage aufwerfen, welchem Kurs die Rechtspolitik der Regierung eigentlich folgt. Für einen Bewohner der Ostländer ist es besonders ärgerlich, daß der Abbau von Betroffenenrechten immer wieder mit den Zwängen beim Neuaufbau der Justiz in den östlichen Ländern gerechtfertigt werden soll. Das Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung zeigt demgegenüber, daß es sich mit diesen angeblichen Zwängen völlig anders verhält. Ist dieser Entwurf noch nichts anderes als der derzeitige Stand einer gesetzgeberischen Auseinandersetzung mit einer Rechtsprechungsmisere, deren Ausmaß seit langem als besorgniserregend gilt. Es ist die Verfahrensflut in Steuersachen, der zu begegnen schon das Ge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3465* setz vom 8. 7. 1975, ein Gesetz zur Entlastung des Bundesfinanzhofs, gedacht war. Daß dieses Ziel jedenfalls bestenfalls teilweise erreicht wurde, zeigt die Novellierung dieses Gesetzes am 22. 12. 1989. Daß das Parlament nun abermals in der gleichen Sache tätig werden muß, ist gewiß durch die Tatsache verursacht, daß die Geltung des 1989er Gesetzes am 31. 12. 1991 endet, aber nicht weniger Ausdruck der nicht beseitigten Überlastung der Finanz- und Verwaltungsgerichte. Welche Abhilfen schlägt die Bundesregierung vor? Neu jedenfalls wird man die vorgeschlagenen Regelungen kaum nennen können. Handelt es sich doch im wesentlichen darum, die vorgenommenen Novellierungen in die Finanzgerichtsordnung zu integrieren und per Artikelgesetz die Folgeänderungen im Gerichtskostengesetz, in der Gebührenordnung für Rechtsanwälte sowie in der Abgabenordnung und dem Steuerberatungsgesetz vorzunehmen. Das alles könnte man als einen legislativen Routinevorgang betrachten, wenn nicht fast alle vorgeschlagenen Lösungen die Position des Rechtsuchenden drastisch verschlechterten. Das gilt insbesondere durch die Festlegungen über Entscheidung per Gerichtsbescheid, durch Neuformulierung der §§ 79 a und 90 FGO, die Beweismittel- und Ermittlungszurückweisung in § 79b und ganz besonders durch die einschneidende Beschränkung der Revision in § 115 Abs. 2 Nr. 1. Am ehesten könnte man den Gerichtsbescheid als klägerfreundliche Verfahrensverkürzung verteidigen. Aber angesichts der mit der Stellung des Vorsitzenden gegebenen Verfahrensdominanz wird auch die in § 90 a vorgesehene Revision nicht mehr viel an der mit dem Gerichtsbescheid geschaffenen Lage ändern, zumal da auch die mündliche Verhandlung laut § 90a Abs. 4 unter restriktive Bedingungen gestellt ist. Vollends klägerfeindlich ist die Bestimmung in § 79b Abs. 3 Nr. 1, die die Zulassung von weiteren Beweismitteln der freien Überzeugung des Gerichtes überläßt. In noch krasserer Form geschieht das in § 115 Abs. 2, Nr. 1, wonach Revision nur für Rechtssachen grundsätzlicher Bedeutung möglich sein soll. Wenn der Gesetzgeber doch wenigstens verriete, wer über diese grundsätzliche Bedeutung befindet und für wen die Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung sein soll. Die alte Streitwertrevision ließ wenigstens noch einen klaren Bezug zum Kläger erkennen. Jetzt zeigt sich in dieser Bestimmung nur der Grundfehler, der dieser ganzen Rechtspolitik zugrunde liegt: die auftauchenden Schwierigkeiten so lösen zu wollen, daß die geübte Praxis wie bisher fortfahren kann — wenn es sein muß, auf Kosten des Klägers. Denn nur als offenen Zynismus kann man den Satz der Begründung bezeichnen: wenn man nach einer einzigen Tatsacheninstanz nur eine Grundsatzrevision vorsehe, dann beeinträchtige dies den Rechtsschutz nicht unzumutbar. Doch unzumutbar für eine demokratische Öffentlichkeit dürfte es jedenfalls sein, daß eine Beeinträchtigung des Rechtsschutzes ganz offen zugegeben wird. Über deren Ausmaß soll aber jedenfalls allein die Gesetzgebung zu befinden haben. Will die Bundesregierung nicht endlich einmal anfangen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob die Überlast von finanzgerichtlichen Verfahren etwas mit dem Chaos ihrer Steuergesetzgebung zu tun hat? Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 13 (Entwurf eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom 8. Oktober 1990 über die Internationale Kommission zum Schutz der Elbe) Dr. Norbert Rieder (CDU/CSU): Ich will Ihnen ganz kurz einige nüchterne Fakten aus einem wissenschaftlichen Bericht vorlesen. Ich zitiere: Hohe Ammoniumkonzentrationen führen in der warmen Jahreszeit regelmäßig zum Absinken des Sauerstoffgehaltes im Wasser bis nahe an den Nullwert. Dadurch treten häufig Fischsterben ein. In den Sedimenten des Flusses reichern sich Schwermetalle und organische Chlorverbindungen besonders stark an. Das Baggergut, das zur Erhaltung der Schiffbarkeit in den Häfen ausgebaggert werden muß, ist hochkontaminiert. Der Gehalt an Quecksilber und organischen Chlorverbindungen in Aalen und anderen Fischen ist so hoch, daß sie nicht mehr vermarktet werden können und vom auch gelegentlichen Genuß abgeraten werden muß. Die starke Verschmutzung wirkt sich auf die Belastung der Nordsee nicht unerheblich aus. Meine Damen und Herren, Sie können nun raten, welcher deutsche Schicksalsfluß so charakterisiert wird oder wurde. Ich will es Ihnen sagen: Für den einen, den Rhein, galt das eben Gesagte vor 20 Jahren, für die Elbe gilt es leider heute noch. Denn während für den Rhein die internationale Kommission zum Schutze des Rheins seit 1950 zuerst mit zaghaften Schritten, dann seit 1963 etwas schneller und schließlich seit knapp 20 Jahren verstärkt dafür sorgt, daß sich die Wasserqualität des Rheins kontinuierlich bessert, ist bei der Elbe nichts geschehen; und das, obwohl die naturräumlichen Gegebenheiten der Elbe — ähnlich wie beim Rhein — nicht nur Trinkwassernutzung, sondern auch die Nutzung für aktive Freizeitbetätigung und natürlich auch die Erhaltung als wichtige ökologische Ausgleichsfläche geradezu herausf ordern. Nun, wir wissen alle, daß es bis vor kurzem nicht möglich war, mit dem früheren Regime in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone oder in der Tschechoslowakei zu einem wie auch immer gearteten Abkommen zu gelangen. Wir wissen aber auch, daß die Masse der Verschmutzung gerade aus diesem Bereich kam, während auf dem Gebiet der alten Bundesländer die Einleitungen drastisch heruntergegangen sind. Die Menschenverachtung des sogenannten sozialisti- 3466* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 schen Systemes hat sich ja auch in der Umweltpolitik gezeigt. Um so erfreulicher ist es, daß bereits am 8. Oktober 1990 unser Umweltminister Töpfer für die Bundesrepublik Deutschland mit der CSFR und der EG eine Vereinbarung über eine Internationale Kommission zum Schutz der Elbe getroffen hat, der wir nun durch das entsprechende Gesetz zum Leben verhelfen wollen. Dieses Gesetz und die dadurch mögliche Schaffung einer solchen Kommission sind die unabdingbare Voraussetzung, um eine tiefgreifende und vor allem grenzüberschreitende Verbesserung des Zustandes der Elbe zu erreichen. Ich muß bekennen, daß ich noch nie einem Gesetz so ohne Bedenken zugestimmt habe, wie ich diesem zustimmen werde, wird es uns nun doch die Möglichkeit geben — und jetzt komme ich auf das Beispiel Rhein zurück — , all das, was wir — zum Teil nach lästigen Verzögerungen, zum Teil nach Irrwegen, etwa beim Bau von Staustufen am Oberrhein, deren Weiterbau gerade noch rechtzeitig durch eine bessere Lösung, die Geschiebezugabe, ersetzt wurde, zum Teil aber auch nach leidvollen Erfahrungen, etwa beim Sandozunfall, auf den wir nicht ausreichend vorbereitet waren — beim Rhein erreicht haben, auf die Elbe anzuwenden. Zum großen Teil lassen sich nämlich die Grundgedanken, die in den verschiedenen Übereinkommen für den Rhein getroffen wurden, ohne weiteres für die Elbe übernehmen, zum Teil wurde das sogar schon begonnen oder teilweise verwirklicht, so etwa beim Meßprogramm Elbe, das sogar noch eine wesentlich höhere Datendichte und mehr Informationen als am Rhein bringt. Nun, irgendwo muß sich ja der technische Fortschritt auswirken. Das gilt aber auch für den Warn- und Alarmplan, das Chemieabkommen und nicht zuletzt für das jüngste Kind, das Aktionsprogramm Rhein, das in seinen wesentlichen Punkten unter dem Eindruck des Sandozunfalles verabschiedet wurde und bis zum Jahr 2000 den Rhein endgültig zu einem Gewässer machen wird, das nicht nur verkehrstechnischen Anforderungen, sondern bei einer Wasserqualität, die ohne Probleme die Aufbereitung zu Trinkwasser gestattet, hohen Freizeitwert mit hoher ökologischer Wertigkeit verbindet. Meine Damen und Herren, all diese Rheinprogramme, auch die Punkte daraus, die am Rhein zwar beschlossen, aber noch nicht umgesetzt wurden, sind nun gebündelt mit allen Erfahrungen, die man bisher am Rhein und an anderen Flüssen weltweit gesammelt hat, in dieses internationale Abkommen zum Schutz der Elbe eingearbeitet worden. Ich bin deshalb sicher, daß wir zum Ende dieses Jahrhunderts ähnliche Erfolgsmeldungen — oder vielleicht sogar noch bessere — lesen können wie heute vom Rhein. Ja, ich bis sogar überzeugt davon, daß es dann niemand mehr als besondere Nachricht betrachtet, sondern als selbstverständlich, wenn er etwa folgendes liest: „Während im Jahr 1991 in der Elbe nur noch etwa 50 Tierarten, die meisten davon Kleinlebewesen, nachzuweisen waren, lassen sich heute wieder fast alle Arten finden, die vor 100 Jahren für die Elbe typisch waren. " Ich denke, dies alles ist nicht nur ein Erfolg der Politik, die zur deutschen Wiedervereinigung geführt hat, sondern ist auch und gerade ein Erfolg der konsequenten und im wahrsten Sinne des Wortes überzeugenden Umweltpolitik dieser Regierung und besonders unseres Umweltministers Klaus Töpfer, der sich auch bei der Aushandlung dieses Vertrages bleibendes Verdienst erworben hat. Dietmar Schütz (SPD): Als wir Mitglieder des Umweltausschusses in der vorigen Legislaturperiode zum ersten Mal im Frühjahr 1990 die damalige DDR besuchten, bekamen wir bei Bitterfeld und Wolffen einen schockierend sensitiven Eindruck von den Schmutzfrachten, die die Elbe auszuhalten hatte. Sowohl die chemische Fabrik Bitterfeld als auch die fotochemische Fabrik Wolffen leiteten ihre Chemiefrachten unbehandelt über einen Kanal in die Mulde, einen Nebenfluß der Elbe. Der Fluß war unterhalb dieser Einleitung mausetot. Wenn auch auf Grund der zahlreichen Produktionsstillegungen und Produktionsdrosselungen bereits ein deutlicher Rückgang der Schadstofffrachten in der Elbe beobachtet wurde, gehört diese doch immer noch zu den am stärksten verschmutzten Flüssen Europas. Wir begrüßen deshalb alle, daß der erste internationale Vertrag, den das vereinte Deutschland geschlossen hat, ein Vertrag über die internationale Kommission zum Schutz der Elbe war. Die nächsten Aufgaben dieser Kommission, vor allem ein Aktionsprogramm zur Reduzierung der Schadstofffrachten aus allen Einleitungen und ein Meß- und Untersuchungsprogramm für die Elbe durchzuführen, werden sicherlich von uns allen unterstützt. Wenngleich die in der Vereinbarung genannten Ziele einer Elbsanierung, nämlich Trinkwasser aus Uferfiltraten zu gewinnen, ein möglichst naturnahes Ökosystem mit einer gesunden Artenvielfalt zu erreichen und die Nordseebelastung aus der Elbe zu verringern, aus heutiger Sicht noch in weiter Ferne liegen, müssen wir dennoch bereits jetzt die Voraussetzungen für ihre Realisierung schaffen. Der Neubau — und die Nachrüstungen von Kläranlagen in den Industriebetrieben und in den Kommunen an der Elbe und ihren Nebenflüssen ist der entscheidende Ansatz zur Sanierung der Wassergüte. Der hierfür erforderliche finanzielle Kraftakt ist bisher nur in Umrissen erkennbar. Die Bundesregierung hat schon in ihre ersten Pilotprojekte zur Umweltsanierung Kläranlagen einbezogen, z. B. in Bitterfeld/Wolffen, deren Notwendigkeit jedem, der vor Ort Augen und Nase aufmacht, plausibel wird. Die Haushaltsanierungsansätze von 1991 und 1992 sind angesichts der durch die IfU geschätzten über 200 Milliarden Sanierungskosten allein im Gewässerbereich natürlich immer nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Ich sage dies nicht, um die Bundesregierung zu kritisieren, sondern um uns die Dimensionen der Aufgaben vor Augen zu halten. Trotz Zuständigkeiten der Kommunen — aber auch der Länder — im Kläranlagenbau, muß angesichts der Größe der Aufgabe der Bund die entscheidende Anfangsfinanzierung übernehmen. Wir brauchen auch Finanzierungsprogramme zur Elbsanierung. Allerdings müssen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3467 von Anfang an mindestens die Länder bei der detaillierten Aufgaben- und Prioritätenformulierung in den Arbeitsgruppen der Kommission vertreten sein. Ich bedaure deshalb, daß der einstimmig angenommene Antrag des Bundesrates, durch einen Zusatzartikel 1 a eine Ländervertretung in der Arbeitsgemeinschaft zur Reinhaltung der Elbe sicherzustellen, von der Bundesregierung zurückgewiesen wurde. Diese riesige Aufgabe der Elbsanierung ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden. Sie muß deshalb von allen Beteiligten gemeinsam angepackt werden. Eine Beteiligung der Länder in der Delegation der Bundesrepublik Deutschland ist in diesem Zusammenhang unbedingt erforderlich. Wir wollen deshalb erreichen, daß der Vertrag in diesem Punkt noch nachgebessert wird. Ich bin optimistisch, daß das Ökosystem Elbe, was die Gewässergüte angeht, trotz oder wegen des Streits in der Finanzierung in absehbarer Zeit so deutlich verbessert sein wird, daß früher vorhandene höhere Arten in der Elbe wieder heimisch werden. Allerdings habe ich Zweifel, ob das gleichrangig zur Gewässergüte formulierte Ziel, ein möglichst naturnahes Ökosystem mit einer gesunden Artenvielfalt zu erreichen und zu erhalten — bei Abwägung der mir bekannten Gefährdungspotentiale — , realisierbar ist. Diese Skepsis habe ich wegen der nach und nach bekanntgewordenen Pläne zu Fragen der Elbschiffahrt, die nach Art. 1 Abs. 4 ausdrücklich von der Vereinbarung ausgenommen ist. Die Elbe hat in ihrem Mittellauf ihren alten Charakter behalten, der nicht durch eine massive Kanalisierung, Flußbettvertiefung und Stauhaltung gestört wird. Auwaldreste, wechselfeuchte Gründlandflächen und zahlreiche Stillgewässer sind auf die periodischen Überschwemmungen durch die Elbe angewiesen. Diese Flächen haben auch eine unersetzliche Auffangfunktion für die großen Zugvögelschwärme von Kranichen, Wildgänsen und Schwänen. Die ökologische Bedeutung zwischen Lauenburg und Schnackenburg wird durch den Naturpark Mecklenburgisches Elbtal und weiter oben durch den Nationalpark Sächsische Schweiz ergänzt und verstärkt. Heute schon ist die Elbe ein großer Natur- und Erholungsraum für die Menschen. Die Schiffahrt auf der Elbe findet noch nicht mit den genormten Europaschiffen mit über 2,5 m garantiertem Tiefgang statt, sondern mit wesentlich flacher gehenden Schiffen. Schiffahrtstechnisch sind in Deutschland drei Elbabschnitte unterschiedlich zu diskutieren. Den unteren Elbabschnitt von der Nordsee bis Hamburg will ich hier nicht diskutieren; auch nicht den Abschnitt von Hamburg bis zum Mittellandkanal, der über den Elbeseitenkanal erreicht werden kann. Ein Elbausbau durch den Naturpark ist deshalb überflüssig und auf jeden Fall nicht akzeptabel. Kritisch für die Frage der Bewahrung eines intakten Ökosystems in der Elbflußlandschaft ist die beginnende Diskussion zur Verbesserung der Schiffbarkeit ab Magdeburg elbeaufwärts. In den „Verkehrsprojekten Deutsche Einheit" ist die Erweiterung des östlichen Mittellandkanals sowie des Elbe-Havel-Kanals vorgesehen, die bei Heinrichsberg/Magdeburg die Elbe queren und von Wasserstandsschwankungen unabhängig sein soll. Ich halte nur eine Lösung für akzeptabel, die einen möglichst geringen Eingriff in die Elbe nach sich zieht. Dies ist jedenfalls nicht der Bau einer Staustufe, sondern eher die Führung in einem Trog über die Elbe. Die weiteren Überlegungen der Binnenschiffahrt, auch etwa die Elbstrecken oberhalb Magdeburgs durch eine Stauregelung — man spricht von 17 Staustufen — oder durch eine Nachregulierung — dies ist wohl eine Ausbaggerung — für Schiffe passierbar zu gestalten, müssen aus Gründen der Ökologie mit äußerster Skepsis betrachtet werden. Wir müssen — wie etwa die Franzosen, die bei ihrer Loire-Diskussion auf einen Ausbau verzichtet haben, auch die Chancen begreifen, die intakte Naturräume wie das Elbegebiet in unserer industrialisierten Umwelt bieten. Die Anbindung des sächsischen Industrieraumes an die anderen Gebiete Deutschlands kann auch über einen leistungsfähig ausgebauten Schienenweg geschehen. Obwohl ich auch aus ökologischen Gründen mit der Forderung nach einer stärkeren Verlagerung der Massenverkehre auf das Binnenschiff sympathisiere, muß doch in der Regel geprüft werden, für welche Strecken dies im Einzelfall sinnvoll ist. Der Vergleich des Energieaufwandes zwischen Eisenbahn (11 SKE/tkm) und des Binnenschiffes (23 SKE/tkm) (zum Vergleich: Straße 85 SKE/tkm) zeigt, daß Eisenbahn und Binnenschiff in der Frage, was den ökologisch und ökonomisch vernünftigsten Transport angeht, sehr nahe beieinander sind. Deshalb kann nicht jedesmal die Entscheidung für das Binnenschiff fallen. Diese Diskussion muß aus ökologischer Sicht mit größer Aufmerksamkeit geführt werden. Die Chance der Einheit, die hoffentlich bald zu ähnlichen Umweltstandards in den neuen Ländern führt, darf nicht auch gleichzeitig das „Nebengeschenk der Trennung" , nämlich die ökologischen Nischen im Grenzgebiet — hier also der Elbauen — gefährden. Wir wollen beides bewahren. Die Elbe soll sauberer und artenreicher werden. Darüber hinaus soll sie uns aber auch in ihrer noch ziemlich unverbauten Gestalt mit Auwäldern, Feuchtflächen und Biberkolonien erhalten bleiben. Dafür lassen sie uns gemeinsam kämpfen. Reinhard Weis (Stendal) (SPD): Es ist zweifellos ein positives Ergebnis, daß sich die Europäische Gemeinschaft die Tschechoslowakische Förderative Republik und die Bundesrepublik Deutschland zu einer internationalen Zusammenarbeit und Kooperation bei der so dringend erforderlichen Sanierung der Elbe verpflichten. Nur auf einem solchen international abgestimmten Weg ist mittelfristig eine spürbare Verbesserung der Elbe, ihrer Zu- und Nebenflüsse und schließlich auch der Nordsee zu erreichen. Im Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der vorliegenden Vereinbarung wird in diesem Zusammenhang vom Erreichen eines möglichst naturnahen Systems und einer gesunden Artenvielfalt gesprochen. Wir müssen fordern, daß dies nicht auf den Bereich des Wassers und der auf und in ihm lebenden Arten begrenzt wird. Die Gefahr einer solchen Einschränkung sehen wir deshalb, weil im Abs. 4 des Art. 1 die Probleme der 3468* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 Schiffahrt aus der Zuständigkeit der Kommission zum Schutz der Elbe ausdrücklich ausgenommen werden. Worin wir die Gefahren sehen, möchte ich kurz in einer Beschreibung des Naturraumes Elbe darlegen. Einerseits ist die Elbe katastrophal mit industriellen und kommunalen Belastungen verschmutzt, man kann auch sagen: vergiftet. Andererseits hat sie, wenn man den Blick vom Wasser löst, ein anderes Gesicht. Ich kann das persönlich bewerten, nicht nur weil ich an der Elbe geboren und aufgewachsen bin, sondern auch weil mein Wahlkreis, die Altmark, im Osten von rund 80 km Flußlänge der Elbe begrenzt wird. Beginnend an der Böhmischen Pforte und dem Durchbruch des Nationalparks Elbsandsteingebirge, über das malerische Elbtal bei Dresden, die weiten unbefestigten Überflutungsräume im Mittellauf mit Vogelschutzgebieten, wiedererstarkten Biberpopulationen, Flußauelandschaften und die ausgedehnten Feuchtgebiete an der Grenze zum Land Niedersachsen finden wir entlang des Elbverlaufs in den Bundesländern Sachsen und Sachsen-Anhalt Flußlandschaften, wie sie in der alten Bundesrepublik im Zug des Ausbaus der Bundeswasserstraßen vernichtet wurden. Wir reden heute über ein notwendiges Gesetz zum Schutz der Elbe, das aber den Aspekt des Naturschutzes für noch vorhandene Potentiale naturnaher Landschaften nicht ausdrücklich beachtet. Heute erlebe ich in den Ländern Sachsen und Sachsen-Anhalt elbauf und elbab eine Vielzahl von Veranstaltungen, die sich mit dem Ausbau der Elbe zu einer Wasserstraße, also für erheblich größere Schiffseinheiten als bisher möglich, einsetzen. Als Beispiel möchte ich aus der Tagesordnung einer Veranstaltung zu diesem Thema auf dem sogenannten Europaschiff am 25. September 1991 in Magdeburg zitieren: „Das Ladungspotential der Elbe in Gegenwart und Zukunft" , „Die Häfen der Elbe und ihre Marktchancen", „Der Ausbau der Elbe — ein gesamteuropäisches Anliegen", „Der Ausbau der Elbe aus technischer Sicht", „Die ökologischen Risiken des technischen Ausbaues der Elbe", „Der Ausbau der Elbe in ihrem oberen Lauf", „Die Elbe im Verkehrswegeplan der Bundesrepublik" . Diese Themen geben eindeutig die beabsichtigte Entwicklung wieder. Ein Blick auf die Referenten zeigt mir auch deutlich, wo die Defizite bei den Betrachtungen liegen: Mit Ausnahme des Referenten für den einzigen umweltpolitisch orientierten Redebeitrag, Herrn Dr. Dörfler — übrigens der Ausschußvorsitzende im Umweltausschuß der letzten Volkskammer der DDR — , der jetzt freiberuflich tätig ist und hier nur eine Alibirolle spielen kann, sind alle anderen Referenten in verantwortlichen Positionen von Industrieverbänden oder der Landes- und Bezirksregierung. Da ist kritisch anzufragen, warum wohl von den Verantwortlichen im Lande nicht mit gleicher Deutlichkeit wie die gewünschten Leistungsanforderungen an die Elbe die Belange des Naturschutzes im Elbraum beschrieben werden. Dies überläßt man von Anfang an einem Außenseiter. Für die geplanten größeren Schiffseinheiten ist die Fahrrinne natürlich zu flach. Es stören die wechselnden Wasserstände und vor allem der Domfelsen in Magdeburg. Für all das gibt es bekanntlich technisch machbare Lösungsmöglichkeiten: Man kann die Fahrrinne ausbaggern und den Fluß mit möglicherweise 17 Staustufen so kanalisieren, daß der Domfelsen kein Hindernis mehr ist und der Wasserstand von den Jahreszeiten unabhängig wird. Aber man greift tief in den Wasserhaushalt des Elbumlandes ein, weil sich nicht nur die Strömungsverhältnisse im Oberflächenwasser der Elbe ändern, sondern auch die Grundwasserverhältnisse im Elbumland. Mit welchem Ergebnis für Feuchtgebiete und Auenwälder und deren Tierwelt? Staustufen, ob mit oder ohne Eindeichung, zerstören den noch erhaltenen Landschaftscharakter, weil sie mit der Verhinderung des Wechselspiels von Überflutung und Trockenlegung die spezifischen Lebensbedingungen für eine ganz spezialisierte Tier- und Pflanzenwelt beseitigen. Staustufen beeinträchtigen bekanntermaßen auch den Sauerstoffgehalt von Fließgewässern negativ, wodurch die Selbstreinigungskraft des Flusses verschlechtert wird. Hier bahnt sich die Wiederholung tragischer Fehler der Vergangenheit an. Das schlimme daran ist aber, das man die Fehler heute kennt und beschreiben kann. Und man könnte sie natürlich auch vermeiden. Viele der großen Umweltprobleme, national und international, sind dadurch begründet, daß wir mit unserem ingenieurtechnischen Wissen und Können gegen die Natur oder die Schöpfung gehandelt haben und handeln. Mit Sicherheit ist der niedrige Wasserstand in unseren Flüssen auch damit in Zusammenhang zu bringen. Ein Anstau der Elbe zur Ermöglichung eines maximalen Schiffsverkehrs versucht, mit dem Umweltschaden Wassermangel in der Art umzugehen, daß wieder gegen die Natur gehandelt wird. Wir behandeln hier nicht den Bundesverkehrswegeplan. Deshalb möchte ich meine Ausführungen nicht in der Art weiterführen. Aber trotzdem noch eine Betrachtung dazu: Wir müssen, wenn wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen Beitrag zur Sanierung der Elbe leisten wollen, auch die Probleme der Elbschiffahrt in diesen Vorsatz einbeziehen. Dieses Gesetz gibt es nicht her. Die nächste Behandlung des Themas wird wohl tatsächlich erst mit der Fortschreibung des Bundesverkehrswegeplans möglich sein. Ich will für meine Fraktion nicht zum Ausdruck bringen, daß wir gegen eine Nutzung der Elbe als leistungsfähige Bundeswasserstraße sind. Jeder weiß, daß der Transport auf dem Wasserweg nicht nur unter energetischen Gesichtspunkten zu den umweltverträglichsten Transportvarianten zählt. Eine leistungsfähige Wasserstraße ist auch ein Standortfaktor, den wir für norddeutsche, mitteldeutsche und sächsische Industrieregionen nutzen wollen. Die Art und Weise und den Umfang des Ausbaus wollen wir aber in seiner Wechselwirkung zu den anderen Verkehrsträgern, unter Beachtung des tatsächlichen Bedarfs bzw. einer realistischen Bedarfsentwicklung und vor allem unter Bewahrung des Gesamtbilds des Ökosystems Elbe entscheiden. Deshalb fordere ich die Bundesregierung und hier speziell die Bundesminister für Umwelt und Verkehr Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3469* auf, das Defizit des heute vorliegenden Gesetzentwurfs, nämlich die Ausklammerung des Schiffsverkehrs, zum Thema einer besonderen Umweltstudie zur Bewertung der Forderungen zu machen, die zur Fortschreibung des Bundesverkehrswegeplanes aus den Ländern Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Sachsen kommen werden. Auf keinen Fall darf der Ausbau der Bundeswasserstraße Elbe nach den Regeln des sogenannten Beschleunigungsgesetzes erfolgen, daß wir gestern zum erstenmal im Umweltausschuß behandelt haben und das die Durchführung von Raumordnungsverfahren und damit die Umweltverträglichkeitsprüfung mit Öffentlichkeitsbeteiligung dem Ermessen der Länder überläßt. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Dr. Jürgen Starnick (FDP): Auch die Fraktion der FDP begrüßt den vorliegenden Entwurf eines Gesetzes über die Einrichtung einer Internationalen Kommission zum Schutz der Elbe. Bereits vor dem Fall der Mauer hat meine Fraktion wiederholt die Bundesregierung ermutigt und gedrängt, mit den Anrainerstaaten der Elbe, insbesondere mit der Tschechoslowakai und damals noch mit der DDR, das Gespräch über eine Elbeschutzkonvention zu führen. Thorsten Wolfgramm hat dieses von dieser Stelle mehrfach angemahnt. Heute beraten wir über einen konkreten Anfang. Wir können dies tun, weil die politischen Veränderungen in Osteuropa eine bilaterale Vereinbarung unter Einbeziehung der Europäischen Gemeinschaft möglich gemacht haben. Ich bezeichne das, was uns vorliegt bewußt als Anfang, weil der Schwerpunkt der Vereinbarung zunächst darauf liegt, den Zustand der Elbe genauer zu erfassen und zu beschreiben. Dies ist notwendig, um das Problembewußtsein dafür zu stärken, welche Schäden in der Elbe und damit auch in der Nordsee bereits eingetreten sind und wie dringlich die Maßnahmen zum Schutz der Elbe sind. Allerdings können wir in der Phase des Erfassens nicht lange verharren. Der mit diesem Gesetz eingerichteten Kommission muß es sehr schnell gelingen, ihrer Aufgabe gerecht zu werden und Maßnahmen zur Verringerung von Emissionen nach dem Stand der Technik vorzuschlagen. Die Bundesregierung ist aufgerufen, der Kommission rasch wirksame Maßnahmen zu unterbreiten. Keinesfalls darf die Einrichtung dieser Kommission als Ausflucht dafür dienen, daß beim Gewässerschutz in unserem Einzugsbereich der Elbe die Gangart verlangsamt wird. Wir selbst, nicht die Tschechen, müssen die Vorreiter in dem Bemühen sein, die Aufbereitungen von kommunalen und industriellen Abwässern in diesem Bereich zu verbessern. Ich sage dies, weil ich inzwischen ein gewisses Mißbehagen empfinde über das Zuständigkeitsgeraufe in und zwischen den Kommunen über die Organisation der Abwasseraufbereitung in den neuen Bundesländern. Wenn dieses dann noch damit verbunden ist, daß die Kommunen für sich in Anspruch nehmen, die Abwasserproblematik aus eigener Kraft und allein aus öffentlichen Mitteln zu bewerkstelligen, dann darf meine Befürchtung berechtigt sein, daß wir über das Thema „Schutz der Elbe " in diesem Hause noch viele Jahre debattieren werden. Die Treuhandanstalt hat den Investitionsbedarf für die Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung in den kommenden Jahren bis zur Jahrtausendwende in den östlichen Ländern auf bis zu 150 Milliarden DM geschätzt. In Anbetracht dieser Summe sind die dringend notwendigen Maßnahmen nur zu schaffen, wenn sich die Kommunen bei der Finanzierung der Errichtung und dem Betrieb von Trinkwasserver- und Abwasserentsorgungsanlagen privatwirtschaftlicher Möglichkeiten bedienen. Allein und aus eigener Kraft lösen die Kommunen das Problem nicht mit der geforderten Dringlichkeit, weil — bei ihnen in der Verwaltung nicht die notwendige Planungskapazität und das Know-how in ausreichendem Maße vorhanden sind, — die Trägerschaften für die Wasserwirtschaft und ihre personelle Infrastruktur erst geschaffen werden müssen und — die notwendigen Investitionsmaßnahmen von öffentlichen Zuschüssen abhängig gemacht werden. Die öffentlichen Haushalte in den neuen Bundesländern werden aber über lange Zeit begrenzt und diese zu harten Prioritätenentscheidungen gezwungen sein, bei denen bedauerlicherweise Umweltschutzinvestitionen nicht immer vorrangig gesehen werden. Ich möchte den Bundesumweltminister ausdrücklich darin unterstützen — wie im Mai gemeinsam mit der Treuhandanstalt begonnen — , fortzufahren, die neuen Länder zu ermutigen, private Finanzierungsmöglichkeiten in der Wasserwirtschaft auszuschöpfen und neue Wege bei der Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Hand und Privatwirtschaft bei der Neuordnung der Wasserwirtschaft zu beschreiten. Er selbst sollte hierfür finanzielle Anreize schaffen. Wenn die Elbe nicht zu einem umweltpolitischen Dauerbrenner werden soll, dann müssen die Vorteile privatwirtschaftlicher Organisationsform genutzt werden, die darin bestehen, daß private Investoren ihre Investitionen gerade nicht davon abhängig machen, daß etwaige Finanzmittel der Kommunen oder der Länder zur Verfügung stehen. Das noch über viele Jahre magere Steueraufkommen in den östlichen Bundesländern wird nur ausreichen, die laufenden öffentlichen Aufgaben — also die konsumtiven Ausgaben — zu decken. Die Zuflüsse für Investitionshaushalte aus gemeindlichen Steuern, aus Gebührenhaushalten und den anteiligen Finanzzuweisungen aus Steueraufkommen werden allenfalls den Grundbedarf abdecken. Vor allem dürfen die neuen Bundesländer bei der Erarbeitung ihrer Kommunalverfassungen nicht den gleichen Fehler begehen wie viele alte Bundesländer, die Wasserver- und Entsorgung nur als eine öffentliche Aufgabe zu betrachten und privatwirtschaftliche Lösungen auszuschließen. Die Landesregierungen 3470* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 und die Kommunen in den östlichen Ländern müssen vielmehr ihre Kraft vorrangig darauf konzentrieren, die notwendigen Genehmigungsverfahren zügig durchzuführen. Ich will damit nicht bestreiten, daß Entsorgungsaufgaben grundsätzlich Pflichtaufgaben von kommunalen Selbstverwaltungen sind, aber diese müssen sich ausdrücklich Dritter bedienen können. Da die Tschechoslowakei vor den gleichen Problemen steht, werden unsere Lösungen auch modellhaft für sie sein. Die FDP-Fraktion wird deshalb den Bundesumweltminister beim Wort nehmen und bei der für den Herbst angekündigten Vorlage des Elbesanierungsprogrammes nachfragen, inwieweit die verwaltungsmäßigen und finanziellen Voraussetzungen für die zügige Umsetzung der gewünschten Maßnahmen gegeben sind. Bleibt die Antwort unbefriedigend, behält sich die FDP vor, die Initiative zur Novelle des § 18 des Wasserhaushaltsgesetzes zu ergreifen, um die Länder ausdrücklich zu ermächtigen, sich bei der Pflicht zur Abwasserbeseitigung dritter, privatwirtschaftlicher Institutionen zu bedienen. Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Die Kombination von Rednern aus den beiden Bereichen Umwelt und Verkehr zeigt: Regierung und Parlament meinen es ernst mit einer umweltgerechten Verkehrspolitik. Die Vereinbarung zum Schutz der Elbe ist ein beachtenswertes Beispiel dafür. Alle Anliegerinteressen werden im ständigen Sekretariat koordiniert, Konsens und Kooperation sind die Grundlagen. Die Kostenbeteiligung der Bundesrepublik Deutschland mit 65 % (618 000 DM 1991) ist angemessen. Mit der Internationalen Kommission ist eine Organisationsstruktur geschaffen, die eine zügigeVerbesserung des Gewässerschutzes der Elbe gewährleistet. Dieses Ziel hat Vorrang. Bei gutem Willen und strukturierter Arbeit lassen sich die Interessen von Schiffahrt und Wirtschaft durch jetzt praktizierbare internationale Zusammenarbeit in einem Elbe-Nutzungs-Konzept bündeln. Vorfahrt für die Binnenschiffahrt gilt es zu sichern. Keiner der großen Verkehrsträger ist so umweltfreundlich, energiesparend und kostengünstig wie dieser. Der Anteil der Binnenschiffahrt am Güterverkehrsaufkommen betrug 1990 rund 22 %, bis zum Jahre 2010 soll er auf 40 % gesteigert werden. Die neue Politik von Bundesverkehrsminister Krause, mehr Güter vom Asphalt auf die Wasserstraße zu verlagern, dient dem Umweltschutz in hohem Maße. Das Verlagerungspotential, besonders für Massengüter, ist groß. Die Elbe, die 1989 in der ehemaligen DDR rund 3 % und im Bundesgebiet 22 % der Verkehrsleistungen trug, ist als attraktive Wasserstraße zu sichern. Sie ist für Hamburg und Schleswig-Holstein eine Wirtschaftsader von überragender Bedeutung für den Handel mit den Ländern Osteuropas und besonders mit der CSFR. Wer jetzt die Wirtschaftsbeziehungen verbessert und ausbaut, bringt eine belebende Dynamik in die neuen Demokratien Osteuropas, schafft dadurch Arbeit und verstärkt das Vertrauen der Menschen in die durch Mut und Opferbereitschaft gestaltete neue Staatsform. Die sanfte Revolution in der CSFR benötigt weiteren Rückenwind. Der Elbteil im Bereich der ehemaligen DDR bietet ein Bild der Verwahrlosung, ein trauriges Erbe des real existierenden Sozialismus. Der Umweltschutz wurde auch bei diesem Fluß mit Füßen getreten. Für einen fließenden Verkehr sind die Voraussetzungen ebenso miserabel wie für eine vertretbare Umweltsicherheit. Was ist zu tun? Die für die Schiffahrt wichtigen Regulierungsbauwerke sind instandzusetzen. Bei Magdeburg ist ein funktionsgerechtes Wasserstraßenkreuz zu schaffen, damit die Berlin-Anbindung gewährleistet wird. Die Sanierung des Elbe-Havel-Kanals und der Ausbau des Mittellandkanals mit der wasserstandsunabhängigen Elbquerung erfordern einen Investitionsaufwand von 4 Milliarden DM. Eine leistungsfähige Wasserstraßenverbindung zu den Nordseehäfen ist damit gesichert. Und wer dem Umweltschutz gerecht werden will, läßt die Schiffahrt auf der Elbe weiterhin naturbelassen. Doch zur Zeit ist die Gefahr groß, daß dieser Fluß mißbraucht wird. Die Regierungschefs der norddeutschen Küstenländer haben gemeinsam mit dem Unternehmerkuratorium Nord Beschlüsse gefaßt, die in ihrer Konsequenz zu einer großräumigen Umweltzerstörung führen können, zum Schaden der Menschen in Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen. Unter Vorsitz von Hennig Voscherau und Björn Engholm will man — trotz der Warnung vieler Fachleute — die Unterelbevertiefung vornehmen, um diese Wasserstraße dem Containerschiff der 4. Generation mit 13,80 m Tiefgang anzupassen. Dieses Vorhaben ist weder ökologisch vertretbar noch sturmflutsicher und finanzierbar. Hamburg will die Konkurrenzhäfen Bremerhaven und Cuxhaven dadurch aushebeln ohne Rücksicht auf den Umweltschaden. Diese Entscheidung vom 8. Mai 1991 ist vom Vorsitzenden des Umweltausschusses, Dr. Wolfgang von Geldern, heftig kritisiert worden. Ein Jahr zuvor noch lief die SPD Schleswig-Holstein gegen solche Ideen der Hansestadt Sturm, weil bei einer solchen Wassertiefe das Ufer stetig wegsackt, es keine Verklappungsflächen mehr gibt, die Regenerationskraft des Flusses abgebaut wird und die Gefahr von Deichbrüchen immens steigt. Im Herbst 1990 hielt die SPD des nördlichsten Bundeslandes die Elbvertiefung für nicht aktzeptabel, acht Monate später setzt sich Björn Engholm nach Gutsherrenart über die Fraktionsmeinung hinweg. Dieses Doppelspiel schadet nicht nur der Elbe, sondern auch der Glaubwürdigkeit von Politikern. Die Fraktion betreibt eine Verbeugungsstrategie vor den Umweltschutzverbänden, der Ministerpräsident derselben Partei vor den Unternehmern verbunden mit der stillen Hoffnung „es merkt ja keiner" ! Die Forderung zur Tiefbaggerung geht an den Bund, Engholm und seine Fraktion behalten bei einer solchen Taktik eine vermeintlich weiße Weste, doch die Menschen bleiben getäuscht. Der Spielraum für einen günstigen, deutschen Containerhafen ist groß, ein neuer Tiefwasserhafen vor Brunsbüttel könnte eine gute Lösung dafür sein, die Elbe zu schützen, den Handel zukünftig zu sichern. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3471* Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Die Elbe gehört neben der Oder zu den am stärksten durch Schadstoffe belasteten Flüssen Europas. Die Verunreinigung wird im wesentlichen durch fehlende oder unzureichend arbeitende industrielle und kommunale Kläranlagen in der Tschechoslowakei und im Gebiet der ehemaligen DDR sowie durch diffuse Einträge insbesondere aus der Landwirtschaft verursacht. Die Elbe ist dadurch hochgradig mit sauerstoffzehrenden Substanzen, Schwermetallen und chlorierten Kohlenwasserstoffen belastet. Die völlig unzureichende Klärung des kommunalen Abwassers im gesamten Einzugsgebiet der Elbe in der CSFR und den neuen Bundesländern führt überdies zu einer starken bakteriellen und viralen Belastung der Elbe. Durch Produktionseinstellungen in den neuen Bundesländern sind 1990/91 bereits Reduzierungen der Schadstofffrachten eingetreten. So ist an der Meßstation Schnackenburg die Quecksilberfracht von 26 Tonnen 1990 auf 6,5 Tonnen zurückgegangen. Um die Gewässergüte der Elbe nachhaltig zu verbessern und den Standard in den alten Bundesländern zu erreichen, sind jedoch umfangreiche Sanierungsmaßnahmen erforderlich. Der BMU fördert diese Maßnahmen sowohl durch Pilotprojekte als auch durch die Förderung im Rahmen des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost. Im gesamten Flußeinzugsgebiet der Elbe werden 1991 und 1992 155,5 Millionen DM für die Abwasserbeseitigung und -reinigung eingesetzt. Damit wird die Sanierung von 36 Kläranlagen und 19 Kanalisationen finanziell gefördert. Da ein hoher Anteil der Verunreinigung der Elbe aus der CSFR stammt, hat die Bundesregierung am 8. Oktober 1990 als erste internationale Umweltschutzvereinbarung nach der Vereinigung Deutschlands eine Vereinbarung mit der CSFR und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Internationale Kommission zum Schutz der Elbe abgeschlossen. Die Bundesrepublik Deutschland hatte schon seit Jahren auf die Bildung einer Elbeschutzkommission gedrängt. Dieser Wunsch scheiterte allerdings am Widerstand der damaligen DDR-Regierung, die wegen streitiger Grenzprobleme an der Elbe jahrelang nicht zu Verhandlungen bereit war. Erst mit der politischen Wende erklärte sich die DDR zu Verhandlungen über eine Vereinbarung bereit. Diese Vereinbarung bildet die Grundlage für eine verstärkte Zusammenarbeit der Elbeanliegerstaaten mit dem Ziel, die Gewässergüte der Elbe und ihres Einzugsbereichs so zu verbessern, daß die Trinkwassergewinnung wieder möglich wird und daß Fische aus der Elbe wieder zum Verzehr geeignet sind. Eine nachhaltige Verbesserung der Elbegüte muß vor allem auch deshalb erreicht werden, weil ohne eine rasche und deutliche Verminderung der Schadstoffbelastung der Elbe ein wirksamer Schutz der Nordsee nicht möglich ist. Die Kommission hat sofort im Anschluß an die Unterzeichnung ad interim ihre Arbeit aufgenommen. Als besonders vordringliche Aufgaben wurden folgende Maßnahmen in Angriff genommen: — konkrete Aktionsprogramme zur Reduzierung der Schadstofffrachten sowohl aus kommunalen und industriellen Einleitungen, — Vorsorgemaßnahmen zur Vermeidung unfallbedingter Gewässerbelastungen, — gemeinsame Meß- und Untersuchungsprogramme, Koordinierung ihrer Durchführung und Dokumentation sowie Bewertung der Ergebnisse (Niedersachsen; Vorsitz AG Elbe, Meßprogramme). Inzwischen ist ein erstes Sofortprogramm zur Reduzierung von Schadstofffrachten kommunaler Kläranlagen, industrieller Direkteinleiter und prioritärer Schadstoffe erarbeitet worden, das noch in diesem Jahr verabschiedet werden soll. Anlage 7 Zu Protokoll gegebenen Reden zu Tagesordnungspunkt 14 (Antrag betr. Transparenz über Reisen des Deutschen Bundestages gegenüber den Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen) Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Die Überschrift des vorliegenden Antrages enthält das Wort „Transparenz". Transparent heißt durchsichtig. Durchsichtig ist an diesem Antrag vor allem eines, nämlich seine politische Absicht: Hier soll ein beliebtes Vorurteil ausgeschlachtet werden. Der Antrag erweckt den Eindruck, die Auslandsdienstreisen des Bundestages seien eine Geheimsache, die sorgfältig vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen würde. Das ist falsch. Die Kosten für diese Reisen sind nicht in irgendwelchen Haushaltstiteln versteckt. Es gibt keine obskuren Geldquellen und keine verschleierten Fonds. Jede Mark, die hier ausgegeben wird, ist im Haushaltsplan ausgewiesen. Hier wird nichts vertuscht, und hier ist nichts undurchsichtig. Die Zahlen liegen auf dem Tisch. Für Jedermann sind sie nachlesbar. Es kann auch keine Rede davon sein, daß Auslandsreisen des Bundestages unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden würden. Leider nimmt die Öffentlichkeit meist nur unter bestimmten Bedingungen von den außenpolitischen Kontakten des Bundestages Kenntnis, und zwar dann, wenn erstens Sommerpause ist, zweitens das übliche Sommertheater nicht viel hergibt und drittens der Bericht vom letzten Jahr in den Redaktionen auf Wiedervorlage liegt. Manchmal fällt die Analyse besonders scharfsinnig aus: Dann wird z. B. festgestellt, daß die Haushaltsansätze in diesem Bereich für 1991 gegenüber 1988 spürbar gestiegen seien. Daß wir im ersten Jahr der deutschen Einheit leben und der Bundestag 140 Abgeordnete mehr hat, scheint diesem zeitkritischen Geist entgangen zu sein. Sparsamkeit und Durchschaubarkeit sind wichtig, wenn es um die Aufwendungen des Parlaments geht. Im Antrag wird verlangt, daß in einem Bericht im einzelnen darzulegen ist, welchen Niederschlag diese 3472' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 Reisen in der Arbeit des Parlaments gefunden haben. Das wäre entweder grotesk oder mit dem freien Mandat nicht in Einklang zu bringen. Über Einzelheiten läßt sich ja reden, und Ihre Akribie in Ehren: Aber es gibt eine Form der Parlamentskritik, die widersprüchlich ist, die wenig mit den Realitäten des Bundestages zu tun hat und die dennoch aus den Reihen des Parlaments selbst kommt. Die Kritiker müssen sich schon entscheiden: Man kann nicht einerseits darüber klagen, das Parlament werde in immer stärkerem Maße von Informationen der Regierung abhängig und habe zu wenig Gestaltungsfreiheit, gleichzeitig aber darüber klagen, daß sich die Abgeordneten ein eigenes Bild machen und eigene politische Kontakte — auch im Ausland — haben. Man kann nicht einerseits darüber klagen, unsere Politik drohe sich zu sehr auf Deutschland und Europa zu konzentrieren, gleichzeitig aber auch darüber klagen, daß die Abgeordneten politische Beziehungen in die Staaten der sogenannten dritten und vierten Welt pflegen. Es ist eben etwas anderes, ob wir in dicken Papieren über die Abholzung der tropischen Regenwälder lesen oder ob wir das Ausmaß der Zerstörungen und seine Wirkungen selbst beurteilen können. Es ist auch etwas anderes, ob wir von Menschenrechtsverletzungen hören oder ob wir mit Betroffenen und Verantwortlichen vor Ort sprechen. Abgeordnete haben in der internationalen Politik viele Handlungsmöglichkeiten, in manchen Bereichen mehr als die Regierung, die stärker an diplomatische Rücksichten gebunden ist. Wer das zum Polittourismus deklariert, der will davon offenbar nichts wissen. Nur am Rande sei bemerkt, daß die beiden Gruppen Bündnis 90/GRÜNE und PDS auf ihren Wunsch hin weit überproportional an diesen Reisen beteiligt werden. Das Parlament muß sich grundsätzlich mit seinen Handlungen öffentlich verantworten. Das betrifft auch die Aufwendungen für unsere Arbeit. Denn das ist Geld des Steuerzahlers. Deshalb stehen auch diese Kosten immer wieder auf dem Prüfstand. Wir beraten darüber, die Öffentlichkeit diskutiert, der Rechnungshof prüft. Aber wir brauchen nicht in Sack und Asche zu gehen. Die Aufwendungen sind insgesamt angemessen und notwendig. Das gilt auch für die Reisekosten. Eine Kontrolle der politischen Kontakte der Bundestagsabgeordneten unter dem Schlagwort vergeblicher Transparenz kann und wird es nicht geben. Ebensowenig können wir uns auf eine Selbstlähmung des Parlaments im Hinblick auf seine außenpolitischen Kontakte einlassen. Gudrun Weyel (SPD): Der vorliegende Antrag zur Transparenz über Reisen des Deutschen Bundestages gegenüber den Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen erweckt auf den ersten Blick große Sympathien. Niemand kann etwas dagegen haben, daß der Steuerzahler erfährt, was mit seinem Geld geschieht. Erst die Begründung läßt aufmerken. Dort wird bereits ein Überblick über die Haushaltstitel gegeben, und die dort aufgeführten Beträge sind eigentlich das, was der Steuerzahler wissen will. Diese Titel sind bereits heute im Bundeshaushalt zu finden und damit für jeden Interessenten zu erfahren. Vielleicht hätten die Antragsteller noch den Text des § 17 des Abgeordnetengesetzes hinzufügen sollen, damit die interessierte Steuerzahlerin erfährt, was mit diesem Geld geschieht und unter welchen Bedingungen es verwendet wird. Dabei erfahren die Bürger auch, welche Reisen bereits durch die Kostenpauschale zu finanzieren sind, und damit wird ihnen wenigstens zu einem Teil deutlich, wofür Abgeordnete diese Kostenpauschale erhalten. Einsichtig ist sicher auch, daß die Mitwirkung von Abgeordneten in internationalen Gremien wie Europarat, Interparlamentarische Union, NATO und WEU dazu führt, daß die Abgeordneten zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben in solchen Gremien an die Sitzungsorte reisen müssen, und daß sie diese Reisen als Teil ihrer Arbeit tun, nicht aber zu ihrem eigenen Vergnügen. Sie sind damit in der gleichen Situation wie alle Werktätigen, die in Ausübung ihres Berufs reisen müssen und ihre Kosten erstattet bekommen. Was bleibt, sind diejenigen Reisen, die von der Präsidentin genehmigt werden müssen. Wenn ich den Antrag recht verstehe, müßte die Präsidentin dann für jede Reise darlegen, warum sie eine Genehmigung erteilt hat und welche Gründe sie bewogen, diese Reise für nützlich im Sinne der Arbeit des Bundestages anzusehen. Wichtiger ist nach meinem Eindruck die Frage, wie der Steuerzahler und die Steuerzahlerin über den verlangten Bericht der Präsidentin des Deutschen Bundestages informiert wird. Die Erfahrung ist die, daß Abgeordnete und Presse ein Exemplar davon erhalten, auch andere Institutionen, die im Verteiler sind, nicht aber der normale Bürger. Der Steuerzahler erfährt den Inhalt durch die Berichte, die Presse, Rundfunk und Fernsehen darüber geben. Für diese Berichte dürfte aber das gelten, was in der Begründung zitiert wird als „Medienberichte, welche zu Anlässen, Kosten, exotischen Reisezielen sowie auch zum Verhalten von teilnehmenden Abgeordneten kritisch Stellung nahmen" . Es ist Sache der Übermittler, wie der Bericht bei den interessierten Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern ankommt. Je nach Seriosität dieser Übermittler wird der Eindruck des Lesers oder Hörers sehr unterschiedlich sein. Von dieser Seite her sollte man genau prüfen, ob ein solcher Bericht wirklich mehr Transparenz ergibt. Eine andere Frage ist, in welchem Umfang beispielsweise persönliche Daten der Abgeordneten dabei veröffentlicht werden müßten, die dem Datenschutzgedanken widersprechen. Man könnte solche detaillierten Berichte über die Haushaltsmittel sicher für jedes beliebige Gebiet verlangen. Im vorliegenden Falle betrifft es einen Bereich, der in besonderem Maße geeignet ist, den Eindruck mancher Menschen zu verstärken, daß Abgeordnete hauptsächlich damit beschäftigt sind, die angenehmen Seiten des Lebens zu genießen, die für andere Menschen mit Urlaub und Freizeit verbunden sind. Von langen, anstrengenden Sitzungen, Aktenlesen, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3473* intensiver Vorbereitung ist da nicht die Rede. Die Tatsache, daß eine Dienstreise von Abgeordneten üblicherweise ein anstrengendes Unternehmen ist, das nicht Vergnügen, sondern Arbeit bedeutet, ist häufig weniger erwähnenswert. Diese Gesichtspunkte sollten im Ältestenrat erörtert werden, dem dieser Antrag überwiesen werden soll. Die SPD-Fraktion ist mit dieser Überweisung und der Mitberatung des Haushaltsausschusses einverstanden. Wolfgang Lüder (FDP): Bevor wir darüber streiten, welche Präsidialberichte für welche Ablage zu welcher Zeit produziert werden sollen, müssen wir uns zunächst darüber verständigen, was wir politisch wollen. Hierzu sage ich in aller Deutlichkeit: Die internationale Zusammenarbeit der Parlamentarier stärkt den Parlamentarismus auch in unserem Land. Reisen über die nationalen Grenzen hinweg sind notwendige Grundlage auch nationaler parlamentarischer Tätigkeit. Gerade in Zeiten der zunehmenden Zusammenarbeit der Regierungen erfordert die effektive Kontrolle der Regierungstätigkeit durch das Parlament auch eine verstärkte internationale Zusammenarbeit der Parlamentarier. Wir haben heute morgen hier mit Beifall begrüßt, daß als Zielsetzung, z. B. der deutsch-ungarischen Zusammenarbeit, die die Präsidentin zu Beginn dieser Sitzung würdigte, ein demokratisches Europa, ein Europa der Demokratien, gesetzt wurde. Das Europa der Demokratien, das wir wollen, erfordert auch eine Zusammenarbeit der Demokraten Europas. Wir wollen aber auch die Zusammenarbeit mit Parlamentariern in anderen Ländern, auch in anderen Kontinenten. Wir wollen den internationalen Erfahrungsaustausch. Wir wollen Menschen und Probleme kennen, um für unsere Menschen Probleme besser lösen zu können. Das uneingeschränkte Ja zur internationalen Arbeit der Parlamentarier muß am Beginn einer Debatte stehen, bevor wir uns darüber unterhalten, wie wir dieses Tätigkeitsfeld dem Bürger draußen näherbringen wollen und können. Dazu gehört auch — gerade für Vertreter jener politischen Richtungen, die in vielen Ländern vertreten sind; ich denke an die Sozialdemokraten, ich denke aber auch an die Christkonservativen und insbesondere an die Liberalen — , daß wir den Gedanken- und Meinungsaustausch pflegen. Das kann man durch Telefax und Telefon nicht ersetzen. Der unmittelbare Kontakt zum Kollegen, das Gespräch mit der Kollegin muß international möglich sein. Das wichtigste und erste Ziel muß dabei sein, um Verständnis für diese Arbeit — und es geht um Arbeit, nicht um Vergnügen — zu werben. Ich bin dafür, daß dem Bürger stärker transparent gemacht wird, was internationale Arbeit des Parlaments und der Parlamentarier ist. Das aber geht nicht auf dem Weg über den haushälterischen Präsidialbericht, wie der Antrag es vorsieht. Wir werden in der Ausschußberatung darüber nachdenken müssen, wie wir die Öffentlichkeitsarbeit des Parlaments verbessern können, auch und gerade für den internationalen Bereich. Aber eines sage ich von vornherein: Es gibt Unterschiede zwischen den Reisen der Parlamentsdelegationen und den Reisen der einzelnen Abgeordneten im Auftrag ihrer Fraktion. Hier kann nicht eine Fraktion Zensor über die politische Arbeit der anderen sein. Die Haushaltsmittel müssen verantwortungsbewußt verwaltet werden. Das zu überwachen ist Aufgabe der innerfraktionellen Haushaltskontrolle. Das kann nicht Gegenstand der im Antrag gewünschten Berichte sein. Am Berichtswesen ist noch kein Staat genesen. Mit dieser skeptischen Haltung gehen wir in die Beratungen des Ausschusses. Wir werden dabei auch darauf achten, daß es der Unabhängigkeit des Parlamentariers dient, wenn die Kosten seiner Auslandsarbeit auch von seinem Parlamentsetat getragen werden, damit er nicht in Versuchung gerät, sich von dritter Seite finanzieren zu lassen. Auch das gehört zur unabhängigen Parlamentarierposition. Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Ich hatte das Glück, in der vergangenen Woche mit einer Delegation des Bundestages unter Leitung des Vizepräsidenten, Herrn Cronenberg, in die Mongolei zu reisen. Auf dem Flughafen in Peking hatten wir eine Begegnung mit dem Mitglied einer Reisegruppe aus der Bundesrepublik, und wir wurden gefragt, was denn deutsche Parlamentarier so weit weg von Bonn wollten und ob wir dort die Steuergelder verbraten. An diese Episode wurde ich wieder erinnert, als ich den Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN las. Die Fragen des jungen Mannes verdeutlichen einerseits, daß das Bild der Abgeordneten nach außen ziemlich lädiert ist, und sie bestätigen andererseits in ihrem Wesen, daß es notwendig ist, die Bürgerinnen und Bürger, einschließlich die Mitglieder des Bundestages, umfassender als bisher über Umfang, Ziel und Ergebnisse (sowie über deren Kosten) der Reisetätigkeit von Abgeordneten zu informieren. Der Maßstab für den Erfolg einer Reise ist dabei nicht die Höhe der finanziellen Aufwendungen oder etwa der Erholungseffekt der Abgeordneten, sondern die Herstellung beziehungsweise die Verbesserung der Kontakte von Parlamentariern der Bundesrepublik und denen im Ausland, ist das gegenseitige Kennenlernen und die Entwicklung des Verständnisses füreinander, für unterschiedliche Lebensbedingungen, gesellschaftliche Probleme, für das Denken und Fühlen der Menschen. Besonders gefördert werden sollten meines Erachtens heute Informationsreisen nicht nur in die neuen Bundesländer — ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß viele Abgeordnete aus den alten Bundesländern hier einen respektablen Nachholbedarf haben — , sondern vor allem auch in die osteuropäischen Länder. Es ist relativ leicht, sozusagen aus der Ferne über Demokratisierung, zum Beispiel in der Mongolei, zu sprechen und kluge Ratschläge zu geben. Es fällt schon schwerer und differenziert sich daher, wenn ich selbst erlebt habe, unter welch harten Bedingungen eine normale Aratenfamilie lebt und wie kompliziert sich der Aufbau neuer politischer Strukturen vollzieht. 3474 * Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 Es fällt manchen hier sicher leicht, darüber zu reden, daß schnellstmöglich, z. B. in der Mongolei, die Marktwirtschaft einzuführen und die Privatisierung zu vollziehen ist. Das sieht dann schon anders aus, wenn man aus genauer Kenntnis der konkreten Bedingungen einschätzen muß, daß eine Privatisierung, zum Beispiel der gesamten Weideflächen, zu einer Katastrophe in der Viehwirtschaft führen würde. Man kann lang und breit über Hilfe beim Aufbau einer modernen Wirtschaft debattieren. Ohne genaue Ortskenntnis, was dazu wirklich notwendig ist, wird vieles nicht die gewünschte Wirkung erzielen. Dabei geht es keineswegs darum, als Propheten, als die Alleswisser und Alleskönner aufzutreten, sondern eine echte Partnerschaft zu erreichen. Und ich denke, daß durchaus auch Abgeordnete des Deutschen Bundestages noch lernfähig sind und sich neue Ideen, zum Beispiel in bezug auf die Gestaltung des Parlamentarismus bei Reisen zu Parlamenten anderer Länder, aber auch im Land selbst, ich meine hier zum Beispiel Erfahrungen, die in Brandenburg gesammelt wurden, holen können. Ich gehe davon aus, daß Reisen von Abgeordnetengruppen durchaus unverzichtbarer Bestandteil von parlamentarischer Arbeit sein müssen. Das schließt aber zugleich ein, in jedem Fall zu überprüfen, ob Aufwand, auch der finanzielle, und Nutzen einer Reise in einem vertretbaren Verhältnis stehen. Das aber ist besser möglich, wenn darüber regelmäßig (vollständig, umfassend und öffentlich) Bericht erstattet wird. Es würde auch dazu führen, daß die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler einen regeren Anteil an den politischen Ergebnissen von Abgeordnetenreisen nehmen und nicht in erster Linie nach den Kosten fragen würden. Die Gruppe PDS/Linke Liste unterstützt den vorliegenden Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN und wird in ihrer Öffentlichkeitsarbeit künftig größeren Wert auf die Transparenz ihrer Reisetätigkeit legen. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 15 (Sexualgleichstellungsgesetz) Horst Eylmann (CDU/CSU): Nach der Koalitionsvereinbarung vom 16. Januar 1991 sollen die .§.§. 175, 182 StGB im Zuge der innerdeutschen Rechtsangleichung durch eine einheitliche Schutzvorschrift für männliche und weibliche Jugendliche unter 16 Jahren ersetzt werden. Zur Umsetzung dieser Koalitionsvereinbarung befindet sich im Bundesjustizministerium ein Gesetzentwurf in Vorbereitung. Dieser Entwurf geht von einer einheitlichen Jugendschutzvorschrift aus und bezieht den im Gebiet der ehemaligen DDR fortgeltenden § 149 StGB-DDR ein. In der Bundesrepublik Deutschland besteht ein breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens darüber, daß nicht nur Kinder bis zu 14 Jahren, sondern auch Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren davor geschützt werden müssen, von Erwachsenen als Sexualobjekte auf Grund ihrer Unreife mißbraucht zu werden. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen hat Verfassungsrang. Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit im Sinne der Art. 1 und 2 unserer Verfassung. Sie bedürfen des Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln. Das gilt gerade auch für ihre Bewahrung vor sexuellen Gefahren. Dieser Gesichtspunkt berechtigt somit den Staat, von Kindern und Jugendlichen Einflüsse fernzuhalten, die sich auf ihre Einstellung zum Geschlechtlichen und damit auf die Entwicklung ihrer Persönlichkeit nachteilig auswirken können. Zielrichtung der von uns beabsichtigten neuen Regelung ist es also nicht, sexuelle Betätigung von Jugendlichen zu verhindern oder zu kanalisieren, sondern Jugendliche im Alter zwischen 14 und 16 Jahren, wo von einer reifen Persönlichkeit noch keineswegs ausgegangen werden kann, davor zu schützen, als Sexualobjekt von Erwachsenen mißbraucht zu werden. Die PDS hat unter dem Namen SED eines der perfektesten staatlichen Unterdrückungssysteme dieses Jahrhunderts geschaffen, in der die SED-hörige Jugendorganisation FDJ die Aufgabe hatte, mit starker Anlehnung an Mechanismen der Hitler-Jugend die gesamte DDR-Jugend gleichzuschalten. Diese Jugend wurde mit vielfältigen und höchst subtilen Mechanismen daran gehindert, sich frei zu entfalten und sich anderen als kommunistischen Ideen zu öffnen. Ausgerechnet diese PDS macht sich jetzt zum Gralshüter der freien Entfaltung unserer Jugend, statt mit sich selbst ins Gericht zu gehen und sich zu prüfen, wie es um die historische Verantwortung dafür bestellt ist, die ehemalige DDR-Jugend jahrzehntelang geknebelt und geknechtet zu haben. Sobald der Gesetzesentwurf der Bundesregierung vorliegt, wird sich meine Fraktion einer sorgfältigen Beratung dieses Entwurfes widmen. Eine öffentliche Expertenanhörung zu diesem Thema erscheint mir sinnvoll. Ich beurteile die Chancen günstig, zu einer breiten Mehrheit im Parlament zu kommen. Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Wir Sozialdemokraten bedauern, daß die auf Grund des Einigungsvertrages erforderliche Diskussion über die Reform des Sexualstrafrechts und insbesondere der §§ 175, 182 StGB zu später Stunde an Hand eines Gesetzentwurfes der PDS eröffnet werden soll, der nichts als ein schlechtes Plagiat ist. Es handelt sich um ein Plagiat, weil die Freie und Hansestadt Hamburg in einem bereits am 7. Mai 1991 beim Bundesrat eingegangenen Gesetzentwurf die Streichung der genannten Strafnormen beantragt hat; am 29. Juni 1991, also mehr als 7 Wochen danach, hat die PDS ihren Entwurf beim Bundestag eingebracht. Es handelt sich um ein schlechtes Plagiat, weil als Begründung nur ein paar sprachlich mißlungene Schlagworte angeboten werden, beispielsweise der Hinweis auf den „Aspekt gegebener Veränderungen in der Lebensrealität junger Menschen hinsichtlich ihrer sexuellen Beziehungen". Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3475* Nach unserer Auffassung geht es bei der von uns seit langem geforderten Streichung des § 175 StGB um die Beseitigung der Diskriminierung homosexueller Männer. Und es geht um die Frage, ob der Tatbestand, der sexuelle Handlungen eines Mannes über 18 Jahren an einem Mann unter 18 Jahren mit Strafe bedroht, auf wissenschaftlich nicht mehr haltbaren Annahmen beruht, insbesondere der Annahme, Ursache homosexueller Neigungen sei eher die Verführung in jugendlichem Alter und weniger eine entsprechende Veranlagung oder frühkindliche Entwicklung, die in aller Regel vor Vollendung des 14. Lebensjahres abgeschlossen ist. Die Bundesregierung hat am 10. Juli 1991 auf eine von mir eingereichte Schriftliche Anfrage zutreffend festgestellt: „Bei Sachverständigenanhörungen der Fraktionen der SPD und FDP im Deutschen Bundestag in den Jahren 1981 und 1982/1983 vertraten Sexualwissenschaftler die Auffassung, die Disposition zur Homosexualität liege vor dem 14. Lebensjahr fest". Und sie hat hinzugefügt: „Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse vor, die eine andere Beurteilung rechtfertigen können". Offen und auch in der SPD-Fraktion noch nicht geklärt ist die Frage, ob dieser Erkenntnisstand eine neue Schutzaltersbestimmung rechtfertigt, wie sie die Bundesregierung plant. Diese läßt sich nach der auf meine Anfrage gegebenen Antwort „von dem Grundsatz leiten, daß Jugendliche unter 16 Jahren vor sexuellem Mißbrauch durch Erwachsene zu schützen sind, und zwar unabhängig davon, ob Täter oder Opfer männlichen oder weiblichen Geschlechts sind" . Eine zwingende Konsequenz dieser Regelung wäre, daß künftig homosexuelle und heterosexuelle Handlungen von Frauen mit Partnern zwischen 14 und 16 Jahren strafbar würden. Es ist zu klären, ob es wirklich ein Strafbedürfnis für diese Neupönalisierung von Frauen gibt. Im Falle der ersatzlosen Streichung der §§ 175 und 182 StGB läge das Schutzalter nach § 176 StGB, der den sexuellen Mißbrauch an Kindern regelt, bei 14 Jahren. Bei der Überprüfung des § 182 StGB, der die „Verführung" eines noch nicht 16jährigen Mädchens zum Beischlaf mit Strafe bedroht, stellt sich eine weitere Frage: Soll diese Norm überhaupt die sexuelle Selbstbestimmung schützen, oder soll vielmehr ein „unbescholtenes" Mädchen vor dem Verlust ihrer Heiratschancen geschützt werden, wie der Ausschluß der Strafbarkeit im Falle der Heirat von Täter und Verführter zeigt? Und ist das noch zeitgemäß? Eine seriöse Überprüfung der Schutzaltersfrage macht es notwendig, daß sich der Gesetzgeber über die Erfahrungen informiert, die mit sehr unterschiedlichen Regelungen in anderen Ländern gemacht worden sind. In Europa gibt es enorme Schwankungen, die sich zwischen einem Schutzalter von 12 Jahren in Spanien und Malta und 21 Jahren in Großbritannien (dort bei homosexuellen Handlungen) bewegen. Die SPD-Fraktion wird ihre Meinung erst im Anschluß an eine Sachverständigenanhörung, die insbesondere zu dem angekündigten Gesetzentwurf der Bundesregierung stattfinden sollte, endgültig festlegen. Wir werden dabei auch die Schutzaltersregelungen, die in anderen Straftatbeständen enthalten sind, beispielsweise den §§ 174 und 180 StGB, zu berücksichtigen haben. Die sinnvolle Weiterentwicklung der Normen zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, nicht zuletzt auch der §§ 177 und 178 StGB (Vergewaltigung und sexuelle Nötigung), ist aus unserer Sicht eine Aufgabe, der sich der Gesetzgeber nicht entziehen darf. Wir Sozialdemokraten fühlen uns dabei einer Rechtstradition verpflichtet, die ganz besonders mit dem Namen des früheren Justizministers Gustav Heinemann verbunden ist. Nach unserer Auffassung muß der Gesetzgeber bei seiner schwierigen Aufgabe Verantwortung und Kompetenz beweisen. Ein starres Festhalten an Koalitionskompromissen oder gar gesetzgeberische Schnellschüsse mit dem Ziel parteipolitischer Profilierung sind damit nicht vereinbar. Jörg van Essen (FDP): Die PDS als Vorkämpferin der Freiheit — hier der sexuellen — , mir kommen die Tränen! In wenigen Ländern hat es in den vergangenen Jahren schlimmere Verfolgungen sexueller Minderheiten gegeben als im sozialistischen Musterland Kuba, ohne daß mir zu Ohren gekommen wäre, daß unsere Kollegen aus der SED-Nachfolgepartei dort für die Menschenrechte eingetreten wären. Homosexuelle Frauen und Männer sind in manchem vielleicht anders, aber garantiert nicht dümmer als der Durchschnitt der Bevölkerung und durchschauen diese billige Effekthascherei der PDS. Sie wissen genau, daß es sich in einem weltoffenen, in einem liberalen Klima am besten leben läßt, und haben noch gut in Erinnerung, daß ähnliche Versuche der West-Grünen in der Vergangenheit den notwendigen Reformprozeß nicht beschleunigt, sondern um Jahre verzögert haben. Ähnlich sieht es offenbar auch der Schwulenverband in Deutschland, der in einer Presseerklärung von heute das Vorpreschen der PDS als voreilig und unnötig bezeichnet. Die FDP ist in allen Koalitionsverhandlungen der letzten Jahre sachkundig für die Rechte der Homosexuellen eingetreten. Schon an dieser Sachkunde mangelt es dem PDS-Antrag deutlich, der fälschlich behauptet, einvernehmliche Sexualkontakte zwischen jungen Männern von 14 bis 18 Jahren seien in der Alt-Bundesrepublik nach § 175 StGB strafbar. Nein, einer muß schon älter als 18 Jahre sein. Die Koalitionsvereinbarung dieses Jahres läßt nun einen wirklichen konkreten Reformschritt zu: die Senkung des Schutzalters auf 16 Jahre. Ein Ergebnis, das nicht nur dem konsequenten Verhandeln meiner Parteifreunde zu verdanken, sondern eine notwendige rechtliche Konsequenz aus dem Einigungsvertrag ist, der zu unterschiedlichen Strafvorschriften in diesem Bereich — hier im Westen § 175 StGB, dort im Osten § 149 StGB der DDR — geführt hat. Eine zügige Novellierung, die auch wir für notwendig halten, muß ähnlich wie bei § 218 StGB schnell für einheitliche Rechtsgrundlagen in Gesamtdeutschland sorgen, um einem Vorwurf des Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Grundgesetz zu begegnen. Ich sage hier mit aller Deutlichkeit: Eine politisch schnell durchsetzbare Reform in die richtige Richtung ist hilfreicher als eine Maximalforderung, die nie Ge- 3476' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 setzeskraft erlangt. Das enthebt mich natürlich nicht der Verpflichtung, unsere Vorstellungen für diese Reform vorzustellen und zu begründen. Ich halte die Schutzaltersgrenze von 16 Jahren für vertretbar. Der Gesetzgeber hat sich beim Jugendschutz nicht an d e n Jugendlichen zu orientieren, die körperlich und seelisch am weitesten sind, sondern an den schwachen, die eines Schutzes vor Erwachsenen und ihren Wünschen besonders bedürfen. Die Fortschritte zeigen sich aber nicht nur an der Schutzaltersgrenze, sondern auch in den übrigen Vorstellungen meiner Partei für die neue Regelung: Erstens. Die Neuregelung soll ausschließlich auf den Mißbrauch abgestellt sein, so daß nur die Fälle, in denen die Täterin oder der Täter das jugendliche Opfer als bloßes Objekt benutzt und damit in seiner Menschenwürde verletzt, strafrechtlich verfolgt werden können. Alle Fälle einer echten Liebesbeziehung sind damit ausgeschlossen. Zweitens. Die Strafbarkeit sollte auf die Fälle begrenzt bleiben, in denen die Unreife oder Unerfahrenheit des Jugendlichen ausgenutzt wird. Der Bereich der Prostitution von Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren wird somit weitgehend ausgeklammert. Das Problem der Jugendprostitution ist nur sozial und nicht durch das Strafrecht zu lösen. Drittens. Die Regelung muß alle sexuellen Handlungen von einiger Erheblichkeit umfassen, unabhängig davon, welches Geschlecht Täter und Opfer haben. Wenn bisher bestimmte Formen weiblicher Sexualität straffrei waren, so beruhte dies nicht auf deren gesellschaftlicher Akzeptanz, sondern auf dem Nichternstnehmen von Frauen. Frauen wurden ausschließlich als bloße passive Wesen angesehen. Es ist für mich jedoch keinerlei Grund zu erkennen, warum sexuell aktive Frauen bei Mißbrauch eines Jugendlichen anders beurteilt werden sollen als ein Mann in gleicher Situation. Daß es auch in diesem Bereich strafwürdiges Verhalten gibt, zeigen pornographische Filme, die zur Zeit unter dem Begriff „Kinderpornographie" besonders diskutiert werden, deutlich. Immerhin waren — und hier zitiere ich den „Spiegel" vom 12. August 1991 — von den 1990 in Frankfurt registrierten Opfern sexueller Nötigung von Kindern und Jugendlichen 37 Prozent Jungen, von denen ein Drittel von Müttern oder Stiefmüttern mißbraucht wurde. Der „Spiegel" schreibt: „Die bislang auf Männer reduzierte Schuldzuweisung beruht auch auf einer Idealisierung weiblicher Sexualität, die immer noch als passiv und vorwiegend hingebungsvoll dargestellt wird. " Viertens. Die Regelung sollte nach meiner Auffassung mit einem ausschließlichen Antragsrecht der Erziehungsberechtigten versehen sein. Ich hoffe, daß sich auch unser Koalitionspartner dieser Auffassung anschließt. Während nämlich im Bereich der Jugendlichen bis zu 14 Jahren das öffentliche Interesse am Schutz dieser Altersgruppe klar überwiegt und die Beweislage in der Regel eindeutig ist, muß hier häufig mit dem Einwand des Täters oder der Täterin gerechnet werden, daß die Handlungen im gegenseitigen Einverständnis vorgenommen worden sind. In diesem Altersbereich, der den Übergang zwischen dem immer zu verfolgenden sexuellen Mißbrauch von Kindern und der Straffreiheit über 16 Jahren darstellt, sollten deshalb die Eltern entscheiden können, ob sie ihr Kind den zahlreichen Unannehmlichkeiten und psychischen Belastungen eines Strafverfahrens aussetzen wollen. Fünftens. Schließlich kann für uns kein Zweifel daran bestehen, daß diese neue Jugendschutzvorschrift unter dem § 182 StGB und nicht unter § 175 StGB in das Strafgesetzbuch eingestellt wird. Auch am heutigen Tage gilt es an die schlimmen Verfolgungen zu erinnern, die § 175 StGB in der Vergangenheit und insbesondere im Nationalsozialismus und seinen Konzentrationslagern ermöglicht hat. Christina Schenk (Bündnis 90/GRÜNE): In den Koalitionsvereinbarungen vom Januar 1991 kündigte die Regierung an, die §§ 175 und 182 StGB durch eine sogenannte einheitliche Schutzvorschrift für männliche und weibliche Jugendliche unter 16 Jahren ersetzen zu wollen. Wir halten es nicht für sinnvoll, über dieses Thema im Bundestag zu diskutieren, bevor der diesbezügliche Gesetzentwurf der Bundesregierung vorliegt. Die Fraktion DIE GRÜNEN hat bereits in der 10. und in der 11. Legislaturperiode als einzige Fraktion im Deutschen Bundestag in unzähligen Anfragen, Anträgen, Gesetzentwürfen und Redebeiträgen Stellung gegen die Diskriminierung von Lesben und Schwulen bezogen. 1989 brachte sie einen Gesetzentwurf zur Streichung des § 175 in den Bundestag ein. DIE GRÜNEN waren die einzigen, die offen schwule und lesbische Abgeordnete in den Bundestag schickten. Die Bundestagsgruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN, in der ich den Unabhängigen Frauenverband (UFV) vertrete, setzt diese Arbeit fort. Wir haben in den letzten Wochen einige Kleine Anfragen an die Bundesregierung gerichtet, aus deren Beantwortung für uns eindeutig hervorgeht, daß es keine sexualwissenschaftlichen, entwicklungspsychologischen oder kriminologischen wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt, aus denen sich die Notwendigkeit für die Erhöhung des bestehenden Schutzalters von 14 auf 16 Jahre herleiten ließe. Wir sind der Auffassung, daß die geplante Ausweitung und Verschärfung des § 182 StGB nur von denjenigen gewünscht werden kann, die sich die Möglichkeit offenhalten wollen, Homosexualität weiterhin zu kriminalisieren, diesmal unter Miteinbeziehung lesbischer Frauen. Wir werden in der nächsten Zeit einen Gesetzentwurf zur Legalisierung männlicher homosexueller Handlungen von über 14jährigen mit über 18jährigen in den Bundestag einbringen, in dem wir uns gegen die geplante Anhebung der Schutzaltersgrenze von 14 auf 16 Jahre, gegen das Fortbestehen der Verfolgungsmöglichkeit von Homosexualität und gegen die Neupönalisierung von Frauen wenden. Unser Entwurf wird als Alternative zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung im Bundestag und in den Ausschüssen erörtert werden. Die ursprüngliche Absicht der Bundesregierung, den § 175 im Zuge der Rechtsangleichung klammheimlich, von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, abzuschaffen, soll nicht gelingen. Dazu haben Schwule und Lesben zusammen mit anderen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3477* progressiven Kräften in der ehemaligen DDR und in der ehemaligen BRD zu lange gegen diesen Paragraphen gekämpft. Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister der Justiz: Der zur Beratung anstehende Gesetzentwurf greift ein Problem auf, das durch die Herstellung der Einheit Deutschlands an Aktualität gewonnen hat. Es geht um die Frage der ersatzlosen Streichung der § § 175, 182 des Strafgesetzbuchs, die schon in vergangenen Legislaturperioden Gegenstand verschiedener Gesetzentwürfe gewesen ist. Es geht um einen Bereich, in dem nach dem Einigungsvertrag in den alten und neuen Bundesländern partiell unterschiedliches Recht gilt. Einerseits sind die §§ 175 und 182 StGB im Gebiet der ehemaligen DDR nicht anzuwenden, andererseits gilt dort der erst am 1. Juli 1989 in Kraft getretene § 149 StGB der ehemaligen DDR fort, der den sexuellen Mißbrauch eines Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren unter Ausnutzung der Unreife unter Strafe stellt. Der Entwurf nimmt sich dieser rechtspolitisch unbefriedigenden Situation an und versucht, in diesem Bereich die innerdeutsche Rechtseinheit herzustellen. Dabei verwundert es schon ein wenig, daß die PDS als Nachfolgeorganisation der SED von der erst mit Gesetz vom 14. Dezember 1988 neugefaßten Jugendschutzvorschrift des j 149 StGB der DDR nichts mehr wissen und diese ebenso wie die §1 175, 182 des bundesdeutschen StGB ersatzlos streichen will. Natürlich verfolgt die Bundesregierung das wichtige Anliegen, im Interesse der innerdeutschen Rechtsangleichung alsbald eine einheitliche Regelung für das vereinigte Deutschland zu schaffen. Im Hinblick auf den vom Bundesverfassungsgericht mit Verfassungsrang ausgestatteten Kinder- und Jugendschutz kann sie allerdings den zur Beratung stehenden Entwurf nicht unterstützen. Dies wird nicht verwundern, sieht doch schon die Koalitionsvereinbarung vor, die § § 175 und 182 des Strafgesetzbuches durch eine einheitliche Schutzvorschrift für männliche und weibliche Jugendliche unter 16 Jahren zu ersetzen. Wenn sich der heute zur Beratung anstehende Entwurf auch gegen die angestrebte Neuregelung wendet, ist dies für mich Anlaß und Rechtfertigung genug, Ihnen die in meinem Haus entwickelte Konzeption einer einheitlichen Jugendschutzvorschrift darzulegen; dies auch deshalb, um den Argumenten entgegenzutreten, die der Entwurf gegen die Einführung einer solchen Vorschrift vorgebracht hat. Die sich an § 149 StGB der früheren DDR orientierende Konzeption einer Jugendschutzvorschrift dient nicht nur der strafrechtlichen Gleichstellung homosexueller Bürger, sondern vor allem auch dem Jugendschutz. Dieser berechtigt den Staat — wie das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat — , von Kindern und Jugendlichen Einflüsse fernzuhalten, die sich auf ihre Einstellung zum Geschlechtlichen und damit auf die Entwicklung ihrer Persönlichkeit nachteilig auswirken können. Danach rechtfertigt schon die ernsthafte Möglichkeit schädlicher Einwirkungen ein Tätigwerden des Gesetzgebers durch Pönalisierung sexueller Handlungen gegenüber und mit Jugendlichen. Dabei geht es nicht — wie der Entwurf glauben zu machen versucht — um die Einführung einer Strafbarkeit einvernehmlicher sexueller Kontakte. Die geplante Jugendschutzvorschrift soll in ihrem Anwendungsbereich auf die allein strafwürdigen Fälle des sexuellen Mißbrauchs beschränkt sein. Sie erfaßt nur sexuelle Handlungen Erwachsener, die diese an Jugendlichen unter 16 Jahren unter Ausnutzung ihrer Unreife oder Unerfahrenheit vornehmen oder von diesen an sich vornehmen lassen. Die Behauptung des Entwurfs, eine so konzipierte Jugendschutzvorschrift schränke das im Grundgesetz garantierte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und damit auf sexuelle Selbstbestimmung ein, verkennt, daß sie es den Jugendlichen gerade ermöglichen will, sich weitgehend frei von schädlichen Einflüssen Dritter zu eigenverantwortlich auch im sexuellen Bereich handelnden Persönlichkeiten innerhalb unserer sozialen Gemeinschaft zu entwickeln. Es ist auch keineswegs realitätsfremd — wie der Entwurf offenbar meint — , Jugendliche unter 16 Jahren als einen Personenkreis anzusehen, bei dem ein Mangel an sexueller Erfahrung oder psychischer Reife dazu führen kann, daß die Fähigkeit zu eigenverantwortlicher sexueller Selbstbestimmung noch fehlt. Es ist notwendig, in jedem Einzelfall konkret festzustellen, daß ein solcher Mangel des noch nicht 16 Jahre alten Opfers, Bedeutung und Tragweite sexueller Handlungen richtig zu erfassen und sein Handeln danach einzurichten, auf Grund seiner Unreife oder Unerfahrenheit tatsächlich besteht. Natürlich wird dies nicht — wie der Entwurf behauptet und wie es in § 149 StGB-DDR geltendem Recht entspricht — pauschal unterstellt, sondern wird sorgfältig im Einzelfall zu prüfen sein. Nur dann kann die Feststellung der Unreife und Unerfahrenheit ihre Funktion erfüllen, die ihr als zentrales Kriterium des Tatbestandes zugewiesen ist. Sie vor allem soll gewährleisten, daß nur Fälle des sexuellen Mißbrauchs Jugendlicher vom Tatbestand der neuen Jugendschutzvorschrift erfaßt werden. Die Vorlage eines Regierungsentwurfes, der diese Vorstellungen von der inhaltlichen Ausgestaltung der Jugendschutzvorschrift umsetzt, steht bevor. Das in meinem Haus entwickelte Konzept ist zunächst noch mit den beteiligten Ressorts abzustimmen und soll dann — wie üblich — den Ländern zur Stellungnahme zugeleitet werden. Es erscheint mir zweckmäßig, die Erörterung des heute zur Beratung stehenden Gesetzentwurfes in den Ausschüssen zurückzustellen, bis der angekündigte Regierungsentwurf vorliegt. Dies hätte auch den Vorteil, die Erörterung im Bundesrat zu diesem Thema in die Überlegungen mit einbeziehen zu können. Der Bundesrat wird nämlich Ende September/Anfang Oktober die Beratung des Antrags der Freien und Hansestadt Hamburg aus dem Jahre 1990, die §§ 175 und 182 StGB ersatzlos zu streichen, wieder aufnehmen. Es kann für alle nur von Nutzen sein, auf der Grundlage breitgestreuter Meinungsvielfalt zu einer die Rechtseinheit herstellenden Entscheidung zu kommen. 3478* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 Anlage 9 zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 16 (Einsetzung eines Untersuchungsausschusses) Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Zum Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses möchte ich mitteilen, daß wir nach demokratischem Brauch dem Vorschlag des Ältestenrates folgen und einer Verweisung an den Innenausschuß zustimmen werden. Vom Inhalt und der Sache her müßten wir ihn eigentlich gleich hier bei der Einbringung ablehnen. Der vorgeschlagene Untersuchungsauftrag bezieht sich auf zahlreiche Fragen, die längst von der Bundesregierung oder anderen Stellen beantwortet worden sind. Die Bundesregierung hatte in mehrfachen Stellungnahmen auch darauf verwiesen, daß einige die Arbeit der bundesdeutschen Sicherheitsdienste betreffende Fragen ausschließlich in den für die Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeiten zuständigen Gremien des Deutschen Bundestages besprochen werden könnten. Die PDS hat durch die intensive Nutzung der parlamentarischen Instrumentarien wie Anfragen, Ausschußdiskussionen und mündliche Befragung der Bundesregierung das inhaltliche Potential des vorgelegten Untersuchungszieles abgenagt und ausgelutscht. So sind alle drei Punkte des mutmaßlichen Untersuchungsauftrages bereits in Antworten der Bundesregierung vom 7. September 1990, vom 8. November 1990 und vom 10. Juni 1991 ausführlich dargelegt worden. Zwei zusätzliche kleine Anfragen vom 18. Juli 1991 sprechen noch einmal das gleiche Thema an. Der Antrag der PDS hat ein einziges Ziel. Er soll von der Rolle des PDS-Mutterschiffes SED als Gründer, Auftraggeber und Chef der Stasi ablenken. Besonders verwerflich ist der erneute Versuch, die Selbstschutzeinrichtungen der parlamentarischen Demokratie wie Verfassungsschutz, MAD oder Bundesnachrichtendienst auf eine Stufe mit dem unseligen Staatssicherheitsdienst zu stellen. Um ein Bild zu gebrauchen: Kein vernünftiger Mensch käme auf die Idee, das Rote Kreuz und Graf Dracula gleichzusetzen, nur weil beide etwas mit Blut zu tun haben. Ich weise für die Fraktion der CDU/CSU dieses Vorhaben der PDS zurück. Wer Anträge auf Untersuchungsausschüsse stellt und den selbst gestellten Fragen und Aufträgen gleich das Ergebnis hinzufügt, kann nicht erwarten, daß der Deutsche Bundestag einen solchen Antrag ernst nimmt. Die PDS stellt in der Begründung bereits fest: — daß die Öffentlichkeit bisher gar nicht bzw. bewußt halb oder falsch informiert worden sei, — daß die Dienste der Bundesrepublik Deutschland sich Unterlagen aus Stasi-Archiven widerrechtlich beschafft hätten, — daß die gesamtdeutschen Sicherheitsbehörden sich Betroffenendaten angeeignet hätten, die neu sortiert und aufgearbeitet in den Archiven der Dienste auf neue Erfordernisse warteten. Das ist schlichtweg unwahr und pure Stimmungmache und Demagogie. Es hätte der PDS im Sinne einer vernünftigen gemeinsamen Bewältigung der jüngsten deutschen Vergangenheit besser angestanden, in den Fachbereichen ihren Sachverstand und ihren Dienst anzubieten, die heute noch großen Aufarbeitungsbedarf haben. Das wäre aus meiner Sicht z. B. die Rolle der SED/PDS und von SED/PDS-Mitgliedern bei der Bereinigung und Vernichtung von Akten und Personalpapieren während der Wendezeit; ein Thema, wo wir Ihre Unterstützung gut gebrauchen könnten, ist doch Herrn Modrows Aufruf zur Aktenkorrektur so befolgt worden, daß wir heute in zahlreichen wichtigen Bereichen wie bei der Rehabilitierung von Opfern, bei der Strafverfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und bei der Überführung von Stasi-Spitzeln auf große Lücken und leere Regale treffen. Ein gutes Thema für einen Untersuchungsausschuß wäre auch die Arbeitsweise, Funktion und Verantwortung des Politbüros und der Bezirks- und Kreissekretäre der SED als Befehlshaber der verschiedenen Organisationsstufen des Ministeriums für Staatssicherheit. Hier könnten Sie aus ihrer Kenntnis heraus gute Beiträge liefern, ob und wie diese Personen heute dafür zur Verantwortung gezogen werden können. Sie verweigern sich hier. Das ist bedauerlich, könnten Sie doch damit den Deutschen endlich auch einmal einen Dienst erweisen. Wir verwenden unsere Energie in diesen Tagen darauf, mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz und der Veränderung des Archivgesetzes die dringend notwendige Aufarbeitung der SED-Vergangenheit durchzusetzen. Dabei wird auch die Rolle der Nachrichtendienste in Deutschland klar abgegrenzt. Wir haben den Zugriff der Dienste auf personenbezogene Daten von Stasi-Opfern ausgeschlossen. Nur der Bundesinnenminister kann nach vorheriger parlamentarischer Kontrolle für die eng umgrenzten Bereiche Spionage, gewalttätiger Extremismus und Terrorismus eine Aktenherausgabe erwirken. Wer den Nachrichtendiensten ein völliges Zugangsverbot auferlegen will, bewirkt im Ergebnis den Schutz von Stasi-Tätern, von Terroristen und deren Helfern. Die Menschen in den neuen Bundesländern haben nach vier Jahrzehnten Bespitzelung durch den staatlichen Geheimdienst naturgemäß großes Mißtrauen gegenüber allem, was nach Nachrichtendiensten riecht. Diese von ihr selbst verursachte psychologische Situation versucht die PDS/SED nun schamlos auszunutzen. Anstatt den Menschen deutlich zu machen, daß der Verfassungsschutz die einzige Aufgabe hat, die Sicherung der Freiheit unseres Rechtsstaates und seiner Bürger vorzunehmen, schüren Sie ständig die Vorbehalte. Dieser Antrag soll ein weiteres Mosaiksteinchen in dieser Kampagne sein. Wir werden ihn deshalb bei der parlamentarischen Behandlung im Innenausschuß ablehnen. Unser Ziel bleibt es, die Voraussetzungen zu schaffen für ein hohes Maß an Gerechtigkeit und an werbender Akzeptanz der neuen Bundesbürger für den sozialen und freiheitlichen Rechtsstaat. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3479* Rolf Schwanitz (SPD): Der von der Gruppe der PDS/ Linke Liste vorgelegte Antrag geht, wie bereits betont worden ist, auf einen Bericht des Staatssekretärs im Bundesinnenministerium Neusel vor dem Innenausschuß des Deutschen Bundestages am 19. Juni 1991 zurück. Staatssekretär Neusel berichtete dem Ausschuß darüber, welche Stasi-Akten bisher an bundesdeutsche Stellen gegangen sind und welchen Erkenntnisstand man durch die Auswertung erlangt hat. Der nun vorliegende Antrag, der die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zum Ziel hat, äußert sich in seiner Antragsbegründung, aber auch in den aufgezählten Untersuchungsaufgaben kritisch dazu, auf welchem Wege diese Akten in die Bundesrepublik gelangt sind und wie dort mit diesen Akten verfahren wurde. Es muß hier also zunächst danach gefragt werden, inwieweit der Bericht des BMI tatsächlich Anlaß zu Kritik bietet. Zunächst zum Bundesamt für Verfassungsschutz und zu den Landesämtern für Verfassungsschutz. Nach Aussage des Staatssekretärs Neusel befinden sich insgesamt Akten aus vier Hauptabteilungen sowie aus der HVA des MfS bei den Verfassungsschutzämtern der Bundesrepublik zur Auswertung. Seit dem 3. Oktober 1990 ist die Herausgabemöglichkeit von MfS-Material zur Nutzung für die Dienste durch den Einigungsvertrag stark eingeschränkt. Im Bericht des BMI findet sich kein Anhaltspunkt dafür, daß nach dem 3. Oktober 1990 Aktenmaterial aus der Gauck-Behörde den bundesdeutschen Diensten zur Verfügung gestellt worden ist. Der Einigungsvertrag unterstellt lediglich jenes MfS-Aktenmaterial der Hoheit des Sonderbeauftragten der Bundesregierung, welches mit Beitritt unmittelbar als Unterlagen des MfS quasi „im Bestand des Hauses" war. Für Unterlagen, die sich nicht mehr in der Obhut der MfS-Archive befunden haben, bietet der Einigungsvertrag selbst keine verbindliche Regelung. Wir können dies bedauern und diesen Umstand vor allen Dingen als Handlungsauftrag für unser Stasi-UnterlagenGesetz ansehen, aber verändern läßt sich dies auch durch einen Untersuchungsausschuß nicht. Es ist folglich kein juristisch greifbarer Verstoß darin zu sehen, daß die Dienste bis zur Verabschiedung unseres StasiUnterlagen-Gesetzes jene Akten weiter nutzen, die bereits vor dem 3. Oktober 1990 in ihre Behörden gelangt sind. Wir erwarten allerdings, und dies sage ich mit allem Nachdruck, daß die Grundsätze, zu denen sich in den Entwürfen zum Stasi-Unterlagen-Gesetz alle Fraktionen des Hauses und auch die Bundesregierung verständigt haben, insbesondere hinsichtlich des Schutzes der Rechte von Betroffenen und Dritten auch jetzt schon zur Handlungsrichtlinie für die bundesdeutschen Dienste werden. Eine veränderte Rechtslage bestand in der damaligen DDR zwischen dem 7. September 1990 und dem 2. Oktober 1990, in jener Zeit, als das damalige DDRStasi-Unterlagen-Gesetz Gültigkeit besessen hat. Der Bericht des BMI vor dem Innenausschuß hat jedoch auch keinen Anhaltspunkt dafür ergeben, daß Akten des ehemaligen MfS an bundesdeutsche Dienste in diesem Zeitraum übergeben worden sind. Vor dem 7. September 1990 unterstanden die Akten des MfS nach einem Ministerratsbeschluß vom 16. Mai 1990 dem damaligen Innenminister der DDR. Eine parlamentarische Sperrung der Akten hat es, auch wenn viele das heute hier bedauern mögen, zu Zeiten der Volkskammer nicht gegeben. Es muß daher abschließend folgendes Fazit gezogen werden: Sicherlich sind auch nach dem Bericht des Staatssekretärs Neusel vor dem Innenausschuß nicht alle Unklarheiten restlos beseitigt worden. Ein direkter Anhaltspunkt für eine Rechtsverletzung, welche bei der damaligen Übermittlung der Akten an bundesdeutsche Dienste und/oder das Bundeskriminalamt oder seit dem 3. Oktober 1990 vom Sonderbeauftragten begangen worden wäre, ist nicht erkennbar. Der in der Drucksache 12/881 vorgeschlagene Aufgabenkatalog des einzurichtenden Untersuchungsausschusses überschreitet zudem an vielen Stellen den eigentlichen, durch den Bericht des BMI vor dem Innenausschuß aufgeworfenen Sachverhalt. Unsere Fraktion ist deshalb der Auffassung, daß zur Aufhellung der noch offenen Fragen die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses sicherlich nicht das richtige Mittel wäre. Hierfür stehen andere Parlamentsgremien zur Verfügung, nicht zuletzt der Unterausschuß „Staatssicherheit" beim Innenausschuß des Deutschen Bundestages. Wenn die PDS es darüber hinaus für nötig erachtet, in der Begründung ihres Antrages ausdrücklich darauf zu verweisen, daß es für sie unter diesen Umständen unzumutbar sei, über ein Stasi-Unterlagen-Gesetz zu entscheiden, dann wird hier natürlich noch eine ganz andere Funktion dieses Antrages deutlich. Daß für ihre Partei die baldige Verabschiedung des Stasi-Unterlagen- Gesetzes mit Unannehmlichkeiten verbunden sein wird, will ich gerne glauben. Daß hierfür jedoch ein Untersuchungsausschuß instrumentalisiert werden soll, muß meinerseits entschieden abgelehnt werden. Dr. Jürgen Schmieder (FDP): Die PDS möchte mit ihrem Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses Aufklärung darüber erlangen, welche Behörden von Mitte 1989 bis heute Zugriff auf Stasi-Unterlagen gehabt haben. Sie verlangt, auf den Punkt gebracht, eine Aufstellung über die Zahl der übergebenen Akten, die Darstellung der operativen Ziele der Nachrichtendienste, die Zusammenarbeit der Dienste untereinander und mit der Polizei und schließlich Information über die Rechtsgrundlagen sowie die Auswertungsergebnisse. Die PDS beantragt ernsthaft die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Klärung dieser Fragen, obwohl diese in zahlreichen Anfragen an die Bundesregierung und durch einen Bericht des Staatssekretärs Neusel im Innenausschuß am 19. Juni 1991 ausführlich beantwortet worden sind. So hat die Gruppe der PDS/Linke Liste Antwort erhalten auf folgende Fragen: — Kleine Anfrage „Einsichtsrecht für Betroffene durch Observation in ihre Akten beim BKA, BfV, BND und MAD" (Drucksachen 12/332, 12/680), 3480 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 — Kleine Anfrage „Tätigkeit des BfV in den neuen Bundesländern" (Drucksache 12/383), — Kleine Anfrage „Datenaustausch bundesdeutscher Polizeibehörden und Nachrichtendienste mit ausländischen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten" (Drucksache 12/583) — Kleine Anfrage „Herausgabe der Akten des MfS, die sich im Besitz bundesdeutscher Behörden befinden" (Drucksache 12/592), — Kleine Anfrage „Übertreibung mit der Geheimhaltung bei angeforderten Auskünften über das Bundesamt für Verfassungsschutz" (Drucksache 12/678), — Kleine Anfrage „Bewaffneter Zugriff auf Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit" (Drucksache 12/928), — Kleine Anfrage „Prozesse gegen Angehörige der MfS HVA" (Drucksache 12/920), — Kleine Anfrage „BKA-Zugriff auf MfS-Akten" (Drucksache 12/968), — Kleine Anfrage „Herausgabe der Akten aus dem Ministerium für Staatssicherheit, die sich im Besitz bundesdeutscher Behörden befinden" (Drucksache 12/592) Es scheint, die Gruppe PDS/Linke Liste möchte sich als Querulant oder als Arbeitsbeschaffungsstelle profilieren. Die PDS fragt auch, nach welchen Kriterien das BKA den „terroristischen Hintergrund" für den Bereich der ehemaligen DDR bestimmt hat. Es ist an der Zeit, zu fragen, welchen politischen „Hintergrund" die PDS eigentlich hat. Will sie durch permanente und stereotype Fragen von eigener Schuld und eigenen Bekenntnissen ablenken? Sie versucht anscheinend, auch nach der Vereinigung Deutschlands eine altbekannte Tradition fortzusetzen. Das Umdenken fällt wohl doch sehr schwer. Vielleicht sollte die PDS erstmal in den eigenen Reihen genaue Nachforschungen anstellen, wer mit dem MfS und in welcher Form zusammengearbeitet hat. Es hat sich bereits ein Mitglied der PDS zu seiner Vergangenheit bekannt. In der Begründung zu dem Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses heißt es, es bestehe mehr als nur der Verdacht, daß Unterlagen aus StasiArchiven widerrechtlich beschafft worden sind. Es sei unzumutbar für Abgeordnete und die Öffentlichkeit, in dieser Situation über ein Stasi-Unterlagen-Gesetz zu entscheiden. Man ist versucht, zu sagen: Guck mal, wer da spricht! Die Nachfolgerin und Erbin der SED-Diktatur, die auf die widerliche Spitzeltätigkeit des MfS als Hilfsmittel zur Erhaltung der Verdummung, Unterdrükkung und Ausbeutung des Volkes und der eigenen Macht angewiesen war, befürchtet widerrechtliches Beschaffen von Unterlagen. Sie sollte sich lieber darum sorgen, was denn mit dem Geld passiert ist, das die PDS, als sie noch SED hieß und die staatstragende Partei war, widerrechtlich von den Bürgern der ehemaligen DDR erlangt hat. Mit einem Kostümwechsel über die Stufe SED-PDS zum neuen Modell PDS kann man sich doch nicht aus der Verantwortung stehlen! Wann wird die PDS endlich lernen, sich der Last ihres Erbes zu stellen und tatsächlich mit dem inneren Prozeß einer Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit zu beginnen, anstatt sich damit zu begnügen, durch eine Umbenennung jegliche Haftung von sich zu weisen? Sicherlich ist es schwer, sich nach 40 Jahren Wohlleben in einem abgeschlossenen Staatsgefüge in einer Bundesrepublik zurechtzufinden, in der die eigene Meinung nur mit Hilfe von Argumenten durchgesetzt werden kann, und nicht unter Hinweis auf den allgegenwärtigen Lauscher und Voyeur. Eines ist sicher: Zumindest um diesen Lernprozeß kommt die PDS nicht herum, da kann sie so viele Anfragen und Anträge stellen, wie es ihre Phantasie zuläßt. Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Ich habe mich gefragt, ob es wohl eine Remineszenz des Altestenrats an die Nacht-und-Nebel-Aktionen des Herrn Diestel sein soll, daß nun diese parlamentarische Debatte auch in die Nacht-und-Nebel-Zeit gelegt wurde. Auf jeden Fall können wir zu dieser Tageszeit sicher sein, daß uns keiner mehr hört und uns kein Journalist zuhört. Ich weiß, die Fraktionen werden diesen Antrag ablehnen, ohne sich mit ihm auseinanderzusetzen. Denn der Antrag stammt von der PDS/Linke Liste. Wie so oft in diesem Haus, wird auch dieser Antrag von den Fraktionen nach seiner Herkunft und nicht nach seinem Inhalt beurteilt werden. Der Antrag hätte aber auch von den Koalitionsfraktionen oder der SPD eingebracht werden können. Auch diesen hätte doch auffallen können, daß Herr Diestel die Volkskammer in so wichtigen Fragen belogen hatte. Auch diesen hätte auffallen können, wie spät das Innenministerium den lange geleugneten Sachverhalt preisgab, daß Herr Diestel brisante Stasi-Unterlagen an das BMI und die Verfassungsschutzbehörden weitergegeben hatte. Und schließlich hätte ihnen auch auffallen können, daß die vielfach gestellten parlamentarischen Anfragen in dieser Sache durch die Bundesregierung konsequent nicht oder nur ausweichend beantwortet wurden. Wenn in einer wichtigen Angelegenheit das Parlament trotz mehrfacher Versuche von der Regierung keine Antworten erhält, wenn sich immer mehr Informationen und Mutmaßungen auftürmen, die die bekannte Spitze eines Eisbergs erahnen lassen, dann sieht das parlamentarische Procedere das Mittel des Untersuchungsausschusses vor. Ich gebe gerne zu, mir wäre es lieber, die Bundesregierung ginge so freigebig mit Informationen um, wie es nach meinem Verständnis gegenüber einem Parlament und dem Gewicht der offenen Fragen nach angemessen wäre. Dann brauchten wir in der Tat keinen Untersuchungsausschuß. Da dies aber bisher nicht der Fall ist, müssen wir auf diesem parlamentarischen Mittel bestehen, wenn sich das Parlament nicht selbst lächerlich machen, zum Spielball der Bundesregierung machen will. Die letzten Wochen in der Schalck-Affäre hätten Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3481* doch auch bei der Mehrheit dieses Parlamentes einige rote Warnleuchten aufleuchten lassen können! Ich nenne Ihnen folgende konkrete Beispiele für den weiteren Aufklärungsbedarf in diesem Komplex und für das weitere Antwortverhalten: 1. Auf eine umfangreiche Kleine Anfrage meiner Gruppe zu diesem Komplex antwortet mir die Bundesregierung Anfang letzten Monats (BT-Drs. 12/1043), indem sie — wie zum Beleg ihrer Auskunftsfreude — in einer Vorbemerkung auf zwei bereits erfolgte Berichte im Ausschuß sowie auf sage und schreibe elf Antworten auf Kleine Anfragen verweist. Da kann doch wirklich keiner mehr meckern, wird jede unbefangene Leserin denken. Denn diese wird auch kaum den Aufwand treiben, einmal nachzulesen. Macht man sich diese Mühe jedoch, stellt sich heraus: Diese Antworten beziehen sich meist auf völlig andere Sachverhalte und sind ihrerseits derart dürftig und zum Teil lückenhaft, daß hierdurch die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen nur noch zusätzlich belegt wird. Das 2. Beispiel belegt, daß die Bundesregierung auf Nachfragen den Abgeordneten in diesem Komplex glattweg die Unwahrheit gesagt hat und dabei offenbar darauf baut, niemand könne all das nachlesen. Ich hatte die Regierung gefragt, warum der Generalbundesanwalt von Stahl in der Sitzung des Rechtsausschusses am 11. Juni dieses Jahres die Aktenliefe-rung auch an den Verfassungsschutz nicht erwähnt habe, sondern auf Fragen hin entgegen der Wahrheit erklärte (Ich zitiere das Sitzungsprotokoll S. 99 wörtlich): „Die Akten haben nur dem BKA und uns vorgelegen, niemandem sonst." Die Regierung antwortete da doch glattweg: „Die ihm zugeschriebene Erklärung hat der Generalbundesanwalt nicht abgegeben" ; siehe Protokoll S. 99. Doch die Regierung — und damit bin ich bei dem 3. Beispiel — legte noch drauf und antwortete weiter: „Der Bundesanwaltschaft sind durch ... Dr. Diestel keine Akten übergeben worden." Daß Herr Diestel dies nicht höchstpersönlich tat, ist allen klar. Doch inhaltlich scheint Herr von Stahl auch hier zu widersprechen, indem er in jener Ausschußsitzung erklärte: „Wir haben ... vom ehemaligen Zentralen Kriminalamt" (ich ergänze: also in späterer Verantwortung von Minister Diestel!) „Unterlagen erhalten". Und genauso haben die Ausschußmitglieder, z. B. Herr Hirsch in seiner Zusammenfassung, das ausweislich des Protokolls auch verstanden und verstehen müssen. Ich frage: Sagte Herr von Stahl oder nun die Bundesregierung uns die Unwahrheit? Dies muß durch einen Untersuchungsausschuß aufgeklärt werden. Weiterhin aufklärungsbedürftig sind folgende drei Fragen: 1. Wieviel Aktenstücke mit Angaben über wieviel Personen sind nun eigentlich an die maßgeblichen Behörden geliefert worden? Abgeordnete auch aus anderen Fraktionen haben dies bei mehreren Gelegenheiten mündlich und schriftlich erfragt. Diese Regierung oder deren Sprecher sind bisher — soweit ich dies erkennen kann; und ich habe die Angelegenheit sehr aufmerksam verfolgt — stets ausgewichen. 2. Wo sind diese Unterlagen jetzt? Zurückgegeben an den Sonderbeauftragten, wie das z. B. der wohl bald verabschiedete Gesetzentwurf von Regierung und Fraktionen zu den Stasi-Akten vorsähe? Auch dazu haben wir auf Nachfragen keine Auskunft bekommen, außer der von Herrn Neusel (ich gebe das mal etwas salopp wieder), diese Rechtspflicht sei doch bloße Zukunftsmusik. 3. Schließlich — last, not least — erscheint dringend aufklärungsbedürftig, welche Rolle der heutige Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Herr Werthebach, bei der Lieferung von Akten an das Amt womöglich gespielt hat. Denn nach meiner Kenntnis war Herr Werthebach von seiner BMI-Position in der Fachaufsicht über das Bundesamt zu Herrn Diestel als dessen Berater gewechselt. Dort war er genau in der fraglichen Zeit der Aktenübermittlung offenbar auch noch tätig. Wie kam es also, daß auf das dringende Ersuchen des BMI Herr Diestel (oder wer sonst?) die Auslieferung der Akten veranlaßte, und zwar entgegen der damaligen Rechtslage, und daß er darüber sogar noch die Volkskammer belügen mußte? Heute jedenfalls, soviel scheint klar, kann Herr Werthebach in seinem neuen Amt mit diesen Akten arbeiten. Wir unterstützen den Antrag der PDS/Linke Liste und bitten Sie, dies ebenfalls zu tun. Ursula Jelpke (PDS/Linke Liste): Es ist unzumutbar für Abgeordnete und Öffentlichkeit, über ein Gesetz zu entscheiden, in dem der zukünftige Umgang mit den Stasiunterlagen geregelt werden soll, solange der bisherige Umgang mit den Unterlagen im Dunkel der Geheimdienste, der staatlich gedeckten Geschäftemacherei und der Irreführung der Öffentlichkeit gehalten wird. Verschwunden sind ja nicht nur Schalcks Aktenkoffer. Verschwunden bzw. der Öffentlichkeit und dem Sonderbeauftragten für die Stasiunterlagen entzogen sind Stasiakten in unbekanntem Ausmaß. Alle Verantwortlichen haben von sich aus bisher keinen Schritt zur Aufklärung des Aktenverbleibs getan. Mit Anfragen, öffentlichem Druck und zum Teil gezielter Indiskretion konnten nur immer mühsam Bruchstücke des großen Deals zusammengesetzt werden. Und während Parteien und Betroffene in kleinlichste angeblich rechtsstaatlichen Grundsätzen genügende Gesetzesformulierungen gefesselt wurden, griffen Polizei und Geheimdienste mit großzügig ausgelegten Generalvollmachten zu. Die Tatsachen sind: Einerseits hat bis heute kein Opfer der Stasi-Repression legal Einsicht in seine Akten nehmen können. Andererseits haben aber das BKA und die bundesdeutschen Geheimdienste die Gehaltslisten des MfS, Unterlagen aus Abhörmaßnahmen des MfS über führende Industriemanager und Politiker, aber auch Angehörige der bundesdeutschen Linken, Unterlagen der Spionageabwehr, der elektronischen Aufklärung, der Terrorabwehr, der Sicherung der Volkswirtschaft und der Hauptabteilung Aufklärung. 3482* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 Schon zu dieser Sachlage erklärte der Gutachter Rolf Gössner bei der Anhörung zum StasiunterlagenGesetz: „Damit wurde zumindest der Verfassungsschutz zum illegitimen Erben der Stasihinterlassenschaft. Die von der Stasi verfolgten Personen sehen sich auf diese Weise wiederum in Geheimdienstdateien registriert, und sie müssen womöglich eine Auswertung der Daten zu ihren Ungunsten (zumindest) befürchten." Die Fakten werden nicht bestritten, behauptet wird nur, all das sei nicht nur legitim, sondern legal geschehen. Das zu prüfen würde einen Untersuchungsausschuß nicht nur rechtfertigen, sondern auch gut beschäftigen. Aber damit ist der Datenklau noch längst nicht umfassend beschrieben. Auf drängende Nachfragen und nach langem Gezappel mußte das Bundesministerium des Innern einräumen, daß das BKA seit dem 1. September 1990 Zugriff auf personenbezogene Unterlagen für staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren hat. Wir hatten gerade unseren Antrag für einen Untersuchungsausschuß eingebracht, da wurde die Faktenlage der von westdeutschen Sicherheitsbehörden geplünderten Stasiarchive um die „Affäre Diestel" bereichert. Für die Öffentlichkeit bestand diese Affäre darin, daß zunächst gemeldet wurde, Herr Diestel habe heimlich Stasiakten an bundesdeutsche Sicherheitsbehörden übergeben. Später wurde gemeldet, Staatssekretär Neusel habe sie dankbar entgegengenommen. Diestel zeigte immerhin Unrechtsbewußtsein, indem er erklärte: „Ich bin damals sicher weitergegangen, als ich durfte." Diese Ehrlichkeit provozierte Neusel zu dem Bekenntnis, er habe Herrn Diestel bedrängt. Kistenweise konnten daraufhin damals Unterlagen abtransportiert werden. Dieser gute Wille zur Zusammenarbeit wurde mit der Erklärung belohnt — Zitat Neusel — : „Bundesregierung steht voll hinter Diestel". Anfang August 1991 antwortete die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von Bündnis 90/GRÜNE nach den Rechtsgrundlagen dieser sicherheitspolitischen Kumpanei in einer Mischung aus Schäbigkeit und Unverfrorenheit: „Zu dem in Frage stehenden Zeitpunkt war der Beitritt ... noch nicht vollzogen. Anfragen richteten sich somit an die ehemalige Deutsche Demokratische Republik als einen selbständigen Staat ... " Zum Verbleib der Unterlagen wird ebenfalls mehr als ein Jahr später immer noch gebetsmühlenartig erklärt, die Regierung stehe im Kontakt mit dem Sonderbeauftragten, um zu klären, ob und gegebenenfalls welche Unterlagen herauszugeben sind, und um die Modalitäten einer Übergabe zu vereinbaren, soweit eine solche in Betracht kommt. Die Bundesregierung und die jeweils verantwortlichen Staatssekretäre oder Minister nutzten und nutzen jede Möglichkeit — ich könnte auch sagen: jeden billigen Trick — , um nachvollziehbare und bewertbare Auskünfte über Ausmaß, Qualität, Verbleib und Nutzen der Unterlagen zu verschleiern. Ja, es ist kaum möglich, bestimmte Verantwortlichkeiten präzise festzustellen. So wie Schalck angeblich nicht vom BND, sondern von einem ehemaligen BND-Mitarbeiter betreut worden ist, der auch im Irak-Geschäft tätig war, hatten VS oder BND keine offizielle Beziehung zu irgend jemand. Es gab nur das Vertreter-System: Im April 1990 treffen sich Schäuble und Diestel. Der pensionierte BKA-Präsident Boge wird Berater Diestels. Ende April wird auch der ehemalige Landespolizeipräsident von Baden-Württemberg, Stümper, „Fachberater" Diestels. Im Mai 90 bildet die Innenministerkonferenz eine Arbeitsgruppe zur Intensivierung der operativen Zusammenarbeit. Vereinbart wird auch die Entsendung von Experten zur Beratungshilfe in die DDR. Ende Mai 90 beschließt ebenfalls die Innenministerkonferenz weitere Maßnahmen zur Verwirklichung der Fahndungsunion. Das BKA informiert ab sofort und direkt das Zentrale Kriminalamt der DDR im Bereich Terrorismus. Auch Herr Werthebach, heute Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, war in diesen Monaten Sicherheitsberater Diestels und hatte, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichtete, sich intensiv mit dem Studium von MfS-Akten beschäftigt. All dies, ich muß es betonen, ist lediglich ein Ausschnitt der tatsächlichen Einflußnahme westdeutscher Behörden auf die Sicherheitspolitik der „ehemaligen DDR als selbständiger Staat" , wie die Bundesregierung bei Nachfragen nach Rechtsgrundlagen zu antworten pflegt. Dieses System der verschleierten Verantwortlichkeiten ist ein Grund dafür, daß bis heute beispielsweise ungeklärt ist, wo der Auftrag tatsächlich ausgearbeitet worden ist, im Erfurter MfS-Archiv, verwaltet vom dortigen Bürgerkomitee, mit bewaffneten Kräften Akten zu beschaffen. Ungeklärt ist natürlich auch, wer in diese Akten alles Einsicht nehmen konnte. Selbstverständlich gab es damals — vermutlich auch heute — sogenannte vagabundierende Akten und Unterlagen, zum Verkauf angeboten, zugespielt für sonstige Zwecke u. ä. Dies kann aber meines Erachtens für die Bundesregierung und die zuständigen Minister auf keinen Fall das Recht schaffen, über Herkunft, Verbleib, Nutzung und Rechtsgrundlagen der von ihr und ihren Organen systematisch und gezielt beschafften Akten Auskunft zu geben. Warum beschließt die Innenministerkonferenz im Juli 90, die im Zuge der Stasi-Auflösung in die BRD gelangten Unterlagen über führende Politiker und Industriemanager vernichten zu wollen? Woher kommen die Unterlagen? Warum wurden sie beschafft, und vor allem, warum sollten ausgerechnet die vernichtet werden? Ein Untersuchungsausschuß muß in all diesen Dingen Klarheit schaffen, soweit das möglich ist. Geschehen muß das, bevor Regierung und Sicherheitsbehörden den Vertrauensvorschuß von einer Bundestagsmehrheit erhalten, den sie mit dem Stasi-UnterlagenGesetz noch zusätzlich fordern. Mit dem Gesetz würden sämtliche Unterlagen endgültig dem Bundesinnenminister anvertraut — die Sonderbehörde wäre diesem Ministerium endgültig unterstellt, gegen alle Widerstände aus den neuen Bundesländern, die gerade auch die zentralistische Organisation der Behörde und damit die Enteignung der eigentlich Betroffenen kritisieren. Die Unterlagen wären dann aus- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3483* schließlich denen anvertraut, die bisher den Beweis schuldig geblieben sind, damit im ursprünglichen Sinne der historischen Aufarbeitung und der Rehabilitierung geschädigter Bürgerinnen und Bürger umgehen zu können oder zu wollen. Während Bürgerrechtler aus der Gauck-Behörde entfernt wurden, weil sie der vom BMI vorgenommenen Interpretation von Fakten nicht folgen wollten, können bundesdeutsche Sicherheitsbehörden mit den Unterlagen ungeniert und unkontrolliert arbeiten. Schon jetzt ist die Gefahr absehbar, daß der Bevölkerung der DDR die politische und historische Aufarbeitung weitestgehend entzogen wird. Bereits heute verfügt die Öffentlichkeit nur über gefilterte Erkenntnisse. Ihr ist längst die Aufarbeitung entzogen worden. Die Bevölkerung der DDR, die das volle Risiko bei der Entmachtung des MfS und der Besetzung der Archive getragen hat, muß heute als Bittstellerin auftreten, wenn es um ihre Geschichte geht. Vertreterinnen wie Ingrid Köppe müssen sich in diesem Hause Drohungen gefallen lassen, wenn sie gegen den Willen der Regierung auf vollständiger Aufarbeitung der wirtschaftlichen und politischen Kungelei der Herrschenden beider Staaten beharren. Allzuviel deutet darauf hin, daß mit den illegal besorgten Unterlagen schon seit langem, spätestens seit Frühjahr 1990 auch geheimdienstlich gearbeitet wird. Fakt ist, daß ehemalige Mitarbeiter des MfS seit langem von Agenten deutscher und ausländischer Dienste gezielt mit Insiderwissen bearbeitet werden, das vermutlich aus den Unterlagen stammt. Auch hier deutet sich an, daß die Westdienste die illegitime Erbschaft des MfS schon angetreten haben. Und es gibt heute keinen Grund, Staatsminister Stavenhagen zu glauben, wenn er im Oktober 1990 behauptet hat, Agenten des BND seien in der DDR nicht mehr tätig. Sein Bundeskanzleramt ist auf dem besten Wege, sich zum Bermudadreieck „heißer" Unterlagen in Sachen Stasi-Aufarbeitung zu entwickeln. Der Untersuchungsausschuß hätte auch zu klären, inwieweit die Erbschleicherei von dieser Koordinationsstelle der Westdienste geplant worden und zu verantworten ist. Angesichts dieser kurzen Geschichte westdeutscher Sicherheitspolitik sollten gerade die Abgeordneten aus den neuen Bundesländern Innenminister Schäuble ernst nehmen. In einem Interview vom Sommer diesen Jahres erklärt er: „Natürlich müssen die Menschen in den neuen Ländern erst Erfahrungen mit der Demokratie nachholen, die wir in über 40 Jahren sammeln konnten. Der Umgang mit einer föderalistischen Ordnung ... oder daß man selbst für viele Dinge verantwortlich ist, ist für sie noch neu. Wir sollten ihnen die Chance dazu geben. Sie werden es bald gelernt haben." Nähme Herr Schäuble seine eigenen Worte ernst, müßte er als erster der Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zustimmen. Auch wenn die Arbeit des Schalck-Ausschusses nicht allzuviel Anlaß zu Optimismus gibt — die Zustimmung zur Einrichtung eines Untersuchungsausschusses in Sachen Aktenklau wäre eine Demonstration und eine Lektion, eine Lektion in Sachen Demokratie für die selbstherrlichen Sicherheitspolitiker, bevor sie legal die Erbschaft der düstersten Seite der Stasiarbeit antreten können, und es wäre ein Beweis dafür, daß man aus der Überwindung der Stasivergangenheit mehr lernen kann als blinden Glauben in hingemurmelte Floskeln von rechtsstaatlichen Glaubenssätzen und Generalbevollmächtigungen. Anlage 10 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktionslos) (Drucksache 12/1141 Frage 14): Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit, ihre bisherige Politik gegenüber Zaire zu überdenken? Die Bundesregierung betrachtet mit Sorge die sich verschlechternde politische und wirtschaftliche Lage in Zaire. In ihrem politischen Dialog mit allen maßgeblichen politischen Kräften in Zaire ist die Bundesregierung bemüht, einen Beitrag zur Wiederherstellung der politischen und wirtschaftlichen Stabilität in diesem Lande zu leisten. Sie tut dies in Abstimmung mit ihren europäischen Partnern im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit. Die Politik der Bundesregierung orientiert sich an folgenden Zielen: Verbesserung der Menschenrechtslage , Durchsetzung der begonnenen demokratischen Reformen, Sanierung der Staatsfinanzen, Lösung der Strukturprobleme und Schutz der Tropenwaldgebiete. — Diese Politik gilt für die jeweilige Entwicklung in Zaire. Anlage 11 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) (Drucksache 12/1141 Frage 19): Welche Revisionsvorschläge für das NATO-Truppenstatut und das Zusatzabkommen hat die Bundesregierung den verbündeten Streitkräften vorgeschlagen und bis wann soll ein Ergebnis der Verhandlungen erzielt werden? Die Bundesregierung ist am 5. September 1991 in Verhandlungen mit den Verbündeten, die in der Bundesrepublik Deutschland Truppen stationiert haben, zur Überprüfung des Zusatzabkommens zum NATOTruppenstatut eingetreten; das für alle NATO-Partner gleichermaßen geltende NATO-Truppenstatut selbst ist nicht Gegenstand der Verhandlungen. 3484' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 Die Verhandlungen haben in einer guten und vertrauensvollen Atmosphäre begonnen. Die aus Vertretern der Bundesregierung und der Bundesländer bestehende deutsche Verhandlungsdelegation hat den Verhandlungspartnern die aus deutscher Sicht zu überprüfenden und zu ändernden Bestimmungen benannt und ihre Vorschläge begründet. Die Bundesregierung hält den Zeitpunkt nicht für gegeben, um über den vertraulichen Inhalt der Verhandlungen öffentlich Auskunft zu geben. Die Verhandlungen sollen so schnell wie möglich zu Ergebnissen führen. Angesichts des umfassenden Verhandlungsgegenstandes können konkrete Angaben über ein voraussichtliches Ende der Verhandlungen nicht gemacht werden. Anlage 12 Antwort des Parl. Staatssekretärs Bernd Schmidbauer auf die Frage des Abgeordneten Klaus Harries (CDU/CSU) (Drucksache 12/1141 Frage 61): Hat die Bundesregierung die Absicht, ggf. wann, den Katalysator auch für dieselbetriebene Lkw und Pkw einzuführen? Prinzip der Abgaspolitik der Bundesregierung ist es, Grenzwerte festzulegen und es der Industrie zu überlassen, mit welchen technischen Mitteln diese Grenzwerte eingehalten werden. Bei Dieselmotoren zeichnen sich z. Z. verschiedene technische Lösungen ab, die künftigen Schadstoffgrenzwerte einzuhalten. Neben dem Katalysator gibt es rein motorische Konzepte und den Partikelfilter. Voll wirksam ist der Katalysatoreinsatz erst bei Verwendung schwefelarmen Dieselkraftstoffs. Das aus dem Schwefel im Kat gebildete Sulfat führt zur Verschmutzung des Katalysators. Dies ist insbesondere bei Nutzfahrzeugen mit hohen Laufleistungen relevant. Die Bundesregierung hat daher bereits 1987 eine Initiative zur Einführung schwefelarmen Dieselkraftstoffs in der EG gestartet. Im Juni dieses Jahres hat die EG-Kommission einen Richtlinienvorschlag vorgelegt, der die Einführung schwefelarmen Dieselkraftstoffs (0,05 Gew.-% Schwefel) für 1995/96 vorsieht. Zu diesem Zeitpunkt sollen EG-weit die Grenzwerte der 2. Stufe für die Lkw (7 g NOx/kWh, 0,15 g Partikel/kWh) in Kraft treten. Damit wird der Industrie die Möglichkeit gegeben, zur Erfüllung dieser Grenzwerte auch die Katalysatortechnik einzusetzen. Anlage 13 Antwort des Parl. Staatssekretärs Bernd Schmidbauer auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU) (Drucksache 12/1141 Fragen 62 und 63): Liegen dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Kenntnisse darüber vor, daß aufgrund der Anforderungen der Verordnung über Abfallverbrennungsanlagen der Einsatz von nicht handelsüblichen Brennstoffen in Zementwerken zurückgegangen ist? Welche Bestimmungen der Verordnung über Abfallverbrennungsanlagen finden beim Einsatz von z. B. Altöl in Zementwerken Anwendung? Zu Frage 62: Die Immissionsschutzbehörden der Länder haben aufgrund eines Auftrages der Umweltministerkonferenz an den Länderausschuß für Immissionsschutz eine Schnellumfrage durchgeführt. Diese hat ergeben, daß derzeit keine Auswirkungen auf die Verbrennung von nicht handelsüblichen Brennstoffen, insbesondere von Altreifen, in Zementwerken aufgrund der Anforderungen der Verordnung über Abfallverbrennungsanlagen erkennbar sind. Zu Frage 63: Welche Bestimmungen der Verordnung über Abfallverbrennungsanlagen Anwendung finden, ist abhängig von dem Anteil der Abfälle und sonstigen brennbaren Stoffen, die der Verbrennungsanlage zugeführt werden. Bis zu einem Anteil dieser Abfälle und Stoffe von 25 To an der Feuerungswärmeleistung eines Zementdrehrohrofens gelten nur die Emissionsgrenzwerte mit den zugehörigen Vorschriften über die Messung und Überwachung; bei einem Anteil von mehr als 25 % finden auch die sonstigen Anforderungen der Verordnung Anwendung. Grundsätzlich gelten die strengen Emissionsgrenzwerte der Verordnung jeweils für den Abgasanteil, der z. B. auf das eingesetzte Altöl entfällt. Für das übrige Abgas gelten die für Zementdrehrohröfen auf der Grundlage der TA Luft festgelegten Emissionsbegrenzungen. Der Abgasstrom des Ofens wird demnach so bewertet, als ob es sich um zwei voneinander getrennte Abgasströme handelt. Eine Kompensation der Emissionsbegrenzungen zwischen den beiden Abgasströmen ist nicht zulässig. Emissionen an Schwermetallen oder Dioxinen aus der Verbrennung des im Beispiel genannten Altöls dürfen nicht mit dem Abgasanteil, der auf den regulären Brennstoff entfällt, verdünnt werden. Damit wird ein häufig erhobener Einwand gegen eine Verbrennung von Abfällen in Kraftwerken oder Zementwerken widerlegt. In dem Einwand wurde unterstellt, daß das „saubere" Abgas aus regulären Brennstoffen zur Verdünnung des „schmutzigen" Abgases aus der Abfallverbrennung benutzt wird. Anlage 14 Antwort des Staatsministers Dr. Lutz G. Stavenhagen auf die Frage des Abgeordneten Horst Peter (Kassel) (SPD) (Drucksache 12/1141 Frage 70): Warum hat das Bundeskanzleramt, das nach Darstellung des Staatsministers Dr. Stavenhagen nach seiner Antwort an den Abgeordneten Conradi vom Bundesnachrichtendienst „in einem anderen Sinn unterrichtet worden" sein will, nicht schon nach dieser Unterrichtung den Deutschen Bundestag über die unzutreffende Antwort auf seine Frage informiert, und welche personellen Konsequenzen beim Bundesnachrichtendienst hat das Bundeskanzleramt wegen dieser „Unterrichtung in einem anderen Sinne" gezogen? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3485* Die nachträgliche Information über die unzutreffende Antwort habe ich unterlassen, weil in dem schon genannten Schreiben vom 28. März 1990 nur stand, daß die behördliche Ausstellung von Papieren auf Decknamen von seiten des BND „begleitet" wurde. Ich muß einräumen, daß mir durch diese eher verschleiernde als verdeutlichende Darstellung der Brückenschlag zur Frage des Kollegen Conradi nicht deutlich geworden ist. Ich habe den wahren Sachverhalt erst erfahren, als ich vor ca. zwei Monaten im Hinblick auf den eingesetzten Untersuchungsausschuß vom BND umfassend und dabei erstmals auch darüber unterrichtet wurde, daß er für das Ehepaar Schalck-Golodkowski Decknamen-Papiere beschafft hatte. Die Verantwortung dafür trägt der damalige Präsident, der heute in einem anderen Geschäftsbereich der Bundesregierung tätig ist. Im BND sind daher keine personellen Konsequenzen zu ziehen.
Gesamtes Protokol
Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1204100000
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet.
Als erstes möchte ich auf der Ehrentribüne den Präsidenten der Nationalversammlung der Republik Ungarn, Herrn Professor Dr. György Szabad, mit einer parlamentarischen Delegation ganz herzlich begrüßen.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich glaube, ich brauche heute morgen nicht zu sagen, wie eng die Beziehungen zwischen Ihrem und unserem Parlament sind, wie eng die Beziehungen geknüpft sind — das hat sich seit Dienstag wieder gezeigt — und wie intensiv die Gespräche bereits stattgefunden haben.
Ich freue mich ganz besonders, daß ein Anlaß Sie nach Bonn und morgen nach Berlin führt, der mit dem zu tun hat, was uns ganz entscheidend zum Durchbruch zur deutsch-deutschen Einheit verholfen hat, zu dem, was wir heute sind, nämlich e i n Deutschland, ein geeintes Volk.
Auf unsere gemeinsame Anregung hin wird morgen am Berliner Reichstag eine Ehren- und Gedenktafel enthüllt, die an die Öffnung der ungarischen Grenze für Deutsche aus der ehemaligen DDR vor zwei Jahren erinnern soll. Ich verlese kurz die Inschrift der Gedenktafel. Der Text lautet:
10. September 1989,
ein Zeichen der Freundschaft, zwischen dem ungarischen und dem deutschen Volke
für ein vereinigtes Deutschland, für ein unabhängiges Ungarn, für ein demokratisches Europa.
Eine gleiche Tafel wird in Kürze als unser Geschenk am Parlament in Budapest angebracht werden.
In diesen Gedenkworten sollen unsere ganze Dankbarkeit und Anerkennung gebündelt werden. Sie sollen unseren Beziehungen ein festes Fundament geben.
Ich wünsche Ihrem Besuch hier in Bonn und in Berlin einen guten Erfolg.

