Protokoll:
12033

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 12

  • date_rangeSitzungsnummer: 33

  • date_rangeDatum: 19. Juni 1991

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 23:26 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 12/33 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 33. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Inhalt: Verabschiedung des Direktors beim Deutschen Bundestag Dr. Joseph Bücker 2547 A Bestimmung des Abg. Lothar de Maizière zum ordentlichen Mitglied im Vermittlungsausschuß anstelle des ausgeschiedenen Abg. Ulrich Klinkert 2547 C Nachträgliche Überweisungen von Vorlagen an Ausschüsse 2547 C Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 2547 D Tagesordnungspunkt 2: Überweisung im vereinfachten Verfahren: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes (Drucksache 12/471) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 1: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Ausschuß zur Kontrolle der einigungsbedingten Fördermittel des Bundes für Kultureinrichtungen (Kontrolle Kulturelle Fördermittel) (Drucksache 12/790) 2548 B Zusatztagesordnungspunkt 2: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Zum KSZE-Expertentreffen über nationale Minderheiten in Genf vom 1. bis 19. Juli 1991 (Drucksache 12/796) Reinhard Freiherr von Schorlemer CDU/ CSU 2548 C Freimut Duve SPD 2549 C Freimut Duve SPD 2549D, 2557 C Ulrich Irmer FDP 2552 B Angela Stachowa PDS/Linke Liste 2553 B Hartmut Koschyk CDU/CSU 2553 D Helmut Schäfer, Staatsminister AA 2554 B Hartmut Koschyk CDU/CSU 2555 C Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU 2557 A Zusatztagesordnungspunkt 3: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Zur Krise in Jugoslawien (Drucksache 12/795) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP: Zur Lage in Kosovo (Drucksache 12/797) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Beratung des Antrags des Abgeordneten Gerd Poppe und der Gruppe Bündnis 90/ DIE GRÜNEN: Zur Lage in Kosovo (Drucksache 12/780) Friedrich Vogel (Ennepetal) CDU/CSU 2558 B Dr. Peter Glotz SPD 2559 D II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Dr. Olaf Feldmann FDP 2562 C Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste 2563 A Heinrich Lummer CDU/CSU 2563 C Helmut Schäfer, Staatsminister AA 2564 B Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD 2565 A Tagesordnungspunkt 3: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Einrichtung eines baltischen Informationsbüros in der Bundesrepublik Deutschland zu dem Antrag des Abgeordneten Gerd Poppe und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Einrichtung eines baltischen Informationsbüros in der Bundesrepublik Deutschland (Drucksachen 12/164, 12/166, 12/673) Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD 2566 B Helmut Sauer (Salzgitter) CDU/CSU 2567 C Dr. Cornelie von Teichman FDP 2568 B Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste 2569 A Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/ CSU 2569 C Helmut Schäfer, Staatsminister AA 2570 C Tagesordnungspunkt 4: Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneten Ursula Männle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Dr. Eva Pohl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Verordnung über die weitere Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Familien mit Kindern (Gesetz zur Einführung von Mütterunterstützung für Nichterwerbstätige in den neuen Bundesländern) (Drucksachen 12/409, 12/754, 12/755) Angelika Pfeiffer CDU/CSU 2571 D Michael Habermann SPD 2572 C Dr. Eva Pohl FDP 2573 D Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste 2574 C Hannelore Rönsch, Bundesministerin BMFuS 2574 D Tagesordnungspunkt 5: — Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 146 GG) (Drucksachen 12/656, 12/794) — Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Verfahren zur Durchführung des Volksentscheides nach Artikel 146 Abs. 2 des Grundgesetzes (G Artikel 146 Abs. 2) (Drucksachen 12/657, 12/794, 12/801) Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD . 2576A, 2584 C Norbert Geis CDU/CSU 2580B, 2585 A Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD 2581 C Uwe Lambinus SPD 2582 A Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 2585 B Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU 2585 C Norbert Geis CDU/CSU 2585 D Franz Heinrich Krey CDU/CSU 2586 B Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD 2586 C Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste 2587 A Jörg van Essen FDP 2588 A Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU 2589B, 2592 A Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste (Erklärung nach § 30 GO) 2591 D Wolfgang Lüder FDP (Erklärung nach § 31 GO) 2592 B Namentliche Abstimmung 2633 B Ergebnis 2638 C Zusatztagesordnungspunkt 6: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur Förderung von Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen im Beitrittsgebiet sowie zur Änderung steuerrechtlicher und anderer Vorschriften (Steueränderungsgesetz 1991 — StÄndG 1991) (Drucksachen 12/219, 12/402, 12/459, 12/562, 12/698, 12/768) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz über Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haushalte sowie über strukturelle Anpassungen in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet (Haushaltsbegleitgesetz 1991 — HBeglG 1991) (Drucksachen 12/221, 12/401, 12/461, 12/581, 12/697, 12/769) Dr. Peter Struck SPD 2592 D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 III Tagesordnungspunkt 6: Beratungen ohne Aussprache a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Dritten Änderung des Übereinkommens über den Internationalen Währungsfonds (Drucksachen 12/336, 12/791) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Mitteilung über eine Eisenbahnpolitik der Gemeinschaft: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen in der Gemeinschaft Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1191/69 über das Vorgehen der Mitgliedstaaten bei mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes verbundenen Verpflichtungen auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über die Schaffung eines Hochgeschwindigkeitsnetzes für Eisenbahnen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 75/130/EWG über die Festlegung gemeinsamer Regeln für bestimmte Beförderungen im kombinierten Güterverkehr zwischen Mitgliedstaaten (Drucksachen 12/210 Nr. 162, 12/701) c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über ein spezifisches Programm für Forschung und technologische Entwicklung im Bereich der nuklearen Sicherheit bei der Kernspaltung (1990 bis 1994) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Entscheidung des Rates zur Annahme eines spezifischen Programms für Forschung und technologische Entwicklung auf dem Gebiet der kontrollierten Kernfusion (1990 bis 1994) Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur Billigung der Änderung der Satzung des Gemeinsamen Unternehmens Joint European Torus (JET), Joint Undertaking (Drucksachen 12/210 Nr. 176, 12/152 Nr. 61, 12/702) d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Fünfzehnte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung (Drucksachen 12/333, 12/760) e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Vierundsiebzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung — (Drucksachen 12/334, 12/761) f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Fünfundsiebzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung — (Drucksachen 12/482, 12/762) g) Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Vierzehnte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung (Drucksache 12/268) h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 18 zu Petitionen (Drucksache 12/684) i) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 20 zu Petitionen (Drucksache 12/747) j) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 21 zu Petitionen (Drucksache 12/748) 2593 C Tagesordnungspunkt 1: Fragestunde — Drucksachen 12/366 vom 14. Juni 1991 und 12/799 vom 18. Juni 1991 — Zwangsdeportationen von in Kuwait lebenden Irakern; Maßnahmen gegen die Men- IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 schenrechtsverletzungen durch die kuwaitische Regierung DringlAnfr 1, 2 Dr. Klaus Kübler SPD Antw StMin Helmut Schäfer AA 2595A, C ZusFr Dr. Klaus Kübler SPD 2595B, 2596 B ZusFr Monika Ganseforth SPD 2595 C, 2596D ZusFr Rudolf Bindig SPD 2596 C Finanzielle Hilfen für die Kommunen zur Entsorgung des Belags „Kieselrot" aus Freizeitanlagen MdlAnfr 1 Karl Stockhausen CDU/CSU Antw PStSekr Bernd Schmidbauer BMU 2597A ZusFr Karl Stockhausen CDU/CSU 2597B ZusFr Marion Caspers-Merk SPD 2597 D Verwendung von Hydrauliköl auf biologischer Basis (z. B. Rapsöl) bei Bundespost, Bundesbahn, Zoll, Bundeswehr, BGS usw. MdlAnfr 2 Karl Stockhausen CDU/CSU Antw PStSekr Bernd Schmidbauer BMU 2598 A ZusFr Karl Stockhausen CDU/CSU 2598 B Rentenversicherung für freischaffende Künstler in den neuen Bundesländern MdlAnfr 4 Angela Stachowa PDS/Linke Liste Antw PStSekr Horst Günther BMA 2598 C Ausbau der Ems nach Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung; Bereitstellung von Bundesmitteln; Annahme der Unterschriftenliste zur Erhaltung des Wasserstraßen-Maschinenamts Rendsburg durch BMin Dr. Krause MdlAnfr 7, 8 Ulrike Mehl SPD Antw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV 2599A, B ZusFr Ulrike Mehl SPD 2599B, C ZusFr Jürgen Koppelin FDP 2599 D ZusFr Rudolf Bindig SPD 2599 D ZusFr Dr. Hermann Scheer SPD 2600 A Verfassungsmäßigkeit von Nahverkehrsabgaben MdlAnfr 9, 10 Ingrid Walz FDP Antw PStSekr Wolfgang Gröbl FDP 2600 A ZusFr Ingrid Walz FDP 2600 C ZusFr Rudolf Bindig SPD 2600 D ZusFr Dr. Margrit Wetzel SPD 2601 B ZusFr Otto Schily SPD 2601 C ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos 2602 D Kosten für die Asbest-Sanierung MdlAnfr 13 Otto Schily SPD Antw PStSekr Jürgen Echternach BMBau 2602 A ZusFr Otto Schily SPD 2602 B ZusFr Dr. Nils Diederich (Berlin) SPD 2602 C Sanierung von Gastronomiebetrieben in den neuen Bundesländern MdlAnfr 14 Jürgen Koppelin FDP Antw PStSekr Jürgen Echternach BMBau 2602 D ZusFr Jürgen Koppelin FDP 2603 B ZusFr Dr. Rolf Olderog CDU/CSU 2603 C ZusFr Dr. Olaf Feldmann FDP 2603 D ZusFr Ulrich Schmalz CDU/CSU 2604 A ZusFr Klaus Brähmig CDU/CSU 2604 B ZusFr Jürgen Türk FDP 2604 C Bewertung von Rüstungsausgaben im Zusammenhang mit der Vergabe von Entwicklungshilfe MdlAnfr 20 Jürgen Augustinowitz CDU/CSU Antw PStSekr Hans-Peter Repnik BMZ 2604 C ZusFr Jürgen Augustinowitz CDU/CSU 2605 B ZusFr Rudolf Bindig SPD 2605 C ZusFr Josef Grünbeck FDP 2605 D ZusFr Gernot Erler SPD 2606 A ZusFr Ingrid Walz FDP 2606 B Entwicklungspolitische Gespräche mit chinesischen Regierungsvertretern seit Juni 1989 MdlAnfr 21 Jürgen Augustinowitz CDU/CSU Antw PStSekr Hans-Peter Repnik BMZ 2606 C ZusFr Jürgen Augustinowitz CDU/CSU 2607 A ZusFr Otto Schily SPD 2607 B ZusFr Dr. Harmut Soell SPD 2607 B ZusFr Gernot Erler SPD 2607 C ZusFr Rudolf Bindig SPD 2607 D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 V Einholung der Ermittlungsergebnisse von amnesty international über die Lage der Menschenrechte vor einer Erörterung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit Marokko und der Türkei MdlAnfr 22, 23 Rudolf Bindig SPD Antw PStSekr Hans-Peter Repnik BMZ 2608A, C ZusFr Rudolf Bindig SPD 2608B, D ZusFr Dr. Ingomar Hauchler SPD 2609 A ZusFr Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste . 2609 B Absicht der politischen und psychologischen Beeinflussung der ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes laut Strategiepapier des Zentralkomitees der KPdSU MdlAnfr 25 Ortwin Lowack fraktionslos Antw StMin Helmut Schäfer AA 2609 C ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos 2609 C ZusFr Gernot Erler SPD 2610A Beginn der amerikanisch-sowjetischen SNF- Verhandlungen MdlAnfr 26 Dr. Hermann Scheer SPD Antw StMin Helmut Schäfer AA 2610 B ZusFr Dr. Hermann Scheer SPD 2610B ZusFr Otto Schily SPD 2610 C ZusFr Katrin Fuchs (Verl) SPD 2610 D Zeitvorstellungen für den Beginn der amerikanisch-sowjetischen SNF-Verhandlungen; Überlegungen der amerikanischen Regierung zum Verzicht auf amerikanisch-sowjetische Verhandlungen MdlAnfr 27, 28 Manfred Opel SPD Antw StMin Helmut Schäfer AA 2611 A ZusFr Manfred Opel SPD 2611 B Zusatztagesordnungspunkt 8: Aussprache zum Stationierungskonzept der Streitkräfte Albrecht Müller (Pleisweiler) SPD 2611D Claire Marienfeld CDU/CSU 2613 A Jutta Braband PDS/Linke Liste 2614 A Jürgen Koppelin FDP 2615 A Vera Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE 2616B Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär BMWI 2617B Gerhard Neumann (Gotha) SPD 2618B Karl Stockhausen CDU/CSU 2619 C Günther Friedrich Nolting FDP 2620 C Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister BMVg 2621 D Brigitte Schulte (Hameln) SPD 2622 C Dr. Egon Jüttner CDU/CSU 2623 D Manfred Opel SPD 2624 C Hans Raidel CDU/CSU 2625 C Thomas Kossendey CDU/CSU 2626 C Zusatztagesordnungspunkt 9: Aktuelle Stunde betr. Verhalten der Bundesregierung bezüglich der geplanten Einlagerung von radioaktiven Abfällen in das Zwischenlager Gorleben und Berücksichtigung der Bedenken der betroffenen Bevölkerung und der Landesregierung von Niedersachsen Jutta Braband PDS/Linke Liste 2628 B Klaus Harries CDU/CSU 2629 B Arne Fuhrmann SPD 2630 B Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann FDP 2631B Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 2632 B Tagesordnungspunkt 7: Beratung des Berichts des Petitionsausschusses: Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahre 1990 (Drucksache 12/683) Dr. Gero Pfennig CDU/CSU 2633 D Horst Peter (Kassel) SPD 2636 A Günther Friedrich Nolting FDP 2640 C Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 2642 C Martin Göttsching CDU/CSU 2644 A Lisa Seuster SPD 2645 A Birgit Homburger FDP 2646 D Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste 2649 B Günther Friedrich Nolting FDP 2650 D Gertrud Dempwolf CDU/CSU 2651 A Bernd Reuter SPD 2652 A Dr. Reinhard Göhner CDU/CSU 2652 C Steffen Kampeter CDU/CSU 2654 A Tagesordnungspunkt 8: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP: Umsetzung der EG-Richtlinien auf dem Gebiet des öffentlichen Auftragswesens (Drucksache 12/770) VI Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Dr. Hermann Schwörer CDU/CSU 2655 D Gabriele Iwersen SPD 2657 A Dr. Heinrich L. Kolb FDP 2658 D Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär BMWi 2659 D Georg Brunnhuber CDU/CSU 2660 C Tagesordnungspunkt 9: Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia Nolte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Fristverlängerung zur Antragstellung auf Aufhebung von Zwangsadoptionen (Drucksache 12/763) 2661 D Tagesordnungspunkt 11: Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nationale und internationale Konsequenzen der ökologischen Auswirkungen des GolfKrieges (Drucksache 12/779) Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 2662 B Dr. Norbert Rieder CDU/CSU 2663 D Dr. Klaus Kübler SPD 2664 B Birgit Homburger FDP 2665 D Dr. Klaus Kübler SPD 2666C, 2668 B Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär BMU 2667 D Tagesordnungspunkt 10: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Minderung der Ozon-Belastung — Maßnahmen zur Bekämpfung des Sommer-Smogs (Drucksache 12/772) Dr. Liesel Hartenstein SPD 2670 D Dr. Peter Paziorek CDU/CSU 2672 C Dr. Jürgen Starnick FDP 2673 D Dr. Liesel Hartenstein SPD 2674 B Jutta Braband PDS/Linke Liste 2675 B Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär BMU 2675 D Tagesordnungspunkt 12: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ursula Fischer, Dr. Hans Modrow und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Erlassung der Schulden Nicaraguas gegenüber der DDR (Drucksache 12/427) Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste 2677 C Ulrich Irmer FDP 2678 A Dr. Uwe Holtz SPD 2678 D Werner Zywietz FDP 2679 D Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 2680 B Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste 2680 C Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 2681 C Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste (Erklärung nach § 30 GO) 2682 B Werner Zywietz FDP (Erklärung nach § 30 GO) 2682 D Tagesordnungspunkt 13: Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/Linke Liste: Aufnahme des grünen Pfeils in die Straßenverkehrsordnung (Drucksache 12/728) 2683 A Tagesordnungspunkt 14: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1991 (Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 1991 — BBVAnpG 91) (Drucksache 12/732) 2683 B Zusatztagesordnungspunkt 10: Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Walter Franz Altherr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie des Abgeordneten Dr. Uwe Holtz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Fraktion der FDP und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Westsahara-Friedensplan der Vereinten Nationen (Drucksache 12/798) Dr. Uwe Holtz SPD 2683 C Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU 2684 B Ulrich Irmer FDP 2686A Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU 2686 C Dr. Hartmut Soell SPD 2686 D Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) CDU/ CSU 2687 A Nächste Sitzung 2688 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 2689* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Zusatztagesordnungspunkt 2 — Antrag betr. KSZE-Expertentreffen über nationale Minderheiten in Genf vom 1. bis 19. Juli 1991 — Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 2689* B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 VII Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zu