(Beifall im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren, amtlich ist folgendes mitzuteilen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Wohnungspolitisches Konzept der Bundesregierung und Wohnungsnot (In der 41. Sitzung bereits erledigt.)

2. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zum Ausgleich von Auswirkungen besonderer Schadensereignisse in der Forstwirtschaft (Forstschäden-Ausgleichsgesetz) — Drucksache 12/1056 —
3. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Einhundertvierzehnte Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste — Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz — Drucksachen 12/623, 12/1157 —
4. Aktuelle Stunde: Der Krieg in Jugoslawien — eine Herausforderung für Europa
5. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch — Drucksache 12/1154 —
6. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch — Drucksache 12/1155 —
Soweit erforderlich, soll von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden.
Sind Sie damit einverstanden? — Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Des weiteren wurde interfraktionell vereinbart, die auf Verlangen der Gruppe der PDS/Linke Liste für heute vorgesehene Aktuelle Stunde auf Mittwoch nächster Woche zu verschieben.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 und den Zusatzpunkt 2 auf:
4. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Juni 1988 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über



Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
die gegenseitige Hilfeleistung bei Katastrophen einschließlich schweren Unglücksfällen
— Drucksache 12/758 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend)

Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Stasi-Unterlagen-Gesetz — StUG)

— Drucksache 12/1093 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend)

Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Mai 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Bangladesch zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
— Drucksache 12/756 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß (federführend)

Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. Oktober 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Indonesien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
— Drucksache 12/757 —
Überweisungsvorschlag :
Finanzausschuß (federführend)

Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. November 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Neuseeland über den Luftverkehr
— Drucksache 12/938 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr (federführend) Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. September 1985 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Argentinischen Republik über den Luftverkehr
— Drucksache 12/759 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr (federführend)

Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. April 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Venezuela über den Luftverkehr
— Drucksache 12/1057 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr (federführend) Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. April 1989 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika zur Ergänzung des Abkommens vom 7. Juli 1955 über den Luftverkehr
— Drucksache 12/1058 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr (federführend) Ausschuß für Wirtschaft
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 16. Mai 1991 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Beendigung der Tätigkeit der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut
— Drucksache 12/939 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Finanzausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Eichgesetzes
— Drucksache 12/746 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Übertragung der Aufgaben der Bahnpolizei und der Luftsicherheit auf den Bundesgrenzschutz
— Drucksache 12/1091 —



Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend)

Rechtsausschuß
Ausschuß für Verkehr
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
1) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juni 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit
— Drucksache 12/1131 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß (federführend) Innenausschuß
m) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 14. November 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze
— Drucksache 12/1132 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß (federführend) Innenausschuß
n) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes, des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze
— Drucksache 12/1134 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend)

Innenausschuß Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß Finanzausschuß Haushaltsausschuß
o) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Maßnahmen gegen Israel-Boykott-Verpflichtungen deutscher Firmen bei Verträgen mit Drittländern
— Drucksache 12/554 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Auswärtiger Ausschuß
p) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Moratorium für Rüstungsexporte in den Nahen und Mittleren Osten
— Drucksache 12/744 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
q) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Keine weiteren israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten
— Drucksache 12/824 — Überweisungsvorschlag :
Auswärtiger Ausschuß (federführend)

Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
r) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Bericht zu Stand und Perspektiven der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland
— Drucksache 12/825 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend)

Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
s) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundesrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1990
— Einzelplan 20 —— Drucksache 12/893 (neu)
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
t) Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen Einwilligung in die Veräußerung eines Grundstücks in Berlin gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung
— Drucksache 12/1008 —
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
ZP 2 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zum Ausgleich von Auswirkungen besonderer Schadensereignisse in der Forstwirtschaft (Forstschäden-Ausgleichsgesetz)

— Drucksache 12/1056 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Eine Debatte ist nicht vorgesehen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Sind Sie auch damit einverstanden? — Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses zu den gegen die Gültigkeit der Wahl zum 12. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen
— Drucksache 12/1002 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Horst Eylmann Johannes Singer
Norbert Geis
Wieland Sorge
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Zwei Berichterstatter wünschen aber das Wort zur Berichterstattuna.



Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Das Wort hat als erster der Abgeordnete Horst Eylmann.

Horst Eylmann (CDU):
Rede ID: ID1204100100
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor Ihnen liegt die Beschlußempfehlung des Wahlprüfungsausschusses auf Drucksache 12/1002 zu den gegen die Gültigkeit der Wahl zum 12. Bundestag eingelegten Wahleinsprüchen.
Am 2. Dezember 1990 haben die Bürgerinnen und Bürger des wiedervereinigten Deutschlands durch ihre Stimmabgabe bei der ersten gesamtdeutschen Wahl nach 1949 das erste gesamtdeutsche Parlament gewählt. Gemäß Art. 41 des Grundgesetzes liegt die Prüfung der Gültigkeit dieser wie auch der anderen Bundestagswahlen in der Verantwortung dieses Hauses. Die Wahlprüfung ist dazu bestimmt, die richtige, d. h. die gesetzmäßige Zusammensetzung des Bundestages zu gewährleisten. Entsprechend dem Anfechtungsprinzip ist jedoch nicht die gesamte Wahl durchzuprüfen; vielmehr richtet sich der Prüfungsumfang nach dem Vorbringen des jeweiligen Einspruchführers.
Ich möchte ein paar Zahlen nennen, um die Relationen zu verdeutlichen. Hinsichtlich der Wahlen zum 12. Deutschen Bundestag sind insgesamt 83 Wahleinsprüche eingegangen. Hiervon sind zwei zurückgenommen worden; einer konnte nicht als Wahleinspruch gewertet werden. Es verbleiben also 80 Wahlanfechtungen, über die heute eine Sachentscheidung zu treffen ist.
Diese Bilanz von nur 83 Wahleinsprüchen bei insgesamt 60 Millionen Wahlberechtigten, von denen 47 Millionen — gleich 78 % — an der Wahl teilgenommen haben, zeigt die bestehenden Relationen deutlich auf. Sie beweist die überwiegende Akzeptanz der Durchführung der Wahl und der Rechtmäßigkeit ihrer Ergebnisse in der Bevölkerung.
Um so erfreulicher ist es, daß sich diese Relationen auch bei der ersten gesamtdeutschen Wahl im Vergleich zu den früheren Bundestagswahlen nicht nennenswert verschoben haben. Dies zeigt ein Blick auf die Statistik früherer Zahlen. In der 1. bis 8. Legislaturperiode waren insgesamt 259 Wahleinsprüche und damit im Durchschnitt 32,4 Einsprüche pro Wahlperiode zu verzeichnen. Im 9. Bundestag gab es 58 Wahleinsprüche; in der 10. und 11. Wahlperiode sind jeweils 47 Einsprüche eingelegt worden. Insgesamt hat somit nur ein ganz geringer Teil der Wahlberechtigten Einspruch eingelegt.
Ein Schwerpunkt der Einsprüche lag bei dieser Wahl einerseits bei den wiederholt als zu kurz bemessen monierten Fristen in der Wahlvorbereitungsphase. Für deutsche Briefwähler, die im Ausland — zumal im außereuropäischen Ausland — leben, war es schwierig, teilweise sogar unmöglich, die Briefwahlunterlagen in der zur Verfügung stehenden Zeit zu erhalten und zum Wahltermin fristgemäß zurückzusenden. Dies ist größtenteils auf für die für Wahl zum 12. Deutschen Bundestag verkürzten Fristen zurückzuführen. Es gab aber auch schon in der vergangenen Wahlperiode Anlaß zu Beschwerden, wobei zu berücksichtigen ist, daß die Wahlberechtigung der Auslandsdeutschen erst zur 11. Wahlperiode eingeführt worden ist. Mein Mitberichterstatter, Herr Kollege Singer, wird hierauf noch näher eingehen.
Der zweite Schwerpunkt der Wahlanfechtungen bezog sich auf die Nichtzulassung von Parteien zu dieser Wahl durch den Bundeswahlausschuß. Auch hierzu einige Zahlen: Dem Bundeswahlausschuß lagen insgesamt 70 Anmeldungen von Parteien und politischen Vereinigungen zur Teilnahme an der Wahl vor. Insgesamt 30 hat der Bundeswahlausschuß als Parteien abgelehnt. Zum überwiegenden Teil erfolgte die Ablehnung mit der Begründung, diese Vereinigungen böten keine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit der Zielsetzung, an der politischen Willensbildung im Parlament mitwirken zu wollen. Auch hierzu wird mein Kollege Singer gleich noch weitere Ausführungen machen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1204100200
Der zweite Berichterstatter ist der Abgeordnete Johannes Singer.

Johannes Singer (SPD):
Rede ID: ID1204100300
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die von meinem Vorredner bereits angesprochenen Schwerpunkte bei den Wahlanfechtungen, die zu kurzen Fristen bei Briefwählern aus dem Ausland einerseits und die Nichtzulassung von Parteien zur Wahl und — damit einhergehend — die Nichtzulassung von Einzelbewerbern und Kandidaten der politischen Vereinigungen andererseits, geben Anlaß, das gegenwärtige Wahlverfahren und das Wahlprüfungsverfahren einer kritischen Bestandsaufnahme zu unterziehen.
Es ist zunächst zu ergänzen, daß sich von den 80 heute zur Entscheidung anstehenden Wahleinsprüchen 20 mit der Nichtzulassung von Parteien, Wählergruppen oder Einzelbewerbern befassen. Weitere 14 Einsprüche beziehen sich darauf, daß Briefwahlunterlagen überhaupt nicht oder jedenfalls zu spät zugegangen sind, wovon wiederum 11 Einsprüche von Auslandsdeutschen eingelegt wurden.
Hervorzuheben ist auch, daß sich allein drei Einsprüche mit Unregelmäßigkeiten und mit Mängeln bei der Kandidatenaufstellung der CDU in Hamburg befassen.
Die aufgeworfenen Probleme geben Anlaß zu folgenden Überlegungen:
Die verkürzten Wahlvorbereitungsfristen waren eine Folge davon, daß der Termin für die erste gesamtdeutsche Wahl auf ein möglichst frühzeitiges Da-turn festgesetzt wurde. Sie sind vor dem Hintergrund des Einigungsprozesses zu sehen. Es ist zu erwarten, daß die Fristen bei künftigen Wahlen regelmäßig wieder ausreichen werden, um Briefwählern die Teilnahme an der Wahl zu ermöglichen, ganz gleich, wo sie wohnen. Insofern sehe ich keinen Handlungsbedarf.
Zu erwägen ist jedoch, die Fristen für die Einlegung eines Wahleinspruchs oder einer Wahlprüfungsbeschwerde von einem Monat auf zwei Monate auszudehnen und als Fristbeginn den Tag der Bundestagswahl zu nehmen. Diese Fristen wären einfacher zu



Johannes Singer
handhaben und könnten einen Ausgleich dafür schaffen, daß es im Wahlprüfungsverfahren keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gibt.
Ein in einer demokratischen Gesellschaft besonders kritisch zu betrachtender Punkt ist die Nichtzulassung von Parteien, Wählergruppen oder Einzelbewerbern. Die Prüfung der Parteieigenschaft durch den Bundeswahlausschuß — nicht zu verwechseln mit dem Wahlprüfungsausschuß, für den ich hier heute spreche — darf nicht unter Opportunitätsgesichtspunkten erfolgen. Sie hat nach § 2 des Parteiengesetzes nur den Zweck, die ordnungsgemäße Durchführung der Wahl zu gewährleisten. Deswegen muß diese Frage vom Bundeswahlausschuß sehr restriktiv, sehr kritisch behandelt werden.
In diesem Zusammenhang ist auch zu überdenken, ob das Verfahren vor dem Bundeswahlausschuß nicht transparenter gestaltet werden könnte und ob man vor der Bundestagswahl, nach ablehnenden Entscheidungen des Bundeswahlausschusses, nicht die Möglichkeit einer Beschwerde zu einem unabhängigen, mit Berufsrichtern besetzten Beschwerdegericht vorsehen könnte.
Schließlich gebe ich zu bedenken und zu erwägen, ob eine Neuregelung des Wahlprüfungsgesetzes nicht das schriftliche Verfahren als Regelfall vorsehen sollte. Zur Zeit ist das mündliche Verfahren als Regelfall vorgesehen. In der Praxis wird es jedoch kaum gehandhabt. Denn Sinn macht das mündliche Verfahren nur dann, wenn über streitige Tatsachen Beweis erhoben werden müßte. Das ist in dieser Wahlperiode genausowenig erforderlich geworden wie in den meisten Wahlperioden vorher. Man sollte also der Praxis Rechnung tragen und es den Einsprechern akzeptabler machen, daß grundsätzlich das schriftliche Verfahren durchgeführt wird und nur unter den besonderen Umständen der Notwendigkeit einer Beweiserhebung ein mündliches Verfahren die Akzeptanz des Einspruchsführers erfährt.
Da bei den vorliegenden, heute zur Entscheidung anstehenden Wahleinsprüchen in keinem Fall Wahlfehler festgestellt werden konnten, die auf die Mandatsverteilung im Deutschen Bundestag Einfluß gehabt haben oder hätten haben können, bitte ich Sie, entsprechend der Beschlußempfehlung des Wahlprüfungsausschusses auf Drucksache 12/1002, die Wahleinsprüche zurückzuweisen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall im ganzen Hause)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1204100400
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Wahlprüfungsausschusses auf Drucksache 12/1002? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung bei einer Enthaltung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses (12. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten Jahresbericht 1990
— Drucksachen 12/230, 12/1073 — Berichterstatter:
Abgeordnete Paul Breuer Dieter Heistermann
Nach Vereinbarung des Ältestenrates ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Herr Alfred Biehle.
Alfred Biehle, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Liebe ehemalige Kollegen! Der Jahresbericht 1990, über den hier heute debattiert wird, wurde zum Ende eines Jahres vorgelegt, das sicherlich wie kaum ein anderes Jahr seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland von außergewöhnlichen Rahmenbedingungen, Entwicklungen und Ereignissen gekennzeichnet war.
Insoweit war es in der Tat ein außergewöhnliches Berichtsjahr. Das war für mich auch der Anlaß, dem Bericht — anders als seinen Vorläufern — einen Abriß dieser politischen Rahmenbedingungen voranzustellen. Es liegt auf der Hand, daß die Dramatik des Jahres 1990 zu Gewichtungen im Bericht geführt hat, die mich darauf verzichten ließen, einzelne Vorkommnisse in den Bericht aufzunehmen, die in den Jahren zuvor sicherlich erwähnenswert gewesen wären.
Vieles — das sei auch angemerkt — ist für die Bundeswehr aber auch 1991 nicht leichter geworden.
Lassen Sie mich in Kürze einige Anmerkungen zu dem Bericht machen, nachdem auch die Stellungnahme des Bundesministers der Verteidigung hierzu vorliegt. Ausführlich bin ich auf den Aufbau der Bundeswehr im beigetretenen Teil Deutschlands eingegangen. Hier konnte allerdings zunächst nur eine Art Zustandsbeschreibung erfolgen, weil meine formelle Zuständigkeit für die Bundeswehr in den neuen Bundesländern erst ab dem 3. Oktober des vergangenen Jahres gegeben war, mithin also nur drei Monate bestand.
Ich denke, daß man trotz aller nach wie vor bestehender Probleme die Feststellung treffen kann, daß sich die Übernahme von Soldaten der ehemaligen NVA im großen und ganzen reibungsloser gestaltet hat, als wir es vielleicht alle angenommen haben.
Die Bundeswehr ist oftmals als Beispiel für die Zusammenführung im Rahmen der Wiedervereinigung herausgestellt worden. Ich kann dies nur unterstreichen.
Ich glaube, daß insbesondere die Einberufung von Wehrpflichtigen aus dem Osten zur Absolvierung der dreimonatigen Grundausbildung im Westen sehr dazu beiträgt, gegenseitiges Verständnis zu fördern und so die Menschen zusammenzuführen. Innere Führung wird so — wie ich meine — sehr schnell in der Praxis erlebt. Innere Führung hat somit Konjunktur.
Eine Einberufung von West nach Ost — auch das sei angemerkt; es ist auch im Parlament wiederholt gesagt worden — sollte übrigens nicht länger tabu sein;



Wehrbeauftragter Alfred Biehle
I denn wir sind in der Zwischenzeit eine Bundeswehr geworden.

(Beifall des Abg. Karl Stockhausen [CDU/CSUJ)

Im Bericht 1990 bin ich auch ausführlich auf den Beschluß eingegangen, die Streitkräfte bis zum Ende des Jahres 1994 auf maximal 370 000 Soldaten zu reduzieren. Ich möchte diese Thematik zum Anlaß nehmen, von dieser Stelle aus an Sie einen Appell zu richten. Viele Soldaten, darunter zunehmend auch Reservisten, bemängeln, daß im öffentlichen Bereich, in der Politik so selten auf die Belange der Bundeswehr und unserer Soldaten, unserer Staatsbürger in Uniform, eingegangen wird. Sie wünschen sich — das ist ein häufiger Wunsch — , daß wieder von unserer Bundeswehr und nicht nur von der Bundeswehr geredet wird.

(Bernd Wilz [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Sorge bereitet das vielfach auch schon in höchsten militärischen Kreisen beklagte Fehlen von Antworten auf die Sinnfrage und die künftigen Aufgaben der Armee. Das Stationierungskonzept und die Heeresstruktur 5 oder auch die Abrüstungsdebatte unter Hinweis auf den Sicherungsauftrag allein ersetzen den Soldaten diese eingeforderten Antworten über die Zukunft der Bundeswehr nicht mehr voll. Hier fehlt den Soldaten — ich möchte es einmal so formulieren — die „sicherheitspolitische Marschrichtungszahl" über die Zukunft der Armee, die den Soldaten und auch der Gesellschaft den Sinn und die vielfältigen Aufgaben der Bundeswehr in der heutigen Zeit und für die Zukunft wieder klar und deutlich vermittelt.
Wir sprechen immer davon, daß wir den motivierten Soldaten brauchen. Motivation ist aber nicht nur eine Frage der Gestaltung des täglichen Dienstes, also den Vorgesetzten vor Ort überlassen, sondern — wie ich meine — auch und vielleicht gerade primär eine Aufgabe, die von der Politik maßgeblich geleistet werden muß. Dabei verkenne ich nicht die außerordentlich schwierige Situation und die vielen komplexen Fragen, die damit beantwortet werden müssen. Die heute 470 000 in Ost und West dienenden Soldaten erwarten so, daß auch — lassen Sie mich das anführen, weil es immer wieder beklagt wird — die aufgebrochenen Fragen betreffend den Einsatz der Bundeswehr „out of area" alsbald beantwortet werden. Die Soldaten sagen immer wieder, sie hofften, daß es auch einen weitestgehenden Konsens im parlamentarischen Bereich gibt, damit Irritationen, wie sie z. B. beim Einsatz in der Türkei oder im Mittelmeer sichtbar wurden, vermieden werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Lassen Sie mich noch darauf aufmerksam machen, daß sich das Eingabeaufkommen im Jahre 1991 wiederum steigend entwickelt. Wir werden voraussichtlich die höchste Eingabenzahl mit annähernd 11 000 Petitionen bekommen. Per heute liegen bereits rund 7 500 Eingaben vor; davon 30 To aus dem Bundeswehrbereich Ost. Sorgenvoll sehe ich auch die steigende Zahl der Eingaben von Reservisten, verbunden mit der Sinnfrage zur Bundeswehr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Lassen Sie mich noch darauf aufmerksam machen, daß sich das Ganze auch verwaltungsmäßig entwikkelt hat, wir uns aber bemühen, die Probleme vor Ort mit den Soldaten in vielen Gesprächen zu lösen. Dabei stehen bei den Zeit- und Berufssoldaten Personalfragen und soziale Probleme im Vordergrund. Das sollte uns alle aufhorchen lassen. Was wir hier tun können, muß sicherlich noch eingehend beraten werden. Ich bitte Sie insgesamt, die vielfältigen Sorgen der Soldaten nicht aus den Augen zu verlieren und daran zu denken, daß auch das neue Stationierungskonzept für die betroffenen Soldaten im Ostteil und im Westteil Deutschlands große familiäre, finanzielle und andere Probleme aufwirft. Für die gesamte Bundeswehr nenne ich nur die Stichworte Wohnungsknappheit, die Frage der Wehrgerechtigkeit, die Wehrübungsgerechtigkeit — denn auch die Zahl der Eingaben der Reservisten nimmt laufend zu — , die Führerdichte, die Wachbelastung und das Personalstärkegesetz, das vor der Tür steht.
Ich danke dem Verteidigungsminister stellvertretend für alle Soldaten und Beamte für die gute Unterstützung bei der Abwicklung der dem Parlament übertragenen Aufgaben. Es ist eine gute Zusammenarbeit. Den besonderen Dank möchte ich aber auch dem Verteidigungsausschuß mit seinem Vorsitzenden Dr. Fritz Wittmann, den Sprechern der dort vertretenen Fraktionen und den Berichterstattern, dem Abgeordneten Paul Breuer und dem Abgeordneten Dieter Heistermann, für die hervorragende Zusammenarbeit bei der Erstellung des Jahresberichts und auch für die Zusammenarbeit im Ausschuß selbst aussprechen. Herzlichen Dank auch persönlich!
Dies gilt in gleicher Weise auch den Abgeordneten des Haushaltsausschusses.
Mit dem Dank an Sie, an das Parlament als meinen Auftraggeber, für Ihre Unterstützung bei meinen Aufgaben und bei der Lösung von Problemen möchte ich zum Schluß kommen. Mit der Gleichstellung der Wehrpflichtigen zwischen Ost und West — das ist ein ganz wichtiger Punkt in der Vergangenheit gewesen —, mit dem Entlassungsgeld und dem Weihnachtsgeld, mit den neuen Planstellen im Unteroffiziersbereich und im Hauptleutebereich, aber auch mit den ersten Maßnahmen — das sei anerkennend gesagt — zur Verbesserung der Infrastruktur in den ostdeutschen Garnisonen sind viele Dinge vorangetrieben worden. Es gibt kaum noch eine Garnison, bei der nicht schon eine Baustelle vorhanden ist. Auch das wird immer wieder aufmerksam verfolgt und dankbar anerkannt.
Damit möchte ich schließen und Ihnen gleichzeitig insgesamt für die Zusammenarbeit, aber auch für die Aufmerksamkeit heute in dieser morgendlichen Stunde sehr herzlich danken.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)





Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1204100500
Herr Biehle, ich darf Ihnen und Ihren Mitarbeitern im Namen des Hauses ganz herzlich für die Vorlage des Berichtes danken.
Ich eröffne jetzt die Aussprache. Als erster hat das Wort der Abgeordnete Paul Breuer.

Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1204100600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute über den ersten Bericht, den Alfred Biehle als Wehrbeauftragter dem Parlament, dem Deutschen Bundestag, erstattet hat. Dieser erste Bericht ist — und er hat es soeben noch einmal hervorgehoben — angesichts seiner zeitlichen Beziehungen zu den geschichtlichen Umwälzungen, die völlig veränderte Rahmenbedingungen geschaffen haben, zugleich eine sehr außergewöhnliche Beschreibung der Situation in unserer Bundeswehr. Die Integration des Personals in den neuen Bundesländern, der Abbau der Personalstärke der Bundeswehr, aber auch die Golfkrise markierten eine Entwicklung, die ihren besonderen Niederschlag in der Arbeit des Wehrbeauftragten finden mußte. Für die engagierte Arbeit in diesem besonderen Umbruch ist dem Wehrbeauftragten und den Mitarbeitern seines Hauses sehr herzlich zu danken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die große Quote der Eingaben aus den neuen Bundesländern, meine Damen und Herren, dokumentiert das hohe Ansehen des Wehrbeauftragten und das Vertrauen zu seinem Amt. Die Institution verdeutlicht zugleich Bürgern und Soldaten des Beitrittsgebietes, daß mit der hervorgehobenen Stellung des Wehrbeauftragten das innere Gefüge unserer Bundeswehr sehr aufmerksam und mit einer ganz anderen als dort gewohnten Intention und Qualität beobachtet wird. Eine demokratisch legitimierte und kontrollierte Armee wie die Bundeswehr ist so grundlegend anders als eine Parteiarmee wie die NVA, die ein Repressionsinstrument des Unrechtsstaates DDR war.
Ein vom Inhalt her sehr wesentlicher Teil des Berichtes von Alfred Biehle befaßt sich mit der Sinngebung für die Bundeswehr und den damit für die Soldaten verbundenen Auswirkungen. Es sind zwei Komplexe, die zu dieser Fragestellung führen.
Erstens. Der Warschauer Pakt ist inzwischen aufgelöst. Die Armee der vormaligen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zieht sich zurück. Deutschland ist vereint. Der Grundwehrdienst konnte als Folge dessen zeitlich verkürzt werden, und der umfangreichste Personalabbau innerhalb der Bundeswehr hat begonnen. Das traditionelle Bedrohungsbild, das Gefüge Europas hat sich verändert. Welche Rückschlüsse sind daraus für eine fortzuschreibende Sicherheitspolitik zu ziehen? Der Wehrpflichtige und der Längerdienende, die Soldaten, wollen ihren Dienst sinnvoll begründet wissen.
Zweitens. Es stellt sich mit der Golfkrise, in deren Folge es zu einem multinationalen Einsatz von Streitkräften kam, um Frieden, Freiheit und Recht zu sichern, die Notwendigkeit, die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr angesichts der veränderten weltpolitischen Lage einer Überprüfung zu unterziehen. Der Wehrbeauftragte hat zu Recht formuliert, Wehrpflichtige und Zeitsoldaten müßten vor ihrem Eintritt in die
Streitkräfte wissen, welche Aufgaben auf sie zukommen könnten.
Unsere Soldaten hat zum Teil in der Tat verunsichert, an Einsätzen der Bundeswehr teilzunehmen, die im parlamentarischen Bereich noch heftigst diskutiert wurden. Dieser Bericht des Wehrbeauftragten zeigt also nicht nur Defizite oder mögliche Fehlentwicklungen in Richtung Ministerium oder militärische Führung, Innere Führung, sondern verlangt von uns Parlamentariern, von der Politik politische Klärung.
Er fordert uns auf, die Antwort darauf zu geben, welche künftigen Einsätze im Rahmen von Systemen kollektiver Sicherheit auf welchen verfassungsrechtlichen Grundlagen möglich sein sollen. Die Soldaten, meine Damen und Herren, erwarten darauf eine Antwort, die von einem breiten parlamentarischen Konsens getragen wird. Da wird sich niemand wegstehlen können.
Es zeichnen sich dazu unterschiedliche Positionen ab. Meine Überzeugung ist es, daß sich Deutschland — durch die Wiedervereinigung voll souverän — seiner gewachsenen, weltpolitischen Verantwortung stellen muß. Das Gewicht als einwohner- und wirtschaftsstärkste europäische Nation ist dabei zu beachten.
Meine Fraktion hält es für ein Gebot dieser Verantwortung, daß sich die Bundeswehr an Aktionen zur Friedenssicherung oder Wiederherstellung des Friedens beteiligen kann. Diese Option gilt im Rahmen eines Einsatzes der UN oder auch im Auftrag des freien Europa.
Ebenso deutlich sage ich, daß rein nationale Einsätze ohne UN-Mandat oder außerhalb einer europäischen Struktur oder der NATO nicht zur Debatte stehen. Eine Renationalisierung der Sicherheitspolitik wäre ein geschichtlicher Rückfall.
Alle sind aufgefordert, eine Klarstellung der Verf as-sung politisch zu erreichen. Sie darf Deutschland keine rechtlichen Einschränkungen aufgeben, denen seine Partner nicht unterliegen. Dies gilt vor allem im Blick auf die Europäische Politische Union. Die Folgen einer Isolation der Bundesrepublik Deutschland dürfen nicht unterschätzt werden.
Das Problem der Verfassungsinterpretation dürfen wir meines Erachtens nicht vor uns herschieben. Wir müssen vermeiden, möglicherweise am Beginn eines Konfliktes in einer emotional aufgeladenen Atmosphäre entscheiden zu müssen. Diese Entscheidung muß vielmehr mit der gebotenen Sorgfalt und in Ruhe getroffen werden.
Beim Nachdenken über die Sinngebung der Bundeswehr wird die ganze Tragweite der Umwälzungen bewußt. Das atlantische Bündnis ist nicht das Schreckgespenst, das eine Gefahr für den Frieden darstellt, wie Kritiker nicht müde wurden zu behaupten, womit sie auch Wehrpflichtige und Soldaten zu verunsichern versuchten. Die NATO wird heute ganz klar als der stabilisierende Schutzfaktor nicht nur in Europa angesehen. Polen, Tschechen und Ungarn, Staaten, die sich Zentraleuropa zugehörig fühlen, suchen hier Halt und Sicherheit. Erklärtermaßen steht die NATO den



Paul Breuer
Staaten der ehemaligen Sowjetunion nicht konfrontativ, sondern kooperativ gegenüber.
Die Prinzipien der neuen Sicherheitspolitik sind klar erkennbar. Sie beruhen auf der politischen und militärischen Fähigkeit zum Krisenmanagement und auf flexibel, multinational und integrativ strukturierten Streitkräften. Wir sind gefordert, den Weg der Bundeswehr in diese Zukunft politisch zu gestalten.
Vor allem aus der Opposition wird die Forderung nach einer stärkeren Senkung der Verteidigungsausgaben laut.

(Günter Rixe [SPD]: Prima, daß Sie das sagen! — Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]: Genau! Sehr richtig!)

Das muß man genau werten. Die Bundeswehr entläßt derzeit nicht nur Soldaten, mottet nicht nur Panzer ein oder verschrottet sie, gibt nicht nur Kasernen und Gelände zurück; sie muß zugleich die frühere NVA, deren Gerät, Waffen und Munition in einem unglaublichen Ausmaß sowie deren Liegenschaften abbauen, Umweltrisiken beseitigen, den Kontakt zur Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte halten, Abzug und Aufenthalt begleiten und vieles andere mehr.

(Günter Rixe [SPD]: Eine interessante Feststellung!)

Auch dies ist nicht zum Nulltarif zu haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das muß deutlich gesagt werden.

Die Modernisierung der heruntergekommenen, zum Teil menschenunwürdigen Unterkünfte der früheren NVA, die die Bundeswehr für ihre Verwendung braucht, verschlingt enorme Summen. Die Ostkasernen müssen — auch das ergibt sich aus den Anmerkungen des Wehrbeauftragten — deutlich verbessert und auf westlichen Standard gebracht werden, und zwar im Interesse der Wehrpflichtigen und der Zeit-und Berufssoldaten.
Diese Forderungen werden auch von der Opposition unterstützt. Der dazu notwendige Etat allerdings wird von ihr insgesamt heftig kritisiert.

(Günter Rixe [SPD]: Das muß man!)

Die Bundeswehr braucht Geld nicht für Aufrüstung, sondern für ihre eigene sozialverträgliche Reduzierung und für die notwendige Gleichbehandlung in Ost und West, die auch für den Bereich der Infrastruktur zutrifft. Sie muß damit einen wesentlichen Kern von Verbesserungen verwirklichen, deren Ausbleiben bislang noch berechtigten Anlaß zu Eingaben an den Wehrbeauftragten gibt.
Es war insgesamt bemerkenswert — auch das paßt in dieses Bild —, wie gerade diese Oppositionspolitiker, gedrängt von ihrer kommunalen Basis, sich auf der Hardthöhe die Klinke in die Hand gaben, um vorstellig zu werden, damit Bundeswehrstandorte erhalten bleiben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das sogenannte geldverschlingende Ungeheuer, so
war kürzlich in der „Hannoveraner Allgemeinen Zeitung" zu lesen, entpuppte sich plötzlich nach der
Wende als segensreich umworbener Wirtschaftsfaktor. Es waren Regionen dabei, die uns im Umgang mit der Bundeswehr und insbesondere der Akzeptanz junger Wehrpflichtiger Sorgen bereitet haben. Die Frage der Sinngebung der Bundeswehr und die Frage der Diskussionsbeiträge der Opposition stellen sich vor diesem Hintergrund in einem ganz anderen Zusammenhang.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1204100700
Als nächster hat der Abgeordnete Dieter Heistermann das Wort.

Dieter Heistermann (SPD):
Rede ID: ID1204100800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die veränderten politischen Rahmenbedingungen sind es, die den Jahresbericht 1990 des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages prägen. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland hat es nie so außergewöhnliche Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen gegeben. Es sind Entwicklungen eingetreten, die nicht für möglich gehalten wurden.
In der Tat, es sind gerade die Soldaten der Bundeswehr, die sich zwischen Freude und persönlicher Betroffenheit hin und her gerissen fühlen. Wie wir alle begrüßen sie die Wiedervereinigung Deutschlands, ja sogar die Reduzierung der Bundeswehr auf 370 000 Soldaten und die damit eingetretenen Veränderungen.
Andererseits wissen sie, daß ihre persönlichen und beruflichen Perspektiven davon nicht unberührt bleiben werden. Die eingetretenen Entwicklungen haben besonders die Frage nach dem Sinn der Bundeswehr und der Akzeptanz von Streitkräften in der Gesellschaft erneut hervorgerufen, und zwar, wie ich betone, nicht nur in der Bundeswehr.
Einige der Fragen lauten: Wozu brauchen wir noch die Bundeswehr? Welchen Auftrag hat die Bundeswehr künftig zu erfüllen? Warum muß ich noch meinen Wehrdienst ableisten? Herr Bundesverteidigungsminister, dies sind Fragen, die die Soldaten bereits im Jahr 1990 an Sie gestellt haben.
Wie ist der Sachstand heute? Der Auftrag der Bundeswehr ist immer noch nicht festgelegt. Ebensowenig ist festgelegt, wo die Grenzen dieses Auftrags liegen.
Die Soldaten in der Bundeswehr erwarten zu Recht, daß die politische Führung des Verteidigungsministeriums klare und eindeutige Regelungen trifft. Seit Monaten dümpelt das Bundesministerium der Verteidigung vor sich hin, ohne daß erkennbar wird, wohin die Reise gehen soll. Dies ist weder den Soldaten der Bundeswehr noch diesem Parlament zumutbar.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Eine solche Führungsschwäche kann nur dazu führen, daß die Verunsicherung in der Truppe zu- statt



Dieter Heistermann
abnimmt. Dafür trägt allein der Bundesminister der Verteidigung die Verantwortung.

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU — Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Dummes Zeug!)

Wen wundert es eigentlich nicht, daß unter diesen Bedingungen die Bewerberzahlen stark zurückgehen und die Motivation der Soldaten insgesamt sinkt. Wenn der Wehrbeauftragte an die politische Verantwortung dieses Parlamentes appelliert, spricht er die Mehrheitsverhältnisse in diesem Hause an, die ja die Ursache für die Politik der Exekutive sind, gegenüber der er kritische Anmerkungen macht.
Wenn von dem Soldaten zu Recht verlangt wird, dem Primat der Politik zu folgen, dann muß die Politik auch Entscheidungen treffen. Und daran mangelt es.

(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Sehr wahr!)

Viele der Problemfelder, die sich im Bereich des Wehrbeauftragten wiederfinden, sind selbstgestrickt. Auch dafür trägt diese Bundesregierung die Verantwortung. Aus dieser Verantwortung werden wir sie nicht entlassen.
Selbst in diesem Jahr ist nicht erkennbar, welche Lösungsansätze diese Bundesregierung bei der Beantwortung der Fragen der Soldaten eigentlich verfolgt; z. B. bei den Fragen der mangelnden Wehrgerechtigkeit, die einen Schwerpunkt bei den Eingaben ausmachen.
Noch immer hat die Bundesregierung keine Entscheidung darüber getroffen, wie sie die Heranziehung lebensälterer Wehrpflichtiger regeln will. Seit März 1991 liegt dem Verteidigungsausschuß ein Antrag der SPD vor, die gesetzliche Festlegung des Einberufungsalters vom 28. auf das 25. Lebensjahr herabzusetzen. Bis heute sah sich die Bundesregierung nicht in der Lage, ein gesetzmäßiges Konzept vorzulegen. Vielmehr operiert sie mit Erlassen. Sie riskiert dabei, wie bereits durch ein Verwaltungsgericht entschieden, sich vorhalten lassen zu müssen, ein Gesetz durch Erlasse zu ändern.
Es wundert uns, wie leichtfertig sich die Bundesregierung über gesetzliche Vorschriften hinwegsetzt. Statt klare Verhältnisse zu schaffen, dümpelt man auch auf diesem Gebiet weiter vor sich hin.

(Bernd Wilz [CDU/CSU]: Das ist doch alles übertrieben!)

Es darf doch niemanden wundern, daß, wenn das Prinzip Zufall bei der Ableistung des Wehrdienstes eine Rolle spielt, dies zu immer tieferer Verunsicherung und Unzufriedenheit bei den Betroffenen führt.

(Paul Breuer [CDU/CSU]: Wo sind denn Ihre konstruktiven Vorschläge?)

Was hat das denn eigentlich mit Wehrgerechtigkeit zu tun?
Was die Dienstzeit und die Dienstzeitgestaltung betrifft, kann die Stellungnahme der Bundesregierung nur verwundern.

(Paul Breuer [CDU/CSU]: Welche Lösung schlagen Sie vor?)

Da liest man:
Auch das Postulat, daß Freizeitausgleich Vorrang vor finanziellem Ausgleich haben soll, rechtfertigt keine Vernachlässigung der zu erreichenden Ausbildungsziele und darf nicht zu einer Gefährdung der Einsatzbereitschaft führen. Einheitsführer, die Ausfälle in der Ausbildung hinnehmen, nur um den Dienstzeitausgleichsregelungen in Form von Freizeit zu entsprechen, können sich nicht auf diesen Erlaß berufen.
Soweit das Zitat.
Hinter dieser Tonlage steht noch ein Bedrohungsbild, das den heutigen Gegebenheiten nicht mehr entspricht. Wer mit der Zeit des Menschen, mit seinen persönlichen Lebens- und Berufsplanungen so umgeht, als verfüge er alleine darüber, wird wenig Zustimmung finden.
Während um uns herum die Dauer der Wehrdienstzeit verringert wird, operiert der Bundesminister der Verteidigung immer noch so, als könne man nicht in zwölf Monaten eine vernünftige Ausbildung innerhalb der Bundeswehr erreichen.

(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Der hat keine Phantasie, der Junge!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1204100900
Wie wollen Sie denn die Wehrpflichtarmee unter den neuen Bedingungen einer reduzierten Armee sicherstellen? Ich möchte von Ihnen heute wissen, wie das im Hause geplant wird.
Die SPD-Fraktion wird ihre eigenen Positionen zur Wehrpflichtdauer im Deutschen Bundestag erneut einbringen. Ebenso kündige ich an, daß die SPD-Bundestagsfraktion den Antrag auf eine gesetzliche Dienstzeitregelung für Soldaten einbringen wird. Wir sind der festen Überzeugung, daß der Auftrag der Bundeswehr in jener gesellschaftlichen Normalität zu erfüllen ist, die auch für viele andere Bereiche gilt. Wir sind gespannt darauf, zu erfahren, warum die Ausbildungsziele bei normaler Dienstplangestaltung nicht erreicht werden können.
Mein Kollege Steiner wird über weitere Bereiche des Wehrbeauftragtenberichtes sprechen.
Ich nehme noch eine kurze Bewertung des Jahresberichtes 1990 vor.
Wir nehmen diesen Bericht zum Anlaß, denen Dank abzustatten, die unter nicht immer leichten Bedingungen ihren Dienst in der Bundeswehr zu erfüllen hatten. Dies gilt für die Soldaten, für die zivile Verwaltung und für die vielen Mitarbeiter im Bundesministerium der Verteidigung.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Die Reduzierung und die Umstellung der Streitkräfte haben einen Einsatz erfordert, dem wir unseren Respekt zollen, auch wenn wir uns nicht in allen Entscheidungen wiederfinden können.
Wir danken auch dem Wehrbeauftragten für seine wertvolle Zuarbeit und seine realistische Lagebeurtei-



Dieter Heistermann
lung. Ohne seine Hilfe würde dieses Parlament nicht immer wieder gezwungen, sich mit den Soldaten und ihren Problemen auseinanderzusetzen.

(Beifall bei der SPD)

Wir stimmen Ihnen zu, Herr Wehrbeauftragter, daß das innere Gefüge der Bundeswehr stabil ist. Nicht folgen können wir Ihrer Aussage, die Stimmung sei insgesamt gut.
Die politischen Versäumnisse der Bundesregierung sind nicht zu übersehen. Es ist ihr gelungen, aus einer intakten Armee innerhalb kürzester Zeit eine orientierungslose, in tiefer Sinn- und Identitätskrise befindliche Bundeswehr zu machen.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Wie in der SPD-Baracke!)

— Daß Sie reagieren, zeigt mir, daß dieser Vorwurf sitzt. Es ist auch nicht zu übersehen, daß die Bundeswehr darüber hinaus große Teile der Akzeptanz in der Öffentlichkeit verloren hat.
Herr Wehrbeauftragter, bitte übermitteln Sie auch allen Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unser ganz herzliches Dankeschön.
Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt der Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses zu.

(Beifall bei der SPD — Bernd Wilz [CDU/ CSU]: Das ist ja toll!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1204101000
Als nächster hat der Abgeordnete Jürgen Koppelin das Wort.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1204101100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Heistermann, eine kurze Anmerkung zu Ihrem Beitrag. Ich meine, mit pauschaler Kritik und Rundumschlag gegen den Bundesminister der Verteidigung und gegen die Bundesregierung wird man dem Bericht des Wehrbeauftragten in keiner Weise gerecht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich lade Sie sehr herzlich zu einem Truppenbesuch ein. Ich mache das häufig. Aber ich habe den Eindruck, Sie haben lange nicht mehr die Truppe besucht. Machen wir das einmal zusammen! Ich glaube, dann kommen Sie zu völlig anderen Erkenntnissen, lieber Kollege Heistermann.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dieter Heistermann [SPD]: Nun ist er drei Tage im Verteidigungsausschuß, und schon weiß er alles über die Bundeswehr!)

— Ich antworte gern auf Ihren Zuruf. Es ist richtig, daß ich erst seit einem halben Jahr im Verteidigungsausschuß bin; aber Sie habe ich auf jeden Fall gut kennengelernt, Kollege Heistermann.
Es muß ausdrücklich begrüßt werden, daß der Jahresbericht 1990 des Wehrbeaufragten diesmal nicht nur ein Mängelbericht ist. Denn 1990 war — wer wollte das bestreiten — ein außergewöhnliches Jahr
— das ist ja schon gesagt worden — und für den Wehrbeauftragten ein außergewöhnliches Berichtsjahr. Darum ist es selbstverständlich, daß dieser Jahresbericht 1990 auch die politischen Veränderungen widerspiegelt.
Die wohl tiefste Veränderung der Bundeswehr ist die in der Geschichte einmalige Integration einer anderen Armee, nämlich der NVA. Sehr viele menschliche und organisatorische Probleme mußten und müssen dabei überwunden werden.
Besonders müssen wir unser Augenmerk darauf richten, daß das Prinzip der Inneren Führung auch in den neuen Bundesländern durchgesetzt wird.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es erfüllt mit Sorge, daß der Wehrbeauftragte schreibt, in den neuen Bundesländern bestehe in der Verwirklichung der Grundsätze der Inneren Führung noch eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Und wer wollte widersprechen, wenn gesagt wird: Es darf keine Soldaten erster und zweiter Klasse geben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Richtig ist, daß auch in der Bundeswehr West die „Innere Führung" nicht von einem auf den anderen Tag durchgesetzt werden konnte. Aber wenn es im Bericht heißt, bei der Umsetzung der Inneren Führung in den neuen Bundesländern bedürfe es Zeit und Geduld, Herr Wehrbeauftragter, meine ich: Wir haben keine Zeit, noch haben die Soldaten in den neuen Bundesländern Geduld; sie erwarten die gleichen Bedingungen in Ost und West.
Es ist zu begrüßen, daß die Zahl der Eingaben über Verstöße bei der Menschenführung erheblich zurückgegangen ist. Ich hoffe nur, daß die Eingaben von den Betroffenen nicht zurückgehalten werden, weil diese Fragen hinter anderen Problemen zurückstehen. Jedem Soldaten sei von dieser Stelle aus gesagt, daß wir bei allen Problemen, die wir zur Zeit in der Bundeswehr zu bewältigen haben, die Menschenführung nach wie vor als vorrangig ansehen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Konkrete Mängel im Führungsverhalten von Vorgesetzten sollten daher immer offen angesprochen werden. Im übrigen scheint es mir wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, daß Vorgesetzte besondere Akzeptanz dann erfahren, wenn Ausbildung und Dienst insgesamt mehr zivilorientiert und leistungsbezogen gestaltet werden.
Ich will bei dieser Gelegenheit auch unterstützen, daß, wie seit Mitte 1989 geschehen, eine Befragung ausscheidender Soldaten auf freiwilliger Basis durchgeführt wird. Dadurch ist es vielleicht möglich, schneller Mängel zu erkennen und abzubauen.
Wenn ich davon spreche, daß wir gleiche Bedingungen bei der Bundeswehr haben müssen, erlauben Sie mir, einen Vorgang anzusprechen, den ich für unerfreulich gehalten habe. Ich meine die sehr schleppende Diskussion darüber, welche Abfindung und welches Weihnachtsgeld die Wehrpflichtigen in den neuen Bundesländern erhalten sollten. Auch hier war für die FDP-Fraktion von vornherein klar, daß es



Jürgen Koppelin
nicht Soldaten erster Klasse und Soldaten zweiter Klasse geben darf.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Im Jahresbericht 1990 hat der Wehrbeauftragte auf das Fehlen von Motivation und Disziplin bei Wehrdienstleistenden hingewiesen. Das trifft vor allem auf die Soldaten in den neuen Bundesländern zu. Dafür gibt es Gründe. Die Soldaten in den neuen Bundesländern erwarten mit Recht, daß ihre räumlichen Verhältnisse denen der Bundeswehr West angepaßt werden. Die Unterkünfte und die sanitären Einrichtungen sind so sehr sanierungsbedürftig, daß ich mich frage, ob wir es den Soldaten zumuten können, in diesen Unterkünften zu wohnen. Auch der Zustand der Truppenküche ist oft mehr als erschreckend. Dieser Zustand muß sehr schnell geändert werden.
Zur Motivation trägt auch nicht bei, daß ehemalige NVA-Soldaten im ungewissen über ihre Aussichten sind. Wir sollten alles daransetzen, daß jeder, den wir übernehmen wollen, weiß, wann er übernommen wird, und daß er es möglichst bald erfährt, damit seine persönliche Unsicherheit beseitigt wird.
Auch die hohe Wachbelastung wirkt sich demotivierend auf die jungen Soldaten in den neuen Bundesländern aus. Der Grundwehrdienst in den neuen Bundesländern kann nicht nur aus Wachdienst bestehen. Ich sehe mit großer Sorge, daß in den neuen Bundesländern in den Bereichen der politischen Bildung, der Inneren Führung und des Sports nur sehr eingeschränkt ausgebildet wird. Auch hier ist Abhilfe dringend geboten.
Die beschlossene Reduzierung der Bundeswehr, die damit verbundene Schließung von Standorten und eventuell auch Versetzungen haben zu persönlichen Sorgen in der Truppe geführt.
Diese persönlichen Sorgen wurden dadurch verstärkt, daß durch die Kürze der Planungszeit und die Größe des Vorhabens die Information der Truppe nur unzureichend realisiert werden konnte. Ich muß an dieser Stelle wiederholen, was ich hier schon einmal gesagt habe: Auch die Vorabteilinformationen aus dem Ministerium führten zu Unruhe und Spekulation unter den Soldaten; und Unruhe und Spekulation sorgen nicht für Motivation in der Truppe.
Jetzt kommt es darauf an, daß bei der Auflösung oder Verlegung von Einheiten dem Gebot der Fürsorge Rechnung getragen wird. Wir unterstützen daher als FDP die Forderung des Wehrbeauftragten nach Sozialplänen. Dazu gehört, daß Maßnahmen für die Soldaten angeboten werden, die sich unter völlig anderen Rahmenbedingungen Verpflichtungen auferlegt haben.
Lassen Sie mich abschließend über einen Bereich sprechen, den der Wehrbeauftragte sowohl in seinem Jahresbericht wie auch in Interviews genannt hat. Der Wehrbeauftragte sagte z. B. in einem Gespräch mit dem „Flensburger Tageblatt" am 15. Juni — ich darf zitieren, Frau Präsidentin — :
Soldaten wollen wissen, wo es langgeht. Es sind
nicht nur die aktiven Soldaten, die wissen wollen,
wo es langgeht; genausogut wollen es die Reservisten wissen, die nicht einsehen können, warum sie Wehrübungen machen sollen, obwohl allgemein abgerüstet wird.
So der Wehrbeauftragte.
Weiter heißt es hier:
Biehle räumte ein, daß gerade bei Wehrübungen Ungerechtigkeiten herrschen. Er sprach sich dafür aus, bis zum Herbst ein neues Konzept zu erarbeiten.
Die Freien Demokraten unterstützen diese Forderung und mahnen das Konzept für Wehrübungen an.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dieter Heistermann [SPD]: Sind Sie eigentlich mit in der Regierung, oder mahnen Sie das einfach nur an?)

— Herr Kollege Heistermann, ich kenne noch die Zeit der sozialliberalen Koalition. Damals war es genauso schwierig, manches durchzusetzen.

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Schwieriger, fast unmöglich!)

Das ist jedenfalls meine Erfahrung in einer Koalition.

(Dieter Heistermann [SPD]: Also die CDU bremst, dürfen wir daraus entnehmen!)

Die Politik bleibt weiterhin aufgefordert, Herr Kollege Heistermann, dafür zu sorgen — da kann ich Sie direkt ansprechen — , daß unsere Soldaten wirklich wissen, wo es künftig langgeht. Die Bundeswehr braucht klare Aussagen der Politik über den künftigen Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der UNO. Die Bundeswehr braucht ferner klare Aussagen darüber — dabei werden Sie uns ja wahrscheinlich unterstützen — , welche Aufgaben unsere Teilstreitkräfte künftig haben werden.

(Gudrun Weyel [SPD]: Wer soll diese Aussagen machen?)

Herr Wehrbeauftragter, im Namen der FDP-Fraktion danke ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern für die gute Zusammenarbeit. Ich sichere sie Ihnen auch für die Zukunft zu.
Der Beschlußempfehlung stimmt die FDP-Fraktion zu.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1204101200
Als nächste spricht die Abgeordnete Vera Wollenberger.

Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1204101300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man sich die Mühe macht, die Berichte der Wehrbeauftragten der letzten Jahre nochmals durchzulesen und mit dem hier zur Debatte Stehenden zu vergleichen, hat man schnell den Eindruck, eine Erfolgsstory über zeitgemäße Menschenführung in den Streitkräften vor sich liegen zu haben. Aber hinter der Fassade wird ebenfalls Jahr für Jahr deutlich, daß der Bericht des Wehrbeauftragten viel mehr beschönigt, als daß er eine



Vera Wollenberger
realistische Schilderung der Situation in den Streitkräften gibt.

(Paul Breuer [CDU/CSU]: Dann haben Sie keinen einzigen Bericht gelesen!)

Der Bericht war und ist auch heute ein Gefälligkeitsbericht, in dem die Sorge vor einer Sinnkrise der Streitkräfte mehr Gewicht als die Wahrnehmung der parlamentarischen Kontrollfunktion hat. So klagt der Wehrbeauftragte mehr über das sinkende Bedrohungsbewußtsein und über die fortschreitende Entfremdung zwischen Militär und Gesellschaft, als daß er über die wirklichen Sorgen und Probleme besonders der Wehrpflichtigen ungeschönt berichtet.
Wer sich aber mit Wehrpflichtigen in Ost und West unterhält, wird ihre Schilderung des Truppenalltags im Bericht des Wehrbeauftragten kaum finden. Wer sich die Lage der Wehrpflichtigen ansieht, kann nicht umhin, festzustellen, daß auch in diesem Jahr die Betroffenen kaum eine Lobby haben, während den Sinn-suchenden und den Legitimationsbeschaffern in den Streitkräften und um diese herum vom Wehrbeauftragten sogar kräftig zugearbeitet wird.
Der rapide Anstieg der Zahl der Kriegsdienstverweigerer besonders während des Golfkrieges hat deutlich gemacht, daß sich nun auch die Wehrerfaßten und Wehrpflichtigen mehr Gedanken über Sinn und Unsinn, über Funktion und Dysfunktion der Streitkräfte machen und entsprechende Schlußfolgerungen ziehen. Diese Entwicklung wird von uns ausdrücklich begrüßt und mit großer Freude zur Kenntnis genommen. Wir freuen uns über jeden jungen Menschen, der sich gegen das Militär und gegen einen Dienst in den Streitkräften entscheidet.

(Paul Breuer [CDU/CSU]: Ohne die Bundeswehr wären Sie nicht frei! — Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind hier völlig deplaziert!)

Wir mahnen aber auch in diesem Jahr an, was die GRÜNEN vor uns Jahr für Jahr forderten, nämlich endlich auch ein entsprechendes Kontrollorgan für die Zivildienstleistenden einzuführen, damit der jetzige Möchtegernbeauftragte für den Zivildienst eine wirkliche Kontrolle wahrnehmen kann.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1204101400
Frau Abgeordnete Wollenberger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Nolting?

Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1204101500
Ja, bitte.

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1204101600
Frau Kollegin, kann ich Ihren Ausführungen entnehmen, daß Sie die Abschaffung der Bundeswehr befürworten?

Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1204101700
Ja, da haben Sie ganz recht mit Ihrer Annahme. Ich mache sogleich Ausführungen dazu.

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1204101800
Darf ich eine Zusatzfrage stellen?

Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1204101900
Vielleicht danach.
Die Wehrpflichtigen müssen als Manövriermasse für die Planungsfehler der Bundeswehr herhalten. Je nach Erfordernis und dem jeweiligen Stand der Diskussion über die künftige Struktur der Bundeswehr — da ist ja mittlerweile mehr Chaos als Substanz festzustellen — wird ihre Zahl mal hinauf- und mal heruntergeschraubt.
Jetzt komme ich zu dem Punkt Abschaffung der Wehrpflicht. Wir sind für eine sofortige Abschaffung der Wehrpflicht und aller anderen Zwangsdienste.

(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

Wir wollen noch in diesem Jahr einen entsprechenden Antrag im Bundestag einbringen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer ist denn „wir"? — Zuruf von der FDP: Für wen bringen Sie den ein?)

— Unsere Gruppe Bündnis 90/GRÜNE.
Wir sind für die Abschaffung der Wehrpflicht, weil es keine ernst zu nehmenden Argumente für deren Béibehaltung mehr gibt. Der einschneidende Wandel der sicherheitspolitischen Situation in Europa macht eine Massenarmee, die nur über die Wehrpflicht aufrechtzuerhalten ist, völlig überflüssig. Darüber hinaus wird sich die Tendenz zu mehr Wehrungerechtigkeit in kaum noch zumutbarem Maße fortsetzen. Für die Beibehaltung der Wehrpflicht in ihrer herkömmlichen Form gibt es sicherheitspolitisch, militärisch, ökonomisch und gesellschaftspolitisch keine überzeugenden Argumente mehr. Die steigenden KDV-Zahlen beweisen neben der Bewußtwerdung über die Funktion des Militärs, daß sich die Wehrpflicht überlebt hat. Wir wollen die unberechtigten und willkürlichen Eingriffe in die Lebensplanung junger Menschen beenden. Jedoch sehen wir die Alternative nicht in der Berufsarmee. Vielmehr möchten wir ein Konzept einer Sicherheitstruppe verwirklicht haben, die sich aus Freiwilligen zusammensetzt und vor allem bei den wirklich brisanten Sicherheitsproblemen, bei ökologischer Bedrohung, humanitären Aufgaben etc. eingesetzt werden soll.

(Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg)

Daß wir die Abschaffung der Wehrpflicht und damit die Abschaffung aller übrigen Zwangsdienste fordern, heißt nicht,

(Zuruf von der FDP: Was für Zwangsdienste?)

daß wir das Amt des Wehrbeauftragten aufgeben wollen. Im Gegenteil, es soll erhalten und ausgebaut werden, damit er seine Kontrollfunktion gegenüber einer freiwilligen Sicherheitsorganisation als eine von mehreren noch zu schaffenden Kontrollmöglichkeiten wahrnehmen kann.
Vielen Dank.

(Paul Breuer [CDU/CSU]: Kein Beifall? Wo ist denn Ihre Fraktion? — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Die stehen unter dem „Zwangsdienst" !)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1204102000
Nun hat die Abgeordnete Frau Marienfeld das Wort.




Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1204102100
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der heute zu diskutierende Bericht des Wehrbeauftragten fällt in einen Zeitraum, der von zwei entscheidenden Ereignissen gekennzeichnet war: zum einen durch die sich für uns verändernde sicherheitspolitische Situation mit den durch die Auflösung des Warschauer Pakts verbundenen Abrüstungsinitiativen bis hin zur Diskussion über die Reduzierung der Streitkräfte, zum zweiten durch die Integration der NVA in die Bundeswehr.
In den von uns allen angestrebten und politisch gewollten erfreulichen Entwicklungen wurde es zunehmend schwerer, die Sinnhaftigkeit des Dienstes für Sicherheit und Verteidigung unseres Landes zu begreifen. Hinzu kommt: Was ich bereit bin zu verteidigen, muß ich zuerst einmal lieben.
Dies wird deshalb um so schwerer, weil viele Schulen unseres Landes auf diesen elementaren Bildungsauftrag nicht eingehen oder ihn zumindest vernachlässigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Woher nimmt ein junger Mann das Bewußtsein, daß es sich lohnt, für die Sicherheit dieses Landes Verantwortung zu übernehmen und die Freiheit zu verteidigen, wenn weder er noch die meisten seiner Lehrer Unfreiheit erlebt haben? Freiheit wird leider erst dann als hohes Gut empfunden, wenn sie gefährdet ist; wie man sich der Gesundheit erst dann bewußt wird, wenn man krank ist.
Ich bitte um Nachsicht für diesen kurzen Exkurs. Doch er hat auch etwas mit dem zu tun, womit wir uns beim Bericht des Wehrbeauftragten auseinandersetzen müssen; denn Ziel ist es, daraus zu lernen und Konsequenzen zu ziehen. Ich gebe allerdings die Hoffnung auf, in diesem Land in bezug auf die Schulpolitik Änderungen zu erreichen; es sei denn, wir gewinnen die nächste Wahl.

(Dieter Heistermann [SPD]: Da haben Sie aber Hoffnungen, Frau Marienfeld!)

— Ja, ich denke schon.
Die Akzeptanz der Bundeswehr ist nicht allein, doch im wesentlichen von ihrer Attraktivität abhängig. Diese wird vor allem vom Ansehen der Soldaten und der damit verbundenen sozialen Lage sowie vom inneren Gefüge beeinflußt. Fragen, die mit diesen beiden Punkten im Zusammenhang stehen, waren Inhalt des größten Teils der Eingaben.
Da war aber vor allem auch die Verzahnung zwischen östlicher und westlicher Bundeswehr, die nicht nur ein organisatorisches Problem darstellte, sondern auch eines der geistigen und menschlichen Integration. Ich denke, die Bundeswehr hat diese Herausforderung angenommen. Mit der finanziellen Gleichstellung der Soldaten aus beiden Teilen unseres Landes ist ein wichtiger Schritt in Richtung Integration erfolgt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Im wesentlichen ergeben sich aus dem vorliegenden Bericht des Wehrbeauftragten folgende Forderungen: Das fachliche Können und das Führungsverhalten der jungen Vorgesetzten, insbesondere der Unteroffiziere, prägt stark das Ansehen unserer Streitkräfte. Der Weg, in diesem Bereich Weiterbildungsmaßnahmen anzubieten, sollte weiter ausgebaut werden. Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt, bei dem wir noch eine Menge zu tun haben werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Im Bereich der Wohnungsfürsorge besteht Handlungsbedarf. Für viele Soldaten, die Versetzungen erwarten, stellt dies ein zentrales Problem dar.
Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus der unterschiedlichen Ausstattung der Kasernen in Ost und West; das ist schon verschiedentlich angesprochen worden, und hier verweise ich auf die Forderung unseres Verteidigungsministers nach menschenwürdigen Kasernen im Ostteil unseres Landes. Was wir dort vorfanden — daran mag auch erinnert sein —, war katastrophal: Im SED-Staat gab es für Waffensysteme geheizte Hallen, für Offiziere und Unteroffiziere einigermaßen erträgliche Unterbringungen und für die Soldaten nur miserable Massenunterkünfte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ein weiterer wichtiger Punkt, der sich aus dem Bericht und für unsere Zukunft ergibt, ist die Frage: Wie gehe ich nach der Verringerung unserer Streitkräfte mit den ausscheidenden Soldaten um? Ich denke, aus dem vorliegenden und zu beratenden Personalstärkegesetz ergibt sich die Verantwortung, die wir für diese Menschen haben; ich fordere die SPD auf, daran mitzuarbeiten. Diese zuerst genannten Maßnahmen erfordern allerdings allesamt neben kernigen Forderungen, die die Kollegen der SPD ebenfalls gern erheben, auch Geld. Da ist die Zustimmung schon nicht mehr so groß.
Es ist sehr populistisch — wie auch vorhin wieder geschehen — , ständig die Reduzierung der Streitkräfte und Einsparungen im Verteidigungshaushalt zu fordern, ohne die Hintergründe dafür darzulegen — jeder der SPD-Kollegen, der im Verteidigungsausschuß ist, weiß, wie kompliziert das ist — , warum der Verteidigungshaushalt noch so umfangreich ist. Deswegen bitte ich Sie, auch auf Ihre Kolleginnen und Kollegen in der Fraktion Einfluß auszuüben, den Bürgern darzulegen, warum das so ist. Es hat keinen Sinn, nur ständig zu fordern, ohne die Hintergründe zu erklären.

(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Erzählen Sie mir einmal, warum der Jäger 90 weiterentwikkelt wird!)

Lassen Sie mich noch zwei Punkte ansprechen, die in weiten Bereichen in die Themenstellung dieses Berichts eingreifen. Stichwort: Wehrgerechtigkeit. Erstens geht es dabei nicht nur um das subjektive Empfinden des einzelnen, sondern vor allem um die Akzeptanz der Bundeswehr und der Wehrpflicht.
Zweitens müssen unsere Soldaten wissen, was zukünftig ihre Aufgabe ist. Ich spreche hier den Einsatz der Bundeswehr in Konfliktfällen an. Wir können im investiven Bereich noch so gute Voraussetzungen schaffen: Wenn wir unsere Soldaten nicht ideell und moralisch stützen, erfüllen wir nicht unsere Sorgfaltspflicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)




Claire Marienfeld
Dies geht vor allem an die Adresse der Opposition. Statt Eiertänze aufzuführen, sind hier klare Worte gefragt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Ja, das ist ja das Problem. Wem von der Führung soll man noch glauben? Engholm, Lafontaine, Vogel, jeder hat eine andere Meinung und die Verteidigungspolitiker haben noch eine weitere. Keiner weiß, woran er sich zu halten hat.

(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD)

Der Soldat hat ein Recht darauf zu erfahren, ob er möglicherweise künftig auch außerhalb des NATO-Gebietes gefordert sein wird. Dies alles sind Fragen, die die Soldaten beschäftigen und auf die die Politiker eine Antwort geben müssen. Es ist an der Zeit, diese Unsicherheit auszuräumen. Es ist vorhin der breite Konsens angesprochen worden. Herr Heistermann, ich denke, in einer solchen Frage stehen Sie mit in der Verantwortung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich möchte noch weitergehen. Ich gehe davon aus, daß der größte Teil der Damen und Herren von Ihnen im Verteidigungsausschuß mit uns einer Meinung ist. Aber Sie können sich in Ihrer Fraktion nicht durchsetzen. Das ist doch das Problem.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das Problem!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1204102200
Frau Abgeordnete, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kolbow zu beantworten?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1204102300
Ja, wenn das nicht auf meine Zeit geht.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1204102400
Das werde ich nicht auf Ihre Zeit anrechnen.
Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.

Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1204102500
Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die SPD auf ihrem Bundesparteitag in Bremen beschlossen hat, einer Grundgesetzänderung für den Einsatz von Blauhelmen, d. h. zu friedenserhaltenden Maßnahmen zuzustimmen, daß wir aber bis heute auf einen verfassungsändernden Vorschlag der Bundesregierung warten?

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie wissen, daß Sie sich die Sache etwas einfach machen!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1204102600
Ich habe vorhin auf die Unstimmigkeiten in Ihrer Führungsriege verwiesen.
Doch gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang — —

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1204102700
Nein, Frau Abgeordnete, Sie werden noch einmal unterbrochen. Der Abgeordnete Breuer möchte Sie noch etwas fragen.

Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1204102800
Frau Kollegin Marienfeld, können Sie mir zustimmen, daß nach dieser Formulierung des Bundesparteitages der SPD der Oppositionsführer im Deutschen Bundestag, Herr Vogel, hier in Bonn erklärt hat, dafür sei gar keine Verfassungsänderung notwendig?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1204102900
Herr Abgeordneter Breuer, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die Dreiecksfragen in unserem Hause auch bei so geschickter Formulierung nicht möglich sind. Frau Abgeordnete, Sie müssen die Frage nicht unbedingt beantworten.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1204103000
Ich denke, er hat seine Frage selbst beantwortet. Ich fahre fort in meinem Bericht.
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang auf die humanitären Einsätze unserer Bundeswehr einzugehen. Ich bin mit dem Wehrbeauftragten der Meinung, daß dies viel zuwenig in der Öffentlichkeit gewürdigt wird. Wo waren die Medien, als unsere Minensucher im internationalen Einsatz mit fünf Booten und 570 Mann Besatzung im Persischen Golf ca. 100 Minen und Bomben geräumt haben? Wo waren die Medien, als Hubschrauber der Bundeswehr in der Türkei 910 und im Iran 500 Einsätze zur Verteilung von Hilfsgütern und zur Leistung medizinischer Hilfe geflogen sind?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wo waren die Medien, als unser Sanitätsdienst mit fünf Ärzteteams und einem Feldlazarett 25 600 Patienten behandelt und 280 Operationen durchgeführt hat? Wo waren die Medien, als Gebirgspioniere und Luftlandepioniere ein Flüchtlingsdorf mit 1 000 Zelten aufgebaut haben? Allenfalls im hinteren Teil der Tageszeitungen und mit fünf Zeilen wurden diese Aktivitäten bedacht.
Aber auch solche Einsätze beantworten die Frage der Sinngebung. Dabei möchte ich besonders die schweren psychischen Belastungen erwähnen, denen junge Soldaten, aber auch die Führung ausgesetzt sind. Auch hier ist einmal ein Wort des Dankes angebracht.
Meine Damen und Herren, der scheidende Generalinspekteur, Admiral Wellershoff, der hier auch anwesend ist, hat einmal vor der Presse sinngemäß gesagt: 700 000 Menschen bedeuten auch die statistische Wahrscheinlichkeit, daß Fehler gemacht werden. — Lassen Sie uns gemeinsam mit den Soldaten und den Politikern daran arbeiten, daß die kommenden Berichte immer weniger Kritikpunkte aufzeigen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1204103100
Nun hat der Abgeordnete Steiner das Wort.

Heinz-Alfred Steiner (SPD):
Rede ID: ID1204103200
Herr Präsident! Herr Wehrbeauftragter! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorab möchte auch ich dem Wehrbeauftragten bestätigen, daß sein Bericht über das Jahr 1990 in vielen Passagen eine zutreffende Beschreibung des Zustandes unserer Bundeswehr enthält, daß er aufgetretene Mängel und Unzulänglichkeiten aufgezeigt,



Heinz-Alfred Steiner
und daß er sich auch einige kritische Bemerkungen erlaubt hat. Diese letzte Bemerkung erlaube ich mir deshalb, weil Sie, Herr Wehrbeauftragter, sehr sanft mit der Bundesregierung umgegangen sind, auch dort, wo mehr Deutlichkeit der Sache sicherlich nicht geschadet hätte. Das versuche ich an einigen Themen in der Kürze meiner Redezeit nachzuholen.
Einige Anmerkungen zu einem wesentlichen Teil der Inneren Führung, nämlich der Menschenführung in den Streitkräften. Zu Recht räumt der Wehrbeauftragte diesem Thema auch diesmal in seinem Jahresbericht viel Platz ein. Zu Recht hebt er besonders hervor, daß die Anforderungen an die Menschenführung gerade zu Beginn der 90er Jahre nicht nur auf Grund der außenpolitischen, sondern auch wegen der sich verändernden gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen hoch bleiben. Er leitet folgerichtig daraus ab, daß die Anforderungen an die Führer und Unterführer weiter wachsen. Das kann ich nur positiv dick unterstreichen. Es ist auch gut zu erwähnen, daß unsere Bundeswehr mit den Unteroffiziers- und Offiziersschulen und dem Zentrum für Innere Führung über Ausbildungseinrichtungen verfügt, in denen die Grundsätze einer zeitgemäßen Menschenführung an Offiziere und Unteroffiziere vermittelt werden.
Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, daß unmittelbar nach dem 3. Oktober 1990 Offiziere und Unteroffiziere der ehemaligen Nationalen Volksarmee als sogenannte Weiterverwender an diese Schulen als Lehrgangsteilnehmer kommandiert wurden, um insbesondere über die Grundsätze der Menschenführung in der Armee eines demokratischen Staates unterrichtet zu werden. Das ist wichtig und richtig zugleich und wird von uns Sozialdemokraten auch ausdrücklich begrüßt. Wir brauchen eine, wie es der Wehrbeauftragte formuliert, zeitgerechte Menschenführung. „Zeitgerecht" bedeutet aber, daß die gesellschaftlichen Weiterentwicklungen in die Innere Führung der Bundeswehr Eingang finden müssen. Es bedeutet die ständige Anpassung auch der Lehrinhalte an den Schulen der Bundeswehr an die positiven Veränderungen in unserer Gesellschaft. Gerade diese Anpassung wird von der Bundesregierung, vom Bundesminister der Verteidigung nicht in genügendem Maße vollzogen.
Der Wehrbeauftragte stellt in diesem Zusammenhang richtig fest — ich zitiere —,
daß sich viele junge Soldaten zunehmend an zivilen Werten und Normen orientieren. Mitbestimmung und Beteiligung haben im gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland, in der Wirtschaft, in der Industrie und im öffentlichen Dienst einen hohen Stellenwert. Nicht nur die Wehrpflichtigen, insbesondere auch die jüngeren Berufs- und Zeitsoldaten, beklagen sich über ungenügende Möglichkeiten der Mitwirkung und Beteiligung in den Streitkräften.
Er sagt weiter:
Vor diesem Hintergrund kommt dem Ausbau dieser Rechte eine besondere Bedeutung zu.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, das sogenannte Streitkräftebeteiligungsgesetz, welches in einem Schnellverfahren im letzten Jahr die seit langem geforderte gesellschaftliche Normalität in Mitbestimmungsfragen für die Bundeswehr bringen sollte, wird diesem Anspruch bei weitem nicht gerecht. Dieses Gesetz ohne Ausführungsbestimmungen und damit ohne Anwendungshilfen für unsere Soldaten ist auch kein Kompromiß, Herr Wehrbeauftragter, es ist ein vom Beharrungsvermögen konservativer Denkweisen geprägtes Machwerk. Ich sage das in dieser Deutlichkeit, weil es von der gesellschaftlichen Normalität weit entfernt ist. So wird Innere Führung von uns nicht verstanden. So läßt sich eine zeitgerechte Menschenführung nicht verwirklichen.

(Beifall bei der SPD)

Mußte man sich bei der Vorlage des Gesetzentwurfs schon fragen, wie es möglich war, daß hohe Militärs und die politische Führung auf der Hardthöhe mit diesem antiquierten Gesetzentwurf jegliche Zurückhaltung aufgegeben hatten, unseren Soldaten die Reife für einen verantwortungsbewußten Umgang mit echten Mitbestimmungsrechten abzusprechen, so muß man jetzt realisieren, daß dies Methode hat. Es ist schlimm, daß das Verteidigungsministerium bis heute keine Ausführungen zu diesem Gesetz gemacht hat, und es ist ganz schlimm, statt dessen den Deutschen Bundeswehr-Verband zu kritisieren, der im Rahmen einer Selbsthilfe, in Lehrgängen seine Mitglieder in der Handhabung dieses Gesetzes schult und damit ureigenste Aufgaben der Bundeswehr, des Bundesministeriums für Verteidigung übernimmt.
In diesem Zusammenhang vermute ich einen weiteren Anschlag auf die Weiterentwicklung in diesem Bereich in der Verlegung des unabhängigen Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr von München nach Strausberg his Ende 1994. Ein international anerkanntes Institut, das in unmittelbarer Nachbarschaft von Universität, von Hochschule und vielen anderen Instituten intensiv und anerkennenswert an der Weiterentwicklung der Inneren Führung arbeitet, soll zusammen mit der Akademie für Information und Kommunikation und einer Außenstelle des Zentrums Innere Führung nach Strausberg auf die grüne Wiese verlegt werden.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1204103300
Herr Abgeordneter Steiner, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Nolting zuzulassen?

Heinz-Alfred Steiner (SPD):
Rede ID: ID1204103400
Wenn es nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1204103500
Herr Kollege, Sie sind so lange dabei, daß Sie wissen müßten, daß das nicht angerechnet wird.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1204103600
Herr Abgeordneter, das hängt vom Präsidenten ab. Ganz so ist es auch nicht.

(Zuruf von der SPD: Oberlehrer Nolting!)


Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1204103700
Herr Präsident, ich kenne Ihre Einstellung. Insofern hatte ich das jetzt vorausgesetzt.



Günther Friedrich Nolting
Herr Kollege Steiner, würden Sie mir zustimmen, daß die Arbeit eines Instituts nicht vom Standort abhängig ist, sondern von seiner Unabhängigkeit, und daß es hier keine Rolle spielt, ob dieses Institut in München ansässig ist oder in Strausberg, wo wir ja auch die Nähe zu Universitäten, z. B. in Berlin haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz-Alfred Steiner (SPD):
Rede ID: ID1204103800
Herr Kollege Nolting, die Arbeit eines Instituts, einer Einrichtung, der Mitarbeiter hängt immer von den Rahmenbedingungen ab, die gegeben sind.
Wenn sie optimal sind — das scheint in München der Fall gewesen zu sein — sind auch die Arbeitsergebnisse entsprechend. Ich habe bisher jedenfalls keine Veranlassung gesehen, den Standort des Sozialwissenschaftlichen Instituts jetzt zu verändern.
Ich sage nur: Hier liegt die Vermutung nahe, die Arbeitsergebnisse des Instituts — die für diese Regierung nicht immer schmeichelhaft waren

(Jürgen Koppelin [FDP]: Das hat damit nichts zu tun!)

und auch nicht sein konnten — künftig besser einer Kontrolle unterwerfen zu können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Möglicherweise soll das in dem großen Stationierungswurf des Verteidigungsministers unauffällig so geregelt werden, daß die Akademie für Information und Kommunikation und das Sozialwissenschaftliche Institut künftig Abteilungen des Zentrums für Innere Führung werden und damit ihre Eigenständigkeit verlieren. Ein ungeliebtes, weil unbequemes Kind soll in ein Spezialinternat kommen.
Ein besonders gravierendes Problem stellt nach wie vor die mangelnde Wohnungsfürsorge dar. Eine meiner Vorrednerinnen hat bereits darauf hingewiesen. Wir haben seit Jahren — ich darf auch sagen: seit Jahren gemeinsam — immer wieder eindringlich auf die negative Entwicklung in diesem Bereich hingewiesen. Wir haben wiederholt darauf gedrängt, zu handeln. Doch anstatt neue, moderne Wohnungen für unsere Soldaten und ihre Familien zu bauen, haben Sie, Herr Minister, und Ihre Vorgänger das damals noch vorhandene Geld lieber in die Entwicklung und Beschaffung neuer Waffensysteme gesteckt. Der Bericht des Wehrbeauftragten belegt eindeutig — das gilt nicht nur für diesen Bericht, das gilt auch für die Berichte seiner Vorgänger — die bisherigen Versäumnisse. Suchten 1989 ca. 7 300 Angehörige der Bundeswehr nach einer geeigneten Wohnung, so waren es im Jahre 1990 bereits fast 10 000. Die Reduzierung des Friedensumfangs der Bundeswehr auf 370 000 bis Ende 1994 und die damit verbundene weitreichende Neuorganisation der Streitkräfte wird noch zu einer weiteren Verschärfung an den neuen Standorten der Bundeswehr führen. Insbesondere wegen der erheblichen sozialen Folgen der Versetzung sind im Interesse der Soldatenfamilien flankierende Maßnahmen bei der Wohnungsfürsorge erforderlich, und zwar Maßnahmen, die diese Bezeichnung auch verdienen. Ich will in der Kürze der Zeit, die mir zur
Verfügung steht, nur die wichtigsten Maßnahmen erwähnen.
An Standorten, die aufgelöst werden, dürfen nach dem Personalgesetz ausscheidende Soldaten nicht aus ihren Wohnungen gekündigt werden. An Standorten, die erhalten bleiben, ist ein Neubauprogramm für Bundesdarlehenswohnungen erforderlich. Dabei ist zu beachten, daß die Fördersätze den erheblich gestiegenen Baupreisen angepaßt werden und auch dem von Ihnen verursachten hohen Zinsniveau. Mit den Fördersätzen, die zur Zeit zur Verfügung stehen, ist es nicht möglich, Bauträger für Bundesdarlehenswohnungen zu gewinnen.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Wehrbeauftragte hat auch auf die notwendigen Anforderungen an die Planungsarbeiten im Personalbereich hingewiesen, indem er ausführt:
Um den durch die Bundesregierung vorgegebenen Personalumfang einzunehmen, hat der Bundesminister der Verteidigung ein sorgfältig abgestimmtes Personalkonzept zu erstellen, . . .
Ich befürchte, auf Grund des abenteuerlichen Kabinettsbeschlusses zum Haushalt 1992 wird dieses Ziel nicht zu erreichen sein. Kegelgerechter Abbau heißt doch, ein rücksichtsloses Rasenmäherkonzept zu verfolgen. Das ist nicht der gleitende Personalabbau bis Ende 1994 unter Berücksichtigung von Dienstgestaltung, Einsatzfähigkeit und Sozialverträglichkeit. Es bedeutet praktisch die Fortsetzung der unausgewogenen Altersstruktur mit allen Folgen eines verschärften Verwendungs- und Beförderungsstaus und den Verzicht auf die bisher für notwendig erachtete höhere Führerdichte in den Einheiten und Verbänden.
Meine Damen und Herren, dies waren in aller Kürze nur einige Beispiele, die vom Wehrbeauftragten in seinem Jahresbericht erwähnt worden sind. Hier bedarf es wirklich der Verbesserung. Ich hoffe wie Sie, Frau Kollegin, daß wir im nächsten Jahr über diese Mißstände nicht noch einmal diskutieren müssen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1204103900
Nun erteile ich dem Bundesminister der Verteidigung, Dr. Stoltenberg das Wort.

Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1204104000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst dem Wehrbeauftragten, Ihnen, lieber Herr Biehle, für die gute Zusammenarbeit in Ihrem ersten Amtsjahr danken, insbesondere auch für die engagierte Art und Weise, mit der Sie sich für die Soldaten der Bundeswehr einsetzen.
In Ihrem ersten Jahresbericht haben Sie Ihr Amtsverständnis mit dem Begriff „parlamentarisches Frühwarnsystem" beschrieben. Sie haben es als eine Ihrer wichtigsten Aufgaben charakterisiert, die Konsequenzen aufzuzeigen, die sich für die Bundeswehr und damit für jeden ihrer Angehörigen aus den tiefgreifenden politischen Entscheidungen und Entwick-



Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg
lungen ergeben. Ich halte das für sehr wichtig; denn es sind ja in der Tat die großen Veränderungen in Europa, vor allem natürlich auch die Einheit unseres Landes, die seit dem vergangenen Jahr unser Handeln bestimmen.
Es geht um den Aufbau der Bundeswehr in den neuen Ländern. Es geht um die Rückführung des Streitkräfteumfangs auf 370 000 Soldaten, und es geht um die Neuformulierung der konzeptionellen Grundlagen für den Auftrag, die Führung und die Ausbildung in den Streitkräften.
Damit sind zugleich auch noch einmal die Schwerpunktthemen Ihres Jahresberichts 1990 kurz benannt. Er zeigt auf, wie sehr die Veränderungen der politischen Rahmendaten unmittelbare persönliche Folgen für die Existenz, für das Lehen der Soldaten, der zivilen Mitarbeiter und ihrer Angehörigen haben.
Um die Folgen für die betroffenen Menschen ging es auch heute in dieser Debatte vor allem. Das hat man in der öffentlichen Diskussion der letzten Monate manchmal übersehen. Da wurde im Sommer die Bundeswehr als Wirtschaftsfaktor entdeckt.

(Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]: So ein Unsinn!)

— Ich spreche hier von anderen, Frau Wollenberger, nicht von mir.

(Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]: Es ist trotzdem Unsinn!)

Da wurde die Bundeswehr als Wirtschaftsfaktor entdeckt und plötzlich hoch gepriesen von vielen — auch in der Sozialdemokratischen Partei — , die zuvor wenig Verständnis für ihren Auftrag und ihre Erfordernisse gezeigt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In der Tat, meine Damen und Herren, Entscheidungen über die Bundeswehr sind seit der Einheit Deutschlands zunächst einmal Entscheidungen über 500 000 Soldaten und fast 200 000 zivile Mitarbeiter — wie gesagt: mit allen Wirkungen für die Angehörigen, für die Lebensplanung von Menschen.
Wir haben uns dieser Aufgabe gestellt. Wir haben
— da Sie ja den Bericht des Wehrbeauftragten in einigen Passagen kritisiert haben, will ich das hinzufügen — in sehr vielen unabhängigen Kommentaren in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit auch Anerkennung dafür gefunden, wie wir die Herausforderung der Auflösung der früheren NVA-Strukturen und des beginnenden Aufbaus der Bundeswehr in den neuen Ländern angepackt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich könnte Ihnen eine eindrucksvolle Vielfalt von Zitaten vortragen.

(Dieter Heistermann [SPD]: Das hat doch niemand kritisiert!)

— Sie haben doch gesagt, wir dümpelten da vor uns hin, lieber Herr Heistermann. Dann möchte ich das unterstreichen, was nicht gerade mit dem Begriff „dümpeln" umschrieben werden kann. Ich glaube, wir müssen dies gemeinsam weiter anpacken.

(Zurufe von der SPD)

— Ich mache das nicht sehr polemisch.
Wenn es um Menschen geht, ist Handeln mit Sorgfalt und Bedacht kein Zögern. Herr Heistermann, wenn Sie persönliche Überlegungen vortragen, tun Sie das in einer differenzierten Weise. Wenn Sie dann wieder auf Ihr Manuskript schauen, kommen einige ganz schreckliche Sätze, und anschließend kommt wieder eine ruhigere Passage. Man kennt das schon. Ich will das nicht weiter kommentieren.
Vom Tag der Einheit an haben wir uns bemüht, eine einheitliche Führung und die Umsetzung einer jetzt einheitlichen Wehrverfassung zu verwirklichen, schrittweise die gleiche Situation für die Soldaten und auch die Wehrpflichtigen in West und Ost herzustellen, die Lebens- und Dienstbedingungen in den Truppenteilen der neuen Bundesländer Schritt für Schritt denen in Westdeutschland anzugleichen und vor allem denen, die sich nach den Vorschriften des Einigungsvertrages zunächst als Soldaten auf Probe beworben haben, ein umfassendes Informations- und Bildungsangebot zu machen, um die Bedingungen der Bundeswehr in der Demokratie und der Inneren Führung kennenzulernen. Ich finde hier die Zwischenbilanz insgesamt ganz ermutigend.
Natürlich gibt es unverändert Probleme. Natürlich sind wir von den gleichen Lebensbedingungen noch ein Stück entfernt. Aber wenn wir im privaten Sektor, wenn wir in der Verwaltung insgesamt in zehn Monaten noch nicht die gleichen Einkommensverhältnisse haben, dann können sie auch bei den Berufs- und Zeitsoldaten noch nicht verwirklicht sein. Wichtig ist nur, daß die Menschen überzeugt sind — auch die in der Bundeswehr — , daß das Ziel der Erreichung gleicher Lebensverhältnisse ernst gemeint ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nach einer unwidersprochenen, nicht bezweifelten Analyse, die wir schon im Frühjahr vorgelegt haben, müssen wir dafür kurzfristig mehr als 16 Milliarden DM in den neuen Ländern investieren: in Kasernenanlagen, die wir weiterhin brauchen, in die Beseitigung von Umweltlasten, für die zivile Verwaltung.
Wie können Sie denn, meine Damen und Herren von der SPD, auf der einen Seite die Herstellung gleicher Verhältnisse für die Soldaten fordern und auf der anderen Seite den Eindruck erwecken, Sie könnten Milliarden aus einem ohnehin knapp bemessenen Verteidigungsetat herausstreichen?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Joseph-Theodor Blank [CDU/CSU]: Die können das! — Zuruf von der SPD: Umschichtung!)

Das nimmt Ihnen kein intelligenter und nachdenklicher Mitbürger und kein Soldat ab.

(Abg. Walter Kolbow [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Herr Kolbow, bitte sehr.

Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1204104100
Herr Bundesminister der Verteidigung, würden Sie mir recht geben, daß ein Verteidigungsetat, der Betriebskosten in Höhe von 75 enthält, das, was Sie jetzt gerade für die neuen Länder verlangen, nicht ermöglicht?




Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1204104200
Wenn wir dem Konzept des Regierungsentwurfs folgen und in den nächsten Jahren die angemessene Ausstattung sichern, können wir dadurch, daß wir wichtige investive Vorhaben im Westen zurückstellen — das tun wir ja, auch da, wo sie eigentlich notwendig wären — , die Mittel für den investiven Bereich mobilisieren, die in einer Reihe von Jahren die gleichwertigen Verhältnisse gewährleisten.

(Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Das können wir auch!)

Aber es ist keine Verfügungsmasse mehr für Kürzungen in Milliardenhöhe vorhanden, Herr Kolbow. Das ist meine Beurteilung. Ich bin gerne bereit, das im Verteidigungsausschuß zu vertiefen.
Im übrigen, Herr Kollege Steiner — Sie sprachen das Münchener Institut an — : Wir verlegen Einrichtungen, Schulen, zentrale Institutionen der Bundeswehr in erheblichem Umfang in die neuen Bundesländer. Dies ist keine Strafaktion. Das will ich einmal in aller Deutlichkeit sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist eine Entscheidung, die wir aus nationaler Verantwortung treffen,

(Paul Breuer [CDU/CSU]: Integration!)

die auch von Ihren politischen Freunden drüben erwartet wird. Nur, die Art, wie Mitarbeiter in verschiedenen Institutionen darauf reagieren, ist ein Lehrbeispiel für die unterschiedliche innere Verfassung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]: Außerdem kostet es Geld, was man einsparen könnte!)

Dies will ich gerne an anderer Stelle noch einmal vertiefen, aber nicht hier und heute.
Meine Damen und Herren, wir haben im Jahr 1991 grundlegende Entscheidungen getroffen — wobei wir kurz vor der letzten von drei Entscheidungen stehen — : im April die Reform der Führungsorganisation und der Struktur der Teilstreitkräfte, im August, nach einer mehrmonatigen nationalen öffentlichen Debatte, die Neustationierung für die Streitkräfte unter Einbeziehung der Truppenverwaltung. Wie Sie wissen, werden wir in Kürze einen dritten großen Schritt mit einer weitreichenden Strukturreform für unsere Wehrverwaltung und für die Verwaltung im Rüstungsbereich tun. Dies ist neben der beschriebenen Aufgabe, in den neuen Ländern voranzukommen, eine ungewöhnliche Herausforderung für alle, die daran mitzuwirken haben, auch für die Mitarbeiter im Ministerium.
Ich freue mich, Herr Heistermann, daß Sie dies in einem Beitrag auch anerkannt haben. Wenn Sie denn alle würdigen, nur nicht den Minister, dann kann ich damit leben. Es stört mich nicht. Wenn Sie die Leistung unserer Mitarbeiter in den Ministerien, in der Bundeswehr und in der Verwaltung anerkennen, dann begrüße ich das.

(Dieter Heistermann [SPD]: Sie kriegten von uns Lob, wenn Sie noch ein bißchen besser wären!)

Meine Damen und Herren, natürlich ist es so, daß wir nicht nur reduzieren, sondern auch zukunftsweisende Entscheidungen brauchen. Hier will ich die Bedeutung eines den künftigen Aufgaben angemessenen Personalkonzepts unterstreichen.
Es ist nicht so, Herr Kollege Steiner, daß die Regierung beabsichtigt, hier schematisch vom vorhandenen Kegel einfach etwas zu kürzen. Wir sind in den Gesprächen in der Regierung, vor allem mit dem Bundesminister der Finanzen, so weit gekommen, daß wir den Ausschüssen des Deutschen Bundestages ein, wie ich glaube, einheitliches Personalstrukturkonzept für Offiziere und Unteroffiziere vorlegen können, das eine Verbesserung bringt. Wir brauchen diese Verbesserung in der Bundeswehr von morgen. Ich freue mich, daß wir uns jedenfalls in diesem Punkt einig sind.
Die Zeit reicht nicht mehr — ich sage das mit Blick auf die Uhr und auf die Tagesordnung des Hohen Hauses — , auf weiterführende Fragen der Strategie und des Auftrags unter den veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen einzugehen. Wir werden in anderem Zusammenhang sicher Gelegenheit dazu haben, das auch im Plenum zu tun.
Nur eine abschließende Bemerkung. Natürlich erwachsen aus dem Umbruch, aus der positiven Entwicklung des Abbaus der Konfrontation in Europa auch Fragen in der Bundeswehr, an die Bundeswehr und vor allem an die politisch Verantwortlichen. Darauf angemessene Antworten zu geben ist wichtig, wie sich unter den veränderten politischen Bedingungen — in der Zwischenbilanz insgesamt positiv — Auftrag und Selbstverständnis der Bundeswehr entwickeln. Diese Debatte müssen wir führen.
Nur wende ich mich dagegen, daß versucht wird, daraus eine generelle Legitimationskrise der Bundeswehr herbeizureden.

(Zuruf des Bündnisses 90/GRÜNE: Aber sie ist doch einfach da! Die muß nicht erst herbeigeredet werden!)

Die Legitimationsgrundlage für die Soldaten ist die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, die eine wehrhafte Demokratie vorsieht. So hat Kurt Schumacher sie verstanden, so hat Carlo Schmid sie verstanden, so hat Helmut Schmidt sie verstanden. Ich hoffe, daß die Sozialdemokratie wieder zu einem klaren Bekenntnis kommt, daß dies eine wehrhafte und verteidigungswerte Demokratie ist.
Daß trotz all dieser positiven Veränderungen Frieden keine Selbstverständlichkeit ist, wie manche behaupten oder angenommen haben, erleben wir in bestürzender Weise gegenwärtig im Kernbereich Europas in den bedrückenden Meldungen dieser Tage.
Nein, auch in Zukunft sind wir darauf angewiesen, bündnisfähig zu sein und zu bleiben. Die NATO, von weiten Teilen der SPD als überholt bezeichnet, gewinnt an Anziehungskraft.

(Widerspruch von der SPD)

— Aber natürlich! Lesen Sie doch die Studie des Herrn
Kollegen Scheer. Wann haben Sie denn dem öffentlich widersprochen, meine Damen und Herren, was



Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg
hier von vielen Mitgliedern Ihrer Partei gefordert wird?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Das ist doch Unfug! — Abg. Walter Kolbow [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Herr Kollege Kolbow, Sie können eine Zwischenfrage stellen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1204104300
Herr Kollege Kolbow, bitte. Ich mache allerdings darauf aufmerksam, daß die für den Minister eingeplante Zeit, wohlwissend, daß ich ihm verfassungsmäßig das Recht zu reden nicht nehmen kann, im Grunde abgelaufen ist.

Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1204104400
Herr Bundesminister der Verteidigung, darf ich Sie als früheren Bundesfinanzminister der intellektuellen Redlichkeit halber fragen, ob Sie mit mir einverstanden sind, daß ein einzelner Abgeordneter der SPD nicht weite Teile derselben Partei darstellen kann?

(Zurufe von der CDU/CSU)


Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1204104500
Ich könnte hier die Äußerungen des stellvertretenden Bundesvorsitzenden Oskar Lafontaine und vieler anderer anführen und sagen: Weite Teile Ihrer Partei haben sich auch in Erklärungen von dem Konzept der künftigen Mitgliedschaft und der Bedeutung der NATO verabschiedet. Das gilt nicht für die ganze Partei, das gilt nicht für Sie, Herr Kolbow.

(Walter Kolbow [SPD]: Sie kennen die Programmatik und die Parteibeschlüsse!)

— Die zu erörtern reicht die Zeit jetzt in der Tat nicht.
Ich sage ganz kurz: Wir brauchen keine neue Legitimation für die Bundeswehr. Wir würden der Bundeswehr helfen, wenn wir in den Grundfragen der Verteidigung und in den Grundfragen der Sicherheitspolitik wieder mehr Einvernehmen erzielen, wie es Anfang der 80er Jahre der Fall war. Dafür zu arbeiten ist unsere gemeinsame Aufgabe.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1204104600
Nachdem die Debatte nun beendet ist, können wir über die Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 12/1073 abstimmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen?
— Dann ist diese Beschlußempfehlung angenommen mit den Stimmen der SPD-, der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der parlamentarischen Gruppen.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 7 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Roth, Gert Weisskirchen (Wiesloch), Manfred Opel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ausgleich der Folgen von Abrüstung, Truppenreduzierungen und Standortauflösungen in strukturschwachen Regionen
— Drucksache 12/882 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Achim Großmann, Norbert Formanski, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verlibilige Abgabe von Grundstücken sowie
von Wohnungen aus Bundesbesitz für den sozialen Wohnungsbau und für andere gemeinnützige Zwecke
— Drucksache 12/884 —
Üb erweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (federführend)

Haushaltsausschuß
Der Ältestenrat hat vorgeschlagen, darüber zwei Stunden lang zu diskutieren. Erhebt sich gegen diese Empfehlung Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist dies beschlossen.
Zunächst erteile ich dem Herrn Abgeordneten Weisskirchen (Wiesloch) das Wort.

Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1204104700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister, wenn das richtig wäre, was Sie am Schluß gesagt haben, dann gäbe es ja in der Tat keine Verwirrung oder zumindest keine Unklarheit in der Debatte darüber, wie es mit der Bundeswehr weitergeht. Das haben wir aber nun einmal festzustellen.

(Beifall bei der SPD)

Einer der Gründe dafür, warum Fragen gestellt worden sind, auf die es bislang noch keine überzeugenden Antworten gibt, liegt doch darin, daß die Bundesregierung bisher in der Tat — jetzt komme ich zu dem jetzt zu behandelnden Tagesordnungspunkt — in den Fragen der Standorte und der Umstellung der Rüstungsgüterproduktion auf zivile Güterproduktion bislang jedenfalls noch keinen deutlich definierten Rahmen vorgestellt hat.

(Beifall bei der SPD)

Die Unruhe, die es in manchen Teilen unserer Republik, in manchen Regionen gibt, ist genau darauf zurückzuführen, daß Sie — auch das Ministerium — die Öffentlichkeit bisher nicht immer deutlich genug und klar genug darüber unterrichtet haben, wie denn die nächsten Schritte aussehen sollen. Wenn Sie also schon eine kritische Frage an die Opposition stellen — das ist Ihr gutes Recht —, dann gibt es viele kritische Fragen, die an die Bundesregierung gestellt werden müssen und die bisher noch nicht deutlich und klar genug mit einem durchdachten Konzept beantwortet worden sind.



Gert Weisskirchen (Wiesloch)

Konversion — das ist der Punkt, über den wir jetzt debattieren — ist eine große Chance. Die Frage ist nur: Werden wir diese Chance nutzen? Die Umstellung der volkswirtschaftlichen Produktion auf ausschließlich zivile Ziele wird Potentiale von Fähigkeiten mobilisieren, die Kreativität von Ingenieuren und Facharbeitern und die Leistungsbereitschaft von Unternehmern abfordern und die schließlich die in der und die für die Bundeswehr Arbeitenden vor schwer zu lösende Aufgaben stellen.
Es wäre vielleicht gar nicht schlecht gewesen — ich weiß nicht, wer gerade vom Wirtschaftsministerium anwesend ist;

(Zuruf von der CDU/CSU: Der Herr Staatssekretär!)

guten Morgen, Herr Staatssekretär! —,

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Der ist schon länger als Sie hier!)

wenn sich die Bundesregierung und das Wirtschaftsministerium schon frühzeitiger auf die Probleme der Umstellung eingestellt hätten. Wenn das geschehen wäre, wäre jetzt schon sehr viel klarer, welche Chancen es für Arbeitnehmer gibt, welche Chancen es für Facharbeiter und Ingenieure gibt — gerade dann, wenn die Rüstungsproduktion auf zivile Ziele umgestellt wird. Da gibt es nämlich sehr viele neue Chancen für unsere Industrie. Es wäre endlich an der Zeit, daß die Bundesregierung auch dazu einmal ein klar durchdachtes Konzept vorlegen würde.

(Beifall bei der SPD)

Darauf warten die industriellen Investoren und die Klein- und Mittelbetriebe — besonders auch die Zulieferer für die großen Rüstungsbetriebe —; denn sie brauchen verläßliche Signale für ihre Entscheidungen. Darauf warten die Forscher und Entwickler in den Konzernen, in den Ingenieurbüros und an manchen Hochschulen; denn die Zukunft ihrer Projekte steht auf dem Spiel. Und schließlich warten wir alle auf das überzeugende Konzept der Bundesregierung.
Wenn Sie die Anträge, die wir heute diskutieren und die wir dem Parlament schon vor einem Jahr im Grundriß übergeben haben, aufgenommen hätten und dazu ein eigenes durchdachtes Konzept entwikkelt hätten, dann wäre nicht so viel Unruhe in den Betrieben, dann wäre nicht so viel Unruhe in der Bundeswehr.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer schürt denn diese Unruhe?)

Hier liegt allerdings kein Versäumnis der Opposition vor, sondern eines der Bundesregierung.

(Beifall bei der SPD)

Klar ist doch, daß spätestens mit dem Abschluß des CFE-Vertrags vom November 1990 über konventionelle Rüstungsbegrenzung, Umbau und Dislozierung von Streitkräften in Europa Gewißheit darüber besteht, daß sich die schon seit längerem anbahnenden Trends zum Abbau von Waffensystemen und Truppenstärken bestätigen. Der Zerfall des Warschauer Paktes und das Ende der alten Sowjetunion haben die
Geschwindigkeit dieser Prozesse nochmals beschleunigt.
Es ist also nicht so, daß man an die Prozesse mit unklaren Überlegungen herangehen müßte. Nein, die Dinge sind schon seit vielen Monaten deutlich erkennbar. Es ist jedoch nicht deutlich erkennbar, wie darauf durchdacht geantwortet wird.
Die Sicherheitsdefinition, bislang militärisch dominiert, muß um ökologische, soziale und wirtschaftliche Gesichtspunkte erweitert werden. Daran hat auch der Golfkrieg nichts geändert. Im Gegenteil: Wer geglaubt haben mochte — und solchen Zynismus gibt es ja manchmal, wenn jemand seinen Blick ausschließlich auf die Gewinne richtet, die ihm das Geschäft mit dem Tod einbringt —, mit der Steigerung von Rüstungsexporten könnten Konfliktregionen durch ein Gleichgewicht der Abschreckung in diesen Regionen eingedämmt werden, der hat am Golf seinen Irrtum erkennen müssen. Die Vorgeschichte des Golfkriegs ist untrennbar verbunden mit dem verhängnisvollen Wettlauf der Rüstungsexporteure. Die Forderung nach Transparenz, Selbstbeschränkung, Kontrolle und Notifizierung von Rüstungsexporten wird der Rüstungsindustrie politisch Schranken auferlegen.
Der letzte Fluchtweg für die Rüstungsindustrie ist jetzt auch endlich deutlich versperrt. Die Militarisierung der Dritten Welt hat viele Länder in die Schuldenfalle gelockt. Ich bin sehr zufrieden, daß unser zuständiges Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit jetzt auch dazu übergegangen ist, daß die Vergabe von Projekten in die Dritte Welt in der Tat auch mit Bedingungen der Demilitarisierung in diesen Regionen selbst verkoppelt werden muß. Das ist sehr gut,

(Beifall bei der SPD)

aber es macht auch deutlich, daß die Rüstungsindustrie nun endlich auch ein anderes, ein deutlich politisches Signal von der Bundesregierung bekommt, damit sie weiß, welche Zukunftsaufgaben sie zu bewältigen hat.

(Beifall bei der SPD)

In den USA hat die wissenschaftliche Kritik am militärisch-industriellen Komplex früh und scharf eingesetzt. Das, worüber wir hier diskutieren, ist nicht etwas, das von irgendwelchen Ideologen geboren worden ist, sondern diese Kritik kommt aus den USA selbst, und dort ist sie bisher am schärfsten formuliert worden. Sie beobachtete die rapide verfallende internationale Wettbewerbsfähigkeit der US-amerikanischen Industrie und Technologie.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was habt ihr mit den USA?)

Sie fragte danach, zu welchen Ergebnissen die Zivilgüterindustrie führt, wenn sie gegenüber der Rüstungsindustrie bei vergleichbaren Bedingungen und demselben Einsatz von Investitionsmitteln arbeitet. Das Ergebnis war klar und wissenschaftlich überzeugend. Es wird auch für die deutsche Industrie durch eine Ifo-Studie, die in den letzten Wochen veröffentlicht worden ist und die das Wirtschaftsministerium in Auftrag gegeben hat, bestätigt. Die Untersuchungen des sogenannten Spin-off-Effekts der Wehrtechnik



Gert Weisskirchen (Wiesloch)

und der Zivilgütertechnik belegt, daß es in jedem Fall günstiger ist, die Forschungsmittel gleich in den Zivilbereich zu stecken, als den merkwürdigen Umweg über die Militärtechnik zu gehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ein Blick auf die Marktbeziehungen der Rüstungsgüter macht klar, warum volkswirtschaftlicher Reichtum verschlungen wird. Der Staat steht als Monopolnachfrager Unternehmensleitungen als Monopolanbieter gegenüber. Wo bleibt da der Markt, muß man sich da wirklich einmal fragen. Diejenigen müssen sich das besonders fragen lassen, die immer die Marktwirtschaft wie eine Trophäe vor sich hertragen. Sie müssen sich fragen: Wo bleibt eigentlich auf diesem Sektor der Markt? Nichts davon ist übrig. Alles sind reine Monopolbeziehungen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Auch wenn Sie noch so laut schreien — das wird nicht richtiger!)

Da weder der Zwang zu wirklichem Wettbewerb der Marktteilnehmer besteht noch von der Produktionsseite ein entscheidender innerbetrieblicher Druck auf die Produktivitätsentwicklung spürbar ist, haben sich in dieser Nische Verhaltensweisen herauskristallisiert, die sich eher dem untergegangenen Modell des staatsmonopolistischen Kapitalismus annähern als wirklichen Marktbeziehungen.
Noch einmal: Konversion ist eine große Chance. Wenn Sie die Anträge, die wir Ihnen heute vorlegen, nutzten und aufgriffen — Sie brauchen ja nicht gleich alle zu akzeptieren — , dann fänden Sie darin eine Reihe von Instrumenten, mit denen Sie die Betroffenen an einen Tisch holen könnten, nämlich die Arbeitnehmer, die Arbeitgeber, Bund und Länder, die Industrie und die betroffenen Regionen. Dann könnte man ein Programm entwickeln, mit dem den rund 1,5 Millionen Menschen, die in den nächsten vier Jahren von Umstellungen betroffen sein werden, nämlich in der Rüstungsindustrie, bei der Bundeswehr und bei den zivilen Beschäftigten so geholfen wird, daß ihre persönlichen und sozialen Interessen berücksichtigt werden, und das dann in den Regionen neue Arbeitsplätze schafft, die endlich dazu dienen könnten, daß zivile Güterproduktionsziele erfüllt werden. So könnten wir endlich aus den Verstrickungen mit der Rüstungsgüterproduktion herauskommen.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1204104800
Nun erteile ich dem Abgeordneten Hinsken das Wort.

Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1204104900
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich die Ausführungen des Kollegen Weisskirchen rekapituliere, dann stelle ich fest: Wenn Sie so weitermachen, dann sind Sie in fünf oder sechs Jahren tatsächlich ein tragbarer Marktwirtschaftler! Momentan haben Sie aber noch nicht die Zusammenhänge als solche erkannt und gesehen, die hier erforderlich sind.
Ich darf bei dieser Gelegenheit auch darauf verweisen, daß gerade diese Bundesregierung die Probleme, die es zu lösen gilt, anpackt, aufgreift und uns praktikable Vorschläge an die Hand gibt, damit wir als Parlamentarier die Grundlage haben — haben wollen und auch haben können —, hier mitzuwirken, mitzureden, und das Ganze zu einem vernünftigen, guten Ende geführt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wie so vieles hat auch die Frage des Truppenabbaus der Bundeswehr und der verbündeten Streitkräfte einen erfreulichen und einen unerfreulichen Aspekt. Erfreulich ist, daß die politischen und militärischen Verhältnisse in Europa und in der Welt eine Reduzierung der Streitkräfte in unserem Lande ermöglichen. Das Motto „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" — in diesem Falle müßte man hinzufügen: mit immer weniger Soldaten! — erfährt nun schneller eine Realisierung, als so mancher angenommen hat und annehmen durfte — dank Helmut Kohl und seiner hervorragenden Politik des Jahres 1982, als Sie, meine Damen und Herren von der SPD, Ihren damaligen Kanzler Helmut Schmidt im Stich gelassen haben.

(Lachen bei der SPD)

Der Truppenabbau hat aber auch einen unerfreulichen Nebeneffekt, nämlich wirtschaftliche und regionale Begleiterscheinungen. Und siehe da, plötzlich sind auch positive Töne zur Bundeswehr von solchen zu hören, die sie in der Vergangenheit am liebsten verdammt hätten. Bundesverteidigungsminister Stoltenberg hat — meines Erachtens zu Recht — vorhin bereits darauf verwiesen.
Meine Damen und Herren, ich sage bewußt „Nebeneffekt", weil Abrüstung und Truppenreduzierung in erster Linie eine Frage der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, nicht aber in erster Linie ein Instrument der Regionalpolitik sind. Gleichwohl haben wir erwartet, daß dort, wo es verteidigungspolitisch mehrere Möglichkeiten gab, der regionalpolitisch schonendsten Alternative der Vorzug gegeben wird.
Herr Minister Stoltenberg, ich möchte mich an dieser Stelle bei Ihnen und dem anwesenden Staatssekretär herzlich bedanken. Sie haben im großen und ganzen die Erwartungen erfüllt und die Argumente der Wirtschafts- und Regionalpolitiker, übrigens auch durch das Votum der Länder vertreten, von Anfang an in Ihre Überlegungen einbezogen.

(Widerspruch bei der SPD)

Die überarbeitete Fassung des Truppenabbaukonzepts hat durch die stärkere Berücksichtigung der strukturschwachen Gebiete eine deutliche Verbesserung gegenüber dem ersten Entwurf gebracht. Offen ist freilich noch ein genauer Zeitplan für den Abzug der Soldaten an den einzelnen Standorten. Ein solcher Zeitplan wäre für die weitere Planung natürlich schon sehr wünschenswert, und ich bitte, darum besorgt zu sein, daß uns möglichst bald auch hier klare Fakten an die Hand gegeben werden.
Ich möchte mich außerdem bedanken, daß Sie — das Verteidigungsministerium — in sehr kurzer Zeit die Grundstruktur des Konzepts vorgelegt haben, so daß jetzt ausreichend Zeit bleibt, die wirtschaftlichen Auswirkungen mit den uns vorliegenden Instrumenten zu bewältigen. Ein umfangreiches Zahlen-



Ernst Hinsken
werk gibt Auskunft über die Bedeutung des Wirtschaftsfaktors Bundeswehr. Den Ländern wurde Gelegenheit gegeben, zu den Auswirkungen der Reduzierung im einzelnen Stellung zu nehmen.
In diesem Zusammenhang sind drei Wirkungsstränge von großer Bedeutung:
Der erste Wirkungsstrang bezieht sich auf das im Zuge der Standortreduzierung bzw. -stillegung freizusetzende Personal. Selbstverständlich besteht zwischen dem Abbau der Truppe und dem Abbau der Zivilbeschäftigten ein unmittelbarer Zusammenhang. Die Zivilbeschäftigten sind den Truppenteilen funktional zugewiesen. Logischerweise muß sich bei einem Abbau der Soldaten auch die Zahl der Zivilbeschäftigten reduzieren. Man kann schließlich nicht einen Standort schließen, alle Soldaten abziehen, aber die Beschäftigten in der Truppenkantine weiter kochen lassen.

(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: So ist es ganz genau!)

Vielleicht sollten diejenigen, die eine Reduzierung der Bundeswehr auf 200 000 oder gar 100 000 Mann fordern — oder gefordert haben — , diese Konsequenz ehrlicherweise auch einmal gegenüber den Zivilbeschäftigten deutlich machen.

(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: So ist es!)

Erfreulich aber ist, daß die Stellen der Zivilbeschäftigten im Vergleich zu denen der Soldaten verhältnismäßig geringer abgebaut werden.
Der Personalabbau hat für den einzelnen betroffenen Beschäftigten gravierende Auswirkungen, aber wir stehen diesen Auswirkungen nicht ratlos und mit leeren Händen gegenüber.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Personalabbau ist kein einmaliger Vorgang, er passiert tagtäglich in der Privatwirtschaft. Unser soziales Sicherungssystem stellt dafür eine breite Palette an Möglichkeiten, etwa im Arbeitsförderungsgesetz, zur Verfügung. Herr Kollege Weisskirchen, genau das war der Satz, der auf Ihre marktwirtschaftlichen Ausführungen hier gepaßt hat.
Diese Palette reicht von der Förderung der beruflichen Bildung bis hin zur Umschulung. In einem sozialen Rechtsstaat benötigt man für die Bewältigung dieser Probleme weder Krisenstäbe noch runde Tische, sondern vielmehr die Bereitschaft aller Beteiligten, im Rahmen der vorhandenen Instrumente Lösungen zu finden.
Insgesamt, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, kann man sagen, daß die Zivilbediensteten in der Bundeswehr auf Grund von Tarifverträgen oder Beamteneigenschaft vielfach besser abgesichert sind, als dies in der Privatwirtschaft der Fall ist. Sollte es bei dem Zeitplan für den Personalabbau bis 1995, zum Teil auch bis zum Jahre 2000 bleiben, so kann davon ausgegangen werden, daß der Abbau ohne soziale Probleme vonstatten gehen kann. Das ist unser gemeinsames Ziel, das Ziel des Verteidigungsministers und das Ziel der Parlamentarier, aber auch das Ziel des Bundeswirtschaftsministers.
Ein zweiter, allerdings sehr dünner Wirkungsstrang betrifft die Rüstungsindustrie. Hier ist ein spezielles Programm zu Produktionsumstellungen im Zusammenhang mit dem Truppenabbau nicht erforderlich, da der Truppenumstrukturierungsdruck auf die Produktpalette im Zuge der Abrüstungspolitik die gesamte Branche gleichermaßen trifft.
Hier, meine ich, ist die Wirtschaft gefordert, sich darauf einzustellen. Wir haben auch im Unterausschuß „Regionale Wirtschaftspolitik" den Beschluß gefaßt, uns mehrmals unmittelbar vor Ort zu informieren, Gespräche mit Firmenmanagements, aber auch mit Betriebsräten zu führen, um hier flankierend einen Beitrag zu leisten, damit wir das gemeinsame, hier mehrmals angesprochene Ziel auch erreichen, daß in diesen strukturschwachen Gebieten — das möchte ich nicht ausschließen — möglichst wenige Arbeitslose entstehen.
Aber, meine Damen und Herren von der SPD, Sie widersprechen sich doch selber,

(Zuruf von der SPD: Langsam!)

wenn Sie auf der einen Seite eine Verringerung der Rüstungsausgaben, aber überall dort, wo eine Verringerung stattfindet, sofort finanzielle Ausgleichsmaßnahmen in ganzer Breite fordern.

(Beifall bei der CDU/CSU — Konrad Gilges [SPD]: Wieso widerspricht sich das? Das ist logisch!)

— Ja, sicher. Sie befinden sich in der Opposition und mögen es als Recht der Opposition betrachten, auf der einen Seite immer mehr Einsparungen, gleichzeitig aber auf der anderen Seite immer mehr Ausgaben zu fordern.
Nur, meine Damen und Herren, ein konstruktiver Beitrag zur Problembewältigung ist das nicht. Auch werden Sie dadurch in der Öffentlichkeit nicht glaubwürdiger;

(Rudolf Kraus [CDU/CSU]: Recht hat er!)

denn die Leute haben dieses Gehabe und Getue, das Sie hier an den Tag legen, schon längst durchschaut.
Der dritte Wirkungsstrang betrifft die strukturschwachen Gebiete. Auch für diesen Bereich stehen uns Gremien und Instrumentarien zur Verfügung. So hat der Bund-Länder-Planungsausschuß bereits im Januar, also vor ungefähr acht Monaten, ein Sonderprogramm für die betroffenen strukturschwachen Gebiete beschlossen. Der Bundesminister der Finanzen hat hierzu angeboten, innerhalb der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur " ein Sonderprogramm aufzulegen, das bis 1997 laufen könnte. Für dieses Angebot möchte ich mich bei Bundesfinanzminister Waigel ganz besonders herzlich bedanken,

(Konrad Gilges [SPD]: Wieder eine Danksagung!)

da es zum Ausdruck bringt, daß die Bundesregierung wirklich alles tut, um ihrer Verantwortung für die strukturschwachen Gebiete auch in dieser Frage Rechnung zu tragen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)




Ernst Hinsken
Ich gehe aber davon aus — das ist meine Bitte an den Bundesfinanzminister, an Herrn Staatssekretär Carstens, aber auch an den Bundeswirtschaftsminister — , daß möglichst bald, und zwar in den nächsten Wochen, genaue Finanzzahlen darüber vorliegen, wie man das Ganze flankieren möchte.
Die Forderung der Länder, neben der Förderung der strukturschwachen Gebiete auch einen Anteil für die übrigen betroffenen Gebiete in Form einer Art Strukturhilfezuweisung vorzusehen, ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Aber — auch das möchte ich sagen — : Die Länder dürfen auch finanziell nicht aus ihrer regionalpolitischen Verantwortung entlassen werden.

(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Einverstanden!)

Wenn das so gut funktioniert, wie bei uns in Bayern, dann ist es kein Problem.

(Lachen bei der SPD)

Wenn es aber so schlecht funktioniert wie in Bremen oder in Schleswig-Holstein, dann sehe ich durchaus Probleme.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Für die neuen Bundesländer, die ja in ihrer Gesamtheit in die Gemeinschaftsaufgabe einbezogen sind, aber auch in den alten Bundesländern ist insbesondere die Frage nach der Nutzung der freiwerdenden Flächen von Bedeutung.
In diesem Zusammenhang halte ich es für erforderlich, daß die genaue Bezeichnung der freiwerdenden Flächen und die Pläne für die dazugehörige Bebauung so schnell wie möglich vorgelegt werden, um eine zügige Planung vor Ort zu ermöglichen.
Ich bedaure in diesem Zusammenhang sehr, daß in den alten und in den neuen Bundesländern freiwerdende Flächen, die sich zur Industrieansiedlung eignen, nicht verbilligt für gewerbliche Zwecke abgegeben werden können, da dies gegen EG-Recht verstößt. Alle erdachten Konstruktionen, die darauf abzielen, dieses Verbot zu umgehen oder zu durchbrechen, werden von der EG-Kommission leider mit Sicherheit nicht akzeptiert werden.
Sicher zur Freude der durch die Standortreduzierung betroffenen Kommunen, hat der Bundesfinanzminister erklärt, daß er bereit ist, bundeseigene Grundstücke für bestimmte förderungswürdige Zwecke verbilligt zu verkaufen. Nach seiner Planung, die ich ausdrücklich begrüße, sollen Grundstücke für den sozialen Wohnungsbau und für Studentenwohnheime um bis zu 50 % unter dem Verkehrswert veräußert werden, und für gemeinnützige Einrichtungen soll die verbilligte Veräußerung ebenfalls gefördert werden.

(Zuruf von der SPD: Der Bundesfinanzminister als Spekulant!)

Für die betroffenen Kommunen zeichnet sich hier eine positive Entwicklung ab.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, zusammenfassend möchte ich feststellen, daß die beteiligten Entscheidungsträger insgesamt Maßnahmen bereitgestellt bzw. Instrumente zur Verfügung gestellt haben, die die sozialen und strukturellen Flankierungen des Truppenabbaues ermöglichen. Wir sollten nun gemeinsam darangehen, die Einzelheiten auszuloten, wobei auch die konstruktive Mitwirkung der Opposition der Sache dienlich sein könnte.
Ich hoffe, daß Sie sich im Interesse aller Betroffenen zu einer solchen konstruktiven Mitwirkung durchringen können. Das wäre das beste, was Sie uns im Rahmen dieser Debatte versprechen könnten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1204105000
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Seifert das Wort.