den Zusatztagesordnungspunkten 3, 4 und 5 — Anträge betr. Krise in Jugoslawien und zur Lage in Kosovo — Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 2690* B Anlage 4 zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 3 — Anträge betr. Einrichtung eines baltischen Informationsbüros der Bundesrepublik Deutschland — Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 2691* B Anlage 5 zu Protokoll gegebene Reden zu Zusatztagesordnungspunkt 9 — Aktuelle Stunde — betr. Verhalten der Bundesregierung bezüglich der geplanten Einlagerung von radioaktiven Abfällen in das Zwischenlager Gorleben und Berücksichtigung der Bedenken der betroffenen Bevölkerung und der Landesregierung von Niedersachsen Dr. Harald Kahl CDU/CSU 2692* A Horst Kubatschka SPD 2692* D Dr. Paul Laufs CDU/CSU 2693* B Dietmar Schütz SPD 2694* A Heinrich Seesing CDU/CSU 2694* D Harald B. Schäfer (Offenburg) SPD 2695* B Wolfgang Ehlers CDU/CSU 2696* A Dr. Jürgen Starnick FDP 2696* C Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU 2697* B Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 9 — Antrag betr. Fristverlängerung zur Antragstellung auf Aufhebung von Zwangsadoptionen — Hannelore Rönsch, Bundesministerin BMFuS 2698 * B Dr. Michael Luther CDU/CSU 2698* D Dr. Eckhart Pick SPD 2699* C Sabine Leutheusser-Schnarrenberger FDP 2700 * C Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste 2701* B Rainer Funke, Parl. Staatssekretär BMJ 2701 * C Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 11 — Antrag betr. nationale und internationale Konsequenzen der ökologischen Auswirkungen des Golf-Krieges — Jutta Braband PDS/Linke Liste 2702* B Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 12 — Antrag betr. Erlassung der Schulden Nicaraguas gegenüber der DDR — Klaus Jürgen Hedrich CDU/CSU 2703* B Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 13 — Antrag betr. Aufnahme des grünen Pfeils in die Straßenverkehrsordnung — Jutta Braband PDS/Linke Liste 2704* A Eduard Oswald CDU/CSU 2704* C Dr. Dietmar Matterne SPD 2705 * B Dr. Klaus Röhl FDP 2705* D Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär BMV 2706* B Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 14 — Erste Beratung zum Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 1991 — Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU 2706* D Fritz Rudolf Körper SPD 2708* A Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 2709* C Manfred Richter (Bremerhaven) FDP 2710* B Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Rede zu Zusatztagesordnungspunkt 10 — Antrag betr. Westsahara-Friedensplan der Vereinten Nationen — Helmut Schäfer, Staatsminister AA 2711* D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2547 33. Sitzung Bonn, den 19. Juni 1991 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage i Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Becker-Inglau, Ingrid SPD 19. 06. 91 Berger, Johann Anton SPD 19. 06. 91 Genscher, Hans-Dietrich FDP 19. 06. 91 Dr. Gysi, Gregor PDS 19. 06. 91 Jung (Düsseldorf), Volker SPD 19. 06. 91 Kolbe, Regina SPD 19. 06. 91 Lohmann (Lüdenscheid), CDU/CSU 19. 06. 91 Wolfgang Mischnick, Wolfgang FDP 19. 06. 91 Molnar, Thomas CDU/CSU 19. 06. 91 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 19. 06. 91 * Pfuhl, Albert SPD 19. 06. 91 Dr. Ramsauer, Peter CDU/CSU 19. 06. 91 Rennebach, Renate SPD 19. 06. 91 Dr. Riedl (München), CDU/CSU 19. 06. 91 Erich Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 19. 06. 91 Dr. Seifert, Ilja PDS 19. 06. 91 Titze, Uta SPD 19. 06. 91 Zierer, Benno CDU/CSU 19. 06. 91 * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Zusatztagesordnungspunkt 2 - Antrag betr. KSZE-Expertentreffen über nationale Minderheiten in Genf vom 1. bis 19. Juli i991 - Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Seit Jahrzehnten bemühen sich die Vereinten Nationen, ausgehend von Art. 27 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte, um eine Konkretisierung der Rechte von Minderheiten. Trotz intensiver Anstrengungen der UN-Menschenrechtskommission sind diese Bemühungen aber bis heute nicht so recht vom Fleck gekommen. Nach wie vor geht es um Probleme wie eine umfassende und gleichzeitig akzeptable Definition des Minderheitenbegriffes und die Frage, ob eher die Stärkung des individualrechtlichen Ansatzes oder die Stärkung kollektiver Rechte im Vordergrund stehen sollten. Obwohl formal zu diesem Thema weiter als alle anderen internationalen Gremien, sind auch die Versuche des Europarates, dem Ziel einer Konvention zum Schutz von Minderheiten näher zu kommen, in Anlagen zum Stenographischen Bericht den letzten Jahren ins Stocken geraten. Erst in allerjüngster Zeit gewinnen die Bemühungen des Europarates, angeregt durch die positive Entwicklung des KSZE-Prozesses, wieder an Profil. Bereits dieses Beispiel macht das aktuelle Gewicht der Minderheitendebatte im Rahmen der KSZE deutlich. Auch wir begrüßen deshalb nachdrücklich das Schlußdokument der KSZE-Konferenz von Kopenhagen. In ihm sind zur Frage der Minderheiten auf einer gesamteuropäischen Ebene erstmals Formulierungen gefunden worden, die den Weg zu einer völkerrechtlich verbindlichen Kodifizierung des Minderheitenschutzes eröffnen könnten. Auch das KSZE-Expertentreffen über nationale Minderheiten in Genf wird von uns als ein wichtiger Schritt auf diesem Wege angesehen, dessen positiver Einfluß auf die Minderheitendebatte in der UNO, im Europarat und im Europäischen Parlament sehr hoch eingeschätzt werden muß. Gleichzeitig jedoch macht bereits das Schlußdokument von Kopenhagen deutlich, wie weit wir noch von einem umfassenden Minderheitenschutz entfernt sind. Es setzt einmal einen starken Akzent auf die Festlegung von individuellen Rechten, deren weiterer Ausbau und deren gemeinsame Ausübung Gegenstand des Genfer Expertentreffens sein werden. Das begrüßen wir. Gleichzeitig beschränkt sich das Schlußdokument aber auf die Benennung allein von „nationalen" Minderheiten und gibt damit gewissermaßen der Hilflosigkeit der Kopenhagener Konferenz in bezug auf eine problemgerechtere, umfassendere Definition des Minderheitenbegriffs Ausdruck. Erfaßt werden von dieser Definition nur Staatsbürger eines Landes, die sich zu einer bestimmten Minderheit bekennen. Außen vor bleiben dagegen das Millionenheer der Arbeitsmigranten und ihrer Familien in allen Ländern Westeuropas, asylberechtigte, geduldete und illegale Flüchtlinge. Außen vor bleibt auch das Selbstbestimmungsrecht von nationalen Mehrheiten, die sich in ihnen aufgezwungenen größeren Staatsverbänden bestenfalls als Minderheiten geringeren Rechts artikulieren können; Kosovo-Albaner, die Völker im Balitikum, um nur Beispiele zu nennen. Alle diese wirklichen und aktuellen Minderheitsprobleme in Europa werden vom gegenwärtigen Stand der Minderheitendebatte auf KSZE-Ebene - noch - nicht erfaßt; und folglich auch nicht das individuelle und kollektive Elend der Betroffenen, das Ausspielen der einen Minderheit gegen die andere, die realen sozialen und menschlichen Probleme, die mit juristisch klugen und korrekten Vereinbarungen allein nicht bewältigt werden können. Wir würden uns deshalb wünschen, daß die Delegation der Bundesrepublik - über ihr auch von uns begrüßtes Verhandlungsziel des Ausbaus gemeinsamer Ausübung individueller Rechte hinaus - der Definitionsproblematik große Aufmerksamkeit widmet. Anregungen und Hilfe dazu kommen sicherlich auch 2690* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 von den Experten und Expertinnen der Nichtregierungsorganisationen, die sich in Genf erstmals an den Verhandlungen beteiligen können. Wir müssen erkennen, daß die Minderheitendebatte im europäischen Kontext trotz jahrelanger Bemühungen erst ganz am Anfang steht. Wir sehen aber auch, daß sie durch die hohe Aktualität, die sie im Rahmen des KSZE-Prozesses gewonnen hat, einen positiven, nach vorn weisenden Schub bekommen hat. Gleichwohl ist zu erwarten, daß Widerstände gegen eine weitergehende Festschreibung des Minderheitenschutzes nicht nur aus den Ländern Osteuropas kommen werden, die nach dem Ende der Ordnung von Jalta durch eine Phase ungeklärter Nationalitätenkonflikte gehen. Auch manche unserer westeuropäischen Nachbarländer haben deutlich gemacht, daß ihnen aus sehr verschiedenen Gründen bereits die in Kopenhagen vereinbarten Prinzipien zum Minderheitenschutz viel zu weit gehen. Gerade deshalb halten wir den KSZE-Prozeß, der sich bei der Durchsetzung der Menschenrechte in ganz Europa hervorragend bewährt hat, für die zur Zeit wichtigste internationale Ebene, um mit Geduld und gegenseitigem Verständnis die Bereitschaft zum gleichberechtigten Zusammenleben innerhalb der Gesellschaften Europas weiterzuentwickeln, ohne die jedes verbriefte Minderheitenstatut, sei es noch so umfassend, bloße Makulatur bliebe. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zu den Zusatztagesordnungspunkten 3, 4 und 5 — Anträge betr. Krise in Jugoslawien und zur Lage in Kosovo — Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Daß die staatliche Zukunft Jugoslawiens vom Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft und damit des Erbes von Tito unberührt bleiben würde, glaubte spätestens nach den Entwicklungen im vorigen Jahr kaum noch einer der politischen Beobachter der dortigen Situation. Zu offensichtlich war der über 40 Jahre mühsam unterdrückte Konflikt, zu wenig überzeugend die Klammer kommunistischer Ideologie. Überraschend allerdings war die enorme Sprengkraft, die ihm innewohnt, und seine sich nur allmählich offenbarende Komplexität. Schließlich handelt es sich um eine Mischung aus historischen, ökonomischen, kulturellen, nationalen und sozialen Problemen, die einander überlagern und beeinflussen. Lange Zeit dominierte in der Sicht westeuropäischer Politik auf die Entwicklung in Jugoslawien die Vorstellung, man könne die Entscheidung über dessen unveränderten staatlichen Zusammenhalt durch Appelle an die Aufrechterhaltung eines einzigen verbindlichen Partners in Gestalt der jugoslawischen Bundesregierung, verbunden mit der Drohung ökonomischer Sanktionen, beeinflussen. Dem lag nicht nur die Unterschätzung der Eigendynamik zugrunde, die nach der Entfernung des Deckels kommunistischer Herrschaft vom brodelnden Topf des jugoslawischen Völkergemischs einsetzte. Falsch war auch die Vorstellung, den westeuropäischen Standard grenzüberschreitender Integration von Nationen auf die Situation in Jugoslawien anwenden zu können. Dieser Standard ist im übrigen auch in dem doch so demokratischen und pluralistischen Westeuropa keineswegs erreicht, wie Beispiele von Nordirland über Belgien bis Korsika zeigen. Inzwischen hat sich längst erwiesen, daß die Realität diese Vorstellungen überholt hat. Um so begrüßenswerter ist es, daß — nicht zuletzt infolge eigener Anschauung einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses — sich auch in der Mehrheit der Parteien im Bundestag eine realitätsgerechtere Auffassung durchgesetzt hat. Ausdruck dieser veränderten Haltung zur Entwicklung in Jugoslawien ist der heute vorliegende Antrag. Hier wird konstatiert, daß „die bisherige Grundlage des Zusammenlebens nicht mehr die ausreichende Zustimmung aller Völker Jugoslawiens findet und daß es deshalb erforderlich ist, eine neue Grundlage zu vereinbaren". Betont wird dabei die Notwendigkeit rechtsstaatlicher und demokratischer Grundlagen für die Möglichkeit der Ausübung von Selbstbestimmung. Eine auf solcher Grundlage getroffene Entscheidung aller einzelnen Völker in Jugoslawien ist auch dann zu akzeptieren, wenn das Ergebnis die Aufgabe der bisherigen Föderation zugunsten einer Konföderation oder sogar noch weitergehender Souveränität ist. Daß ein solcher Umwandlungsprozeß nicht gewaltsam, sondern in einem geordneten Prozeß ablaufen sollte, der auch den Interessen der betroffenen Nationen in Jugoslawien dient, versteht sich von selbst. Wenn die Entscheidung über ihre staatliche Zukunft eine Sache der Völker in Jugoslawien ist, in die einzumischen sich verbietet, so gebieten die Behinderung des Selbstbestimmungsrechts und die Verweigerung grundlegender Menschenrechte, sich deutlich dazu zu äußern. „Die Forderung nach Achtung der Rechte nationaler Minderheiten als Teil des international anerkannten Menschenrechtsschutzes stellt keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten dar. " So heißt es in dem heute vom Bundestag beschlossenen Antrag zum KSZE-Expertentreffen über nationale Minderheiten. Die Rede ist jetzt von der massiven Verletzung der Menschenrechte durch die serbische Regierung im Kosovo. Dabei ist zunächst ohne Belang, ob die Albaner eine nationale Minderheit in Serbien oder das Volk des Kosovo sind. Worum es geht und gehen muß, ist die klare Verurteilung der Serbischen Politik gegenüber der albanischen Bevölkerung. Dies betrifft die Aussetzung der Autonomie des Kosovo, die Auflösung des dortigen Parlaments, die sich steigernde Kampagne in Serbien gegen den Anspruch der Albaner auf Respektierung, vor allem und zunächst aber die kontinuierliche Verletzung elementarer Menschenrechte. Es mag sein, daß nicht jeder Bericht über jeden Vorfall im Kosovo einer objektiven Überprüfung standhielte. Wie sollte es anders sein in einem Land, in dem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2691* Öffentlichkeit die Gestalt von Gerüchten haben muß, da die Zensur freie Berichterstattung bestraft, in dem rechtsstaatliche Ermittlungen nicht oder nur manipuliert möglich sind, in dem Verfassungen nach Belieben geändert, Gesetze erlassen, ausgesetzt, eingehalten werden ausschließlich nach machtpolitischer Interessenlage, in einem Land, in dem politische Gegner zu Tausenden inhaftiert, Menschen auf offener Straße erschossen werden? Deshalb ist die Untersuchung der Situation der Menschenrechte im Kosovo durch eine unabhängige — und das bedeutet nach Lage der Dinge durch eine internationale — Kommission erforderlich. In diesem Punkt ist dem gemeinsamen Antrag der Koalitionsparteien und der SPD zuzustimmen. In allen anderen Punkten aber trifft dieser Antrag weder die Situation im Kosovo noch reagiert er angemessen auf diese. Wenn dies selbst jemand wie Viktor Meier in der „FAZ" von gestern bemerkt, zeigt es nur, wie weit entfernt von den Realitäten die Schlußfolgerungen der Abgeordneten liegen, deren Eindrücke im Kosovo dem Antrag von CDU/CSU, SPD und FDP zugrunde liegen. Unsere Schlußfolgerungen aus den vielen vorliegenden Informationen zum Thema Kosovo sind andere. Am dringlichsten ist unserer Meinung nach die Aufforderung an die serbische Regierung zur Veränderung ihrer allen demokratischen und Menschenrechtsnormen Hohn sprechenden Kosovo-Politik — nicht nur wegen der skandalösen Zustände im Kosovo, sondern auch wegen der unmittelbaren Gefahr gewaltsamer Konflikte, die dadurch permanent und zunehmend provoziert werden. Deshalb hielten wir es für nötig, einen eigenen Antrag zu stellen, der sich in dieser Zielstellung von dem der Regierungsparteien und der SPD unterscheidet. Wir können nur hoffen, daß die Mitglieder des Deutschen Bundestages genügend Problembewußtsein entwickeln, ihn gemeinsam mit uns zu beschließen. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 3 — Anträge betr. Einrichtung eines baltischen Informationsbüros in der Bundesrepublik Deutschland — Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Der heute zur Beschlußfassung vorgelegte Entschließungsantrag hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Sie begann mit einem Antrag unserer Gruppe Ende Februar, der aber zunächst nicht einmal auf die Tagesordnung kam. Ziel und Zeitpunkt schienen der Mehrheit des Hauses nicht opportun. Vorrangig war dieser, die Ratifizierung des Zwei-plus-Vier-Abkommens durch den Obersten Sowjet der UdSSR als letzten Schritt zur Souveränität Deutschlands nicht mit unnötigen Risiken zu belasten. Hier aber sollte den Bemühungen der baltischen Republiken um Selbstbestimmung — und das hieß in diesem Zusammenhang: um Souveränität gegenüber der sowjetischen Zentralmacht — praktische Unterstützung zuteil werden. Daß es hierbei im Baltikum auch um den Versuch geht, Demokratisierung und Wirtschaftsreform gegen die Offensive der Konservativen in der Sowjetunion, den Widerstand des Partei- und Staatsapparates gegen die Perestroika und die zumindest unklare Rolle Gorbatschows dabei zu verteidigen, blieb unbeachtet oder auch unverstanden. Nicht nur wurde der Loyalität gegenüber der Moskauer Zentrale Priorität eingeräumt, sondern man überschätzte auch deren noch vorhandene Macht. Trotz derlei Bedenken bedeutete unsere Initiative einen Impuls, der zu einem in der Substanz gleichen Antrag der SPD führte und in der Folge zur Überweisung beider Anträge in den Ausschuß. Beide beriefen sich — und wie sich zu unserer Befriedigung nun herausstellt, mit Recht und mit Erfolg — auf die gemeinsame Erklärung zur Lage, mit der der Bundestag am 14. Januar die baltischen Völker seiner Unterstützung versichert hatte. Informationsbüros und Goethe-Institute sind keine diplomatischen Vertretungen. Ihre Aufgaben sind anderer Art. Aber ihre Bedeutung ist wohl kaum geringer einzuschätzen. Die Konzeption, die im Baltischen Informationsbüro in Deutschland zugrunde liegt — in Anlehnung an die bereits seit längerem im Aufbau befindlichen in Kopenhagen und Stockholm — , macht dies deutlich. Neben Informationen über das aktuelle Geschehen und Entwicklungstendenzen in den baltischen Republiken sollen Institutionen, Verbänden und Organisationen, Wirtschaftsunternehmen, interessierten Menschen, kurz, der Gesellschaft in Deutschland insgesamt auch Kenntnisse über soziale und ökologische Probleme, Geschichte und Kultur, Möglichkeiten wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Austauschbeziehungen bis hin zum Tourismus vermittelt werden. Die potentielle Wirksamkeit derartiger Einrichtungen kann kaum unterschätzt werden. Selbstverständlich gilt dies auch umgekehrt. Darüber hinaus kann die Haltung des Bundestages auch ein Anstoß für den weiteren Ausbau der Beziehungen zwischen Städten im Baltikum und in Deutschland sein. In diesem Zusammenhang sind Initiativen wie die des Ost-West-Forums in Bremen, einer Partnerschaft von Riga, zur Gründung eines baltischen Informationszentrums ausdrücklich zu begrüßen. Die Einrichtung eines baltischen Informationsbüros in Deutschland und eines Goethe-Instituts im Baltikum ist ein richtiger und angemessener Schritt. Gleichzeitig kann es aber auch nur ein erster Schritt sein. Worauf es ankommt, ist die kontinuierliche praktische Unterstützung nicht nur im Bereich des Kulturaustauschs. Die Erfahrungen gerade auch der Opposition in der damaligen DDR zeigen, daß es eines ist, von Demokratie und Menschenrechten zu reden, und etwas ganz anderes, sie erkämpfen zu müssen. Wir wissen nur zu genau, welche Bedeutung erlebte Solidarität hat. Der Weg zu einem gemeinsamen Europa führt auch über das Baltikum. 