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1204105100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die internationale Lage bietet die historische Chance, tatsächlich zu namhaften praktischen Abrüstungsschritten überzugehen. Wenn es keinen Warschauer Pakt mehr gibt, dann kann ihn ja wirklich beim besten Willen niemand mehr als Bedrohung empfinden. Die Reduzierung von Garnisonen sowohl der Bundeswehr als auch aller ausländischen Streitkräfte kann bei solchen namhaften Abrüstungsschritten ein wichtiger Teil sein.
Nun gibt es aber — soweit ich das beurteilen kann; im Westen noch viel stärker als im Osten — in zahlreichen Garnisonsstädten große Befürchtungen, daß die Auflösung der Militärstandorte, also die Auflösung von „Festungen" , wirtschaftliche Probleme mit sich bringen werde. Ich muß sagen, daß es mich mit großer Sorge erfüllt, wenn Menschen, darunter nicht wenige Politiker, lieber Kriegsgerät horten, als sich Gedanken darüber zu machen, wie man die einmalige Chance nutzen kann, daß beträchtliche Potenzen sowohl personeller als auch materieller, finanzieller und — last, not least — ideeller Art für ausschließlich zivile, also ausschließlich friedliche Zwecke freiwerden.
Ich möchte daran erinnern, daß vor nicht einmal einem Jahr ein ganzer Staat Hals über Kopf in eine Konversion gestürzt wurde, die alle Bereiche des Lebens — wohlgemerkt: alle Lebensbereiche! — von 16 Millionen Menschen betraf. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sind doch diejenigen, die nicht müde werden, gerade das als eine ausschließlich positive Sache darzustellen, eben wegen der vielen Veränderungen, eben wegen der Kreativität, eben wegen der zahlreichen Initiativen, die diese Lage zwingend herausfordert.
Warum nun also ein solches Lamento, wenn man in einem Ort oder in einer — im Verhältnis zur DDR kleinen — Region neue Arbeitsplätze schaffen und eine neue Wirtschaftsstruktur finden muß? Noch dazu, wenn man sich darauf jahrelang konzeptionell, personell, organisatorisch und finanziell vorbereiten kann? Noch dazu, wenn das weitere Umland — ich spreche jetzt vor allem vom Westen — nicht nur intakt ist, sondern in weiten Bereichen auch blüht und gedeiht? Oder will jetzt jemand behaupten daß auch in der alten BRD vorwiegend eine marode Wirtschaft anzutreffen ist?



Dr. Ilja Seifert
Eine der naheliegenden Möglichkeiten der zivilen Nutzung von Militärobjekten ist der Bau von Wohnungen auf diesen Grundstücken, insbesondere dann, wenn sie ohnehin in bewohnten Gebieten, also in Städten, liegen. Da Kasernen in aller Regel verschiedene Produktions- bzw. Reparatureinrichtungen haben, ist auch eine Verbindung von Wohn- und Arbeitsplatz durchaus gegeben.

(V o r sitz : Vizepräsident Hans Klein)

Die vorliegenden SPD-Anträge, insbesondere der zweite, fordern die verbilligte Abgabe der Grundstücke an die Kommunen, damit sie für den sozialen Wohnungsbau nutzbar werden. Ich gehe im Namen der PDS/Linke Liste aber noch weiter und verlange die kostenlose Übergabe zumindest im Osten Deutschlands; denn die Kommunen dort können auch die Preise von 20 % des Verkehrswertes nicht aufbringen. Selbst die kostenlose Übergabe stellt die Kommunen bei ihrer katastrophalen Finanzausstattung vor fast unlösbare Probleme.
Die Aufgabe der Politik besteht meines Erachtens u. a. darin, das Menschenrecht auf angemessenen Wohnraum für jedermann tatsächlich zu gewährleisten, sowie darin das Wohnumfeld menschengerecht zu gestalten. „Menschengerecht" heißt: für Eltern und Kinder, für Alte und Jugendliche, für Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen, für Familien und Singles, für Frauen und Männer, für Deutsche und Ausländer, für Arbeiter, Angestellte, Freiberufler, für alle Menschen also: Platz, Freiraum für die Entfaltung aller Menschen, ohne Diskriminierung gegen irgendwen.
Aber dem stehen die wachsende Zinsbelastung und die rapide steigenden Grundstückspreise gegenüber, die den Wohnungsbau für die breite Masse der Bevölkerung unbezahlbar machen. In der von der Bundesregierung mit dem Finanzplan 1991-1995 vorgelegten Projektion wird dies mit vornehmer Zurückhaltung wie folgt umschrieben:
Im Vergleich ... dürfte die Wohnungsbautätigkeit angesichts gestiegener Bau- und Finanzierungskosten trotz eines nach wie vor hohen Wohnungsbedarfs nur unterproportional zunehmen.
Mit dieser Erklärung kapituliert die Bundesregierung in der Frage der Sicherung bezahlbarer Wohnungen für alle vor den Profitinteressen des Großkapitals und der Grundstücksspekulanten. Wir als Abgeordnete dürfen das nicht zulassen.
Der vorliegende Antrag kann sicher nicht als umfassende Lösung der Finanzierbarkeit des sozialen Wohnungsbaus betrachtet werden, aber sehr wohl als ein Schritt in die richtige Richtung. Zumindest ist er geeignet, das ungebremste Überwälzen der Grundstückspreise auf die Mieten etwas zu dämpfen. Ausgehend von der Situation in den neuen Bundesländern sind wir jedoch der Auffassung, daß er unzureichend ist. Vergegenwärtigen wir uns die Situation: Die Bevölkerung der DDR hatte nur wenig Gelegenheit, Ersparnisse anzusammeln; das Wenige wurde mit der Währungsunion noch halbiert. Angesichts der katastrophalen Wirtschaftslage, der Massenarbeitslosigkeit und generell niedriger Einkommen verfügt nur ein winziger Bruchteil der Bevölkerung der Ostländer über ein Einkommen, welches den Erwerb von Wohnungseigentum oder die Bezahlung von Mieten in sogenannten freien Wohnungen zuläßt.
Die Finanzausstattung der Kommunen reicht noch nicht einmal aus, um allen gesetzlichen Verpflichtungen nachzukommen. Woher also sollen sie das Geld nehmen, um Grundstücke zu kaufen, selbst wenn diese billiger sein sollten als der sogenannte Verkehrswert?
Das alles zwingt zu der Schlußfolgerung: In den neuen Bundesländern sind solche Grundstücke und Wohngebäude, die dem Bund aus dem staatlichen Vermögen der DDR zugefallen sind oder die ihm durch den Abzug der sowjetischen Streitkräfte noch zufallen werden, die für den sozialen Wohnungsbau oder andere gemeinnützige Zwecke benötigt werden, den Kommunen grundsätzlich kostenlos zu übertragen. Was die durch die Reduzierung der Streitkräfte und den Truppenabzug frei werdenden Wohnungen angeht, so fordern wird ebenfalls die kostenlose Übergabe in die Verfügungsgewalt der Kommunen und den vordringlichen Einsatz öffentlicher Mittel für die Sanierung des Bestandes.
Die Konversion bietet also den Kommunen eine große Chance, ihre Kreativität zu beweisen. Dazu bedürfen sie jedoch der Unterstützung der Bundesregierung, z. B. wie gesagt, durch die kostenlose Übergabe der Grundstücke.
Wir als Parlamentarier haben die Pflicht, darauf zu achten, daß hier nicht eine neue Quelle für riesige Spekulationsgewinne erschlossen wird, sondern daß wir dem Ziel, das Menschenrecht auf angemessenen Wohnraum zu gewährleisten, näherkommen.
Gestern, in der Aktuellen Stunde, forderte ich die Bundesbauministerin auf, Wohnungen zu bauen und keine Luftschlösser. Heute füge ich hinzu: Errichten wir Kinderspielplätze auf Festungsgeländen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204105200
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Walter Hitschler.

Dr. Walter Hitschler (FDP):
Rede ID: ID1204105300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine gute Außenpolitik und für uns glückliche Entwicklungen haben es ermöglicht, daß große Truppenteile unserer bisher in der Bundesrepublik stationierten alliierten Verbündeten abgezogen werden können und daß wir unsere eigenen Streitkräfte erheblich reduzieren können.
Für die alliierten Streitkräfte ist noch nicht in vollem Umfang bekannt, welche Standorte wo und wann aufgelassen werden. Für die Bundeswehr liegt das Ressortkonzept, das Planungssicherheit gewährleistet, vor. Für den Teil der zivilen Verwaltung ist eine Konzeption in Arbeit. Dadurch werden bisher militärisch genutzte Liegenschaften frei und stehen für eine zivile Anschlußnutzung zur Verfügung.
Das ist ein Teil der Friedensdividende, von der Hans-Dietrich Genscher immer gesprochen hat. Es kommt jetzt darauf an, sie nicht zu verplempern, sondern als Chance für den Strukturwandel zu begreifen



Dr. Walter Hitschler
und zu nutzen. Die Dividende hätte sicher hier und da noch etwas reichlicher ausfallen können, wenn es bei der Erstellung des Ressortkonzepts gelungen wäre, statt lediglich zu vielfacher Ausdünnung von Standorten zur verstärkten Zusammenlegung und Konzentration von Einheiten zu kommen.
Auch hätten wir uns gewünscht, daß der Grundsatz des Entsatzes von Ballungsgebieten und der Belassung von Einheiten in strukturschwachen Regionen stärkere Berücksichtigung gefunden hätte. Wir wissen allerdings auch, daß das ein schwieriges Geschäft war, bei dem sich viele Interessenlagen gekreuzt haben.

(Beifall bei der FDP)

Der Truppenabbau hat in vielen Regionen überwiegend wünschenswerte Effekte, insbesondere in Ballungsgebieten mit entlastenden Wirkungen auf den Arbeits- und Wohnungsmärkten. In strukturschwachen Räumen hingegen ist der Truppenabzug mit erheblichen negativen Auswirkungen im Blick auf entfallende Arbeitsplätze und auf die Wohnungsmärkte durch Kaufkraftentzug und durch den Wegfall von Aufträgen an die mittelständische Wirtschaft verbunden.
Diese Entzugseffekte werden dabei zu einem Zeitpunkt wirksam, in dem auch andere Hilfen, beispielsweise durch Umschichtungen von Mitteln für den Straßenbau, den Wohnungsbau oder die Städtebauförderung, entfallen sowie die Mittel aus dem Strukturhilfegesetz umgelenkt werden.
Die strukturschwachen Regionen werden davon zum Teil in erheblichem Ausmaß betroffen. Drei Zahlen mögen dies verdeutlichen: Der Anteil der Ausgaben der Stationierungsstreitkräfte an der Bruttowertschöpfung einer Region macht beispielsweise im Landkreis Osterholz in Niedersachsen zwischen 8 und 10,7 % insgesamt aus. Im Landkreis Kitzingen in Bayern sind es zwischen 9,7 % und 12,9 % und im Landkreis Kaiserslautern in Rheinland-Pfalz zwischen 24,6 und 33,0 % insgesamt. Das heißt, die Wirkungen kumulieren und häufeln sich zu echten Problemsituationen.

(Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: So ist es, Herr Kollege!)

Wir sind daher der Auffassung, daß der Bund, aber wirklich beschränkt auf gravierende Fälle, flankierend helfen muß, um einen sinnvollen Strukturwandel zu ermöglichen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Bundeswirtschaftsminister wird deshalb aufgefordert, umgehend ein Programm vorzustellen, das für strukturschwache Regionen Hilfen zum begleitenden Strukturwandel hin zur zivilen Anschlußnutzung bisher militärisch genutzter Flächen vorsieht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Initiative und Entwicklungsplanung dazu muß selbstverständlich vor Ort geleistet werden. Bund, Länder und Kommunen haben dabei bereits zusammengearbeitet und müssen dies auch weiterhin tun.
Die flankierenden Maßnahmen sollten geeignet sein, die sozialen Auswirkungen zu mildern und die räumliche und wirtschaftliche Struktur eines Standortes zu verbessern.
Große Sorgen bereitet dabei die Handhabung der Verwertung des dem Bund zugefallenen Grundvermögens und seiner Aufbauten. In diesem Zusammenhang müssen wir die Erfüllung verschiedener Forderungen bei der Bundesregierung reklamieren:
Erstens. Wir wollen sichergestellt wissen, daß eine unverzügliche Anschlußnutzung durch die Bundesvermögensverwaltung in der Praxis auch tatsächlich gewährleistet wird.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Zweitens. Die Bundesvermögensverwaltung sollte sich bei der Grundstücksverwertung, da sie erfahrungsgemäß dazu alleine nicht in der Lage ist, der Hilfe erfahrener Fachleute und Institutionen bedienen können. Gegebenenfalls sollte der Bund diese Aufgabe den Ländern in Auftragsverwaltung übertragen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Drittens. Die Bundesregierung muß Vorsorge dafür treffen, daß wertvolle Gebäulichkeiten und technische Anlagen, beispielsweise auf Flugplätzen, gewartet, instand gehalten und bewacht werden, damit sie weder dem bevorstehenden Winter noch dem Vandalismus zum Opfer fallen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Viertens. Der Verkauf von Liegenschaften darf weder durch langwierige Verkehrswertermittlungen noch durch jahrelange Aufrechnungsverhandlungen mit den Alliierten

(Beifall der Abg. Brigitte Schulte [Hameln] [SPD])

über Kosten der Altlastenbeseitigung hie und Bewertung der Aufbauten da verzögert werden.

(Zurufe von der SPD: Richtig! — Sehr gut! — Da bewegt sich ja etwas!)

Fünftens. Das zu erwartende Altlastenproblem darf nicht dazu führen, daß eine sinnvolle zivile Verwertung auf Jahre blockiert bleibt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD — Otto Reschke [SPD]: Wenn Sie so weitermachen, kann ich meine Rede wegwerfen!)

Die Altlastenbeseitigung sollte vom Bund aus dem Topf der Erlöse aus dem Verkauf dieser Grundstücke mitfinanziert werden.

(Beifall bei der FDP)

Sechstens. Beim Verkauf sind Rückerwerbswünsche der früheren Eigentümer des Grund und Bodens, die in vielen Fällen enteignet wurden, angemessen zu berücksichtigen, sofern diese nicht bereits einen Anspruch aus der Rückenteignungsklausel des § 57 des Landbeschaffungsgesetzes geltend gemacht haben oder geltend machen.



Dr. Walter Hitschler
Eine Bevorzugung der Kommunen, wie viele sie wünschen, kann unsererseits bei der Grundstücksverwertung aber keineswegs in Frage kommen.

(Beifall bei der FDP)

Da den Kommunen jedoch die Planungshoheit über die Grundstücke zusteht, ist auf ein enges Zusammenwirken mit ihnen Bedacht zu nehmen.
Die Bereitschaft des Bundesfinanzministers, erhebliche Preisabschläge vom Verkehrswert einzuräumen, wenn die Grundstücke bestimmten sozialen Zwecken dienen sollen, wird von uns besonders begrüßt. Wir machen darüber hinaus den Vorschlag, den verbleibenden Restwert, der bar zu entrichten wäre, in Form einer Sachleistung des Bundes als seinen Förderanteil vorrangig privaten Investoren oder den Kommunen über die Länder als Finanzhilfe des Bundes zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus und der studentischen Wohnraumversorgung zur Verfügung zu stellen.

(Beifall bei der FDP)

Nur auf diese Weise kann unseres Erachtens gewährleistet werden, daß auch tragbare Sozialmieten kalkuliert werden und daß dann ausschließlich die Ausbau- und Umbaukosten einer solchen Modernisierung die Höhe der Miete bestimmen. Gerade die sozial Schwächsten, die mit Wohnberechtigungsschein mit Dringlichkeit, könnten davon in erheblichem Maße profitieren. Sie wissen, daß wir an den Wohnungsmärkten bei der Versorgung dieser Problemgruppen auch tatsächlich die größten Schwierigkeiten haben.
Die beiden vorliegenden Anträge der Opposition bedürfen der genauen Prüfung in den Ausschüssen. Ich verkenne nicht, daß sie Elemente enthalten, die diskussionsfähig sind; aber nach dem, was ich ausgeführt habe, ist, glaube ich, auch hinreichend deutlich geworden, daß wir sie in vielen Einzelpunkten, wie wir das eben von der Opposition leider auch gewohnt sind, für maßlos überzogen halten. — Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU — Walter Kolbow [SPD]: Der Schluß war nicht so gut, aber sonst . . .! — Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Es kann noch etwas werden!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204105400
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, Klaus Beckmann.

Klaus Beckmann (FDP):
Rede ID: ID1204105500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wie wir alle wissen, ist Oppositionsarbeit ja oft mit Enttäuschungen verbunden,

(Walter Kolbow [SPD]: Ja, Sie haben sie schon lange nicht mehr gemacht! — Otto Reschke [SPD]: Opposition kommt von Opfer!)

weil der Oppositions-Hase meistens etwas später am
Ziele ankommt als der Regierungs-Igel. Mit einem solchen Problem haben wir es auch im vorliegenden Fall zu tun.

(Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Das ist aber ein Witz!)

Der Antrag der SPD-Fraktion zu Tagesordnungspunkt 7 a läuft in weiten Teilen Überlegungen bzw. Planungen der Bundesregierung für das Konversionsprogramm hinterher;

(Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Das ist ein Witz, Herr Kollege Beckmann!)

zum anderen werden vom Bund Aktivitäten gefordert, die in den Kompetenzbereich der Länder fallen.
Lassen Sie mich grundsätzlich folgendes feststellen. Erstens. Wir alle haben die Abrüstung gewollt; denn sie bringt uns nicht nur mehr Sicherheit, sondern setzt auch in erheblichem Maße Ressourcen für wichtigere Zwecke frei. Zweitens. Wir alle wissen, daß die Abrüstung für viele Regionen kurzfristig mehr Vorteile als Belastungen mit sich bringt. Dies gilt insbesondere für die Ballungsgebiete. Das Wort Friedensdividende
— eben schon aufgegriffen — ist mit Sicherheit kein leeres Wort.
Ich möchte mich auf einige wesentliche Punkte des Antrages der SPD-Fraktion beschränken:
Erstens. Die Bundesregierung soll dem Antrag zufolge eine umfassende Strukturanalyse der Standorte der Bundeswehr und der Stationierungsorte der ausländischen Streitkräfte vorlegen, um die regionalwirtschaftlichen Konsequenzen der Abrüstungsschritte beurteilen zu können. Auf der Basis dieser Analyse
— so der Antrag der SPD — soll dann ein umfassendes Sonderprogramm zur Flankierung der Abrüstungsfolgen konzipiert werden. Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, kann dies natürlich machen, wenn das Parlament es ausdrücklich wünscht; nur werden wir wenig mit solchen Strukturanalysen anfangen können,

(Walter Kolbow [SPD]: Ja, Sie nicht!)

denn nach den Regeln des Grundgesetzes liegt die Durchführung regionalwirtschaftlicher Förderprogramme bei den Ländern.

(Zustimmung bei der FDP)

Damit entscheiden auch die Länder über die konkreten Projekte und auch darüber, inwieweit sie die Ergebnisse solcher Strukturanalysen bei der Regionalförderung berücksichtigen.

(Otto Reschke [SPD]: Aber Herr Beckmann, wie sollen die Länder in drei Monaten Konzepte entwickeln?)

— Es ist deshalb eindeutig Aufgabe der Länder, Herr Kollege Reschke, solche Strukturanalysen durchzuführen. Ich gehe auch davon aus — das will ich hier betonen — , daß die Länder diese Analysen bereits durchgeführt haben; denn ansonsten wäre mir unklar, auf welcher Basis denn die Forderungen der Länder gegenüber dem Bund entwickelt worden sind.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Meine Damen und Herren, auch die Bundesregierung ist für ein regionales Flankierungsprogramm im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe, wie es im Pla-



Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann
nungsausschuß bereits am 25. Januar dieses Jahres beschlossen worden ist. Ich komme gleich darauf zurück.
Zum Stichwort „Sozialplan für Berufssoldaten sowie für zivile Beschäftigte bei der Bundeswehr und bei den alliierten Streitkräften" lassen Sie mich folgendes sagen. Wie Sie wissen, hat das Bundeskabinett am 24. Juli dieses Jahres den Entwurf des Personalstärkegesetzes beschlossen. Für die ausscheidenden Berufssoldaten ist damit ein dichtes soziales Netz geknüpft.

(Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Und für die Kantinenmitarbeiter?)

Die Bundesregierung wird damit ihrer Verantwortung gegenüber den Soldaten und ihren Familien gerecht.
Auch die zivilen Beschäftigten bei der Bundeswehr und den alliierten Streitkräften werden nicht durch das soziale Sicherungsnetz fallen.

(Walter Kolbow [SPD]: Na?)

Auf Angestellte und Arbeiter der Bundeswehr sollen die Tarifverträge über den Rationalisierungsschutz angewendet werden. Vorzeitiges Ausscheiden ab dem 55. Lebensjahr soll in Anlehnung an das für die Beamten geltende Anpassungsgesetz erfolgen. Für die zivilen Beschäftigten bei der Truppe wird der geplante Beschäftigungsabbau bis 1995 zu etwa zwei Dritteln abgeschlossen sein. Für die Beschäftigten in der Wehrverwaltung ist ein Zeitraum bis über das Jahr 2000 hinaus vorgesehen.
Die meisten Arbeitnehmer, die bei den Stationierungsstreitkräften entlassen werden müssen, haben Anspruch auf Leistungen nach dem Tarifvertrag „Soziale Sicherung". Dieser Tarifvertrag unterstützt die allgemeinen Maßnahmen zur Wiedereingliederung dieser Arbeitnehmer durch zusätzliche, insbesondere finanzielle Hilfen. Sie sehen also, meine Damen und Herren: Den Sozialplan, den die SPD-Fraktion hier fordert, gibt es bereits.

(Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Das ist doch gar nicht wahr! Es ist nicht annähernd quantifiziert!)

Zum Stichwort „regionalwirtschaftliche Förderprogramme" möchte ich folgendes sagen: Die Bundesregierung ist grundsätzlich bereit, durch regionalwirtschaftliche Förderprogramme dort zu helfen, wo Abrüstungsmaßnahmen einschneidende regionalwirtschaftliche Konsequenzen haben. Die SPD-Fraktion fordert in ihrem Antrag regionale Sonderprogramme. Ich wäre wirklich sehr dankbar gewesen, wenn Sie dies etwas konkreter formuliert hätten, denn auch Ihnen sind die regionalwirtschaftlichen Förderinstrumente des Bundes bekannt. Aber ich denke, vielleicht wollten Sie nur Ihren Parteifreunden in den Landesregierungen nicht in die Parade fahren; denn in den Gesprächen, die wir mit den Ländern geführt haben, wurde sehr deutlich, daß insbesondere den alten Bundesländern an einer Neuauflage des Strukturhilfegesetzes liegt, und zwar mit der Folge, daß der Bund im Grunde keine Möglichkeit hätte, sicherzustellen, daß die Mittel auch wirklich dort ankommen, wo sie gebraucht würden. Meine Damen und Herren, gerade jetzt wäre es abwegig, die knappen öffentlichen Mittel nach dem Gießkannenprinzip zu verteilen.
Die Bundesregierung hält es strukturpolitisch für sinnvoller, die bestehenden bewährten regionalpolitischen Förderinstrumente zu nutzen und zu verstärken. Deshalb denken wir ganz besonders an folgende Fördermaßnahmen zur regionalpolitischen Flankierung der Abrüstungsfolgen:

(Walter Kolbow [SPD]: Jetzt sind wir aber gespannt!)

erstens an ein Sonderprogramm im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" und zweitens an ein Sonderprogramm für städtebauliche Sanierung und Entwicklungsmaßnahmen in strukturschwachen Gebieten.

(Walter Kolbow [SPD]: Zu wenig! — Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Wie finanziert?)

Ein weiteres Stichwort, meine Damen und Herren, betrifft die Sanierung von Altlasten auf militärischen Liegenschaften.

(Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Das ist doch Ihre Aufgabe!)

Lassen Sie mich diesbezüglich ein Wort zur Rechtslage sagen: Freiwerdende militärische Liegenschaften gehen in die allgemeine Vermögensverwaltung des Bundes über. Als Eigentümer ist der Bund für die Altlasten, für die Gefahrenabwehr und grundsätzlich auch für die Altlastensanierung zuständig. Er ist aber nicht verpflichtet, die Liegenschaften um jeden Preis und sofort zu sanieren. Der Bundesminister der Verteidigung erfaßt deshalb zur Zeit sämtliche Altlastenverdachtsflächen und ermittelt den Bedarf an Gefahrenabwehr.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung setzt sich darüber hinaus aktiv für eine zügige zivile Anschlußnutzung der militärischen Liegenschaften ein. Sie ist deshalb auch bereit, Preisabschläge für Liegenschaften mit Altlasten in Höhe der Sanierungskosten, maximal bis zur Höhe des Verkehrswerts, zu gewähren. Über die verbilligte Abgabe von bundeseigenen Liegenschaften wird gleich noch mein Kollege Carstens sprechen.
Meine Damen und Herren, der heute von der SPDFraktion eingebrachte Antrag zu Tagesordnungspunkt 7 a kann der Bundesregierung leider keine neuen Wege für ein wirksames Konversionsprogramm weisen. Wir, die Bundesregierung, werden tun, was notwendig ist.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204105600
Frau Abgeordnete Brigitte Schulte, Sie haben das Wort.

Brigitte Traupe (SPD):
Rede ID: ID1204105700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als die SPD-Fraktion, Herr Kollege Beckmann, am 1. Juli 1991 ihren Antrag zum Ausgleich der Folgen von Abrüstung, Truppenreduzierung und Standortauflösung in strukturschwachen Gebieten einbrachte, da hatte sie noch die Hoffnung, daß so schwierige Fragen im Konsens zwischen Regie-



Brigitte Schulte (Hameln)

rung und Opposition einvernehmlich behandelt werden könnten. Es war jedoch ein Irrtum. Der Bundesverteidigungsminister, der heute morgen vom Konsens in der Verteidigungspolitik gesprochen hat, hat am 5. August verkündet, wo er die Truppenreduzierung in den nächsten drei Jahren vornehmen will. Berechtigte Wünsche der Länder, berechtigte Wünsche besonders betroffener Regionen wurden so gut wie gar nicht berücksichtigt. Die Länder hatten gar nicht die Chance, eine anständige Analyse vorzubereiten. Im übrigen bleibt dabei festzustellen: Was die Bundeswehr hier vorlegt, verantwortet vom Bundesministerium der Verteidigung und von seinem Minister, ist ein reines Reduzierungskonzept. Es hat nichts mit einer zukunftsweisenden Bundeswehrstruktur zu tun.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der FDP: Sie hatten gar kein Interesse daran!)

— Wir hatten sehr viel Interesse daran. Sie reden hier das Gegenteil von dem, was Sie genau wissen.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Niedersachsen!)

— Ich bin u. a. Vorsitzende der sicherheitspolitischen Kommission in Niedersachsen.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Sie ja, aber nicht der Ministerpräsident!)

— Der hatte ein großes Interesse. Wir haben das sehr genau abgestimmt.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition — —

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

— Das war ein vorauseilender Wunsch, aber es wird ja bald so sein, wenn Sie so weitermachen.

(Beifall bei der SPD)

Alle Folgen, die die betroffenen Gemeinden, die Regionen und die Länder durch den raschen Abbau
— unkoordiniert übrigens zwischen den Streitkräften unserer Partner und der Bundeswehr — zu tragen haben, hätten wir gemeinsam bedenken müssen, denn sie werden außerordentlich schwierig werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204105800
Herr Kollege Koppelin zu einer Zwischenfrage.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1204105900
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, daß bei Sitzungen des Verteidigungsausschusses auch die Länder Vertreter entsenden können? Dann hätten sie natürlich die Diskussionen miterlebt, die wir im Verteidigungsausschuß hatten. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß nur die Länder Bayern und Baden-Württemberg regelmäßig Vertreter bei den Sitzungen des Verteidigungsausschusses hatten?

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört! — Zuruf von der FDP: Das ist sehr interessant!)


Brigitte Traupe (SPD):
Rede ID: ID1204106000
Herr Koppelin, gerade bei diesen wichtigen Fragen möchte ich Ihnen sagen: Nehmen Sie zur Kenntnis, daß der Vertreter
Niedersachsens anwesend war und daß er auch am 5. August da war.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

— Entschuldigung, ich kenne ja nun die Mitarbeiter der Ministerien! Auch schon vorher haben wir diese Zusammenarbeit angestrebt. Eine seriöse Beratung war aber nicht möglich. Ein so unfaires Umgehen des Bundes mit den Ländern und den durch sie vertretenen Kommunen hätte ich mir nicht träumen lassen.

(Beifall bei der SPD)

Ich stelle mir vor, wir Sozialdemokraten hätten in der Verantwortung so etwas getan!

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204106100
Erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage?

Brigitte Traupe (SPD):
Rede ID: ID1204106200
Bitte.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1204106300
Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir zwar am 5. August darüber beraten haben und daß Niedersachsen da auch vertreten war,

(Zuruf von der SPD: Aha!)

daß ich mir aber die Anwesenheitslisten der Länder angeschaut und festgestellt habe, daß auch Schleswig-Holstein so gut wie nie daran beteiligt war?

Brigitte Traupe (SPD):
Rede ID: ID1204106400
Also, das kann ich nicht sagen. Das machen Sie bitte unter sich aus.
Das Entscheidende ist ganz schlicht, daß die Länder, um die wir uns kümmern, genauso betroffen waren und daß sich sozialdemokratisch geführte Länder wie christdemokratisch und christlich-sozial geführte Länder schlecht behandelt fühlen, und dies zu Recht.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wo sind die Vertreter der Länder denn heute?)

Lieber Herr Kollege Beckmann, es wird ja sogar noch ein Stück dreister. Was ist denn hier in bezug auf die Forderung, daß tatsächlich eine finanzielle Entlastung der Kommunen und der betroffenen Regionen durch den Bund erfolgen muß, passiert? In den Verhandlungen des Vermittlungsausschusses und auf Druck der Minister — unter Unterstützung übrigens der süddeutschen Länder — ist Ihnen abgetrotzt worden, daß überhaupt ein Fonds eingerichtet wird. Bis dahin haben Sie gar nichts vorliegen gehabt! Obwohl allen im Bundesministerium der Verteidigung und in der Bundesregierung klar war, daß besonders die ländlichen Räume durch die Reduzierung betroffen sein werden, gab es keine Vorschläge zur Konversion.
Das, was Sie heute vorlegen und worüber meine Kollegen noch ausführlich reden werden, reicht überhaupt nicht aus. Sie sind zum Jagen getragen worden, weil es entsprechenden Protest und glücklicherweise auch eine andere Zusammensetzung des Bundesrates gibt. Da können wir uns erfreulicherweise, Herr Kollege Hinsken, zwar nicht so sehr auf Sie, aber, so denke ich, doch auf das Land Bayern, verlassen.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Auf Ernst Hinsken kann man sich auch immer verlassen!)




Brigitte Schulte (Hameln)

— Sonst ja, aber heute bei der Rede kann ich das ausdrücklich nicht sagen.
Besonders erfreut war ich in diesem Zusammenhang darüber, daß auch die Kommandeure vor Ort, Herr Staatssekretär, der Sie heute das Bundesministerium der Verteidigung vertreten, die Probleme gesehen haben, die in ländlichen Räumen durch eine starke Reduzierung eintreten. Das hat nicht dazu geführt, daß es bis Bonn weitergegeben worden ist und daß es sich in Bonn entsprechend ausgewirkt hat.
Meine Damen und Herren, wie unausgewogen, wie wenig sorgfältig, wie überhaupt in den Folgen nicht abzuschätzen die bisherigen Pläne der Bundesregierung sind, ist auch daraus erkennbar, daß wir bis zum heutigen Tage nicht wissen, wo die zivile Verwaltung der Bundeswehr abgebaut wird und welche Folgen das für die Region zusätzlich hat. Ich will Ihnen nur ein paar Beispiele sagen.
Diese sehr schwierige Frage der Reduzierungen, die ganz besonders ländliche Räume treffen wird — niemand von uns ist doch unglücklich darüber, daß wir über Abrüstung reden können, und niemand ist doch auch traurig darüber, daß Regionen betroffen sind, die durch die Spannungszeiten, die wir vorher hatten, ganz besonders mit militärischen Einrichtungen belastet waren.
Da denke ich genauso an Rheinland-Pfalz wie an Bayern, an Nordhessen, an Niedersachsen oder an Schleswig-Holstein. Aber dieser gravierende Abbau ist eben, Herr Kollege Beckmann, der Verlust von tausenden Dauerarbeitsplätzen. Wenn Sie mal Weser-Ems nehmen: Dort haben Tausende von Menschen gewußt: Wenn ich als Unteroffizier und Feldwebel zur Bundeswehr gehe, dann habe ich da mein Einkommen; ich werde in meinem Umkreis bleiben. Für den gibt es keinen neuen Arbeitsplatz. Ich muß Ihnen ehrlicherweise sagen: Wenn in einem Bundesland wie Niedersachsen — deswegen wundert es mich, daß der Handwerksmeister darüber nichts gesagt hat, denn Bayern ist genauso betroffen — früher über 100 000 Soldaten ernährt wurden, 100 000 Soldaten untergebracht wurden, und es werden jetzt nicht mal 60 000 sein —,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Ihr seid doch für viel mehr Abrüstung gewesen!)

dann trifft es ganz besonders Handwerk und Handel. Wenn von 33 000 Bediensteten am Ende 20 000 übrigbleiben werden, dann sind das Dauerarbeitsplätze, die Sie nicht ersetzen können. Dafür hätten Vorbereitungen getroffen werden müssen, und die sind nicht erfolgt.

(Abg. Günther Friedrich Nolting [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204106500
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Brigitte Traupe (SPD):
Rede ID: ID1204106600
Nein, nicht mehr.
Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Kollege: Es geht nicht um den Berufsoffizier, es geht auch nicht um den zivilen Mitarbeiter im höheren Dienst, es geht um die Kantinenfrau, die mit 40 Jahren keinen neuen Arbeitsplatz findet. Es geht um den Sachbearbeiter einer Standortverwaltung, der seine Lebensplanung anders eingestellt hat. Es geht, Herr Kollege, wirklich auch um den Arbeiter, der mehr als 30 Jahre die Pflege der Plätze vorgenommen hat und der jetzt mit 45 bis 50 Jahren sagt: Er findet keinen neuen Arbeitsplatz. Ich sage Ihnen: Das ist es, worum es wirklich geht.

(Beifall bei der SPD)

Die Entlastungswirkungen in den Ballungsräumen begrüßen wir wohl alle, weil das in der Tat notwendig ist. Ich habe mich zunächst auch gefreut, Herr Kollege Glos, daß nicht der hier angesprochene Finanzminister, dem gedankt wurde, sondern Haushalts- und Verteidigungskollegen der Union und der FDP am 19. Juni den Versuch unternommen haben, wenigstens eine Verbilligung der Liegenschaften vorzunehmen. Offensichtlich sind die alle weit weg von der finanziellen Lage der Kommunen, offensichtlich wissen sie alle nicht, wie groß eigentlich der Wert der Grundstücke ist! Offensichtlich wissen sie nicht, daß fast alle Kommunen diese attraktiven Grundstücke in den Innenstädten nicht bezahlen können, dafür aber auf dem flachen Land, wo viele Flächen frei werden, überhaupt keine Interessenten da sind, um diese zu kaufen.
Ich hatte am Anfang, Herr Kollege Dr. Hitschler, gehofft, daß Sie Ihre wirklich guten Ansätze auch konsequent durchführen würden. Das hat mir gefallen. Nur haben Sie hinterher gesagt, die Kommunen könnten da keine Vergünstigung haben. Ich bitte Sie sehr herzlich: Denken Sie darüber nach, wie Sie für eine Stadt wie Wilhelmshaven oder eine Stadt wie Oldenburg, traditionell militärische Standorte, am Ende wirklich neue Arbeitsplätze schaffen können. Wenn wir auch den 55jährigen nach Hause gehen ließen, so haben der Sohn oder die Tochter noch nicht den Arbeitsplatz, den sie früher bei der Bundeswehr gefunden hätten. Dies möchten wir Ihnen sehr ans Herz legen. Sozialdemokraten sind im Interesse der betroffenen Region, im Interesse der Arbeitnehmer keineswegs dazu bereit, hier nur düstere Prognosen zu malen. Wir wären auch bereit gewesen, gemeinsam in einem Konsens diese Aufgaben zu lösen. Sie haben die ausgestreckte Hand abgelehnt. Sie tragen die Folgen. Und wir werden das draußen deutlich sagen.

(Beifall bei der SPD — Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Für das Negative waren schon immer wir zuständig!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204106700
Das Wort hat die Abgeordnete Elke Wülfing.

Elke Wülfing (CDU):
Rede ID: ID1204106800
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wie ist es doch verwunderlich, in was für einem hektischen Aktionismus sich inzwischen die SPD befindet, wenn es um das Thema Abrüstung und seine Folgen geht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Am 25. Juni hat die SPD eine Kleine Anfrage gestellt,
zu deren Beantwortung allein 42 eng beschriebene



Elke Wülfing
DIN-A-4-Seiten erforderlich waren. Die Antwort liegt seit dieser Woche vor.

(Zuruf der Abg. Brigitte Schulte [Hameln] [SPD])

— Offensichtlich haben Sie die Antworten schon vorher gewußt. Denn Sie haben Ihren Antrag, den wir heute beraten, fünf Tage nach Stellung der Anfrage eingebracht. Dort sind Forderungen enthalten, die durch die Beantwortung Ihrer Kleinen Anfrage und die Beantwortung der Kleinen Anfrage der CDU/CSU vom 4. Juni 1991 schon erledigt waren. Hätten Sie etwas mehr Geduld bewiesen, hätten Sie heute besser ausgesehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Sagen Sie das den Menschen draußen!)

— Ich bin noch nicht fertig.
Außerdem kann ich die Horrorvisionen von leergeräumten Landschaften und armen Kommunen, die auf Grund des Truppenabbaus Ihrer Meinung nach entstehen werden, verehrte Vorrednerin, so wirklich nicht teilen. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß gerade Sie es waren, die seit Jahren Truppenabbau in weit größeren Ausmaß gefordert haben, ohne sich auch nur im mindesten Gedanken darüber zu machen, wie das auf die Betroffenen wirkt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP — Dieter Heistermann [SPD]: Wer hat Ihnen das aufgeschrieben?)

— Entschuldigen Sie, ich bin Tochter eines Offiziers. Ich habe unter Ihnen oft genug leiden müssen. So etwas lasse ich mir nicht sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Uwe Küster [SPD]: Das geht zu weit! — Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Unverschämt! — Weitere Zurufe von der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204106900
Verzeihung, Frau Kollegin. Ich darf Sie vielleicht einen Moment unterbrechen. Ich bin immer für Munterkeit bei Auseinandersetzungen.

(Walter Kolbow [SPD]: Unsere Leidensfähigkeit ist auch zu Ende!)

Nur, Frau Kollegin Schulte, waren Sie in Ihrer Rede nicht schüchtern. Dann brauchen Sie bei der Antwort auch nicht so heftig zu reagieren.

(Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Daß wir nichts für die Soldaten gemacht haben, Herr Präsident!)


Elke Wülfing (CDU):
Rede ID: ID1204107000
Ich erinnere mich sehr gut an die Demonstrationen, die Sie zum Teil angeführt haben. Ich muß ganz ehrlich sagen: Meine Gefühle als Offizierstochter meinem Vater gegenüber waren doch andere als die, die Sie heute äußern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir freuen uns auch weiterhin darüber, daß auf Grund der großartigen Entwicklung, die Bundeskanzler Kohl und Michail Gorbatschow am Kaukasus eingeleitet haben, die Truppen in ganz Deutschland und in Ost- und Westeuropa reduziert werden können. Wir freuen uns ebenfalls darüber, daß wir nun wieder ein souveräner Staat sind, der in gleichberechtigter Partnerschaft selbst bestimmen kann, wie unsere Verteidigungsbereitschaft auszusehen hat. Deswegen sind wir ebenfalls froh, daß sich Teile unserer Industrie von der Rüstungsgüterproduktion auf die zivile Produktion umstellen können.
Ich wundere mich allerdings über die plötzliche Sorge der SPD um die Rüstungsindustrie. So haben Sie das bisher noch nie an den Tag gelegt. Ich wundere mich auch darüber, daß Sie die Einsparungen im Verteidigungshaushalt, die erst in den kommenden Jahren entstehen werden und entstehen können, mit Ihrer Forderung nach regionalen Sonderprogrammen, die in regionalen Konversionskonferenzen an sogenannten runden Tischen erarbeitet werden sollen, zum hunderttausendsten Mal verteilen wollen. Es wäre sicherlich eine Fleißarbeit wert, nachzuzählen, wie viele Verwendungszwecke Sie für diese Einsparungen inzwischen gefunden haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Folgen des Truppenabbaus in den einzelnen Regionen unseres Landes bringen für die Länder und Kommunen sowohl große Chancen als durchaus auch Risiken mit sich. Hier gehen wir mit Ihnen konform.
Die Chancen bestehen z. B. im Bereich des Grundstücks- und Wohnungsmarktes. Es ist wirklich nicht so, als hätten wir zu viele Grundstücke und Wohnungen, wie Sie das gestern in der Aktuellen Stunde zum Wohnungsbau und eben hier nochmals zum Ausdruck gebracht haben. Hier haben wir also eine Chance.
Eine zweite Chance besteht vor allen Dingen im Bereich der weniger belasteten Infrastruktur. Das ist sicherlich in unser aller Sinne, vor allen Dingen, wenn es um die Verkehrsinfrastruktur geht. Die Chancen bestehen ferner im Umweltbereich, wenn z. B. in der freien Landschaft nicht mehr soviel geübt werden muß. Vielleicht können wir sogar den einen oder anderen Standort oder Truppenübungsplatz in ein Naturschutzgebiet verwandeln. Diese Forderung unterstützen wir, auch wenn sie von der SPD kommt.
Außerdem haben wir in den alten Bundesländern, wie Sie alle wissen, einen großen Facharbeitermangel, der durch die entlassenen Soldaten und zivilen Mitarbeiter zum Teil wieder ausgeglichen werden kann. Trotzdem ist auch die CDU/CSU-Fraktion der Ansicht, daß wir in den strukturschwächeren Räumen für die ausfallende Kaufkraft und für die ausfallenden Aufträge beim örtlichen Handel und Handwerk Kompensationsmöglichkeiten brauchen.

(Zuruf von der SPD: Welche?)

— Ich bin ja noch nicht fertig. Seien Sie doch mal ruhig, hören Sie ein bißchen zu. Ich habe Ihnen auch zugehört.
Dazu dient als erstes die verbilligte Abgabe bundeseigener Liegenschaften für Zwecke des sozialen Wohnungsbaus, für sonstige soziale Zwecke, in Einzelfällen sogar für die Städtesanierung. Die Verbilligungen gehen, wie wir eben von Herrn Beckmann gehört haben und von Herrn Carstens gleich sicherlich noch hören werden, je nach Verwendungszweck



Elke Wülfing
von 15 % über 30 % und 50 % bis zu 75 % in den neuen Bundesländern.
Wichtig für Liegenschaften in den neuen Bundesländern sind außerdem Stundungsmöglichkeiten sowie die Möglichkeiten über einen verbilligten Erbbauzins in bestimmten Fällen wie z. B. beim Wohnungsbau und auch beim Studentenwohnungsbau.
Neben diesen verbilligten Grundstücksverkäufen ist natürlich eine regionalpolitische Flankierung nötig. Da aus gutem Grund die Regionalpolitik eine Sache der Länder ist, die ja häufig vor Ort besser Bescheid wissen, sind Länder und Kommunen frühzeitig an der Stationierungsplanung beteiligt worden.

(Zuruf von der SPD: Das ist nicht richtig!)

— Genauso ist es. Außerdem hätten Sie sich als Abgeordnete zum Fürsprecher Ihrer Region machen können. Warum haben Sie das eigentlich nicht getan?

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Welche Veranstaltung haben Sie denn hier erwartet?)

Außerdem werden zur Zeit in ständig laufenden Verhandlungen seitens der Bundesregierung und der Länderregierungen die Möglichkeiten ausgelotet, wie denn eine regionalpolitische Flankierung aussehen kann.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Sie besteht im Bereich von Sonderprogrammen der Gemeinschaftsaufgabe, wie Herr Beckmann das hier eben schon angeführt hat. Daneben kann natürlich auch ein Programm nach Art. 104a des Grundgesetzes gewährleistet werden. Die Regionen, die hiervon profitieren würden, müssen nicht unbedingt identisch sein.
Wie man eben gehört hat, sind die Interessen bezüglich dieser beiden unterschiedlichen Sonderprogramme in den alten und den neuen Bundesländern ebenfalls sehr unterschiedlich. Die neuen Bundesländer wünschen sich vor allem Investitionshilfen aus dem Sonderprogramm der Gemeinschaftsaufgabe. Das ist auch verständlich, denn die Regionen sind alle von diesem Programm erfaßt. Die alten Bundesländer sind eher an einem Sonderprogramm nach Art. 104 a des Grundgesetzes interessiert, da sie dann die Möglichkeit haben, erstens selbst mehr Einfluß zu nehmen und zweitens zusätzlich zur Gemeinschaftsaufgabe Fördermittel zu erhalten.
Nun bin ich als Nordrhein-Westfälin, was derartige Strukturhilfemittel angeht, selbstverständlich ein gebranntes Kind. Ich sehe schon wieder kommen, in welcher Manier die SPD-Landesregierung in Nordrhein-Westfalen die Bundesmittel austeilt, nämlich nach dem Motto: Die böse Bundesregierung nimmt euch die Soldaten weg, deswegen müssen wir, die SPD-Landesregierung, jetzt Wohltaten über euch verteilen.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So machen die das!)

Ich warne Unvorsichtige: Wenn es ans Eingemachte geht, dann ziehen Sie ganz schnell die Milch wieder hoch! So hat man beispielsweise bei den Strukturhilfemitteln gehandelt, die vom Bund für 1991 noch zugesagt waren, die aber im Land Nordrhein-Westfalen leider nicht mehr fließen. So kann man auch auf anderer Leute Kosten seinen Etat sanieren.

(Zuruf des Abg. Dieter Heistermann [SPD])

— Das war eine Aussage von Herrn Schleußer, die ich selber auf einer Veranstaltung der IG Metall auf meine Nachfrage hin gehört habe. Fragen Sie ihn bitte. Herr Schleußer ist — für den Fall, daß Sie es nicht wissen — Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen.
Zum Wohle des strukturschwachen ländlichen Raums, der auf Grund des Truppenabbaus Kaufkraftverluste und Auftragseinbrüche hinnehmen muß, kann ich nur hoffen, daß sich die Länder bald einigen und daß die Durchsetzung von Länderegoismen nicht wieder zu Lasten der wesentlich bedürftigeren neuen Bundesländer geht, wie es vor nicht allzulanger Zeit beim Länderfinanzausgleich schon einmal in beschämender Art und Weise der Fall war.

(Dieter Heistermann [SPD]: Halten Sie sich eigentlich an Verträge zwischen Bund und Ländern?)

— Wenn Sie etwas fragen wollen, müssen Sie Zwischenfragen stellen.
Zur sozialen Abfederung für die betroffenen Soldaten und Zivilbeschäftigten wird ein Gesamtpaket auf den Tisch gelegt, daß niemand gegen seinen Willen entlassen wird. Allerdings — das muß man dazusagen — muß man in Einzelfällen natürlich bereit sein, sich einmal versetzen zu lassen, wenn man denn im öffentlichen Dienst bleiben will und vor Ort nicht unterkommen kann. Ich weiß, daß viele Betroffene davor Angst haben. Ich kann allerdings zu ihrer Beruhigung sagen: Man kann auch solche Umzüge überstehen. Ich bin während meiner Schulzeit selber dreimal umgezogen. In dieser Zeit ist mein Vater sechsmal versetzt worden. Sie sehen ja, was aus mir geworden ist. Ich hoffe, Sie finden das gut.

(Beifall bei der CDU/CSU — Heiterkeit bei der SPD — Michael Glos [CDU/CSU]: Vor allem die Versetzung nach Bonn war eine gute Entscheidung der Wähler!)

Außerdem wird bei den laufenden Tarifverhandlungen für die bei der Bundeswehr Beschäftigten der Aspekt des sozialverträglichen Personalabbaus natürlich mit berücksichtigt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Truppenabbau ist notwendig. Wir sollten ihn nicht mit Katzenjammer begleiten, sondern uns darüber freuen, daß die Ost-West-Konfrontation der Geschichte angehört und daß wir uns nicht mehr derartig waffenstarrend gegenüberstehen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204107100
Das Wort hat der Abgeordnete Ernst Schwanhold.

Ernst Schwanhold (SPD):
Rede ID: ID1204107200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Wülfing, ich finde es angesichts der Situation in Wilhelmshaven, wo AEG kurz vor der Schließung steht und 10,4 % der Bruttowertschöpfung der Kommune



Ernst Schwanhold
von der Bundeswehr erwirtschaftet wird, zynisch, von „Katzenjammerbegleitung" zu sprechen. Dies gilt vor allem angesichts der Folgen für die Leute, die dort keinen Arbeitsplatz finden und in den nächsten fünf Jahren auch keine Chance haben, dort einen Arbeitsplatz zu finden.

(Beifall bei der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204107300
Herr Kollege Schwanhold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Ernst Schwanhold (SPD):
Rede ID: ID1204107400
Auf die Zwischenfrage des Herrn Hinsken freue ich mich besonders.

Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1204107500
Herr Kollege Schwanhold, können Sie mir sagen, wann seitens der Bundeswehr das letzte öffentliche Gelöbnis in Wilhelmshaven stattgefunden hat? Damit können Sie die große Verbundenheit zur Bundeswehr in der Vergangenheit unter Beweis stellen.

Ernst Schwanhold (SPD):
Rede ID: ID1204107600
Ich kann Ihnen nicht sagen, wann das letzte öffentliche Gelöbnis stattgefunden hat.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das liegt lange, lange zurück! — Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Es gibt einen ausgesprochen guten Kontakt!)

Aber die öffentlichen Gelöbnisse sind auch nicht der entscheidende Faktor bei der Bewältigung der sozialpolitischen Folgen, die sich durch den Abzug ergeben.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204107700
Herr Kollege Schwanhold, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting?

Ernst Schwanhold (SPD):
Rede ID: ID1204107800
Aber natürlich.

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1204107900
Herr Kollege, könnten Sie uns Ihr Konzept vorstellen, das benötigt wird, wenn wir die Bundeswehr auf 200 000 Mann reduzierten, so wie es Ihr Fraktionsvorsitzender Vogel vor einigen Wochen gerade wieder gefordert hat?

Ernst Schwanhold (SPD):
Rede ID: ID1204108000
Es geht heute nicht darum, das Konzept dafür vorzulegen, was passiert, wenn die Streitkräfte auf 200 000 Mann oder auf eine Zahl, die sogar noch darunter liegt, reduziert wird. Ich kann mir dies sehr gut vorstellen und halte es auch für wünschenswert. Es geht heute um die Fehler, die bei der Abwicklung dieser relativ begrenzten Reduktion von seiten der Bundesregierung begangen worden sind.

(Beifall bei der SPD — Michael Glos [CDU/CSU]: So einfach ist das!)

Auf diese Fehler komme ich gleich zu sprechen.
An den Anfang meiner Ausführungen will ich ausdrücklich stellen, daß ich die von vielen ersehnte weltweite Entspannung und die sich daraus abzeichnende Reduktion der Streitkräfte und die Schaffung der neuen Friedensordnung in Europa ausdrücklich begrüße. Genauso wie den Abbau der ausländischen Streitkräfte begrüße ich auch den Abbau der Bundeswehr ausdrücklich.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aber nur den Abbau bei Ihnen nicht!)

— Darum geht es nicht. Es geht darum, ein regional ausgewogenes Konzept durchzusetzen. Es geht darum, die sozialen Folgen und die Folgen für die Wirtschaft möglichst sinnvoll abzufedern. Dazu komme ich gleich.
Aus diesem Abbauprozeß ergeben sich übrigens auch Chancen. Ich habe die große Sorge, daß diese Chancen verspielt werden.

(Manfred Opel [SPD]: So ist es!)

Die Chancen würden sich in den großen Herausforderungen, die wir zu bewältigen haben und die Sie — das sei nebenbei bemerkt — nach meiner Meinung auch nicht in ausreichendem Maße angehen, bieten: beim ökologischen Umbau der Industriegesellschaft, bei der Ausgestaltung der sozialen Sicherheit, bei der Verbesserung der Lebensbedingungen in der Dritten Welt und beim Wiederaufbau Osteuropas.
Diese vier Chancen verbinden sich auch mit der Reduktion der Bundeswehr. So positiv sich diese Chancen langfristig darstellen, so werden — das ist meine Beurteilung — kurzfristig eklatante Fehler gemacht.
Die Bundeswehr ist bei der Installierung in regional- und strukturschwache Gebiete hineingegangen. Die Menschen dort haben die Last der Bundeswehr ertragen, denn es ist nicht immer Lust, einen Bundeswehrstandort zu haben. Und sie werden jetzt zum zweiten Mal Verlierer, weil es keine sozialen und keine regionalen Ausgleichsmaßnahmen gibt.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das macht ja keinen Sinn!)

Kommunen und Länder sind nicht frühzeitig beteiligt worden. Der Verteidigungsminister hat über einen langen Zeitraum im Verborgenen unterhalb der Öffentlichkeitsdecke diskutiert. Die Länder haben drei Monate Zeit gehabt, eine regionalpolitische Stellungnahme abzugeben, und in drei Monaten ist dies angesichts der Vielzahl der Standorte, z. B. im Lande Niedersachsen, nicht möglich.
Ich sage Ihnen dazu: Es gibt heute noch kein schlüssiges und durchgängiges Konzept, wie sich die Briten aus den Regionen, in denen sie sind, zurückziehen. Ich empfinde es als Mißachtung der Interessen der Menschen, die in diesen Bereichen leben und dort beschäftigt sind, daß es dafür kein Konzept gibt und daß kein Ausgleich vorgenommen werden kann. Die britische Regierung wäre gut beraten, hier mit der Bevölkerung und mit der bundesdeutschen Regierung auch anders umzugehen.
Die Vorleistungen, die die Menschen in diesen Regionen gebracht haben, dürfen nicht zu einer zweiten Bestrafung werden. Sprechen Sie mit den Betriebsräten, sprechen Sie mit den Personalräten oder sprechen Sie mit den Betroffenen, die in den Regionen bei der Bundeswehr beschäftigt sind oder die von der Bundeswehr abhängig sind. Es gibt doch gerade in den



Ernst Schwanhold
großen Standorten viele kleine und mittlere Betriebe, die dort als Zulieferer tätig gewesen sind oder die als Reparaturbetriebe in Bundeswehranlagen tätig gewesen sind. Dort gibt es keine Ausgleichsmaßnahmen und dort gibt es keine Chancen. Herr Hinsken, ich erinnere mich sehr gut an Aussagen von Ihnen, die dieses ganz genau bestätigen.
Deshalb wünsche ich mir nicht nur GA-Maßnahmen, die nämlich genau das Gießkannenprinzip sind, sondern ich wünsche mir regional abgestimmte Maßnahmen, die helfen, etwa in Wilhelmshaven oder in anderen Bereichen oder im Landkreis Kaiserslautern, die Infrastrukturmaßnahmen vorzunehmen, die notwendig sind. Dazu gehört der Ausbau der sozialen Infrastruktur. Dazu gehört der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Dazu gehören aber auch direkte Investitionshilfen in den einen oder anderen Betrieb, der davon abhängig ist.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist genau das, was die Bundesregierung macht! — Gegenrufe von der SPD)

— Warum wird es nicht quantifiziert? Warum gibt es nicht ausreichende Planungsmöglichkeiten dafür?
Die regionalen Aspekte überfordern die Länder und die Kommunen alleine.

(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD)

Also, die Dazwischenrederei finde ich ausgesprochen interessant, Herr Hinsken. Sie sollten sich austauschen. Ich höre mir das so lange an. Ich finde das ausgesprochen interessant, aber dann unterbreche ich meine Rede so lange.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich kann nichts dafür, wenn das von da drüben kommt!)

Die regional ausgewogenen Maßnahmen müssen Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der wirtschaftlichen Infrastruktur sein, zur Erschließung und Umnutzung von Industrie-, Gewerbe- und Hafengelände, Investitionen zur Entsorgung und andere für die wirtschaftliche Entwicklung bedeutsame Umweltschutzmaßnahmen zur Verstärkung des ÖPNV zum Beispiel, weil das für den ländlichen Bereich wesentlich ist und die Infrastrukturpolitik auch davon abhängt, wie die verkehrliche Anbindung in diesen Bereichen ist, ferner Maßnahmen zur Stärkung des Fremdenverkehrs. Auch dieses wäre eine Chance. Und sagen Sie nicht, daß das die Bundesregierung alles macht. Dieses ist teilweise auf Druck dessen, was die Länder gefordert haben, und auch auf Druck unseres Antrages erst in den letzten Wochen und Monaten in die Konzeption hineingeschrieben worden. Die Bundesregierung hat dort erhebliche Versäumnisse.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204108100
Herr Kollege Schwanhold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Ernst Schwanhold (SPD):
Rede ID: ID1204108200
Ja.

Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1204108300
Verehrter Herr Kollege Schwanhold, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß gestern in der Sitzung des zuständigen Unterausschusses, die sich mit den angesprochenen Problemen beschäftigt hat, die Sie hier zur Geltung bringen, sich leider Gottes nur ein einziger Sozialdemokrat beteiligt hat — das war Kollege Müller — und Sie und verschiedene andere durch Abwesenheit geglänzt haben, um die Stellungnahme der Bundesregierung zu diesen Themen zur Kenntnis zu nehmen?

Ernst Schwanhold (SPD):
Rede ID: ID1204108400
Also, Herr Kollege Hinsken, Sie wissen ganz genau wie ich, daß ich nicht ordentliches Mitglied dieses Unterausschusses bin. Ich bitte um Entschuldigung. Ich hatte gestern einen Termin in Berlin. Aber dafür habe ich Ihnen gegenüber keine Rechtfertigung vorzunehmen. Ich habe dies natürlich auch nachgelesen, fordere aber ausdrücklich Maßnahmen über das hinausgehend, was ich ja auch durchaus positiv dort zugunsten der Bundesregierung anmerken will, wo es entsprechende Ansätze gibt. Es ist doch nicht mein Problem, positive Maßnahmen nicht anzuerkennen, sondern ich bin durchaus bereit, diese zur Kenntnis zu nehmen und zu werten. — Ich möchte jetzt keine weiteren Zwischenfragen mehr zulassen, sondern zum Schluß meiner Ausführungen kommen.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich hoffe nur, daß Sie das Protokoll lesen werden!)

Neben den Investitionen für die öffentliche Hand ist darüber nachzudenken, welches Instrumentarium sich entwickeln läßt und entwickelt werden muß, um den betroffenen Wirtschaftsbereichen direkte Investitionshilfen zukommen zu lassen.
Die Standortkonversion könnte bei nicht ausreichender Begleitung und Hilfestellung durch den Bund in einzelnen Regionen eine Lawine auslösen, von der wir noch nicht wissen, welche Wirkung sie am Ende auf die soziale Situation und auf die betroffenen Menschen haben wird. Deshalb sind begleitend dazu Instrumente zu entwickeln, um gezielte Aus- und Weiterbildung für die von der Standortkonversion betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchzuführen. Gerade die schlecht ausgebildeten haben am Arbeitsmarkt kaum Chancen.
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang auch einen Hinweis auf die bei der Bundeswehr in überreichem Maße beschäftigten Schwerbehinderten. Für diese Bevölkerungsgruppe wird es in den strukturschwachen Gebieten unmöglich sein, einen adäquaten Arbeitsplatz zu finden. Wir alle wären gut beraten, darüber nachzudenken, wie man dieses wirklich schwerwiegende soziale Problem lösen kann. Für diesen Kreis der Betroffenen muß es über das übliche Förderinstrumentarium hinaus Hilfestellungen geben. Die private Wirtschaft wird nach leidvoller Erkenntnis, die wir alle gesammelt haben, keine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen anbieten.

(Zuruf von der FDP)

— Entschuldigung, bei der Bundeswehr sind sie überproportional beschäftigt worden, und die private Wirtschaft kauft sich leider Gottes immer noch frei. Das wissen wir doch; darüber haben wir schon genügend diskutiert.

(Zuruf von der FDP)

Lassen Sie mich abschließend dazu sagen, daß sich nur unter Einbeziehung aller Betroffenen — der Län-



Ernst Schwanhold
der, der Kommunen, der Kammern, aber auch der Gewerkschaften — sozial verträgliche und für die wirtschaftliche Entwicklung der Regionen sinnvolle Lösungen entwickeln lassen.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Dem pflichte ich bei!)

Ich glaube, daß dazu bislang nicht ausreichend Gesprächsbasis und nicht ausreichend Gelegenheit geboten worden ist.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Dem pflichte ich nicht bei!)

Dies liegt auch im Verantwortungsbereich der Bundesregierung.
Mit generalisierenden Lösungen und mit allgemeinen Schlüsselzuweisungen jedenfalls werden die Probleme nicht gelöst. Nur unter Rücksichtnahme auf regionalspezifische Gesichtspunkte kann dies gelingen. Ich habe Sorge, daß dieser Bereich nicht ausreichend gewürdigt wird.

(Beifall bei der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204108500
Herr Abgeordneter Günther Friedrich Nolting, Sie haben das Wort.

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1204108600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Opposition stellt hier heute Anträge — das hat sich jedenfalls bis jetzt so gezeigt — , die uns in der Sache nicht weiterbringen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der Kollege Hitschler hat bereits auf die Ausschußarbeit hingewiesen. Ich denke, daß das Konzept so, wie es der Kollege Hitschler, aber auch der Kollege Hinsken dargestellt haben und wie es vor allen Dingen auch der Parlamentarische Staatssekretär Beckmann vorgestellt hat, am Ende der Ausschußarbeit auch von der Opposition mit unterstützt werden wird.
Im einzelnen haben sich die Kollegen aus der Koalition und der Herr Kollege Beckmann mit den Anträgen auseinandergesetzt. Ich will jetzt nur noch einen Punkt anfügen.
Die SPD fordert eine Fülle von Daten über alle Aspekte des wirtschaftlichen Handelns der Bundeswehr, ihrer Soldaten und Zivilbeschäftigten und deren Familien, obwohl Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, ganz genau wissen, daß diese Daten überwiegend nicht so umfassend oder nur von ganz unterschiedlichen Trägern erhoben werden können.
Ganz offensichtlich ist es aber das Ziel der SPD, nur den Bund, allein den Bund für Ausgleichsmaßnahmen haftbar zu machen

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

und gleichzeitig die mehrheitlich von ihr gestellten Landesregierungen aus der strukturpolitischen Verantwortung zu entlassen.

(Beifall bei der FDP)

Diese Arbeitsteilung der Opposition, meine Damen und Herren, haben wir hier ja des öfteren erlebt. Schon im letzten Jahr hat die SPD lauthals die Reduzierung der Bundeswehr bis auf 200 000 Mann gefordert. Gleichzeitig wehren sich die Kommunalpolitiker der SPD vor Ort gegen jegliche Verringerung der Standorte, aber auch das Schließen der Standorte.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Viele SPD-Politiker, gerade auf der kommunalen Ebene, haben jetzt plötzlich die Liebe zur Bundeswehr entdeckt, aber leider, Herr Kollege Kolbow, nur aus rein regionalen wirtschaftlichen Gründen.

(Beifall bei der FDP)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204108700
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwanhold und eine Zwischenfrage des Kollegen Kolbow?

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1204108800
Aber selbstverständlich, wenn sich die Kollegen über die Reihenfolge einigen können.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204108900
Dann in dieser Reihenfolge.

Ernst Schwanhold (SPD):
Rede ID: ID1204109000
Herr Kollege, ich finde es begrüßenswert, daß Sie sich auf die sozialdemokratisch regierten Länder beziehen.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das meine ich immer mehr!)

Meines Wissens gehört Bayern noch nicht zu den sozialdemokratisch regierten Ländern; aber was nicht ist, kann ja noch werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das wird es auch nicht werden!)

Ich bitte Sie nur, mir auch eine Antwort darauf zu geben, ob ich den Herrn Kollegen Hinsken richtig verstanden habe. Er hat genau die gleichen strukturellen Unterstützungsmaßnahmen und Hilfsmaßnahmen für Bayern gefordert, wie sie auch von den besonders betroffenen sozialdemokratisch regierten Ländern, nämlich Hessen und Niedersachsen, gefordert werden. Was sagen Sie dazu?

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1204109100
Ich habe davon gesprochen, daß wir — wir zumindest als FDP-Bundestagsfraktion — die Landesregierungen nicht aus ihrer strukturpolitischen Verantwortung entlassen wollen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU — Ernst Schwanhold [SPD]: Sie haben aber nur die sozialdemokratisch regierten Länder erwähnt!)

— Sie sind genau dabei. Genauso sind in dieser Frage die Kommunen gefordert.

Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1204109200
Herr Kollege, Sie haben jetzt nicht die Zahl 200 000 genannt,

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Jawohl!)

auf die die SPD die Bundeswehr angeblich reduzieren wolle. Würden Sie bitte endlich zur Kenntnis nehmen, so wie ich es Ihnen auch schon im Verteidigungsausschuß gesagt habe, daß die Sozialdemokratische Partei für die Reduzierung der Bundeswehr ist, möglicherweise auch auf diese Zahl, wenn die Reduzierung



Walter Kolbow
auf 370 000 sozialverträglich abgeschlossen ist, und daß dies nicht vor 2005/2010 sein kann?

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1204109300
Lieber Kollege Kolbow, Sie wissen, daß ich Sie ganz besonders schätze. Ihnen nehme ich ja diese Aussagen, die Sie hier gerade gemacht haben, persönlich auch ab. Aber das, was Sie mir hier sagen, sollten Sie dann bitte Ihrem stellvertretenden Bundesvorsitzenden Lafontaine

(Wolfgang Mischnick [FDP]: Sehr richtig!)

und vor allen Dingen auch ihrem Fraktionsvorsitzenden Vogel vortragen,

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

die nämlich vollkommen undifferenziert diese Zahlen in der Öffentlichkeit nennen,

(Manfred Opel [SPD]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)

gerade in Rostock. — Aber sehr wohl, Herr Opel.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204109400
Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage des Kollegen Kolbow?

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1204109500
Aber selbstverständlich.

Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1204109600
Darf ich Sie einladen, und würden Sie diese Einladung annehmen, Herr Kollege Nolting, zu einem Gespräch bei meinem Fraktionsvorsitzenden, damit er Sie original unterrichten kann über seine Äußerungen, die Sie gerade mit Rostock nennen, so daß Sie dann auch zur Kenntnis nehmen können,

(Wolfgang Mischnick [FDP]: Das läßt sich auch schriftlich machen!)

daß dies eine verkürzte Mediendarstellung war?

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1204109700
Herr Kollege Kolbow, Einladungen, die von Ihnen persönlich kommen, nehme ich selbstverständlich immer gern an. Ich verweise allerdings darauf, daß Ihr Fraktionsvorsitzender Vogel in der letzten Legislaturperiode schon einmal die neuen Kollegen der FDP-Bundestagsfraktion eingeladen hatte, wir diese Einladung aber kurzfristig absagen mußten, weil er, gelinde gesagt, einige befremdliche Äußerungen, z. B. über unseren Bundesvorsitzenden, getan hatte. Wenn dieses inzwischen ausgeräumt sein sollte, komme ich dieser Einladung gerne nach.

(Beifall bei der FDP — Ernst Schwanhold [SPD]: Da ist er nicht der einzige, der diese „befremdlichen Äußerungen" macht!)

Meine Damen und Herren, ich habe gerade die Kommunalpolitiker der SPD angesprochen, und genau in demselben Sinne haben die Verteidigungspolitiker bei der Beratung des Standortekonzeptes Änderungsanträge für die Opposition gestellt,

(Walter Kolbow [SPD]: Für die Bürger!)

die nicht etwa die Verkleinerung der Bundeswehr auf
370 000 Mann oder gar 200 000 Mann zur Folge gehabt hätten, Herr Kollege Kolbow, sondern eine Erhöhung auf mindestens 600 000 Mann. In der Öffentlichkeit stellen Sie sich dann gleich wieder hin und fordern die Verkleinerung der Bundeswehr, fordern die drastische Reduzierung des Verteidigungshaushalts, so wie es Ihre finanzpolitische Sprecherin hier im Bundestag gemacht hat. Dabei sollte uns doch wohl allen klar sein, daß die Reduzierung der Bundeswehr, die vorzeitige Zurruhesetzung von Soldaten, die Verschrottung von Material und Gerät und letztendlich auch die Verbesserung der Infrastruktur gerade in den neuen Ländern viel Geld kosten und nicht zum Nulltarif zu haben sein werden.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204109800
Herr Kollege Nolting, es liegt ein weiteres Fragebegehren vom Kollegen Heistermann vor.

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1204109900
Auch der Kollege Heistermann ist mir ein liebenswerter Kollege; selbstverständlich.

Dieter Heistermann (SPD):
Rede ID: ID1204110000
Ich bedanke mich für die Blumen. — Herr Kollege Nolting, darf ich aus Ihren Bemerkungen schließen, daß Anträge auf Erhalt von Standorten, die von Kollegen der CDU/CSU und der FDP gestellt worden sind, eine andere Qualität haben als die gleichen Anträge, die von sozialdemokratischen Abgeordneten gestellt worden sind?

(Zuruf von der CDU/CSU: Eine andere Glaubwürdigkeit!)

Ist das einmal ein Erhöhungsantrag und bei den Kollegen der CDU/CSU ein Reduzierungsantrag? Darf ich das aus Ihren Worten so schließen?

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1204110100
Nein, Herr Kollege Heistermann, das können Sie aus meinen Worten nicht schließen. Ich habe im Ausschuß ausdrücklich darauf hingewiesen, und auch die FDP-Bundestagsfraktion im Ausschuß hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß wir für einen Teil der Forderungen, die aus rein regionalwirtschaftlichen Gesichtspunkten gestellt wurden, ganz gleich, von welcher Fraktion
— und da muß ich auch die Kollegen aus der Koalition ansprechen —, kein Verständnis haben. Es liegt hier kein qualitativer Unterschied vor; nur stellen Sie sich in der Öffentlichkeit hin — ich komme noch einmal auf die 200 000 zurück,

(Zuruf von der SPD: Das sollten Sie nicht; das ist falsch!)

die vollkommen undifferenziert vorgetragen werden
— und bejammern — den Ausdruck sage ich jetzt ganz bewußt — das Schließen von Standorten, das sich automatisch aus der Verringerung der Bundeswehr ergeben muß.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Walter Kolbow [SPD]: Sie argumentieren wissentlich falsch!)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu den vorliegenden Anträgen zurückkommen. Herr Kollege Beckmann hat schon darauf hingewiesen: Diese sind schlicht und einfach in einzelnen Teilen überholt, da das Bundeskabinett z. B. mittlerweile das Personalstärkegesetz und ein Bundeswehrbeamtenanpassungsgesetz verabschiedet hat, und ich hoffe, liebe



Günther Friedrich Nolting
Kollegen, daß wir demnächst hier im Deutschen Bundestag diese beiden Gesetze mit der Unterstützung der Opposition verabschieden können.
Nur, meine Damen und Herren von der Opposition, im gleichen Atemzug, in dem Sie die Verkleinerung der Bundeswehr und dabei sozialverträgliche Maßnahmen und Hilfen für die betroffenen Soldaten und Zivilbeschäftigten — zu Recht — verlangen, entfachen Sie eine Neidkampagne gegen vorzeitige Pensionierungen,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

und hier muß ich Ihren Fraktionsvorsitzenden Vogel noch einmal zitieren. Das ist unredlich; mit dieser Doppelzüngigkeit lassen wir Sie in der Öffentlichkeit nicht durch. Erklären Sie hier und heute eindeutig, wie Sie sich die künftige Bundeswehrstärke vorstellen, wie Sie sich Ihr Konzept vorstellen und wie Sie uns bei den anstehenden flankierenden Maßnahmen zur Truppenreduzierung unterstützen wollen! Wenn Sie sich hier und heute zu diesen klaren Antworten auf diese Fragen durchringen könnten, dann wäre diese Debatte nicht umsonst gewesen.
Ich möchte den Kollegen Weisskirchen, auch wenn er nicht mehr hier sein sollte — nein, er ist nicht mehr da — , noch kurz ansprechen. Er hat von der Unsicherheit bei den zivilen Mitarbeitern gesprochen. Ich frage mich: Wer schürt denn eigentlich diese Unsicherheit vor Ort? Ich will Ihnen ein Beispiel aus der Praxis nennen, aus meiner Heimatstadt Minden. Dort fordern seit Monaten die SPD-Landtagsabgeordneten den totalen Abzug der britischen Rheinarmee. Die britische Rheinarmee zieht jetzt ab, 700 zivile Arbeitskräfte werden freigesetzt, ca. 100 Millionen DM an Aufträgen an Handel und Handwerk entfallen in Zukunft. Und was macht jetzt die SPD vor Ort? Sie macht die Bundesregierung dafür verantwortlich. Das ist genau die Doppelzüngigkeit, die ich vorhin aufgezeigt habe.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Frau Kollegin Schulte — leider ist auch sie nicht da; aber das entspricht wohl dem parlamentarischen Stil der SPD —,

(Dieter Heistermann [SPD]: Sie ist jetzt wieder da! — Zuruf von der SPD: Gucken Sie mal, wo Herr Beckmann sitzt!)

Sie haben hier die angeblich nicht vorhandenen Mitwirkungsmöglichkeiten der Länder bemängelt. Im Zwei-plus-Vier-Vertrag ist festgehalten, daß die Bundeswehr auf 370 000 Mann reduziert wird. Seit August 1990 hatten die Länder Gelegenheit, sich Gedanken zu machen, und es war ja wohl klar, daß Standorte wegfallen, wenn reduziert wird. Herr Kollege Schwanhold, Sie haben hier von einer geringfügigen Verringerung gesprochen. Die Bundeswehr wird um über 40 % verringert; dies ist nicht geringfügig! Also hätten sich doch die Länder seit August letzten Jahres einmal Gedanken machen können. Aber nein, es lag Desinteresse vor. Wir haben vorhin in Zwischenfragen
gerade die Länder Schleswig-Holstein und Niedersachsen ausdrücklich genannt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Identitätsprobleme! — Abg. Dr. Walter Hitschler [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204110200
Herr Kollege Nolting —

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1204110300
Noch ein persönliches Wort an einige Kollegen, Herr Präsident, und ich komme zum Abschluß.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204110400
Entschuldigung, der Kollege Nolting ist bereits am Ende der Redezeit. Ich kann jetzt keine Zwischenfrage mehr zulassen, auch wenn sie noch so ermunternd wäre, Herr Hitschler.

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1204110500
Aber so hätte man gut die Redezeit verlängern können.
Zum Abschluß, Herr Präsident, noch ein persönliches Wort in Richtung Opposition gerade an einige Mitglieder des Verteidigungsausschusses: Frau Kollegin Schulte hat vorhin gesagt, sie strecke uns die Hand entgegen. Ich nehme Ihnen Ihr persönliches Engagement ab. Leider deckt sich dieses Engagement aber nicht mit der Mehrheit Ihrer Fraktion und vor allen Dingen nicht mit der Mehrheit Ihrer Partei.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Das sehe ich nicht so! — Walter Kolbow [SPD]: Sie werden sich wundern, Herr Nolting!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204110600
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen Manfred Carstens.

Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1204110700
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Bis 1994 wird die Truppenstärke der Bundeswehr auf 370 000 Mann verringert. Der Abzug der Sowjetarmee ist bis 1994 vereinbart; ich habe mir gerade noch einmal vom Verteidigungsministerium bestätigen lassen, daß dort alles nach Plan läuft. Die Truppenreduzierungen der Alliierten kommen noch hinzu. — Das alles ist politisch gewollt. Ich bin auch fest davon überzeugt, daß unsere Bevölkerung diese Maßnahmen und Entscheidungen grundsätzlich sehr begrüßt.
Im Zusammenhang hiermit gibt es Auswirkungen, an die die Bundesregierung denken muß; darauf gehe ich gleich näher ein. Ich möchte aber noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, der die Argumentation der SPD, heute und vor Ort, betrifft.
Es gibt nicht wenige in der SPD, so habe ich den Eindruck, die die Bundeswehr am liebsten abschaffen möchten. Es gibt viele, die eine Reduzierung über das bislang vorgesehene Maß hinaus vornehmen möchten. In fast jedem Einzelfall aber, wenn es um Truppenreduzierungen vor Ort geht, beklagt und kritisiert man die Entscheidungen der Bundeswehr. Das ist



Parl. Staatssekretär Manfred Carstens
nicht fair; das ist nicht der politische Stil, in dem wir miteinander umgehen sollten.

(Zuruf von der FDP: Sehr richtig!)

Wir haben es selbstverständlich mit Auswirkungen zu tun, die man sehr ernst nehmen muß. Mein Kollege Beckmann vom Bundeswirtschaftsministerium hat in diesem Zusammenhang schon auf eine flankierende Maßnahme hingewiesen. Ich möchte zur Grundstücksverbilligungsaktion der Bundesregierung etwas sagen.
Die Auswirkungen sind regional recht unterschiedlich einzuschätzen: Es gibt bestimmte Ballungsräume, in denen man sich möglicherweise sogar darüber freut, daß gewisse Grundstücke nicht mehr militärisch genutzt werden müssen, sondern für andere Zwecke freiwerden. Es gibt aber auch ländliche, strukturschwache Regionen, in denen es sehr wohl erhebliche negative Auswirkungen gibt. Dort müssen sich ganze Strukturen neu bilden.
Wir wollen seitens der Bundesregierung bei diesen Strukturneubildungen u. a. dadurch mithelfen, dieses Problem zu meistern, daß wir Liegenschaften verbilligt abgeben. Dieses Konversionspaket wird zusätzlich kommen. Derzeitig wird es noch geschnürt; denn auch die Länder wollen mitreden, und das sollen sie auch. Wir werden aber sicherlich noch im Verlaufe dieses Jahres zu einem Abschluß dieser Gespräche kommen, vielleicht auch schon sehr bald.
Dieses Grundstücksverbilligungspaket ist, wenn Sie so wollen, die größte Grundstücksverbilligungsaktion, die es je gegeben hat, mit ganz erheblichen Auswirkungen. Bei den Verkäufen, die wir planen, berücksichtigen wir die Aspekte des sozialen Wohnungsbaus, der Sozial-, der Umwelt- und der Gesundheitspolitik.
Damit im Lande bekannt wird, um welche Maßnahmen es sich handelt, möchte ich einige beispielsweise nennen: Der Bund wird Grundstücke für den sozialen Wohnungsbau und für den Studentenwohnraumbau künftig um bis zu 50 % unter dem vollen Wert veräußern, wenn auf den Grundstücken neuer Wohnraum geschaffen wird. Bisher gab es einen Abschlag von lediglich 15 %. Diese Verbilligung soll bei einer Belegungsbindung von 15 Jahren gewährt werden.
Eine Verbilligung um ebenfalls bis zu 50 % wird der Bund bei Grundstücken einräumen, auf denen Altersheime, Pflegeheime, Altenwohnungen sowie -heime, Bildungseinrichtungen und Werkstätten für geistig und körperlich Behinderte errichtet werden sollen.
Um den Weiterbetrieb bisher militärisch genutzter Sportanlagen zu ermöglichen, werden auch hier erhebliche Preisnachlässe möglich sein.
Durch eine verbilligte Veräußerung wird der Bund Grundstücke, die für Abwasser- und Abfallbeseitigungsanlagen vorgesehen sind, fördern und damit den Anforderungen, die wir an eine gesunde Umwelt und an die Reinhaltung unserer Gewässer stellen, gerecht werden.
Beim Aufbau der Gebietskörperschaften in den neuen Ländern helfen wir durch Preisnachlässe auf Grundstücke für unmittelbare Verwaltungszwecke von bis zu 75 %. Ebenfalls in den neuen Ländern wollen wir überbetriebliche Umschulungseinrichtungen durch eine Verbilligung der Grundstücke um bis zu 50 % fördern; ebenso die Errichtung und den Betrieb von Krankenhäusern auf ehemals militärischen Anlagen.
Der Bund wird beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Ausweisung eines Geländes als Sanierungsbereich oder Entwicklungsgebiet auch ohne eine förmliche Ausweisung als Kaufpreis nur den sanierungs- oder entwicklungsunbeeinflußten Grundstückswert von den Gemeinden verlangen. Dies gilt auch dann, wenn das Gelände für gewerbliche oder industrielle Zwecke vorgesehen ist.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, der Haushaltsplan sieht für 1992 vor, daß die näheren Voraussetzungen, unter denen die Verbilligungen gewährt werden können, in Richtlinien oder Grundsätzen des Bundesministers der Finanzen festgelegt werden.
Die Bundesregierung möchte — ich kann auch sagen: „will" — diese Regelung bereits ab Herbst 1991, also möglichst ab sofort, praktizieren. Bis 1995 verzichtet der Bund auf Grund der Grundstücksverbilligungen auf Einnahmen in Millionenhöhe.
Mit dieser Verbilligungsaktion gibt der Bund ein gutes Beispiel. Er geht weit über das hinaus, was die Bundesländer bisher bereit waren an Grundstücksverbilligungen einzuräumen. Wenn ich richtig unterrichtet bin, kennen z. B. die Länder Schleswig-Holstein und Niedersachsen keinerlei Verbilligung. Auch das Land Nordrhein-Westfalen räumt für den sozialen Wohnungsbau eine Verbilligung von lediglich 30 % ein.
Meine Damen und Herren, der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages hat gestern dem Konzept der Bundesregierung zugestimmt — fachlich ausgedrückt heißt dies im Haushaltsausschuß: „zustimmend zur Kenntnis genommen" —, so daß die Grundstücksverträge ab sofort nach diesen Maßgaben abgewickelt werden können.
Ich möchte an dieser Stelle zusagen, daß wir uns im Bundesfinanzministerium und bei den Oberfinanzdirektionen bemühen werden, diese Verträge zügig abzuwickeln, wobei ich die Länder und die Kommunen sowie alle Interessierten bitten möchte, möglichst schnell auch die Voraussetzungen auch dafür zu schaffen, daß der Bund handeln kann. Wir haben einen gewissen Vorlauf. Die Bundeswehr verläßt oder reduziert Standorte ja erst in einigen Jahren, so daß wir rechtzeitig beginnen können, um dann auch rechtzeitig abschließen zu können.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204110800
Das Wort hat der Abgeordnete Otto Reschke.