2692* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zu Zusatztagesordnungspunkt 9 — Aktuelle Stunde — betr. Verhalten der Bundesregierung bezüglich der geplanten Einlagerung von radioaktiven Abfällen in das Zwischenlager Gorleben und Berücksichtigung der Bedenken der betroffenen Bevölkerung und der Landesregierung von Niedersachsen Dr. Harald Kahl (CDU/CSU): Die Gruppe PDS/Linke Liste bleibt sich treu. Sie beschäftigt den Bundestag mit Anfragen, Anträgen, beantragt Aktuelle Stunden, obwohl es ihr auf Grund ihres Gruppenstatus überhaupt nicht zusteht. Aber wer selbst keine Antworten weiß, selbst nicht auf die Zerwürfnisse und den galoppierenden Zerfall in den eigenen Reihen, ergeht sich in Fragen, um von den eigenen Problemen abzulenken. Daß Sie sich aber gerade der Thematik Kernenergie, radioaktiver Abfall und Lagerung annehmen, mutet geradezu grotesk an, wenn man sich der Vergangenheit einer Partei erinnert, deren Nachfolge Sie angetreten haben. Als Abgeordneter aus Ostthüringen, aus Ronneburg, dem Zentrum des Uranbergbaus in der ehemaligen DDR, weiß ich genau, wie die SED-Führungsschicht seinerzeit mit den Anfragen zur Strahlenproblematik umgegangen ist, wie die Sorgen und Nöte der Bevölkerung negiert wurden. Echtes, weil dringend erforderliches Umweltengagement beispielsweise vom kirchlichen Umweltkreis Ronneburg wurde in eine staatsfeindliche Ecke gedrängt. Wo war denn damals Ihr Engagement? Heute spielen Sie sich in geradezu unerträglicher Art und Weise als die Saubermänner der Nation auf. Sie haben damals die Menschen für dumm verkaufen wollen und versuchen heute mit durchsichtigen Methoden Angst und Verunsicherung unter den Menschen zu säen. Sie haben zuallerletzt die Legitimation, sich als Bewahrer von Natur und Umwelt aufzuspielen. Es ist bekannt, dem Greenpeace-Zug ist der Dampf ausgegangen. Die Aktionen werden müder. Waren es 1989 noch zwölf Aktionen, so zählten wir 1990 ganze fünf. Offensichtlich sind Sie auf diesen Zug aufgesprungen. Doch ich versichere Ihnen, mit Ihrer Altlast wird er noch mehr an Geschwindigkeit verlieren. Meine Damen und Herren, die Stellungnahme der Bundesregierung zu der Einlagerung radioaktiver Abfälle in Gorleben ist eindeutig. Sie lautet: Die Einlagerung der Abfälle, die aus dem belgischen Mol nach Gorleben transportiert wurden, ist Rechtens. Erstens. Auf Grund der Verwaltungsverfügungen der Staatlichen Gewerbeaufsicht Lüneburg vom 27. Mai 1990 und vom 24. Mai 1991 und in Übereinstimmung mit der Umgangsgenehmigung der Staatlichen Gewerbeaufsicht Lüneburg vom 27. Oktober 1983 reicht es für das Faßlager Gorleben aus, wenn die radioaktiven Abfälle gemäß den Prüfergebnissen den genehmigten Umgangsspezifikationen entsprechen. Hierbei kommt es nicht auf eine konkrete Zuordnung, sondern auf eine Einhaltung festgelegter Eigenschaften an. Diese Eigenschaften wurden von den aus Mol kommenden Abfällen erfüllt. Zweitens. Der TÜV Hannover hat in seinem Prüfbericht keinen Zweifel daran gelassen, daß es sich bei den Abfällen um gepreßte Betriebsabfälle handelt, die aus den deutschen Kernkraftwerken Krümmel und Neckarwestheim stammen. Drittens. Seitens der Umweltministerin Niedersachsens, Frau Griefahn, als auch des Gewerbeaufsichtsamtes Lüneburg konnte kein Beweis erbracht werden, daß es sich nicht um das Material aus den beiden oben genannten Kraftwerken handelt. Frau Grief ahn mußte ihren Lagerstopp rückgängig machen. Offensichtlich sollte mit dieser Protestaktion der Versuch gemacht werden, das angekratzte Image von Greenpeace wieder aufzupolieren. In diesem Zusammenhang ist es durchaus interessant zu wissen, daß Frau Griefahn, parteilos, lange Jahre aktiv bei Greenpeace tätig war. Um so bemerkenswerter aber ist die Beurteilung ihres Mannes, Herrn Dr. Michael Braungart, der meint: Längst sei das Umweltbewußtsein der Menschen weiterentwickelt als Greenpeace selbst. Und wörtlich: „Wer sich immer noch mit Aktionen begnügt, statt konkrete Lösungen zu suchen, sei überflüssig wie eine Game Show im TV. " — „Greenpeace ist nur noch eine Ersatzreligion. Die Menschen kaufen sich für 50 DM Jahresbetrag ein gutes Gewissen. " Dem ist fast nichts hinzuzufügen. Das Anliegen der PDS/Linke Liste scheint mir vordergründig mehr dem Versuch der Selbstdarstellung zu dienen. Versuchen Sie doch bitte nicht permanent, die Menschen in Deutschland über Ihre wahren Absichten zu täuschen. So, wie sich eine Schlange noch sooft häuten mag und dennoch eine Schlange bleibt, so bleiben Sie die Sachwalter einer Gesellschaftsordnung, deren Überwindung eine Sternstunde der deutschen Geschichte war. Horst Kubatschka (SPD): Als der alte Geheimrat aus Frankfurt das Gedicht „Zauberlehrling" schrieb, hatte er da eine Vision von der Atomenergie? Zumindest hat er ein Gedicht verfaßt, daß bildhaft die Probleme der Atomenergie beschreibt. Der Besen ist aus der Ecke, er schleppt Eimer um Eimer. Sie sind nicht voller Wasser. Atommüll liegt drin. Als Forschungspolitiker suchen wir die Zauberformel, wie der Besen in die Ecke gestellt werden kann. Wenn die Formel gefunden sein sollte, muß sie ausgesprochen werden. Es besteht noch ein großer Bedarf an Wissen. Wir brauchen ein Konzept der Atommüllbeseitigung. Es ist nicht vorhanden. Bei uns nicht, in den USA nicht, in Frankreich nicht, in der UdSSR nicht. Weltweit haben wir kein Modell, wie radioaktiver Müll beseitigt werden soll. Atommüll als Abfall zu bezeichnen ist eine Verharmlosung. Die Bezeichnung Müll ist eine Verniedlichung. Das Problem wird wie eine heiße Kartoffel weitergereicht. Wie glühende Kohlen überlassen wir es den nächsten Generationen. Wie gesagt, Forschungsbedarf ist angesagt. Nicht angesagt ist die Wiederaufbereitung. Die Forschung auf dem Gebiet der Wiederaufbereitung muß beendet werden. Die notwendigen Haushaltsanträge wurden von der SPD-Fraktion gestellt. Im Haushalt 1991 sind nach wie vor 6 Millionen DM für die Wiederaufbereitungsforschung enthalten. Zusätz- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2693* lich werden 10 Millionen im Kernforschungszentrum Karlsruhe für Wiederaufbereitung verwendet. Für uns Sozialdemokraten ist direkte Endablagerung der richtige Weg. Die Entsorgung muß national organisiert werden. Jeder ist für seinen Atommüll verantwortlich. Wir brauchen daher zwei weitere Erkundungen für Endlager. Dazu sind Forschungsmittel notwendig. Wir haben die Umwidmung im Haushalt 1991 verlangt, und zwar aus Forschungsmitteln für die Wiederaufbereitung. Ich möchte aber auch klar sagen, um ein Endlager kommen wir nicht herum, auch beim Ausstieg nicht oder gerade deswegen. Außerdem sind Forschungsmittel notwendig, um die Herkunft von Atommüll aufzuklären. Der Weg des Atommülls muß festgelegt und zurückverfolgbar sein. Die beste Art Müll ist derjenige, der nicht produziert wird. Darum kurz zum Kernkraftwerk Niederaichbach. Gegen den Willen großer Teile der Bevölkerung erfolgt der Abriß. Radioaktives Material muß zwischengelagert werden, und zwar in Karlsruhe. Dies ist wahrlich kein zukunftsweisendes Projekt. Unnötig wird Atommüll erzeugt. Viele fragen: Hat dies einen Sinn? Es gibt zwei Gründe: erstens wirtschaftliche Gründe und zweitens wird die Illusion geschaffen, Atomkraftwerke könnten kurzfristig abgerissen werden. Das Kernkraftwerk Niederaichbach stellt kein Modell dar. 18 Tage Vollast und der Holzweg der deutschen Kernkraftindustrie war am Ende. Wie gesagt, der beste Müll ist der, der nicht entsteht. Gefragt ist daher der geplante Ausstieg aus der Kernenergie. Weichen müssen gestellt werden, Energiesparen ist angesagt, erneuerbare Energien sind die Zukunft. Zum Schluß möchte ich noch einmal auf Geheimrat von Goethe zurückkommen: Der Besen muß in die Ecke gestellt werden. Das Abpumpen des ausgeschütteten Wassers wird uns lange Zeit genug Sorgen bereiten. Dr. Paul Laufs (CDU/CSU): Die Fakten zu den Ereignissen am Zwischenlager Gorleben sind schnell dargestellt. Drei Container mit schwach radioaktivem Material — überwiegend zusammengepreßte Putzlappen und Schutzkleidung aus deutschen Kernkraftwerken — wurden vom belgischen Mol in das Faßlager Gorleben verbracht. Der Transport wurde zunächst durch eine Straßenblockade, später durch eine Verwaltungsverfügung des Gewerbeaufsichtsamts Lüneburg in Lüchow aufgehalten; eine Verfügung, die sich weder sachlich noch rechtlich als begründet erwies. Es kam zu massiven Blockaden durch die AntiAtomkraft-Bewegung und schließlich zur polizeilichen Räumung der Zufahrt zum Zwischenlager. Nach Polizeiangaben wurden dabei vier Demonstranten und sechs Polizisten leicht verletzt. Neun Personen wurden vorübergehend festgenommen. Es bleibt nachzutragen, daß es in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni zu Ungereimtheiten kam, die einen schlimmen Verdacht aufwerfen. Wir hören, daß der am 13. Juni um 21 Uhr auf den Weg geschickte Containertransport bei Sprakensehl von der Polizei übernommen und auf unterschiedlichen Wegen fortgesetzt wurde. Der Lkw mit dem Mol-Container wurde durch Salzwedel in Richtung Arendsee geführt und schließlich im Wald bei Schletau abgestellt. Es liegt keine rationale Erklärung für diese Umwege vor. Die Frage ist also, ob Zeit gewonnen werden sollte, bis sich die Blockierer vor Ort gruppieren konnten. Ich entnehme einer Pressemitteilung der CDU-Landtagsfraktion in Hannover von heute ein Zitat des Grünen-Abgeordneten Kempmann, wonach er sich im Niedersächsischen Landtag ausdrücklich zu politisch motivierten Straftaten bekannt und am 12. Juni 1990 erklärt haben soll, „es werde im Zusammenhang mit Atomtransporten sehr schöne Blockaden geben und werde auch zu Auseinandersetzungen und Prügeleien mit der Polizei kommen, bei denen er selbst auf der richtigen Seite stehen werde". Wir verlangen von der niedersächsischen Landesregierung, daß sie diesen höchst dubiosen Sachverhalt rückhaltlos aufklärt. Meine Damen und Herren, niemand hat jemals behauptet, daß von diesen schwach aktiven Abfällen in ihren Sicherheitsbehältern irgendwelche Gefahren für Mensch und Umwelt ausgehen. Niemand konnte gegen die Einlagerung dieser Abfälle in das dafür genehmigte Zwischenlager Gorleben fundierte rechtliche Einwände vorbringen. Auch der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder hat seine Bedenken wegen der Herkunft der Abfälle inzwischen zurückgezogen. Gleichwohl erhebt er gegen den Bundesumweltminister — so in der heutigen Presse — den unglaublich unverschämten Vorwurf der „Kumpanei mit der Atomlobby". Laut einer dpa-Nachricht von heute morgen prüft die niedersächsische Landesregierung jetzt, ob sie über einen Verwaltungsgerichtsprozeß weitere, bereits geplante Transporte von Atommüll aus Mol nach Gorleben unterbinden könne. Das Land wolle außerdem möglicherweise Bürger bei Klagen gegen die Einlagerung in Gorleben unterstützen. Dies erhellt eine düstere Sachlage, die ich wie folgt bewerten muß. Die rot-grüne Landesregierung Niedersachsens entfernt sich demonstrativ vom Gebot der Gesetzestreue und der Bundestreue. Es ist nicht zu erkennen, daß es ihr um Sicherheit und Umweltschutz geht. Sie verfolgt rigoros ihre ideologisch begründete Antikernkraftpolitik und schürt Ängste, wo überhaupt kein Anlaß besteht. Sie fügt dem Rechtsstaat schweren Schaden zu. SPD und Grüne setzen den Hebel an der Entsorgung von radioaktiven Abfällen an, um den Ausstieg aus der Kerntechnik zu erzwingen. Dazu scheint fast jedes Mittel recht zu sein. So weit ist es gekommen. Es ist bedrückend, zu erleben, wie in der Art der von Gewalt und Nötigung gekennzeichneten Greenpeace-Aktionen das Ansehen des Industriestandorts Bundesrepublik Deutschland beschädigt wird. Dies geschieht in einem Augenblick, wo wir alle Kräfte für den Aufbau in den neuen Bundesländern einsetzen müssen, die z. B. dringend eine saubere und preiswerte Energieversorgung brauchen. Die Stromwirtschaft fordert den politischen Grundkonsens zur Energiepolitik, ohne den sie keine großen Investitionen 2694 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 tätigen will. Ich heiße dies nicht gut, aber ich sehe, daß die schmerzlich erwarteten Investitionsentscheidungen aufgeschoben werden. Es zeichnet sich ab, daß Deutschland als Standort der Energieerzeugung verlorengeht. Dies mag der rot-grünen Zielsetzung entsprechen. Was gewinnen wir aber, wenn die Anlagen jenseits unserer Grenzen errichtet werden, ohne daß sie dort unseren höchsten sicherheitstechnischen Anforderungen genügen müssen? Wir verlieren ein Stück Zukunft. Ist sich die Opposition überhaupt bewußt, welchen ungeheuren Schaden sie anrichtet? Daß die Gruppe PDS/Linke Liste mit dieser Aktuellen Stunde noch ihr destruktives politisches Süpplein daraus kochen will, ist so kläglich, daß man darüber besser schweigt. Dietmar Schütz (SPD): Wer bei der Durchsetzung von Recht und Rechtspositionen nur noch Verletzungen und Betroffenheit hinterläßt, hat entweder selbst etwas sehr falsch gemacht, oder aber das Umfeld der Rechtsakzeptanz ist schon so aufgewühlt, daß bei der Rechtsdurchsetzung nur noch Verwundungen auf treten. Die Rückführung der konditionierten radioaktiven Abfälle aus Mol zum Zwischenlager Gorleben und deren Begleitumstände zeigen, daß beides — Art und Weise der Rechtsdurchsetzung — zu weiteren Verhärtungen geführt haben und daß das politische Umfeld der Atompolitik nicht nur in Gorleben nicht oder nicht mehr akzeptiert wird. Viele von uns haben noch die quälenden Vernehmungen im Transnuklearatomskandal-Untersuchungsausschuß in Erinnerung. Wir erinnern uns an die Schlampereien in Mol, bei deren Konditionierungsarbeiten keiner wußte, ob die Abfälle aus X tatsächlich wieder dorthin zurückgingen. Wir haben alle um die Unvermeidbarkeit von Querkontaminationen in Mol erfahren. Auf dem Hintergrund dieser Erfahrung, die monatelang die bundesdeutsche Öffentlichkeit beschäftigt hat, ist deshalb mit diesen ersten Rückführungen von Atommüll aus Mol sehr sensibel umzugehen. Zur Sache. Die noch in den letzten Tagen der Albrecht-Regierung geänderten Verwaltungsbestimmungen zu den Aufnahmebedingungen für das Faßlager Gorleben kennen zwar keine Beschränkungen der einzulagernden Abfälle auf solche aus bundesdeutschen Kernkraftwerken mehr — was ich aus Akzeptanzgründen für äußerst problematisch halte —, gleichwohl war der Antrag der Lagergesellschaft Gorleben ausdrücklich auf die Zulassung der Zwischenlagerung von konditionierten Mischabfällen aus den Kernkraftwerken Krümmel und Neckar-Westheim gerichtet. Ich halte es deshalb — vor allem angesichts der vergangenen Diskussion um die Atommüllschiebereien und angesichts der Akzeptanzsituation vor Ort — für mehr als legitim, daß das Umweltministerium in Hannover die Frage, woher die Mischabfälle kommen, gründlich prüfen wollte, bevor die endgültige Zwischenlagerung genehmigt wurde. Diese Forderung des Umweltministeriums nach einem lückenlosen Identitätsnachweis wird am 13. Juni gestellt. Am 14. Juni wird deshalb eine bereits erteilte endgültige Genehmigung so lange zurückgenommen, bis ein Identitätsnachweis erbracht wird. Am gleichen Tag ordnet das Bundesumweltministerium dagegen eine Zulassung der Einlagerung bis zum nächsten Tag an. Durch ausdrücklich bundesaufsichtliche Weisung am Sonntag, dem 16. Juni, wird dies durchgesetzt. Dieser sehr verkürzt dargestellte Ablauf läßt für den Beobachter der Szene nur noch den Schluß zu, daß das Weisungsinstrumentarium aus Art. 85 GG hier nur noch im Muster Befehl und Gehorsam vom Feldwebel Töpfer zu den niedersächsischen Soldaten gebraucht wurde. Ist es unsinnig, darüber nachzudenken, ob es sinnvoll ist, einen Identitätsnachweis führen zu müssen, weil es eben auch sinnvoll ist, nur eigene bundesdeutsche Abfälle wieder aufzunehmen? Wäre es nicht vernünftig gewesen, eine vorläufige Unterbringung im Faßlager zu vereinbaren, um das Identitätsproblem zu erörtern und nicht nur per Verfügung miteinander umzugehen? Kann man bundesfreundliches Verhalten von Niedersachsen nachhaltig anfordern, wenn von einem länderunfreundlichen Verhalten des Bundes durch das scharfe Handhaben bundesaufsichtlicher Instrumente gesprochen werden muß? Die Art und Weise der Rechtsdurchsetzung hat überflüssige Verletzung erzeugt, die ein Rechtsstaat so nicht zufügen sollte. Von dem Umfeld der Rechtsakzeptanz habe ich noch gar nicht gesprochen. Ich frage mich, wie lange wir, wie lange unser Staat es durchhalten will, eine völlig ungeklärte Endlagersituation vor sich herzuschieben. Wie lange will er jeden Schritt, der in Beziehung zu einem Atomkraftwerk steht, mit Polizeigewalt durchsetzen? Die Akzeptanz der Atomenergie — das zeigen immer wieder die konkreten Situationen, das zeigen aber genauso die Umfrageergebnisse — ist und bleibt nicht vorhanden. Wir müssen deshalb dazu kommen, einen energiewirtschaftlichen Konsens zu erreichen, der auf der Grundlage des Ausstiegs aus der Atomenergie erreicht werden muß. Jedenfalls kann es aber keinen energiewirtschaftlichen Konsens bei Feldwebelattitüden geben. Wer den Konsens will, darf vorher nicht nur den Büttel spielen. Heinrich Seesing (CDU/CSU): Erstens. Da gibt es eine Partei, die hat einmal laut ihrer Sorge Ausdruck gegeben, daß CDU und CSU Hindernisse sein würden auf dem nun einmal notwendigen Weg, viel und sichere Energie zu schaffen. Gemeint war die Kernenergie. Gesprochen wurden solche und ähnliche Sätze im Deutschen Bundestag Ende der 50er Jahre. Die Redner gehörten der SPD-Fraktion an. Ich muß die SPD loben, die damalige SPD. Denn es ist damals gelungen, einen weitgehenden Konsens in der Energiepolitik zu finden. Eine herausragende Stellung nahm die Kernenergie ein. Wer zur Kernenergie ja sagt, hatte auch zur Wiederaufarbeitung und zur Endlagerung ja gesagt. Die tollsten Anlagen wurden mit der SPD gebaut. Viele Kernkraftwerke produzieren Strom. Hochtemperaturreaktoren und Schnelle Brüter stehen als Denkmäler dieser SPD-Ära in deutschen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2695* Landen. Um die Abwicklung machen wir uns Sorgen, die SPD auch. Zweitens. Da gibt es eine Partei, die hat sich 1986 für eine Energiepolitik ohne Atomkraft entschieden. An Gefahren und Risiken hatte sich seit 1960 nichts geändert. Nur: eine neue Generation bestimmte die Energiepolitik der SPD. Sie bewertete diese anders als diejenigen, die für mehr Energie und damit für mehr Wohlstand eingetreten waren. Wir wissen heute, daß man Wohlstand auch mit weniger Energie erreichen kann, aber nicht ohne. Ich meine auch, daß man Kernenergie nur dann verantworten kann, wenn man die Entsorgung der Kernkraftwerke gesichert hat. Und damit meine ich nicht nur die Kernbrennstäbe, sondern auch alles das, was sonst an radioaktivem Abfall anfällt. Die SPD verzichtete auf die Kernenergie, weil die Entsorgung nicht gesichert sei. Was hat sie eigentlich seit 1960 getan, um das Problem zu lösen? Ich will dabei gerne zugestehen, daß auch mein politisches Lager nicht immer den Mut und die richtige Einstellung dazu hatte. Drittens. Da gibt es eine Partei, die beschließt auf ihrem Bundesparteitag 1991 folgendes: „Der Bundesparteitag mißt der Findung und Errichtung von Endlagerstätten herausragende Bedeutung bei. Er hält es deshalb für unabdingbar, daß die sozialdemokratisch geführten Landesregierungen bei der Bundesregierung darauf drängen, daß auf der Grundlage von alternativen Standorten die umweltverträglichste und sicherste Lösung gefunden wird." Bravo, SPD! Nur, wie alternativ soll das Ganze denn noch werden? Wie lang soll die Suche noch dauern? Also doch China oder der Mond? Also bringen wir alles nach Gorleben, ins Zwischenlager, weil wir vor lauter Suchen das Ziel vergessen haben. Oder soll das Dagegenhalten, sollen die Mätzchen der Landesregierung von Niedersachsen nur ein Hilfsmittel sein, um die Kernkraftwerke abschalten zu können? Vielleicht ist ja jetzt Hamburg bereit, auf Strom aus KKW zu verzichten — und bezieht den Strom dann aus den französischen KKW! Viertens. Da gibt es einen gewissen Herrn Schröder, der hat gestern wegen der Entscheidung des Bundesumweltministers in Sachen Gorleben von der „Verfilzung der Bundesregierung mit der Atomlobby" gesprochen. Es handelt sich, man kann es kaum glauben, um den Ministerpräsidenten eines schönen und großen Bundeslandes. Ein solches Wort aus dem Munde eines Ministerpräsidenten, der Verantwortung für ein Land und die Menschen in diesem Land übernommen hat! Seine Verantwortung heißt im Falle Gorleben, Sorge tragen, daß die Dinge so schnell und so gut als möglich geregelt werden. Ein ordnungsgemäßes Lager ist der Platz dafür, nicht der Parkplatz einer Polizeikaserne. Ich finde Verhalten und Äußerung nicht mehr zu vereinbaren mit den Aufgaben eines so hohen Amtes. Harald B. Schäfer (Offenburg) (SPD): Auch der Bundesumweltminister wirbt neuerdings um einen energiepolitischen Konsens. Wer Konsens tatsächlich will, kann nicht ein derart ultimatives länderunfreundliches bundesrechtliches Weisungsverfahren praktizieren, wie es Herr Töpfer tut. Konsens gibt es nur bei Kooperationsbereitschaft, nicht bei Konfrontation. Was für eine Energiepolitik ist das, die mit Weisungen und Polizeigewalt durchgesetzt werden muß? Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern für die notwendige Entsorgung nuklearen Mülls läßt sich nicht von Bonn aus verordnen. Akzeptanz setzt Vertrauen und Offenheit voraus. Gerade die aber haben Energiewirtschaft und Bundesumweltminister in der Vergangenheit verspielt. Uns allen ist der Atommüllskandal, die Transnuklear-Affäre, noch in schlechtester Erinnerung. Radioaktive Abfälle — zum Teil falsch deklariert — wurden international hin und her geschoben. Bestechungsgelder wurden bezahlt. Nicht nur menschliches Fehlverhalten, auch die ungelöste Entsorgung des Atommülls war die Ursache dafür. Kann es Sie da wundern, daß die Menschen auch da mißtrauisch sind, wo es sich vielleicht als unbegründet herausstellt? Das jahrelange Taktieren und Verschieben in der Entsorgung holt uns ein. Die Bundesrepublik muß riesige Mengen atomaren Atommülls in den nächsten Jahren aus dem Ausland (aus Belgien, aus Frankreich, aus England) zurücknehmen. Wir alle sind gegen Mülltourismus. Bei den besonders gefährlichen Atomabfällen wurde er zum Programm gemacht. Es ist berechtigt und richtig, daß die niedersächsische Landesregierung auf dem politischen Hintergrund der Transnuklear-Affäre exakte Aufklärung über den Inhalt und die Herkunft der Atommüllfässer aus dem belgischen Mol verlangt hat. Es ist auch richtig, daß sich die niedersächsische Landesregierung dagegen wehrt, daß Land zur atomaren Müllkippe Europas werden zu lassen. Die Vorgänge um die Atommüllfässer aus dem belgischen Mol sowie die notwendige Schließung des Hanauer Atomwerkes durch den hessischen Umweltminister — eine Maßnahme, die wir ausdrücklich begrüßen — zeigen vor allem eins: Vertrauen läßt sich nur mit einer neuen Energiepolitik zurückgewinnen: Erstens. Nur wer definitiv auf Neu- und Ersatzbau von Kernkraftwerken verzichtet und die Atomenergienutzung in einem überschaubaren Zeitraum beendet, kann von der Bevölkerung Akzeptanz für notwendige Entsorgungseinrichtungen erwarten. Denn nur so kann sichergestellt werden, daß der Jahrtausende strahlende Müllberg nicht immer weiter wächst. Zweitens. Es ist zwingend notwendig, den Weg der direkten Endlagerung der atomaren Abfälle gesetzlich vorzuschreiben und auf den Weg der Wiederaufarbeitung, auch über das Ausland, zu verzichten. Drittens. Die Herstellung der sogenannten Mischoxidbrennelemente mit Plutonium, wie sie in dem Hanauer Atomwerk erfolgt, muß gesetzlich untersagt werden. Wir Sozialdemokraten sind uns unserer Verantwortung für die Entsorgung radioaktiver Abfälle bewußt. Auch unter unserer Regierungszeit sind Atomkraftwerke gebaut und in Betrieb genommen worden. Der bereits heute angefallene Atommüll muß so sicher wie irgend möglich beseitigt bzw. gelagert werden. Wir haben in unseren Forderungen die Voraussetzungen 2696* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 dafür genannt, wie mit Akzeptanz und Unterstützung der Bevölkerung die atomare Entsorgung vorangebracht werden kann. Solange die Entsorgungsstrategie der Bundesregierung unklar ist, solange sie auf Wiederaufarbeitung besteht, solange sie ihre Politik mit dem Knüppel der Weisung durchsetzen will, solange sie nicht klar und deutlich beschließt, daß sie eine dauerhafte Nutzung der Kernenergie ablehnt und auf den Zubau und Neubau von Atomkraftwerken verzichtet, solange wird sie die Akzeptanz der Bevölkerung für die notwendige Entsorgung radioaktiver Abfälle nicht gewinnen. Wer wirklich den Konsens will, wem wirklich daran gelegen ist, langfristig verläßliche Rahmenbedingungen für die Wirtschaft und für die Verbraucher zu schaffen, der muß in der Atomenergiepolitik den Weg zu Ende gehen, der in Wackersdorf und Kalkar schon eingeschlagen wurde, den Weg des Ausstiegs aus der Nutzung der Atomenergie. Wolfgang Ehlers (CDU/CSU): Eine von der Gruppe PDS/Linke Liste zu diesem Thema beantragte Aktuelle Stunde hat bei mir mehrere Fragestellungen hervorgerufen. Erstens. Warum stellt sich gerade diese Partei, die in der ehemaligen DDR vor der Wende jegliches Umweltbewußtsein vermissen ließ und sich nie ernsthaft mit den Umweltproblemen beschäftigte, jetzt in der Öffentlichkeit so dar, als wenn ohne ihr Zutun die Umwelt gefährdet würde? Zweitens. Ist die PDS nicht in der Lage, das zugegebenermaßen nicht einfache deutsche Umweltrecht erst einmal gründlich zu studieren, bevor sie der Bundesregierung ein Fehlverhalten vorwirft? Meine Fraktionskollegen haben bereits eindeutig und ausreichend dargelegt, daß der Einlagerung von schwachradioaktiven Abfällen aus dem belgischen Mol weder sachliche noch rechtliche Gründe entgegenstehen. Drittens. Oder wollte die PDS mit dieser Aktuellen Stunde auf die Mißstände innerhalb des rot-grünen Bündnisses in Hannover hinweisen? Dann jedenfalls könnte ich diese Debatte noch verstehen. Es ist in der Tat merkwürdig, wenn die jetzige Umweltministerin Niedersachsens vor einem Jahr auf einer Veranstaltung in Gorleben Hunderte von Kernkraftgegnern dazu aufrief, „das Mittel der Blockade aktiv zu nutzen" , und der grüne Landtagsabgeordnete Kempmann sich bereits auf „sehr schöne Blockaden" freute. Wurden damit nicht schon Konfliktsituationen vorprogrammiert? Da sich schon am vergangenen Freitag der grüne Umweltsstaatssekretär und der bereits erwähnte Abgeordnete Kempmann unter die Demonstranten mischten, ist sicherlich die Frage gestattet, ob die Blockade nicht vorsorglich inszeniert worden ist. Wenn Sie, meine Damen und Herren der PDS, diese gewiß wichtigen Fragen beantwortet haben möchten, dann gebe ich Ihnen einen guten Rat: Wenden Sie sich bitte an die Regierung in Hannover. Noch einen Hinweis erlaube ich mir Ihnen zu geben, die Sie ja größtenteils aus den neuen Bundesländern kommen. Was der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gerade für diese neuen Bundesländer geleistet bzw. eingeleitet hat — ich denke nur an das Aktionsprogramm Ökologischer Aufbau — , erreicht Größenordnungen, von denen wir, die sich bereits vor der Wende für Umwelt und Natur einsetzten, nur träumen konnten. Ich empfehle Ihnen, unterstützen Sie diesen umfangreichen Maßnahmenkatalog durch angemessene Mitarbeit, dann leisten sie einen wirklich sinnvollen Beitrag zur ökologischen Sanierung und zum Schutz der Umwelt. Dr. Jürgen Starnick (FDP): Der Bundesumweltminister hat erneut in einem die Kernenergie betreffenden Sachverhalt eine bundesaufsichtliche Weisung erlassen müssen, weil das Land Niedersachsen den Transport von Abfällen nach Gorleben abgelehnt hat. Diese Weisung war rechtmäßig, weil nach zutreffender Auffassung des Bundesumweltministeriums die Voraussetzungen für den Transport und die Einlagerung der deutschen radioaktiven Abfälle, die aus dem belgischen Mol wieder zurück nach Deutschland kommen, rechtmäßig sind. Es geht um deutsche Abfälle, die als Altlasten des Transnuklearskandals hinreichend bekannt sind. Wie auch die Arbeit des Transnuklear-Untersuchungsausschusses im Deutschen Bundestag gezeigt hat, ist dieser Hanauer Nuklearskandal im einzelnen aufgearbeitet worden. Das trifft für den Deutschen Bundestag, aber auch für die Bundesregierung zu, die umfassende Konsequenzen gezogen hat — wie Entflechtung der deutschen Nuklearindustrie. Zur Lösung der Probleme, die aus diesem Skandal entstanden sind, gehört auch die Rücknahme deutscher radioaktiver Abfälle, die seinerzeit nach Belgien gelangt sind und von dort auch wieder in das Ursprungsland zurückkehren müssen. Der Grundsatz, daß Abfälle möglichst dort entsorgt werden, wo sie entstanden sind, gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland gegenüber anderen Staaten. Für die Behauptung Niedersachsens, daß der lükkenlose Nachweis dafür, daß die Abfälle nicht aus Deutschland stammen, nicht erbracht sei, gibt es keine ernst zu nehmenden Hinweise. Der TÜV-Bericht verweist vielmehr ausdrücklich darauf, daß diese Abfälle kundenspezifisch in Mol gelagert wurden und ihre Sortierung getrennt erfolgte. Da die BRD für die deutschen Abfälle die volle Verantwortung trägt, erwarte ich von dem Bundesland Niedersachsen, daß es nicht nur, wie jetzt geschehen, der Weisung des Bundesumweltministers zur Aufhebung des Einlagerungsstopps für die radioaktiven Abfälle aus Mol folgt, sondern daß auch künftig die Landesregierung Niedersachsens den ihr nach Recht und Gesetz obliegenden Verpflichtungen insoweit nachkommt. Erneut drängt sich der Eindruck auf, daß hinter dem hier ausgetragenen Streit zwischen der Bundesregierung und der niedersächsischen Landesregierung das Kernproblem der unterschiedlichen Auffassung zum Einsatz der Kernenergie steht. Abermals agiert dabei eine rot-grüne Koalition etwas abseits der Rechtsstaatlichkeit. Ausstieg aus der Kernenergie rechtfertigt nicht jedes Mittel. Jedenfalls ist es rechtsstaatlich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2697* äußerst bedenklich, wenn sich Frau Griefahn wie folgt einläßt: „Außerdem sei es (verdeckt) geboten, politische und juristische Schritte in einem Gleichklang zu initiieren, um die Erreichung eines bestimmten Zieles auch im Prozeßwege zu begünstigen. Dies sei z. B. bei der Prozeßführung dadurch sicherzustellen, daß in dem zulässigen Maße und in dem gebotenen Umfang das Ministerium mit Bürgerinitiativen und Nachbarn zusammenarbeite. " Unabhängig davon, ob man die weitere Nutzung der Kernenergie mittel- und langfristig bejaht oder einen Ausstieg fordert, so steht jedenfalls fest, daß für die schon vorhandenen radioaktiven Abfälle eine möglichst sichere Entsorgung vorgenommen werden muß. Ich habe kein Verständnis für diese letztlich nicht rechtlich, sondern politisch motivierte Weigerung Niedersachsens, diese Abfälle abzulagern. Ich appelliere an die Landesregierung von Niedersachsen, auch in Fragen des Atom- und Strahlenschutzrechts zu rechtsstaatlichem Verhalten zurückzukehren. Wir brauchen einen Energiekonsens, der die nukleare Entsorgung einschließt. Ich fordere deshalb Bund und Länder auf, alles zu unternehmen, um wieder zu einem Grundkonsens in Energie- und auch Kernenergieentsorgungsfragen zu kommen. Die Zukunft des Industriestandorts BRD hängt entscheidend davon ab, ob wir neben der Versorgungsinfrastruktur über eine modernsten Anforderungen entsprechende Entsorgungsinfrastruktur — und zwar für alle Arten von Abfällen — verfügen. Jedenfalls sollte die Bundesrepublik Deutschland ihre eigenen Entsorgungsprobleme nicht auf dem Rücken anderer Staaten austragen, sondern für ihre Abfälle, einschließlich der radioaktiven Abfälle, die Verantwortung selbst übernehmen. Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Mit ihrer Untersagungsverfügung vom 14. Juni 1991, für die es einer Weisung des Niedersächsischen Umweltministeriums an das Gewerbeaufsichtsamt Lüneburg bedurfte, hat die Niedersächsische Landesregierung eindeutig rechtswidrig gehandelt. Es war daher meine mir durch Verfassung zugewiesene Pflicht, nachdem sich das Land weigerte, die rechtswidrige Verfügung aufzuheben, durch eine bundesaufsichtliche Weisung den rechtgemäßen Zustand wiederherzustellen. Offenkundig hat die Landesregierung versucht, mit dem Mittel des Rechtsbruchs ihre Koalitionsabsprache durchzusetzen. Die rechtlichen Argumente waren so fadenscheinig, daß dieses Spiel für jedermann, der sich damit etwas näher beschäftigte, durchschaubar war. Die ausschließlich polemische, unsachliche und mit keinen Fakten versehene hemmungslose Kritik des Niedersächsischen Ministerpräsidenten entlarvt ihn selbst. Wenn ein Verfassungsorgan so handelt, argumentiert und polemisiert, dann muß man sich nicht wundern, wenn das Vertrauen vieler Menschen in unseren Rechtsstaat erschüttert wird. Da wird hemmungslos mit Unterstellungen gearbeitet, wider besseres Wissen vorhandene Information abgestritten — mit einem Wort: Es wird alles getan, um die politische Entscheidung in Koalitionsvereinbarung und Regierungserklärung auch am bestehenden Recht vorbei durchzusetzen. Wie sind die Fakten? Die Herkunft dieser Abfälle ist durch ein TÜV-Gutachten und durch die Arbeiten der deutsch-belgischen Experten-Kommission eindeutig nachgewiesen. Die Genehmigungslage für das Faßlager und die Beförderung ist eindeutig. Die Genehmigungsvoraussetzungen sind gegeben. Die Erfüllung der Einlagerungsbedingungen ist nach Qualität und Umfang der Abfälle in einem von Bund und Land einvernehmlich festgelegten Prüfverfahren für diese Abfälle eindeutig nachgewiesen worden. Die Niedersächsische Landesregierung ist bei diesem Vorgang ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden: — Sie hat eine rechtswidrige Weisung erlassen in dem klaren Bewußtsein, daß die Bundesaufsicht weisen wird. Sie hat diese Weisung provoziert, um sich selbst aus der Verantwortung zu stehlen und ihre politische Vorabentscheidung zu bestätigen. Sie sollte sich nicht der Hoffnung hingeben, daß die Öffentlichkeit dies nicht durchschaut. Ich fordere die Niedersächsische Landesregierung auf, endlich ihrer Verantwortung gerecht zu werden. — Wenn die Landesregierung künftig Abfälle deutscher Herkunft aus Belgien nicht abnehmen will, heißt dies nichts anderes als endgültiger Export deutschen radioaktiven Abfalls. Mit anderen Worten: Die Niedersächsische Landesregierung will deutschen radioaktiven Abfall im Ausland endlagern. Dies ist nicht hinnehmbar. Dies wäre eine Europäisierung der Abfallpolitik — nicht das, was wir verantwortungsvoll tun. — Ich bin mit der Transnuklear-Affäre konfrontiert worden. Ich habe gehandelt, um diese Affäre aufzuklären und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Dies waren tiefe Schnitte. Wir haben Transnuklear und NUKEM Genehmigungen entzogen. Wir hab en die westdeutsche Nuklearwirtschaft entflochten. Wir haben das Schienenkonzept für den Transport radioaktiven Materials mit der Bahn durchgesetzt. Wir haben eine Abfallkontrollrichtlinie — gemeinsam mit den Ländern — erlassen, um jederzeit eine lückenlose Kontrolle auch der schwach- und mittelaktiven Abfälle zu haben. Und wir haben gemeinsam mit Belgien eine deutsch-belgische Expertenkommission unter Beteiligung der Länder — stellvertretend waren dies Hessen und Nordrhein-Westfalen — eingesetzt, um die Abfälle in Mol den Abfallverursachern zuzuordnen. Der 2. Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestages hat in der letzten Legislaturperiode die Richtigkeit und Konsequenz meiner Maßnahmen bestätigt. Die Länder waren hierüber stets voll informiert. Ihnen war bekannt, daß die Abfälle in die Bundesrepublik Deutschland zurückgenommen werden würden. Noch vor wenigen Wochen hat die Niedersächsische Landesregierung gegenüber Baden-Württemberg schriftlich bestätigt, daß flüssige Abfälle aus Mol, die im Kernforschungszentrum Mol konditioniert wurden im Faßlager Gorleben zwischengelagert wer- 2698* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 den dürfen. Heute will sie sich ihrer Verantwortung entziehen. Vor diesem Hintergrund ist es schon bezeichnend, daß der Antrag für die Aktuelle Stunde von der PDS und nicht von der SPD gestellt worden ist. Wie immer man zu Fragen der friedlichen Nutzung der Kernenergie stehen mag: Das Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle aus unseren Anlagen ist zu lösen. Dies ist unser gesetzlicher Auftrag, nicht nur des Bundes, sondern auch der Länder. Hierzu gehört auch die Lösung der Entsorgung des deutschen Verursachern zuzuordnenden Abfalls aus Mol. Ich werde die Niedersächsische Landesregierung aus ihrer Pflicht nicht entlassen und, wenn es sein muß, auch künftig durch bundesaufsichtliche Weisung zu deren Erfüllung anhalten. Ich fordere die Niedersächsische Landesregierung auf, endlich das Recht über die Koalitionsvereinbarung zu setzen und ihren verantwortungslosen Umgang mit rechtsstaatlichen Grundsätzen aufzugeben. Wir müssen einen politischen Konsens in der Entsorgungsfrage finden. Der Staatssekretärs-Ausschuß, der hierzu auf Initiative der Bundesregierung und Nordrhein-Westfalens eingesetzt worden ist und bereits gute Arbeit geleistet hat, ist hierfür der richtige Weg. Auf diesem Weg sollten wir fortfahren. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 9 — Antrag betr. Fristverlängerung zur Antragstellung auf Aufhebung von Zwangsadoptionen — Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie und Senioren: Die jüngst aufgefundenen Akten über Zwangsadoptionen sowie erste öffentliche Stellungnahmen von Betroffenen haben ein erschütterndes Kapitel der Unmenschlichkeit der SED-Herrschaft in der ehemaligen DDR offenbart. Das ganze menschliche und rechtliche Ausmaß dieser Adoptionspraxis, die zwangsweise vollständige Familien auseinandergerissen hat, läßt sich noch nicht übersehen. Der demokratische Rechtsstaat, wir politisch Verantwortlichen dürfen und wollen über diese Mißachtung der Menschenwürde und insbesondere des Elternrechts nicht hinweggehen. Dieser tiefe Eingriff in die natürlichen Rechte der Familie, in das Zusammenleben von Eltern mit ihren Kindern drängt mich als Familienministerin, mitzuhelfen, daß das bittere Unrecht wiedergutgemacht werden kann. Wir müssen hierbei allen Beteiligten gerecht werden: den Eltern, die ihre Kinder verloren haben, den Kindern, die zwangsvermittelt wurden, und den die Kinder annehmenden Eltern. In vielen Fällen sind die Beteiligten auch die Opfer. Gemäß dem Einigungsvertrag kann die Aufhebung der Adoptionen ohne die sonst erforderliche Einwilligung der Beteiligten innerhalb eines Jahres, also bis zum 2. Oktober 1991, beantragt werden. Nach dem, was wir bisher wissen, wird diese Einjahresfrist in der Regel nicht einzuhalten sein. Denn es hängt nicht nur von dem Willen der Betroffenen ab, eine Änderung anzustreben; vielmehr fehlt es häufig an den tatsächlichen Voraussetzungen. Zum einen müssen wir in jedem Einzelfall prüfen, ob tatsächlich eine unrechtmäßige Zwangsadoption vorliegt oder ob — angesichts der vorgefundenen sozialen und familiären Verhältnisse — auch bundesdeutsches Recht dem Verbleib des Kindes bei seinen leiblichen Eltern widersprochen hätte. Zugleich muß mit Eltern gerechnet werden, die im nachhinein bedauern, früher einer Adoption zugestimmt zu haben, jetzt also die Gunst der Stunde nutzen wollen, um ihren Schritt rückgängig zu machen. Die Überprüfung jedes beantragten Einzelfalls muß unser Ziel sein, nicht etwa die generelle Aufhebung aller, auch der in unserem Sinne rechtmäßigen Adoptionen. Daher dürfen den wirklich Betroffenen keine bürokratisch unüberwindbaren Hürden auferlegt werden. Dazu gehören die Frist des 2. Oktober und auch die Vorgabe, wonach Anträge nur vom jeweils zuständigen Vormundschaftsgericht entgegengenommen werden. Es wird also entscheidend auf die Mithilfe der Jugendämter ankommen. Hier jedoch sind möglicherweise noch Angestellte tätig, die an Zwangsadoptionen selbst mitgewirkt haben. Außerdem ist nicht sicher, ob die Vormundschaftsgerichte schon wieder vollständig und funktionstüchtig eingerichtet sind. Um den gesamten Problemkreis einmal umfassend und gründlich aufzuarbeiten, werde ich im Spätsommer hierzu eine Fachkonferenz in Berlin mit Vertretern der Bundes- und Landesroessrts sowie mit Experten aus der Wissenschaft und den Fachorganisationen durchführen. Die Tagung mit einem begrenzten Teilnehmerkreis soll dazu dienen, die Probleme transparent zu machen und — wenn möglich — auch Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen, die den zuständigen Behörden und Gerichten eine Hilfe sein können. Unabhängig davon unterstütze ich intensiv den vorliegenden Antrag, die Frist des Art. 234 § 13 EGBGB mindestens zu verlängern, wenn nicht gänzlich aufzuheben. Unser Bemühen muß darin liegen, eine Brücke zwischen allen Beteiligten, den leiblichen Eltern, den Adoptiveltern und den betroffenen Kindern zu schlagen. Wir werden ihnen allen Gerechtigkeit nur widerfahren lassen können, wenn wir die bekanntgewordenen Fälle und die, die noch bekannt werden können, äußerst behutsam behandeln. Hier sind Familien in ihren existentiellen Rechten betroffen. Wir müssen ihnen als Staat — hier stehen wir in der Verpflichtung unseres Grundgesetzes — Genugtuung verschaffen und ihnen zu ihrem Recht verhelfen. Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Wenn sich heute der Deutsche Bundestag mit dem Thema der Zwangsadoption in der ehemaligen DDR beschäftigen muß, dann zeigt das deutlich, wie notwendig es ist, die Aufarbeitung von 40 Jahren DDR zu forcieren. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2699* Der Unrechtsstaat legte alle Dokumente seines Handelns zu den Akten: vom Schießbefehl bis zu den Stasi-Akten. In einem dunklen Keller des Bezirksamtes BerlinMitte fand sich penibel niedergeschrieben wieder, was das DDR-Ministerium für Volksbildung einst als real-sozialistische Jugendhilfe diktiert hatte: die Geschichte der Zwangsadoption. Kinder, deren Eltern Fluchtversuche unternommen hatten, wurden in Heime gesteckt, die schließlich neue, regimetreue Eltern zuwiesen. Das ist real existierender Sozialismus, wo die Partei der Garant für die Kinder ist. Heute ist es amtlich, was für Garanten das waren: Kidnapper, die den Eltern wegen Republikflucht die leiblichen Kinder wegnahmen. Zwangsadoptionen nannten die Genossen den kriminellen Kinderklau, exakt von den Nazis übernommen. Und das Schlimmste: Es ist nicht auszuschließen, daß die Täter heute in den Talkshows, in den Ämtern oder sogar im Bundestag sitzen. Bekannt ist dieses Problem schon seit langem. Der vom schwarzen Kanal und seinem Macher gehaßte und oft zitierte Gerd Löwenthal wurde in seinem „ZDF-Magazin" nicht müde, dieses Verbrechen anzuprangern. Doch das schien den Honecker Tourismus von Bonner Politikern aller Coleur zu stören. Der Einigungsvertrag erlaubt die Stellung von Anträgen auf Aufhebung solcher Adoptionen, aber nur bis 1 Jahr nach der Wiedervereinigung. Diese Frist ist gewählt worden, um möglichst schnell auf diesem höchst sensiblen Gebiet Rechtssicherheit zu schaffen. Das Wohl des Kindes fordert eine kurzfristige Klärung seiner künftigen persönlichen Bindungen. Das Problem ist schwieriger, als zuerst angenommen: Erstens. Da gab es neben der Zwangsadoption den Zwangsentzug des Sorgerechts, der bei Republikflucht oder bei versuchter Republikflucht relativ an der Tagesordnung war. Zweitens. Wieviel Fälle von Zwangsadoption es gab, kann heute niemand sagen. Die Recherchen sind schwierig angesichts unvollständiger oder gefälschter Akten. Drittens. Ein weiterer schlimmer Fakt sind die Adoptiveltern selbst. Sicher waren es Regimetreue, aber es waren Eltern ohne Kinder. Wer Eltern kennt, die von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen sind, weiß, welche psychologischen Krisen sie durchleben. Oft ist dann die Adoption die letzte Möglichkeit, ein Kind in der Familie zu erziehen. Doch darf dieses Problem nicht im Rahmen stehen bleiben. Der Rechtsstaat würde dadurch schreiendes Unrecht des SED-Regimes im nachhinein anerkennen. Die Eltern brauchen Zeit für die Suche, und für das vernünftige Überlegen, was für sie und was für das Kind die richtige Entscheidung ist. Die Justiz braucht Zeit, um die Akten aufzuarbeiten. Bisher waren nur wenige Fälle bekannt. So wurden in den 70er Jahren einige echte Fälle mit dem Berliner Rechtsanwalt Vogel gelöst. In der letzten Zeit wurden nur wenig neue Zwangsadoptionen festgestellt. Der jüngste Aktenfund in einem Bezirksamt von Berlin läßt heute die Frage nach der Zahl der Fälle offen. Die Justiz braucht vor allem Zeit, weil nicht garantiert werden kann, daß der Antrag auf Überprüfung einer Adoption fristgemäß beim zuständigen Gericht, d. h. am Wohnsitz der Annehmenden gestellt wird. Die Personenstandsbücher beim Vormundschaftsgericht sind nicht da, unvollständig oder falsch, und der momentane Stand der Arbeitsfähigkeit der Gerichte ist hinlänglich bekannt. Die Frist muß verlängert werden, das ist die im Raum stehende Forderung und der Inhalt des Antrages. Um wieviel, das muß der Bundestag beurteilen. Dabei stehen die betroffenen Kinder in der Mitte, weil die Menge des menschlichen Leids durch eine unsichere Lage nicht besser wird. Gleichzeitig fordere ich aber hier eine strafrechtliche Aufarbeitung. Voran für Frau Honecker, die mit freundlichem Lächeln diese grausamen Anweisungen gab. Aber auch die Vollstreckung ist auf ihre juristische Legitimität zu prüfen. Es ist meiner Meinung nach nicht einzusehen, daß es nach DDR-Recht zulässig war, etwa aus einer Republikflucht zu schließen, daß Eltern nicht in der Lage seien, ihre Kinder zu erziehen. Deshalb müssen auch die Vollstrecker solcher Zwangsadoptionen mit zu den Verantwortlichen dieses Unrechts gezählt werden. Dr. Eckhart Pick (SPD): Die Öffentlichkeit ist zu Recht empört über die in der ehemaligen DDR von Staats wegen praktizierten Zwangsadoptionen, wobei „Adoption" ein verharmlosender Ausdruck ist. Zwangsadoption ist nämlich untrennbar verbunden mit der Zerstörung einer natürlichen Eltern-Kind-Beziehung durch einen Unrechtsspruch des Staates. Der Staat hat sich damit angemaßt, Familienbeziehungen einerseits aufzuheben und andererseits neue zu begründen. Als ob es im Belieben der Obrigkeit läge, darüber zu entscheiden. Wir sind uns einig in der Bewertung dieser Vorgänge, die zwangsweise Aufhebung von Familienbeziehungen aus politischen Gründen war unmenschlich und widersprach dem (Völker-)Recht. Sie sind und waren das unfreiwillige Eingeständnis eines Unrechtsstaates, daß man mit dem Problem des Widerstands und der Flucht aus diesem Staat nicht mit rechtsstaatlichen Mitteln, geschweige Toleranz, fertig wurde. Nach unserem Verständnis ist Adoption die freiwillige Begründung eines Eltern-Kind-Verhältnisses, es entspringt dem freien Willen der Beteiligten und hat dann dieselben Konsequenzen wie das natürliche Eltern-Kind-Verhältnis. Der Einigungsvertrag hat in seinem Art. 234 einerseits das bundesdeutsche Recht der Adoption, so wie es das Bürgerliche Gesetzbuch enthält, grundsätzlich eingeführt. Er hat zweitens das bisherige Adoptionsrecht des Familiengesetzbuchs der DDR und die auf seiner Grundlage erfolgten Adoptionen anerkannt. Für sie 2700* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 gelten jetzt ebenfalls die Regeln des Adoptionsrechts im BGB. Andererseits hat der Einigungsvertrag die Problematik von Adoptionen ohne Zustimmung der Betroffenen und auch ausgesprochene Zwangsadoptionen im Blick gehabt. Wir müssen deshalb sehr unterschiedlich gelagerte Fälle unterscheiden. Einige Fälle weisen darauf hin, daß das Erziehungsrecht wegen angeblicher „Asozialität" entzogen wurde. In solchen Fällen wurde den Eltern, weil sie z. B. ihre Pflicht zur Arbeit verletzten, während der Haftzeit das Erziehungsrecht entzogen. Im übrigen kann der Entzug des Erziehungsrechts auf ein Versagen der Eltern (z. B. mangelnde Versorgung, Kindesmißhandlung) zurückzuführen sein. Der Antrag der Koalition meint offenbar diese Fälle nicht, denn er spricht in der Überschrift von Zwangsadoptionen. Er ist allerdings im Antragstext nicht präzise genug, denn es geht ja wohl um politisch motivierte Zwangsadoptionen. In § 13 sind aber Tatbestände mit unterschiedlichem Fristverlauf aufgeführt. Ich gehe davon aus, daß hier der Fall des § 13 Abs. 5 gemeint ist, in dem Eltern das Erziehungsrecht entzogen war. Hier kann das Annahmeverhältnis auf Antrag eines Elternteils innerhalb eines Jahres aufgehoben werden. Trotz aller Empörung über das auch in dieser Hinsicht begangene staatliche Unrecht formuliert der Einigungsvertrag eine differenzierte Lösung. Er knüpft zum einen die Wiedergutmachung an eine einjährige Ausschlußfrist, mit der Erwägung, daß baldmöglichst eine Klärung darüber herbeigeführt werden muß, ob eine Aufhebung von Zwangsadoptionen erfolgen soll. Nach Ablauf der Jahresfrist soll ein für allemal klar sein, ob solche Adoptionen Bestand haben sollen oder nicht. Zum anderen erfolgt auch die Überprüfung von Zwangsadoptionen auf Antrag durch das Vormundschaftsgericht im Einzelfall, bei dem gerichtlich überprüft wird, ob eine Rückgängigmachung der Adoption vertretbar ist. Entscheidend ist dabei das Wohl des Kindes. Dieses Kriterium kann auch bedeuten, daß eine Zwangsadoption im Einzelfall nicht rückgängig gemacht wird, weil innerhalb von 15 oder mehr Jahren zwischen den Kindern und den Adoptiveltern eine schützenswerte und vorrangige Eltern-Kind-Beziehung entstanden ist. D. h. in jedem Fall muß das Gericht das Kindeswohl in den Vordergrund stellen und eine Abwägung treffen. Also keine Automatik. Früheres Unrecht kann nicht durch neues Unrecht kompensiert werden, so schmerzlich dies im Einzelfall sein kann. Es wird im übrigen sehr stark davon abhängen, wie sich die Kinder in der neuen Situation verhalten. Noch ein Gesichtspunkt verdient eine entsprechende Beachtung. In der Mehrzahl der Fälle geht es den Eltern auch um die eigene Rehabilitierung und darum, Kontakt zu den Kindern herzustellen. Dafür spricht, daß Aufhebungsanträge von den Eltern bisher nicht gestellt wurden. In diesem sensiblen Bereich ist es auch angezeigt, auf eine außergerichtliche Klärung hinzuwirken. In solchen Fällen könnte eine Verlängerung der Antragsfrist sinnvoll sein. Wir würden einer Änderung der Antragsfrist zunächst eine intensive Aufklärung durch die Bundesregierung und die zuständigen Behörden vorziehen. Es sollten alle diejenigen auf den Ablauf der Frist hingewiesen werden, die davon betroffen sein können. Die Zahl der Fälle ist nicht bekannt. Es sind nicht viele. Aber ich glaube, daß diejenigen, die von der Zwangsadoption betroffen sind und diese rückgängig machen wollen, schon jetzt nicht ruhen werden, bis darüber entschieden ist. Eine Aufhebung der Antragsfrist ist für uns aus Gründen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens nicht zu verantworten. Auch eine Fristverlängerung bedarf sorgfältiger Abwägung. Der Gegenbeweis, daß eine Verlängerung erforderlich ist, wäre noch zu führen. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Ein dunkles Kapitel in der Familienpolitik der ehemaligen DDR zwingt uns zu der heutigen Beratung. Die letzten Wochen haben es auf Grund einer ausführlichen Berichterstattung in den Medien an die Öffentlichkeit gebracht; Eltern wurde das Erziehungsrecht für ihre Kinder entzogen, und diese wurden dann zur Adoption freigegeben und von Dritten adoptiert. Nach den bisher bekanntgewordenen Fällen lag der Entziehung des Erziehungsrechts aber nicht das Wohl des Kindes zugrunde, sondern ausschlaggebend soll in einer derzeit noch nicht zu überblickenden Anzahl von Fällen politisch unerwünschtes und mißliebiges Verhalten der Eltern gewesen sein. Was das alles umfassen konnte und wie weit dies je nach Gutdünken und Absicht ausgelegt werden konnte, wird uns fast täglich im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit Rehabilitierungsfragen und der Aufarbeitung der Stasi-Altlasten vor Augen geführt. Von politisch kritischen bzw. unerwünschten Äußerungen bis zu Fluchtversuchen waren diese Handlungen und Verzweiflungstaten anscheinend Anlaß genug, Eltern das Erziehungsrecht wegzunehmen und mit dem vorgeschobenen perfiden Argument, dies geschehe zum Wohl des Kindes, eine Adoption zu vermitteln. Der Verdacht solcher politisch motivierter Zwangsadoptionen erhärtert sich immer mehr. Die beim Berliner Senator für Jugend eingerichtete Clearingstelle zur Aufklärung von Einzelschicksalen arbeitet auf Hochtouren: Rund 50 Anfragen von Eltern und Kindern sind bisher eingegangen, in möglicherweise sechs Fällen liegt dringender Verdacht auf Zwangsadoption vor. Ohne wahrscheinlich diese das Wohl des Kindes und das Recht der Eltern mißachtenden Praktiken in vollem Umfang zu kennen bzw. kennen zu können, sind im Einigungsvertrag gleichwohl vorausschauend Regelungen getroffen worden, die die Möglichkeit eröffnen, die Adoptionen gerichtlich überprüfen zu lassen. Maßstab der Überprüfung ist das bisher in den alten Bundesländern und seit dem 3. Oktober auch in den neuen Bundesländern geltende BGB. Zuständig für die Entscheidung ist jeweils das örtliche Vormundschaftsgericht. Nach dem Einigungsvertrag läuft die Frist zur Stellung eines Antrags auf Aufhebung der Adoption am 2. Oktober 1991 — also ein Jahr nach der deutschen Einheit — ab. Inzwischen ist deutlich geworden, daß auf Grund der sehr unübersichtlichen Aktenlage, des Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2701* Nichtauffindens von Personenstandsbüchern, der erst im Aufbau sich befindenden Gerichte und damit der Schwierigkeiten, das zuständige Gericht zu finden, diese Frist nicht ausreicht. Um jegliche Rechtsunsicherheiten zu vermeiden, ist deshalb diese Frist auf mindestens drei Jahre zu verlängern. Dies ist die nüchterne rechtliche Betrachtungsweise. Viel schwerer wiegen die großen menschlichen Probleme. Durch die Zwangsadoptionen ist zwischen adoptiertem Kind und der annehmenden Familie eine über viele Jahre gewachsene Familienbindung entstanden, eine Eingewöhnung in das neue soziale Umfeld erfolgt und damit auch eine subjektive Identifikation mit den Adoptiveltern. Die Bindung zu den leiblichen Eltern ist sehr locker geworden, wenn nicht sogar in vielen Fällen abhängig vom Zeitablauf vollkommen abgerissen. Wunden werden mit einer Überprüfung wieder neu aufbrechen, im Vordergrund bei einer Überprüfung eines fehlerhaft begründeten Annahmeverhältnisses muß das Kindeswohl stehen. Aus diesen Gründen sollte die Antragsfrist nicht generell aufgehoben, sondern auf eine angemessene Frist verlängert werden. Dieses den leiblichen Eltern und dem Kind zugefügte Leid, die Zerstörung von Familienbanden und damit möglicherweise die Zerstörung von Lebensglück und einer glücklichen, zufriedenen Kindheit können weder rückgängig noch wiedergutgemacht werden. An diesem Beispiel offenbart sich die Unmenschlichkeit des früheren SED-Regimes. Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Die Aufhebung von Adoptionen, die unberechtigt, gegen den Willen der Eltern vorgenommen wurden, berührt sowohl die Identitiät als auch die elementarsten familiären Bindungen von Menschen. Wenn es gilt, zugunsten der Wahrung und Wiederherstellung individueller Identität und familiärer Bindung von Adoptierten eine Kurz-schlüssigkeit des Einigungsvertrages zu beseitigen, dann sollten wir das tun und die dort gesetzte Frist aufheben. Allerdings sollten wir dafür Sorge tragen, daß die Lösung dieser zutiefst mit menschlichen Konflikten beladenen Situation für die Betroffenen nicht zum kaukasischen Kreidekreis wird. Meiner Ansicht nach ist es notwendig, die Interessen und Wünsche aller betroffenen Menschen angemessen zu berücksichtigen: Erstens sollten die leiblichen Eltern in jedem Fall — auch wenn sie es bisher versäumt haben, einen solchen Antrag zu stellen — die Möglichkeit erhalten, über den bisherigen Termin hinaus ihre Elternrechte geltend zu machen. Zweitens sollten Adoptierte unabhängig von ihrem Alter nicht als bloße Rechtsobjekte behandelt, sondern nach ihren Wünschen befragt werden, welcher Familie sie sich verbunden fühlen und in welcher Familie sie fortan leben wollen. Es geht mir darum, vor allem Kinder und Jugendliche, die bei ihren Adoptiveltern feste soziale Verwurzelungen gefunden haben, nicht gegen ihren Willen aus diesen Familien herauszulösen und in tiefste psychische Konflikte zu stürzen. Drittens sollten die Interessen der Adoptiveltern nicht außen vor bleiben. Diese ursprünglich kinderlosen Paare haben in der berechtigten Hoffnung, mit einem Kind leben zu können, den Antrag auf Annahme eines Kindes gestellt. Da ihrem Handeln (in der Regel) zutiefst humanistische Motive zugrunde liegen und sie keinen Einblick in die soziale Situation des zu adoptierenden Kindes hatten, müssen ihre Interessen ohne jegliche Form der Kriminalisierung ebenso respektiert werden. Sie dürfen jetzt nicht für ihr humanes Handeln bestraft werden. Um begründet über diese vielschichtigen Zusammenhänge urteilen zu können, fordere ich namens der PDS/Linke Liste von der Bundesregierung zum schnellstmöglichen Termin einen Bericht über die Anzahl, die konkreten Ursachen und Umstände der staatlich vorgenommenen Adoptionen in der ehemaligen DDR sowie hinsichtlich der vorliegenden Anträge auf Aufhebung von Adoptionen. Rainer Funke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz: Jeder von uns war erschrocken, als wir Gewißheit bekamen, daß die SED-Machthaber selbst vor der persönlichsten Beziehung, die sich denken läßt, nicht haltgemacht haben: der Eltern-KindBeziehung. Mitte der 70er Jahre erreichten uns Berichte, daß man politisch mißliebigen Eltern die Kinder weggenommen hatte. Als Vorwand reichte aus, daß die Eltern die DDR zu verlassen und damit dem Unrecht zu entkommen suchten. Über die Kinder wurde bürokratisch entschieden. Sie mußten sich mit fremden Adoptiveltern abfinden, die sie nicht ausgesucht hatten und die sie nicht wollten. Genaueres über diese menschenverachtende Praxis ließ sich nicht feststellen. Die Verantwortlichen in der DDR verweigerten jede Auskunft und stellten Zwangsadoptionen entrüstet in Abrede. Selbst die Machthaber der SED hatten ein schlechtes Gewissen. Wir haben diesen Beteuerungen niemals geglaubt und deshalb in den Einigungsvertrag eine Regelung der Zwangsadoption aufgenommen. Jetzt sind neue Fälle ans Licht gekommen. Leider machen wir überall die gleiche traurige Erfahrung: Das ganze Ausmaß des Unrechts wird erst jetzt offenbar. Unsere Befürchtungen werden durch die Wirklichkeit regelmäßig noch übertroffen. Es ist deshalb gar keine Frage, daß wir die Jahresfrist des Einigungsvertrages verlängern müssen. Im Bundesministerium der Justiz liegt bereits ein ausformulierter Gesetzesvorschlag vor, den ich in den nächsten Tagen in der Koalition abstimmen werde. Der Entwurf schlägt vor, die Antragsfrist des Einigungsvertrages um zwei auf drei Jahre zu verlängern. Diese Verlängerung gibt den Eltern genügend Zeit. Eine generelle Aufhebung der Frist würde nicht nur über dieses Ziel hinausschießen. Sie wäre auch mit den Grundgedanken unseres Adoptionsrechts kaum zu vereinbaren. Jede Adoption — auch die fehlerhafte, gegen elementare Elternrechte verstoßende — begründet ein Eltern-Kind-Verhältnis, das sich im Laufe der Zeit zur gelebten Familie verdichtet. Diesen Gegebenheiten trägt das geltende, „normale" Adoptionsrecht mit einer dreijährigen Ausschlußfrist Rech- 2702* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 nung. Sie beginnt mit der Begründung des Adoptionsverhältnisses und schließt jede spätere Berufung auf Willensmängel aus. Eltern, denen die SED ihr Kind weggenommen hat, können deshalb diese Zwangsadoptionen auch künftig durch das zuständige Vormundschaftsgericht überprüfen lassen. Maßstab sind die bewährten Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Entscheidend ist aber der Einzelfall; einen Automatismus gibt es nicht. Die Adoptionen liegen zum Teil Jahrzehnte zurück. Die adoptierten Kinder sind inzwischen erwachsen und es ist durchaus vorstellbar, daß eine Rückgängigmachung der Adoption neues Leid schaffen würde, statt altes zu heilen. Entscheidend ist allein — wie auch sonst in unserem Familienrecht — das Wohl des Kindes. Es kommt allein darauf an, was für die betroffenen Kinder am besten ist. Die Täter — das ist mir ganz wichtig — dürfen nicht ungeschoren bleiben. Sollten sie sich strafbar gemacht haben, müssen Ermittlungsverfahren eingeleitet werden. Die entsprechenden Prüfungen laufen in den Ländern. Auch bei den Zwangsadoptionen sind die politischen Machthaber in die konkreten Vorgänge verwickelt. Die Rolle, die Frau Honecker gespielt hat, muß genau aufgeklärt werden. Mir wird immer mehr klar, daß die Regierungskriminalität ein Schlüssel bei der Bewältigung des SED-Unrechts ist. Ich weiß sehr wohl, daß es bei der menschlichen Bewältigung der Zwangsadoptionen noch viele Probleme geben wird. Wir können sie den Betroffenen leider nicht abnehmen. Eltern und Kinder können aber sicher sein, daß ihnen jede Unterstützung und jede Hilfe gewährt wird, die nur möglich ist. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 11 — Antrag betr. nationale und internationale Konsequenzen der ökologischen Auswirkungen des Golf-Krieges — Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Der hier vorliegende Antrag des Abgeordneten Dr. Feige und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE zieht in einer Weise Konsequenzen aus dem Golfkrieg und seinen katastrophalen Folgen, die diesem Hause, wenn es sich denn als Vertretung der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes begreifen würde, sehr wohl angemessen wäre. Leider ist zu vermuten — die Redebeiträge aus der Koalition sowohl zum Krieg selbst wie auch allgemein zu Fragen von Abrüstung und Frieden und die heutige Aktuelle Stunde zu den Polizeieinsätzen in Gorleben gegen Atomkraftgegner und -gegnerinnen zeigen es — , daß ein Umdenken von dieser Koalition nicht zu erwarten ist. Nichtsdestotrotz werden die Abgeordneten der PDS/LL diesem Antrag zustimmen, um mitzuhelfen, daß das Bewußtsein für die einzig mögliche Alternative zu Krieg, Ausbeutung der Dritte-Welt-Länder, massiver Zerstörung unser aller Lebensgrundlage und Abbau der sozialen und demokratischen Rechte der Menschen auch dieses Landes wachsen kann. Diese einzig mögliche Alternative liegt in der Anerkenntnis begründet, daß niemand das Recht hat, seine Vorstellungen und Überzeugungen mit militärischer Gewalt durchzusetzen, und daß eine Lösung aller Probleme allein durch solidarisches Handeln erreicht werden kann. Immer wieder ist auch in diesem Hause die Rede davon, wie doch die veränderten Bedingungen in der Welt — gemeint ist damit der Zusammenbruch der Politbürokratien Osteuropas — auch eine veränderte Politik dieses Landes ermöglichen. Praktische Konsequenzen werden nicht gezogen: Der Versuch, schnelle Eingreiftruppen zu installieren — und ich frage, wo die eingesetzt werden sollen — , die Weigerung, sich konstruktiv mit der Forderung sehr vieler Menschen nach Ausstieg aus der Atomenergie auseinanderzusetzen, die Plattwalzpolitik in Ostdeutschland sind deutliche Hinweise darauf, daß die Regierenden dieses Landes offenbar keine Veranlassung sehen, etwa einen neuen Ansatz für ihre Politik zu suchen. Nun zu dem Antrag: Hier wird — ich hoffe, in auch für die Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition verständlicher Form — dargelegt, wie durch Nachsorgepolitik und völkerrechtliche Vereinbarungen allein die ökologische Bedrohung der Menschheit durch Kriege nicht beseitigt werden kann, sondern daß es um die Beseitigung der Kriegsursachen gehen muß. Und ich füge hinzu, solange nicht mögliche Kriegsursachen wie Hunger, Unterdrückung, Machtgier, aber auch Gewinnsucht und Hegemoniebestrebungen für immer beseitigt sind, muß es eine Verständigung darüber geben, daß Krieg eben nicht mehr die legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sein kann. Der Golfkrieg mit all seinen Folgen ist immer noch das aktuelle Beispiel dafür, wie Milliarden Mark dafür vernutzt wurden, im Namen der Freiheit Hunderttausende Menschen zu töten, ein Land in Schutt und Asche zu legen, Weltkulturgüter zu vernichten und ökologische Schäden anzurichten, deren Behebung wiederum Milliarden Mark verschlingen wird: der vorhersehbare sinnlose Kreislauf, der nur die Taschen derjenigen füllt, die Kriegsmaterial herstellen, das ja schließlich „verbraucht" wurde, und die Leistung derjenigen abzieht, deren Potenz und Kenntnisse dringend für die Beseitigung von Umweltschäden, die „nur" durch unsere exzessive Produktions- und Konsumtionsweise entstehen, gebraucht werden. Nötig ist hier neben der Hilfe bei der Ölbrandbekämpfung und anderen umwelttechnischen Maßnahmen die Lieferung von Hilfsgütern aller Art sowie die Unterstützung bei der Lösung der langfristigen Probleme dieser Region. Die gravierendsten Probleme, die der Krieg zum Teil verschärft — wie die Autonomieforderungen verschiedener Völkergruppen — oder erst hervorgerufen hat — wie die mangelhafte Versorgung mit Wasser und Nahrungsmitteln — können nur durch internationale Unterstützung der politischen Forderungen und durch Hilfsprogramme gelöst werden. Wir teilen die Auffassung, daß völkerrechtliche Konsequenzen aus diesem Krieg gezogen werden müssen. Vor allem unterstützen wir die Forderung nach Einsetzung eines internationalen Untersu- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2703* chungsausschusses, der sich mit den am Golf eingesetzten Kriegsführungsmethoden gegen Zivilbevölkerung und Umwelt auseinandersetzt. Nun zu den innenpolitischen Folgerungen: Hier legen wir besonderen Wert auf die Feststellung, daß es dringend erforderlich ist, gerade in der Energiepolitik mit dem sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie eine grundsätzliche Wende zu vollziehen und statt auf forcierten Energieverbrauch auf eine neue Energiepolitik der Einsparung und der Umstellung auf erneuerbare Energien zu setzen. Die PDS/LL unterstützt nachdrücklich die Forderung nach Annulierung des Stromvertrages der Energieversorgungsunternehmen Westdeutschlands, der nicht einfach nur die Rechte der Kommunen in der ehemaligen DDR beseitigt, sondern auch verhindert, daß dort mit Stadtwerken ein strukturell effizientes Energiesystem aufgebaut wird. Zu den innenpolitisch notwendigen Folgerungen gehören für die PDS/LL ebenso Konsequenzen für den Verkehrsbereich: Neben der vorrangigen Vermeidung von Verkehr kann nur der flächendeckend betriebene Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und der generelle Vorrang der Schiene vor der Straße im Güterverkehr gravierende Verringerungen im Treibstoffverbrauch und bei den Emissionen erreichen. Tempo 100 gehört für uns genauso zu den längst überfälligen Maßnahme wie ein Mineralölabgabengesetz. Als Mitglied der Völkergemeinschaft ist die BRD gefordert, sich für eine umfassende Schuldenstreichung der Länder Afrikas, Asiens, Osteuropas und Süd- und Lateinamerikas einzusetzen. Dieser Schuldenerlaß ist die Voraussetzung dafür, daß die betreffenden Länder überhaupt in der Lage sind, Verhältnisse zu schaffen, die für alle Menschen sozial und ökologisch vertretbar sind und z. B. die soziale Klimakatastrophe, die dort durch Armut droht, verhindern können. Ich hoffe, daß die inhaltliche Auseinandersetzung mit diesem umfangreichen Antrag nicht nur dazu führen wird, daß umweltpolitische Positionen revidiert werden, sondern daß auch solche Vorschläge wie die Befreiung von der Militärsteuer, deren Ablehnung noch einmal deutlich gemacht hat, wie bestimmte Politiker und Politikerinnen nicht zum Umdenken bereit sind, erneut auf die Tagesordnung kommen. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 12 — Antrag betr. Erlassung der Schulden Nicaraguas gegenüber der DDR — Klaus Jürgen Hedrich (CDU/CSU): Die Streichung von Altschulden Nicaraguas gegenüber der ehemaligen DDR halten wir aus entwicklungspolitischer Sicht für berechtigt, ja notwendig. Allerdings darf die Problematik von DDR-Schuldnern nicht auf ein Land reduziert werden. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, ein Gesamtkonzept vorzulegen. Völlig unakzeptabel wäre allerdings eine Lösung, die zu Lasten des BMZ-Etats ginge. Einlassungen von Regierungsvertretern, der Erlaß von Schulden könnte mit erheblichen zusätzlichen Belastungen des Bundeshaushaltes verbunden sein, da die Betriebe und Banken ihre Forderungen an Entwicklungsländer durch eigene Mittelaufnahme refinanziert haben und diese Mittelaufnahme im Falle eines Forderungsverzichts abzulösen wäre, gehen an der Wirklichkeit vorbei. Glaubt jemand im BMF allen Ernstes, daß wir von den betroffenen Entwicklungsländern größere Beträge zurückerhalten? Beispiel Syrien: Die Gesamtschulden belaufen sich auf 650,4 Millionen. Es scheint mir schon ein gewisser Widerspruch darin zu liegen, wenn man einerseits Rückzahlungen erwartet, andererseits aber seitens der Bundesregierung ein neuer Zweihundert-Millionen-Scheck überreicht wird. Der Antrag der PDS ist allerdings nicht ohne Ironie. Es ist für mich überhaupt nicht hinnehmbar, wenn hier gerade diese Gruppierung, die mit die Verantwortung für vierzig Jahre Unterdrückung in der ehemaligen DDR und Unterstützung eines Unterdrükkungssystems in Nicaragua trägt, nun den Eindruck demokratischer Glaubwürdigkeit erwecken will. Erstens. Der demokratische Neuanfang dieses leidgeprüften Landes darf nicht durch die sandinistische Erblast zerstört werden. Die Sandinisten hatten zwar auch von Somoza schon erhebliche Schulden übernommen. Mit der Welle der Hilfsbereitschaft ab 1979 hätten sie ihr Land aber auf den Weg eines zweiten Costa Rica bringen können. Statt dessen provozierten sie Bürgerkrieg, Massenflucht, Zerstörung von Infrastruktur und Ernährungsbasis. Frau Chamorro erbte daher einen noch größeren Schuldenberg und eine völlig zerrüttete Wirtschaft sowie galoppierende Inflation mit wahrhaft astronomischen Werten. Derart gefesselt kann der Sprung zur Reform nicht gelingen. Zweitens. Die Sandinisten haben tatsächlich alles vor der Machtübergabe abgeräumt, was beweglich war. Sie haben sich bis April 1990 ihre schamlose Selbstbedienung mit ihrer Mehrheit legalisiert. Die Parallelen zur DDR, als sie in ihren letzten Zügen lag, sind unverkennbar. Drittens. Nicaragua erfüllt zur Zeit alle Voraussetzungen eines Least Developed Country. Angeblich verhindert die relativ hohe Alphabetisierungsrate eine derartige Einstufung. So bedeutend war die Alphabetisierungskampagne der Sandinisten aber nicht und vor allem auch nicht nachhaltig. Wir sollten nicht die Propaganda der Sandinisten glauben und das neue demokratische Nicaragua dafür büßen lassen. Die Vereinten Nationen gewähren über ihre Unterorganisationen dem Land die gleichen Konditionen wie einem LDC. Es sind auch die VN, die den LDC-Status zuteilen. Es gibt keinen Grund für uns, bei Nicaragua vom üblichen Verfahren abzuweichen. 