Otto Reschke (SPD):
Rede ID: ID1204110900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben ja gestern eine Wohnungsbaudebatte gehabt, Herr Kollege Hitschler und Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion. Da wurde deutlich, daß es bei allen Plänen, die wir haben, nicht nützt, wenn der Woh-



Otto Reschke
nungsbau ohne Boden stattfindet. In der Luft hängen zumindest viele Bauvorhaben und viele Baupläne.
Deswegen bin ich der Auffassung, die Bundesregierung hat genau wie beim Wohnungsbau instrumental voranzugehen. Sie hat auch hier eine Chance vertändelt, die die Abrüstung bietet, ganz besonders im Bereich des Wohnungsbaues. Da bin ich nicht irgendwo als Opposition aufgerufen, sondern ich möchte die Bauministerin zitieren. Sie bezichtigte noch im Mai 1991 — genau am 23. Mai — den Verteidigungsminister der Geheimniskrämerei, weil er nicht öffentlich kenntlich macht, wo Gemeinden in vielen Punkten tätig werden können und wo sie darangehen können, Städtebau und Wohnungswesen zu planen.
Doch selbst heute, nachdem das zweite Ressortkonzept bekannt ist, herrscht vielerorts Ratlosigkeit über die zukünftige Nutzung der Militärstandorte und, was wichtig ist, Kollege Beckmann, auch beim Teilabzug. Da laufen ja die dollsten Sachen: weniger Personal, mehr Grundstücke und mehr Gebäude. Wir sind ja beide in Essen teilweise davon betroffen.
Die Gemeinden hatten kaum Möglichkeiten, die Planungen der Militärs nachzuvollziehen, geschweige denn, Planungen mit ihnen abzustimmen. Ein Dialog, der bei dieser großen Aufgabe notwendig wäre, hat mit dem Verteidigungsministerium nicht stattgefunden.
Das Ressortkonzept — ich habe es mir durchgesehen — zeigt natürlich auf, welche Soldaten und welches Zivilpersonal in Zukunft nicht mehr benötigt werden. Aber wichtige Informationen über den zukünftigen Flächenbedarf und Gebäudeverbrauch der Militärstandorte fehlen gänzlich.
Dazu gehören auch militärisch genutzte Infrastruktureinrichtungen. Ich mache darauf ausdrücklich aufmerksam, weil im Sozialbereich die ganzen Bundeswehrfachschulen betroffen sind. Wir müssen darauf ein besonderes Augenmerk haben.
Unabhängig von der Truppenreduzierung ist eine Analyse der militärisch genutzten Flächen und Einrichtungen dringend erforderlich. Dies hat das Verteidigungsministerium nicht geleistet; sie muß nachgeliefert werden.
Die Entwicklungen bei der Bundeswehr und den von ihr beanspruchten Einrichtungen führen heute zu einem anderen Flächenbedarf und anderen Infrastrukturnotwendigkeiten als vor 50 oder 100 Jahren, als die Kasernen geschaffen worden sind. So mancher Architekt kann bei der Bebauung von Flächen und Einrichtungen in vielen Bereichen von den Geschoßflächenzahlen, die man innerhalb der Kasernen findet, nur träumen.
Es ist den Bürgern nicht mehr zu vermitteln, warum etwa in einem Weichbild einer Stadt heute noch große Areale mit militärischen Lagern brachliegen. Man kann keinem vermitteln, daß es in Essen-Mitte ein großes militärisches Lager gibt. Es gibt Werkstattbereiche mitten in den Städten, es gibt Schießplätze in den hervorragendsten Lagen unserer Städte. Das kann man doch keinem mehr vermitteln. Wir sind dafür, daß man aufhört, in den Städten dringend notwendiges Bauland zu blockieren.
Das vom Verteidigungsminister erarbeitete Standortkonzept enthält die Informationen über den Personalabbau. Aber bei der Gebäudeanalyse kommen wir keinen Schritt weiter. Das ist jedoch dringend notwendig für den Städtebau.
Der Mangel an verläßlichen Informationen über eventuelle Flächen- und Gebäudereserven macht es den Gemeinden extrem schwer, neue Nutzungen zu planen und dem freiwerdenden Personal andere Arbeitsmöglichkeiten durch Gewerbeansiedlung oder ähnliches bereitzustellen.
Recht hat die Bauministerin, Herr Staatssekretär aus dem Finanzministerium, wenn sie die Geheimniskrämerei der Militärs kritisiert. Aber sie hat nicht nur das kritisiert. Die Bauministerin kritisiert auch den Finanzminister, daß bisher noch kein freigewordenes Militärgelände verkauft worden sei und daß ein Preisnachlaß von 15 % — so Ende Mai — auf den voraussichtlichen Verkehrswert nach der Erschließung durch die Gemeinden nicht genug sei; damit werde der Wohnungsbau verhindert, und der Bund trete als Spekulant auf.
Wenn jetzt der Bund erfreulicherweise beim Wohnungsbau unter bestimmten Kriterien von 15 auf 50 % hochgeht, bleibt immer noch eine ganze Menge an Spekulationen. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Die Kassen der Gemeinden in Nordrhein-Westfalen — wenn ich einmal die Differenz zwischen 75 und 50 % betrachte — sind genauso leer wie die Kassen in den neuen Bundesländern; daran sollte man immer denken.
Überarbeiten Sie bitte Ihre Richtlinie, Herr Staatssekretär. Darin steht nämlich unter dem vierten Spiegelstrich: Bei nicht ausgeglichenem Verwaltungshaushalt bekommen die Kommunen einen Abschlag bis zu 30 %. — Es gibt in keiner Kommune einen unausgeglichenen Haushalt; dann würde der Oberstadtdirektor hinausgeschmissen. Der Haushalt ist auszugleichen. Lassen Sie dies also in Zukunft sein, und achten Sie darauf!
Dies zeigt im Grunde genommen das Chaos der Bundesregierung, wo die Zuständigkeiten in vielen Bereichen zwischen den Ministerien der Verteidigung, für Wirtschaft, für Wohnungsbau hin- und hergeschoben werden, wodurch sinnvolle Stadtentwicklung und Strukturpolitik vernebelt wird.
Die Praxis zeigt ja: Die Bundesvermögensverwaltung feilscht jenseits aller regionalen Strukturprobleme heute noch um den Verkaufspreis der freiwerdenden Liegenschaften, trotz aller Beschlüsse des Haushaltsausschusses. Diese Flächen und Gebäude sind aber für viele Gemeinden der rettende Strohhalm für die Ansiedlung von Arbeitsplätzen und zum Bau dringend benötigter Wohnungen oder Infrastruktureinrichtungen.
Hätte übrigens die Koalition 1990 bei unserem Antrag „Verbilligte Abgabe von Grundstücken aus Bundesbesitz" so konstruktive Vorschläge gemacht, Herr Hitschler, wie Sie sie heute gemacht haben — ich kann die nur begrüßen — , wäre in vielen Punkten wertvolle Zeit nicht so verschleudert worden.

(Beifall bei der SPD)




Otto Reschke
Das Grundeigentum des Bundes und seiner Sondervermögen unterliegt einer speziellen Sozialverpflichtung des Grundgesetzes. Die Bundesregierung hat mehrfach ihre Bereitschaft bekundet, im Eigentum des Bundes befindliche Grundstücke beschleunigt für Zwecke des Sozialwohnungsbaus abzugeben. Das Ergebnis: Wir bekommen die Flächen nicht für den Wohnungsbau frei. Hemmnisse für eine Infrastrukturplanung zu vollziehen gibt es in vielen Punkten. Deswegen sage ich deutlich: Man muß stärker auf die Planungshoheit der Gemeinden Rücksicht nehmen.
Ich kann Ihnen ein Beispiel geben, wie es in der Praxis läuft, trotz aller Beschlüsse des Haushaltsausschusses.
Wie mir aus Potsdam berichtet wurde, wurde ohne Rücksicht auf die Planungshoheit der Stadt Potsdam und deren städtische Aufgabe als brandenburgische Landeshauptstadt einfach über 300 ha — das ist eine Menge Holz — verfügt. Der Potsdamer Magistrat erfuhr per Annonce in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", daß die Oberfinanzdirektion Cottbus eine bereits geräumte Teilfäche von 12 ha, in hervorragender Lage am Jungfernsee, zum Kauf anbietet. Solche Dinge dürfen in der Praxis nicht vorkommen.

(Beifall bei der SPD)

Hier wird Gemeindeplanungsrecht und Gemeindehoheit in vielen Punkten übergangen.
Ich sage ganz deutlich: Der Bund muß neben den Ländern auch die Städte, Gemeinden und Kreise rechtzeitig über geplante Maßnahmen des Truppenabbaus informieren und ihnen ausreichende Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Ohne Planverf ah-ren der Städte und Gemeinden darf kein Grundstück mehr verhökert werden; sonst laufen doch Fehlentwicklungen in unseren Gemeinden.
Angesichts der Erfahrungen in Potsdam empfehle ich jeder Stadt, jeder Gemeinde, vom Rat eine Veränderungssperre nach dem Baugesetzbuch in Verbindung mit dem Maßnahmengesetz beschließen zu lassen und Städteplanung und Flächenbedarf für militärisch genutzte Flächen neu festzulegen. Das Baurecht läßt dies zu, und ich fordere alle Städte auf, dies zu tun. Auch da, wo nur Teilabzug von Flächen stattfindet, sollte man die Entwicklung beeinflussen. Die Gemeinde kann aber in vielen Bereichen auch im Rahmen eines förmlich festgelegten Sanierungsgebietes Genehmigungsvorbehalte nach § 114 des Baugesetzbuchs aussprechen, wenn sie es rechtzeitig erfährt, daß ein Grundstück verhökert werden soll. Damit kann sie z. B. falsche Stadtentwicklung und Spekulationen in vielen Bereichen verhindern.
Erstens. Wir fordern die Bundesregierung auf, baureife und weitere Grundstücke für den Wohnungsbau und für andere gemeinnützige Zwecke zur Verfügung zu stellen. Ich freue mich über die Vorschläge des Kollegen Hitschler. Wir beziehen uns darauf, daß der Bundesrat schon am 19. April die Verbilligung bis zu 80 % gefordert hat. Das sollte auch für Sie ein Maßstab sein. Die Frage des Erbbaurechts, Kollege Hitschler, könnte ja eine der von Ihnen angesprochenen Sachleistungen sein. Wir sind da mit vielen Punkten sehr einverstanden.
Zweitens. Aus strukturpolitischen und ökologischen Gründen sollten deshalb möglichst militärische Liegenschaften in Ballungsgebieten aufgegeben werden.
Drittens. Darüber hinaus muß auch die Forderung der Länder sichergestellt werden, daß der Bund die freiwerdenden militärischen Liegenschaften zur zivilen Anschlußnutzung schnellstmöglich altlastenfrei an die Kommunen übergibt.
Viertens. Ich spreche hier die freiwerdenden Gebäude und Infrastruktureinrichtungen an. Herr Kollege Beckmann, ich war natürlich in der Bundeswehrfachschule in Essen-Kupferdreh, und ich war auch in der Kaserne Kupferdreh. Natürlich träumen einige Offiziere der Kaserne in Kupferdreh, die Bundeswehrfachschule, also ein altes Krupp-Gästehaus, zu einem Offizierskasino zu machen. Da haben wir beide darauf zu achten, daß so etwas nicht geschieht; womöglich noch mit Hilfe des Finanzministers.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204111000
Herr Kollege Reschke, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Otto Reschke (SPD):
Rede ID: ID1204111100
Ich komme zum Schluß, Herr Präsident.
Wichtig ist, daß Bedarfsuntersuchungen stattfinden, und wichtig ist, daß wir jetzt in den Ausschüssen nicht mehr viel beraten, sondern daß wir konzeptionelle Maßnahmen umsetzen, um in den Städten und Gemeinden zu Boden zu kommen, und zwar zu günstigem und preiswertem Boden. Der Bund hat als Spekulant in diesem Punkt zurückzutreten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die Kommunen aber auch!)

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204111200
Das Wort hat der Abgeordnete Hans-Wilhelm Pesch.

Hans-Wilhelm Pesch (CDU):
Rede ID: ID1204111300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zum Schluß der heutigen Debatte noch einmal auf den Tagesordnungspunkt 7 b, den Antrag der SPD „Verbilligte Abgabe von Grundstücken, die in Bundesbesitz sind" , eingehen.

(Franz Müntefering [SPD]: Da können wir uns ja nur freuen! Den werden Sie ja loben!)

— Herr Müntefering, ich habe den Eindruck — die Debatte hat das bestätigt —, daß die SPD speziell mit diesem Antrag etwas zu spät kommt. Wir alle sollten sehen, vielleicht sogar lobend sehen, daß schon in einem Antrag im — ich glaube — Februar von einer 50prozentigen Verbilligung von Grundstücken gesprochen wurde. Dem Bundesrat liegt ein Antrag des Landes Nordrhein-Westfalen vor, in dem insgesamt, bis auf Ausnahmen, ebenfalls nur von einer Verbilligung bis zu 50 % gesprochen wird.

(Franz Müntefering [SPD]: Sie sind eben bescheiden in Nordrhein-Westfalen!)

In der Begründung Ihres Antrages sagen Sie nun, daß die Bestimmung im Einzelplan 08 erweitert wer-



Hans-Wilhelm Pesch
den müßte. Meine Damen und Herren, vor allen Dingen von der SPD, Sie brauchen jetzt nur in den Entwurf des Einzelplanes 08 Kap. 92 zu schauen. Dort sehen Sie alles das, was uns auf den Nägeln brennt und wo wir ja viele Gemeinsamkeiten haben, fein säuberlich, bis ins Detail niedergeschrieben.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204111400
Herr Kollege Pesch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Diller?

Hans-Wilhelm Pesch (CDU):
Rede ID: ID1204111500
Ja, gerne.

Karl Diller (SPD):
Rede ID: ID1204111600
Da Sie in dem Irrglauben verhaftet sind, daß dies der erste Antrag der SPD in diese Richtung sei, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß wir im Haushaltsausschuß bei den Beratungen zum Haushalt 1990 und bei den Beratungen zum Haushalt 1991 mehrfach ähnliche Anträge vergeblich gestellt haben, weil Ihre Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuß der Meinung waren, 15 % seien das allerhöchste der Gefühle, und würden Sie bitte dem staunenden Plenum einmal erklären, was den Meinungswandel innerhalb von drei Wochen verursacht hat? Ihre Kolleginnen und Kollegen haben nämlich im Haushaltsausschuß im Mai unsere Anträge noch abgelehnt und haben sich im Juni bereit erklärt, ähnliche Anträge nun mitzutragen.

(Otto Reschke [SPD]: Im November sind wir bei 80 %!)


Hans-Wilhelm Pesch (CDU):
Rede ID: ID1204111700
Entschuldigen Sie, ich habe ja sogar lobend erwähnt, daß Sie im Februar einen solchen Antrag eingebracht haben.

(Franz Müntefering [SPD]: Sie sind zu spät gekommen!)

Das ist nicht wegzuwischen; das ist da.
Mich und viele aus unserer Fraktion verwundert jedoch, daß es dann, wenn jetzt eine Zahl in die Welt gesetzt wird und wenn die Regierung im Laufe der Monate auf eine solche Zahl, nämlich auf die 50 %, eingeht, gottgegeben sein muß, daß Sie als Opposition weiterhin einen draufsetzen und weiterhin höhere Forderungen anmelden, natürlich gegen die Vorschläge der Regierung wettern und dann mit dem Brustton tiefster Überzeugung gegen die Vorlagen der Regierung oder gegen den Etatentwurf der Regierung stimmen.

(Otto Reschke [SPD]: Wir lassen uns doch von der Regierung nicht übertreffen!)

Ich will hiermit anmerken, daß wir uns nicht nur in der Zielsetzung, sondern auch in der Machbarkeit, was die Zahlen angeht, einig sein müßten.

(Franz Müntefering [SPD]: Dann stimmen Sie unserem Antrag zu!)

Das ist das Problem. Ich meine nach wie vor, daß Sie mit Ihrem Antrag — dabei bleibe ich — zu spät gekommen sind.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204111800
Herr Kollege Pesch, es gibt den Fragewunsch des Kollegen Dr. Hitschler.

Dr. Walter Hitschler (FDP):
Rede ID: ID1204111900
Herr Kollege Pesch, wären Sie bereit, dem Sie fragenden Kollegen von der
SPD der Redlichkeit halber mitzuteilen, daß es die Landesregierung in Rheinland-Pfalz und zwar die alte Landesregierung unter einer CDU/FDP-Koalition, gewesen ist, die als erste von allen Landesregierungen ein geschlossenes Konzept und ein geschlossenes Programm zum Truppenabbau entwickelt hat, das ich persönlich gar nicht in allen Punkten teile? Aber der Redlichkeit halber sage ich, daß sie im Prinzip die erste war, die diese Forderungen in der Öffentlichkeit und auch im politischen Raum erhoben hat, so daß man, wenn es um die Verteilung des Erstgeburtsrechts geht, auch was die Grundstücksbewertung betrifft, doch auf diese Anträge aus dem Land Rheinland-Pfalz verweisen sollte.

(Franz Müntefering [SPD]: Das war doch sicher ein FDP-Minister! — Gegenruf des Abg. Dr. Walter Hitschler [FDP]: Das nebenbei! — Jan Oostergetelo [SPD]: Gibt es sonst noch eine abgewählte Regierung, die was Gutes gemacht hat?)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204112000
Das war eine sogenannte Billardfrage.

Hans-Wilhelm Pesch (CDU):
Rede ID: ID1204112100
Dem kann ich nur beipflichten. Mir ging es darum, hier unter allen Umständen in dieser wichtigen Sachfrage doch eine sehr breite Übereinstimmung feststellen zu dürfen. Ich glaube, das ist in dieser Frage von großer Wichtigkeit für das zukünftige Vorgehen.
Meine Damen und Herren, ich will hier in aller Kürze noch einmal auf einige wichtige Punkte, die der Parlamentarische Staatssekretär im Finanzministerium soeben noch einmal vorgetragen hat, eingehen. Die Initiative ist eben jetzt, was die Vorlage des Haushalts 1992 angeht, die Initiative des Bundesfinanzministers. Dieser Initiative stimmen wir zu. Wir begrüßen, daß im sozialen Wohnungsbau aus bisher militärisch genutzten Liegenschaften Grundstücke mit einem Abschlag von 50 % den Gemeinden bzw. den Käufern zur Verfügung gestellt werden. Hier legen wir schon Wert darauf, daß es eine Belegungsbindung gibt, die sich auf einen Zeitraum von mindestens 15 Jahren erstreckt. Das soll für bebaute wie für unbebaute Grundstücke gelten. Wir begrüßen weiterhin, daß ein gleicher 50%iger Abschlag für Grundstücke für den Studentenwohnungsbau vorgenommen werden soll. Das ist eine sehr wichtige Angelegenheit, wenn man um die Situation auf diesem Gebiet weiß.

(Zuruf von der SPD: Das ist richtig!)

Es ist zu begrüßen, daß es einen 50%igen Abschlag gibt auf Grundstücke, die für Altenheime, für Pflegeheime, für Behinderteneinrichtungen oder z. B. für Altenwohnungen zur Verfügung gestellt werden. In den neuen Ländern gelten z. B. 50%ige Abschläge für überbetriebliche Umschulungseinrichtungen, auch für Verwaltungszwecke der Kommunen, für Schulen, Kindergärten. Für infrastrukturelle Maßnahmen sollte ja denn der Abschlag bis zu 75 % gelten.
Wir bedauern — und das ist ganz am Anfang von Herrn Hinsken hier gesagt worden —, daß das aus EG-Gründen nicht auch für gewerbliche Flächen, die



Hans-Wilhelm Pesch
zur Verfügung gestellt werden, möglich ist, weil das ja ganz klar als Subvention angesehen wird.
Meine Damen und Herren, dies sind alles keine wortreichen Ankündigungen, sondern, wie gesagt, ist das alles im Einzelplan 08 eindeutig dargelegt und nachzulesen.

(Zuruf von der SPD: Im Einzelplan 08 stehen 15 %, Herr Kollege!)

— Nein, nein, da stehen ganz andere Summen.
Es ist meines Erachtens selbstverständlich, daß mögliche, notwendige Altlastensanierungen zu Lasten des jetzigen Inhabers dieser Grundstücke gehen müssen, also zu Lasten des Verkäufers.

(Zuruf von der SPD: Dann sind Sie im Widerspruch zur Bundesregierung!)

— Darüber kann man ja noch diskutieren. Man kann meines Erachtens nicht den Kommunen zumuten, Grundstücke zu kaufen, die unkalkulierbare Risiken in sich bergen, was mögliche Altlasten angeht; hierüber werden wir sicherlich noch zu reden haben.

(Beifall bei der SPD)

Auch über die Befristung dieser Maßnahmen bis 1995, glaube ich, könnte das letzte Wort noch nicht gefallen sein,

(Franz Müntefering [SPD]: 1995 verlängern wir das auch!)

weil sich ja diese ganzen Abwicklungen wahrscheinlich über das Jahr 1995 hinaus hinziehen werden, wobei ich hier vor allen Dingen unsere alliierten Freunde nennen möchte, die uns da wirklich — auch das möchte ich ein wenig kritisieren — , was Aufklärung über ihre zukünftigen Verhaltensweisen angeht, etwas, na ja, mager behandeln — ich komme selbst aus einer Stadt, die diese Probleme hat — und uns zum Teil wenig Aufklärung zukommen lassen.

(Otto Reschke [SPD]: Wenn Sie sich noch auf die 80 % zubewegen, sind wir einig!)

Meine Damen und Herren, es ist unbedingt erforderlich, daß rechtzeitig mit Kommunen und Kreisen die notwendigen Abstimmungsgespräche geführt werden. Den Kommunen soll aber auch eine großzügige Abwicklung bei der Zahlung des Kaufpreises ermöglicht werden. Auch hier gibt es schon schriftlich festgehaltene Zahlen. Ich meine, daß man den jeweils kaufenden Kommunen von der Ratenzahlung bis hin zur Stundung des Kaufpreises entgegenkommen müßte, weil es sich in den meisten Fällen um sehr große Summen handelt, um Millionenbeträge, die im ein oder anderen Fall von den einzelnen Gemeinden nicht aus dem Ärmel zu schütteln sind.
Wir brauchen also, meine Damen und Herren, schnellstmöglich Klarheit darüber, welche Liegenschaften künftig nicht mehr genutzt werden. Es kommt jetzt darauf an, daß ab sofort Klarheit über die künftige Nutzung der bundeseigenen Liegenschaften herrscht, so daß von den Kommunen schnellstmöglich die notwendigen Bebauungspläne aufgestellt werden können, daß Fristen für die Inangriffnahme und die Fertigstellung von Baumaßnahmen gesetzt werden können und daß unter Umständen Grundstücke — das ist ja eben bestätigt worden — schon vor Abschluß eines Kaufvertrags für kommunale Einrichtungen zur Verfügung stehen können.
Hier besteht die einmalige Chance, den angespannten Grundstücks- und Wohnungsmarkt gerade in den Ballungsgebieten deutlich spürbar zu entlasten. Es kommt jetzt darauf an, den Kommunen mit geringstmöglichem administrativem Aufwand zu helfen, preisgünstigen Wohnraum zu schaffen und darüber hinaus die kommunale Infrastruktur zu verbessern.
Meine Damen und Herren, streiten wir uns also nicht weiter um das Erstgeburtsrecht, obwohl es sich nach der Zwischenfrage von Herrn Dr. Hitschler doch wieder mehr der CDU und der FDP zuzuneigen scheint.

(Franz Müntefering [SPD]: Die FDP überholen Sie nicht, das garantiere ich Ihnen!)

Streiten wir also nicht weiter um die im Einzelplan 08 aufgezeigten und schon festgeschriebenen Möglichkeiten des Verkaufs und der Nutzung der in Frage kommenden Liegenschaften, sondern stimmen wir alle bei der in den nächsten Wochen stattfindenden Diskussion dem vom Bundesfinanzminister im Einzelplan 08 aufgezeigten Weg zu!
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204112200
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Bauwesen, Raumordnung und Städtebau, Jürgen Echternach.

Jürgen Echternach (CDU):
Rede ID: ID1204112300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Sprecher aller Fraktionen sind sich heute einig gewesen, in der Freude darüber, daß die Politik der Bundesregierung, Frieden zu schaffen mit immer weniger Waffen, so erfolgreich gewesen ist.
Wir haben über die Probleme, die sich im Zusammenhang auftun, gesprochen; aber es ist deutlich geworden, daß es gerade für die betroffenen Kommunen auch eine Fülle neuer Chancen gibt, daß die freiwerdenden Flächen jetzt für die Entwicklung der Städte genutzt werden können und daß dies auch eine besondere Chance für den Wohnungsbau ist. Denn angesichts von 3 Millionen Neubürgern, die in den letzten Jahren zu uns gekommen sind, angesichts der massiv gestiegenen Einkommen und der sich daraus ergebenden zusätzlichen Nachfrage nach Wohnraum ist der Mangel an Bauland heute einer der Engpässe, der überwunden werden muß, um diesem Bedarf in entsprechendem Umfang Rechnung zu tragen.
Gerade der Soziale Wohnungsbau kann die hohen Kosten überhaupt nur dann finanzieren, wenn er nicht durch explodierende Grundstückspreise unfinanzierbar wird. Hier hilft die Bundesregierung — auch dank der jetzt durch die Konversion freiwerdenden Grundstücke — einmal, indem sie diese Grundstücke vorrangig auch für den Sozialen Wohnungsbau zur Verfügung stellt, vor allem aber mit dem massiven Preisnachlaß, der hilft den Sozialen Wohnungsbau überhaupt erst bezahlbar zu machen.



Parl. Staatssekretär Jürgen Echternach
Nun hätte ich eigentlich gedacht, daß dies auch von der Opposition so begrüßt werden würde. Die Opposition fordert mehr; sie fordert nicht nur die 50 %, die die Bundesregierung gewähren will, sie fordert 80 %. Das wäre überzeugender, Herr Kollege Reschke, wenn Sie das damals in der Zeit, als Ihre Partei 13 Jahre lang hier die Verantwortung trug, schon getan hätten, wenn Sie überhaupt bereit gewesen wären, das in Ihrer eigenen Regierungszeit zu tun, was die Bundesregierung jetzt beschlossen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204112400
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Reschke?

Otto Reschke (SPD):
Rede ID: ID1204112500
Herr Staatssekretär, Sie kennen die Zahl der Wohnungsnot. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie den Wohnfehlstand im Vergleich Anfang der 90er Jahre jetzt und der 80er Jahre einfach nennen würden. Zum anderen wollte ich Sie darauf aufmerksam machen, — —

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204112600
Entschuldigung, Herr Kollege, Sie können eine Frage stellen, aber nicht mitteilen, was der Staatssekretär kennt und worauf Sie ihn aufmerksam machen wollen.

Otto Reschke (SPD):
Rede ID: ID1204112700
Ich komme jetzt zur Frage. Meine Frage schließt sich daran an, daß wir am 7. Februar 1990 einen Antrag eingereicht haben, Grundstücke aus Bundesbesitz abzugeben. Meine Frage: Warum hat die Bundesregierung bisher über ein Jahr gebraucht, um sich in diese Richtung zu bewegen, bezogen auf den Wohnungsbau vor dem Hintergrund der Wohnungsnot?

Jürgen Echternach (CDU):
Rede ID: ID1204112800
Herr Kollege Reschke, zu dem Antrag werde ich gleich etwas sagen. Aber es ist einfach unzutreffend, daß es in der Zeit Ihrer Regierung keine Wohnungsknappheit oder Wohnungsnot gegeben hätte. Gerade im Jahre 1981/82 hatten wir einen ganz erheblichen Wohnungsmangel. Auch damals war allgemein von Wohnungsnot die Rede. In dieser Zeit ist ein Antrag gestellt worden, 50 % Preisnachlaß für Grundstücke für den sozialen Wohnungsbau zu gewähren. Er ist von der damaligen Opposition gestellt und von Ihnen abgelehnt worden. Sie sind sogar noch einen Schritt weitergegangen. Sie haben nicht nur diesen Antrag abgelehnt, sondern Sie haben die damals geltende Verbilligungsregelung von 30 To mit dem Haushaltsstrukturgesetz auf 15 % reduziert. Mit 50 % gewähren wir jetzt den höchsten Nachlaß, der überhaupt je von einer Bundesregierung für die Förderung des sozialen Wohnungsbaus gewährt worden ist. Das sollte von Ihnen anerkannt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was nun, Herr Kollege Reschke, Ihren Antrag vom letzten Jahr angeht, auch da wären Sie natürlich glaubwürdiger mit Ihrer Forderung, wenn Sie noch heute zu dem stehen würden, was Sie selbst im letzten Jahr beantragt haben. Der Kollege Müntefering ist es gewesen, der hier im letzten Oktober noch in einer
Rede zur Wohnungspolitik ausdrücklich begründet hat,

(Franz Müntefering [SPD]: Gute Rede!)

— er steht offenbar auch heute noch dazu — , warum der Prozentsatz für den Nachlaß 50 % sein müßte. Die Bundesregierung tut dies.
Die Bundesregierung geht sogar noch weiter. Sie gewährt diese 50 % nicht nur auf unbebaute Grundstücke, sondern auch auf bebaute Grundstücke. Die Bundesregierung ist sogar bereit, bei Schulen, bei Kindergärten, bei Alten- und Pflegeheimen noch weiter zu gehen und sogar einen Preisnachlaß von 75 % zu gewähren. Das heißt, sie geht noch weit über Ihren damaligen Antrag hinaus. Statt daß Sie dieses nun anerkennen und zu dem stehen, was Sie vor noch nicht einmal einem Jahr hier im Hause erklärt haben, sagen Sie nun, 50 % interessiert nicht mehr, jetzt muß noch einer drauf, jetzt müssen es 80 % sein. Dies ist doch alles nicht sehr glaubwürdig.
Wir gehen in einem Punkte sogar noch weiter. Wir sagen, in Gebieten, die sich für eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme oder Sanierungsmaßnahme anbieten, kann sogar der Prozentsatz noch wesentlich höher sein. Dort kann nicht der Verkehrswert der künftigen Nutzung, sondern dort kann der Verkehrswert der alten, bisherigen Nutzung zugrunde gelegt werden, und das kann zu einem Abschlag führen, der weit über 80 % hinausgeht. Auch hier tun wir also mehr, als Sie selbst in Ihrem Antrag im letzten Jahr ausdrücklich gefordert haben.
Sie wenden sich jetzt mit Ihrer Forderung auch nur an den Bund. Ich meine, es wäre glaubhafter, Sie würden auch etwas zu den Ländern und zu den Gemeinden sagen. Die Gemeinden haben ja einen wesentlich größeren Grundstücksbesitz als der Bund und sind die Trägerinnen der Planungshoheit. Wir haben in den letzten Monaten eine Bund-Länder-Kommission zum Thema Bauland eingesetzt. An den Beratungen haben auch die Kommunalen Spitzenverbände teilgenommen. Ich empfehle den Bericht, der seit einigen Wochen vorliegt, auch Ihrer Aufmerksamkeit. Dort ist auf die hohe Verantwortung der Kommunen hingewiesen worden, im Rahmen einer aktiven Bevorratungspolitik tätig zu werden und durch entsprechende Ausweisung von Bauland ihren Beitrag zu leisten. Ich kann nur an die Kommunen appellieren, auch ihrer Verantwortung hier gerecht zu werden, was manchmal nicht ganz leicht ist angesichts des Egoismus vieler Bürger, die die grüne Wiese in ihrer Nachbarschaft als ihren persönlichen Besitzstand begreifen und die dann, wenn dort zusätzliche Baulandflächen ausgewiesen werden, sich unter Berufung auf ökologische Gesichtspunkte oft dagegen wehren, weil sie lieber ins Grüne hinein als auf die Bebauung des Nachbarn blicken. Hier ist schon der Mut der Kommunalpolitiker gefordert. Da Sie auch dort in erheblichem Umfang Verantwortung tragen, wäre es gut, wenn Sie nicht nur Forderungen an die Adresse des Bundes, sondern auch an die Gemeinden, auch an die Kommunalpolitiker vor Ort richteten, die hier viel tun können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)




Parl. Staatsekretär Jürgen Echternach
Sie berufen sich jetzt bei Ihrem Sinneswandel, nun nicht mehr 50 % Preisnachlaß zu fordern, sondern 80 %, auf ein Votum des Bundesrates. Auch da muß man sich die Praxis der Länder ansehen. Es gibt ein einziges Bundesland, das auch im eigenen Bereich so verfährt, und das ist das Land Baden-Württemberg.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ansonsten gibt es zwei weitere Länder, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, die einen Preisnachlaß von 30 bis 50 % vorsehen. Die anderen Länder haben solche generellen Regelungen überhaupt nicht. Der Bund sieht also in der Gesamtschau vorzüglich aus. Ich meine, auch hier sollten Sie ein deutliches Wort an die Adresse der Länder richten, auch wenn Sie dort selbst Verantwortung tragen.
Zu der Forderung nach einem preislimitierten Vorkaufsrecht, Herr Kollege Reschke: Auch dort kennen Sie vielleicht die Praxis nicht. Die Praxis ist, daß der Bund in diesen Fällen sich schon jetzt im Rahmen des geltenden Städtebaurechts einem Vorkaufsrecht der Gemeinden dann gegenübersieht, wenn es um die Sicherung einer geordneten städtebaulichen Entwicklung geht. Aber auch darüber hinaus ist es regelmäßige Praxis, daß der Bund den Gemeinden und Ländern zunächst erst einmal, wenn sie Interesse haben, dieses Grundstück anbietet, so daß es eines solchen Vorkaufsrechtes gar nicht bedarf.

(Otto Reschke [SPD]: In Potsdam war das vor wenigen Wochen wohl anders!)

— Generell ist es Praxis, den Gemeinden und den Ländern vor Ort zunächst die entsprechenden Grundstücke anzubieten, wenn sie ein entsprechendes Interesse haben, natürlich im Rahmen des geltenden Haushaltsrechts. Der Antrag der SPD mag ja gut gemeint gewesen sein, er geht an der Wirklichkeit vorbei, er geht auch an den Maßnahmen, die die Bundesregierung in der Zwischenzeit ergriffen hat, vorbei.
Wir haben darüber hinaus den Ländern ein zusätzliches Städtebauförderungsprogramm angeboten, das bis zum Jahre 2001 reichen soll, um die Probleme der Konversion auch städtebaulich vernünftig zu lösen und die Entwicklung der betroffenen Gemeinden vernünftig zu sichern.
Ich bin davon überzeugt, daß diese Maßnahmen der Bundesregierung die Mobilisierung von dringend benötigtem Bauland forcieren werden. Ich bitte Sie, diesen Weg, der finanzpolitisch vertretbar und wohnungspolitisch wünschenwert ist, auch zu unterstützen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1204112900
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/882 und 12/884 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Es ist der Wunsch der SPD-Fraktion, die Drucksachen zusätzlich an den Ausschuß für Fremdenverkehr zu überweisen. Besteht Einverständnis darüber?
— Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 d und den Zusatzpunkt 3 auf:
8. Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Dezember 1989 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Ungarn über den Luftverkehr
— Drucksache 12/341 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr (16. Ausschuß)

— Drucksache 12/789 —
Berichterstatter: Abgeordneter Ferdi Tillmann

(Erste Beratung 25. Sitzung)

b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 19 zu Petitionen

(Rechtsstellung der Dienstpflichtigen — Entlassungsgeld)

— Drucksache 12/685 —
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 24 zu Petitionen (Einkommensteuer)

— Drucksache 12/810 —
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zur Unterrichtung durch die Bundesregierung
Verringerung der Schuldenlast der AKPStaaten gegenüber der Gemeinschaft
— Mitteilung der Kommission an den Rat —— Ratsdok. Nr. 4345/91 —— Drucksachen 12/187 Nr. 2.2, 12/311 (Berichtigung), 12/1113 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Karl Diller
Dr. Conrad Schroeder (Freiburg)

ZP 3 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Einhundertvierzehnte Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste — Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz —— Drucksachen 12/623, 12/1157 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Uwe Jens
Ich rufe den Gesetzentwurf auf 12/341 mit seinen Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift auf. Der Aus-



Vizepräsident Hans Klein
Schuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 12/789, den Gesetzentwurf unverändert zu übernehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen?
— Wer enthält sich? Bei einer Enthaltung ist der Gesetzentwurf angenommen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/685, Sammelübersicht 19. Es handelt sich um eine Petition zum Entlassungsgeld von Dienstpflichtigen.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1151 vor. Wir stimmen zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD ab. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsaussschusses? — Gegenprobe! — Enthaltungen?
— Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/810 ab. Das ist die Sammelübersicht 24. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen?
— Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Nun stimmen wir über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 12/1113 zur Unterrichtung durch die Bundesregierung über die Verringerung der Schuldenlast der AKP-Staaten ab. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir stimmen jetzt noch über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 12/1157 zur Änderung der Einfuhrliste ab. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Meine Damen und Herren, wir treten jetzt in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt.
Ich darf Sie jetzt schon darauf hinweisen: Nach der Fragestunde wird es erneut eine Unterbrechung geben. Voraussichtlich wird dann gegen 16.30 Uhr weitergetagt.
Ich unterbreche die Sitzung.

(Unterbrechung von 12.57 bis 14.00 Uhr)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204113000
Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir fahren in unserer Tagesordnung mit Tagesordnungspunkt 2 fort:
Fragestunde
— Drucksache 12/1141 —
Wir kommen zunächst zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Zur Beantwortung steht uns Herr Staatsminister Helmut Schäfer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 12 des Abgeordneten Jürgen Koppelin auf:
Welche Gründe haben bisher die Unterzeichnung eines Vollstreckungshilfevertrages mit dem Königreich Thailand verhindert, und wann kann mit der Unterzeichnung eines Vollstrekkungshilfevertrages gerechnet werden?

Helmut Schäfer (FDP):
Rede ID: ID1204113100
Herr Kollege, im Hinblick auf die relativ hohe Zahl deutscher Staatsangehöriger im thailändischen Vollzug, die vor allem wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden sind, bemüht sich die Bundesregierung seit Jahren um eine Vereinbarung mit dem Königreich Thailand. Der Wunsch der Bundesregierung nach einem Beitritt Thailands zu dem weltweit offenen Übereinkommen des Europarats über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 oder dem Abschluß eines Vertrags auf der Grundlage des von den Vereinten Nationen erarbeiteten Mustervertrags war nicht durchsetzbar. Statt dessen wünschte die thailändische Regierung bilaterale Verhandlungen.
Nachdem im thailändischen Recht begründete Hindernisse, die einem Vertragsabschluß zunächst entgegenstanden, ausgeräumt werden konnten, hat die Bundesregierung der thailändischen Seite im Juni 1991 den Entwurf eines bilateralen Volistreckungshilfevertrags übermittelt. Verhandlungen hierüber werden Anfang Oktober dieses Jahres beginnen. Die Bundesregierung ist um einen baldigen Abschluß des Vertrags bemüht.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204113200
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Koppelin.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1204113300
Herr Staatsminister, wie kommt es, daß andere Länder ein entsprechendes Abkommen haben und die Bundesrepublik Deutschland nicht?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich kann Ihnen diese Frage deshalb nicht beantworten, weil mir nur unsere Bemühungen, einen solchen Vertrag zu bekommen, bekannt sind. Wir haben zunächst auf international gültige Verträge abgestellt, auf Grundsätze wie der Europarat sie bereits verabschiedet hat.
Ich kann hier sagen, daß die thailändische Regierung einem solchen Vorstoß unsererseits nicht positiv begegnet ist. Aber sie ist jetzt wohl bereit, in Verhandlungen mit uns einzutreten, damit ein bilaterales Abkommen geschlossen werden kann.
Die Hintergründe der Entwicklung in anderen Ländern kann ich Ihnen jetzt nicht mitteilen.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1204113400
Herr Staatsminister, können Sie mir sagen, wann das Auswärtige Amt damit rechnet, daß diese Verhandlungen abgeschlossen sind?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Das hängt davon ab, wie schnell wir mit unseren Vorstellungen durchkommen. Sie wissen, daß das eine Materie ist, bei der man natürlich auch die Rechtsauffassungen der anderen Seite berücksichtigen muß. Aber wir haben Hoffnung, daß das relativ schnell abgeschlossen werden kann, weil wohl in Vorgesprächen einiges auch schon geklärt worden ist.




Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204113500
Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Jürgen Koppelin auf:
Hält die Bundesregierung die Betreuung der deutschen Inhaftierten in thailändischen Gefängnissen für ausreichend?
Bitte, Herr Staatsminister.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Haftbedingungen in Thailand entsprechen nicht unseren Anforderungen und den hiesigen Haftbedingungen. Die Botschaft in Bangkok betreut aber die Inhaftierten und bemüht sich fortlaufend, eine Verbesserung der Haftbedingungen zu erreichen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204113600
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Koppelin.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1204113700
Herr Staatsminister, können Sie sich vorstellen, daß diese Antwort mich nicht zufriedenstellt? Aus eigener Erfahrung weiß ich, weil ich das Zentralgefängnis in Bangkok besucht habe

(Zurufe von der SPD: Aha!)

— ich kann nur sagen: Gehen Sie einmal dorthin, da gehen Sie mit ganz merkwürdigen Gefühlen wieder heraus; da würde ich gar nicht „Aha" rufen —, daß die Betreuung dort nicht von seiten der Botschaft erfolgt, sondern daß die Kirche das dort macht, wenn auch auf Bitten der Botschaft.
Können Sie sich weiter vorstellen, wie die Zustände in thailändischen Gefängnissen sind? Das Neueste ist, daß seit 14 Tagen in einem Gebäude, in dem sich bisher 200 Inhaftierte befanden, jetzt 330 Personen inhaftiert sind. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß unter den Inhaftierten — vor allem auch bei den Deutschen — die Stimmung außerordentlich gereizt ist, ja daß es sogar zu Gewalttätigkeiten kommt?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, wir wissen, daß in vielen Gefängnissen der Welt, in denen Deutsche einsitzen — die sich allerdings auch gewisser Vergehen, gelegentlich Verbrechen, schuldig gemacht haben — , die Bedingungen nicht so gut sind wie hier. Wir wollen mit dem Vertrag mit der thailändischen Regierung auch — das ist ein ganz wichtiger Punkt — auf einer Herabsetzung der Mindestverbüßungszeit hinarbeiten. Wir wollen also erreichen, daß die gefangenen Inhaftierten nach einer bestimmten Zeit an die Bundesrepublik ausgeliefert werden. Das ist der Sinn der von mir beschriebenen Verhandlungen, die wir jetzt beginnen wollen.
Ich kann nur dazusagen, daß die Botschaft nach unserer Kenntnis im Rahmen der Möglichkeiten, die sie hat — sie ist personell nicht so ausgestattet, daß sie solche Besuche täglich durchführen kann —, um Betreuung bemüht ist. Daß sich die Kirchen zusätzlich um die Betreuung bemühen, betrachten wir als sehr begrüßenswert.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204113800
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Koppelin.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1204113900
Herr Staatsminister, sind Sie auch bereit, mit mir festzustellen, daß Mühe allein manchmal nicht reicht, wenn man die dortigen Zustände sieht, wenn man z. B. sieht, daß jemand zu zehn Jahren Haft für einen Scheckbetrug in Höhe von 400 DM verurteilt wird?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Es ist bei den Prozessen, die in Thailand geführt werden, natürlich üblich, daß man sich auch bemüht, Anwälte zur Verfügung zu stellen, die darauf hinweisen, daß bestimmte Strafmaße, die dort gelten, in keiner Weise mit dem sonst vergleichbaren internationalen Recht in Einklang stehen. Aber gerade bei solchen Vergehen, die bei uns natürlich nicht so hart bestraft würden, geht es uns durch das vorgesehene Abkommen darum, die Überstellung nach Deutschland nach einer relativ kürzeren Verweildauer zu ermöglichen und dabei dann die hier gängige Strafpraxis anzuwenden.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204114000
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Hans de With.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1204114100
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung bereit, verstärkt von dem Angebot von Referendarinnen und Referendaren Gebrauch zu machen, an auswärtigen Botschaften Dienst zu tun, so daß sie dann dort Betreuungshilfe leisten können, wie das z. B. mit Hilfe einer Rechtsreferendarin in Bangkok der Fall ist? Aber es könnten mehr sein.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, wir tun unser Bestes, um jungen Referendarinnen und Referendaren zu ermöglichen, ein Praktikum an Botschaften zu absolvieren. Das ist nicht überall möglich. Aber wenn das möglich ist und wenn, wie in dem von Ihnen genannten Fall, eine so vorzügliche zusätzliche Leistung erbracht werden kann, dann möchte ich Sie alle bitten, mit dazu beizutragen, daß die Voraussetzungen, mehr Referendare in einem Praktikum im Auswärtigen Dienst zu beschäftigen, geschaffen werden.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204114200
Die Frage 14 des Abgeordneten Ortwin Lowack soll auf seinen Wunsch schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 15 des Abgeordneten Klaus Harries:
Hält die Bundesregierung nach den Erfahrungen im Irak die Kontrollmöglichkeiten der Internationalen Atombehörde (IAEO) für wirksam und ausreichend?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, seit etwa 20 Jahren hat die IAEO, also die Internationale Atombehörde, die in Art. 3 des Nichtverbreitungsvertrages vorgesehenen Sicherungsmaßnahmen durchgeführt. Die Bundesregierung hat ebenso wie ihre Partner im Nichtverbreitungsvertrag diese Kontrolltätigkeit stets als angemessene Garantie des friedlichen Charakters der kontrollierten Nuklearaktivitäten und der Nichtabzweigung der deklarierten Nuklearmaterialien in Nichtkernwaffenstaaten erachtet.
Die im Rahmen der Sicherheitsratsresolution 687 von der Sonderkommission der UN und der IAEO im Irak durchgeführten Kontrollen haben jedoch ergeben, daß es einem Staat mit vertragswidrigen Absichten möglich ist, Nuklearaktivitäten der Deklarierung und damit der internationalen Kontrolle zu entziehen. Das unter normalen Umständen bewährte System der Sicherungsmaßnahmen hat sich insoweit als verbesserungsbedürftig erwiesen.
Folgende Aktivitäten hat die Bundesregierung deshalb entwickelt bzw. mitentwickelt: die Erklärung zur



Staatsminister Helmut Schäfer
Nichtverbreitung und zur Waffenausfuhr des Europäischen Rates vom 29. Juni dieses Jahres sowie die Erklärung über den Transfer konventioneller Waffen und die Nichtverbreitung von ABC-Waffen des Wirtschaftsgipfels in London vom 16. Juli dieses Jahres.
Ferner hat die Bundesregierung im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit eine Reihe von Vorschlägen zur Stärkung des Sicherungssystems erarbeitet. Diese Vorschläge werden zur Zeit im Rahmen der IAEO behandelt. Ein erstes Maßnahmepaket sollte nach Auffassung der EPZ-Partner baldmöglichst verabschiedet werden. Der Gouverneursrat der Internationalen Atombehörde hat eine Entscheidung bis Februar 1992 in Aussicht gestellt.

Klaus Harries (CDU):
Rede ID: ID1204114300
Herr Staatsminister, könnten Sie heute sagen, welche substantiellen Verbesserungen die Bundesregierung im Zusammenhang mit den Gesprächen und Verhandlungen, die Sie gerade geschildert haben, anstrebt?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Es geht im wesentlichen darum, daß, was bisher schon der Fall war, Anträge auf Genehmigung von Ausfuhren nuklearrelevanter Güter nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Sicherungsmaßnahmen durch die IAEO geprüft werden, sondern auch andere Faktoren berücksichtigt werden, z. B. das Verhalten des betreffenden Landes, um so weit wie möglich auszuschließen, daß solche Gegenstände für Zwecke der Kernwaffenherstellung mißbraucht werden. Sie wissen, daß es im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Internationalen Atombehörde im Irak immer noch ganz erhebliche Mängel gibt und daß sich diese Situation seit gestern wieder verändert hat — mit entsprechenden Maßnahmen, die der amerikanische Präsident angedeutet hat.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204114400
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Harries.

Klaus Harries (CDU):
Rede ID: ID1204114500
Haben Sie Vorstellungen, Herr Staatsminister, wann man mit einem — hoffentlich erfolgreichen — Ergebnis dieser Verhandlungen auf internationaler und IAEO-Ebene rechnen könnte?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich gehe davon aus — und ich bin optimistisch — , daß das, was wir mittragen und mitempfohlen haben, angesichts der Entwicklung im Irak zu einer relativ schnellen Übereinkunft führen wird.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204114600
Ich rufe nunmehr die Frage 16 des Abgeordneten Gernot Erler auf:
Auf welche Maßnahmen bereitet sich die Bundesregierung vor, um der Bevölkerung der sowjetischen Republiken bei einer drohenden Hungersnot im bevorstehenden Winter zu helfen?
Bitte, Herr Staatsminister.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung ist sich des Ernstes der wirtschaftlichen Lage in der Sowjetunion und der Gefahr von Versorgungsproblemen im kommenden Winter bewußt; Präsident Gorbatschow hat sich vor einigen Tagen an den Präsidenten der EG-Kommission mit der Bitte um Notstands- und Nahrungsmittelhilfe gewandt. Die Bundesregierung bemüht sich bei der EGKommission um eine rasche Beantwortung dieser Bitte.
Auf der Grundlage dieser Beantwortung ruft die Bundesregierung zu einer international koordinierten Hilfskampagne auf, in der die Europäische Gemeinschaft und die Staaten der sogenannten G7 eine Schlüsselrolle spielen und in die Nichtregierungsorganisationen mit einbezogen werden sollen.
Bilateral sind bislang an kostenlosen humanitären Hilfslieferungen aus der Bundesrepublik Deutschland in die Sowjetunion gelangt: Hilfen durch die Bundesregierung aus der Berlin-Reserve und aus Bundeswehrvorräten im Wert von ca. 700 Millionen DM, medizinische Hilfsgüter im Wert von 230 Millionen DM und darüber hinaus — durch private Spenden — Hilfsgüter im Wert von 450 Millionen DM. In diesem Gesamtvolumen von ca. 1,4 Milliarden DM kommen mehr als 75 % aller in die Sowjetunion gelieferten humanitären Hilfsgüter aus der Bundesrepublik Deutschland.
Der zur Abwicklung dieser Hilfslieferungen im Auswärtigen Amt eingerichtete Arbeitsstab „Sowjetunion-Hilfe" setzt seine Tätigkeit auch weiterhin fort. Wir hoffen, daß, ähnlich wie wir es schon getan haben, sich jetzt angesichts der schwierigen Lage in der Sowjetunion sehr viele Länder diesen Bemühungen anschließen werden.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204114700
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Erler.

Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1204114800
Herr Staatsminister, Sie haben sich in Ihrer Antwort, was die Bezifferung der Hilfe angeht, vor allen Dingen auf schon laufende oder im Abschluß befindliche Programme bezogen.
Für die Zukunft aber — und uns ist von verschiedener Seite gesagt worden, daß der demokratische Prozeß in der Sowjetunion auch durch eine krisenhafte Entwicklung bei der Versorgung mit Lebensmitteln und Energie im kommenden Winter bedroht sein kann — haben Sie uns nur von Aufrufen der Bundesregierung zu gemeinschaftlicher Hilfe berichten können. Heißt das, daß die Bundesregierung bisher keine konkreten Planungen für eigene Anstrengungen gemacht hat?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich glaube, es ist im Interesse der Bürger der Bundesrepublik Deutschland notwendig, daß wir ihnen auch als Regierung verdeutlichen, daß wir diese Anstrengung nicht allein unternehmen können, sondern daß im Verbund mit den Staaten, die genauso wie wir interessiert sein müssen, daß sich die Lage in der Sowjetunion nicht zu einem Chaos entwickelt, gemeinsame Anstrengungen unternommen werden müssen, in deren Rahmen wir natürlich das tun werden, was wir noch leisten können.
Ich habe die Zahlen bewußt genannt, um deutlich zu machen, daß unser Appell eben auch an die anderen Staaten geht. Es wäre ja mißlich, wenn der Eindruck aufkäme, Deutschland könnte auch weiterhin 75 % all dieser Maßnahmen selber finanzieren. Wir sollten gemeinsam mit allen Partnern in der Europäischen Gemeinschaft dazu beitragen, daß möglichst



Staatsminister Helmut Schäfer
schnell geholfen wird. Unseren Anteil werden wir dabei natürlich übernehmen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204114900
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Erler.

Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1204115000
Herr Staatsminister, bei der soeben von Ihnen angesprochenen gemeinschaftlichen Hilfe mehrerer Länder liegen intern schon zwei Konzepte vor, jedenfalls wenn wir von unmittelbarer Lebensmittelhilfe an die Sowjetunion reden. Das eine Konzept besagt, daß Überschüsse der EG unter Umständen direkt in die Sowjetunion geliefert werden sollen. Das andere Konzept verbindet das Interesse der traditionellen Lieferländer von Lebensmitteln nach Osteuropa mit dem Plan, der Sowjetunion Hilfe zu leisten, indem man sagt, man sollte das Wiederaufleben dieser Lieferungen und Handelsbeziehungen kreditfinanzieren.
Können Sie uns sagen, welchem dieser beiden Modelle die Bundesregierung den Vorzug geben wird, wenn es zu gemeinschaftlichen Hilfsaktionen für den kommenden Winter in Form einer humanitären Hilfe kommen wird?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Es wäre verfrüht, die Bundesregierung jetzt schon auf eines der beiden Konzepte festlegen zu wollen, die noch diskutiert werden. Ich halte eine Kombination von beiden Konzepten für denkbar. Aber ich glaube, daß wir das jetzt wirklich zuerst mit den Partnern diskutieren müssen, bevor wir uns hier öffentlich auf Vorstellungen festlegen, die es gemeinsam noch durchzusetzen gilt.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204115100
Ich rufe nun die Frage 17 des Herrn Abgeordneten Gernot Erler auf:
Welche politischen Bedingungen stellt die Bundesregierung für die Gewährung von finanzieller und wirtschaftlicher Hilfe an die Sowjetrepubliken?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung stellt keine politischen Bedingungen. Sie hat aber ein großes Interesse am Erfolg stabilisierender Reformen. Mit unserer Hilfe wollen wir ein überzeugendes gesamtwirtschaftliches Reformprogramm, das mit Unterstützung der internationalen Finanzorganisationen ausgearbeitet werden sollte, fördern.
Klare Zuständigkeitsregelungen und die Aufrechterhaltung des beabsichtigten großen und einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraumes in der Sowjetunion erhöhen die Aussichten für eine erfolgreiche Unterstützung der Wirtschaftsreformmaßnahmen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204115200
Zusatzfrage des Abgeordneten Erler.

Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1204115300
Herr Staatsminister Schäfer, Sie haben soeben in Abrede gestellt, daß die Bundesregierung Bedingungen stellt. Mir sind aber öffentliche Aussagen des Bundeskanzlers hierzu aus den letzten Tagen in Erinnerung, in denen solche Bedingungen sehr wohl genannt werden — insbesondere bezüglich dessen, was das Fortschreiten des Reformprozesses in der Sowjetunion angeht. Heißt das, daß dies, wenn der Bundeskanzler solche Äußerungen in der Öffentlichkeit tut, nicht eine Bedingung ist, die die Bundesregierung stellt?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich kann dies zunächst einmal nicht bestätigen. Ich weiß nicht, auf welche konkreten Äußerungen des Bundeskanzlers Sie sich berufen. Man müßte dann den Wortlaut schon genau kennen; vielleicht kann das der Herr Kollege Stavenhagen klären.
Ich darf nur sagen, daß bestimmte Auffassungen, die es in einigen westlichen Partnerländern gibt, nämlich man möge erst einmal abwarten, ob denn die Reformen greifen und erfolgreich sind, um dann über Hilfe nachzudenken, sicherlich nicht der Auffassung der Bundesregierung entsprechen. Wir glauben vielmehr, daß die Hilfe effizient sein und bald kommen muß, damit die Reformprozesse gelingen. Es darf also nicht umgekehrt sein. Ich glaube, da gibt es langsam einen Bewußtseinswandel angesichts der Analysen, die über — so möchte ich es einmal sagen — das „Worst-case-Scenario" in der Sowjetunion erstellt werden.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204115400
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Erler.

Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1204115500
Herr Staatsminister, Sie haben soeben sozusagen weniger belastende, herabgestufte Bedingungen als für die Bundesregierung doch denkbar benennen können. Könnten Sie sich vorstellen, daß die Bundesregierung einen Unterschied zwischen humanitärer Hilfe in einer schweren Winterzeit, in der es an Lebensmitteln und auch bei der Energieversorgung mangelt, und mittelfristigen Hilfen macht und daß die Kriterien für die Vergabe dieser beiden verschiedenen Formen der Hilfe dann auch entsprechend unterschiedlich ausfallen werden?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Natürlich müssen die unterschiedlich ausfallen. Ich kann das nur bestätigen. Die Winterhilfe — oder wie immer man das nennen mag — ist natürlich nicht ausreichend, um die mittel- und langfristigen Probleme der sich in einer völligen Wandlung befindenden ehemaligen Sowjetunion zu lösen. Wenn ich vorhin gesagt habe, daß ein einheitlicher Wirtschafts- und Währungsraum Hilfe natürlich erleichtert, dann ist das keine Bedingung, sondern wohl eine faktische Aussage. Wir können hier nur an alle Staaten im Osten, die sich bemühen, in Europa Fuß zu fassen, appellieren, sich nicht durch Nationalitätenkonflikte, durch die Schaffung von Grenzen, durch die Schaffung eigener Armeen das Leben für die Zukunft — wenn sie denn schon nach Europa wollen — schwerzumachen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204115600
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ebert.

Eike Ebert (SPD):
Rede ID: ID1204115700
Herr Staatsminister, halten Sie den soeben von Ihnen eingeführten Begriff der Winterhilfe in diesem Zusammenhang für angemessen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe einen Kollegen Ihrer Fraktion, ich glaube, den Kollegen Erler, zitiert. Das hat er nämlich vorher auch gesagt, es sei denn, ich hätte ihn akustisch mißverstanden. Man kann hier natürlich alles mögliche erfin-



Staatsminister Helmut Schäfer
den, aber Sie mögen mich bitte nicht auf eine nationalsozialistische Vergangenheit festlegen wollen. Das ist dann wohl sicher unzutreffend. Der Begriff „Winterhilfe" ist einschlägig besetzt. Ich bedaure, aber ich meine, der Kollege Erler hat den Begriff gerade vor mir verwendet.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204115800
Ich rufe nunmehr die Frage 18 des Abgeordneten Eike Ebert auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß seit einigen Monaten — so z. B. am 7. September 1991 in Karlsbad, weiterer Termin am 13. Oktober 1991 — verstärkt bisher in staatlicher Treuhandschaft gehaltener und aus der Enteignung Sudetendeutscher stammender Immobilienbesitz in Versteigerungen privatisiert wird, und was hat die Bundesregierung unternommen bzw. was beabsichtigt sie zu unternehmen, um dieses Verhalten der tschechoslowakischen Behörden zu verhindern, das offenbar die Entschädigungsfrage vor Abschluß der laufenden Verhandlungen einseitig regeln soll?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, nach Ihrem Präliminarium: Der Bundesregierung ist bekannt, daß in der Tschechoslowakei im Zuge der Privatisierungen Immobilienbesitz aus staatlicher Hand privatisiert wird. Die Bundesregierung hat die Vertreibung der Deutschen und die entschädigungslose Einziehung des deutschen Vermögens stets als völkerrechtswidrig angesehen.
Sie hat diese Auffassung auch in den noch andauernden Verhandlungen mit der Tschechoslowakei über einen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vertreten. Der Regierung der CSFR ist diese Auffassung bekannt. Angesichts der bisher von der Regierung der CSFR vertretenen Position besteht jedoch keine Aussicht, daß sich die Regierung der CSFR gegenwärtig der Rechtsauffassung der Bundesregierung annähert.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204115900
Zusatzfrage des Abgeordneten Ebert.

Eike Ebert (SPD):
Rede ID: ID1204116000
Herr Staatsminister, können Sie bestätigen, daß diese Privatisierungen jetzt, nachdem die Verhandlungen begonnen haben, verstärkt stattfinden?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Soweit ich mich erinnern kann, haben wir, und zwar nicht nur die Bundesregierung, sondern viele Regierungen im Westen — und das greift das auf, was Herr Erler fordert —, verlangt, daß die sozialen und wirtschaftlichen Ref ormen in diesen Staaten schnell vorangehen. Der Begriff der Privatisierung hängt damit eng zusammen. Ich halte es für etwas schwierig, wenn wir auf der einen Seite dafür eintreten, daß konfisziertes Vermögen, durch den Staat enteignetes Vermögen, jetzt im Interesse eines schnellen Aufbaus einer funktionierenden Marktwirtschaft privatisiert werden soll, aber auf der anderen Seite gleichzeitig Vorwürfe erheben, wenn die tschechoslowakische Seite solches Vermögen, das sich vorher in der Hand einer kommunistischen Regierung als Staatseigentum befand, privatisiert.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204116100
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Ebert.

Eike Ebert (SPD):
Rede ID: ID1204116200
Würden Sie mir zustimmen, Herr Staatsminister, daß es sich unter den besonderen Umständen, unter denen jetzt dieses spezielle Vermögen zur Privatisierung ansteht, zumindest um einen unfreundlichen Akt gegenüber der Bundesrepublik handelt?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Das kann ich so nicht bestätigen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204116300
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Erler.

Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1204116400
Herr Staatsminister, Sie haben soeben als Hintergrund für die Beantwortung dieser Frage festgestellt, daß man sich mit der tschechoslowakischen Regierung über Entschädigungsfragen nicht einigen konnte. Ist der tatsächliche Grund dafür darin zu sehen, daß noch immer kein für die tschechoslowakische Regierung akzeptables Angebot der Bundesregierung zur Entschädigung von Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkriegs vorgelegt worden ist?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie Ihren Kollegen darauf aufmerksam machen, daß Forderungen der einen Seite Forderungen der anderen Seite nach sich ziehen. Wir sollten das bei den komplizierten Vertragsverhandlungen, die sonst sehr gut voranschreiten, nicht vergessen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204116500
Die Frage 19 des Abgeordneten Ludwig Stiegler soll auf seinen Wunsch schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen damit zur Frage 20 des Abgeordneten Dr. Hans de With:
Was hat der Bundesminister des Auswärtigen bei seinem jüngsten Besuch in Moskau getan, um die Überstellung des mit Haftbefehl gesuchten Erich Honecker in die Bundesrepublik Deutschland zu erreichen?
Herr Staatsminister.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, der Bundesminister des Auswärtigen hat gegenüber Staatspräsident Gorbatschow und gegenüber Außenminister Pankin die Forderungen der Bundesregierung nach Überstellung des früheren Staatsratsvorsitzenden der DDR, Honecker, nach Deutschland erneuert.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204116600
Zusatzfrage des Abgeordneten de With.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1204116700
Mit welchem Nachdruck hat er das getan, oder geschah das eher — Sie verzeihen, wenn ich das sage — floskelhaft? Denn die Presse, die Medien lassen erkennen, daß möglicherweise eine gewisse Halbherzigkeit der Bundesregierung zu spüren sei.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Aus Ihrer langen Kenntnis des Bundesaußenministers, Herr Kollege de With, vermute ich, daß Sie hier eigentlich mehr ihm als bestimmten Presseäußerungen trauen. Wenn er erklärt, daß er das mit dem entsprechenden Nachdruck getan hat, dann würde ich sagen, sollten wir das hier bitte nicht in Zweifel ziehen. Aber das ist natürlich Ihr gutes Recht.




Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204116800
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. de With.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1204116900
Wäre es nicht zumindest angebracht gewesen, daß der Bundesminister des Auswärtigen nach außen deutlich gemacht hätte, was er mit Nachdruck getan hat, um diesen Pressemeldungen — das ist nicht meine Meinung, ich zitiere nur und weise darauf hin — entgegenzutreten, damit nicht der fatale Eindruck der Halbherzigkeit entsteht?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, es gab ja falsche Pressemeldungen über dieses Gespräch, ausgelöst in der Sowjetunion durch TASS, die natürlich dementiert werden mußten, weil sie so nicht stimmten, Pressemeldungen, wonach schon ein Übereinkommen geschlossen worden wäre. Das ist inzwischen alles klargestellt worden.
Ich kann nur sagen, wir bemühen uns. Der Bundesaußenminister hat diese Bemühungen bei seinem Besuch in Moskau sehr deutlich gemacht. Ich kann Ihnen versichern, daß das nicht halbherzig oder gar formelhaft war.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204117000
Ich rufe nun die Frage 21 des Abgeordneten Dr. de With auf:
Hat der Bundesminister des Auswärtigen der UdSSR dabei mit Nachdruck verdeutlicht, daß die Flucht Honeckers aus der Bundesrepublik Deutschland mit Hilfe des Militärs der UdSSR rechtswidrig war und Artikel 7 des Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September 1990 widerspricht, in welcher Vorschrift auch die UdSSR dem vereinten Deutschland die volle Souveränität zuerkannt hat?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Die Forderung nach Überstellung Honeckers wurde auf der Grundlage der der Sowjetunion bekannten Rechtsauffassung der Bundesregierung erneuert. Der Rechtsanspruch würde allerdings dann hinfällig, wenn sich Honecker zur freiwilligen Rückkehr nach Deutschland entschließt.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204117100
Zusatzfrage, Herr Kollege de With.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1204117200
Herr Staatsminister, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß dies keine konkrete Antwort auf meine Frage ist? Denn in meiner Frage war ein Vertrag angesprochen worden.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann das hier nur so beantworten, wie ich es Ihnen soeben beantwortet habe.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204117300
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. de With.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1204117400
Können Sie mir dann zumindest bestätigen, daß die verneindende oder eher zögerliche Haltung der UdSSR nach dem, wie ich meine, vorangegangenen Rechtsbruch völkerrechtlicher Art durch das russische Militär auch von Ihnen so gesehen wird, zumindest als Verstoß gegen den Geist des Zwei-plus-Vier-Vertrages gesehen wird?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Das ist, so glaube ich, der Sowjetunion immer wieder sehr deutlich gesagt worden, auch beim Besuch von Herrn Genscher in Moskau.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204117500
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Erler.

Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1204117600
Herr Staatsminister Schäfer, sind der Bundesregierung Äußerungen oder Meinungen der sowjetischen Regierung bekannt, daß die Rechtsauffassung, die hinter diesen Vorgängen steht, etwas damit zu tun hat, daß die Sowjetunion nicht zulassen möchte, daß ehemalige Verbündete dieser doch recht großen Macht nachträglich für Dinge, die sie als Verbündete der Sowjetunion getan haben, vor Gericht gestellt werden?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich möchte jetzt nicht unbedingt die Haltung der Sowjetunion hier qualifzieren und Mutmaßungen über Gründe anstellen, die zu dieser Haltung geführt haben; ich bitte um Ihr Verständnis dafür. Aber Interpretationen, wie Sie sie hier geben, sind nicht auszuschließen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204117700
Herr Staatsminister, ich bedanke mich für die Beantwortung der Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich, dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Bernd Schmidbauer zur Verfügung.
Die Frage 61 des Abgeordneten Klaus Harries sowie die Fragen 62 und 63 des Abgeordneten Dr. Peter Paziorek werden auf deren Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.

Jutta Müller (SPD):
Rede ID: ID1204117800

Wie beurteilt die Bundesregierung die Möglichkeit, den Deutschen Bundestag und Bundesbehörden mit den langfristig kostengünstigen und energiesparenden Öko-Lampen auszustatten und wie würde die Bundesregierung die Signalwirkung einer solchen Aktion in der Öffentlichkeit beurteilen?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.

Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1204117900
Frau Kollegin Müller, die Bundesregierung hat bereits sehr frühzeitig die Möglichkeit wahrgenommen, durch den Einsatz von Leuchtstofflampen bzw. Kompaktleuchtstofflampen Energie zu sparen und die Umwelt zu entlasten. Anders als in Wohngebäuden werden in Verwaltungsgebäuden bereits seit vielen Jahren etwa 90 % der künstlichen Beleuchtung durch den Einsatz von Leuchtstofflampen für Langfeldleuchten erbracht.
Mit der auf Neubauten sowie Umbau- und Erweiterungsbaumaßnahmen zielenden Verwaltungsvorschrift „Beleuchtung' 84" hat die Bundesregierung die Verwendung von traditionellen Glühlampen bereits frühzeitig auf Ausnahmefälle beschränkt.
Eine 1990 durchgeführte Befragung in den Bundesministerien führte zu dem Ergebnis, daß gegenwärtig



Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer
die Möglichkeiten zum Einsatz von Leuchtstofflampen und Kompaktleuchtstofflampen weitgehend genutzt werden. Ausnahmen gibt es lediglich dort, wo besondere Gründe vorliegen, also z. B. bei angemieteten Gebäuden usw. In diesen Fällen verhandelt die Bundesregierung mit den Vermietern mit dem Ziel, die bisher installierten Glühlampen auszutauschen. Insgesamt hat sich bestätigt, daß die Energiesparlampen und energiesparenden Leuchtstoffkompaktröhren sehr weit verbreitet sind.
Ich darf Ihnen ein Beispiel nennen: Im neuen Dienstgebäude des Bundesministeriums für Verkehr werden fast ausschließlich Energiesparlampen eingesetzt.
Nach der Umfrage ist davon auszugehen, daß bis Ende 1991 die technisch und wirtschaftlich möglichen Umrüstungen in allen Häusern weitgehend abgeschlossen sind und der Restanteil der nichtumrüstbaren Glühbirnen in der Regel nur noch zwischen 1 % und 15 % liegt.
Ich darf noch darauf hinweisen, daß es ein vom Umweltbundesamt herausgegebenes Handbuch „Umweltfreundliche Beschaffung" gibt, dem ebenfalls Hinweise für die Umrüstung auf solche Lampen zu entnehmen sind.
Im übrigen wird derzeit geprüft, ob für die Produktgruppe „Energiesparlampen" ein Umweltzeichen vergeben werden kann.
Da die Antwort normalerweise viel länger geworden wäre, möchte ich Sie noch darauf hinweisen, daß ich Ihnen zu dieser Frage im Anschluß hieran zusätzliche Hintergrundinformationen mit all den Antworten der Bundesregierung zu dieser Frage aushändige, die im Laufe der letzten Monate von uns und anderen Häusern gegeben wurden. Daraus können Sie dann entnehmen, wie sich diese Diskussion bei Fragestunden entwickelt hat.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204118000
Eine Zusatzfrage der Frau Kollegin Müller.

Jutta Müller (SPD):
Rede ID: ID1204118100
Herzlichen Dank. Dies alles ist schon sehr positiv.
Ich habe nur noch eine Verständnisfrage. Sie sagten gerade, es gebe teilweise Schwierigkeiten mit Vermietern, weil hier irgendwelche Lampen umgebaut werden müssen. Im Handel gibt es aber schon Energiesparlampen zu kaufen, die genau wie jede Glühbirne in jede Lampe passen. Man braucht doch nur die alte herauszudrehen und die neue einzuschrauben.
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Da stimme ich Ihnen völlig zu. Dieses ist aber nicht das Problem.
Das Problem ist, daß bei angemieteten Gebäuden, wo Veränderungen zu realisieren sind, die Frage des Mietvertrags eine gewisse Rolle spielt. Ich sagte aber: Dies sind Ausnahmetatbestände.
In der Regel wird umgerüstet. Sie haben recht: Es gibt inzwischen austauschbare Fassungen; es gibt inzwischen genug Möglichkeiten. Keiner hat die Ausrede, dies sei technisch nicht realisierbar.

(Jutta Müller [Völklingen] [SPD]: Herzlichen Dank!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204118200
Die nächste Frage ist die Frage 65 der Frau Kollegin Susanne Kastner:
Warum wurden vom Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Klaus Töpfer, bei der Vorlage des Berichts „Sofortprogramm Trinkwasser 1990" keine konkreten Angaben über die hohe Zahl bekannter Beanstandungen der Trinkwasserqualität in den neuen Ländern z. B. wegen Nitrat, Aluminium und in bezug auf den pH-Wert gemacht, obwohl Greenpeace und dem Deutschen Bundestag gegenüber behauptet wurde, alle Trinkwasserdaten seien veröffentlicht worden, und mit welchen organisatorischen und finanziellen Maßnahmen wurden inzwischen die Versorgung von Säuglingen mit einwandfreiem Wasser in den Fällen sichergestellt, in denen den Hygieneinstituten Nitratbelastungen über 50 oder 90 oder 120 mg/1 in zentralen Wasserversorgungsanlagen und Eigenversorgungsanlagen bekannt sind?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Liebe Frau Kollegin Kastner, auf Ihre Frage 65 die Antwort:
Ziel des „Sofortprogramm Trinkwasseruntersuchung in den neuen Bundesländern" war es, bestimmte Parameter, die bisher nicht oder nur unzureichend analysiert werden konnten, in besonders gefährdeten Versorgungsgebieten zu untersuchen. Neben Aluminium waren Schwermetalle, organische Lösemittel und Pflanzenschutzmittel Bestandteile des Analyseprogramms.
Da das Programm der Feststellung akuter Gesundheitsgefährdung durch diese Stoffe diente, wurden im Abschlußbericht nur die entsprechenden Grenzwert-und Richtwertüberschreitungen dargestellt.
Das BMU hat die ihm vorher zur Verfügung stehenden Berichte früherer Einrichtungen in der ehemaligen DDR und die entsprechenden Pressemitteilungen veröffentlicht, z. B. Eckwerte der ökologischen Sanierung.
Die Bundesregierung hatte für 1990 ca. 2 Millionen DM für die Ersatzwasserbeschaffung bei der Säuglingssonderversorgung bereitgestellt. Auf Grund der Länderkompetenz bei der Sicherstellung der Wasserversorgung sind für die finanziellen und organisatorischen Maßnahmen bezüglich der Säuglingssonderversorgung die einzelnen Bundesländer zuständig.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204118300
Frau Kollegin Kastner, eine Zusatzfrage.

Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1204118400
Herr Staatssekretär, Sie wissen ja, daß Bund und Länder im Einigungsvertrag aufgerufen werden, die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen unter Beachtung des Vorsorge-, Verursacher- und Kooperationsprinzips zu schützen. Ich denke, daß gerade die Versorgung von Säuglingen zu dieser Maßnahme gehört.
Ich hätte gern von Ihnen gewußt, inwieweit der Bund über die „Sofortkommission Trinkwasser" beim Bundesgesundheitsamt in dieser Frage auf die schlimme Situation in den neuen Bundesländern einwirkt.



Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich werde in der Antwort auf Ihre nächste Frage genauer auch auf diesen Punkt eingehen. Vielleicht darf ich deshalb zunächst auf Ihre folgende Frage antworten, damit dies im Zusammenhang dargestellt werden kann.

(Susanne Kastner [SPD]: Gut; einverstanden!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204118500
Darum nehmen wir die Beantwortung der nächsten Frage vorweg; Ihr Fragerecht ist damit nicht eingeschränkt.
Ich rufe die Frage 66 der Frau Kastner auf:
Reichen die im Haushalt 1991 und 1992 des Bundesministeriums für Gesundheit und des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vorgesehenen Mittel aus, um bis Ende 1991 eine flächendeckende Untersuchung aller Trinkwasserversorgungsanlagen und -netze in den neuen Bundesländern und erforderliche Notversorgungsmaßnahmen durchzuführen, und welche Mittel wären notwendig, um in nächster Zeit die notwendigen Sanierungsmaßnahmen an den korrodierten Leitungsnetzen und den Trinkwasseraufbereitungs- und -versorgungsanlagen in den Gebieten durchzuführen, in denen die gültigen Werte der Trinkwasserverordnung bzw. die vom Bundesgesundheitsamt empfohlenen Ausnahmewerte (z. B. 90 mg/1 Nitrat) nicht eingehalten werden können?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, zur Unterstützung der neuen Länder bei ihren Überwachungs- und Kontrollaufgaben im Bereich der Trinkwasserversorgung hat der Bundesminister für Gesundheit die Fachkommission „Soforthilfe Trinkwasser" eingerichtet. Für die Haushaltsjahre 1991/92 stehen der Kommission insgesamt 11 Millionen DM, davon 2 Millionen DM qualifiziert gesperrt, zur Verfügung. Damit sollen Wasserversorgungsanlagen untersucht und Wasseraufbereitungsprojekte modellhaft gefördert werden.
Eine flächendeckende Untersuchung aller zentralen Wasserversorgungsanlagen erfordert einen Gesamtaufwand von ca. 42 Millionen DM, der nur mit erheblichen Anstrengungen der Länder finanzierbar ist.
Für Umweltschutzsofortmaßnahmen in den neuen Ländern werden vom BMU Mittel für 1991 und 1992 in Höhe von rund 800 Millionen DM bereitgestellt. Mit Stand 13. September 1991 sind hieraus für Projekte im Bereich der Trinkwasserversorgung bereits 116 Millionen DM zugesagt worden.
Gefördert werden in erster Linie konkrete Sanierungsprojekte, wie Anschluß an zentrale Wasserversorgungsanlagen, Ablösung nitratbelasteter Hausbrunnen usw. Notversorgungsmaßnahmen, z. B. die Säuglingssonderversorgung, sind nicht Bestandteil dieses Förderprogramms. Deshalb hatte ich gebeten, das zusammenzufassen.
Über die notwendigen Investitionsmittel zur Sanierung von Leitungsnetzen und Aufbereitungs- bzw. Versorgungsanlagen, besonders in Belastungsgebieten, liegen keine spezifischen Daten vor. Sehr groben Schätzungen zufolge ist für die Sanierung des gesamten Trinkwassernetzes in den neuen Bundesländern ein Mittelbedarf in zweistelliger Milliardenhöhe nicht auszuschließen.
Aus dieser Antwort, darf ich ergänzen, ist deutlich geworden, daß wir für dieses Sonderprogramm Säuglingstrinkwasserversorgung keine Bundeskompetenz haben, sondern daß dies bei den Ländern realisiert wird, daß aber in Absprache mit den Ländern die Projektliste koordiniert wurde und die Investitionsmaßnahmen aus dem Sofortprogramm des Bundes letzten Endes dazu beitragen, daß diese Versorgungssituation gebessert werden kann.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204118600
Eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Kastner.

Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1204118700
Herr Staatssekretär, geben Sie mir recht, daß die von Ihnen genannten 11 Millionen DM für die im Aufbau befindlichen Gesundheitsämter und Wasserbehörden sowie für die Schulung deren Personals nicht ausreichend sind?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich kann mir vorstellen, daß bei dem desolaten Zustand der Grundwasser- und Trinkwassersituation in den fünf neuen Ländern die Mittel in der Tat nicht ausreichen. Ich kann Ihnen aber sagen, daß wir mit den vorhandenen Mitteln derzeit das überhaupt Mögliche leisten. Wenn Sie sich einmal die Aufstellungen der unterschiedlichen Untersuchungen aus den Jahren 1988 bis 1990/91 und die Erfassung der Daten sowie die ganzen Bemühungen, die inzwischen im Rahmen des Sofortprogramms gelaufen sind, angesehen haben, dann wissen Sie, daß im Augenblick wesentlich mehr Mittel nicht zu verwenden wären, daß es also weniger an den Mitteln als an der Möglichkeit liegt, dies aufzuarbeiten und zu realisieren.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204118800
Eine weitere Zusatzfrage der Frau Kollegin Kastner.

Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1204118900
Damit, Herr Staatssekretär, bestätigen Sie eigentlich meine Frage, daß nämlich der gesamte Mittelbau der ehemaligen Gesundheitsämter und die Schulung des Personals des ehemaligen Hygieneinstituts nicht ausreichend finanziell gefördert werden können. Ich frage Sie, ob nicht eine Möglichkeit besteht, diese 11 Millionen DM in den nächsten Jahren im Hinblick auf die Schulung und auf diesen Mittelbau, der so wichtig ist, aufzustocken?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich gehe davon aus — ich sagte dies in meiner Antwort — , daß dies ein sehr schwieriges Feld des Aufarbeitens alter Daten und der Realisierung im Rahmen des Sofortprogramms ist. Ich gehe aber nicht davon aus, daß die Mittel nicht ausreichen, um dieses Programm zu realisieren.
Im übrigen stimme ich Ihnen zu, daß dies eine Aufgabe der nächsten Jahre ist, besonders im Hinblick darauf, daß die Trinkwasserrichtlinie in vier Jahren auch in den neuen Bundesländern eingehalten werden muß und daß wir aus den alten Daten die katastrophale Situation von Tag zu Tag besser überblikken.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204119000
Eine weitere Zusatzfrage der Frau Kollegin Kastner.

Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1204119100
Herr Staatssekretär, im Hinblick auf die sehr schlechte Versorgung von Kleinkindern und Säuglingen, die ja in den neuen Bundesländern zum Teil mit Wasser von über 120 mg/l Nitrat-



Susanne Kastner
gehalt ernährt werden müssen, frage ich Sie noch einmal: Wieweit plant eigentlich die Bundesregierung im Rahmen einer finanziellen Soforthilfe für die Kommunen, da unmittelbar tätig zu werden?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Mir ist nicht bekannt, daß es an den Mitteln liegt, ein solches Sofortprogramm für die Trinkwasserversorgung von Säuglingen zu realisieren.
Ich gehe davon aus, daß das ganze Maßnahmenpaket einschließlich dessen, was ich vorhin vorgetragen habe, auch der Notversorgung dort, wo im Augenblick der Trinkwasserverbund oder das Verbundsystem nicht realisiert werden, gewährleistet ist.
Ich bin aber gern bereit, über die Länder noch einmal darauf hinzuwirken. Ich sagte bereits: Die Kompetenz liegt bei den Ländern. Dies ist kein Abschieben der Verantwortung. Sie haben ja aus den vorgetragenen Daten und Sofortmaßnahmen gesehen, daß wir es auch hier ernst meinen. Obwohl die Häuser hier unterschiedliche Kompetenzen haben, stehen wir voll zu der Verantwortung. Wir gehen davon aus, daß es im Rahmen der Trinkwassersonderversorgung kein Problem gibt.
Aber ich sichere Ihnen noch einmal zu, daß wir im Rahmen Ihrer Fragen in diesem Zusammenhang noch einmal zu einer Abfrage kommen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204119200
Ihre letzte Zusatzfrage, Frau Kollegin Kastner.

Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1204119300
Ich hätte von Ihnen gern noch gewußt, Herr Staatssekretär, wie die Bundesregierung zu den von der Treuhand sehr massiv angestrebten Privatisierungsplänen im Rahmen der Wasserversorgung in den fünf neuen Bundesländern steht.
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Wir gehen davon aus, daß im Rahmen der Verhandlungen, die in den letzten Monaten durchgeführt wurden, das Interesse der Kommunen an ihren Trinkwasserversorgungsbetrieben ausreichend realisiert werden konnte und daß es nicht zu den von Ihnen angeschnittenen Privatisierungen kommt. Das sage ich für den Fall, daß Sie jetzt von der Umstrukturierung der WABs sprechen. Wenn Sie das nicht meinen, bitte ich Sie, Ihre Frage zu konkretisieren, was Sie mit Versorgungsbetrieben meinen, ob Sie überregionale Netze meinen oder ob Sie die direkte Trinkwasserversorgung im Rahmen der Umstrukturierung der WABs meinen.

(Susanne Kastner [SPD]: Ich meine — — Ich darf nicht mehr fragen; es tut mir leid!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204119400
Nein.
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Aber wenn ich eine Antwort für den Fall geben darf, daß ich Sie richtig verstanden habe: Ich denke, wenn es dem Bürger nutzt, ist gegen eine Privatisierung einzelner Bereiche nichts einzuwenden.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204119500
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Nachdem nun auch diese beiden Fragen und die Zusatzfragen beantwortet sind, stehen wir jetzt am Ende der Fragen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramts. Zur Beantwortung steht uns Herr Staatsminister Dr. Lutz Stavenhagen zur Verfügung.
Als erste ist die Frage 67 des Abgeordneten Peter Conradi zu beantworten:
Trifft es zu, daß der ehemalige Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Dr. Wieck, dem Bundeskanzleramt am 9. März 1990 einen Text für die Beantwortung meiner Frage 1 (Drucksache 11/6737) vorgeschlagen hat, der nicht identisch ist mit der Antwort des Bundeskanzleramts vom 13. März 1990 an mich, und wenn ja, warum hat das Bundeskanzleramt den Text geändert?
Bitte, Herr Staatsminister.

Dr. Lutz G. Stavenhagen (CDU):
Rede ID: ID1204119600
Herr Kollege, das trifft zu, mit der Präzisierung, daß der Vorschlag nicht vom früheren Präsidenten, Dr. Wieck, sondern von seinem Vertreter, Herrn Vizepräsidenten Dr. Münstermann, unterschrieben war. Den Text habe ich geändert, weil er statt einer Beantwortung Ihrer Frage in der Sache die Verweisung an die Parlamentarische Kontrollkommission enthielt und ich von einer solchen Verweisung in diesem Fall nicht Gebrauch machen wollte. Ich war der Meinung, Ihnen in der Sache antworten zu können, ohne Geheimhaltungsnotwendigkeiten zu vernachlässigen. Ich hatte auf Grund meiner Unterrichtung durch den BND-Präsidenten keinen Grund zu der Annahme, die Antwort nicht so geben zu können, wie ich es getan habe.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204119700
Zusatzfrage.

Peter Conradi (SPD):
Rede ID: ID1204119800
Herr Staatsminister, was haben Sie dem BND-Präsidenten bei der Besprechung am 16. Januar 1990 geraten, als er Ihnen die Wunschliste des Herrn Schalck-Golodkowski vorgetragen hat, in der unter Position 2 stand: Bundespapiere unter Decknamen?
Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, das Ergebnis der Besprechung vom 16. Januar war klar, daß Herr Schalck-Golodkowski durch den Bundesnachrichtendienst zu befragen ist, daß eine Betreuung in nachrichtendienstlichem Sinne nicht zu erfolgen hat. Ich darf auch darauf hinweisen, daß diese sogenannte Wunschliste dort nicht im einzelnen, Punkt für Punkt, besprochen worden ist und auch nicht übergeben worden ist. Es ist eine Liste, die zur Gesprächsvorbereitung des Präsidenten diente.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204119900
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Conradi.

Peter Conradi (SPD):
Rede ID: ID1204120000
Anlaß meiner Frage, Herr Staatsminister, war die Notiz im „Spiegel" vom 12. Februar 1990, in der es hieß — aus Bonner Quellen, wohlgemerkt — , der BND habe dem neuen Informanten selbstverständlich angeboten, ihm bei Bedarf zu helfen, etwa mit einem Reisepaß.
Haben da bei Ihnen nicht alle Glocken geklingelt, und haben Sie nicht am selben Tag den BND aufgefordert, sich dazu zu äußern, und hat der BND Ihnen



Peter Conradi
nicht am selben Tag in einem Fernschreiben mitgeteilt, daß im Tenor diese Meldung zutreffe?
Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, das Fernschreiben, das Sie erwähnen, sagt in der Tat, im Tenor treffe der „Spiegel"-Bericht zu. Zu der Frage der Reisepässe enthält sich das Fernschreiben weiterer Aussagen. Ich verweise auf die Verwaltungsermittlungen des Bundesnachrichtendienstes, die eben zu diesem Schluß kommen, daß es sich weiterer Aussagen enthält.
Ich darf darüber hinaus darauf hinweisen, daß die im Fernschreiben enthaltenen Querverweise auf einen Bericht vom 30. Januar, ein Gespräch vom gleichen Datum und ein Gespräch vom 6. Februar folgendes deutlich machen: In dem Gespräch vom 6. Februar ist über das legale und amtliche Namensänderungsverfahren und den Namensänderungswunsch von Herrn Schalck-Golodkowski gesprochen worden. In dem Bericht vom 30. Januar, den der Präsident gegeben hat, ist kein Hinweis auf Decknamenpapiere enthalten.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204120100
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Friedhelm Julius Beucher.

Friedhelm Julius Beucher (SPD):
Rede ID: ID1204120200
Herr Staatsminister, Sie haben ja gesagt: Sie haben es in Original vorliegen gehabt. Wir wissen es leider nur aus den Zeitungen und von den Ausführungen des Herrn Porzner gestern im Ausschuß.
Sind Sie mit mir der Meinung, daß ein Staatsminister die Brisanz begreifen muß, wenn in dem Schreiben steht — deshalb zitiere ich —, man habe dem neuen Informanten selbstverständlich angeboten, ihm bei Bedarf zu helfen, etwa mit einem Reisepaß, und daß er begreifen muß, daß es sich hierbei zwangsläufig um eine Aktion „falsche Pässe" handeln muß, um so mehr, wenn dieser neue Informant, nämlich Herr Schalck-Golodkowski, Ihnen gegenüber wieder über den Weg BND im Januar 1990 hat erklären lassen, daß er neben vielen anderen Wünschen insbesondere eine neue Identität braucht, was unzweifelhaft in der Sprache aller Geheimdienste ein anderer Paß ist?
Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, dieses Fernschreiben hat einen Vorlauf und einen Nachlauf, der in den Verwaltungsermittlungen ausführlich gewürdigt ist. Und in den nachfolgenden Gesprächen ist stets nur von dem Wunsch gesprochen worden, daß Herr Schalck-Golodkowski eine amtliche Identitätsänderung haben wollte, und es ist immer darauf hingewiesen worden, daß dafür die bayerischen Behörden zuständig sind und sonst niemand. Man muß es im Gesamtkontext auch des Nachlaufs sehen. Und der Verweis auf die Gespräche belegt ja, daß über Decknamenpapiere nicht gesprochen worden ist. Das ergibt sich klar aus den Verwaltungsermittlungen, die der BND letzte Woche abgeschlossen hat und die wir dem Untersuchungsausschuß und der Parlamentarischen Kontrollkommission gleich zur Verfügung gestellt haben.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204120300
Eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Ingrid Köppe.

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1204120400
Ist es üblich, daß der BND die Ausstellung von Decknamenpapieren betreibt bzw. unterstützt, ohne daß Sie davon unterrichtet werden; und in welchem Umfang geschieht das?
Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Es ist bei der Befragung von — ich nenne es mal — klassischen Überläufern eher eine Ausnahme. Was bei der Befragung von klassischen Überläufern vorkommt, das ist allerdings ein eher normales Verfahren, ist, daß solche Personen geschützt untergebracht werden, damit ihnen keine Gefahr droht. Das Ausstellen von Decknamenpapieren ist eine große Ausnahme.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204120500
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Horst Peter (Kassel).

Horst Peter (SPD):
Rede ID: ID1204120600
Herr Staatsminister, Sie haben vorhin dem Kollegen Conradi auf seine zweite Frage geantwortet, daß der Wunschkatalog bei den Gesprächen nicht im einzelnen Punkt für Punkt eine Rolle gespielt habe. Hat der Wunschkatalog denn in einer anderen Form, in allgemeiner Form, eine Rolle gespielt?
Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, das Ergebnis dieses Gespräches zwischen Herrn Präsidenten Wieck, dem Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt und mir war eindeutig und unstreitig: Befragen: ja; Betreuen im nachrichtendienstlichen Sinne: nein. Das ist auch in Aktennotizen für den Bundesnachrichtendienst festgehalten und wird dort auch so gesehen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204120700
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Wolfgang Roth.

Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1204120800
Herr Staatsminister, ich setze jetzt voraus, daß es richtig ist, daß Sie am 13. März auf die Fragen des Abgeordneten Conradi nach Ihrem Wissen wahrheitsgemäß geantwortet haben. Gleichzeitig sagen Sie, und darauf beruht meine anschließende Frage, daß Sie am 28. März den vollen Sachverhalt erfahren haben.
Wann haben Sie sich denn eigentlich im Jahr 1990 bemüht, im Parlament, dem Sie, wie Sie sagen, unwissentlich eine falsche Aussage überreicht haben, die Korrektur zu bringen, und wann haben Sie den Abgeordneten Conradi persönlich darauf angesprochen, daß Sie ihm gegenüber unwissentlich eine völlig falsche Aussage gemacht haben? Wann ist das geschehen? Wann haben Sie selber die Initiative übernommen, um diese gravierende Fehlinformation des Parlaments zu korrigieren?
Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege Roth, die Unterrichtung am 28. März erfolgte in der Form eines Durchdrucks eines Schreibens an die Bundesminister Genscher und Schäuble. In diesem Schreiben, in dem die Befragungsergebnisse, die bis dann angefallen waren, umfassend dargelegt wurden, heißt es nicht mehr als wie folgt: Da dem Bundesnachrichtendienst ernst zu nehmende Hinweise einer Gefährdung vorlagen — ich verkürze das — , wurden die durch ein privates Sicherheitsunternehmen betriebenen Schutzmaßnahmen in dem Punkt unterstützt, daß



Staatsminister Dr. Lutz G. Stavenhagen
die behördliche Ausstellung eines vorläufigen Reisepasses für Schalck-Golodkowski BNDseitig durch einen Vertreter begleitet wurde.
Dies allerdings — das räume ich ein — hat mir die Brücke zu der Frage des Kollegen Conradi vom 13. März nicht gegeben. Es war eine Unterrichtung, die die aktive Rolle und die passive Rolle klar umdreht. Es ist erst jetzt deutlich geworden, als die Unterlagen für den Untersuchungsausschuß zusammengestellt wurden.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204120900
Eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Dorle Marx.

Dorle Marx (SPD):
Rede ID: ID1204121000
Sie haben soeben ausgeführt, daß in einem Gespräch am 6. Februar zwar nicht über Reisepässe, aber über den Namensänderungswunsch gesprochen worden sei, und haben gesagt, grundsätzlich sei von Ihnen die Weisung erteilt worden: Befragung: ja; Betreuung: nein. Ist es so, daß letztendlich mit der Ausstellung der falschen Papiere, des falschen Reisepasses, des Reisepasses unter einer falschen Identität der BND Ihren Weisungen zuwider gehandelt hat?
Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Ich bin der Auffassung, daß die Zurverfügungstellung von Decknamenpapieren für die Zeit von sechs Wochen eine Betreuungsmaßnahme darstellt und es deswegen notwendig gewesen wäre, unmißverständlich und präzise darüber zu informieren und sich darüber abzustimmen. Dies ist in der Tat so.

(Peter Conradi [SPD]: Aber Konsequenzen haben Sie nicht gezogen?)

— Herr Kollege, ich verweise — —

(Peter Conradi [SPD]: Das war keine Frage, das war nur ein Zwischenruf!)

— Darf ich auf den Zwischenruf antworten?

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204121100
Bitte, wenn Sie es wollen.
Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Ich verweise auf das, was ich eben dem Kollegen Roth vorgelesen habe. Das Schreiben vom 28. März hat nicht erkennen lassen, was jetzt bei der Vorbereitung der Untersuchungsausschußakten klar ist: wer die aktive Rolle und wer die passive Rolle gespielt hat. Es ist dort von der Begleitung einer behördlichen Maßnahme die Rede, die zu diesem Zeitpunkt übrigens bereits abgeschlossen war. — Ich bitte um Nachsicht.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204121200
Das war die Antwort auf einen Zwischenruf.
Wir kommen zur Beantwortung der Frage 68 des Abgeordneten Conradi:
Trifft es zu, daß der ehemalige Präsident des Bundesnachrichtendienstes in seinem Brief vom 9. März 1990 an das Bundeskanzleramt auf seinen Vortrag bei Staatsminister Dr. Stavenhagen am 28. Februar 1990 und auf ein Schreiben vom 5. März 1990 verwiesen hat, und was waren der Inhalt des Vortrages und des Schreibens?
Bitte, Herr Staatsminister.
Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, auch Ihre zweite Frage ist mit Ja zu beantworten. Inhalt des Vortrags waren u. a. die Ergebnisse aus den bis dahin durchgeführten Befragungen Schalck-Golodkowskis und die Gestaltung des Kontakts zu ihm. Dabei wurde auch der Wunsch Schalck-Golodkowskis nach der Ausstattung mit regulären bundesdeutschen Ausweispapieren behandelt. Der BND hat dieses Thema in einem späteren Vermerk über die Besprechung als „Einbürgerungsverfahren" bezeichnet. Das hatte jedoch nichts mit der Beschaffung von Decknamenpapieren durch den BND zu tun, die eine ausschließlich nachrichtendienstlich motivierte Sicherheitsmaßnahme war. Darüber ist am 28. Februar
— auch dies ergeben die Verwaltungsermittlungen — kein Wort gesagt worden.
Nach dem Ergebnis des Verwaltungsermittlungsverfahrens muß nach allen vergeblichen Versuchen, es zu finden bzw. seinen Eingang im Bundeskanzleramt oder seinen Ausgang beim BND festzustellen, das Schreiben vom 5. März 1990 als nicht existent betrachtet werden. Auch dies ist Ergebnis der Verwaltungsermittlungen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204121300
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Conradi; bitte.

Peter Conradi (SPD):
Rede ID: ID1204121400
Nachdem ich jetzt zur Kenntnis genommen habe, Herr Staatsminister, daß nach den verwaltungsinternen Ermittlungen des BND im August dieses Jahres zwei Gespräche mit Ihnen, nämlich am 16. Januar und am 28. Februar 1990, nicht so stattgefunden haben, wie die Sprechzettel und Notizen des BND nachweisen — bei zwei Gesprächen wird jetzt also nachträglich behauptet, sie hätten sich nicht mit den Pässen befaßt --, müssen wir uns nun auf den Brief vom 5. März konzentrieren.
Meine erste Frage dazu ist: Könnte es sein, daß dies gar kein Schreiben des BND an das Bundeskanzleramt, sondern vielleicht einer anderen Behörde, vielleicht sogar auch einer Behörde des Freistaats oder eines anderen Ministeriums, an das Bundeskanzleramt gewesen ist, auf das sich der BND-Präsident bezog?
Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, ich wüßte nicht, welche Behörde zu diesem Thema hätte Stellung nehmen sollen. Ich will nur noch einmal präzisieren: Am 16. Januar ist über die Frage „Befragung: ja; Betreuung: nein" gesprochen worden.

(Peter Conradi [SPD]: Wunschliste!)

— Die Wunschliste — ich sagte es bereits — wurde dort nicht übergeben. Das Ergebnis des Gespräches ist völlig klar.
In bezug auf das Ergebnis des Gespräches vom 28. Februar will ich darauf hinweisen, daß es kein Vier-Augen-Gespräch war, sondern in einem größeren Kreis stattfand. Die Teilnehmer BNDseits an diesem Gespräch sind zu den Verwaltungsermittlungen klar befragt worden. Ihre Antworten lassen keinen Zweifel zu.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204121500
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Conradi.




Peter Conradi (SPD):
Rede ID: ID1204121600
Ich kann mir ja vorstellen, daß im Bundeskanzleramt Akten verlorengehen; aber in einer ordentlich geführten Behörde, wie ich das vom BND doch annehme, gibt es ja Brieftagebücher und ähnliches. Ist im Brieftagebuch da am 5. März eine Leerstelle? Und im Zusammenhang damit: Wenn Sie das im Brief erwähnte Schreiben vom 5. März nicht bekommen haben, warum haben Sie nicht am selben Tag sofort beim BND nachgefragt: Wo ist denn der Brief vom 5. März, auf den ihr euch da beruft?
Dr. Lutz Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, nach Aussage des Bundesnachrichtendienstes, die in den Verwaltungsermittlungen dargelegt ist, gibt es keinen Ausgangsvermerk, keinen entsprechenden Hinweis — ein solches Schreiben wäre auch mit Sicherheit eingestuft — , daß es dort abgegangen ist, und bei uns im Bundeskanzleramt auch keinen Ankunftseintrag.
Der Grund dafür, daß damals nicht weiter nach diesem Schreiben geforscht worden ist, ist der, daß der Verweis auf das Gespräch am 28. Februar, das in einem größeren Kreis stattfand, mir unmißverständlich klarmachen mußte, daß die Auskunft, die ich Ihnen gegeben habe, die richtige ist; denn dort ist das — ich sage es noch einmal in Worten des BND — Einbürgerungsverfahren von Herrn Schalck-Golodkowski angesprochen worden, nicht aber die Schutzmaßnahme, die ich als Gutmann-Papiere bezeichne.

(Zuruf des Abg. Peter Conradi [SPD])


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204121700
Eine weitere Zusatzfrage hat der Abgeordnete Friedhelm Beucher.

Friedhelm Julius Beucher (SPD):
Rede ID: ID1204121800
Herr Staatsminister, kann es denn sein, daß es sich bei diesem Brief vom 5. März in Wirklichkeit um ein Schreiben vom 6. März handelt, das diesen für uns auch gestern im Ausschuß nicht nachvollziehbaren, der Lichtgeschwindigkeit ähnlichen Vorgang beinhaltet, nämlich einen Eingangsstempel vom 5. März hatte?
Dr. Lutz Stavenhagen, Staatsminister: Es gibt mit Datum vom 6. März eine Gesprächsniederschrift oder einen Gesprächsvermerk, muß ich besser sagen, über das Gespräch vom 28. Februar. Zu dem Gespräch vom 28. Februar habe ich hier Stellung genommen, und das ist in den Verwaltungsermittlungen ausführlich gewürdigt worden; sie kommen zu dem Schluß, daß dort über die Gutmann-Papiere nicht gesprochen worden ist.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204121900
Eine weitere Zusatzfrage hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Roth.

Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1204122000
Herr Staatsminister, ist meine Information richtig, daß der BND in seinem Brief vom 9. März zur Vorbereitung Ihrer Antwort auf die Frage von Herrn Conradi für den 13. März empfohlen hat, dem Herrn Conradi nur zu antworten, die ganze Angelegenheit solle doch möglichst in der PKK allein besprochen werden?
Dr. Lutz Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, sinngemäß ist das richtig in anderer Formulierung; aber ich bin lange genug Parlamentarier — wie Herr Conradi und auch Sie — , um zu wissen, daß mit so einer Antwort Herr Conradi kaum zufrieden gewesen wäre. Da ich fest davon überzeugt war, daß meine Antwort eben richtig ist, hatte ich keine Bedenken, sie ihm auch in der Sache zu geben.

(Zuruf des Abg. Wolfgang Roth [SPD])


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204122100
Eine weitere Zusatzfrage hat jetzt die Frau Abgeordnete Ingrid Köppe.

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1204122200
Wenn Sie Gespräche mit BND-Mitarbeitern führen — wie z. B. am 28. Februar —, ist es dann üblich, daß diese Gespräche nur von der BND-Seite oder auch von Ihrer Seite protokolliert werden, bzw. werden Ihnen anschließend Gesprächsprotokolle vom BND zugestellt?
Dr. Lutz Stavenhagen, Staatsminister: Frau Kollegin, es gibt keine Protokolle. Bei uns ist es so, daß wir uns natürlich aufschreiben, wo Handlungsbedarf besteht. Aber wenn es sich um Unterrichtungen handelt — etwa über den Fortgang der Befragung von Herrn Schalck-Golodkowski — , fertigen wir darüber keine Aufzeichnungen, die zu den Akten gehen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204122300
Wir kommen nun zu der Frage 69 des Abgeordneten Horst Peter:
Wann ist die vom ehemaligen Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, Dr. Wieck, erwähnte „Gesamtdarstellung der BND-Behandlung der Schalck-Golodkowski-Angelegenheit, einschließlich der Frage der Personaldokumente" gegenüber den „beteiligten Stellen" erfolgt, und welche Stellen waren beteiligt?
Ich lasse nur noch die Beantwortung dieser Frage zu; danach sind wir am Ende der Fragestunde.
Dr. Lutz Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, die vom früheren BND-Präsidenten erwähnte Gesamtdarstellung war, wie ich hier bereits sagte, ein Brief an die Bundesminister Genscher und Schäuble vom 28. März 1990, über den ich durch die gleichzeitig Übersendung eines Abdruckes informiert wurde. Wie dort diese Frage der Gutmann-Papier dargestellt wurde, hatte ich hier bereits vorgelesen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204122400
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Fragestunde.
Die Frage 70 des Abgeordneten Peter (Kassel) wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich unterbreche nunmehr — wie bereits heute mittag angekündigt — die Sitzung. Sie wird um 16.30 Uhr mit Tagesordnungspunkt 9 fortgesetzt.

(Unterbrechung von 15 Uhr bis 17.20 Uhr)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1204122500
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet:
Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 13 zu Petitionen (Abfallbeseitigung)

— Drucksache 12/381 —



Vizepräsidentin Renate Schmidt
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1152 vor.
Es ist interfraktionell vereinbart worden, die Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? — Ich sehe keine gegenteilligen Äußerungen. Dann ist das mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen. *)
Wir kommen nun zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1152. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag bei wenigen Enthaltungen abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/381? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung so angenommen.
Ich rufe nun Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 23 zu Petitionen (Verkehrstarife)

— Drucksache 12/809 —
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1153 vor.
Auch hier ist interfraktionell vereinbart worden, die Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sind Sie auch mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? — Es ist mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen. ** )
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1153. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/809? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen.
Ich rufe nunmehr Punkt 11 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebracht Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung der Familien und zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze

(Steueränderungsgesetz 1992 — StÄndG 1992)

— Drucksache 12/1108 —Überweisungsvorschlag :
Finanzausschuß (federführend) Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
*) Anlage 2 * *) Anlage 3
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau EG-Ausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO Sportausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Damit ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Dr. Theo Waigel.

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1204122600
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir setzen unsere erfolgreiche Steuerpolitik für Wachstum und Beschäftigung auch im wiedervereinigten Deutschland fort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD — Ingrid MatthäusMaier [SPD]: Steuerlüge!)

— Wer an dieser Stelle lacht, verdient es nicht, ernstgenommen zu werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Daß ausgerechnet diejenige Seite jetzt lacht, die bis 1982 eine verfehlte Steuerpolitik betrieben und während ihrer ganzen Regierungszeit mit ihrer verfehlten Steuer- und Finanzpolitik keine zusätzlichen Arbeitsplätze geschaffen, sondern ein Heer von Millionen Arbeitslosen hinterlassen hat, was wir durch eine erfolgreiche Steuer-, Finanz- und Wachstumspolitik wieder ausgeglichen haben, ist eigentlich ein starkes Stück.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Nun reden Sie mal zu Ihrer eigenen Politik!)

Das Steueränderungsgesetz 1992 ist ein steuerpolitischer Entwurf für die Zukunft. Die Wiedervereinigung hat vieles verändert, aber die zentralen Auf gaben der Steuerpolitik stellen sich im ungeteilten Deutschland eher noch vordringlicher.
Wir brauchen — das sollte eigentlich unumstritten sein — hervorragende Standortbedingungen für zukunftsweisende Investitionen und die Schaffung einer großen Zahl wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze.
Das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit muß im Bereich der Familien noch stärker berücksichtigt werden. Wir verwirklichen deshalb die Steuerfreiheit des Existenzminimums der Kinder.
Wir haben in den letzten neun Jahren immer wieder um die Verwirklichung unserer steuerpolitischen Ziele ringen müssen. Ich kenne die Argumente und die manchmal stattfindende Polemik wegen der angeblich unsozialen Verteilungswirkung der inzwischen verwirklichten Entlastungsschritte.
Aber wir diskutieren heute auf einer anderen Grundlage als Anfang und Mitte der 80er Jahre. Frau



Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Matthäus-Maier, wenn Sie heute einmal zusammenfassen würden, was Sie zur Steuerpolitik seit 1982 alles gesagt haben,

(Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Lieber nicht!)

dann ergäbe sich ein Bündel der gesammelten Irrtümer, die Sie endlich einmal in Buchform kleiden sollten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Günther Friedrich Nolting [FDP] — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wer hat sich denn geirrt? Sie haben doch die Steuerlüge gemacht, nicht wir!)

Es ist ganz wichtig, daß man hier den Mantel des Verzeihens und des Vergessens über allen steuerpolitischen Unsinn legt, den Sie in den letzten Jahren von sich gegeben haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1204122700
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Matthäus-Maier?

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1204122800
Bitte schön.

(Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/ CSU]: Jetzt kommt ein Zitat aus dem Gruselbuch!)


Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1204122900
Herr Finanzminister, können Sie mir sagen, welchen Mantel des Verzeihens Sie dann benötigen, der Sie vor der Bundestagswahl gesagt haben: Keine Steuererhöhungen für die deutsche Einheit! und dann das größte Paket an Steuer- und Abgabenerhöhungen vorgelegt haben?

(Beifall bei der SPD)


Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1204123000
Frau Kollegin, Sie wissen ganz genau, daß diese Entscheidung angesichts externer Belastungen, die dazu geführt hätten, daß wir das, was in Deutschland notwendig ist, in diesem und im nächsten Jahr nicht hätten finanzieren können, erforderlich war.

(Detlev von Larcher [SPD]: Das wußten Sie ja vorher!)

Wir haben es immer sehr klar gesagt: Das, was zur Steuerbelastung und zur Vermeidung von Steuererhöhungen gesagt wurde, bezog sich auf die Belastungen durch die deutsche Einheit. Wenn nicht die externen Lasten auf uns zugekommen wären, hätten wir in 1991 auch keine Steuererhöhungen benötigt.

(Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD)

Der erste Haushaltsentwurf für 1991 sah sie auch nicht vor. Das ist die Realität.

(Detlev von Larcher [SPD]: Und Sie wollen ernstgenommen werden!)

Das ist der Unterschied: Wir verwenden die Steuererhöhungen — der Solidaritätszuschlag wird im nächsten Jahr wieder wegfallen — für Investitionen in Deutschland, für Investitionen in Europa und zur Solidarität in der freien Welt, während Sie Steuererhöhungen für den Konsum benötigt haben und uns eine traurige Hinterlassenschaft vermacht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1204123100
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Poß?

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1204123200
Frau Präsidentin, da die Debatte an sich dazu angelegt ist, Argumente vorzutragen,

(Detlev von Larcher [SPD]: Darauf warten wir!)

sollte sie nicht in ein reines Zwiegespräch ausarten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Insofern würde ich gerne fortfahren.

(Zuruf von der SPD: Bisher war noch kein Argument zu hören, Herr Waigel!)

— Das geht ja noch weiter. Sie müssen sich nur gedulden und zuhören. Aber wenn Sie ständig nur Ihre eigenen Genossen hören, dann lernen Sie nichts dazu. Darum ist es besser, ich setze meine Rede fort.

(Zuruf von der SPD: Von Ihnen kann man nur lernen, wie man es nicht macht!)

— Ach wissen Sie, Sie können von mir auch lernen, wie man es macht. Aber wie Sie das bewerten, ist Ihre Sache.
In den 70er Jahren hat die SPD die Steuerquote ohne Not bis auf den Spitzenwert von 25 % in die Höhe getrieben. Als Sie noch die Regierungsverantwortung trugen, gab es keine Unterscheidung zwischen sozialen und unsozialen Steuern. Von der Mehrwertsteuer bis zum Spitzensatz der Einkommensteuer — jede Steuer war Ihnen recht. Das Interessante ist, daß Sie in den 70er Jahren den Eingangssteuersatz bei der Einkommensteuer von 19 auf 22 % erhöht haben und wir ihn im Jahre 1990 von 22 auf 19 % gesenkt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP — Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Sie haben den Arbeitnehmerfreibetrag abgeschafft, Sie haben den Weihnachtsfreibetrag abgeschafft! Das ist Ihre Politik! — Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sind Sie eigentlich Historiker oder Finanzminister?)

Das ist unsere arbeitnehmerfreundliche Steuerpolitik. Sie haben Steuerpolitik nie als Wachstums-, sondern immer nur als Umverteilungspolitik verstanden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Detlef von Larcher [SPD]: Umverteilen tun Sie doch!)

Deshalb wurde während Ihrer Regierungszeit im Saldo nicht ein einziger Arbeitsplatz geschaffen. Die Arbeitslosigkeit schnellte auf 2 Millionen in die Höhe. Das war „sozial verantwortliche Steuerpolitik", wie die SPD sie versteht.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Die Hinterlassenschaft der SPD!)




Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Diese Bundesregierung hat demgegenüber, beginnend 1983, die Steuerbelastung verringert und die Steuerstruktur entscheidend verbessert.
Die Steuerbelastung der Bürger ist heute, trotz Solidaritätszuschlags und Verbrauchsteuererhöhungen zum 1. Juli 1991, spürbar niedriger als vor der Steuerreform.
Wenn man sich das einmal vorstellt: Unsere Steuerquote hat zum jetzigen Zeitpunkt, wo in der Steuer-und Finanzpolitik eine Jahrhundertaufgabe zu bewältigen ist, eine Höhe, wie sie bei Ihnen bestand, obwohl solche Aufgaben damals nicht vor uns und nicht vor Ihnen standen. Das ist der große Unterschied. Sie sollten sich schämen, sich darüber überhaupt auszulassen, und sollten ganz ruhig sein

(Widerspruch bei der SPD)

angesichts Ihres Dilemmas und Ihrer mangelnden Qualifikation zur Vorlage wirklich seriöser alternativer Steuerkonzepte.

(Beifall bei der CDU/CSU — Detlev von Larcher [SPD]: Schämen Sie sich, der die Steuerlüge gemacht hat!)

Wer die Erfolge unserer Steuerpolitik sieht, kann die Notwendigkeit weiterführender Maßnahmen überhaupt nicht in Frage stellen.

(Joachim Poß [SPD]: Er redet so wie vor dem CSU-Ortsverband!)

— Ich habe Sie leider schlecht verstanden, sonst könnte ich Ihnen antworten.

(Joachim Poß [SPD]: Sagen Sie das vor dem CSU-Ortsverband! Da glaubt man es Ihnen!)

— Was haben Sie gegen den Ortsverband? Ich nehme an, daß Sie mit der Basis doch verbunden sind. Oder haben Sie sich schon abgehoben?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Joachim Poß [SPD]: Sie können den Bundestag nicht so täuschen wie ihre CSU-Ortsverbände!)

Übrigens, dort befinden sich ganz normale Leute. Haben Sie sich schon abgehoben, so daß Sie vor dem Ortsverband nicht mehr sprechen? Sprechen Sie bloß noch vor den Staatsmännern der Luxusklasse? Ich unterhalte mich gern mit dem Ortsverband. Und ich sage Ihnen: Bei uns hat jeder Ortsverband mehr steuerpolitische Kompetenz als bei Ihnen die Fraktion.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD)

Ich nehme an, daß Ihre Zurufe jetzt weniger werden. Aber Sie dürfen ruhig weitermachen. Sie müssen wissen, der Redner hier hat das Mikrophon und kann immer noch etwas drauflegen. Das ist der große Vorteil. Sie finden mich in einer gutgelaunten Stimmung. Ich komme aus einer guten Fraktionssitzung der CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD: Deswegen hat sie auch so lange gedauert! — Sie verwechseln den Bundestag mit dem Bierzelt!)

— Auch Bierzelte soll man nicht verachten. Die Landesvorsitzende der SPD von Bayern besucht im Moment sehr viele Bierzelte und rechnet sich dies zur Ehre an. — Ich hoffe, ich bin Ihnen nicht zu nahe getreten, Frau Präsidentin.
Die Wissenschaft im nationalen und im internationalen Rahmen gibt uns recht. Fast alle europäischen und außereuropäischen Industriestaaten verfolgen in der Steuerpolitik die gleichen Ziele wie wir.

(Detlev von Larcher [SPD]: Sie hätten gestern zur Anhörung kommen sollen!)

Auch die SPD sollte endlich ihr steuerpolitisches „Godesberg" durchstehen.

(Joachim Poß [SPD]: Tietmeyer sagt, die Preise sind unhaltbar hoch!)

Dann können wir gemeinsam über konkrete Maßnahmen und Modifikationen unserer Vorschläge konstruktiv sprechen.
Das entscheidende Datum für unsere Steuerpolitik ist der europäische Binnenmarkt 1992. Deshalb können wir mit der Steuerentlastung der Betriebe und Arbeitsplätze nicht warten. Denn wer investiert, will jetzt klare Rahmenbedingungen. Fällt die Investitionsentscheidung angesichts der unzureichenden steuerlichen Voraussetzungen für einen anderen Standort, ist der Wachstums- und Beschäftigungsverlust auch später nicht mehr auszugleichen.
Trotz erheblicher Verbesserung ist nach unserer Meinung die Steuerbelastung der Betriebe und Arbeitsplätze in Deutschland immer noch zu hoch. Nach dem Gutachten der Kommission zur Verbesserung der steuerlichen Bedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze im Juni 1991 ist die Gesamtbelastung aus ertragsabhängigen und ertragsunabhängigen Steuern höher als in den meisten anderen Industriestaaten. Die Steuersätze liegen z. B. um 35 % höher als in Italien, um 54 % höher als in den Vereinigten Staaten und um 117 % höher als in der Schweiz. Nun weiß ich auch, daß Steuersätze nicht alles aussagen und daß man Steuersätze nicht nur addieren kann. Aber bei Entscheidungen im Ausland für Investitionen in Deutschland und für Investitionsentscheidungen in der Konkurrenz zu Wettbewerbern spielen Steuersätze und Grenzsteuersätze eine ganz wichtige Rolle. Wir dürfen das nicht unterschätzen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Das war sehr dünn!)

— Es kommt schon noch besser. Sie sind offensichtlich ziemlich unruhig. Wenn das Plenum so spät beginnt — dafür bitten wir um Entschuldigung — , dann scheint sich bei Ihnen ein starker Druck aufgestaut zu haben. Aber das stört uns nicht. Das wird bei Ihnen noch nachlassen.
Nach einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem Jahre 1989 liegt die Bundesrepublik mit ihrer Kumulation aus Vermögen-, Grund- und Gewerbekapitalsteuer an relativ ungünstiger Position. Außer Luxemburg kennt kein EG-Land eine Gewerbekapitalsteuer. Weder in Belgien noch in Griechenland, in Großbritannien, in Irland, in Italien, den Niederlanden und in Portugal gibt es eine Vermögensteuer auf betriebliches Vermö-



Bundesminister Dr. Theodor Waigel
gen. In Österreich wurde die Gewerbekapitalsteuer — unter sozialistischer Regierungsverantwortung — schon vor Jahren abgeschafft.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)

Es ist mit Sicherheit kein Zufall, sondern Ausdruck der steuerlichen Standortnachteile, wenn z. B. amerikanische oder japanische Unternehmen rund dreimal soviel in Spanien oder sechsmal soviel in Großbritannien wie in Deutschland investieren. Die SPD tut so, als ginge sie das alles nichts an.
Unser früherer Kollege, mein Vorgänger Hans Apel, hat in seinem aufschlußreichen Buch „Der Abstieg" diese Gleichgültigkeit wie folgt beschrieben.

(Lachen bei der SPD)

— Das ist erstaunlich: Als er früher hier sprach, hat sich keiner gegen ihn gestellt. Jetzt aber, wenn man ihn zitiert, hört man nur höhnisches Lachen oder den Hinweis: Was ist aus ihm geworden? — Ich finde es ganz merkwürdig, wie Sie mit einem früheren Kollegen umgehen, wenn er sich Ihnen gegenüber kritisch geäußert hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hans Apel schrieb:

Ein wesentlicher Teil der führenden Genossen sind Staatsfetischisten. Die Höhe der Abgaben ist für sie eher belanglos.
Aber Stimmen wie die von Hans Apel oder auch von Horst Gobrecht haben es in der SPD schwer.
Es ist allerdings Sache der SPD, ihre steuerpolitischen Defizite aufzufüllen. Wir werden inzwischen dem Beispiel der norwegischen, der österreichischen, der spanischen Regierung und dem anderer sozialdemokratisch geführter Regierungen folgen und die Steuerbelastung der Betriebe und Arbeitsplätze weiter senken. Sie müssen sich die Frage stellen, ob Sie nicht sozialdemokratisch in eine Isolierung in Europa geraten angesichts der Sozialdemokraten in anderen Ländern,

(Widerspruch bei der SPD)

die begriffen haben, wie man Steuerpolitik wenigstens andeutungsweise machen soll.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Angesichts der großen Wiedervereinigungsaufgaben können wir nicht alle Reformschritte auf einmal bewältigen. Deshalb werden wir durch das Steueränderungsgesetz 1992 zunächst die arbeitsplatzfeindliche ertragsunabhängige Belastung der Betriebe mit Gewerbekapital- und Vermögensteuer reduzieren. Damit helfen wir vor allem neu gegründeten, noch ertragslosen Betrieben und stärken die Eigenkapitalbildung sowie die betriebliche Risikovorsorge.
Der Gesetzentwurf ist ausgewogen und berücksichtigt die Interessen aller Betriebe.
Die großen deutschen Wirtschaftsverbände — vom Handwerk bis zur Industrie — haben in ihrer gemeinsamen Stellungnahme vom 8. August 1991 u. a. folgendes festgestellt:
Die vorgesehene Verbesserung der Steuerstruktur durch Abschaffung der Gewerbekapital-
steuer, Reduzierung der Gewerbeertragsteuer und der Vermögensteuer auf Betriebsvermögen sowie die Vereinfachung durch Übernahme der Steuerbilanzwerte in die Vermögensaufstellung sind erste notwendige Schritte auf diesem Weg. Die strukturellen Änderungen kommen auch dem Mittelstand zugute.
Der Mittelstand wird vor allem von den folgenden Änderungen profitieren. Die Meßzahl im Eingangsbereich der Gewerbeertragsteuer wird für Personengesellschaften und Einzelunternehmen gestaffelt. Bei der steuerlichen Bewertung des Betriebsvermögens wird der Freibetrag von zur Zeit 125 000 DM auf 500 000 DM vervierfacht. Damit fällt rund die Hälfte aller Steuerpflichtigen mit Betriebsvermögen aus der Vermögensteuerpflicht.
Die im Bewertungsgesetz ebenfalls vorgesehene Übernahme der Steuerbilanzwerte in die Vermögensaufstellung entlastet sowohl im Bereich der betrieblichen Vermögensteuer als auch bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer die mittelständischen Betriebe.
Die Kritik, die Steuerentlastung würde vor allem den großen Betrieben zugute kommen, ist nicht berechtigt. Ein mittlerer Betrieb mit einem Gewerbeertrag von 300 000 DM und einem Betriebsvermögen von 1 Million DM zahlt 19,4 % weniger Gewerbesteuer und 61,9 % weniger Vermögensteuer.
Ein Großbetrieb mit einem Gewerbeertrag von 25 Millionen DM und einem Betriebsvermögen von 100 Millionen DM wird dagegen nur um 13,4 %, bei der Gewerbesteuer und 33,6 % bei der Vermögensteuer entlastet.
Es ist auch falsch, immer wieder zu behaupten, daß diese Steuerentlastung mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer im Zusammenhang stehe.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ja sicher!)

— Nein, das ist falsch. Sie tun es wider besseres Wissen, um Polemik zu erzeugen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Auch Herr Geißler sagt das!)

Auf mittlere Sicht sind es vor allem die Arbeitnehmer, die von Investitionen und Wachstum profitieren. Die Investoren könnten sich auch heute schon die günstigsten steuerlichen Bedingungen in Europa aussuchen. Auch in unmittelbarer, finanzieller Rechnung gibt es keine Steuergeschenke für einzelne Gruppen. Die Unternehmenssteuerreform wird fast vollständig durch steuerlichen Subventionsabbau und die Einschränkung von Abschreibungsmöglichkeiten gegenfinanziert. Damit schlagen wir die gleiche aufkommensneutrale Umschichtung vor, die die SPD immer gefordert hat.
Den größten Teil des finanziellen Ausgleichs für die Steuerentlastung der Betriebe und Arbeitsplätze erreichen wir durch 17 Maßnahmen zum steuerlichen Subventionsabbau mit einem Abbauvolumen von gut 5 Milliarden DM.
Ich möchte der Koalitionsarbeitsgruppe für ihre hervorragenden Vorarbeiten zu diesem Subventionsabbau ausdrücklich danken. Herr Kollege Gattermann,



Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Herr Kollege Faltlhauser, Herr Kollege Uldall und die vielen anderen, die dabei waren: Das war eine großartige Leistung, mit der Sie uns weitergeholfen haben. Sie waren in der Struktur ausgewogen, und all dies geschah erstaunlicherweise, fast ein Wunder, mit relativ wenig Gegenwind, der sonst beim Subventionsabbau immer sehr stark und schnell hörbar ist.
Das zeigt die Ausgewogenheit und die Realitätsnähe der Vorschläge. Durch die vorgeschlagenen Maßnahmen werden vor allem unbegründete Steuervorteile abgebaut. Wir schließen Schlupflöcher, die bisher durch geschickte Steuersparmodelle ausgenutzt wurden.

(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Zinsbesteuerung!)

Damit verwirklichen wir zugleich ein Stück Steuergerechtigkeit.
Die normalen Arbeitnehmer bleiben von den steuerrechtlichen Änderungen, von diesem Subventionsabbau fast unberührt. Keine einzige Maßnahme betrifft die Lohnsteuer auf Arbeitseinkommen.

(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Da haben Sie ja neulich zugelangt!)

— Sie sollten einmal nachschauen, Herr Kollege, wie Sie in den 70er Jahren zugelangt haben, als Ihnen das Geld ausgegangen war. Die Arbeitnehmer sind doch erst durch uns 1986, 1988 und auch 1990 wieder entlastet worden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Grundsätzlich müssen alle Betriebe durch den steuerlichen Subventionsabb au gewisse Einschränkungen hinnehmen. Aber die Entlastung bei der Gewerbekapitalsteuer und der Vermögensteuer wird in ihrer positiven Wirkung auf Dauer überwiegen.
Den Interessen des Mittelstandes haben wir auch beim Abbau von Steuervergünstigungen Rechnung getragen. Besondere Regelungen zugunsten kleiner und mittlerer Betriebe, insbesondere die Sonderabschreibung nach § 7 g Einkommensteuergesetz und die degressive Abschreibung für bewegliche Wirtschaftsgüter wurden nicht angetastet, obwohl darüber immer wieder diskutiert wurde.
Wenn wir über weitere steuerpolitische Verbesserungen für Wachstum und Beschäftigung beraten, wird die Leistung des Mittelstands für die wirtschaftliche Dynamik wie bisher besonders berücksichtigt werden müssen. Das Gutachten der Kommission zur Verbesserung der steuerlichen Bedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze vom Juni dieses Jahres hat hierzu weiterführende Vorschläge beschrieben, und auch die Mittelständler unserer Fraktionen weisen darauf mit Recht hin.
Das Steueränderungsgesetz 1992 sorgt für eine gerechte Verteilung der finanziellen Vorteile und Belastungen auf die Haushaltsebenen. Der entscheidende Vorteil der strukturellen Verbesserungen liegt in der Förderung von Wachstum und Beschäftigung. Steuermehreinnahmen und Ausgabenentlastungen durch sinkende Folgekosten der Arbeitslosigkeit werden Bund, Länder und Gemeinden auf Dauer entlasten.
Das sind keine leeren Versprechungen. Zwischen 1986 und 1990 haben wir die Einkommen- und Körperschaftsteuer um fast 50 Milliarden DM gesenkt. Trotzdem sind im Gesamtzeitraum zwischen 1982 und 1990 die Steuereinnahmen der Gemeinden um 58% gestiegen. In keinem Jahr, noch nicht einmal bei der Steuerreform 1990 hat es den befürchteten Rückgang der kommunalen Steuereinnahmen gegeben.
Die Gemeinden brauchen aber nicht auf künftige Wachstumsimpulse zu warten. Nach dem Entwurf des Steueränderungsgesetzes 1992 sollen die Einnahmeausfälle der Gemeinden mehr als ausgeglichen werden.
Ab 1993 wird die Gewerbesteuerumlage um 55 gesenkt. Das sind Mehreinnahmen von 2,9 Milliarden DM.
Durch den steuerlichen Subventionsabbau und die Rückführung der degressiven Abschreibung bei Betriebsgebäuden erreichen die Gemeinden Mehreinnahmen von 1,5 Milliarden DM. Die nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz vorgesehenen Finanzhilfen werden um 1,5 Milliarden DM im Jahre 1992 und um jeweils 3 Milliarden DM in den Jahren 1993 bis 1995 erhöht. Schließlich werden die Gemeinden über den kommunalen Finanzausgleich indirekt am Mehraufkommen der Umsatzsteuer beteiligt. Mehreinnahmen: 800 Millionen DM. Im Saldo wird sich die Einnahmesituation der Gemeinden auf Grund des Steueränderungsgesetzes 1992 nicht verschlechtern, sondern um 2,7 Milliarden DM verbessern.
Ebenso vordringlich wie die Entlastung der Betriebe und Arbeitsplätze ist der Ausbau des steuerlichen Familienlastenausgleichs. Wenn wir ab 1. Januar 1992, ein Jahr vor den Entlastungen im betrieblichen Bereich, das Existenzminimum der Kinder vollständig von der Steuerpflicht befreien, ist dies eine entscheidende Errungenschaft auf dem Weg zu mehr Steuergerechtigkeit und zur verstärkten Anerkennung der gesellschaftlichen Funktion der Familie.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir hätten dieses Ziel schon früher erreicht, wenn die SPD nicht den Kinderfreibetrag völlig abgeschafft hätte.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie haben mit uns gestimmt, Herr Waigel!)

— Der Punkt ist doch der: Sie haben den Finanzminister gestellt, und wir haben uns daran beteiligt, daß kein finanzpolitisches Desaster entstanden ist. Die Verantwortung dafür tragen eindeutig Sie.

(Zurufe von der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1204123300
Herr Finanzminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Matthäus-Maier?

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1204123400
Herr Waigel, ich finde, wir sollten gemeinsam bei den tatsächlichen Abläufen bleiben. Ist es zutreffend, daß das ganze Haus 1974 bei der damaligen Steuerreform gemeinsam der Meinung war, daß die Kinderfreibeträge bei der Steuer, weil sozial ungerecht — so auch der Antrag der CDU — , durch ein gleich hohes Kindergeld ersetzt werden sollten, und daß Sie hier im Bundestag



Ingrid Matthäus-Maier
bereits mit uns gestimmt haben? Warum stellen Sie sich nicht hin und sagen, Sie hätten heute eine andere Ansicht, sondern leugnen das?

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1204123500
Wir haben mitgestimmt, weil es damals um ein Gesamtkonzept, um ein Gesamtpaket ging, und wir haben bei der ersten Gelegenheit diesen Fehler wettgemacht und haben wieder Freibeträge eingeführt und sie in den letzten Jahren systematisch erhöht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben trotz des geringen finanzpolitischen Spielraums den Kinderfreibetrag 1983 wieder eingeführt und ihn schrittweise auf jetzt 3 024 DM erhöht.
Wir haben übrigens im Rahmen der Steuerreform 1986 bis 1990 auch den Grundfreibetrag von 4 212 DM auf 5 616 DM angehoben. Insgesamt ist so das steuerfrei zu beziehende Einkommen für eine Familie mit zwei Kindern von 14 000 DM auf 24 000 DM gestiegen. Angesichts dieser Verbesserungen und der eng begrenzten finanziellen Spielräume kann uns deshalb niemand den Vorwurf machen, wir hätten im Bereich der Steuerentlastung der untersten Einkommensgruppen zuwenig getan.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Durch das Steueränderungsgesetz 1992 wird der Kinderfreibetrag ab 1992 auf 4 104 DM angehoben. Zusammen mit der Verbesserung des Erstkindergeldes auf monatlich 70 DM erfüllen wir so den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zur Neuordnung der Besteuerung des Kindesunterhalts.
Die von der SPD gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung, Kinderfreibeträge seien ungerecht, ist eine klare Mißachtung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Familienlastenausgleich. Aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai und 12. Juni 1990 ergibt sich: Die Berücksichtigung der notwendigen Aufwendungen für den Kindesunterhalt durch Abzug von der Steuerbemessungsgrundlage entspricht dem Gebot der Steuergerechtigkeit. Der Kinderfreibetrag stellt die gleichmäßige Besteuerung von Eltern mit Kindern im Verhältnis zu kinderlosen Steuerzahlern sicher.
Im übrigen steht die Haltung der SPD zur Abzugsfähigkeit des Kindesunterhalts in völligem Widerspruch zu ihrer Bewertung anderer Abzugsmöglichkeiten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!)

Alles kann nach Meinung der SPD vom Einkommen abgezogen werden: Werbungskosten, Sonderausgaben, außergewöhnliche Belastungen — nur nicht die zwangsläufige Belastung durch den Kindesunterhalt. Hier zeigt sich doch ganz deutlich die Inkonsequenz Ihrer Haltung in dieser Frage.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir hätten mit der vordringlichen steuerlichen Entlastung der Familien gerne einen weiteren Schritt zur Verringerung der Steuerbelastung insgesamt verwirklicht. Wir wissen aber alle: Dafür gibt es zur Zeit keinen Spielraum.
Als Ausgleich für die entscheidende Verbesserung der Kinderfreibeträge schlagen wir deshalb eine Anhebung des Normalsatzes der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt ab 1. Januar 1993 vor.

(Vereinzelt Lachen bei der SPD)

— Wollen Sie mehr? — Ich weiß nicht, worüber Sie gelacht haben? Es wäre interessant, dies von Ihnen zu hören.

(Detlev von Larcher [SPD]: Über Ihre Begründung! — Weiterer Zuruf von der SPD: Wenn Sie bei uns säßen, würden Sie es wissen!)

— Nein, bei Ihnen möchte ich nicht sitzen — beim Bier ja, aber nicht in der Fraktion.
Damit erleichtern wir zugleich die Steuerharmonisierung in der Europäischen Gemeinschaft und ebnen den Weg zum Binnenmarkt.
Steuererhöhungen können niemals ein Instrument der Wachstumsförderung oder der Verbesserung der privaten Einkommenssituation sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei richtiger Bewertung aller Konsequenzen ist jedoch die Anhebung der Mehrwertsteuer mit den geringsten Nachteilen verbunden. Die Mehrwertsteueranhebung ist der letzte Baustein unseres im Februar 1991 vorgelegten steuerpolitischen Programms.
Einnahmeverbesserungen waren angesichts des historisch einmaligen Zusammentreffens nationaler und internationaler Herausforderungen unvermeidbar. Ich warne aber davor, jetzt bei jedem Problem und jeder neuen Aufgabe nach weiteren Steuererhöhungen zu rufen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie sind doch die Steuererhöhungspartei!)

Wer neue Ausgaben will, muß entsprechende Entlastungen vorschlagen. Das ist die Basis des von der Koalition vereinbarten Moratoriums.

(Günter Oesinghaus [SPD]: Dann sparen Sie doch mal! Wo ist denn der Subventionsabbau?)

— Haben Sie überhaupt nicht mitbekommen, daß wir in den letzten zwei Jahren ein Konsolidierungsvolumen von 60 Milliarden DM auf die Beine gestellt haben, und zwar zu zwei Dritteln durch Einsparungen und Umschichtungen? Das ist doch die Realität.

(Günter Oesinghaus [SPD]: Sie haben den Arbeitnehmern in die Tasche gegriffen!)

Nur, Sie haben offensichtlich die drei Nachtragshaushalte im letzten Jahr und die entsprechenden normalen Haushalte gar nicht mitbekommen, in denen wir das durchgeführt und bereits eingerechnet haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Im Gegensatz zu früheren Steuererhöhungen, u. a. unter SPD-Regierungsverantwortung zum 1. Januar 1978 und zum 1. Juli 1979, bleibt der ermäßigte Umsatzsteuersatz diesmal unverändert. Da die Bezieher geringerer Einkommen einen relativ hohen Anteil für steuerfreie und steuerermäßigte Waren und Dienstlei-



Bundesminister Dr. Theodor Waigel
stungen ausgeben, werden sie von der Steuererhöhung nur in geringerem Umfang betroffen.
Eine einmalige Preiserhöhung ist im Zusammenhang mit der vorgesehenen Mehrwertsteuererhöhung unvermeidbar. Es wird jedoch nicht zu einer dauerhaften Beschleunigung des Preisanstiegs kommen, wenn die Steuerzahler, vor allem aber auch die Tarifpartner die Begrenzung des Verteilungsspielraums anerkennen und auf eine Lohn-Preis-Auseinandersetzung verzichten.
Die Mehrwertsteuererhöhung ist auch ein Angebot an Länder und Gemeinden. Unbestreitbar haben neben dem Bund auch die übrigen Gebietskörperschaften erhebliche Zusatzbelastungen im Zusammenhang mit der deutschen Einheit zu tragen. Da der Bund unverändert die Hauptlast des Wiedervereinigungsprozesses trägt, kann er den geforderten Ausgleich nicht leisten. Die mäßige Anhebung der Mehrwertsteuer ist deshalb die richtige Lösung für die bestehenden Deckungsprobleme.
Die Elemente des Steueränderungsgesetzes 1992 gehören allerdings zusammen. Steuererhöhungen sind nur parallel zur vorgesehenen Steuerentlastung für die Familien, die Betriebe und die Arbeitsplätze volkswirtschaftlich und sozialpolitisch zu vertreten.
In der SPD haben bereits einige Ministerpräsidenten ihre Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog über unsere steuerpolitischen Vorschläge deutlich gemacht.
Lieber Kollege Bohl, angesichts meiner konstruktiven Mitwirkung in der Fraktion wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie bei der Frau Präsidentin erreichen könnten, daß die rote Lampe zu blinken aufhört.

(Heiterkeit — Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Aber sofort, Herr Minister!)

Es würde die künftigen Gespräche mit dem Bundesrat nur erschweren, wenn jetzt künstlich durch die SPD-Führung eine ganz harte, ohnehin nicht durchzuhaltende Ablehnungsposition aufgebaut würde. Wir sollten uns — und wir können das nur miteinander — auf einen Konsens einstellen, wie wir ihn auch beim Steueränderungsgesetz 1991 schließlich erreichen konnten. Andernfalls werden „globale Mehreinnahmen" , wie sie z. B. bereits im niedersächsischen Landeshaushalt verbucht werden, zur reinen Makulatur.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, seit neun Jahren gestalten wir erfolgreich unsere Finanz- und Steuerpolitik für Wachstum und Beschäftigung. Wir hatten nachweisbar Erfolg. Wann hat es je zuvor eine neunjährige Wachstumsphase mit diesem breiten Wachstumspfad gegeben? Nie!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Sie haben eben Glück gehabt!)

— Glück hat auf die Dauer nur der Tüchtige.

(Lachen bei der SPD)

Ohne gesunde Finanzen, ohne hervorragende Bedingungen für private Investitionen, dynamisches Wachstum und die Schaffung zukunftssicherer Arbeitsplätze wäre die Deutsche Einheit im Jahre 1990 wirtschafts- und finanzpolitisch überhaupt nicht gestaltbar gewesen.
Auch in Zukunft gilt: Ohne einen Aufschwung West ist ein rascher und dauerhafter Aufschwung Ost überhaupt nicht möglich. Deshalb werden wir auch künftig, jetzt durch das Steueränderungsgesetz 1992, unsere Verantwortung für eine erfolgreiche gesamtdeutsche Volkswirtschaft umfassend wahrnehmen.
Die SPD hat in den letzten Monaten viel von der gemeinsamen Verantwortung für das wiedervereinigte Deutschland gesprochen. Sie hat sich über die angeblich unzureichende Beteiligung an den anstehenden Entscheidungen beklagt. Jetzt, wo es um entscheidende Verbesserungen für die Bürger in ganz Deutschland geht, kann sie sich ihrer Verantwortung nicht entziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Die Beurteilung müssen Sie schon uns überlassen!)

— Um so besser. Ich höre das gern.
Um das Vernünftige abzulehnen, dürfen aber die Stimmen der Vernunft nicht unter Parteidisziplin gestellt werden.
Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Was jetzt an taktischen Ausgangspositionen bezogen wird, kann nicht Bestand haben. Denn niemand kann verantworten, wenn bei unzureichenden steuerlichen Voraussetzungen Arbeitsplätze verlorengingen und die vordringliche Entlastung der Familien mit Kindern verzögert oder die Finanzierung vordringlicher Gemeinschaftsaufgaben gefährdet würde.
Der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal hat einmal gesagt: „Gerechtigkeit ist das, was besteht! " Gerechtigkeit ist für uns der Maßstab auch der Steuerpolitik.

(Zuruf von der SPD)

Aber wirkliche Gerechtigkeit läßt sich nicht buchhalterisch aus den Steuertabellen ablesen.

(Zuruf von der SPD: Das ist ja unglaublich!)

— Wenn es unerträglich ist, steht es jedem frei zu gehen.

(Zuruf von der SPD: Er hat nur „unglaublich" gesagt!)

— Entschuldigung! Die Möglichkeit besteht, aber wer sonst so fröhlich aussieht wie Sie, muß sich darüber freuen, daß er dieser Rede zuhören kann.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Unser steuerpolitisches Konzept hilft den Menschen in Ost und West. Deshalb wird es Bestand haben. In diesem Zusammenhang erwarte ich auch den Beifall der SPD.
Herzlichen Dank.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1204123600
Als nächster hat der Kollege Dr. Norbert Wieczorek das Wort.




Dr. Norbert Wieczorek (SPD):
Rede ID: ID1204123700
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe tatsächlich aus der Rede des Finanzministers zwei Dinge gelernt. Das erste ist, daß offensichtlich seine Inspirationen für die Steuerpolitik doch im Bierzelt entstehen
— das macht mir manches an dieser Politik verständlicher —, und das zweite ist, daß er ein sehr selektives Gedächtnis hat: Er erinnert sich zwar nicht daran, was er im vorigen Jahr der deutschen Bevölkerung versprochen hat, aber er erinnert sich an das, was er in früheren Reden in der Opposition gesagt hat. Auch das ist ein interessanter Standpunkt.

(Joachim Poß [SPD]: Und der Stoltenberg ist wegen der „erfolgreichen Politik" zurückgetreten!)

— Das kommt hinzu; aber es ist ihm ja wahrscheinlich recht, daß Herr Stoltenberg zurücktreten mußte.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Denn tatsächlich machen Sie mit diesem Gesetz jetzt etwas völlig anderes, als Sie hier vorgetragen haben: Sie schlagen praktisch ein neues Kapitel der unsozialen und ungerechten Politik auf.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Immer diese alte Leier!)

Wenn hier gesagt wird, daß die Bürgerinnen und Bürger entlastet werden, will ich einmal aufführen, was im Zusammenhang mit dem Steuer- und Abgabenerhöhungspaket 1991 alles passiert: seit April erhöhte Sozialversicherungsbeiträge, ab 1. Juli Solidaritätszuschlag, Erhöhung der Mineralölsteuer auf Benzin und Heizöl, Erhöhung der Versicherungssteuer, Anhebung der Telefongebühren, Anhebung der Tabaksteuer ab dem nächsten Jahr.

(V o r s i t z: Vizepräsident Helmuth Becker)

Das alles zusammen ist mehr an Belastung, als Sie mit der von Ihnen, von den Koalitionsparteien, verkündeten „größten Steuerreform" von 1986 bis 1990 den Bürgern angeblich gegeben haben.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU] : Es läßt sich nachweisen, daß das nicht stimmt!)

— Ich werde mir, da ich ahnte, daß Sie dies voraussichtlich sagen würden, deshalb gestatten, das DIW zu zitieren. Das DIW hat ausgeführt:
Dem Volumen nach werden damit .. .
— und zwar mit den Steuer- und Abgabenerhöhungen 1991 —
die Steuersenkungen, die in den Jahren 1988 bis 1990 in drei Stufen vorgenommen wurden, wieder rückgängig gemacht. Allerdings werden jetzt die Privathaushalte anders belastet, als sie damals entlastet wurden: Während die untere Hälfte der Gesamtheit der Lohnsteuerpflichtigen — mit bis zu 45 000 DM Jahreseinkommen —— das entspricht dem Facharbeitereinkommen —
im Saldo belastet wird, werden die oberen 15 % mit über 80 000 DM Jahreseinkommen kräftig entlastet.

(Günter Oesinghaus [SPD]: Das nennt man sozial!)

Das sagt das DIW.
Im Klartext heißt das ja wohl: Bei den Hochverdienern bleibt unter dem Strich eine kräftige Entlastung übrig, bei den weniger Verdienenden bleibt aus Ihren Maßnahmen nicht nur nichts übrig, sondern sie werden sogar noch zusätzlich zur Kasse gebeten.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der SPD: So ist es! — Leider!)

Mit diesem Steueränderungsgesetz wird jetzt die Umverteilung von unten nach oben weiter auf die Spitze getrieben. Sie haben offensichtlich wirklich jede Hemmung verloren. Jetzt sollen die Arbeitnehmer, die Rentner, die Arbeitslosen und die Familien mit Kindern Steuerentlastungen für wenige Großunternehmen und Besitzer von großen Vermögen bezahlen.

(Zustimmung bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

Mit der vorgesehenen Erhöhung der Mehrwertsteuer soll nämlich die Senkung der Vermögensteuer und die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer finanziert werden

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist absolut falsch!)

— auch wenn Sie das immer wieder leugnen und auch eben wieder geleugnet haben.
Aber, Herr Kollege Waigel, ich darf Sie dann daran erinnern, was zu diesem Thema die Herren Lambsdorff, FDP, Geißler — Kollegen hier im Bundestag — und Teufel, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, gesagt haben.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Genau!)

Sie sehen das nämlich genauso. Also, wie üblich, sorgen Sie erst einmal dafür, daß Sie sich selber über die Situation klar werden.
Auch wenn wir das von der SPD schon häufig erklärt haben, muß ich noch einmal daran erinnern, daß Sie die bereits vor der Bundestagswahl vorhandenen Pläne zur Mehrwertsteuererhöhung immer wieder vehement geleugnet haben.

(Bundesminister Dr. Theodor Waigel nimmt vorübergehend in der ersten Reihe der SPDFraktion Platz)

— Ich freue mich, daß du doch bei uns aufgenommen bist, Theo.

(Heiterkeit)

Aber ich warne davor: Der Parteibeitrag ist bei uns höher als bei euch.

(Erneute Heiterkeit)

Ich bin Schatzmeister, ich weiß das. Ein Sonderbeitrag wird auch noch erhoben; da sind wir fast so wie ihr in der Steuerpolitik.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Jetzt wird natürlich als Begründung für die Mehrwertsteuererhöhung nachgeschoben, das sei ein Akt der Steuerharmonisierung in der EG. Nur, diese Steuerharmonisierung, die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 14 auf 150/0, hat der Finanzminister Waigel fahrlässig mit seinen Äußerungen herbeigeredet. Sonst



Dr. Norbert Wieczorek
wäre das gar nicht notwendig gewesen; machen wir uns da doch nichts vor.

(Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Was sagen Sie denn zu Herrn Schleusser? Der fordert doch noch mehr!)

Wenn Sie jetzt sogar noch sagen, diese Mehrwertsteuererhöhung sei sozial — wie sich das in der Begründung des Gesetzentwurfes darstellt — , dann kann ich nur noch erklären: Hier fehlt mir wirklich das Verständnis; denn das ist für mich nicht mehr nachzuvollziehen, und da bin ich offensichtlich nicht der einzige.

(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Sind denn Ihre Minister alle unsozial, Herr Kollege!)

— Das sind sie sicherlich nicht; Sie können bei denen gerne in die Schule gehen, Herr Kollege Uldall. Da werden Sie manches lernen, z. B. darüber, wie es den Ländern bei der Mehrwertsteuererhöhung ergeht. Lesen Sie heute einmal in der FAZ, was Frau FugmannHeesing im Hessischen Landtag dazu gesagt hat; das ist sehr lesenswert.

(Beifall bei der SPD)

Aber daß diese Einschätzung, die ich eben gegeben habe, auch bei Ihnen in der Koalition vorhanden ist, habe ich ebenfalls mit Interesse vermerkt. Da hat Herr Grünbeck folgendes gesagt:
Die Mehrwertsteuer anzuheben ist unsozial. Vor allem die kinderreichen Familien, also die größten Verbraucher in unserem Land, müssen bluten. Auch die Armeren in unserer Gesellschaft, die Arbeitslosen, die Sozialhilfeempfänger oder auch die Rentner mit niedrigem Einkommen, werden schmerzhaft zur Kasse gebeten.
Soweit Herr Grünbeck; das ist ein guter Mann, der ist nämlich unabhängig.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Manchmal spinnt er aber auch ganz schön!)

Das, was er sagt, paßt mir zwar auch nicht immer — das gebe ich gerne zu — , aber immerhin,

(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Wenn Sie schon Herrn Grünbeck zitieren, spricht das nicht gerade für die Qualität Ihrer Rede!)

Aber es gibt ja bei Ihnen in der Fraktion auch noch den Herrn Geißler. Den hatten Sie ja eine Weile vergessen. Herr Geißler hat in seinem Brief an den Präsidenten des BDI Bemerkenswertes geschrieben. Ich zitiere:
Es mag Sie ja als Präsidenten des BDI unberührt lassen, wenn die Mehrwertsteuer für alle Bürger erhöht und gleichzeitig die Steuer für eine relativ kleine Anzahl von Unternehmern und Unternehmen gesenkt wird.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Eben — Herr Geißler!)

Für eine Volkspartei ist dieses neuerliche „Flugbenzin-Syndrom" jedoch nur schwer verkraftbar.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Volkspartei?)

Ich gebe ja zu, wenn Herr Geißler recht hat, hat er recht. Allerdings muß ich sagen, es ist nicht von Interesse, ob die CDU/CSU das verkraftet. Das ist nämlich nicht das Thema. Die Frage ist vielmehr: Wie verkraften das die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dieser Republik?

(Beifall bei der SPD)

Das ist die Frage!
Aber es geht nicht nur um den sozialen Aspekt. Die Mehrwertsteuererhöhung schadet nämlich auch unserer Wirtschaft. Lassen Sie mich ein paar Punkte anführen: Erstens führt die Mehrwertsteuererhöhung zu einem Anstieg des Preisniveaus und der Inflationsrate und damit zu einer Entwertung des Geldvermögens der Sparer. Auf diesen Zusammenhang hat Herr Schlesinger, sicherlich auch kein Mitglied unserer Partei,

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Schade! — Heiterkeit bei der SPD)

aber Bundesbankpräsident, hingewiesen.
Wir haben heute offensichtlich Probleme mit Parteizugehörigkeiten.
Die höhere Inflationsrate führt zugleich selbstverständlich zu höheren Lohnforderungen und damit zur Gefahr einer Preis-Lohn-Spirale. Ich erinnere mich, daß der Bundesfinanzminister bei der Mineralölsteuererhöhung den Gewerkschaften die Empfehlung gegeben hat, das bei ihren Tarifforderungen zu berücksichtigen.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!) Das ist ja nicht vergessen.

Hinzu kommt die zu erwartende geldpolitische Gegenreaktion der Bundesbank. Das führt dazu, daß wir entweder eine weitere Zinserhöhung bekommen, oder aber zumindestens die insgesamt international eingeläutete und zum Teil schon vollzogene Zinssenkungsrunde nicht mitmachen.

(Joachim Poß [SPD]: Und untragbar hohe Preise!)

— Herr Tietmeyer hat das gestern ja schon einmal gesagt: untragbar hohe Preise. Das ist richtig. Ich komme noch darauf zurück.
Die höheren Zinsen belasten im übrigen die investierende Wirtschaft mit zusätzlichen Kosten, die ihre Wettbewerbsposition verschlechtern. Die Zinsen, die Kapitalkosten sind ein ganz entscheidender Standortfaktor und viel wichtiger als diese Steuern, von denen hier die Rede ist.

(Beifall bei der SPD)

Ich komme auch darauf gleich noch zu sprechen.
Besonders kleine und mittlere Unternehmen, die ja von der Senkung der Vermögensteuer und der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer praktisch nichts haben, werden in ihrer Wettbewerbssituation in eine schlechtere Position getrieben. Im übrigen wird eine Zinserhöhung nicht die Investitionen steigern, sondern als Folge dieser Steuerpolitik eher dazu beitragen, daß die notwendige Schaffung von Arbeitsplätzen und der Aufbau, gerade auch in den neuen Bun-



Dr. Norbert Wieczorek
desländern, nicht so vonstatten geht, wie wir alle es uns wünschen.
Schließlich belastet die Anhebung der Mehrwertsteuer besonders kleine und mittlere Unternehmen, denn gerade bei vielen mittleren und kleinen Unternehmen des Einzelhandels und des Handwerks wird häufig nicht die Situation gegeben sein, daß sie diese Steuererhöhung voll im Preis weitergeben können. Die Anhebung der Mehrwertsteuer geht bei ihnen nämlich zu Lasten des Gewinns.
Gerade aber bei den von Ihnen begünstigten Großunternehmen, die sehr exportstark sind, bleibt dann der Teil des Geschäftes, der Export ist, völlig unberührt, weil die Mehrwertsteuer erstattet wird. Das heißt, Sie schaffen eine neue Wettbewerbsungleichheit und benachteiligen gerade die kleinen und mittleren Unternehmen, die in der Binnenversorgung wertvolle Arbeit leisten.

(Beifall bei der SPD)

Last not least wird natürlich durch die Mehrwertsteuererhöhung der Zug zur Schwarzarbeit weiter gefördert. Das haben Ihnen ja auch die Präsidenten der Verbände des Handels und des Handwerks ins Stammbuch geschrieben.
Wenn ich mir das alles angucke, so kommt natürlich ein weiterer Punkt hinzu: die Frage der Gebietskörperschaften. Denn nicht für alle Gebietskörperschaften bringt ja die Steuererhöhung das, was sie dem Bundesfinanzminister bringt. Ganz im Gegenteil! Die Berechnungen der Länder zeigen, daß sich, weil die Mehrwertsteuer auch von den Ländern und den Gemeinden als Verbrauchern bezahlt werden muß, die Nettosituation der Länder durch ihren Anteil an der Mehrwertsteuer oder durch die Umlagen für die Gemeinden nicht wesentlich verbessert.

(Joachim Poß [SPD]: Sehr wahr!)

Gerade für die Gemeinden, die den größten Anteil am öffentlichen Verbrauch haben, wird hiermit eine weitere Schwächung erfolgen und damit allerdings auch eine Schwächung des örtlichen Gewerbes; denn die Gemeinden sorgen für die Infrastruktur, die wir brauchen. Wenn das Geld nicht mehr da ist, werden diese Aufträge fehlen — und die Infrastruktur in ein paar Jahren auch. Das ist sicherlich keine Verbesserung der Wettbewerbssituation.
Ich komme jetzt zur Senkung der Vermögensteuer und zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, die Sie planen. Diese Pläne sind nicht nur sozial ungerecht, sie sind auch wirklich wirtschaftspolitisch verfehlt; denn diese Maßnahmen entlasten lediglich den Vermögensbesitz, fördern aber keine Investitionen und keinen Arbeitsplatz.

(Beifall bei der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204123800
Herr Kollege Dr. Wieczorek, gestatteten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Norbert Wieczorek (SPD):
Rede ID: ID1204123900
Ja, bitte.

Wilfried Seibel (CDU):
Rede ID: ID1204124000
Herr Kollege Dr. Wieczorek, ich weiß nicht, wann Sie das letzte Mal mit dem niedersächsischen Finanzminister Swieter gesprochen haben. Ich hoffe, das wird noch nicht so lange her gewesen sein. Sie haben ja genügend Kollegen aus Niedersachsen in Ihren Reihen.
Können Sie mir bitte erklären, worauf der Mann hofft, wenn er in seinen zukünftigen Haushalt besondere Einnahmen in einer Größenordnung von, glaube ich, 600 Millionen DM eingestellt hat, wenn Ihr Präsidium aber gegen die Mehrwertsteuererhöhung ist und wenn Sie hier, wenn ich Sie richtig verstehe, alle Steuererhöhungen, die angedacht sind, ablehnen? Meine konkrete Frage: Worauf hofft dieser Mann? Woher soll das Geld kommen? Wie würden Sie dieses Verhalten nennen?

Dr. Norbert Wieczorek (SPD):
Rede ID: ID1204124100
Herr Kollege, im Laufe der Rede werde ich noch darauf kommen, was wir statt der von Ihnen geplanten Maßnahmen mit einer Ergänzungsabgabe machen wollen

(Friedrich Bohl [CDU/CSU]: In welcher Rede?)

— in der, die ich gerade halte — und was die Länder bekommen, wenn man das entsprechend anders konstruiert. Sie werden die Antwort also noch bekommen.
Zurück zu meinen eigentlichen Ausführungen: Das, was Sie mit der Senkung bzw. Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und der Vermögensteuer machen, ist keineswegs mittelstandsfreundlich. Es begünstigt die Großunternehmen. Tatsächlich verfolgen Sie damit ihre alte Ideologie: Unten belasten und oben entlasten. Das machen Sie jetzt auch für die Unternehmen. Die kleinen Unternehmen werden belastet, und die großen werden entlastet.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Leider!)

Insofern ist es eine sehr konsequente Steuerpolitik, Herr Kollege Uldall, nur eine, die Ihnen mit Sicherheit auf die Dauer keine Freude macht.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch eine Legende, die Sie hier vortragen!)

Ich würde Ihnen übrigens in diesem Zusammenhang, da Sie uns ja so gerne etwas vorrechnen, empfehlen: Lesen Sie doch einmal nach, was heute über die Steuerpläne von Frau Cresson in der Zeitung steht. Dann können Sie sehen, wie man es umgekehrt machen kann. Man sollte sich dies einmal überlegen. Frau Cresson ist — davon bin ich sehr überzeugt — immer noch eine Frau, die uns da sehr nahe steht.

(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Das sozialistische Weltbild vom bösen Kapitalisten muß ja stimmen!)

— Würden Sie es als ein sozialistisches Weltbild bezeichnen, wenn Frau Cresson ausdrücklich Steuersenkungen für kleine und mittlere Unternehmen vorsieht und dafür Großunternehmen bei Finanzanlagen belastet? Wenn das Sozialismus ist, bin ich sehr stolz darauf.

(Beifall bei der SPD)




Dr. Norbert Wieczorek
Nur möchte ich einmal wissen, was Ihre Mittelstandsvereinigung dazu sagt, wenn sie einmal darüber nachdenkt.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Bei Uldall ist alles Sozialismus!)

Zurück zu Ihrer Politik: Ich muß sagen, die Art und Weise, wie Sie die Unternehmensteuerreform, wie Sie es nennen, immer wieder begründet haben, hat schon eine gewisse Komik. Begründung war zunächst die schlechte Eigenkapitalausstattung der deutschen Wirtschaft, dann die mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit wegen der angeblich im Vergleich zu anderen Ländern zu hohen Besteuerung, dann ein angeblicher internationaler Steuersenkungswettlauf, dann die angebliche Notwendigkeit, den Unternehmen für Investitionen in den neuen Ländern Finanzierungsmittel verschaffen zu müssen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Wieso angeblich?)

abgesehen davon, daß dort noch gar keine Gewerbekapitalsteuer gezahlt wird. Jetzt schließt sich der Kreis wieder, indem die Bundesregierung zu ihrer alten Argumentation zurückkommt. Ich finde, das ist schon ein ziemlich absurdes Argumentationstheater.

(Beifall bei der SPD)

Die Wiederholung macht die Argumente nicht richtiger; denn der oft wiederholte Hinweis auf eine Steuerbelastung in Höhe von 70 % ist längst ad absurdum geführt. Frau Kollegin Matthäus-Maier hat ja nun inzwischen selbst mit dem BDI schon einmal klargezogen, daß das nicht stimmt.

(Hans H. Gattermann [FDP]: Wie bitte?)

— Ja, na sicher. Herr Gattermann, Sie wissen es genausogut wie ich. Die tatsächliche Steuerbelastung der Unternehmen liegt irgendwo zwischen 40 und 44 und nicht bei 70 %. Rechnerische Grenzsteuersätze sagen gar nichts aus.

(Hans H. Gattermann [FDP]: Frau Matthäus war doch schon mal bei unter 20 % ! — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Es kommt doch auf die Methode an!)

— Dies hat doch zu einer Klärung geführt, nachdem immer 70 % genannt worden waren. Nehmen Sie es zur Kenntnis, und seien Sie froh, daß wir endlich einmal Daten haben. Ganz abgesehen davon wissen wir, zumindest diejenigen, die sich damit beschäftigen, inzwischen, daß Bemessungsgrundlagen und Berechnung des Gewinns vor Steuern eine ganz wesentliche Größe der tatsächlichen Belastung sind.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das bestreitet niemand!)

— Okay, dann brauchen wir uns nicht mehr über die 70 % zu unterhalten, einverstanden.
Dazu ein Zitat:
Die steuerliche Belastung der Unternehmensgewinne in der Bundesrepublik kann international generell nicht als besonders hoch bezeichnet werden.
Das steht übrigens in der DIW-Studie, die, wenn ich
richtig zugehört habe, auch Herr Waigel zitiert hat.
Nur scheint er sie irgendwie nicht ganz gelesen zu haben. Er ist vielleicht auch zu sehr mit der CSU und zu wenig mit seinem Ministerium beschäftigt.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Da mach dir mal keine Sorge!)

— Ja, ja, Sie wissen, wovon ich rede; deswegen schreien Sie jetzt.
Von einem internationalen Steuersenkungswettlauf kann ebenfalls nicht die Rede sein. Denn die Unternehmensteuerreformen in unseren Partnerländern USA, Schweden und Österreich und jetzt die geplante in Frankreich sind ausdrücklich alle auch so angelegt, daß sie aufkommensneutral sind. Das haben die Franzosen heute auf Rückfrage noch einmal ausdrücklich bestätigt. Das wäre doch sehr lesenswert. Sie sollten sich das angucken.
Wenn Sie dann sagen, im Ausland gebe es keine Gewerbekapitalsteuer, dann ist sicherlich richtig
— bis auf Luxemburg —, daß es sie unter diesem Titel nicht gibt. Aber ertragsunabhängige Unternehmensteuern gibt es wohl, und das ist das Entscheidende. Es kommt nämlich auf die Belastung an, nicht auf den Namen.

(Beifall bei der SPD)

Grundlage unserer Wettbewerbsfähigkeit sind im übrigen unsere hervorragend ausgebaute Infrastruktur, das leistungsfähige Bildungssystem, die hochqualifzierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auch die Unternehmensleitungen, die hohe Arbeitsproduktivität und der soziale Frieden. Für jeden Unternehmer ist klar, daß das geldwerte Vorteile sind. Ich halte es nicht für einen Zufall, wenn der britische Industrieverband CBI im Hinblick auf die unterentwickelte Infrastruktur in Großbritannien sagt, daß das den Unternehmen jährlich eine Kostenbelastung von mindestens 45 Milliarden Mark verursacht. Rechnen Sie das mal gegen mit der Infrastruktur, und dann fragen Sie, was sie mit den Gemeinden machen.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Und deswegen investieren die Japaner in England und nicht bei uns?)

— Wissen Sie, warum die Japaner da investieren? Schlicht und einfach deshalb, weil sie da zunächst keine Konkurrenz in der Automobilindustrie zu fürchten haben, weil die nämlich durch die Wirtschaftspolitik längst kaputtgemacht worden ist.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie Infrastrukturprobleme und Kostenbelastung studieren wollen, reden Sie mal mit dem japanischen Unternehmerverband. Ich habe das dieses Jahr schon zweimal getan.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Es ist sehr interessant, was für Probleme da auftauchen. Gucken Sie sich den neusten gesunkenen Gewinnabschluß von Toyota und den Hintergrund dafür an. Also, sich ein bißchen darum zu kümmern ist schon nützlich, bevor man Zwischenrufe macht.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Genau das machen wir!)




Dr. Norbert Wieczorek
Es ist übrigens auch unzutreffend — —

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Jetzt müssen Sie nur noch sagen, daß die Japaner dorthin gehen, weil das Essen in England besser ist! — Heiterkeit)

— Also, wir können gern mal nach England fahren; dann zeige ich Ihnen, wie gut englische Küche sein kann. Die gibt es nämlich in dem Land. Aber Küche hat nichts mit Infrastruktur zu tun. Es hat z. B. damit zu tun, daß man Schweine auf der Weide hat und deswegen anständigen Schinken kriegt -- wenn wir schon bei rustikalen Dingen sind. Man muß sich halt auskennen, dann ist es einfacher.
Nun aber zurück zu Ihrer Behauptung, Sie bräuchten die Steuersenkung zur Eigenkapitalverbesserung in der Wirtschaft. Da muß ich die Bundesbank und das Institut der Deutschen Wirtschaft zitieren, das ja nun mit Sicherheit nicht der SPD nahesteht. Danach ist die finanzielle Ausstattung der deutschen Unternehmen noch nie so gut gewesen wie heute. Das gesamte Geldvermögen, also die liquiden Mittel der Produktionsunternehmen, belief sich 1990 auf 1,4 Billionen DM. Davon waren allein 557 Milliarden DM — rund 40 To — kurzfristig angelegt. Ich sehe nicht die Notwendigkeit, hier gerade bei Großunternehmen eine Eigenkapitalverbesserung zu machen.

(Beifall bei der SPD)

Da die Bemessungsgrundlage der Vermögen- und der Gewerbekapitalsteuer im wesentlichen das Eigenkapital ist, profitieren von diesen Steuersenkungen vor allem die Großunternehmen, die schon über ein hohes Eigenkapital verfügen. Damit wird die ohnehin hohe Finanzkraft der Großkonzerne, die von vielen spöttisch, aber treffend als Banken mit angegliederten Produktionsabteilungen bezeichnet werden, noch weiter gestärkt, während die kleinen und mittleren Unternehmen entweder ganz leer ausgehen oder nur kleine Beträge an Entlastung bekommen.
Es ist auch kein unmittelbarer Zusammenhang mit der Verbesserung der Eigenkapitalausstattung gegeben; denn wenn das richtig ist, was das Institut der Deutschen Wirtschaft und die Bundesbank sagen, ist doch völlig offen, was mit den Steuersenkungen geschieht. Bleiben die im Unternehmen? Oder werden sie ausgeschüttet? Das ist dann doch die Frage. Insofern gibt es überhaupt keinen Zusammenhang.
Es ist auch nicht zutreffend, daß die Unternehmen durch die Vermögen- und die Gewerbekapitalsteuer in ihrer Existenz gefährdet würden.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ja!)

Wenn Sie das hochrechnen, kommen Sie auf eine Belastung von maximal netto etwa 1 To des Kapitals. Wenn dann jemand behauptet, ein Unternehmen käme deshalb in wirtschaftliche Schwierigkeiten, dann würde ich doch mal annehmen, daß es ganz andere Gründe sind, wenn dieses Unternehmen nicht funktioniert, aber nicht diese Belastung.

(Beifall bei der SPD)

Praktisch führt eben die Steueränderung in diesem Bereich dazu, daß die Steuerbelastung der Großunternehmen letzten Endes auf die kleinen und mittleren Unternehmen verschoben wird. Während die kapitalstarken Großunternehmen durch die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und die Senkung der Vermögensteuer kräftig entlastet werden, werden die mittleren und kleinen Unternehmen durch die zur Finanzierung vorgesehene Anhebung der Mehrwertsteuer, durch die Minderung der degressiven Abschreibung und durch die Zinskosten viel höher belastet. Damit wird die Wettbewerbssituation der kleinen und mittleren Unternehmen in der Bundesrepublik gegenüber den Großunternehmen weiter verschärft und verschlechtert. Der Verdrängungs- und Konzentrationsprozeß hin zu immer größeren Konzernen wird durch diese Steuerpolitik von der Bundesregierung weiter forciert, egal, was sie in Sonntagsreden sonst zur Stärkung der kleinen und mittleren Unternehmen und des Wettbewerbs sagt.

(Beifall bei der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204124200
Bitte schön, Herr Gattermann.

Hans H. Gattermann (FDP):
Rede ID: ID1204124300
Herr Kollege, Sie haben mich neugierig gemacht hinsichtlich der französischen Steuerpläne. Ich habe nur eine Agenturmeldung gelesen, wonach der Körperschaftsteuersatz von 42 auf 34 % gesenkt worden ist. Sie haben eben von einem Gesamtpaket gesprochen. Könnten Sie mich schlau machen?

Dr. Norbert Wieczorek (SPD):
Rede ID: ID1204124400
Ich habe dies aus dem Zeitungsartikel. Wir haben aber natürlich nachgefragt, weil damit zu rechnen war, daß so etwas kam. Die Zeitungsmeldungen wurden bestätigt. Das Wesentliche daran ist, daß alle diese Vergünstigungen an die Unternehmensgröße gebunden sind. Das ist das Entscheidende. Deswegen kommt es auch zu der von Ihnen behaupteten Aufkommensneutralität, wobei ich das im Moment genausowenig nachrechnen kann wie Sie.

(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Sagen Sie doch einmal etwas zu dem Steuersatz in Frankreich oder in anderen Ländern!)

— Den Artikel können Sie doch nachlesen. Ich habe ihn dabei. Ich reiche ihn Ihnen gleich hinüber.

(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Wie hoch ist denn die Differenz?)

— Herr Kollege Uldall, ich gebe gerne Nachhilfe. Sie kriegen gleich anschließend den Auszug aus der Presse.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Das hat doch bei ihm keinen Zweck, Herr Kollege Wieczorek! Das bringt nichts!)

— Nein, so hart sind wir doch im Ausschuß nicht. Da ist selbst Herr Uldall manchmal schon lernfähig gewesen.

(Heiterkeit bei der SPD)

Heute zahlt nur ein kleiner Teil der Unternehmen überhaupt Gewerbekapital- und Vermögensteuer. Schon nach dem geltenden Recht gibt es hohe Freibeträge. 84 To der Gewerbebetriebe zahlen bereits heute keine Gewerbekapitalsteuer. Sie haben dadurch na-



Dr. Norbert Wieczorek
türlich nichts von der Abschaffung der Steuer. Deswegen hat auch die Mittelstandsvereinigung der Union festgestellt — ich zitiere nur Ihr eigenes Lager — , daß die Streichung der Gewerbekapitalsteuer vorwiegend die Großunternehmen begünstigt.
Auch von der geplanten Senkung der betrieblichen Vermögensteuer profitieren in erster Linie die wenigen kapitalstarken Großunternehmen. Da wird erst durch die Änderung des Ansatzes im Betriebsvermögen die Vermögensteuer um ein Drittel gesenkt, und dann rechnet sich das für die 100 größten Kapitalgesellschaften sowohl bei der Senkung der Vermögensteuer als auch bei der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer jährlich in einer Größenordnung von insgesamt 14 Millionen DM pro Unternehmen. Das ist kein Abbau von Subventionen, das ist eine neue Steuersubvention, die Sie einführen.
Andererseits wird durch die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer bei den Kommunen eine ihrer wichtigsten konjunkturunabhängigen eigenen Steuerquellen in der Höhe von netto 4,2 Milliarden DM gestrichen. Der vorgesehene Teilausgleich durch die Senkung der Gewerbesteuerumlage ist unzureichend und führt bei den Kommunen zu einer noch größeren Abhängigkeit von der Ertragslage der Unternehmen, die in ihren Grenzen tätig sind. Bei den strukturschwachen Gemeinden ist das ein weiterer Angriff auf die Finanzautonomie. Sie werden immer abhängiger von Bund und Ländern. Zudem wird mit der leichtfertigen Amputation der Gewerbesteuer die Ausgangslage für eine eigentlich dringend notwendige Reform der Gemeindefinanzen weiter verschlechtert.

(Beifall bei der SPD)

Ich fürchte, wenn Sie das Geld vorher verschenken, werden wir in diesem Jahrzehnt die notwendige Gemeindesteuerreform nicht mehr bekommen, obwohl wir sie dringend bräuchten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Dr. Peter Struck [SPD]: Da müssen wir erst an die Regierung kommen! — Gegenruf von der CDU/CSU: Das wird noch etwas dauern!)

Wir werden aus all diesen Gründen dies natürlich ablehnen und hoffen, daß das, was wir an Äußerungen von den Sozialausschüssen und von den Mittelstandspolitikern der Union gehört haben, wahr wird; die sollen mit uns stimmen, die sollen endlich Farbe bekennen, nicht immer nur in Presseerklärungen.

(Detlev von Larcher [SPD]: Das machen sie ja nicht!)

— Man kann sie doch immer noch zur Besserung bringen. Es ist doch nicht so tragisch.
Nun zum Thema Abbau der Steuersubventionen: Angeblich streichen Sie ja 5 Milliarden DM an Steuersubventionen. Ich halte das für einen Etikettenschwindel, der sehr an die berühmten Darstellungen des Herrn Möllemann erinnert, die ich der CDU/CSU nicht anlasten möchte.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Dieser Vergleich ist aber nicht fein!)

— Ja, ich sage, ich will es Ihnen gar nicht anlasten. Ich komme Ihnen ja entgegen. Aber er ist ja nun einmal Ihr Wirtschaftsminister in der Koalition. Damit müssen Sie schon einmal leben.
Wenn ich mir das also ansehe, ist dies ja im wesentlichen das Noch-einmal-Aufrechnen gesetzlich bereits auslaufender Steuersubventionen, der Verzicht auf die Aufstockung von Subventionen, die nochmalige Einrechnung bereits beschlossener Maßnahmen
— Umsatzsteuer für Geldspielgeräte — , reine Steuererhöhungen wie die Erhöhung des Lohnsteuerpauschsatzes, und dann handelt es sich in vielen Fällen um schlichte Luftbuchungen, die kassenmäßig überhaupt nicht wirksam werden, wie etwa die Streichung der Steuerfreiheit von Zinsen aus in den 50er Jahren begebenen steuerfreien Wertpapieren.

(Detlev von Larcher [SPD]: Schauspielertricks!)

— Ja, Trickserei ist das.
Aber damit nicht genug: Wer hinhört, stellt fest, daß die Bundesregierung und die Koalitionsparteien auf einige Punkte sowieso noch verzichten wollen. Dann allerdings würden selbst die 5 Milliarden DM aus den 10 Milliarden DM des Herrn Möllemann nicht mehr erreicht werden.
Wie weit, meine Damen und Herren von der Koalition, Sie bereits auf dem Gebiet des Tricksens im Bereich der Finanzpolitik gelangt sind, zeigt schon die Begründung des vorliegenden Steueränderungsgesetzes, nach der Sie mit dem angeblichen Subventionsabbau die Steuerausfälle durch die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und die Senkung der Vermögensteuer finanzieren wollen. Hier kann ich mich nur wundern. Haben Sie nicht erst verkündet, der Subventionsabbau solle — so Herr Waigel hier im Bundestag — zur Haushaltskonsolidierung eingesetzt werden? Es geht ja wohl nicht an, daß Sie die Mittel für den Subventionsabbau einmal zur Entlastung des Bundeshaushaltes einsetzen und dann noch ein zweites Mal zur Finanzierung der ungerechten Steuersenkung.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: So rechnen die immer! — Detlev von Larcher [SPD]: Die können jede Mark zweimal ausgeben!)

— So ist das. Bundesfinanzminister Waigel hat ja hier im Bundestag auch verkündet, er würde in Zukunft jede Mark zweimal umdrehen. Wenn er das täte, hätten wir vielleicht nicht die Haushaltsmisere. Aber wir haben den Eindruck, daß Herr Waigel jede Mark nicht zweimal umdreht, sondern zweimal ausgibt.

(Beifall bei der SPD — Dr. Peter Struck [SPD]: Dreimal!)

Er ist ja nicht mehr hier — das finde ich übrigens auch bemerkenswert, nachdem wir so lange darauf warten mußten, daß wir überhaupt fortfahren konnten —, aber wir möchten ihn auffordern, klipp und klar zu sagen, was denn nun gelten soll: Subventionsabbau zur Haushaltskonsolidierung oder zur Finanzierung der neuen Steuergeschenke vor allem für Großunternehmen. Aber es ist ja — das habe ich vorhin schon gesagt — gar kein Subventionsabbau, sondern nur Subventionsaufbau.



Dr. Norbert Wieczorek
Meine Damen und Herren, ich komme nun zum Familienlastenausgleich. Was der Bundesfinanzminister da den Familien zumutet, ist eigentlich schon ganz ungeheuerlich, denn das geht wirklich nach dem Motto: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt's sich gänzlich ungeniert.

(Beifall bei der SPD)

Seit diese Bundesregierung im Amt ist, hat sie Jahr für Jahr den Familien verfassungswidrig eine viel zu niedrige Entlastung für ihre Kinder gegeben.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Und das von Ihnen, unglaublich!)

— Entschuldigung, sehen Sie sich doch an, wie das Bundesverfassungsgericht geurteilt hat! Es hat gesagt, 1983 bis 1985 haben Sie zu wenig entlastet.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat denn den Tarif gemacht, der 1983 galt?)

— Sie haben doch angeblich sofort alle Fehler korrigiert. Haben Sie es getan? Nein, Sie haben damit gelebt. Dann kam dieses Bundesverfassungsgerichtsurteil; dann haben Sie monatelang geprüft

(Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

und sind nicht zu Potte gekommen. Dann kam die Bundestagswahl. Da wurde gesagt: Natürlich wird das allen zurückgegeben. Nach der Bundestagswahl war davon nicht mehr die Rede, sondern nur die, die
— wahrscheinlich, weil sie einen Steuerberater hatten — Einspruch eingelegt hatten, haben das Geld dann zurückbekommen, die anderen nicht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wir mußten doch zuerst den Scherbenhaufen beseitigen!)

— Richtig, nach der Bundestagswahl mußten Sie den Scherbenhaufen aufkehren. Das sehe ich ja ein, daß Sie in diesem Jahr einen Scherbenhaufen angerichtet haben. Da müssen Sie noch verdammt viel tun, wenn Sie den aufkehren wollen. Wahrscheinlich wird das dann irgendwann unsere Aufgabe sein. Dann können wir ja vielleicht wieder Reden austauschen.

(Hans H. Gattermann [FDP]: Mein Gott, daraus wird etwas werden!)

— Herr Gattermann, Sie werden schon sehen, daß das bei dem Konzept, das wir haben, ein bißchen besser geht. Aber ich will mich beim Familienlastenausgleich jetzt hier nicht mehr — —

(Zuruf von der CDU/CSU: Auf Ihr Konzept warten wir doch schon die ganze Zeit!)

— Bitte? Das werden Sie zum Familienlastenausgleich gleich noch vom Kollegen Habermann hören, weil ich aus Zeitgründen diesen Punkt zurückstelle. Sie werden das alles noch bekommen, keine Sorge.
Ich möchte nämlich noch darauf kommen, daß gerade bei dieser massiven Herausforderung, die wir jetzt haben, für neue Steuervergünstigungen in der Haushaltssituation, in der wir sind, überhaupt kein Geld mehr da ist.

(Beifall bei der SPD)

Das ist doch der Punkt. Das Gebot der Stunde für den
Finanzminister wäre jetzt wohlüberlegtes, aber eiser-
nes Sparen, damit die Staatsverschuldung zurückgeführt wird, die Inflationsrate wieder zurückgeht und die Zinsen wieder gesenkt werden können. Ich finde nicht nur das, was Herr Tietmeyer gestern zur Inflationsrate gesagt hat, sehr bemerkenswert, sondern ebenso, wenn klar gesagt wird, daß von den drei Kriterien, die als Eingangsvoraussetzungen für die Währungsunion gelten, die Bundesrepublik bei zweien weit durch den Rost fällt.

(Zuruf von der SPD: Schallende Ohrfeige!)

Es ist sehr bedenkenswert, daß nach den Anforderungen, die wir für die Wirtschafts- und Währungsunion stellen, wir selber in dieser Situation nicht dafür qualifiziert wären.

(Zuruf von der SPD: Sehr wahr! Sehr wahr! — Gegenrufe von der CDU/CSU)

— Darüber sollten Sie einmal nachdenken, ehe Sie zu diesem Punkt hier Ihre Zwischenrufe machen.

(Beifall bei der SPD)

Der Wirtschaft ist insgesamt auch wirklich mit einer soliden Finanzpolitik mehr gedient als mit Steuervergünstigungen für Großvermögen.

(Beifall bei der SPD)

Im Unterschied zu Ihrer Umverteilungsideologie
— kleine Unternehmen belasten, große entlasten — schlagen wir eine aufkommensneutrale Reform der Unternehmensbesteuerung vor, mit der Investitionen und Arbeitsplätze gefördert werden können: die steuerfreie Investitionsrücklage für kleinere und mittlere Unternehmen und die Beseitigung von steuerlichen Privilegien bei den Finanzanlagen gegenüber den gewerblichen Investitionen. Davon ist übrigens bei Frau Cresson auch etwas drin.
Dann müssen natürlich Subventionen auf allen Ebenen abgebaut werden. Wir haben dazu Vorschläge gemacht. Ich darf daran erinnern: Dienstmädchenprivilegien, Flugbenzin,

(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Machen Sie weiter, Sie müssen ja auf 10 Milliarden kommen!)

und durch unsere Vorschläge zur Einsparung und zum Verzicht auf die Senkung der Vermögensteuer und auf die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer kommen wir ohne Steuererhöhungen auf ein ähnliches Niveau des Einnahmevolumens wie Sie mit der Mehrwertsteuererhöhung. Wir können Ihnen die Zahlen dann ja geben.
Statt der von der Bundesregierung geplanten Erhöhung der Mehrwertsteuer will die SPD nach dem Gedanken des Lastenausgleichs die Bezieher höherer Einkommen, die mit den starken Schultern, wie man so sagt, zur Finanzierung der deutschen Einheit heranziehen.
Unsere Alternative zur Mehrwertsteuererhöhung ist die Freistellung der kleinen und mittleren Einkommen von der Ergänzungsabgabe und die Umgestaltung der Ergänzungsabgabe in einen Zuschlag zur Einkommensteuer, an dem auch Länder und Gemeinden — das ist die Antwort auf die Zwischenfrage von vorhin — beteiligt sind, was sie bei der jetzigen Kon-



Dr. Norbert Wieczorek
struktion nicht sind, und ihre befristete Erhebung für vier bis fünf Jahre. Das entspricht im Aufkommen auch etwa einem Punkt bei der Mehrwertsteuererhöhung.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Da freut sich der Leistungsträger!)

— Der wird ja entlastet. Ich sehe den Facharbeiter als Leistungsträger an. Der würde bei uns total entlastet. Bei Ihnen ist er belastet, Herr Faltlhauser.

(Beifall bei der SPD)

Bevor weiter nach Steuererhöhungen gerufen wird, muß der Staat die Steuern, die ihm zustehen, auch eintreiben. Eine Politik, die die Hinterziehung hoher Steuerbeträge hinnimmt, hat kein Recht, die ehrlichen Steuerzahler mit immer neuen Steuererhöhungen zur Kasse zu bitten.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb muß jetzt endlich die vom Bundesverfassungsgericht geforderte gleichmäßige Besteuerung von Kapitaleinkünften nach Recht und Gesetz sichergestellt werden. Unser Vorschlag ist bekannt; den haben wir schon bei der mißglückten Quellensteuer gemacht, und der ist jetzt vom Verfassungsgericht bestätigt worden. Wir wollen die Millionen Normalsparer von der Zinsbesteuerung durch die Anhebung der Sparerfreibeträge auf 3 000 DM für Ledige, 6 000 DM für Verheiratete von der Besteuerung befreien und mit einem Stichprobenverfahren, das das Bankgeheimnis weitgehend wahrt, absichern. Über die exakte Höhe des Sparerfreibetrages können wir uns gern auch noch unterhalten, soweit die Befreiung verfassungsmäßig tragbar ist.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Sie sollten genauer erklären, was Sie meinen!)

— Sie haben einen Artikel zur Zinsbesteuerung im „Handelsblatt" geschrieben. Es ist doch angenehm, daß Herr Faltlhauser eigentlich eine alte SPD-Idee aufgenommen hat. Er ist eben auch lernfähig. Darauf können wir uns dann schnell einigen. Die Schwierigkeit, die Sie da haben, ist Ihre Fraktion, nicht wir.

(Beifall bei der SPD)

Leere Kassen dürfen auch nicht als Ausrede dafür herhalten, um notwendige Reformen zu verhindern. Die SPD hat gezeigt, daß Reformpolitik möglich ist durch intelligente Umschichtung in den öffentlichen Haushalten, ohne daß zusätzlich Geld ausgegeben werden muß. Wir haben das beim Familienlastenausgleich, wenn ich etwa an die Begrenzung des Ehegattensplittings denke, auch schon nachgewiesen.
Eine solidarische Finanzpolitik muß allerdings auch Beamte, Selbständige, Minister und auch Abgeordnete, die von der Anhebung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge nicht betroffen sind, in eine Arbeitsmarktabgabe einbeziehen.

(Beifall bei der SPD) Wo bleibt das bei Ihnen?

Die ökologische Weiterentwicklung des Steuer-und Abgabensystems ist auch eine Aufgabe der deutschen Reformpolitik. Sie haben doch die Mineralölsteuererhöhung gemacht, um Löcher zu stopfen, statt ein gescheites ökologisches Konzept zu machen.

(Beifall bei der SPD)

Aber wenn ich mir anhöre, was Ihre Ankündigungsminister Töpfer und Möllemann gerade bei dem Thema der Mineralölsteuer zur Geschwindigkeitsbeschränkung gesagt haben, ist mir auch klar, daß Sie kein Umweltkonzept haben.

(Beifall bei der SPD)

Die Vorschläge der SPD enthalten eine bedarfsgerechte Finanzausstattung der Länder und Gemeinden, die durch die deutsche Einheit erheblich belastet sind und die an den vom Bund vorgenommenen Steuererhöhungen und Einnahmen praktisch kaum beteiligt sind.
Meine Damen und Herren, das vorgelegte Gesetz wird — das ist kein Geheimnis — so keinen Bestand haben. Spätestens im Bundesrat wird die sozial ungerechte Steuerpolitik dieser Bundesregierung gestoppt werden müssen. Wir hatten eigentlich nach dem letzten Vermittlungsverfahren erwartet, daß die Senkung der Vermögensteuer und die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer endgültig vom Tisch sei.
Es stimmt schon sehr, sehr nachdenklich und gibt zu Vermutungen Anlaß, wenn man sieht, mit welcher Energie und Ausdauer sich die Bundesregierung für diese Steuergeschenke für wenige große Vermögen und Kapitalbesitzer einsetzt. Warum setzen Sie sich denn nicht mit der gleichen Energie angesichts von 2,5 Millionen fehlenden Wohnungen für die Bekämpfung der Wohnungsnot ein?

(Beifall bei der SPD)

Warum sorgen Sie nicht mit der gleichen Energie dafür, daß Familien mit Kindern endlich einen verfassungsmäßigen Familienlastenausgleich bekommen?

(Beifall bei der SPD)

Und warum setzen Sie sich nicht mit der gleichen Vehemenz dafür ein, daß endlich eine entsprechende Erhöhung des Grundfreibetrages in Höhe des Existenzminimums für Erwachsene steuerfrei gestellt wird?

(Beifall bei der SPD)

Warten Sie da auch wieder, bis das Bundesverfassungsgericht Ihnen was ins Stammbuch schreibt? Das wird ja wohl so kommen. Viel Spaß!
Es ist wirklich schlimm, wenn die Steuerpolitik so zur bloßen Klientelpolitik verkommt.

(Beifall bei der SPD)

Wenn dieser Prozeß aber angesichts der großen finanzpolitischen Herausforderungen, die wir bereits haben und die, wie heute schon absehbar ist, durch außenpolitische Ereignisse noch auf uns zukommen, nicht nur Sowjetunion, wenn man das alles vor Augen hat, dann muß diese Politik jetzt gestoppt werden. Geschieht das nicht, hat das für uns alle sehr fatale Folgen, auch für die deutsche Wirtschaft.
Deswegen appelliere ich, auch wenn ich nicht sicher bin, daß dieser Appell gehört wird — wir sollten trotzdem darüber nachdenken — , daß diejenigen bei



Dr. Norbert Wieczorek
Ihnen, die die sozialen und wirtschaftspolitischen Ungerechtigkeiten Ihrer Maßnahmen erkennen, sich endlich dazu aufraffen, diesem Gesetz hier im Bundestag bereits ein Ende zu setzen, nicht daß der Bundesrat dem Bundestag wieder sagen muß, wo es langgeht.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204124500
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Kurt Faltlhauser.

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1204124600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesfinanzminister hat einleitend auf Grund der etwas unmotivierten Lachereien in den Reihen der Opposition die SPD getadelt. Ich finde, er hat damit Unrecht getan. Ich habe Verständnis dafür, daß die SPD hier im Plenum lacht. Die haben ja in Ihrer Fraktion nichts zu lachen.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Wir wollen Sie hier etwas befreien. Das hat man von dem Kollegen Wieczorek wieder bewiesen bekommen; im Ausschuß, insbesondere in Währungsfragen, ein sehr vernünftiger und sachkundiger Mann. Für das Plenum, vor den Augen der Öffentlichkeit, wird er von dieser Fraktion gezwungen,

(Lachen bei der SPD)

die alte Leier der Neidpolitik und der Verteilungspolitik zu wiederholen,

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Gute Rede! Das ärgert Sie!)

in vorgestanzten Sätzen, vorbei an jeder Sachkenntnis! Das ist eigentlich schade.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Sie können doch besser reden!)

Herr Kollege Wieczorek, Sie haben etwas zur Belastung unserer jetzigen Steuermaßnahmen im Verhältnis zu den alten Steuerentlastungen zwischen 1986 und 1990 gesagt. Damit ich hier nicht allzu lang darüber spreche, verweise ich Sie auf die tatsächlichen Zahlen, detailliert vorgerechnet in den Beiträgen zur Wirtschafts- und Finanzpolitik vom 31. Juli 1991, Seite 6 ff. Bitte nachlesen! Sie werden dann feststellen: Die große Steuerreform zwischen 1986 und 1990 hat langfristig wesentlich mehr entlastet, als die jetzigen Steuererhöhungen die Bürger belasten. Das können Sie ganz konkret nachlesen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Nur für wenige! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die Leute sehen das alle anders! Fragen Sie mal die Menschen!)

Ein Weiteres, Herr Kollege Wieczorek. Sie haben einige Anmerkungen zu den Belastungsrechnungen der Unternehmen gemacht. Das ist tatsächlich ein Problem. Ich glaube, man sollte auseinanderhalten, daß es hier vier verschiedene Methoden des Vergleiches gibt.
Die erste Methode ist die der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die die finanzpolitische Sprecherin der SPD permament vorgetragen hat. Wir haben vor einem Jahr eine Anhörung gehabt. Dort wurde diese Methode von allen Experten in einer Weise auseinandergenommen, daß man nur noch sagen kann: Lächerlich. Die Zahlen, die Sie zur Belastung der Unternehmen immer verwandt haben, Frau Matthäus-Maier, sind völlig falsch.
Die zweite Methode ist die der naiven Addition der Sätze. Ich gebe zu: Die nützt auch nichts! Man nimmt die Sätze zusammen und kommt dann etwa auf 70,03 % Belastung.
Ernst zu nehmen sind nur zwei Methoden. Das eine ist die „Modellrechnung" des DIW,

(Hans H. Gattermann [FDP]: Ohne Fehler aber bitte!)

bei allen Problemen. — Ohne Fehler, insbesondere bei den Pensionsrückstellungen. — Aber genau diese seriöse Untersuchung zeigt, daß in manchen Branchen die Spitzensteuerbelastung nicht 70 %, sondern 78 % beträgt. Auch das sollte man sehen.

(Peter Harald Rauen [CDU/CSU]: So ist es!)

Das beweist auch die vierte sehr ernsthafe Methode, die des Deutschen Industrie- und Handelstages am „lebenden Objekt". Das ist eine gute Untersuchung, wie ich meine. Auch sie zeigt, daß die Spitzenbelastungen teilweise weit über 70 % liegen.
Wir sollten also gemeinsam feststellen, gerade auf Grund dieser wissenschaftlichen Untersuchungen, daß die Steuerbelastung der Unternehmen in Deutschland zu hoch ist.
Eine persönliche Bemerkung, Herr Kollege Wieczorek. Ich habe in dem „Handelsblatt"-Artikel kein Stichprobenverfahren vorgeschlagen. Ich habe gesagt: Wir bleiben offen für alle Möglichkeiten. Wir prüfen das. Das tun wir gegenwärtig. Am 15. Oktober wird die entsprechende Entscheidung von der Zinskommission vorgelegt und von der Unionsfraktion beschlossen werden.

(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Viel Erfolg in Ihrer Fraktion, Herr Faltlhauser!)

Meine Damen und Herren, dieses Gesetz heißt in der Kurzform etwas grau und verwaltungsmäßig „Steueränderungsgesetz" . Wichtig ist der Langtext, der zwei Teile deutlich macht: „Gesetz zur Entlastung der Familien und zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze. " Es sind die zwei Teile, die ganz deutlich getrennt werden müssen: einerseits Familienentlastung, finanziert durch die Mehrwertsteuer, und auf der anderen Seite Entlastung der Unternehmen, finanziert durch Subventionsabbau und Änderungen bei den Abschreibungsbedingungen.

(Detlev von Larcher [SPD]: Im Euphemismus seid ihr gut!)

Wir haben für dieses Gesetz Vorgaben von außen.
Die erste Vorgabe von außen ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990, das die Freistellung eines Existenzminimums für das Kind erzwingt. Grundlage der Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts ist die Situation im Jahre 1983. Damals galt ein Gesetz, das eine sozialdemokratische



Dr. Kurt Faltlhauser
Finanz- und Familienpolitik von 1969 an, also 13 Jahre lang, zu vertreten hatte — besser gesagt: was sozialdemokratische Finanz- und Familienpolitik 13 Jahre lang sträflichst mißachtet und verschludert hatte.
Nichts haben Sie getan. Sie haben nicht nur versucht, die Familien ideologisch auszuhöhlen, sondern Sie haben sie auch finanziell sträflich vernachlässigt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Diese Situation war Grundlage des Bundesverfassungsgerichtsurteils.
Wir haben versucht, in Schritten Ihre Versäumnisse zu reparieren. Wir haben erstens den Kinderfreibetrag von 1983 an schrittweise angehoben, jetzt — in diesem Gesetz — auf 4 104 DM. Hinzu kommt die in diesem Gesetz ebenfalls festgelegte Anhebung des Erstkindergelds von 50 auf 70 DM.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist ja ungeheuer!)

Rechnet man — wie es das Bundesverfassungsgericht systematisch vorgeschlagen hat — das Kindergeld in den Kinderfreibetrag um, kommt man bei einem Umrechnungssatz von 40 % auf einen Betrag für das Existenzminimum eines Kindes in Höhe von 6 204 DM.
Wenn ich mir das Urteil und die dort enthaltenen Zahlen ansehe, kann ich nur sagen: Unsere Überzeugung ist, diese 6 204 DM sind nun wirklich verfassungskonform! Das hat diese Bundesregierung, das hat diese Koalition geschaffen!
Wir haben darüber hinaus eine ganze Reihe von zusätzlichen familienpolitischen Maßnahmen ergriffen. Das muß man auch sehen, um gewichten zu können, was diese Koalition bisher für die Familie getan hat.
Ich nenne nur folgende Stichworte: Pflegepauschbetrag, Erhöhung des Baukindergelds, Einführung des Kindergeldzuschlags, Einführung und mehrfache Verlängerung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub, Einführung der Kindererziehungszeiten. Wir haben im Zusammenhang mit dem BAföG die Freibeträge beim Einkommen der Eltern angehoben. Wir haben die Bundesstiftung „Mutter und Kind" errichtet. Wir wollen — das haben wir heute in der Fraktion beschlossen — im Rahmen der flankierenden Maßnahmen zum Schutz des ungeborenen Lebens innerhalb einer Einkommensgrenze ein Familiengeld in Höhe von 1 000 DM einführen.
Das ist rundum eine verantwortliche Politik für die Familie. 1982 war das entsprechende Volumen bei Ihnen noch 27 Milliarden DM; heute sind es etwa 60 Milliarden DM. Das ist eine Steigerung, die weit über die Steigerungssätze des Bruttosozialproduktes in demselben Zeitraum hinausgeht.
Angesichts dieser familienpolitischen Initiativen auf breitester Front, angesichts dieser Familienpolitik der Phantasie und der Großzügigkeit würde ich mich als Sozialdemokrat schämen, wenn die eigene Leistung aus der Vergangenheit zum Vergleich herangezogen würde. Ich würde mich schämen, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben in Ihrer Zeit kläglich versagt, und wir mußten das nachholen.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wir hatten kein Karlsruhe-Urteil!)

Ihre Alternativen werden selbst in Ihren eigenen Reihen als nicht seriös angesehen. Ich zitiere, Frau Kollegin, Ihren Landespolitiker Herrn Schleußer. Er sagt, daß Ihre familienpolitischen Vorschläge unseriös, unrealistisch, verfassungsrechtlich bedenklich und, nicht zuletzt, unbezahlbar sind. Der Mann hat recht; Sie sollten mehr auf Herrn Schleußer hören.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204124700
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier?

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1204124800
Aber natürlich. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte.

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1204124900
Herr Kollege, da Sie unsere Familienpolitik so geißeln: Würden Sie mir zustimmen, daß es über den Familienlastenausgleich während der Zeit der sozialliberalen Koalition kein negatives Bundesverfassungsgerichtsurteil gibt, während Ihr Familienlastenausgleich von Karlsruhe ausdrücklich für verfassungswidrig erklärt wurde?

(Hans H. Gattermann [FDP]: Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter!)


Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1204125000
Ich darf Sie darauf hinweisen, Frau Kollegin, daß sich der Kläger auf das Jahr 1983 bezog, also genau die Zustände vorfand und beklagenswert fand, die am Ende Ihrer 13jährigen Regierungszeit herrschten.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nein!)

Ich glaube, das sagt genug. Das war nach einem langen Leidensweg in der Familienpolitik eine notwendige Klage vor dem Verfassungsgericht. Vielleicht lagen dem Verfassungsgericht vorher keine entsprechenden Klagen der Bürger vor.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aus unserer Zeit gibt es kein Urteil, aber aus Ihrer! — Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Aber über Ihre Zeit!)

— Ich glaube, diesen Zwischenruf muß man nicht mehr seriös beantworten.
Die zweite Vorgabe macht die Europäische Gemeinschaft bei der Mehrwertsteuer. Die Bundesrepublik mit einem Mehrwertsteuersatz von 14 % bewegt sich am unteren Ende der bisherigen Korridorvorgaben der EG. Die Bundesregierung und der Finanzminister waren sicherlich nicht diejenigen, Herr Kollege Wieczorek, die in Brüssel die Mehrwertsteuertreiber waren. Deutschland war eher im Bremserhäuschen.

(Zuruf von der SPD: Abgetaucht!)

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3427
Dr. Kurt Faltlhauser
Ohne die Deutschen im Mehrwertsteuerbremserhäuschen wäre die Vorgabe der EG mit Sicherheit nicht bei 15 %, sondern bei 16 % gelandet. Der vorgelegte Gesetzentwurf setzt also schlicht um, was auf EG-Ebene beschlossen ist.
Wir sollten dabei das Augenmerk vor allem auch darauf richten, daß der ermäßigte Mehrwertsteuersatz nach der Vorlage bei 7 % bleibt. Dadurch wird die vielfach behauptete Regressionswirkung, also die unsoziale Wirkung der Mehrwertsteuer, mit Sicherheit deutlich gedämpft.

(Detlev von Larcher [SPD]: Ist die Begründung nun die EG oder der Familienlastenausgleich?)

Angesichts der EG-Vorgabe wirkt der Zustand der SPD zur Frage der Mehrwertsteuer besonders grotesk. Frau Kollegin Matthäus-Maier erklärt zwar täglich trotzig — das macht sie ganz tapfer —, daß die SPD einer Mehrwertsteuererhöhung niemals zustimmen wird. Im eigenen Lager klingt das aber ganz anders:
Die Kollegen Roth und Wieczorek halten Gespräche ohne Tabus mit der Regierung auch hinsichtlich der Mehrwertsteuer für nötig.
Der nordrhein-westfälische Finanzminister — das ist ein kluger Mann; ich muß ihn schon wieder zitieren — hält eine Mehrwertsteuererhöhung für notwendig, unabhängig von der Frage, ob es 15 % oder 16 werden.
Der hochgeschätzte Vorsitzende der IG Chemie, Herr Rappe, der eben noch im Plenum saß — ich wollte ihn loben, aber jetzt ist er davongelaufen; man darf sich nicht von einem Unionspolitiker loben lassen — , hat ganz trocken gesagt: Mehrwertsteuer um 2 % nach oben!
Der niedersächsische Ministerpräsident, der nach eigenen Aussagen möglicherweise Kanzlerkandidat der SPD wird,

(Detlev von Larcher [SPD]: Ach schau her! — Weitere Zurufe von der SPD)

sagte am 1. August 1991, daß die Mehrwertsteuererhöhung von 14 auf 15 % für die SPD kein Tabu ist.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, vor diesem Hintergrund handelten Sie völlig konsequent, als Sie in der vorletzten Woche aus dem Vermittlungsausschuß ausgetreten sind. Das ist eine billige Fahnenflucht!

(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Fraktionslüge!)

Sie wollen sich auf den bequemen Weg begeben, hier weiterhin gegen die Mehrwertsteuererhöhung polemisieren zu können und wollen dann nicht zur Verantwortung gezogen werden, wenn Sie im Vermittlungsausschuß die Hand für eine tatsächliche Mehrwertsteuererhöhung heben. Das ist Fahnenflucht! Im übrigen zeigt dieser Vorgang ganz deutlich, wie die Machtverhältnisse mittlerweile sind.

(Abg. Dr. Theodor Waigel meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Herr Abgeordneter Waigel, Sie haben eine Zwischenfrage. Bitte schön.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1204125100
Herr Kollege Faltlhauser, sind Sie mit mir der Meinung, daß man das dann als Fraktionslüge bezeichnen muß?

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1204125200
Ich würde das nicht nur als eine Fraktionslüge bezeichnen, sondern obendrein als eine Parteilüge.

(Zustimmung bei der CDU/CSU — Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Ich bedanke mich. — Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Habt ihr das einstudiert? Witzig war es aber nicht! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Dafür, daß Sie vorbereitet waren, war es aber nicht witzig!)

— Ich weiß, daß in Ihren eigenen Reihen manchmal Antworten vorbereitet werden und die Witze, die in der Antwort gebracht werden, schon auf dem Tisch bereitliegen. Bei uns ist das nicht notwendig.

(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Der Finanzminister ist wirklich ein besserer Komödiant!)

Dieser Vorgang zeigt deutlich, wer in der SPD tatsächlich Macht und Einfluß hat. Die Musik machen die SPD-Ministerpräsidenten. Und die werden trotz Dementis heute mit klammheimlicher Freude im Dezember einer Mehrwertsteuererhöhung zustimmen. Ihr Parteichef, Herr Engholm, wird zunächst einmal
— sehr dekorativ — einige Züge aus der Pfeife nehmen, vielleicht ein bißchen am norddeutschen Strand auf und ab gehen. Dann wird er aber mit Sicherheit der erste sein, der im Vermittlungsausschuß die Hand für eine Mehrwertsteuererhöhung hebt.

(Hans H. Gattermann [FDP]: Der kommt nicht selber!)

Wie hat er in der „Welt" am 3. September gesagt? — „Ich schließe nicht völlig aus, daß die Mehrheit der SPD-regierten Länder im Bundesrat doch einer Erhöhung zustimmen könnte".

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Warten wir es ab!)

Die SPD eiert in der Finanzpolitik; das wissen wir. Die Frage der Mehrwertsteuer ist das sichtbarste Zeichen ihrer Konzeptionslosigkeit in der Finanzpolitik. Wir werden im Dezember den Beweis auf den Tisch bekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Selbstverteidigungsrede von Faltlhauser!)

Die dritte Vorgabe von außen für dieses Steueränderungsgesetz ist der Termin 1. Januar 1993. Ab diesem Tag werden wir den europäischen Binnenmarkt haben. Ab diesem Tag wird der Wind des Wettbewerbs schärfer werden. Diesen Wettbewerb werden die Unternehmen in unserem Lande eben nicht durch protektionistische Maßnahmen bestehen können, nicht mit sozialpolitischen Krücken, sondern nur durch vernünftige Rahmenbedingungen, die Leistung anreizen und Investitionstätigkeit ermöglichen.



Dr. Kurt Faltlhauser
Einer der wichtigsten Faktoren für diese Rahmenbedingungen ist die Steuerlast. Deshalb heißt es im CDU-Wahlprogramm — ich betone CDU — vom 1. Dezember 1990 in nicht zu übertreffender Deutlichkeit. — Ich schaue mich um, ob die Leute da sind, „to whom it may concern", damit Sie es auch hören können.

(Widerspruch der Abg. Ingrid MatthäusMaier [SPD])

Es heißt in diesem CDU-Wahlprogramm — der Parteivorsitzende der CSU ist hier nicht angesprochen — :
Im Hinblick auf die Verwirklichung des Europäischen Binnenmarktes brauchen wir nicht nur offene Märkte, sondern ebenso eine investitionsfreundliche Steuerreform, die die Sicherung der Schaffung von Arbeitsplätzen begünstigt.

(Zuruf der Abg. Ingrid Matthäus-Maier [SPD])

Am Ziel der Unternehmenssteuerreform halten wir deshalb fest. Der CSU-Vorsitzende löst also konsequent als Finanzminister das Wahlprogramm der CDU ein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei der SPD)

Ich halte das für gut.
Ich sehe es als konsequent an, daß in diesem Steueränderungsgesetz vor allem als erster Schritt die Substanzsteuern angegangen werden. Wir veranstalten im Bundestag ja regelmäßig Anhörungen. Warum machen wir das? Weil wir uns von den Experten klüger machen lassen wollen für unsere Entscheidung.

(Zurufe von der SPD)

Das haben wir auch in einem sehr großen Hearing am 6. Dezember 1989 zur Unternehmenssteuerreform getan. Die Fragestellung war: Wie ist das mit der deutschen Unternehmenssteuerbelastung im Verhältnis zu anderen Ländern? Wie schaut es aus mit den Steuersätzen und der Bemessungsgrundlage?
Ich habe mir das Protokoll noch einmal angesehen. Ergebnis: Durchgängig wurde festgestellt, daß die Steuerlast der Unternehmen in der Bundesrepublik im Vergleich zu den Mitbewerbern zu hoch ist. In besonderer Weise wurde durchgängig betont, daß die Substanzsteuern zu senken sind.
Wir erinnern uns alle noch, daß es einmal ein großes Gutachten im Jahre 1989 des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung gab. Das ist auch nicht immer so positiv aufgenommen worden auf Grund der technischen Fehler der Berechnung. Nur, bei den Substanzsteuern sagt dieses Gutachten in einer Präzision, die stellvertretend ist für viele andere Erkenntnisse der Wissenschaft, und das zitiere ich ganz ausführlich im Hinblick auf das, Herr Wieczorek, was Sie hier zum Verhältnis Substanzsteuern und Arbeitsplätze gesagt haben:
Im Hinblick auf die ertragsunabhängigen Steuern
— sagt das DWI —
liegt die Bundesrepublik in ihrer Kumulation aus Vermögen-, Grund- und Gewerbekapitalsteuer an relativ ungünstiger Position. Substanzsteuern, die das im Ausland übliche Maß überschreiten, belasten die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen gerade in Zeiten insbesondere stark, in denen sie eine Entlastung am meisten brauchen. Dieser Nachteil wird keineswegs durch entsprechende Nettogewinne bei guter Geschäftslage wettgemacht, kann er doch im Einzelfall sogar zur Insolvenz führen.
Es geht also nicht nur um ein Prozent, wie Sie sagen.

(Zurufe von der SPD)

Hohe Substanzsteuern dämpfen zudem generell
— hören Sie zu, keine Zwischenrufe, jetzt müssen Sie lernen! —
die Investitionsbereitschaft, da sich mit den Investitionen auch die Bemessungsgrundlagen für diese Steuern erhöhen. Eine Korrektur des Steuersystems im Hinblick auf die ertragsunabhängige Besteuerung erscheint daher geboten.
Ich glaube, das paßt genau auf das, was Sie, Herr Wieczorek, hier zu der Substanzbesteuerung vorgetragen haben.

(Zurufe von der SPD)

Die in dem Steueränderungsgesetz 1992 vorgesehenen Entlastungen bei der betrieblichen Vermögensteuer und die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer folgen demnach wissenschaftlichen Erkenntnissen und ebenso den Erkenntnissen der Praxis draußen.
Zu was laden wir diese Leute denn ein, Herr Wieczorek? Zu was hören wir sie denn an?

(Zurufe von der SPD)

Ich glaube, wir sollten von dem lernen, was die Leute uns vortragen.
Wenn wir durch die Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen die Unternehmen in unserem Land nicht mehr fit machen, exportieren wir Investitionsvolumen und damit Arbeitsplätze. Der Finanzminister hat schon darauf hingewiesen, wie die Situation gegenüber anderen Ländern ist.
Wir haben laut Bericht der Deutschen Bundesbank vom August 1991 36,1 Milliarden DM an deutschem Kapital exportiert. Ausländische Investitionen in Deutschland bleiben aber auf einem sehr spärlichen Niveau; es waren nur 2,5 Milliarden. Hinzuzufügen ist allerdings, muß ich sagen: Damals bei Schmidt wurde nicht einmal 1 Milliarde in Deutschland vom Ausland investiert. Ich als Ausländer hätte damals in Deutschland auch keinen Pfennig investiert — bei dieser Regierung.
Zusammen genommen wurden in der Zeit zwischen 1988 und 1991 — so die Zahlen — in Deutschland nur 8,7 Milliarden US-Dollar investiert; im gleichen Zeitraum waren es in Großbritannien 55 Milliarden USDollar, also sechsmal soviel. Sogar in Belgien und in Luxemburg war die Zahl doppelt so hoch wie die Investitionen in Deutschland. Das muß uns besorgt ma-



Dr. Kurt Faltlhauser
chen. Das ist nicht nur eine Kapitalverschieberei; das sind fehlende Investitionen in Deutschland.
Wenn das Kapital weit überwiegend ins Ausland geht, dann exportieren wir Arbeitsplätze. Sie können nicht Arbeitsplätze durch Ihre Verteilungspolitik schaffen.

(Zuruf von der SPD)

Sie können sie nur dadurch schaffen, daß Sie leistungsfähige Kapitalmärkte schaffen und vernünftige wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Dieses Gesetz trägt dazu bei.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

Wenn wir also in die Zukunft investieren wollen, müssen wir hier ansetzen.
Das vorliegende Gesetz heißt ,,... Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze" und geht in der Steuerentlastung konsequent den Weg weiter, den wir 1986 begonnen haben. Das müssen wir sehen. Wir haben einen konsequenten Weg. Dies ist nur ein Teil eines globalen, auf langen Atem angelegten Steuerentlastungspakets.
Es gibt keine Zweifel daran, daß es in Zeiten, in denen die Haushaltssituation besonders schwierig ist, nicht leicht ist, strukturelle Veränderungen und Steuerentlastungen durchzusetzen. Kernaufgabe verantwortungsbewußter Politik ist es jedoch nicht, die Stimmungen zu beruhigen, sondern die Zukunft durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen zu gestalten. Es geht nicht um die Stimmungen am Stammtisch heute,

(Zuruf von der SPD)

sondern um den Stammarbeitsplatz von morgen. Wenn wir unsere Verpflichtungen von heute vernachlässigen würden,

(Zuruf von der SPD)

würden wir unseren politischen Auftrag verleugnen. Dieses Steueränderungsgesetz 1992

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wird so nicht beschlossen!)

ist ein geschlossenes Paket, ein zukunftweisendes Paket für die Familien und für die Wirtschaft und die Arbeitsplätze in der Zukunft. Es bleibt Ihnen bestenfalls überlassen, im Bundesrat ein derartig vernünftiges Konzept kaputtzumachen,

(Hans H. Gattermann [FDP]: Das kriegen wir schon hin!)

aber damit werden Sie der Zukunft mit Sicherheit nicht gerecht.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204125300
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs.

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1204125400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Steueränderungsgesetz 1992 ist als erstes gesehen nichts anderes als eine weitere Bewegung, eine schiefe Bewegung im finanzpolitischen Taumelkurs der derzeitigen Bundesregierung. Sie paßt mit ihrer sozialen Einseitigkeit zu anderen, von dem gleichen unsozialen Grundzug geprägten Bestandteilen der Finanz-, Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Sie paßt zur Verschuldungsorgie des Bundesfinanzministers. Sie paßt zur falschen — weil unsozialen und unzeitgemäßen — Schwerpunktsetzung im Bundeshaushalt 1992. Sie paßt insofern auch zur geplanten Großoffensive der Bundesregierung — Stichwort Deregulierung des Arbeitsmarktes — gegen die Gewerkschaften. Sie paßt zu einer Regierungspolitik, die zunehmend Menschen sozial ausgrenzt, die die Augen vor der Not der Menschen hier im Lande und auch der Menschen draußen verschließt.
Aber die sozial Benachteiligten, die Ausgegrenzten, die Arbeitslosen, die Sozialhilfeempfänger, die alleinerziehenden Mütter, die Kleinrentner und Kleinrentnerinnen, die Wohnungsuchenden und Obdachlosen, die Menschen, die zwar noch Arbeit haben, die aber zunehmend — es sind vor allem Frauen — in ungeschützten Arbeitsverhältnissen arbeiten und leben müssen — sie alle dürfen sich nicht täuschen über die kalte Logik und den entschlossenen Willen dieser Bundesregierung, auch über eine durch und durch unsoziale Steuerpolitik die Verhältnisse in der Bundesrepublik weiter zugunsten der Reichen und Superreichen zu verändern. — Sei es auch — wie es jetzt geschehen soll — um den Preis der weiteren Belastung der großen Mehrheit der Bevölkerung.

(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist der Text von 1970!)

Diese kalte Logik, den Reichen und Superreichen zu geben, den Armen und sozial Bedürftigen zu nehmen, also von unten nach oben umzuverteilen, durchdringt von vorn bis hinten die geplanten Steueränderungen. Da werden alle Verbraucher und Verbraucherinnen mit einer höheren Mehrwertsteuer belegt. Diese Mehrwertsteuererhöhung betrifft alle, den Sekt konsumierenden Yuppie ebenso wie den Kleinrentner und die Kleinrentnerin, die nach einem Spiegel-Bericht zum Teil mit Hundenahrung in diesem reichen Land, in dieser Bundesrepublik ihren Proteinbedarf decken. Nur: Es ist doch gerade bei solchen Fragen wohl ein Unterschied, ob das Leben mit einem Einkommen von 15 000 DM im Monat oder mit einer monatlichen Rente von 850 DM bestritten wird.
1973, das ist fast 20 Jahre her, betrug nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes die im Monat mindestens für Nahrungsmittel aufzuwendende Summe in einer Vier-Personen-Familie je nach Alter der Kinder zwischen 590 DM und 710 DM im Monat. Diese Summe dürfte heute mit Sicherheit bei über 1 000 DM im Monat allein für Nahrungsmittel liegen.
Nehmen Sie die Mieten, die seit geraumer Zeit insbesondere in den Ballungsgebieten ja geradezu explodieren, hinzu. Nehmen Sie hinzu die steigenden Wohnnebenkosten, die Transportkosten und vieles andere, was zum normalen Lebensunterhalt gehört, und es wird sichtbar, wie schwierig — das wird dabei immer vergessen — die soziale Lage sehr vieler Men-



Dr. Ulrich Briefs
schen auch außerhalb der eben angesprochenen Gruppe der sozial Ausgegrenzten sein muß.
Das durchschnittliche Nettoarbeitnehmereinkommen — das nur einmal zur Erinnerung — betrug im Jahre 1989 2 111 DM. 2 111 DM, das ist das, was im Durchschnitt alle Arbeitnehmer, alle abhängig Beschäftigten, alle die, die Einkommen aus unselbständiger Arbeit beziehen, netto verdient haben. Es dürfte heute, im Jahre 1991, kaum über 2 250 DM liegen. Da es Millionen höhere Arbeitnehmereinkommen einschließt und entsprechend natürlich auch Millionen von abhängig Beschäftigten einschließt, die erheblich weniger verdienen als dieser Durchschnitt, ergibt sich: Die Mehrwertsteuererhöhung ist unsozial, weil sie die sozial Ausgegrenzten an erster Stelle, Millionen von abhängig Beschäftigten mit mittleren und niedrigeren Einkommen an zweiter Stelle negativ betrifft und die Reichen und Superreichen fast überhaupt nicht trifft. Gerade denen, die von der Mehrwertsteuererhöhung fast nicht oder kaum spürbar betroffen werden, machen sie noch großzügige Geschenke. Sie lassen ihnen bzw. den von ihnen besessenen Unternehmen über 6 Milliarden DM durch Senkung der Vermögensteuer

(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Besessene Unternehmen — was ist denn das?)

und durch die geplante Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zukommen. Ausgerechnet den Unternehmen, die schon im Durchschnitt pro Jahr ca. 38 000 DM Subventionen und Steuervergünstigungen erhalten, lassen sie im Durchschnitt weitere 3 000 DM im Jahr zugute kommen.
Das Bild ist also eindeutig. Unsozialer geht es kaum mehr. Andere Maßnahmen des Steueränderungsgesetzes wirken ebenso. Die Erhöhung der Kinderfreibeträge — übrigens noch nicht einmal auf die von der zuständigen Ministerin Rönsch geforderte Höhe — begünstigt die Reichen und benachteiligt relativ die Menschen mit niedrigen und mittleren Arbeitseinkommen und nützt den sozial Ausgegrenzten gar nichts.
Steuerpolitisch betonieren sie damit weiter die Dreiklassengesellschaft.

(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Wo lebt der eigentlich, der Junge?)

— Ja, wo leben Sie? Auf Ihren Stehparties?
Sie tun nichts für die sozial Ausgegrenzten, wenig bzw. nicht genug für die große Zahl der mittel und gering verdienenden Bezieher von Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit, dafür um so mehr für die Reichen und Superreichen. Das ist Ihre Dreiklassengesellschaft. Das ist das, was Sie systematisch schaffen.

(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Darüber kann noch nicht einmal mehr die SPD lachen!)

Steuerwirkungsmäßig nur drei weitere Anmerkungen:
Erstens. Das Steueränderungsgesetz geht zu Lasten der Länder und Gemeinden und begünstigt den Bund.
Zweitens. Ein Großunternehmen wird um einen ca. 200 mal größeren Betrag entlastet als ein Kleinunternehmen. 200 mal höher ist dieser Betrag.
Drittens: Mehrwertsteuer zahlen insbesondere auch die Bürger und Bürgerinnen im Osten. Die von ihnen aufgebrachten Mittel werden dem Zentralstaat, dem Bund zugute kommen. Sie fehlen aber in den Gemeinde- und Länderkassen im Osten; das wird dabei auch vergessen.
Aber: In diesem Zusammenhang ist auch noch eine andere Analyse notwendig. Auf den ersten Blick ist dieses Gesetz vom finanzpolitischen Taumelkurs der Bundesregierung geprägt. Es steht also im Zusammenhang der Plan- und Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung. Im Kern entspricht es jedoch durchaus ganz entscheidenden harten Notwendigkeiten des hochentwickelten industriellen Kapitalismus in der Bundesrepublik. Die rasante Anhäufung von Reichtum in der Wirtschaft macht die Bedienung dieses Reichtums — das ist der entscheidende Grundzusammenhang — mit weiteren Profiten immer schwieriger. Die Profitraten sind unter Druck — das ist ja richtig — durch Überkapazitäten, also durch eben den Reichtum der Wirtschaft, durch die riesigen Fixkosten neuer Technologien, durch die scharfe Konkurrenz auf den nationalen und internationalen Märkten, durch die Vermarktung und Distributionskosten usw. usf.
Die Profitmacherei schlägt zwar immer neue Rekorde, reicht aber dennoch nicht aus, um den eben dadurch noch größer gewordenen Reichtum mit einer entsprechenden Profitrate zu bedienen. Das ist der einfache Sachverhalt. Man hat da so seine Schlüsselerlebnisse wie das, was ich auf einer Podiumsdiskussion, damals als grüner Abgeordneter, in Bremerhaven mit einem Vorstandsmitglied der Nordsee-AG hatte. Der sagte nämlich folgenden Satz — und das bringt es genau auf den Punkt — : Da haben wir 2 Milliarden DM Umsatz und machen damit lediglich 20 Millionen DM Gewinn — Jahresüberschuß; daß der Gewinn in Wirklichkeit ein ganzes Stück größer ist, sei nur am Rande angemerkt. Aber das ist genau das Problem: Das Riesenrad, das da gedreht wird, und es kommt ihnen einfach zu wenig heraus!
Um das zu verbessern, deshalb führen Sie diese Finanzpolitik durch und deshalb auch dieses Gesetz, das wir hier heute beraten. Aber was Sie da tun, taugt nicht, um dieses Problem zu lösen. Es löst nicht die Probleme, es verschärft die Widersprüche des hochentwickelten modernen Kapitalismus. Je reicher Sie die Betriebe, die Wirtschaft insgesamt machen, um so größer wird der Druck, der Druck auf Arbeitsplätze, der Druck auf die Konsumenten, der Druck auf die öffentlichen Hände, der Druck auf die Dritte Welt und nicht zuletzt der Druck auf die natürliche Umwelt.
Die Dynamik des hochentwickelten industriellen Kapitalismus, dessen Fähigkeit zur überbordenden Warenproduktion unübertroffen ist — das ist richtig — , ist insbesondere eine zentrale Ursache der sozialen und der ökologischen Zerstörung unserer Zeit. Dieser Kapitalismus führt zur Perversion vieler Errungenschaften der Menschheitsgeschichte — sozial, ökonomisch, ökologisch und nicht zuletzt politisch.



Dr. Ulrich Briefs
Das, was wir hier heute beraten, ist ein kleiner Beitrag zum Vollzug der kalten, verhängnisvollen Logik des Kapitalismus. Es trägt nicht dazu bei, die kapitalistische Produktionsweise auch nur in einigen Punkten einzudämmen oder zu kontrollieren. Das ist vielleicht der Hauptwebfehler dieses Gesetzes.
Ein Ansatz könnte dagegen z. B. die Erhebung einer Ergänzungsabgabe von 10 % auf Einkommen über 60 000 DM und von 1 To auf Vermögen über 500 000 DM netto sein, wie wir das als PDS/Linke Liste ja seit längerer Zeit fordern.
Herr Präsident, ich danke Ihnen für die Geduld!

(Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204125500
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist der Abgeordnete Hans Gattermann.

Hans H. Gattermann (FDP):
Rede ID: ID1204125600
Herr Präsident! Meine Dame und mein Herr Schriftführer! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Rituale unserer Debatten sind sehr eindrucksvoll, und sie bestätigen eigentlich die Richtigkeit, daß die öffentliche Resonanz dazu relativ gering ist. Vieles besteht aus Vergangenheitsbewältigung, Sich-selbst-auf-die-Schulter-Klopfen und Vors-Schienbein-Treten. Wenn das ohne Fernsehen und im kleinen Kreis wie hier, humoristisch aufgelockert, geschieht, dann hat die ganze Geschichte wenigstens noch etwas Unterhaltungswert.
Meine Damen und Herren, seit genau zweieinhalb Monaten ist das Steueränderungsgesetz 1991 einschließlich Solidaritätgesetz in Kraft, und schon beginnen wir mit der Beratung des Steueränderungsgesetzes 1992 mit dem ehrgeizigen Ziel, die Sache — einschließlich Vermittlungsausschuß — so rechtzeitig zu Ende zu bringen, daß Teile des Gesetzes am 1. Januar in Kraft treten können.
Ich verhehle überhaupt nicht, daß eine derartige Hektik in der Steuerpolitik an sich von außerordentlichem Übel ist.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Da sind wir uns einig!)

Ein solches Tempo ist, wenigstens aus unserer Sicht, nur dann vertretbar — wie immer auch die äußeren Umstände sein mögen — , wenn sich die Änderungen an einem Konzept orientieren

(Zuruf von der SPD: Das tun sie nicht!) und Schritte sind, dies umzusetzen.

Meine Damen und Herren, genau auf diesem Wege ist die Koalition bis zur Wiedervereinigung geschritten. Die Steuerreform 1986/1990 ist — inzwischen unstrittig — ein gutes Reformwerk gewesen

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Ein großes Reformwerk!)

— ein großes Reformwerk —; der Erfolg verkündet beredt, daß dieser Weg der richtige ist.
Nun hat sich die Welt verändert. Der Finanzbedarf im vereinten Deutschland hat sich nach innen und nach außen sowohl qualitativ wie quantitativ verändert. Mit den Steueränderungsgesetzen 1991 und 1992 wird der Versuch markiert — das sage ich bewußt — , das konzeptionelle Ziel eines fairen, leistungsmotivierenden, international wettbewerbsfähigen Belastungsniveaus des Steuerrechts nicht aus den Augen zu verlieren und — in Klammern gesagt — vor allen Dingen für Bürger und Unternehmen erkennbar zu lassen und zugleich die staatliche Einnahmesituation zu verbessern.
Wer diesen Versuch allerdings so anlegen möchte, daß er den Finanzbedarf für die zusätzlichen Aufgaben über Steuermehreinnahmen realisieren will, würde sich an einer Quadratur des Kreises versuchen; er müßte scheitern. Einnahmeverbesserungen, die nicht aus dem Wachstum unserer Volkswirtschaft stammen, führen unweigerlich zu einer Erhöhung des Belastungsniveaus. Wie intelligent man sich dabei auch immer anstellt, die Ziele „fair, leistungsmotivierend und international wettbewerbsfähig" werden mehr oder weniger beeinträchtigt.
Der Appell in diesem Zusammenhang an die Solidarität der Deutschen, Opfer für die Erfüllung der Aufgaben des vereinigten Vaterlandes zu bringen, muß und wird begrenzt bleiben. Es wäre unrealistisch, sich da irgend etwas vorzumachen.
Weniger fair bedeutet ab einem bestimmten Punkt: soziale Unruhe. Weniger leistungsmotivierend bedeutet ab einem bestimmten Punkt: auf den Lorbeeren ausruhen. Weniger international wettbewerbsfähig bedeutet ab einem bestimmten Punkt: Verlagerung und Unterlassen von Investitionen. —

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist der Einstieg in den bekannten Teufelskreis: weniger Wachstum, weniger Beschäftigung, weniger Staatseinnahmen, mehr Sozialaufwand.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Ich kann es eigentlich nicht oft genug wiederholen: Es ist ein Kinderglaube, anzunehmen, der Staat könne durch beliebiges Drehen an der Steuerschraube die absolute Höhe seiner Einnahmen bestimmen. Er verändert zunächst nichts anderes als seinen prozentualen Anteil am Erfolg der Wirtschaft. Ob sich das am Ende rechnet und auszahlt, hängt einzig und allein von dem Erfolg, von der Leistungskraft und der Leistungsmotivation der Bürger dieses Landes ab und von nichts anderem.
Meine Damen und Herren, deshalb kann das Problem der Einnahmeverbesserung im Zuge unserer finanzpolitischen und haushaltspolitischen Gesamtprobleme nur ein flankierendes Element sein, nicht mehr.

(Joachim Poß [SPD]: Ein Element!)

— Ja.
Meine Damen und Herren, der Lösungsansatz kann nur die Ausgabenpolitik sein, da auch die Verschuldung nicht mehr geht, wie inzwischen unstreitig ist. Ich will es ganz deutlich sagen: Da gibt es noch viel Handlungsbedarf, um derzeit noch nicht den Vorwurf von Handlungsdefiziten zu artikulieren.



Hans H. Gattermann
Der vorliegende Entwurf des Steueränderungsgesetzes 1992 versucht nun, die Ziele, die ich eben beschrieben habe, wieder deutlicher und erkennbarer zu machen. Dabei gibt es vier Schwerpunkte: Entlastung der Familien, Entlastung der Unternehmen, Mehrwertsteuererhöhung und Abbau steuerlicher Vergünstigungen.
Die Kinderfreibeträge bzw. das Kindergeld werden erhöht. Das Ganze ist unter dem Druck des Bundesverfassungsgerichts mit geschehen. Das ändert nichts daran, daß dies dem Ziele christlich-liberaler Steuerpolitik, das Existenzminimum sei steuerfrei, entspricht. Man kann auch darüber rechten, ob die Dimensionierung der beiden Maßnahmen ausreichend sei. Aber die haushalts- und finanzpolitischen Zwänge lassen derzeit nur das Mimimum dessen zu, was das Verfassungsgericht gebietet umzusetzen. Über Ihre Alternativen möchte ich jetzt nicht reden, weil es einfach zuviel Zeit kostet. Vielleicht geht Kollege Rind darauf ein.
Meine Damen und Herren, wir wollen auch einen Schritt zur Umsetzung der überfälligen Unternehmensteuerreform tun. Es wird hochinteressant sein, zu beobachten, welches Schicksal diese Vorschläge unter dem oppositionellen Dauerfeuer und unter der Hebelkraft der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat nehmen werden. Leider, meine Damen und Herren, kann man sich nicht gelassen zurücklehnen und dies als einen interessanten Ideenwettstreit ansehen; wer hier Fehler macht, auch im Zusammenhang mit der Unternehmensteuerreform als einem Teil, der schadet langfristig der Entwicklung unserer Volkswirtschaft,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr richtig!)

und die Exportnation Bundesrepublik Deutschland wird es bezahlen müssen.
Es kommt ja nicht von ungefähr, wie immer die Steuerpläne von Frau Cresson nun aussehen, Herr Kollege Wieczorek, daß man uns auch dort wieder von der französischen Seite her ins Hintertreffen bringt. Mit der Preissteigerungsrate haben sie uns bereits übertroffen usw., meine Damen und Herren.

(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Machen Sie eine anständige Unternehmsteuerreform, aber nicht diese Steuersenkung!)

Meine Damen und Herren, wir sollten uns über einen Punkt unterhalten, nämlich über die 6,36 Milliarden DM, die diese Maßnahmen zur Unternehmensteuerreform ausmachen, wobei übrigens die Meßzahlstaffelung bei der Ertragsteuer, Herr Kollege Wieczorek, natürlich eine rein mittelstandsorientierte Maßnahme ist, wobei man durchaus darüber reden kann, ob sie nur das sein sollte und nicht für alle gelten sollte. Diese 6,36 Milliarden DM sind jedenfalls nach dem Tableau des Gesetzentwurfes zu 88,7 % aufkommensneutral durch Belastungen der Wirtschaft an anderer Stelle — ich könnte Ihnen jetzt die Ziffern der Finanzrechnung aufzeigen — gegenfinanziert. Der Vorwurf, die Mehrwertsteuererhöhung, die die Schwachen belaste, diene der Finanzierung der Reichen, ist schlicht und ergreifend falsch.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Nein, der ist nicht falsch!)

Meine Damen und Herren, abgesehen davon, daß die Gewerbe- und Vermögensteuer zahlenden Betriebe nicht die Reichen sind, sondern die Quelle für unser aller Wohlstand und für Arbeitsplätze, ist es so, daß, wenn man es spitz rechnet, nach dem Tableau des Gesetzentwurfes, allenfalls 720 Millionen DM aus der Erhöhung der Mehrwertsteuer gebraucht würden, um die Mindereinnahmen aus den drei Maßnahmen zur Unternehmsteuerreform auszugleichen. Das sind am Volumen der Mehrwertsteuererhöhung von 12,05 Milliarden DM gerechnet, weniger als 6 % dieser Maßnahme.

(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Das Geld daraus haben Sie vorher schon ausgegeben zur Haushaltskonsolidierung, das ist das Problem; sie geben es zweimals aus!)

Meine Damen und Herren, wir sollten uns wirklich sachlich über diese Dinge unterhalten.

(Joachim Poß [SPD]: Das machen wir ja!)

Was nun den Ausgang des Vermittlungsverfahrens angeht, habe ich, Herr Kollege Wieczorek, sehr sorgfältig gelesen, was die „Frankfurter Allgemeine" über die Aussagen der hessischen Finanzministerin gesagt hat. Ihre Prognose, daß die SPD-regierten Länder diese Mehrwertsteuererhöhung ablehnen würden, war mit einem Konditionalsatz kombiniert, „wenn Sie der Unternehmesteuerreformfinanzierung dient" . Also genau darüber, über diesen Punkt und diese Zahl sollten wir uns in aller Sachlichkeit und ruhig unterhalten.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Sonst wird es eine Mehrwertsteuerlüge! — Dr. Peter Struck [SPD]: Das machen wir aber im Vermittlungsausschuß!)

— Ja, natürlich.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Dort müssen wir erst einmal hinkommen, und daher wird das im Bundesrat abgelehnt; das ist doch völlig logisch!)

— Ja, davon gehe ich aus. Darauf ist auch der Beratungszeitplan aufgebaut. Ich freue mich jetzt schon auf unsere Gespräche, Herr Kollege Struck.

(Zuruf von der CDU/CSU: Dann können wir ja auf die Einzelberatung im Ausschuß verzichten! — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Wir können auch jetzt schon vernünftig darüber reden!)

— Ich freue mich jetzt schon darauf. Deswegen versuche ich ein bißchen, diese lächerliche Vors-Schienbein-Treterei aus der Debatte herauszunehmen.

(Joachim Poß [SPD]: Der Wieczorek hat doch nicht vor das Schienbein getreten; er hat doch eine eindeutige Aussage gemacht! — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Ein bißchen Treterei schadet doch nicht!)

— Also, Herr Wieczorek hat eine hervorragende Rede gehalten. Sie hatte nur vier oder fünf Einschübe nach altem Muster, und die verzeihe ich ihm.

(Heiterkeit)




Hans H. Gattermann
Meine Damen und Herren, Ihre Alternative ist interessant: Sie wollen das für vier bis fünf Jahre für die Besserverdienenden mit einem Einkommen ab 60 000 DM mit 10 % festschreiben. Durch die von uns vorgesehene Maßnahme wird — ich bleibe beim Konzept — der linear-progressive Tarif als das Kernstück der Steuerreform überhaupt erst wieder freigelegt. Die Maßnahme bisher bedeutet, daß beim Eingangssteuersatz wirtschaftlich um 1,4 Punkte und bei der Solidaritätsabgabe hinten um 4 Punkte aufgestockt wird, so daß wir bereits über dem Niveau vor der Steuerreform liegen. Bei Ihrem Vorschlag werden am Ende 5,3 Punkte aufgestockt. Das heißt, wir liegen fast an der 60 %-Grenze.
Nun könnte man sich darüber vielleicht unterhalten
— unter dem Opfergedanken — , wenn es lediglich um Privateinkommen ginge. Es betrifft aber auch die Unternehmen, von denen wir gerade die Investitionen, Arbeitsplätze und vieles mehr erwarten. Unter diesem Aspekt ist Ihr Vorschlag ökonomisch Harakiri; anders kann ich das nicht nennen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Der Wieczorek weiß das auch!)

Ein weiteres Thema: Abbau von Steuervergünstigungen, Subventionen etc. Wir sollten beim Thema Konsolidierungspolitik wirklich ein bißchen wegkommen von der Fixierung auf den Begriff Subventionen. Das gilt sowohl für die Ausgabenminderung durch Finanzhilfen wie auch bei Steuersubventionen bzw. Steuermehreinnahmen. Man ist in seiner Konsolidierungsarbeit derartig beengt, da es unsinnig ist, so etwas zu tun.
Vielmehr gehört jeder einzelne Etatposten
— gleichgültig, wie er heißt und wie er klassifiziert ist — auf den Prüfstand. Ich sage in Klammern dazu: Auch Leistungsgesetze sind dabei nicht tabu und dürfen es auch in Zukunft nicht sein. Nur dann wird es möglich sein, die Aufgaben zu erfüllen und auch, Herr Kollege Wieczorek, wieder die Spitzenstellung bei der Erreichung der Konvergenzkriterien für die Währungsunion einzunehmen, bei der wir in der Tat gewisse Probleme haben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu einem ganz speziellen Thema machen, weil die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, eine gewisse Klarheit zu bekommen. Das betrifft den größten Brocken aus dem Abbau von Steuervergünstigungen, nämlich die Verwendung von Lebensversicherungspolicen zu Finanzierungszwecken.
Wer den Gesetzentwurf liest, findet dort eine Grundsatzregelung, aus der unschwer zu erkennen ist, daß sie, würde sie Gesetz, nicht eine Einschränkung, sondern die endgültige Beseitigung der Policenverwendung zu Finanzierungszwecken bedeuten würde. Das aber ist nicht der Wille der Initiatoren, ist nicht der Wille der Koalitionsfraktionen, ist nicht der Wille der Bundesregierung und ist auch nicht Grundlage der Finanzrechnung.
Das Thema der Formulierung der Ausnahmetatbestände ist derartig komplex, daß es zur rechtzeitigen
Einbringung in das Gesetzgebungsverfahren schlicht und ergreifend nicht fertig geworden ist.

(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Ein bemerkenswertes Eingeständnis über die Gesetzesarbeit!)

— Ich lade Sie ein, kreativ an der Lösung mitzuwirken. Die Aufgabenstellung lautet nämlich: Die in den letzten Jahren immer stärker entwickelten Zinsaufblähungsmodelle müssen samt und sonders endgültig steuerschädlich sein.
Das über Jahrzehnte gewachsene System traditioneller mittelbarer Mietwohnungsbaufinanzierung durch Lebensversicherungen muß weitgehend erhalten bleiben.
Existenzgründungsfinanzierungen in Kombination mit Altersvorsorge durch Lebensversicherungen müssen unter bestimmten Voraussetzungen und in gewissem Rahmen erhalten bleiben.

(Joachim Poß [SPD]: Alles prüfen!)

Die vorübergehende Verwendung von Policen als Sicherheit zur Überprüfung kurzfristiger Liquiditätsengpässe muß mindestens für die Vergangenheit steuerunschädlich sein. Ich füge hinzu: Nach meiner ganz persönlichen Meinung müßte auch die entsprechende sicherheitsmäßige Verwendung von Direktversicherungen durch den Arbeitgeber noch möglich sein, ohne daß das steuerschädlich ist.
Last, but not least: Der Finanzrahmen darf bei der Gestaltung der Ausnahmetatbestände nicht gesprengt werden.
Das ist in der Tat eine umfangreiche Arbeit, die wir leisten müssen. Ich bin aber eigentlich ziemlich hoffnungsfroh, daß uns das auch gelingen wird.
Lassen Sie mich abschließend noch einmal auf den finanzpolitischen Gesamtzusammenhang zurückkommen; denn Steuermaßnahmen gehören in anderen Ländern jeweils parallel zur Vorlage des Haushalts. Ich möchte wirklich mit allem Ernst und mit allem Nachdruck sagen, daß es gewisse Tendenzen in diesem Lande, insbesondere seit der Wiedervereinigung, gibt, den Boden finanzpolitischer Solidität zu verlassen.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Von seiten der Regierung! — Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

— Entschuldigung, das ist durchgängig, das geht hin bis zur Elf-%-Forderung der IG Metall im Stahlbereich.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Und zur Forderung, die Vermögensteuer zu senken! — Gegenruf von der CDU/CSU: Das qualifiziert Sie ja wieder!)

— Sehr verehrte Frau Kollegin, zwischen uns mindestens dürfte es keinen Streit darüber geben, daß die Voraussetzung zur Bewältigung aller Aufgaben dieser Art ist, daß wir durch eine boomende, wachstumsträchtige Wirtschaft steuerergiebige Ergebnisse vorweisen können.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)




Hans H. Gattermann
Dann können wir uns in aller Ruhe darüber unterhalten, ob und welche strukturellen Maßnahmen im Rahmen der steuerlichen Rahmenbedingungen notwendig sind, damit wir diesen Erfolg gewährleisten. Denn eine Gefährdung — —

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie können der IG Metall doch nicht sagen, sie soll in ihren Forderungen heruntergehen!)

— Entschuldigung, ich denke, die IG Metall hat auch intelligente Führungspersönlichkeiten.

(Zuruf von der SPD: Mit Sicherheit! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wenn Sie von oben nach unten umverteilen!)

— Entschuldigen Sie; wenn Sie nichts anderes können, als mit diesen schauderhaften polemischen Worten durch die Gegend zu laufen! Wenn der Herr Briefs das tut, dann wundert mich das nicht, dann sehe ich ihm das sogar nach. Aber, meine verehrte Frau Kollegin, es liegt in unserer politischen Handlungsfähigkeit, es ist das Ergebnis unserer eigenen Worte und unseres eigenen Handelns, wie wir uns vor den Bürgern artikulieren und welche Emotionen wir in ihnen anfachen.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Sie sind der Gefangene der Diskussion des letzten Jahres!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204125700
Meine Damen und Herren, es ist interfraktionell darüber gesprochen worden, daß bestimmte Redebeiträge zu Protokoll gegeben werden. Ich muß in diesem Zusammenhang um Zustimmung bitten, daß in dieser Runde die Rede unseres Kollegen Werner Schulz vom Bündnis 90/DIE GRÜNEN zu Protokoll gegeben wird. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Das ist so beschlossen.*)
Als nächster Redner hat der Abgeordnete Eike Ebert das Wort.

Eike Ebert (SPD):
Rede ID: ID1204125800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden hier über ein sehr ernstes Thema. Wir reden darüber, inwieweit wir den Steuerzahler, der in diesem Jahr bereits reichlich genug von Ihnen gerupft worden ist, weiter zur Kasse bitten. Verzeihen Sie es mir bitte — ich bin neu in diesem Parlament — , und nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich finde, daß so manche Redebeiträge dem Ernst dieser Frage nicht gerecht werden. Ich denke da vor allen Dingen an die Bierzeltrede von Herrn Waigel.

(Beifall bei der SPD — Widerspruch von der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich würde mir wünschen, daß wir auch in einer solchen Debatte versuchen, zumindest eine gewisse Ehrlichkeit zu erreichen, was hier an Argumenten ausgetauscht wird und was nicht an Argumenten ausgetauscht wird. Ich empfinde es als unerträglich, daß wir innerhalb eines halben Jahres von Herrn Waigel die vierte, fünfte oder
•) Anlage 4
sechste Begründung dafür hören, weshalb die Mehrwertsteuer erhöht werden muß.
Am Anfang, vor den Wahlen — ich brauche das gar nicht zu wiederholen —,

(Zurufe von der SPD: Doch! — Das kann man nicht häufig genug wiederholen!)

hieß es, es gibt keine Steuererhöhungen. Dann ist zum Problem der EG-Rechtsharmonisierung hier gemeinsam beschlossen worden, daß wir uns in Brüssel einsetzen wollen — und Herr Waigel hat den Auftrag bekommen — daß auf möglichst niedrigem Niveau harmonisiert wird. Das ist Ihr Antrag gewesen: erst 14 %, dann haben Sie schon etwas geschummelt und hinzugefügt „oder 15 %". Wir haben klar gesagt: 14 %. Er hat den Auftrag gehabt, auf diesem Niveau zu verhandeln. Er brauchte gar nicht zu verhandeln; wir alle wissen, daß dort das Einstimmigkeitsprinzip gilt, und wenn er nicht zugestimmt hätte, dann wäre es nicht zu diesen 15 To gekommen.

(Beifall bei der SPD)

Heute, meine Damen und Herren, wird das schon gar nicht mehr angesprochen, sondern heute wird gesagt: Das ist ein Baustein in der Konzeption der Koalition gewesen, um den Familienlastenausgleich zu finanzieren.
Ich meine, für dümmer kann man uns doch hier nicht halten, und ich denke, es wäre wirklich angezeigt, daß sich bei einem so ernsten Thema zumindest der Finanzminister dieses Landes um Seriosität bemüht.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich habe nicht vorgehabt, in der Vergangenheit zu kramen. Ich halte auch nichts von Vergangenheitsbewältigung.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Sonst kämen Sie auf Ihre eigenen finanzpolitischen Sünden!)

— Ich komme exakt zu diesem Thema.
Aber die Mär, die Sie ständig verbreiten, daß ab 1982 die Finanzpolitik in diesem Lande von Ihnen in Ordnung gebracht worden sei, kann hier doch nicht im Raum stehenbleiben.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das bestätigen alle Gutachter!)

Das ist doch einfach nicht wahr. Schauen Sie sich doch nur einmal an, wie der Bundesschuldenstand 1982 und wie er 1989 vor der deutschen Einheit gewesen ist. Daß danach manches anders geworden ist, ist ja gar nicht zu bestreiten; das wird doch eingeräumt. Aber in diesen Jahren haben Sie die Bundesschuld pro Jahr um erheblich mehr erhöht, als es die sozialliberale Koalition in den Jahren vorher je gemacht hat.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, Sie haben dies in einer Situation gemacht, die sich grundlegend von der weltweiten wirtschaftspolitischen Lage in den Zeiten der Regierungen von Willy Brandt und Helmut Schmidt



Eike Ebert
unterschieden hat; sie ist nämlich erheblich günstiger gewesen.

(Detlev von Larcher [SPD]: So ist es, jawohl!)

In den Jahren 1930 ff. haben wir zwei Ölpreiskrisen durchzustehen gehabt;

(Detlev von Larcher [SPD]: Das verschweigen sie immer!)

wir haben eine Weltwirtschaftskrise durchzustehen gehabt. Das hat sich in der gesamten westlichen Welt ausgewirkt.
1982 ist der Trend schon längst in die andere Richtung gegangen. Sie haben es in diesen Jahren erlebt, daß die OPEC zusammengebrochen ist. Wir haben über die billigen Ölpreise ein Konjunkturprogramm par excellence auch für die deutsche Wirtschaft bekommen.

(Beifall bei der SPD — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Immer die alte Leier!)

— Ja, Sie sagen: Es ist eine Leier. Aber wenn Sie den alten Käse ständig wiederholen, Herr Dr. Faltlhauser, muß man auch etwas dafür tun, daß die Wirklichkeit zum Vorschein kommt.

(Beifall bei der SPD — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Er kann gleich eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie mich den Gedanken noch zu Ende führen.
Wir haben erlebt, daß wir durch die Reagansche Wirtschaftspolitik einen Dollarhöhenflug bekommen haben. Das war ein Konjunkturexportprogramm, wie es für die bundesdeutsche Wirtschaft nicht besser hätte konstruiert werden können. Trotz dieser ganzen Fakten, meine Damen und Herren, haben Sie die Bundesschuld weiter ausgebaut.
Zum Dr. Tietmeyer ist vorhin schon Stellung genommen worden. Sie haben es nicht getan, weil Ihnen das, was dort formuliert worden ist, nicht recht ist, nämlich daß die Bundesrepublik die Konvergenzanforderungen, die wir die ganze Zeit in die WWU eingebracht haben, selber gar nicht mehr erfüllt. Das ist doch bei der Anhörung gestern sehr deutlich geworden. Wir erfüllen sie doch selber gar nicht mehr. Man muß sich diese kuriose Situation einmal vorstellen.
Sie haben die Bundesschuld in diesen Jahren auf einen hohen Plafond getrieben. Erst dieser hohe Plafond zusammen mit dem, was Sie inzwischen an weiteren Schulden aufgehäuft haben und noch weiter anhäufen, führt zu der katastrophalen Situation, in der wir uns im Augenblick befinden.

(Beifall bei der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204125900
Herr Kollege Ebert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Faltlhauser?

Eike Ebert (SPD):
Rede ID: ID1204126000
Bitte schön.

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1204126100
Nach dieser atemlos langen Aneinanderreihung von Ihnen immer wiederholter Rechtfertigungsgründe

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Tatsachen! — Detlev von Larcher [SPD]: Aber sie sind richtig! Das verschweigen Sie immer!)

darf ich Sie auf die von Ihnen apostrophierte Realität zurückführen. Würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß die von Ihnen so als zufällig dargestellte wirtschaftliche Prosperität nach 1982 nach dem einstimmigen Votum nicht nur der Sachverständigen, sondern auch der wirtschaftswissenschaftlichen Institute im Jahre 1990 von der Steuerpolitik dieser Bundesregierung entscheidend geprägt war, d. h. durch die handwerkliche Sauberkeit und Konsequenz geschaffen wurde? — Das als erstes.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Nun ist es ja gut! Jetzt reicht es, Herr Faltlhauser! Herr Präsident, er soll mal eine Kurzintervention machen!)

Würden Sie auch zur Kenntnis nehmen, daß im Jahre 1990 die Nettoneuverschuldung, gemessen am Bruttosozialprodukt, niedriger war als zu Ihrer Zeit und daß die Zahlen, jederzeit nachprüfbar, eigentlich von Ihnen hier dargelegt werden müßten?

(Beifall bei der CDU/CSU)


Eike Ebert (SPD):
Rede ID: ID1204126200
Das ist zwar keine Zwischenfrage, sondern eher eine Kurzintervention gewesen.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das war eine Frage!)

Aber, Herr Dr. Faltlhauser, sicherlich gibt es eine ganze Menge von Gründen, weshalb die Entwicklung nach 1982 anders geworden ist. Die Entwicklung ist sicherlich auch deshalb anders geworden, weil die Wirtschaft natürlich in Zeiten, in denen eine ihr genehme Regierung an der Macht ist, immer mehr dafür tut, daß investiert wird und daß sich die Entwicklung nach oben bewegen kann, als wenn sich die Sozialdemokraten bemühen, das Staatsschiff in Ordnung zu bringen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Aufhören!)

Sie haben doch nichts dazu beigetragen, daß die Ölpreise gefallen sind. Sie haben auch nichts dazu beigetragen, daß der Dollar in Höhen von über 3 DM gestiegen ist.

(Zuruf des Abg. Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU])

Ich meine, Sie wissen doch alle, welche Auswirkungen das auf die Zahlungs- und die Handelsbilanz unseres Landes gehabt hat. Darüber brauchen wir uns hier, glaube ich, doch wohl nicht zu streiten.
Meine Damen und Herren, ich finde, es ist unwürdig und wird auch nicht dazu beitragen, daß Ihre ganzen Konzeptionen, wenn Sie welche haben, überhaupt glaubwürdiger werden, wenn Sie immer das Gegenteil von dem behaupten, was Ihre Vorschläge tatsächlich beinhalten. Wenn man in die Begründung zum Steueränderungsgesetz hineinschaut, kann man wirklich nur lachen, wenn Sie formulieren: das ist sozial verträglich, die Steuerstruktur in der Bundesrepublik wird verbessert. Bei der Beurteilung der Preis-



Eike Ebert
auswirkungen schreiben Sie dann euphemistisch: tendenziell ist eine Verringerung von Einzelpreisen zu erwarten, wenn die steuerlichen Belastungen des Unternehmens absinken. Wo wäre es in einer Marktwirtschaft jemals passiert, daß die Preise freiwillig gesenkt werden?
Meine Damen und Herren, die viele weiße Salbe, die Sie hier einsetzen, reicht nicht aus. Es wird Ihnen nicht gelingen, zu verschleiern, daß das eine unsoziale, stabilitätspolitisch kontraproduktive, durch einseitige Industrieinteressen geprägte und letztlich gesamtwirtschaftlich und vor allen Dingen arbeitsmarktpolitisch unverantwortliche Steueränderung ist, die Sie hier vorhaben. Es ist eine glückliche Situation, daß Sie das, wenn Sie es im Bundestag vielleicht durchkriegen, insgesamt in diesem Land nicht zum Gesetz werden machen können.
Meine Damen und Herren, vor allen Dingen setzen Sie weiße Salbe an den Stellen ein, wo es um Einnahmeausfälle für die Gebietskörperschaften geht. Sie schreiben hier selbst in Ihrer Begründung, daß bei den Gemeinden die Steuermindereinnahmen weitgehend ausgeglichen würden. Meine Damen und Herren, das ist eine schamlose Lüge; denn das, was Sie mit Ihren eigenen Zahlen hier darstellen, ergibt folgendes. Die Mehreinnahmen des Bundes werden im Jahre 1993 6,2 Milliarden DM betragen. Die Mindereinnahmen der Länder — ich gehe von Ihren eigenen Zahlen aus — machen etwa 200 Millionen DM aus. Bei den Kommunen in diesem Land, bei den Städten und Gemeinden, werden 1993 bereits fast 2 Milliarden DM fehlen. Darin ist noch nicht einmal enthalten, was die Städte und Gemeinden im investiven Bereich in Zukunft durch die erhöhte Mehrwertsteuer werden aufwenden müssen. Sie machen eine Finanzpolitik, die im privaten wie im öffentlichen Bereich die schwächsten Glieder am stärksten belastet, und dann besitzen Sie noch die Unverfrorenheit, dies alles als sozial ausgewogen und gerecht zu bezeichnen.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, Sie wissen offenbar gar nicht mehr, was an der Basis stattfindet. Die Stadt Offenbach muß inzwischen Jugendzentren schließen und denkt über die Stillegung von Hallenbädern nach.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Die werfen das Geld hinaus, wie sie können!)

Ähnlich verhält es sich in anderen Kommunen, wenn auch nicht ganz so dramatisch.
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, vergessen völlig, daß die Hauptlast der öffentlichen Dienstleistungen, der größte Teil der Daseinsvorsorge und damit ein beachtlicher Anteil an dem, was für unsere Menschen Lebensqualität bedeutet, von Städten und Gemeinden getragen wird. Bund und Länder bieten in vielen Bereichen nur Rahmenbedingungen, sicherlich wichtige, aber eben nur Rahmenbedingungen.
Dieses wichtige Glied, meine Damen und Herren, in der Kette staatlicher Dienstleistungen schwächen Sie weiter. Das bei der von Ihnen geplanten Steueränderung derzeit erkennbare zahlenmäßige Minus habe ich beziffert: 2 Milliarden DM für die Städte und Gemeinden. Interessant ist aber noch, wie Sie in die Steuereinnahmen der Kommunen eingreifen, weil Sie damit strukturell und dauerhaft die Einnahmesituation der Gemeinden beschädigen. Das Abschaffen der Gewerbekapitalsteuer begründen Sie damit, daß im Bereich der Unternehmenssteuern die ertragsunabhängigen Steuerkomponenten beseitigt werden sollen. Das klingt gut. Aber in der Debatte ist bereits darauf hingewiesen worden, wem die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer wirklich zugute kommt, nämlich ausschließlich den Großbetrieben. Den Mittelstand und die Neugründungen, von denen Sie in Ihrer Begründung sprechen, erreicht die Abschaffung wegen der bestehenden Freibeträge fast überhaupt nicht. Aber das ist nicht mein Thema.
Ich möchte Sie vielmehr auf einen anderen, offenbar überhaupt noch nicht wahrgenommenen Aspekt Ihrer geplanten Gesetzesänderungen aufmerksam machen. Die Gewerbesteuer kennt nicht ohne Grund die beiden Komponenten: einerseits die Gewerbekapital- und andererseits die Gewerbeertragsteuer. Dabei hat die Gewerbekapitalsteuer aus der Sicht der Kommune steuersystematisch die Funktion, daß sie eine im wesentlichen gleichbleibende Steuergrundlage aufweist und eine Grundleistung an die Kommune sicherstellt, daß sie einen Finanzierungsbeitrag für die Bereitstellung der öffentlichen Infrastruktur, also von Schulen, Krankenhäusern, Kindergärten, Straßen, Kanälen, Wasserversorgung usw. darstellt.
Die Bezugnahme auf das Gewerbekapital ist die Bezugnahme auf die Größe der Firma, d. h. auf die Grundinanspruchnahme von öffentlichen Dienstleistungen. Daß diese Gleichung — Kapital gleich Größe gleich Grundinanspruchnahme — schon lange nicht mehr befriedigend aufgeht, brauche ich nicht zu erläutern. Aber das ändert nichts an diesem Grundzusammenhang.
Sie stellen bei Ihrer Steuerbetrachtung lediglich in den Vordergrund, daß der Steuerbetrag bei Ertragslosigkeit aus der Substanz gezahlt werden muß. Aus der Sicht des Betriebes ist das richtig; aus der Sicht der Kommune aber bleibt der Tatbestand bestehen, daß auch bei einem ertragslosen Betrieb die Infrastruktur von der Kommune zur Verfügung gestellt und unterhalten werden muß. Deshalb ist die Kapitalertragsteuer eine sinnvolle und gerechte Steuer, und es gibt keinen Grund, sie abzuschaffen.

(Beifall bei der SPD)

Sie aber, meine Damen und Herren, wollen diese Komponente der betrieblichen Besteuerung jetzt herausbrechen und verweisen die Kommunen in Zukunft ausschließlich auf die Ertragsteuerseite. Sie selbst wissen aber, daß diese Seite den Gestaltungsmöglichkeiten unserer Steuergesetzgebung noch sehr viel stärker offensteht.
Die Kommunen sind noch viel stärker als bisher schwankenden Einnahmen ausgeliefert, und das mit immer höheren festen Kostenblöcken. Ihre These, daß Unternehmen dann Gewerbesteuer zahlen sollen, wenn sie auch entsprechenden Ertrag haben, spiegelt sich noch nicht einmal in der Gewerbesteuerwirklichkeit wider. Denn die Gewerbeertragsteuer wird von



Eike Ebert
vielen Komponenten unternehmerischer Entscheidungen, z. B. auch betrieblicher Investitionen ganz erheblich beeinflußt, d. h. es ist möglich, daß die Gewerbeertragsteuer auch bei einer florierenden Wirtschaft, wenn entsprechend investiert wird, zurückgeht.
Es handelt sich dabei um einen Vorgang, meine Damen und Herren, den Sie gerade im Augenblick in den Einnahmepositionen unserer Städte und Gemeinden feststellen können. Sie schädigen damit die Investitionsmöglichkeiten im Bereich der Städte und Gemeinden, und Sie wissen genau, daß dies die größten Investoren in unserem Land sind.

(Beifall bei der SPD)

Ich komme aus einer hessischen Großstadt, und ich weiß, wovon ich rede. Wir haben dort ein Chemieunternehmen mit 6 000 Arbeitnehmern, das es durch eine entsprechend weitsichtige und ausgeklügelte Ausschöpfung der steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten inzwischen geschafft hat, die Gewerbesteuerzahlungen in den Bereich der Irrelevanz zu drücken. Es ist nicht in Ordnung, daß z. B. in unserer Stadt die Sparkasse, der kommunale Elektrizitätsversorger und der kommunale Gas- und Wasserversorger die größten Gewerbesteuerzahler sind, obwohl wir eine beachtliche Latte von Betrieben haben, die weltweit tätig sind und die weltweit bekannte Namen haben.
Meine Damen und Herren, Sie schädigen die Gemeinden, Sie schädigen damit diejenigen, die unmittelbar Leistung gegenüber dem Bürger erbringen; Sie setzen damit konsequent das fort, was Sie in anderen Bereichen betreiben, Sie verteilen von unten nach oben um. Bei dieser Politik werden Sie bei der SPD keine Unterstützung finden.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204126300
Das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Gunnar Uldall.

Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1204126400
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Es sind heute abend von den Koalitionsrednern bereits so viele hervorragende Reden gehalten worden, daß ich ihnen nur noch wenige Punkte hinzufügen möchte.

(Zurufe von der SPD)

— Im übrigen wissen Sie ja, lieber Herr Wieczorek, daß man gute Argumente auch immer in Kürze vortragen kann.
Zunächst möchte ich einmal sagen, was ich heute abend besonders bemerkenswert und gut fand; das war der Zwischenruf des Parlamentarischen Geschäftsführers der SPD-Fraktion, Peter Struck, auf die Rede des Kollegen Gattermann: „Das machen wir im Bundesrat! " Mit anderen Worten: Das heißt, wir werden —

(Dr. Peter Struck [SPD]: „Vermittlungsausschuß" habe ich gesagt!)

— oder im Vermittlungsausschuß.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist ein klarer Unterschied. Da hat der Kanzler schon die Wette verloren!)

— Nein, vom Inhalt ist das das gleiche. Das heißt: Wir werden einer Mehrwertsteuererhöhung zustimmen. Und dieses ist ja im Grunde genommen nichts anderes als das, was der Kollege Faltlhauser in seiner Rede bereits sehr detailliert nachgewiesen hat, daß ja die SPD-Ministerpräsidenten alle wie wild schon hinter diesem Geld her sind und natürlich in gar keinem Punkt davor zurückstehen werden, einer Mehrwertsteuererhöhung, wie wir sie hier vorgesehen haben, um die Finanzen wieder solide zu gestalten, zuzustimmen.
Insofern muß man natürlich alles das, was an Wehklagen und wichtigen Begründungen von unserem geschätzten Kollegen Wieczorek hier vorgetragen wurde, relativieren. Lieber Herr Wieczorek, wenn Sie hier eine Brandrede dagegen halten, der Kollege Struck aber schon gleich sagt, wir stimmen ja letztlich doch zu, dann läßt sich das gleich — —

(Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist doch alles Quatsch, was Sie da erzählen, Herr Uldall!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204126500
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Struck?

Dr. Peter Struck (SPD):
Rede ID: ID1204126600
Herr Kollege Uldall, wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß der Zwischenruf, den ich beim Kollegen Waigel gemacht habe, ganz und gar nicht so zu interpretieren war, wie Sie das nun hier vergeblich seit zwei oder drei Minuten versuchen.

Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1204126700
Herr Kollege Struck, ich spreche nicht von dem Zwischenruf bei Herrn Waigel, sondern von dem bei Herrn Gattermann.

Dr. Peter Struck (SPD):
Rede ID: ID1204126800
Darf ich eine Zusatzfrage stellen?

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204126900
Ja, wenn der Kollege Uldall einverstanden ist.

Dr. Peter Struck (SPD):
Rede ID: ID1204127000
Herr Kollege Uldall, wollen Sie dann bitte zur Kenntnis nehmen, daß der Zwischenruf bei der Rede des Kollegen Gattermann ganz und gar nicht so war, wie Sie das hier seit zwei Minuten versuchen zu interpretieren.

(Beifall bei der SPD)


Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1204127100
Lieber Herr Kollege Struck, dann müssen wir noch einmal einige Wochen warten. Dann werden wir ja sehen, wie die Geschichte ausgegangen ist.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ein mattes Dementi!)

Dann wollen wir mal sehen, ob ich es richtig analysiert habe.

(Zuruf von der CDU/CSU: Herr Struck ist schon ganz heiß auf die Mehrwertsteuer!)

Meine Damen und Herren, dann finde ich ganz gut, daß Herr Ebert gesagt hatte: Die Koalition hatte im-



Gunnar Uldall
mer Glück mit ihrer Politik. Wunderbar, nur, wenn wir immer Glück haben und Sie immer nur Pech, dann wünsche ich für die deutsche Bevölkerung, daß immer wir regieren.

(Beifall bei der CDU/CSU — Detlev von Larcher [SPD]: Was ist das für eine Logik? Stellen Sie sich doch auf die Tatsachen ein!)

Punkt drei. Was ich hier noch einmal betonen möchte, ist der Subventionsabbau. Beim Subventionsabbau sind sich ja immer alle einig, solange es um die formale Formulierung geht: Jetzt bauen wir die Subventionen ab. Wenn es dann an das Konkrete geht und im einzelnen vorgeschlagen wird, was umzusetzen ist, dann hört die Zustimmung meistens auf. Erstaunlich ist, daß dieses Paket, das hier von uns vorgeschlagen worden ist, offensichtlich auf eine relativ breite Resonanz stößt, und darüber kann ich mich freuen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl, selbst bei den Gewerkschaften!)

— Selbst bei den Gewerkschaften, und das unterstreicht, was hier von Regierungsvertretern ausgeführt worden ist, daß dieses Subventionsabbaupaket ein in sich geschlossenes und intelligentes Paket ist. Ich glaube, dies darf in einer schwierigen finanzpolitischen Diskussion auch einmal hervorgehoben werden.
Im übrigen paßt dieses Paket exakt in unsere langjährige finanzpolitische Linie. Ich möchte daran erinnern, daß die Koalition in den Jahren von 1982 bis heute kontinuierlich Subventionsabbau betrieben hat, entgegen einer landläufigen Meinung, daß das Gegenteil der Fall sei.

(Ernst Waltemathe [SPD]: Die Koalition hat abgebaut?)

Wir haben kontinuierlich Subventionen reduziert, Herr Kollege, und zwar in einem Umfang, daß die Subventionsquote von 1,7 % des Bruttosozialproduktes auf 1,2 % zurückgefahren wurde. Dies ist eine großartige Leistung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir geben uns damit nicht zufrieden. Wir werden am Subventionsabbau weiter energisch arbeiten, wobei wir sagen: Es handelt sich hierbei um eine der wesentlichen Quellen zur Sanierung der Staatsfinanzen. Wir tun das aber auch, um die ordnungspolitischen Bedingungen für die Marktwirtschaft wieder langfristig zu sichern.
Dann möchte ich auf ein Argument zu sprechen kommen, das von Herrn Wieczorek angesprochen wurde: Die Entlastung sei ja nur für die Großbetriebe da. Herr Wieczorek, dies ist ein großer gedanklicher Fehler, den Sie machen. Es gibt nicht eine Gegensätzlichkeit zwischen dem Mittelbetrieb und dem Großbetrieb.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Selbstverständlich!)

Beide Betriebe bedingen sich, und wenn Sie nur eine
Steuererleichterung für den Mittelbetrieb betreiben
und sagen, der Großbetrieb kann ruhig gemolken werden, bis nichts mehr herauskommt — —

(Lachen bei der SPD — Detlev von Larcher [SPD]: Wer sagt das denn?)

— — dann sorgen Sie dafür, daß dem mittleren Betrieb letztlich der Geschäftspartner genommen wird,

(Detlev von Larcher [SPD]: Das will doch keiner! — Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Da habe ich schon bessere Argumente gehört! Das ist die alte Pferdeäpfeltheorie!)

daß dem mittleren Betrieb der Abnehmer für seine Leistungen, für seine Güter genommen wird.

(Zuruf von der SPD: Das ist doch ein Pappkamerad!)

Insofern hat der mittlere Betrieb auch ein großes Interesse daran, daß wir eine gute Struktur von Großunternehmen in Deutschland haben.
Im übrigen haben wir in der Ausgestaltung unserer Unternehmensteuerpolitik in den letzten Jahren immer eine besondere schwerpunktmäßige mittelständische Komponente eingebaut, und in dieser schwerpunktmäßigen Komponente wurden Freibeträge, Freigrenzen immer höher angesetzt, so daß selbstverständlich heute viele Betriebe eine Gewerbekapitalsteuer gar nicht mehr zu entrichten brauchen, weil sie herausgewachsen sind.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das haben wir doch gemacht! — Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Wer hat denn die Lohnsummensteuer abgeschafft, Sie oder wir?)

Aber daraus den Schluß zu ziehen, daß man jetzt diese Steuer nicht weiter bekämpfen müßte, ist genau falsch. Es bleibt dabei, die Gewerbekapitalsteuer und die betriebliche Vermögensteuer sind arbeitsplatzvernichtende Steuern, und deswegen müssen diese Steuern beseitigt werden. Es ist exakt richtig, was in diesem Programm steht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich halte es für außerordentlich gefährlich, wenn man in einer so lockeren Form, wie es durch die sozialdemokratischen Redner geschehen ist, über die Notwendigkeit einer Entlastung der Betriebe hinweggeht. Die Sozialdemokraten haben immer Aufkommensneutralität bei einer Unternehmensteuerreform gefordert.

(Zuruf von der SPD: Wie beurteilen Sie die Aussagen von Herrn Pinger und Herrn Geißler?)

Darauf wurde vorhin auch von Herrn Wieczorek hingewiesen. Genau dieses Ziel der Aufkommensneutralität erreichen wir in dem hier vorgelegten Paket.

(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Sie haben das Geld doch vorher schon einmal ausgegeben! Entscheiden Sie sich doch, wofür Sie das Geld ausgeben wollen!)

Ich weiß nicht, ob Sie das mal durchgerechnet haben,
lieber Herr Wieczorek. Die Entlastung der Unternehmen dadurch, daß die Gewerbeertragsteuer gestaffelt



Gunnar Uldall
wird und daß wir die betriebliche Vermögensteuer reduzieren, beträgt 6,2 Milliarden DM.

(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Sie machen eine Doppelbuchung!)

Wenn Sie jetzt dagegenstellen, was in dem gleichen Gesetzeswerk als Abbau von steuerlichen Subventionen und weiteren Ausgabesubventionen enthalten ist, dann sehen Sie, daß dies ein Betrag ist, der von 8,6 Milliarden DM auf über 10 Milliarden DM steigt. Sie haben hier also diese Aufkommensneutralität, die Sie immer als Bedingung für eine Zustimmung gefordert haben. Deswegen sind Sie herzlich aufgefordert, unseren Unternehmensteuervorschlägen zuzustimmen.
Im internationalen Vergleich, Herr Kollege, kann ich wirklich nur davor warnen, so zu tun, als wenn es nicht den Druck gäbe, den Standort Bundesrepublik Deutschland zu verbessern. Es gibt eine hochinteressante Simulationsrechnung von mehreren Industriebetrieben. Diese Rechnung ist für mich viel interessanter als das, was von verschiedenen Universitätsinstituten vorgelegt wird, weil diese Rechnung von denjenigen angestellt worden ist, die die Investitionsentscheidung in ihren Unternehmen treffen. Das sind also keine Theoretiker, sondern die Leute, die die Entscheidung vor Ort tragen. Die kommen ganz eindeutig zu dem Ergebnis: Es ist nicht nur der Steuersatz, bei dem Deutschland eine ganz schlechte Position einnimmt, sondern es ist auch die Bemessungsgrundlage, auf die dieser Steuersatz angewandt wird, wobei wir eindeutig die schlechteste Position im Vergleich mit unseren westeuropäischen und nordamerikanischen Partnern einnehmen. Wer dann noch darüber hinaus sieht, wie die Entscheidungen inzwischen bei Siemens laufen, bei VW laufen, bei großen Chemieunternehmen laufen und sagt: Das ist alles gar nicht notwendig, daß wir hier eine Entlastung bei den Unternehmensteuern vornehmen, dem kann ich nur sagen: Wer nicht sieht, daß die Investitionsentscheidungen bereits heute vielfach gegen den Standort Deutschland laufen, der verschließt einfach aus Ideologie seine Augen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich weiß, daß die Argumente bei uns noch so gut sein können, Sie würden sich durch uns nie überzeugen lassen. Deswegen möchte ich Ihnen abschließend ein Zitat vorlesen, in dem es heißt:
Wenn wir als Industriestandort Bundesrepublik im europäischen Binnenmarkt aktiv bleiben wollen, muß die Unternehmensbesteuerung dringend abgesenkt werden.
Diesem Zitat von Björn Engholm habe ich ausnahmsweise einmal nichts hinzuzufügen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204127200
Nächster Redner ist der Abgeordnete Dr. Fritz Schumann.

Dr. Fritz Schumann (PDS/LL):
Rede ID: ID1204127300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Faltlhauser hat mit Recht auf den Langtitel des vorliegenden Gesetzes hingewiesen. Herr Dr. Faltlhauser, ich habe schon an dieser Stelle meine
Probleme. Denn im zweiten Teil heißt es: Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze. Ich hätte mir gewünscht, daß zwingend festgelegt wird: Verbesserung der Rahmenbedingungen zur Schaffung von Arbeitsplätzen auch durch Investitionen. Denn das, was Sie hier einfordern und einklagen, passiert genau nicht. Durch Investitionen werden zur Zeit vor allen Dingen in den fünf neuen Ländern Arbeitsplätze vernichtet. Dabei möchte ich nicht gegen Investitionen sprechen. Sie sind dringend erforderlich, um Arbeitsplätze zu schaffen. Aber zur Zeit werden Rationalisierungsinvestitionen vorangetrieben. Ich hätte an dieser Stelle eine zwingende Festlegung gefordert. Ich glaube, das hätte das Verständnis in den fünf Ländern für Maßnahmen erhöht, die vielleicht nicht zu umgehen sind.
Ansonsten muß ich hier deutlich sagen: Das Steueränderungsgesetz 1992 widerspricht dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung. Die Steuer- und Abgabenbelastung der Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen wird weiter erhöht, während die Bezieher hoher und höchster Einkommen deutlich entlastet werden. Die in letzter Zeit veröffentlichten Untersuchungen bestätigen, daß die Bundesregierung bereits in der Vergangenheit diesen Weg gegangen ist. Wie könnte es sonst sein, daß auf der einen Seite soziale Bedürftigkeit wächst — das läßt sich mit der Statistik eindeutig belegen — und daß auf der anderen Seite Reichtum überquillt.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Um Gottes willen! Sie sind von der PDS, und da trauen Sie sich so etwas zu sagen! Um Gottes willen! Das ist ja unglaublich!)

Insbesondere die Arbeitnehmer gehören zu den Verlierern der Steuerpolitik der Bundesregierung. — Natürlich darf ich das sagen. Hier darf man so ziemlich alles sagen, Herr Dr. Faltlhauser. Sie machen auch ständig Gebrauch davon, etwas zu sagen.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Entsetzlich!)

Die Steuerbelastung der Arbeitnehmer erhöhte sich 1991 um fast 2 % auf 43,2 %. 1993 werden es nach den Berechnungen des Karl-Bräuer-Instituts 44,6 % sein. Auf der anderen Seite — so hat das DIW berechnet — werden Personen mit einem Bruttoeinkommen von 200 000 DM trotz der aktuellen Steuererhöhungspläne per Saldo durch die Steuerpolitik der Bundesregierung entlastet, während alle Bürger mit einem Einkommen bis zu 45 000 DM höher belastet werden.
Die Steuerzahler lehnen mit überwältigender Mehrheit weitere Steuererhöhungen, wie sie hier vorgesehen werden, ab. Nach der letzten repräsentativen Umfrage des Bundes der Steuerzahler lehnen 60% der Bundesbürger weitere Steuererhöhungen ab. Weitere 25 % — das sind zusammen schon 85 % — sind erst dann für Steuererhöhungen, wenn der Staat alle Einsparungsmöglichkeiten ausgeschöpft hat. 72 % der Befragten sehen als vorrangiges Ziel eine Ausgabenkürzung des Verteidigungshaushalts an. Ich glaube, darüber sollte man einmal nachdenken, auch in einer Debatte über Erhöhung der Steuern.

(Dr. Karl H. Fell [CDU/CSU]: Das habt ihr in der SED immer getan!)




Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt)

Die Steuerzahler müssen mit wachsendem Unverständnis zur Kenntnis nehmen, daß sich die politischen Veränderungen in Europa hier kaum niederschlagen. Es müßte zur Kenntnis genommen sein, daß inzwischen eine ganze Armee verschwunden ist, die der Bundesrepublik einmal entgegenstand. Es müßte zur Kenntnis genommen worden sein, daß wesentliche Kontingente sowjetischer Truppen abgezogen worden sind und daß der weitere Abzug planmäßig verläuft.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist bestimmt ein Verdienst der SED!)

Es ist nicht mehr einzusehen, warum auch nicht eine einzige Mark am Verteidigungshaushalt eingespart werden kann. — Da ist nicht unser Verdienst. Aber die Frage ist berechtigt, warum man angesichts dieser Tatsache weiterhin Milliarden für die Anschaffung neuer Waffensysteme, für die Anschaffung von Munition, von neuen Kampfflugzeugen und Schiffen braucht. Diese Frage wird doch wohl einmal zu stellen sein dürfen.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Der gleiche Aufwand für ehemals zwei Heere, die gleiche Miete für zwei Häuser! Haben Sie das immer noch nicht kapiert?)

— Es geht nicht um das Heer. Es geht um die Neuanschaffung von Dingen, die unserer Meinung nach nicht mehr erforderlich sind.

(Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Wir lassen nicht alles so verrotten, wie die SED das getan hat!)

Es kann nicht ernsthaft behauptet werden, daß die gewaltigen Veränderungen in Europa absolut nicht erlauben sollten, auf diese Dinge einzugehen.
Viele Steuerzahler müssen feststellen, daß im Rahmen des bisherigen Konzepts, des sogenannten Programms „Aufschwung Ost", Gelder der Steuerzahler einschließlich der Erhöhung ab 1. Juli dieses Jahres verausgabt werden, ohne daß wirklich gewährleistet wird, daß die neuen Bundesländer wirtschaftlich auf die Beine kommen. Die Steuerzahler verlangen nach unserer Auffassung zu Recht, daß mit ihrem Geld sorgsam umgegangen wird, es nicht direkt, in welcher Form auch immer, oder indirekt über ungerechtfertigte Steuerentlastungen in die Kassen der Konzerne und Banken sowie der Geschäftemacher fließt. Das Geld sollte wirksam dazu verwandt werden, innerhalb eines Übergangszeitraums in den neuen Bundesländern normale Bedingungen für eine Erwerbstätigkeit und damit ein sozial gesichertes Leben zu schaffen. Wir erneuern unsere Forderung, mit den Geldern der Steuerzahler in den neuen Bundesländern nicht Arbeitslosigkeit, sondern Arbeit zu finanzieren.
Danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist die alte Ideologie: Arbeit finanzieren!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1204127400
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist der Abgeordnete Hermann Rind.

Hermann Rind (FDP):
Rede ID: ID1204127500
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Das Steueränderungsgesetz 1992 trägt in seinem ersten Teil den offiziellen Titel „Gesetz zur Entlastung der Familien" und weist damit auf einen erfreulichen Teil des Gesamtwerks hin. Durch die Erhöhung der Kinderfreibeträge bringen wir Entlastungen in Höhe von 3,625 Milliarden DM für die Familien mit Kindern und durch die Erhöhung des Kindergelds und des Kindergeldzuschlags noch einmal 3,095 Milliarden DM, also zusammen 6,7 Milliarden DM Entlastungen für die Familien.
Wir sind uns bewußt, daß wir damit den Anspruch des Bundesverfassungsgerichts auf Steuerfreiheit des Existenzminimums erfüllen, aber keine weitergehenden familienpolitischen Leistungen erbringen. Trotzdem sind 6,7 Milliarden DM Steuerentlastungen für die Familien eine frohe Botschaft,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

und das ohne Rücksicht darauf, ob das Bundesverfassungsgericht hier mitgewirkt hat oder nicht.

(Detlev von Larcher [SPD]: Herr Rind, es ist aber noch nicht Weihnachten!)

-- Das war keine sehr intelligente Bemerkung.
Man muß bei dieser Gelegenheit deutlich sagen: Die Forderung der SPD nach Abschaffung der Kinderfreibeträge und Gewährung eines einheitlichen Kindergelds an alle, vom Sozialhilfeempfänger bis zum Einkommensmillionär, entspricht nicht unseren familienpolitischen Vorstellungen.

( V o r sitz : Vizepräsidentin Renate Schmidt)

Es geht hier um die grundsätzliche Frage, ob wir den Familien mit Kindern Einkommen unbesteuert belassen und das Kindergeld als soziale Flankierungsmaßnahme betrachten oder ob wir die Familien voll besteuern und dann vom Staat mit dem Kindergeld subventionieren. Dem liberalen Menschenbild, nach dem jeder sein Leben und das seiner Familie in eigener Verantwortung gestalten und ihm der Staat dafür den finanziellen Spielraum belassen soll, entspricht dieses Gesetz, nicht aber das SPD-Subventionsverfahren.
Hinzu kommt, daß die SPD dieses Kindersubventionsmodell durch Einschränkungen beim Ehegattensplitting finanzieren will. Die Forderung nach Abschaffung oder Einschränkung des Ehegattensplittings ist ebenfalls eine alte SPD-Forderung.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wieso denn Abschaffung, Herr Kollege?)

— Ich habe gesagt: Abschaffung oder Einschränkung. Hier geht es um Einschränkungen. Ich habe dies auch gesagt.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1204127600
Herr Kollege Rind, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Briefs?

Hermann Rind (FDP):
Rede ID: ID1204127700
Bitte schön.

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1204127800
Herr Kollege, könnten Sie mit mir einer Meinung sein, daß wir — da Sie eben so genüßlich den Volltitel des Gesetzes zitiert haben — dies vielleicht in folgender Form leicht paraphrasieren könnten: Gesetz zur Belastung der Fami-



Dr. Ulrich Briefs
lien und zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Profitmacherei?

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist der übelste und dümmste Polemiker des Bundestages!)


Hermann Rind (FDP):
Rede ID: ID1204127900
Ich werde natürlich, Herr Briefs, auf den zweiten Teil des Gesetzesnamens auch noch eingehen; warten Sie das ab. Zum ersten Teil ist zu sagen, daß es hier um echte Entlastungen geht. Ich habe die Größenordnungen genannt. Diese Dinge so zu verdrehen bleibt allein einem Abgeordneten der PDS überlassen und möglich.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Ein sogenannter Fluchtgrüner!)

Ein solcher Zwischenruf käme von keinem Vertreter einer anderen Partei.
Meine Damen und Herren, wenn diese Einschränkung des Ehegattensplittings Platz greifen würde, würde die Entscheidung — die sie gemeinsam fällen — beider Ehegatten in der Ehe, ob einer allein das gesamte Familieneinkommen erzielt oder ob sich die Ehegatten den Gelderwerb teilen, beschnitten. Der Staat soll diese Entscheidung nicht durch eine unterschiedliche Besteuerung — je nachdem, wie diese Entscheidung ausfällt — beeinflussen. Das Ehegattensplitting ist diejenige Besteuerungsform, die dem Ziel der Steuerneutralität des gemeinsamen Einkommens, durch welche Ehegatten und in welchem Umfang auch immer es in der Ehe erzielt wird, gerecht wird.
Deshalb werden wir dabei bleiben: Die SPD-Modelle sind auch aus dieser Grundposition heraus nicht akzeptabel.
Wenn die Koalitionsvereinbarungen eine Neuordnung des Familienlastenausgleichs noch für diese Legislaturperiode vorsieht, wird es bei diesen Grundsätzen bleiben, nämlich dem Grundsatz des Vorrangs des Kinderfreibetrags vor der Erhöhung des Kindergelds und dem Grundsatz, daß für Familien mit höherem Einkommen das Kindergeld entfallen soll. So steht es in der Koalitionsvereinbarung. Ich glaube, daß wir diesem Grundsatz durch das Steueränderungsgesetz 1992 ein Stückchen näherkommen. Deswegen begrüßen wir Freien Demokraten diese familienpolitischen Maßnahmen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Bedauern, daß wir auf Grund der engen finanziellen Spielräume nicht bereits ab 1992 im Bereich des Familienlastenausgleichs mehr tun können, verbindet sich mit demselben Bedauern hinsichtlich der Entlastung der Unternehmen. In diesem Bereich haben wir vom Ergebnis her Steuervereinfachung und eine Verbesserung der Steuerstruktur, jedoch keine nennenswerte Entlastung der Unternehmen. Dies muß immer wieder betont werden.
Ich bin mir darüber im klaren, daß wir in absehbarer Zeit keine Senkung des Niveaus der Unternehmensbesteuerung auf das anderer Industrieländer erreichen werden. Aber eine Senkung der Steuerbelastung auf ca. 50 % ist im Interesse der Sicherung und der Erhaltung von Arbeitsplätzen geplanten zweiten Stufe — im Rahmen der geplanten zweiten Stufe — noch in dieser Legislaturperiode dringend notwendig.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Da die Steuerbelastung in der Bundesrepublik dann immer noch um 10 bis 15% über der anderer Länder liegen wird, müssen — da gebe ich Ihnen recht, Herr Wieczorek — die höhere Leistung der Unternehmen, die bessere Infrastruktur, Ausbildung und all die Dinge, die Sie hier genannt haben, diesen Unterschied — aber nur diese Differenz, denn mehr ist da nicht drin — ausgleichen. Wir können die großen Unterschiede im Bereich der Unternehmensbesteuerung nicht durch diese anderen Faktoren ausgleichen. Diesen Ausgleich können wir bei einer Absenkung um 10 bis 15% sehen, aber nicht im Hinblick auf die jetzige Gesamtbelastung.
Die Höhe der Steuerbelastung ist sicherlich nur ein, aber eben ein wesentlicher Faktor bei der Entscheidung über den Investitionsstandort. Es muß doch eigentlich jeden alarmieren, wenn deutsche Unternehmen 1990 für 30 Milliarden DM Direktinvestitionen im Ausland, ausländische Investoren aber nur für 3 Milliarden DM Direktinvestitionen in Deutschland getätigt haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das Entscheidende!)

Das sind die realen Zahlen des Jahres 1990. Darauf müssen wir reagieren. Es geht um die Arbeitsplätze von morgen und übermorgen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Hier geht es nicht um Geschenke und um das Geschwätz von der Umverteilung von unten nach oben; hier geht es um die Interessen aller Bürger — gerade die der Arbeitnehmer — , und es geht um ihre Arbeitsplätze. Aus diesem Grund will ich mich auch gar nicht an der kleinkarierten Diskussion über Entlastungswirkung bei kleineren, mittleren oder großen Unternehmen beteiligen. Wir brauchen Arbeitsplätze in allen Wirtschaftsbereichen.
Die Handwerksbetriebe und die kleinen Unternehmen haben wir bei der Steuerreform mit der Beseitigung des Mittelstandsbauches wesentlich entlastet. Wir setzen die Entlastung durch die Erhöhung der Freibeträge bei der Gewerbeertragsteuer fort. Dies ist auch für diesen Bereich der erste Teil der Unternehmensteuerreform. Weitere Entlastungen müssen auch für diesen Teil der Wirtschaft im zweiten Teil der Unternehmensteuerreform folgen.
Zu fragen ist aber — dies richtet sich leider nicht nur an die Adresse der SPD —, welches Bild vom Mittelstand in den Köpfen mancher Kolleginnen und Kollegen eigentlich besteht.

(Zuruf des Abg. Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU])

— Die hier anwesenden Kollegen der CDU/CSU meine ich nicht. Das will ich ausdrücklich betonen. — Wir brauchen die Arbeitsplätze nicht nur bei Handwerkern und Einzelhändlern, sondern auch bei mittleren Dienstleistungs- und Produktionsunternehmen. Auch Betriebe mit 500, 1 000 und 2 000 Beschäftigten sind mittelständische Betriebe, die eine wichtige



Hermann Rind
Funktion im Wettbewerb und in der Beschäftigungspolitik haben. Diese Unternehmen zahlen sehr wohl in erheblichem Umfang Gewerbekapital- und Vermögensteuer. Sie sind die, die sich im Wettbewerb am schwersten tun. Sie sind bei diesen Substanzsteuern in die Entlastung mit einbezogen.
Die Welt der Wirtschaft besteht doch nicht nur aus Handwerkern und Mammutkonzernen. Wenn ein mittleres Unternehmen in ertragsschwachen Jahren bei einem angenommenen Betriebsvermögen von 10 Millionen DM weit mehr als 100 000 DM Gewerbekapitalsteuer zahlen muß und dann aus dem mit Gewerbeertragsteuer und Körperschaftsteuer in Höhe von fast 60 % belasteten Restgewinn heraus noch einmal Vermögensteuer abgeben muß und die Anteilseigner aus ihrem Privatvermögen für die Anteile nochmals Vermögensteuer zahlen müssen, dann sind solche Unternehmen im Binnenmarkt ab 1993 bei offenen Grenzen nicht mehr in der Lage, im Wettbewerb zu bestehen. Diese Unternehmen haben wir im Blick — und nicht dieses Auseinanderdividieren von kleinen, mittleren und großen Unternehmen. Die Wirtschaft ist eine Einheit. Wir müssen an alle Teile — auch an die Industrie, auch an die Großbetriebe, aber insbesondere an diese Unternehmen — denken.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Auch in der schwierigen haushaltspolitischen Situation des Jahres 1992 sind diese Maßnahmen gerechtfertigt, da sie fast vollständig durch Beseitigung von Steuervergünstigungen und Steuerschlupflöchern und durch eine vertretbare Senkung von Gebäudeabschreibungen für Gebäude im Betriebsvermögen gegenfinanziert werden.
Wir verbessern also die Steuerstruktur und vereinfachen einiges im Steuerrecht. Es fällt eine Teilsteuer, die Gewerbekapitalsteuer, völlig weg. Die Übernahme der Steuerbilanzwerte ist eine wesentliche Entlastung der Finanzverwaltung und der Betriebe. Dies sollte bei dieser Gelegenheit doch einmal besonders betont werden.
Es stehen neue Aufgaben an: die Verbesserung des Kinderlastenausgleichs, die Anhebung des Grundfreibetrages, die weitere Verminderung der Gewerbeertragsteuer und die Senkung der Steuersätze in der Einkommen- und in der Körperschaftsteuer. Diese Dinge stehen noch vor uns.
Ich möchte zum Schluß kommen und habe nur noch das eine Anliegen, auf das, was Hans Gattermann gesagt hat, noch einmal kurz einzugehen.
Mit diesem Gesetz nehmen wir das finanzpolitische Konzept wieder auf. Ich sage hier, was ich auch schon bei der Verabschiedung des Steueränderungsgesetzes 1991 gesagt habe: Wir haben aus dringend notwendigen Zwängen eine Abweichung vom Pfad unserer Steuerpolitik der Jahre 1982 bis 1990 gehabt. Das geben wir zu, das habe ich auch eindeutig gesagt.
Aber das finanzpolitische Grundkonzept knüpft an folgenden Punkten an: Zu hohe Steuerbelastungen der Bürger und der Unternehmen schwächen die Leistungsbereitschaft, behindern das Wirtschaftswachstum und damit die Basis für Steuermehreinnahmen, mit denen die Staatsverschuldung wieder zurückgeführt werden kann, wenn wir über die schwierige Phase beim Aufbau unserer neuen Bundesländer hinweggekommen sind. Dieser Philosophie verdanken wir die finanzpolitischen Erfolge der 80er Jahre. Wir wollen mit dem Steueränderungsgesetz 1992 wieder an dieses Konzept anknüpfen und mit weiteren Entlastungen in den nächsten Jahren fortfahren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1204128000
Als nächster hat der Kollege Michael Habermann das Wort.

Michael Habermann (SPD):
Rede ID: ID1204128100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen bemühen sich seit mehr als einem Jahr um einen Kinderlastenausgleich, der der Verfassung entsprechen soll. Eine Neuauflage dieses Bemühens ist das heute in erster Lesung zu beratende Steueränderungsgesetz 1992.
Wir können jetzt schon feststellen: Wenn der heute zu beratende Gesetzentwurf im nächsten Jahr Gültigkeit behalten soll, dann bleibt der Kinderlastenausgleich verfassungswidrig. Dann müssen auch 1992 Familien klagen, um zu ihrem Recht zu kommen.
Ihre Familienpolitik, meine Damen und Herren, und hier insbesondere der Teil des steuerlichen Kinderlastenausgleichs, steht dann wieder auf dem Prüfstand des Verfassungsgerichts.
Wie keine andere Bundesregierung vor ihr sieht sich diese Bundesregierung, was die steuerlichen Rahmendaten ihrer Familienpolitik betrifft, in der Prüfung durch die Gerichte. Finanzgerichte, Finanzgerichtshöfe und das Bundesverfassungsgericht setzen sich in den letzten Jahren immer häufiger mit der Frage auseinander: Reichen die Entlastungs- und Fördermaßnahmen für Familien aus, um den Grundsätzen der Verfassung zu entsprechen?
Damit kein Mißverständnis besteht: Wir behandeln heute mit Ihrem Gesetzentwurf ausschließlich den Kinderlastenausgleich. Das Steueränderungsgesetz besagt noch nichts über die Grundfreibeträge für Erwachsene.

(Zuruf von der SPD: Leider, leider!)

Auch diese befinden sich in der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht. Und nur wenn wir heute über Grundfreibeträge und Kinderfreibeträge gemeinsam reden würden, würden wir über den Familienlastenausgleich reden.
Warum, so wird der aufmerksame Beobachter fragen, müssen Familien für das ihnen zustehende Recht Gerichte bemühen, und warum ist es nicht möglich, Familien die Gerechtigkeit zukommen zu lassen, die ihnen verfassungsmäßig zusteht?

(Beifall bei der SPD)

Ein Blick zurück in die jüngste Vergangenheit gibt Aufklärung darüber, welche Zwangslagen Familien dazu gebracht haben, den Klageweg zu beschreiten. Als sich 1982, vor fast genau neun Jahren, die sogenannte geistig-moralische Wende in unserem Land ankündigte, war es eine Ihrer ersten selbstgestellten



Michael Habermann
Aufgaben, das Kindergeld einkommensabhängig zu kürzen und dafür Kinderfreibeträge einzuführen. In dem gleichen Haushaltsbegleitgesetz, in dem Sie diese familienpolitischen Maßnahmen beschlossen hatten, waren auch die Investitionshilfeabgaben geregelt. Das Haushaltsbegleitgesetz für 1983 war der Startschuß in die Ausdünnung des Sozialstaates und in eine bis heute nicht enden wollende Umverteilung von Einkommen und Vermögen von unten nach oben.
Es ist nur allzu verständlich, meine Damen und Herren, daß Sie sich von Anbeginn an der Kritik der Verbände, der Organisationen und der Familien selbst stellen mußten, was Ihre Politik betrifft. Damals wie heute bestehen in unserer Gesellschaft eine Grundbereitschaft und ein Grundkonsens, nämlich der: Wir sind bereit zu sparen, aber die Lasten müssen gerecht verteilt werden.

(Beifall bei der SPD)

Genau an dieser Nahtstelle der sozialen Gerechtigkeit versuchen Familien, sich Ihrer Politik entgegenzustemmen. Sie haben dazu zweierlei Mittel und wenden sie auch an.
Erstens. Sie legen Rechtsmittel gegen die Bescheide ein, die die Auswirkungen Ihrer sozial ungerechten Familienpolitik sind.
Zweitens. Sie geben Ihnen — das erleben wir erfreulicherweise immer häufiger — die Quittung mit den Stimmzetteln an Wahltagen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ach!)

Der Zorn der Familien in unserem Land hat seinen Grund:

(Beifall bei der SPD)

Sie fühlen sich betrogen und hintergangen, weil Sie Ihre Versprechungen nicht einhalten —

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Herr Habermann, Sie sind ein Labermann!)

sei es, daß Sie programmatische Äußerungen vor Wahlen oder in Regierungserklärungen als Zielvorgaben mehr oder weniger verfehlen, sei es, daß Sie Zusagen über Finanzierungstatbestände machen, die Sie ein halbes Jahr später nicht mehr einhalten. So geschehen am 25. Oktober 1989 von diesem Pult aus mit dem Versprechen des Bundesfinanzministers bei der rückwirkenden Regelung der vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erklärten Ausgleichsleistungen für Familien. Allen Familien wollten Sie etwas zurückgeben und nicht nur denen, die offene Steuerbescheide hatten.
Sie haben sowohl im Steueränderungsgesetz für dieses Jahr als auch in dem jetzt vorliegenden Entwurf für 1992 nicht den Willen und nicht das Vermögen gehabt, das, was das Bundesverfassungsgericht Ihnen vorgegeben hat, politisch umzusetzen. Seit 1983 belasten Sie Familien verfassungswidrig, indem Sie das Existenzminimum sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen nicht steuerfrei stellen. Nach den jetzt von Ihnen beabsichtigten Kinderfreibeträgen und der Kindergelderhöhung ist das Existenzminimum eines Kindes höher als das eines Erwachsenen. Der Familienbund der Katholiken — sicherlich eine für uns unverdächtige Organisation — kommt zu dem Schluß: „Familien weiter benachteiligt. — Wir müssen erneut klagen! "
Familien verstehen auch nicht, warum die Bundesregierung zur Festlegung des steuerlichen Existenzminimums mehr als ein Jahr gebraucht hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie hektographieren Ihre Reden! Das haben wir schon einmal gehört!)

Während die Bundesregierung bei dem ersten Verfassungsgerichtsurteil — nun hören Sie einmal genau zu! — zu dem Haushaltsbegleitgesetz 1983 — es betraf die Investitionshilfeabgabe — in weniger als 40 Tagen in der Lage war, allen das zurückzuzahlen, was vorher gezahlt wurde, beziehungsweise die Rechtsgrundlagen dafür zu schaffen, haben Sie für den Familienlastenausgleich mehr als das Zehnfache an Zeit benötigt, über ein Jahr, um die entsprechenden Regelungen in diesem Jahr vorstellen zu können.

(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)

Um so verständlicher ist es, daß ein halbes Jahr nach dem letzten Aschermittwochstreffen in Passau auch der bayerische Bundesfinanzminister Resonanz von seiner Basis in Bayern bekommt. Das Kolpingwerk für die Diözese Passau schreibt unter dem Datum vom 5. September 1991 an den Deutschen Bundestag:
Unbefriedigend bleibt die zu spät einsetzende und völlig unzureichende Konzeption des Familienlastenausgleichs. In diesem Zusammenhang
— so schreiben sie weiter —
ist umgehend dafür zu sorgen, daß das Existenzminimum aller Familienmitglieder steuerfrei bleibt.
Auf der Grundlage der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist das Existenzminimum für Kinder ab dem 1. Juli 1991 mit mindestens 560 DM anzusetzen.
Es ist bezeichnend,
— so schreibt das Kolpingwerk für die Diözese Passau weiter —
daß der Bundesminister für Finanzen nach wie vor nur von der Steuerfreiheit des Kinderexistenzminimums spricht.
Und zu Recht weist das Kolpingwerk darauf hin:
Wenn das Existenzminimum der Familie steuerfrei gestellt wird, ist das noch lange kein Familienlastenausgleich, sondern erst Steuergerechtigkeit.
Dieser Protest dokumentiert, wie wichtig Sie den Familienlastenausgleich nehmen und daß selbst in der Öffentlichkeit klar wird, daß dieses Steueränderungsgesetz weiterhin unter dem Makel der Verfassungswidrigkeit leidet.
Es ist deshalb eine anerkennende Bemerkung wert, daß sich die Bundesfamilienministerin — zumindest in den Vorverhandlungen zu dem Entwurf — bemüht hat, ein annähernd verfassungsgemäßes Existenzminimum für Kinder zu errechnen und dies in die Freibetragshöhe beziehungsweise in die Kindergeldhöhe



Michael Habermann
einzuarbeiten. Aber es ist für ein so reiches Land wie das unsrige beschämend, meine Damen und Herren, daß dann, wenn es um das Existenzminimum für Kinder geht, so gefeilscht wird. Ich habe den Eindruck, es muß bei den Verhandlungen zwischen dem Familienministerium und dem Finanzministerium wie auf dem Bazar unter Teppichhändlern zugegangen sein.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Es wird nicht gefeilscht, es wird gerechnet!)

Der Finanzminister hat selbst die Höhe der Sozialhilfe in Frage gestellt.
Meine Damen und Herren, das Ergebnis — auch unter Anrechnung des fiktiven Freibetrages, der auf Grund der Kindergeldzahlung zustande kommt — ist: Das Existenzminimum eines Kindes war seit 1983 nicht steuerfrei, ist jetzt nicht steuerfrei und wird, wenn Ihr Gesetz so in Kraft bleibt, auch 1992 nicht steuerfrei bleiben.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist eine Familienpolitik, die sich nicht daran orientiert, daß wir nicht nur in den Monaten Januar bis November — so ist nämlich ihr Existenzminimum derzeit berechnet — das Existenzminimum steuerfrei stellen. Vielmehr brauchen wir eine Familienpolitik, bei der sich die Familien darauf verlassen können, daß ein Teil der tatsächlichen Belastungen von uns wirklich ausgeglichen wird.
Die Familienverbände haben schon jetzt angekündigt, daß sie die Familien auffordern werden, auch in diesem Falle gegen Ihre Politik zu klagen. Sie können damit rechnen, daß immer mehr Familien gegen ihre Steuerbescheide Beschwerde einlegen bzw. sie offenhalten werden, damit sie nicht wieder in die Situation kommen, daß der Bundesfinanzminister ihnen etwas verspricht, was er dann später nicht einhalten kann. Denn: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.

(Beifall bei der SPD — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das nehmen Sie sofort zurück! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Denen glaubt niemand mehr etwas! — Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Die glauben sich selber nicht, das ist das Problem!)

Meine Damen und Herren, durch finanzwissenschaftliche Untersuchungen wissen wir, daß die Leistungen, die Familien über das Steuerrecht oder durch Leistungsgesetze erhalten, im wesentlichen durch die Familien selbst aufgebracht werden. Familien, insbesondere mit mehreren Kindern, sind auf Grund ihrer Einkommensverhältnisse nicht in der Lage, größere Rücklagen zu bilden; d. h. sie gehören zu dem Teil der Bevölkerung, der sein Einkommen weitestgehend ausgibt. Sie unterliegen so voll der direkten und indirekten Besteuerung. Dadurch wird verständlich, daß Familien, pro Kopf und vom Anteil ihres Einkommens her betrachtet, in hohem Maße an der Steueraufbringung beteiligt sind. Solange dies so ist, meine Damen und Herren, können wir nicht von einem Familienlastenausgleich zwischen denen sprechen, die Kinder erziehen, und denen, die keine Kinder haben. Deshalb ist es um so verständlicher, daß der Unmut der Betroffenen und ihrer Verbände deutlich wird, wenn sie sehen, wie mit ihren vom Verfassungsgericht festgelegten und eingeforderten berechtigten Anliegen von der Bundesregierung umgegangen wird.
Noch mehr muß es Familien zürnen, wenn sie einerseits in die Abgabensolidarität eingebunden werden und andererseits miterleben müssen, wie größere Einkommensbezieher durch die Politik der Bundesregierung entlastet werden. Familien ist die Großzügigkeit der Bundesregierung bei der Vermögensteuer unverständlich, wenn sie die Kleinherzigkeit und Knausrigkeit bei der Festlegung des Existenzminimums erleben.

(Beifall bei der SPD)

Zunehmend verschlechtern Sie auch die familienpolitischen Handlungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Hurra, wir haben es ja!)

Wer den Kommunen immer mehr Handlungsspielräume nimmt, in dem er ihre finanziellen Ressourcen beschneidet, gleichzeitig aber Kommunen auffordert, verstärkt für Familien tätig zu werden, betreibt ein zynisches Spiel.
Waren die Städte und Gemeinden bisher schon u. a. Ausfallbürgen für die Kosten der Arbeitslosigkeit, haben sie also Lasten getragen, die wir dem Bund zuordnen,

(Detlev von Larcher [SPD]: So ist es!)

so werden sie jetzt durch das Vorhaben der Unternehmensteuerreform in ihren Einnahmemöglichkeiten beschnitten. Die Kommunen kommen in den Würgegriff Ihrer unseriösen und unsozialen Finanzpolitik.

(Zustimmung bei der SPD)

Mit der einen Hand drücken Sie zu, indem Sie die Leistungen zu Lasten der Kommunen verschoben haben, mit der anderen Hand drücken Sie den Kommunen den notwendigen Mittelzufluß ab.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Voller Ausgleich!)

— „Voller Ausgleich" , das halte ich für ein Gerücht. Gehen Sie einmal vor Ort und fragen Sie einmal in den Kommunen nach. Wenn Sie Kommunalpolitiker sind, werden Sie andere Daten bekommen.
Glauben Sie mir, wir werden mit den Familienverbänden dafür sorgen, daß die Menschen draußen im Lande Ihre Politik durchschauen. Es wird Ihnen nicht weiter durchgehen, Länder und Kommunen in die Pflicht zu nehmen und sie als Ausfallbürgen für Ihre Sozialleistungen zu benutzen und ihnen gleichzeitig die notwendigen finanziellen Mittel dafür vorzuenthalten.
Immer mehr Menschen, meine Damen und Herren, verstehen, was es bedeutet, einen verläßlichen politischen Partner zu haben, der eine solide und gerechte Finanz- und Sozialpolitik betreibt. Immer mehr Familien wenden sich deshalb von Ihnen ab. Noch nie hat eine CDU/FDP-Bundesregierung so viel mangelnde



Michael Habermann
Kompetenz in der Finanzpolitik bescheinigt bekommen wie Sie.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste])

Unser Konzept des Kinderlastenausgleichs ist einfach und überschaubar, es ist sozial gerecht und finanzierbar. Mit 230 DM Kindergeld im Monat pro Kind kommen wir nicht nur der Forderung der Familienverbände entgegen und schaffen wir nicht nur das unübersichtliche System von Kindergeld, Kindergeldfreibeträgen, Kindergeldzuschlag und Kindergeldreduzierungen auf Sockelbeträge ab, sondern stellen vor allen Dingen das sicher, was das Verfassungsgericht uns aufgegeben hat: die Steuerfreistellung des Existenzminimums.
Langfristig, meine Damen und Herren, wollen wir, daß aus einer Politik des Lastenausgleichs für Kinder und Familien eine Politik der Förderung der Familien wird. Dazu brauchen wir zunächst den Lastenausgleich zwischen denjenigen, die ohne Kinder in unserer Gesellschaft leben und deshalb viele Vorteile für sich in Anspruch nehmen, und denjenigen, die als Familie mit Kindern leben und deshalb viele Nachteile erleiden müssen. Diese Zielsetzung schließt als einen ersten und wichtigen Schritt die Zahlung eines erhöhten Kindergeldes ein.
Wenn Sie sich, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, auf eine solche Politik verstehen, die diesen Grundsätzen Folge leistet, dann haben Sie uns auf Ihrer Seite.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1204128200
Als nächster hat der Kollege Peter Rauen das Wort.

Peter Rauen (CDU):
Rede ID: ID1204128300
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Habermann, wir können uns trefflich darum streiten, ob 100 DM mehr oder weniger bei den Kinderfreibeträgen festzusetzen sind. Tatsache ist: Es wird jetzt ein Freibetrag von 4 104 DM angesetzt. Als wir 1983 die Regierung übernahmen, lag der Betrag bei 434 DM — fast eine Verzehnfachung. Das heißt, ein Arbeitnehmer, ein normaler Facharbeiter mit 25 % Durchschnittssteuersatz hat heute auf Grund dieser Freibeträge bei 2 Kindern 1 500 DM Steuerersparnis im Jahr. Das ist ein Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich möchte aber einiges zur Unternehmensteuerreform sagen, weil von der Opposition sehr viel Falsches zur betrieblichen Vermögensteuer und zur Gewerbekapitalsteuer gesagt wurde.

(Zuruf von der FDP: Soviel kann man gar nicht richtigstellen!)

Meine Damen und Herren, weil das Wort „Vermögen" bei der einen Steuer und das Wort „Kapital" bei der anderen vorkommt, wird dies mit Reichtum gleichgesetzt. Es wird deswegen gehetzt und suggeriert, man wollte die Reichen entlasten — zu Ungunsten der Armeren. Aber mit Blick auf die Arbeitsplätze von morgen und mit Blick auf den Europäischen Binnenmarkt ab 1. Januar 1993 — bis dahin sind es nur noch 15 Monate und 10 Tage — ist die Diskussion völlig unsinnig, ich möchte sagen: irrsinnig.
Sowohl die betriebliche Vermögensteuer als auch die Gewerbekapitalsteuer haben als wesentliche Bemessungsgrundlage den Einheitswert des Betriebes. Das heißt im Umkehrschluß: Ein Unternehmer, ein Betrieb, der investiert, um Arbeitsplätze zu schaffen oder zu sichern, wird anschließend mit diesen beiden Steuerarten für sein ansonsten löbliches Tun bestraft. Aber nicht nur das: Er muß diese Steuern auch noch zahlen, wenn er keine Gewinne macht. Das heißt, diese Steuern zehren die Substanz auf,

(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Warum beseitigen Sie nicht alle Steuern?)

möglicherweise ganz kompromißlos bis zum Bankrott des Unternehmens und damit bis zum Verlust der Arbeitsplätze.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Genau so ist es! — Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Oje, o je!)

Wer in diesem Zusammenhang behauptet, diese Steuern begünstigten mehr die Großunternehmen denn die kleinen und mittleren Unternehmen,

(Deltev von Larcher [SPD]: Das ist keine Behauptung, das ist eine Tatsache!)

beweist endgültig, daß er keine Ahnung hat.

(Erneute Zurufe von der SPD)

— Um diese Uhrzeit sollten wir ruhig ein bißchen friedlich miteinander umgehen. Ich will Ihnen ganz klar und nüchtern sagen, wie ich das sehe: Es ist zwar richtig, daß über 50 % des Gewerbesteueraufkommens von nur etwa 0,8 % oder 14 000 Unternehmen in Deutschland erbracht werden. Da die Gewerbesteuern nach Ertrag oder Kapital jedoch Betriebsausgaben sind, werden bei diesen Großunternehmen 50 % der gezahlten Gewerbesteuern durch die Körperschaftsteuer erspart. Die restlichen rd. 700 000 Betriebe, die Gewerbesteuer zahlen — das sind 42 % aller Betriebe, die die andere Hälfte zahlen — , sind mit dieser Steuer ungleich höher belastet. Denken Sie an die Vielfältigkeit der Strukturen: Diese 700 000 Firmen umfassen auch den Handwerksmeister, der bei 100 000 DM Gewinn 25 000 DM Gewerbesteuer nach Ertrag und Kapital zahlt und der dafür von seiner Einkommensteuer — je nach Familienstand — , wenn es hochkommt, höchstens 10 bis 15 % erspart, während der große Konzern 50 % über die Körperschaftsteuer erspart.
Ich habe kein Verständnis für die Kollegen hier im Bundestag, die leichtfertig Neid und Mißgunst mit der Behauptung schüren, die Reform der betrieblichen Vermögen- und Gewerbekapitalsteuer begünstige nur die Großen und die Reichen.
Es ist manchmal gut, wenn man aus eigener Erf ah-rung etwas sagen kann: Ich habe vor 25 Jahren als selbständiger Bauunternehmer mit viel Tatendrang und noch mehr Schulden angefangen und erlebt, daß gerade diese beiden Steuerarten — vor allem dann, wenn kein Ertrag vorhanden war — die größten Pro-



Peter Harald Rauen
blerne gebracht haben, auch und gerade im Hinblick auf die Arbeitsplätze.
Ich will in aller Ruhe und um so deutlicher sagen
— Peter Struck ist leider nicht mehr da — : Wer diese Steuerarten vor dem Hintergrund des europäischen Binnenmarktes nicht reduzieren oder abschaffen will, muß auch die Verantwortung für die Arbeitsplätze übernehmen, die morgen bei uns wegfallen oder nicht mehr geschaffen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sowohl die betriebliche Vermögensteuer als auch die Gewerbekapitalsteuer passen nicht in die europäische Landschaft.

(Dr. Karl H. Fell [CDU/CSU]: Richtig!)

Ich komme aus einem Wahlkreis mit 150 Kilometern Grenze zu Luxemburg und Belgien; nach Frankreich sind es von meinem Wohnort aus 40 Kilometer. Wir haben schon heute einen regen Tanktourismus, weil die Mineralölsteuern unterschiedlich hoch sind. Die Spediteure melden ihre Lkw in Luxemburg an, weil sie durch die niedrigere Kfz-Steuer einschließlich dem Lkw-Fahrer pro Lastzug jährlich 20 000 DM sparen.

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wer hat denn die Mineralölsteuer erhöht?)

Der deutsche Arbeitnehmer, der zur Arbeit über die Grenze nach Luxemburg geht, hat bei 3 500 DM brutto 500 DM netto mehr, als er netto auf deutscher Seite verdient.
Was heute Tanktourismus, Ausflaggen der Lkw und Grenzgänger-Arbeitsverhältnisse sind, wird morgen die Wanderung von Firmen und Arbeitsplätzen bedeuten.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Genau!)

Meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor: Bei offenen Grenzen in Europa mit der Möglichkeit des freien Transfers von Menschen, Waren, Dienstleistungen und Kapital wäre es für eine Firma im Hinblick auf den Erhalt der Arbeitsplätze nahezu leichtfertig, wenn sie den Standort unter dem Gesichtspunkt der Steuern und der Lohnzusatzkosten
— das sage ich ganz bewußt — nicht sorgfältig überprüfen würde. Bei den Lohnzusatzkosten versündigen wir uns als Politiker ohnehin fast täglich aufs neue.
Leider fällt die Unternehmensteuerreform mit einem Volumen von knapp 7 Milliarden DM, das auch noch durch steuerlichen Subventionsabbau gegenfinanziert wird, im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit in Europa viel zu knapp aus. Gleichwohl ist es um so wichtiger, daß mit der begonnenen Reform die ungerechtesten Steuern abgebaut werden, nämlich die, die das besteuern, was wir am dringendsten brauchen: Investitionen und Arbeitsplätze.
Die Staffelung der Steuermeßzahl bei der Gewerbeertragsteuer ist ein Schritt in die richtig Richtung; ich stimme Herrn Kollegen Gattermann zu. Mir wäre es lieber — vielleicht erreichen wir das —, wenn gerade für die kleinen Gewerbetreibenden, die von den zusätzlichen 3 Millionen Arbeitsplätzen in den letzten zehn Jahren die meisten geschaffen haben, etwas mehr Erleichterung geschaffen werden könnte.
Ich bin auch der Meinung, daß endlich die Ungerechtigkeit bei der Altersvorsorge der Selbständigen, die weit weniger steuerfreie Altersvorsorge betreiben können als jeder Arbeitnehmer, verschwinden muß. Ich hoffe, daß uns dies im Lauf der Beratungen dieses Gesetzes gelingt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1204128400
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/1108 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und an den nicht aufgeführten Sportausschuß vorgeschlagen. Gibt es dazu weitere Vorschläge? —

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Wie bitte? Der Sportausschuß? — Dr. Karl H. Fell [CDU/CSU]: Üben sie die Riesenwelle?)

— Es ist so vorgeschlagen.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Können Sie mir mal sagen, warum der Sportausschuß?)

— Liebe Kollegen, ich bin hier an die Absprachen der Fraktionsgeschäftsführungen gebunden.

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Salto mortale!)

Ich gehe davon aus, lieber Herr Kollege Faltlhauser, daß es auch mit Ihnen abgesprochen ist, weil Sie in Ihrer Fraktion ein wichtiger Mann sind. Falls das nicht der Fall sein sollte, bitte ich Sie, sich an die Kollegin Roitzsch zu wenden.

(Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Mir ist davon nichts bekannt!)

Ich kann Ihnen nur das vorschlagen, was vereinbart worden ist.

(Zurufe von der CDU/CSU)

— Sie können dies ablehnen; ich stelle es ja jetzt zur Debatte.
Ich glaube, es passiert nichts Schlimmes, wenn wir es jetzt so verabschieden. Wir könnten dies vielleicht in der nächsten Sitzung klären. Wäre das ein Vorschlag zur Güte? — Wunderbar.
Darf ich fragen, ob es weitere Vorschläge gibt? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (FGO-Änderungsgesetz)

— Drucksache 12/1061 —Überweisungsvorschlag :
Rechtsausschuß (federführend) Finanzausschuß
Sportausschuß
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.



Vizepräsidentin Renate Schmidt
Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? — Das ist der Fall. Es ist mit erforderlicher Mehrheit so beschlossen.*)

(Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Mit Überweisung an den Sportausschuß!)

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/1061 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse — in diesem Fall nicht auch an den Sportausschuß — vorgeschlagen. Gibt es weitere Vorschläge dazu? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.
Wir kommen mit rasender Geschwindigkeit zum Tagesordnungspunkt 13:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom 8. Oktober 1990 über die Internationale Kommission zum Schutz der Elbe
— Drucksache 12/869 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Verkehr
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat war für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Es ist jedoch vereinbart worden, daß Redebeiträge zu Protokoll gegeben werden können.** )

(Zuruf von der CDU/CSU: Eine sehr gute Idee!)

In der Zwischenzeit ist dies von allen Fraktionen und Gruppen geschehen. Ich darf Sie um Ihre Zustimmung zur Abweichung von der Geschäftsordnung bitten. — Es gibt keine gegenteilige Meinung. Dies ist mit der erforderlichen Mehrheit beschlossen.
Wir kommen zur Überweisung dieses Gesetzentwurfs. Es ist vorgeschlagen, diesen Gesetzentwurf auf Drucksache 12/869 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen und keine weiteren vorzuschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich rufe nun auf den Tagesordnungspunkt 14:
Beratung des Antrags der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz über Reisen des Deutschen Bundestages gegenüber den Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen
— Drucksache 12/612 (neu)
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (federführend)

Haushaltsausschuß
Interfraktionell ist eine Aussprache in Form einer Fünf-Minuten-Runde vereinbart worden. Mittlerweile liegt mir die Information vor, daß es nur eine Wortmeldung dazu gibt; die anderen Reden sollen zu Protokoll
*) Anlage 5
**) Anlage 6
gegeben werden. Besteht mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung Einverständnis? — Dies ist der Fall. Es ist mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen ).
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Köppe.

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1204128500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedauere, daß die erste Lesung unseres Antrags erst so spät angesetzt wurde; einerseits spät heute abend, wo die Medien und viele der betroffenen Steuerzahler und Steuerzahlerinnen die Beratungen nicht mehr verfolgen können, andererseits leider schon spät in der Legislaturperiode.

(Dr. Rudolf Krause [Bonese] [CDU/CSU]: Ihre Plätze sind ja auch leer!)

Im letzten Dreivierteljahr, besonders während der gerade abgelaufenen Sommerpause und Urlaubszeit, sind bereits viele Dienstreisen unternommen worden. Von deren Zielen, Teilnehmern und Teilnehmerinnen, Zwecken und Nutzen oder auch Kosten habe ich als Abgeordnete nichts oder allenfalls Bruchstücke meist aus den Medien erfahren.
Den steuerzahlenden Bürgerinnen und Bürgern, die dafür finanziell aufkommen müssen, ist all dies mutmaßlich noch weniger transparent.
Diesen mißlichen Zustand soll unser Antrag beheben. Wir haben festgestellt, daß für Auslandsreisen der Abgeordneten sowie der sie begleitenden Bundestagsmitarbeiter aus verschiedenen Bundestagstiteln jährlich mehrere Millionen DM ausgegeben werden. Die in unserem Antrag genannten Posten sind übrigens im aktuellen Haushaltsentwurf 1992 noch einmal um bis zu 100 % gestiegen.
Als wir Näheres erfahren wollten, vernahmen wir mit Befremden, daß Einzelheiten selbst gegenüber Abgeordneten auf Grund zweier Beschlüsse des Ältestenrats geheimzuhalten sind.

(Dr. Rudolf Krause [Bonese] [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)

Deshalb haben wir beantragt, das Präsidium solle über die durchgeführten Abgeordnetendienstreisen und Ausschußdelegationsreisen alle zwei Jahre auch die Öffentlichkeit informieren, insbesondere über das Verhältnis von Kosten und parlamentarischem Nutzen.

(Dr. Rudolf Krause [Bonese] [CDU/CSU]: Sind Ihre Kollegen jetzt etwa auf Dienstreise?)

Mit dieser wirklich nicht unbilligen Forderung haben wir uns offenbar besonders bei denjenigen Kolleginnen und Kollegen unbeliebt gemacht, die hier schon länger im Hause arbeiten.

(Dr. Rudolf Krause [Bonese] [CDU/CSU]: Das ist doch einfach hochgestapelt!)

Die Art der Kritik ließ uns jedoch noch zusätzlich aufhorchen. Aus der SPD hieß es, wenn ich das etwas
salopp formulieren darf, wir würden schon noch auf
*) Anlage 7



Ingrid Köppe
den Geschmack kommen. Die Union warf uns kaum verhüllt Nestbeschmutzung vor.
Wovor sollen diese Geheimhaltungsbeschlüsse über die Verwendung von Millionenbeträgen denn eigentlich schützen?

(Zuruf von der CDU/CSU: Stellen Sie doch keine falschen Behauptungen auf!)

Welches Bild muß die Bevölkerung denn angesichts gewisser Medienberichte über die Reiseziele des Bundestags gewinnen?
Da soll der Petitionsausschuß nach Australien, der Verkehrsausschuß nach Vietnam und Macao gereist sein. — Herr Lüder möchte eine Zwischenfrage stellen.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1204128600
Entschuldigung, ich war gerade abgelenkt. Der Kollege Lüder bittet um die Möglichkeit einer Zwischenfrage. Gestatten Sie das?

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1204128700
Ja. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Lüder.

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1204128800
Frau Kollegin, sind Sie bereit, Ihre Tatsachenbehauptungen, die Sie hier in den Raum gestellt haben, zu relativieren, wenn sich in den Beratungen des zuständigen Ausschusses, an den der Antrag gehen soll, herausstellt, daß Sie — was meiner Information entspricht — von falschen Voraussetzungen ausgehen?

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1204128900
Ich kann nur von dem ausgehen, was zur Zeit öffentlich bekannt ist. Darauf fußen meine Aussagen. Alles andere werde ich dann natürlich zur Kenntnis nehmen.
Da soll sich der Innenausschuß in Indonesien über die ethnische Zersplitterung, in Bangkok über Probleme der Nationalsprache und in China mehrfach über die dortige Kultur sachkundig gemacht haben. Es wird berichtet, die Abgeordneten hätten ihre Kenntnisse über den Datenschutz in den USA und Kanada sowie über das bekanntlich weltweite Drogenproblem in Mittelamerika und im Raum Indien/Nepal jährlich aktualisiert. In Nepal waren — ebenso wie in anderen Ländern — kürzlich Wahlen zu beobachten, in der Mongolei dieser Tage deren Vorbereitung. Warum eigentlich auch nicht? Reisen bildet bekanntlich, und Sie können mir glauben: Davon bin ich überzeugt. Da sind wir einer Meinung.
Ich räume auch ein: Vielleicht läßt sich der unmittelbare Nutzen für unser Tagesgeschäft nicht immer so kurzfristig und exakt benennen, sondern er mag sich erst später zeigen. Darüber wird man sich im einzelnen auseinandersetzen müssen. Hierfür ist erst einmal eine vollständige Information über diese Fakten erforderlich.
Aber warum tun Abgeordnete der anderen Fraktionen so, als wollten wir ihnen an die persönliche Brieftasche? Ich kann das nicht nachvollziehen. Mehr noch: Wer als Politiker nur Sparappelle an die viel zitierten kleinen Leute richtet sowie Sozialleistungen einschränken will, jedoch selbst zaghafte Ansätze zu eigenen Einsparmöglichkeiten arrogant abwehrt, darf sich über Politikverdrossenheit der Bevölkerung nicht wundern.
Dies zu ändern, haben Sie zahlreiche Gelegenheiten, nicht nur durch Unterstützung unseres Antrages zu dem vergleichsweise winzigen Aspekt Dienstreisen. Auch bei der demnächst wieder drohenden Diätenerhöhung haben Sie es in der Hand, aus den Erfahrungen unserer Hamburger Kollegen zu lernen und dem öffentlichen Eindruck vorn Bundestag als Selbstbedienungsladen sogleich deutlich entgegenzuwirken.
Ich danke Ihnen.

(Beifall des Abg. Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste])


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1204129000
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird in Abweichung von dem in der Tagesordnung genannten Überweisungsvorschlag Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/612 (neu) an den Ältestenrat vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 15 auf.
Erste Beratung des von der Gruppe der PDS/ Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rechtsgleichstellung von Homosexualität und Heterosexualität im Strafrecht (Sexualgleichstellungsgesetz)

— Drucksache 12/850 —
Überweisungsvorschlag : Rechtsausschuß
Interfraktionell ist für die Aussprache eine 5-Minuten-Runde vereinbart worden. Es ist auch vereinbart worden, daß Reden zu Protokoll gegeben werden können. Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? — Das ist der Fall. Es ist mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen.' )
Ich eröffne dennoch die Aussprache, weil die Kollegin Barbara Höll ums Wort gebeten hat. Ich erteile es ihr hiermit.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1204129100
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Abgeordnete! Ich möchte hier mit unserem Gesetzentwurf um Ihre Zustimmung für die Beseitigung bestehender rechtlicher Diskriminierung von Menschen bitten.
Unser Anliegen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist es, die seit Jahrhunderten in Deutschland bestehende Diskriminierung lesbischer Frauen und schwuler Männer zu beseitigen. Homosexuell orientierte Mitbürgerinnen und Mitbürger bedürfen der gleichen rechtlichen Voraussetzungen für Identitätsfindung, sexuelle Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentfaltung, wie sie für heterosexuell orientierte Menschen in diesem Lande selbstverständlich sind.
Der § 175 StGB ist seit über 120 Jahren für die bestehende Diskriminierung Homosexueller das heraus-
*) Anlage 8



Dr. Barbara Höll
ragende Symbol. Die PDS/Linke Liste sieht angesichts dieser Zeitdimension ihren Gesetzentwurf als längst überfälligen Schritt an, um die Gleichstellung unterschiedlicher sexueller Orientierungen vor dem Gesetz herzustellen, überholten Moralvorstellungen innerhalb der Bevölkerung die Rechtsgrundlage zu entziehen, die Möglichkeit zu einem freigeistigen Umgang mit dem Problem Homosexualität zu eröffnen sowie die deutsche Gesetzgebung hinsichtlich der Gleichstellung von Homosexualität und Heterosexualität an das Niveau fortgeschrittener europäischer Staaten heranzuführen. Darüber hinaus ist mit der Vereinigung der zwei deutschen Staaten gerade auf diesem Gebiet eine obskure Rechtsrealität entstanden, die akuten Änderungsbedarf signalisiert.
Während in der ehemaligen DDR das Sexualstrafrecht, in dem Schwule nicht diskriminiert werden, weiterbesteht, ist in der BRD der § 175 rechtskräftig. Diese Regelung des Einigungsvertrages führt dazu, daß sexuelle Handlungen eines schwulen Paares in Hamburg nicht erlaubt sind, wohl aber in Dresden.
Der von uns vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Rechtsgleichstellung von Homosexualität und Heterosexualität im Strafrecht der Bundesrepublik orientiert sich an folgenden Zielen:
Erstens. Die seit über 100 Jahren bestehende Diskriminierung von homosexuell orientierten Menschen, die in den alten Bundesländern ununterbrochen weiter praktiziert wird — über 500 Anzeigen im vergangenen Jahr — , soll beseitigt und damit ein weiteres Stück der in Art. 3 des Grundgesetzes postulierten Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz verwirklicht werden.
Zweitens. Den Veränderungen in der Lebensrealität junger Menschen hinsichtlich ihrer sexuellen Beziehungen soll Rechnung getragen werden.
Drittens. Auf der Grundlage des Einigungsvertrages soll eine Rechtsangleichung im geltenden Strafrecht vollzogen werden.
Sowohl unter dem Aspekt gegebener Veränderungen in der Lebensrealität junger Menschen hinsichtlich ihrer sexuellen Beziehungen als auch in bezug auf die Notwendigkeit der Rechtsangleichung gemäß Einigungsvertrag besteht akuter Änderungsbedarf des geltenden Strafrechts.
In der Alt-BRD stellt noch immer der § 175 StGB einvernehmliche und gewaltfreie Sexualkontakte von Männern mit jungen Männern unter 18 Jahren und zwischen jungen Männern von 14 bis 18 Jahren unter Strafe.
Der § 182 Strafgesetzbuch, Verführung, verfolgt als Antragsdelikt den von einem Mann über 18 Jahren mit einem Mädchen zwischen 14 und 16 Jahren vollzogenen Geschlechtsverkehr.
Während in der Ex-DDR Homo- und Heterosexualität gleichgestellt sowie straffrei sind und laut Einigungsvertrag — Anlage 1 — die §§, 175 und 182 keine Gültigkeit im Beitrittsgebiet erlangen gilt weiterhin die im § 149 Strafgesetzbuch der DDR festgeschriebene Jugendschutzvorschrift. Das heißt, in der ehemaligen DDR werden unter bestimmten Bedingungen noch immer Geschlechtsverkehr bzw. geschlechtsverkehrähnliche Handlungen Erwachsener mit Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren als Offizialdelikt bestraft. Daraus folgt: Erstens. Homosexuelle Handlungen mit Jugendlichen unter 18 Jahren in den Altbundesländern sind strafbar und werden in den Neubundesländern unter bestimmten Bedingungen als Offizialdelikt verfolgt. Zweitens: Die drei genannten Paragraphen des geltenden Sexualstrafrechts in der heutigen BRD — —

(Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Sie haben noch die SED-Sprache: Es heißt hier nicht „BRD"!)

— — schränken maßgeblich die ungestörte Entfaltung sexueller Selbstbestimmung der jungen Generation ein.
Der Gesetzentwurf beinhaltet die ersatzlose Streichung der §§ 175 und 182 des Strafgesetzbuchs der BRD und die Aufhebung des § 149 des Strafgesetzbuchs der DDR, der laut Einigungsvertrag bislang geltendes Recht in den neuen Bundesländern ist.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Reden Sie doch nicht gar so schnell!)

Im Gegensatz zu der in den Koalitionsvereinbarungen geäußerten Absicht der Regierungsparteien, eine einheitliche Jugendschutzvorschrift festzuschreiben, haben wir darauf ausdrücklich verzichtet. Wir sind der Ansicht, daß die übrigen Regelungen des Sexualstrafrechts einen ausreichenden Schutz gewährleisten — Abschnitt 143 Strafgesetzbuch: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung —.
Mit dieser Position vertreten wir zugleich die grundsätzlichen Forderungen sowohl des Bundesverbandes Homosexualität als auch des Schwulenverbandes in Deutschland. Wir werden in unserem Bemühen um dieses Gesetz von unzähligen Schwulen- bzw. Lesbeninitiativen und Einzelpersonen bestärkt.

(Georg Gallus [FDP]: Holen Sie doch mal Luft!)

Die im Einigungsvertrag festgelegte Rechtsangleichung sollte genutzt werden, um den menschendiskriminierenden § 175 ersatzlos aus dem Strafgesetzbuch der BRD zu streichen. Entsprechend der heutigen Lebensrealität sollten zugleich die §.§. 182 StGBBRD und 149 StGB-DDR aus dem geltenden Recht beseitigt und sollte dafür Sorge getragen werden, daß in der Bundesrepublik Deutschland das Sexualstrafrecht in keiner Weise durch neuerliche „Schutzvorschriften" verschärft wird. Denn eine Schutzaltersgrenze von 16 Jahren und eine geschlechtsneutrale Jugendschutzvorschrift würden die Kriminalisierung sowohl der Sexualkontakte lesbischer als auch heterosexueller Jugendlicher zur Folge haben.

(Zuruf von der FDP: Die Rednerin spielt den Minutenwalzer in 45 Sekunden!)

Da wissenschaftlich erwiesen ist, daß eine Verführung weder zur Heterosexualität noch zu Homosexualität möglich ist, müssen jeder weiblichen und jedem männlichen Jugendlichen vom Gesetzgeber die Be-



Dr. Barbara Höll
dingungen für die Selbstbestimmung der sexuellen Orientierung garantiert werden.

(Zuruf von der FDP: Da kommt die Stenographin nicht mit!)

Die Erprobung der eigenen Sexualität muß für Jugendliche unbelastet von der Befürchtung stattfinden, in Strafverfahren verwickelt oder zu Aussagen gegen die Sexualpartnerin bzw. den Sexualpartner gezwungen werden zu können.
Zugleich erweist sich in der Praxis, daß 14jährige Jugendliche ihr sexuelles Objekt bewußt konturiert haben und in der Lage sind, eigene sexuelle Interessen zu artikulieren.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Das ist schon viel länger als fünf Minuten!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1204129200
Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit um eine Minute überzogen. Wegen fünf Minuten habe ich das erlaubt. Aber jetzt wäre eigentlich der Anlaß, den Satz zu Ende zu bringen und aufzuhören.

(Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/ CSU]: Das ist doch unappetitlich!)


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1204129300
Jugendliche weisen heute, ausgehend von ihrer Lebensrealität, jegliche neue Sexualstrafvorschrift als weltfremd zurück.

(Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/CSU]: Das ist doch Verbalpornographie!)

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1204129400
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Alle anderen Reden sind zu Protokoll gegeben worden.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 12/850 an den Rechtsausschuß zu überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ Linke Liste Einsetzung eines Untersuchungsausschusses

(Stasi-Unterlagen)

— Drucksache 12/881 —Überweisungsvorschlag : Innenausschuß
Interfraktionell ist für die Aussprache eine FünfMinuten-Runde vereinbart worden. Aber es ist auch vereinbart worden, daß die Reden zu Protokoll gegeben werden können. Dies ist, soweit ich informiert worden bin, inzwischen geschehen. Sind Sie mit der Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? — Dies ist der Fall. Es ist mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen.*)
Es wird vorgeschlagen, den Antrag auf Drucksache 12/881 an den Innenausschuß zu überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich darf Sie nun aufklären, warum die Drucksache 12/1108 zusätzlich an den Sportausschuß überwiesen worden ist. Es geht hier auch um Sportboote und die Besteuerung von Sportbooten. Insoweit ist der Sportausschuß zu Recht einbezogen worden. Das nur, damit keine Unklarheiten auftauchen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der SPD)

Außerdem erteile ich dem Kollegen Dr. Kurt Faltlhauser in Abwesenheit einen Ordnungsruf, weil er den Kollegen Briefs als den übelsten und dümmsten Polemiker des Bundestags bezeichnet hat. Dies ist unparlamentarisch.
Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 20. September 1991, 9 Uhr ein und schließe damit die Sitzung. Gute Nacht!