2704* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 13 — Antrag betr. Aufnahme des grünen Pfeils in die Straßenverkehrsordnung — Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Die Diskussion um den grünen Pfeil, um das Für und Wider dieser Regelung für das Rechtsabbiegen bei „Rot" an ampelgeregelten Kreuzungen in der ehemaligen DDR bewegt inzwischen seit Monaten Bürgerinnen und Bürger vor allem in den neuen Bundesländern. Sie schließt den Streit verantwortlicher Politiker, Stellungnahmen von Verkehrsverbänden und Verkehrsexperten ein. Es wurden regelrechte Kopfstände vollführt, der Pfeil demontiert und wieder montiert. Die letztlich getroffene Kompromißlösung, die Rechtsabbiegeregelung in den neuen Bundesländern bis zum 31. Dezember 1991 beizubehalten, sollte sicher auch den wachsenden Unmut von Bürgern der ehemaligen DDR dämpfen. Die ja damit eingeschlossene Liquidierung dieser nützlichen Verkehrsregelung zum Jahresende sehen viele Menschen in den neuen Bundesländern als Bestandteil einer Politik, nach der alles, was nicht in eingefahrene Gleise der Alt-BRD paßt, auch nichts in der Gesetzgebung zu suchen hat. Mit unserem Antrag zur Änderung der Straßenverkehrsordnung hinsichtlich der Übernahme des grünen Pfeils soll Bewährtes als eine vernünftige Regelung in ganz Deutschland gesetzt werden. Wenn ich entsprechende Meldungen richtig deute, steht ja auch der Bundesverkehrsminister Günther Krause mit seinen Erfahrungen als Verkehrsteilnehmer in der ehemaligen DDR dieser Regelung aufgeschlossen gegenüber. Wortmeldungen des Berliner Senators Elmar Pieroth verdeutlichen, daß er auch ohne diese Erfahrungen für den Pfeil im deutschen Straßenverkehr ist. Mit unserem Antrag plädieren wir für Vernunft, für die Verbesserung des Verkehrsflusses für Fußgänger, Radfahrer und Kraftfahrer an Kreuzungen. Die Entscheidung, welche größeren ampelgeregelten Kreuzungen mit dem Abbiegepfeil für Rechtsabbiegen bei „Rot" ausgerüstet werden, ist dabei eine rein kommunale Sache. Verstopfte Straßen, starke Abgasemissionen, Verkehrschaos nicht nur zu Spitzenzeiten sind bestimmend für das Bild in den Städten. Nun ist der „grüne Pfeil" nicht die Lösung — diese bedarf einer völlig neuen Verkehrspolitik — , aber ein Mittel für eine gewisse Entschärfung an stark frequentierten Kreuzungen. Unübersehbar ist, die in den neuen Bundesländern anstehenden Verkehrsprobleme wurden und werden durch die Demontage der grünen Pfeile an den Ampeln der Kreuzungen für das Rechtsabbiegen bei „Rot" zusätzlich verschärft. Der grüne Pfeil war wesentliches Element des fließenden Verkehrs in den Kreuzungsbereichen. Seine ersatzlose Demontage im Rahmen der Straßenverkehrsordnung der alten Bundesländer führt zum Anwachsen und Entstehen von neuen Staus und belastet dadurch die Luft in den Städten zusätzlich. Was das Argument zur Verringerung der Verkehrssicherheit für Fußgänger durch die Möglichkeit des Rechtsabbiegens bei „Rot" betrifft, so war in der früheren DDR nach Einführung dieses Pfeils keine Unfallzunahme — aus ebendiesen Gründen — zu verzeichnen. Alle sachlichen Gründe sprechen für die Aufnahme des „grünen Pfeils" in die Straßenverkehrsordnung der BRD. Dagegen spricht nur die Nichtakzeptanz der Übernahme früheren DDR-Rechts in die Gesetze der BRD. Eduard Oswald (CDU/CSU): Unser gemeinsames Ziel muß die Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer auf und an unseren Straßen sein. Ohne jetzt Pro und Kontra zu beleuchten, muß man objektiv feststellen: Ein sachgerechter Abbau der Grünpfeile und eine Umstellung auf die nach der Straßenverkehrsordnung zulässigen Möglichkeiten — wie grüner Lichtpfeil oder gesonderte Abbiegespur mit negativen Vorfahrtszeichen — wird bis zum Ablauf der vorgesehenen Übergangsfrist nicht möglich sein. Es ist deshalb eine Verlängerung dieser Frist durch eine neue Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrsordnung anzustreben. Es ist keine Frage, daß es Kreuzungsbereiche gibt, in denen es im Interesse der Leistungsfähigkeit der Kreuzung und damit der Verbesserung des Verkehrsflusses dem Kraftfahrzeugverkehr ermöglicht werden muß, nach rechts abbiegen zu dürfen, wenn dem Geradeaus- oder dem Linksabbiegeverkehr die Weiterfahrt durch Rotlicht einer Lichtzeichenanlage untersagt ist. Dies gilt ganz sicher gleichermaßen für die neuen wie für die alten Bundesländer. Ich will jetzt nicht auf die Entstehungsgeschichte der Grünen-Pfeil-Regelung eingehen. Das entscheidende Argument für die Beibehaltung und Einführung einer solchen Regelung ist der Verkehrsfluß. Die Frage wird sein, ob die für den Verkehrsfluß positive Wirkung des Grün-Pfeils die mit dem wachsenden Verkehr auftretenden Verkehrsprobleme lösen kann. Ich glaube, gerade in den Kreuzungsbereichen, besonders in den größeren Städten, wird man den starken Verkehrszuwächsen nur mit der Nutzung der Möglichkeiten der modernen Lichtsignaltechnik und einer entsprechenden Ampelschaltung gerecht werden können. Auch wenn ich das Thema jetzt problematisiere, bin ich der Meinung, daß eine endgültige Entscheidung zur Aufnahme oder Nichtaufnahme des Grünen Pfeils in die Straßenverkehrsordnung erst dann getroffen werden kann, wenn uns eindeutige Analysen auf der Basis der Verkehrskonflikttechnik vorliegen. Ich kann nur begrüßen, daß der Bundesminister für Verkehr die Bundesanstalt für das Straßenwesen — und hier die Außenstelle Berlin — beauftragt hat, gemeinsam mit der Hochschule für Verkehr in Dresden ein Gutachten zu erstellen. Wir werden dann im Herbst im Verkehrsausschuß auf der Grundlage dieser Ergebnisse Vor- und Nachteile der Grünen-Pfeil-Regelung abzuwägen haben. Dabei gelten drei entscheidende Punkte: 1. Die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer, 2. die Leistungsfähigkeit lichtsignalgesteuerter Knotenpunkte, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2705* 3. die Auswirkung auf den Verkehrsablauf, auf Emission und weitere Probleme auf der Basis der Verkehrskonflikttechnik. Wir werden dann auch sehr sorgfältig die Auswirkungen auf alle Verkehrsteilnehmer zu überprüfen haben, auf den Fußgänger ebenso wie auf den Radfahrer. Denn der Schutz des schwächeren Verkehrsteilnehmers, unserer Kinder, der älteren Menschen, muß sehr sensibel diskutiert werden. Es ist keine Frage, daß durch den zunehmenden Verkehr sich die Probleme für den Fußgänger verstärken. Ich will jetzt nicht die Frage prüfen, ob der Abbau der Grünpfeile in erster Linie ursächlich für Verkehrsstauungen in einzelnen Städten ist. Es muß geprüft werden, ob die bisherigen Ampelschaltungen den starken Verkehrszuwächsen nicht mehr gewachsen sind. Abhilfe kann insoweit nur die verkehrsgerechte Umstellung der Ampel schaffen. Bei diesen nun anstehenden Untersuchungen bitte ich, auch die Ergebnisse aus den USA mit einzubeziehen, wo eine Regelung das Abbiegen, besser: Einbiegen, bei Rot gestattet. Ferner ist sicher zu überprüfen, inwieweit die Grüne-Pfeil-Regelung mit dem „Wiener-Übereinkommen über die Verkehrszeichen" vereinbar ist. Wir müssen die Frage einer einheitlichen europäischen Regelung ebenfalls im Auge behalten. Wir sind europäisches Durchgangsland, und es muß überprüft werden, was es bedeutet, wenn Verkehr aus dem Ausland, wo die Grüne-Pfeil-Regelung nicht praktiziert wird, hinzukommt. Wenn ich jetzt bei der Beurteilung des Antrags kritische Fragen formuliert habe, so ist dies keine abschließende Bewertung. Wichtig scheint mir auch zu sein, daß die Mittel des kommunalen Straßenbaus, die ja erheblich verstärkt wurden, auch dafür verwendet werden, einen zügigen Umbau der Straßenkreuzungen vorzunehmen, wo die Verkehrssicherheit dies erfordert, um Verkehrsfluß und Sicherheit gleichermaßen zu verbessern. Nehmen wir uns nach Vorliegen der Gutachten für eine objektive Beurteilung auch aller internationalen und rechtlichen Fragen dann die Zeit, dieses Thema im Verkehrsausschuß eingehend zu erörtern! Dr. Dietmar Matterne (SPD): Die DDR gibt es nicht mehr, und mit ihr sind viele Symbole und Zeichen vergangen. Hammer und Sichel sind unter Mitwirkung und Beifall des Volkes entfernt worden. Anders sieht es mit dem unscheinbaren kleinen grünen Pfeil aus, einem verkehrsorganisatorischen Hinweis, bewährt und voll akzeptiert im Alltag der Autofahrer des Ostens. Sein Verschwinden wird sehr bedauert. Die Entscheidung für und wider diese Regelung hat sich zum Politikum mit Symbolcharakter entwickelt. Wir wollten im Osten die Einigung, das Grundgesetz, eine demokratische Staatsordnung. Wir wollten dies allerdings nicht durch einseitiges konsequentes Überstülpen der westdeutschen Ordnung; das wenige Brauchbare sollte sorgfältig geprüft werden, ob es nicht auch für das geeinigte Deutschland geeignet ist! Die Vorschriften der Straßenverkehrsordnung sollen darauf hinzielen, die Sicherheit im Straßenverkehr zu gewährleisten. 11 000 Verkehrstote im Jahr mahnen dies dringend an. In Ostdeutschland ist die Zahl der Verkehrstoten im vergangenen Jahr um 80 % (!) gestiegen. Wesentlich dazu beigetragen haben Aggressionen im dichten Straßenverkehr. Dem muß durch bessere Regelungen entgegengetreten werden. Neben dem Problem der Verkehrssicherheit stellt sich zudem die Frage, inwieweit die Umweltbeeinträchtigung — Lärm und Kraftstoffverbrauch — gemindert werden können. Die übliche Reihenfolge bei der Einführung neuer Regelungen ist: 1. die gutachtliche Bewertung der geplanten Maßnahme; 2. die experimentelle Phase, in der Regel durch einen Großfeldversuch. Mit dem grünen Pfeil ist es nun umgekehrt. Der Großfeldversuch hat — als geltendes Straßenverkehrsrecht der DDR — jahrelang stattgefunden. Das von Bundesverkehrsminister Krause in Auftrag gegebene Gutachten wird mit Optimismus erwartet. Entsprechend der Verkehrsbelastung sind für Kreuzungen unterschiedliche Maßnahmen erforderlich; an einfachen, übersichtlichen Straßenschnittpunkten genügen Verkehrszeichen, an komplizierten sind aufwendige Ampelanlagen u. a. erforderlich. Möglich ist, daß der grüne Pfeil im mittleren Bereich eine Lücke schließen und mit zu einem reibungslosen Verkehrsablauf beitragen kann. Sehr gut vorstellen könnte ich mir dies z. B. für den Bereich des Bundestags in Bonn. Die SPD-Fraktion wird sich abschließend erst nach Vorlage des genannten Gutachtens äußern und schlägt Überweisung vor. Dr. Klaus Röhl (FDP): Es entbehrt nicht einer gewissen Delikatesse, nicht einer besonderen Ironie, daß gerade die Gruppe PDS/Linke Liste beantragt, daß man bei einem roten Sperrsignal, komplettiert durch einen grünen Pfeil, nach rechts abbiegen darf. — Dies nur zur Aufmunterung in dieser späten Stunde. Der grüne Pfeil an der Verkehrsampel ist eines der wenigen, von der verflossenen DDR auf uns überkommenen Dinge, über deren weitere Existenz sich nachzudenken lohnt. Seine Funktion, seine Wirkungsweise vor Ort ist hinreichend bekannt. Trotzdem möchte ich in diesem Zusammenhang auf zwei wichtige Fakten hinweisen, die in der Regel nicht auffallen, daher nicht beachtet werden, aber in der Praxis wichtig sind. 1. In gleicher Fahrtrichtung geradeausfahrende Radfahrer werden durch die Rechtsabbieger nicht gefährdet, denn sie müssen ja bei Ampel „rot" stehenbleiben. 2. In gleicher Richtung geradeauslaufende Fußgänger werden durch den Rechtsabbiegerverkehr ebenfalls nicht gefährdet, denn auch für sie gilt das Signal Ampel „rot" , also müssen auch sie stehenbleiben. Allen anderen Verkehrsteilnehmern in der grünen freigegebenen Richtung ist der Vorbeimarsch oder die Vorfahrt zu gewähren. Der große Nutzen dieses kleinen Ampelaccessoires für den Verkehr liegt in der Tatsache, daß es zügiges 2706* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Kreuzungsräumen ermöglicht, damit den Rückstau erheblich vermindert, und daß es ausgesprochen preiswert ist und aufwendige Ampelausstattung erspart. Natürlich sollte es, wie bei allen preiswerten Accessoires, nur an solchen Stellen zur Anwendung gelangen, wo seine Regelwirkung gut ist, wo es nicht überfordert wird, kurz, wo es nützlich ist. Solche Stellen sind aber in unseren Straßen in überreichlicher Zahl vorhanden. Seine Anwendung hat sich in den jetzigen, nun neuen Bundesländern seit vielen Jahren bewährt. Mehr noch in einem unbeabsichtigten, aber beeindruckenden mehrwöchigen Feldversuch hat der ehemalige Berliner Verkehrssenator Wagner bewiesen, daß mit dem Entfernen dieses kleinen Helfers sich hervorragend kilometerlange Staus mit dem zugehörigen Verkehrschaos und Belastungen für die Menschen hervorrufen lassen. Das hatte die Wirkung, daß der konkurrierende Bausenator und der nachfolgende Verkehrssenator die kleinen Pfeile wieder anmontieren ließen, wofür ihnen die Berliner noch heute, trotz der doppelten Kosten, dankbar sind. Der Landtag von Sachsen hat übrigens beschlossen, die grünen Pfeile erhalten zu wollen. Noch ein Hinweis: In den USA kommt man sogar bei gleicher Verfahrensweise an den Ampeln ohne grüne Pfeile aus, aber vielleicht ist dort grün nicht besonders populär. Wie ist nun heute die Sachlage bei uns? Der Herr Verkehrsminister hat sich, in diesem Falle in dankenswerter Weise, schon öffentlich positiv für dieses Verkehrszeichen ausgesprochen. In den neuen Bundesländern bleibt dieser Pfeil vorerst, d. h. bis Ende 1991 erhalten. Eine Verlängerung dieser Frist ist vorgesehen. Seine Einführung in den alten Bundesländern wird erwogen, insbesondere da sich herausgestellt hat, daß entgegen früheren Aussagen die Wiener Konvention dieses Verkehrszeichen zuläßt, es also nicht ausdrücklich verbietet. Zur Zeit wird durch das Bundesamt für Straßenwesen zusammen mit der Hochschule für Verkehr in Dresden ein Gutachten zur Anwendbarkeit des grünen Pfeils erarbeitet. Dieses Gutachten, das für Juli 1991 avisiert ist, sollte abgewartet werden. Wir empfehlen daher, den vorliegenden Antrag zur weiteren Bearbeitung an den Verkehrsausschuß und natürlich auch an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Noch ein Wort zum Abschluß. Wir haben hier mit diesem kleinen Verkehrsregelzeichen ein besonders gutes Beispiel, wie man eine Regelungsangelegenheit vertrauensvoll in die Hände der verantwortungsbewußten Bürger legen kann, und das mit bewiesenem Erfolg. Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr: Die Grün-Pfeil-Regelung wurde 1977 in die Straßenverkehrs-Ordnung der damaligen DDR aufgenommen; zuvor war das Rechtsabbiegen bei Rot generell erlaubt. In der Begründung zur GrünPfeil-Regelung heißt es: ,,... in Übereinstimmung mit der Wiener Konvention wurde das Rechtsabbiegen bei Rot verboten, in Ausnahmefällen soll diese an sich bewährte Form des nichtkonfliktfreien Rechtsabbiegens jedoch noch zugelassen werden, ..." In der Praxis wurde dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis jedoch umgekehrt, der grüne Pfeil wurde an 70 bis 80 % der Kreuzungen in der bisherigen DDR installiert. Die Bundesregierung hat auf Probleme beim Abbau des grünen Pfeils rasch reagiert. Der Abbau des grünen Pfeils brachte spürbare Behinderungen im Verkehrsfluß in den neuen Ländern. Daher hat das Bundesverkehrsministerium bereits Ende 1990 mit einer Übergangsregelung (3. Ausnahmeverordnung zur Straßenverkehrsordnung vom 11. Dezember 1990) die weitere Verwendung des grünen Pfeils in den neuen Ländern bis zum 31. Dezember 1991 zugelassen. Der Bundesregierung ist bekannt, daß ein sachgerechter Abbau der Grünpfeile und eine Umstellung auf die nach der Straßenverkehrs-Ordnung zulässigen Möglichkeiten — wie grüner Lichtpfeil oder gesonderte Abbiegespur mit negativem Vorfahrtszeichen — bis zum Ablauf dieser Übergangsfrist nicht möglich sein wird. Wir streben daher eine Verlängerung der Übergangsfrist durch eine neue Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung an. Insofern dürften die in dem Antrag zum Ausdruck gebrachten Bedenken gegen einen sofortigen Abbau des grünen Pfeils ausgeräumt sein. Zur weiteren Zukunft der Grün-Pfeil-Regelung: Um in der Zukunft eine endgültige Entscheidung zur Aufnahme/Nichtaufnahme des grünen Pfeils in die Straßenverkehrs-Ordnung treffen zu können, hat der Bundesminister für Verkehr die Bundesanstalt für Straßenwesen (Außenstelle Berlin) beauftragt, gemeinsam mit der Hochschule für Verkehr in Dresden eine Analyse auf der Basis der Verkehrskonflikttechnik zu erstellen. Die Vorlage des Gutachtens wird für Juli dieses Jahres erwartet. Dann wird zu prüfen sein, ob und gegebenenfalls wie die Regelung über den grünen Pfeil umgesetzt werden kann. Hierbei wird auch eine Rolle spielen, inwieweit eine solche Regelung mit dem Wiener Übereinkommen über Straßenverkehrszeichen vereinbar ist. Die in Aussicht stehende weitere Verlängerung der Übergangsfrist für die Grün-Pfeil-Regelung wird es nicht zu akuten Problemen kommen lassen und bietet genügend Zeit auch für bauliche Veränderungen im Kreuzungsbereich; über die Zukunft der Grün-PfeilRegelung und deren eventuelle Übernahme in die Straßenverkehrs-Ordnung kann somit in Ruhe entschieden werden. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 14 — Erste Beratung zum Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 1991 — Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Der Ihnen vorliegende Entwurf des Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetzes 1991 setzt die erfolgreiche Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2707* Dienstrechtspolitik der Koalitionsfraktionen fort. Diese Politik bleibt auf absehbare Zeit von zwei Zielen bestimmt, die wir gleichzeitig anstreben: Erstens. In den neuen Bundesländern ist eine rechtsstaatliche, effiziente Verwaltung aufzubauen, und zwar so schnell wie möglich. Zweitens. In den alten Bundesländern müssen wir eine bewährte, leistungsfähige Verwaltung auch in Konkurrenz zu Wirtschaft und Industrie neuen Anforderungen anpassen. Unstreitig ist inzwischen selbst für notorische Kritiker des öffentlichen Dienstes, daß eine hochentwikkelte, arbeitsteilige Volkswirtschaft ohne die Infrastrukturleistungen einer öffentlichen Verwaltung nicht erfolgreich arbeiten kann. Unstreitig ist auch, daß Wirtschaft und Industrie in den alten Bundesländern erfolgreich arbeiten — auch dank des öffentlichen Dienstes. Aber: Dieser öffentliche Dienst muß im Wettbewerb um qualifizierten Nachwuchs mit der im Westen auf Hochtouren laufenden Wirtschaft Schritt halten. In vielen Bereichen, besonders in technischen Verwaltungen, aber auch in der Steuerverwaltung mehren sich die Anzeichen, daß Bewerber nur noch sehr schwer zu gewinnen sind oder daß qualifizierte Beamte den öffentlichen Dienst verlassen. In Ballungsgebieten gilt dies ganz besonders. Es ist deshalb richtig, mit dem jetzt zur Beratung anstehenden Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetz 1991 den 6 %-Tarifabschluß für die Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst voll auf die aktiven und die ehemaligen Beamten zu übertragen. Daß diese Besoldungs- und Versorgungserhöhung statt zum 1. Januar 1991 zum 1. März 1991 in Kraft treten wird, ist kein Sonderopfer, sondern ein Solidarbeitrag der Beamten zu den Kosten der Angleichung der Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland, die auch Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst aufgrund der gestiegenen Abgaben zur Arbeitslosenversicherung tragen müssen. Auch für die Versorgungsempfänger, also die Ruhestandsbeamten gilt als Zeitpunkt des Inkrafttretens der Versorgungsanpassung der 1. März 1991. Das ist, wie ich zugebe, im Vergleich zu den Rentnern nicht unproblematisch, entspricht aber dem gesetzlichen Gebot, Besoldung und Versorgung gleichzubehandeln. Meine Fraktion hat im Vorfeld der Erarbeitung des Gesetzentwurfs angeregt, für einen Ausgleich des späteren Inkrafttretens zu sorgen. Dem wurde entsprochen. Für die Versorgungsempfänger wird ab 1993 der Versorgungsanpassungszuschlag wieder eingeführt; dies stellt sicher, daß ehemalige Beamte — wie Rentner — an allen Einkommensverbesserungen der aktiven Beamten partizipieren. Sozusagen im Vorgriff werden die Versorgungsempfänger bereits 1991 eine um 0,4 % höhere Versorgung erhalten. Wir lassen die Ruhestandsbeamten nicht im Stich! Bei der Beratung des Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetzes werden wir prüfen, wo weitere gezielte Verbesserungen notwendig und möglich sind, damit der öffentliche Dienst in die allgemeine Wirtschaftsentwicklung einbezogen bleibt und nicht personell ausblutet. Ich denke z. B. daran, daß auch die Feuerwehrbeamten in die Regelung für die Schicht- und Wechselschichtzulage einbezogen werden. Für Beamte in technischen Verwaltungen und in der Steuerverwaltung müssen nach meiner Auffassung die Stellenplanobergrenzen verbessert werden, damit diese Verwaltungsbereiche den Abwerbungsversuchen der Wirtschaft standhalten können. Wir werden auch sorgfältig untersuchen, inwieweit die für Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst neben der linearen Gehaltssteigerung von 6 % vereinbarten Tarifregelungen auf den Besoldungsbereich übertragen wurden und inwieweit noch Ergänzungen erforderlich sind. Auf Grund der ab 1. Juli 1991 in den neuen Bundesländern geltenden 2. Besoldungsüberleitungsverordnung erhalten die Beamten dort 60 % der Besoldung in den alten Bundesländern; auch diese Beamten haben also Anteil an den Besoldungsverbesserungen. Das ist ein weiterer Schritt, die Einkommensverhältnisse im öffentlichen Dienst in den alten und den neuen Bundesländern einander anzugleichen. In diesem Zusammenhang ein Wort zum Aufbau von Verwaltung und Justiz in den neuen Bundesländern: Wenn es des Beweises bedurft hätte: Die ehemalige DDR hat mit ihrem auf Unterdrückung und Mängelverwaltung ausgerichteten Staatsapparat auf Kosten unserer Landsleute den fatalen Beweis erbracht, wie unabdingbar eine auf Recht und Gesetz verpflichtete demokratische Verwaltung für das Wohl der Bürger ist. Diese Verwaltung gilt es mit aller Entschiedenheit und schnell aufzubauen. Dafür sind — ich betone: für eine Übergangszeit — westdeutsche Fachleute erforderlich. Ich brauche das nicht näher zu begründen. Festhalten aber will ich: Die Maßnahmen der Bundesregierung und das vom Deutschen Bundestag auf Initiative der Koalitionsfraktionen beschlossene 10- Punkte-Programm greifen. Die Bereitschaft zum Wechsel in die neuen Bundesländer ist hoch; für Zwangsversetzungen bestand und besteht nach unseren derzeitigen Erfahrungen überhaupt kein Anlaß. Mehr als 10 000 Mitarbeiter aus dem Westen helfen bereits in den neuen Bundesländern beim Aufbau von Verwaltung und Justiz. Dennoch lasse ich offen, ob dies in Zukunft ausreicht. Wenn nötig, werden wir unsere Anreize weiter verbessern und verfeinern. Nach der Sommerpause werden wir eine konkrete Zwischenbilanz ziehen. Die insgesamt bis jetzt positive Entwicklung darf uns nicht den Blick auf — nach meiner Auffassung — unverzeihliches Fehlverhalten einzelner verstellen. In vielen Fällen, die mir und meinen Kollegen geschildert werden, geht die Personalvermittlung nur schleppend vonstatten, weil Behördenleiter eine Personalabgabe absichtsvoll verzögern oder gar verhindern. Dafür darf es — von begründeten Ausnahmen abgesehen — kein Verständnis geben. Jetzt ist nicht die Zeit für kleinkarierten Behördenegoismus. Helfen ist angesagt! Wir danken ausdrücklich den Beamten und Angestellten, die in den neuen Bundesländern tatkräftig helfen, im vereinten Deutschland einheitliche Lebensverhältnisse herzustellen. Noch eine Anmerkung zu der Blockade-Haltung mancher Behörden: Bevor jemand über nicht zu erledigende Arbeiten klagt, muß er prüfen, ob diese überhaupt erforderlich sind. Arbeitsverdichtung, die ich 2708* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 nicht grundsätzlich bestreiten will, kann und muß als ein Mittel zur Rationalisierung begriffen werden, als Anlaß für innerbehördliche Vorschriftenentsorgung. Zeit- und Aufgabendruck schärfen den Blick für das Wesentliche. Die Verwaltungen in den neuen Bundesländern, besonders die Gemeinden, fordere ich auf, die angebotenen Personal- und Finanzhilfen zum Verwaltungsaufbau unverzüglich anzunehmen. Die Mitarbeiter westdeutscher Verwaltungen kommen nicht, wie es die PDS zum Schutz ihrer Seilschaften darzustellen versucht, als „Besatzer" , sondern als Menschen, die aus nationaler Solidarität helfen wollen. Den offenbar unvermeidlichen Kritikern des Finanzaufwandes für die Personalhilfen hier im Westen sage ich: Diese Finanzhilfen sind keine verlorenen Kosten, sondern Investitionen in unsere gemeinsame Zukunft, die wir vor allem den Menschen in den neuen Bundesländern schulden. Fritz Rudolf Körper (SPD): Unter der Drucksache 12/732 liegt uns der Entwurf eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern für das Jahr 1991 vor. Dieser Gesetzentwurf ist von der Bundesregierung eingebracht worden. Er hat in erster Linie die Anpassung der Bezüge der Beamten, Richter und Soldaten sowie der Versorgungsempfänger des Bundes, der Länder und Gemeinden entsprechend der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse unter Berücksichtigung des Tarifabschlusses für den Arbeitnehmerbereich des öffentlichen Dienstes vom 16. März 1991 zur Grundlage. Der Vorschlag wird gemacht, die Bezüge linear um 6 Prozent zum 1. März 1991 anzuheben. Dazu bleibt festzustellen: Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes haben Anspruch auf Teilnahme an der allgemeinen Einkommensentwicklung. Dabei hat sich in der Vergangenheit das Verfahren bewährt, die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst auch auf den Beamtenbereich zu übertragen. Davon sollte auch in diesem Jahr keine Ausnahme gemacht werden. Dies bedeutet nach unseren Vorstellungen, daß man die Anpassung zum 1. Januar 1991 vornehmen sollte. Ich bin überzeugt, daß auch die Beamtinnen und Beamten bereit sind, ihren Beitrag zur Finanzierung der deutschen Einheit zu leisten. Eine inhaltliche Abkoppelung der Beamtenbesoldung vom Tarifergebnis ist aber nicht der richtige Weg, dies zu gewährleisten. Eine gerechte Verteilung der Lasten kann nur über Steuern und die Einführung einer Arbeitsmarktabgabe erreicht werden. Wie fragwürdig das von der Bundesregierung vorgeschlagene Verfahren ist, wird insbesondere im Versorgungsbereich deutlich. Die Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge und die entsprechende Belastung der aktiven Beamten haben gleichzeitig Auswirkungen auf die Versorgungsempfänger. Diesen wird damit wie den aktiven Beschäftigten ein Opfer zugemutet, ohne danach zu fragen, ob sie es in gleicher Weise wie die aktiven Beschäftigten verkraften können. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion bleiben dabei: Die Arbeitsmarktabgabe für alle — ich betone: für alle — Erwerbstätigen wäre die bessere, gerechtere Lösung. Die SPD-Bundestagsfraktion hat wiederholt die Bundesregierung dazu aufgefordert, eine Arbeitsmarktabgabe zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit einzuführen. Die Beratung zu diesem Gesetzentwurf wäre eine gute Gelegenheit, unsere Vorschläge von seiten der Bundesregierung noch einmal neu zu überdenken. Auch müssen die Strukturverbesserungen des Tarifbereiches auf den Beamtenbereich übertragen werden. Dies gilt u. a. für die Zulagenregelung bei Schicht- und Wechselschicht. Benachteiligt werden offensichtlich nach diesem Entwurf beispielsweise Feuerwehrbeamte, da ihnen die Zulage vorenthalten wird, Polizeibeamte, Justizvollzugsbeamte sowie Beamte der Krankenpflege, da ihnen die Zulage nur zur Hälfte zugestanden wird. Die Zulagenregelung wird den Schichtsystemen, insbesondere bei Bahn, Post und Polizei, offensichtlich nicht gerecht. Bei den Fragen nach diesen Strukturverbesserungen sollte der Bund eine enge Absprache mit den betroffenen Ländern und Gemeinden pflegen. Wir müssen in den parlamentarischen Beratungen, insbesondere im Innenausschuß, diesen Komplex sorgfältig prüfen und uns auch dabei mit den gewerkschaftlichen Vorschlägen auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang sei mir eine Anmerkung zum Beteiligungsrecht der gewerkschaftlichen Spitzenorganisationen bei der Vorbereitung beamtenrechtlicher Vorhaben erlaubt. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion sind der Auffassung, daß dieses Beteiligungsverfahren bei den parlamentarischen und Regierungsentscheidungen im Sinne einer größeren Einflußmöglichkeit der Gewerkschaften verändert werden sollte. Die Praxis des gegenwärtigen Beteiligungsverfahrens bei der Erarbeitung von Entwürfen der Bundesregierung, bei der häufig nicht einmal die Mindestfrist für Stellungnahmen eingehalten wird, gibt jedenfalls Anlaß zur Kritik und muß grundsätzlich verbessert werden. Es ist schon bedenklich, wenn uns berichtet wird, daß nunmehr der 23. Fall in Folge vorliegt, in dem der Bundesminister des Innern seit Sommer 1989 das gesetzlich zwingend vorgeschriebene Beteiligungsverfahren der gewerkschaftlichen Spitzenorganisation mißachtet hat. Nach den mir vorliegenden Informationen hat es seit Amtsantritt des amtierenden Bundesinnenministers kein Beteiligungsverfahren von Relevanz mehr gegeben, bei dem die von mir schon angesprochene Mindestfrist von sechs Wochen zur Abgabe von Stellungnahmen eingehalten wurde. Auch diesen Problemkreis wollen wir bei den anstehenden Ausschußberatungen ansprechen. Darüber hinaus wird unsererseits sorgfältig geprüft werden, wie die Tarifergebnisse auf den Beamtenbereich übertragen werden. Es geht selbstverständlich nicht an, daß mit besoldungsrechtlichen Regelungen in die Tarifautonomie eingegriffen wird. Aus diesem Blickwinkel werden wir den Gesetzentwurf sorgfältig prüfen und bei Verstößen gegen den Grundsatz nachdrücklich Korrekturen vorschlagen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2709* Bei strukturellen Verbesserungen im Besoldungs- und Versorgungsrecht fehlt es nach unserer Auffassung seit langem an einem Gesamtkonzept. Der von der Bundesregierung in der vergangenen Wahlperiode vorgelegte Bericht zur strukturellen Entwicklung des öffentlichen Dienstrechtes verdient diesen Namen eigentlich nicht. Er beschränkt sich auf einige punktuelle Maßnahmen und klammert wesentliche Probleme aus. Selbstverständlich muß anerkannt werden, daß im Augenblick zweifellos der Aufbau leistungsfähiger öffentlicher Verwaltungen in den neuen Bundesländern und in den Gemeinden stark im Vordergrund steht. Dies kann aber wiederum nicht bedeuten, daß wir die notwendige sachgerechte Fortentwicklung der Strukturen des öffentlichen Dienstes in den alten Ländern vernachlässigen dürfen. Beide Aufgaben — die Entwicklung des öffentlichen Dienstes in Ost und West — müssen im Zusammenhang gesehen werden. Deshalb erscheint es mir sinnvoll, daß die Bundesregierung in einem Bericht die gegenwärtige Situation des öffentlichen Dienstes einmal umfassend darstellt. Darüber hinaus muß der Strukturbericht mit Vorschlägen zur Fortentwicklung des öffentlichen Dienstrechtes in dieser Wahlperiode fortgeschrieben werden. Nach unserer Auffassung muß das Bezahlungs- und Laufbahnrecht im Rahmen eines Gesamtkonzeptes anforderungs- und funktionsgerechter ausgestaltet und die Wettbewerbsfähigkeit des öffentlichen Dienstes im Vergleich zur Wirtschaft, die heute vielfach nicht mehr gewährleistet ist, hergestellt werden. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einmal das Stichwort Wettbewerbsfähigkeit aufgreifen und ein Problem ansprechen, was offensichtlich einen dringenden Handlungsbedarf aufzeigt. In den sogenannten Ballungsräumen scheint es immer schwieriger zu werden, Bedienstete für den öffentlichen Dienst zu bekommen und damit auch dem Sicherstellungsauftrag gerecht zu werden. Die öffentliche Seite ist zunehmend in Gefahr, ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere in den von mir angesprochenen Ballungsräumen, zu verlieren. Ich bin mir darüber im klaren, daß eine Schwierigkeit darin liegt, den Begriff Ballungsraum korrekt und eingrenzend zu definieren. Allerdings denke ich, sollten wir trotzdem vor diesen Herausforderungen nicht die Augen verschließen und uns gemeinsam bemühen, in diesem Bereich Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Selbstverständlich kann dies nicht ungeachtet der Tatsache geschehen, daß hier insbesondere mit den betroffenen Ländern und Gemeinden eine Absprache gefunden werden muß, zumal damit ein erheblicher finanzieller Aufwand auch für sie verbunden wäre. Wir sollten den öffentlichen Dienst als Dienst für den Bürger durch den Bürger künftig stärker im öffentlichen Bewußtsein verankern. Wie gerade ein Blick in die neuen Länder zeigt, hängen der Wohlstand der Bürger und die Qualität ihres Lebens heute ebenso von Gemeinschaftseinrichtungen ab wie von privaten Einkommen und Konsum. Nicht ein anonymer Staat hat Bedürfnisse, sondern die Bürgerinnen und Bürger. Sie und die Beschäftigten im öffentlichen Dienst können erwarten, daß sich Regierungen und politische Parteien zu ihrer Verantwortung für den öffentlichen Dienst bekennen. Viele Beschäftigte des öffentlichen Dienstes tun oftmals mehr als ihre Pflicht. Der öffentliche Dienst sollte nicht zum Prügelknaben der Nation gemacht werden. Den Beschäftigten gebührt unser Dank. Mehr noch: sie können erwarten, daß wir uns um ihre Probleme kümmern. Das wollen wir auch bei den Beratungen des anstehenden Gesetzentwurfes tun. Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Mit dem Entwurf des Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 1991 legt die Bundesregierung dem Hohen Haus die notwendigen und angemessenen Maßnahmen zur Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge in Bund und Ländern vor. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung übernimmt für die Beamten, Richter, Soldaten und Versorgungsempfänger das Ergebnis der Tarifverhandlungen vom 16. März 1991 mit demselben Erhöhungssatz von 6 v. H. Neben den auch bisher in die Linearanpassung einbezogenen Bezügebestandteilen sind diesmal, den Absichtserklärungen auch dieses Hauses entsprechend, bestimmte Stellenzulagen mit erhöht worden. Ich nenne insbesondere die allgemeine Stellenzulage, die Polizei- und Feuerwehrzulage sowie die Sicherheitszulagen. Die vorgeschlagene Anhebung um 6 % kann sich — auch im Verhältnis zur gewerblichen Wirtschaft — durchaus sehen lassen. Sie ist angesichts der Gesamtentwicklung als solide und befriedigend anzusehen. Gemessen an der zu erwartenden Preissteigerungsrate ergibt sich für die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes ein deutlicher realer Einkommenszuwachs. Der öffentliche Dienst hält damit Anschluß an die positive allgemeine Entwicklung und wird nicht abgekoppelt. Die Linearanpassung berücksichtigt aber auch gleichzeitig die Situation der öffentlichen Haushalte besonders mit Blick auf den Wiederaufbau in den neuen Bundesländern. Nach dem Gesetzentwurf treten die Erhöhungen für Beamte, Richter, Soldaten und Versorgungsempfänger zwei Monate später, als es der Tarifabschluß für Arbeiter und Angestellte vorsieht, in Kraft, also nicht zum 1. Januar 1991, sondern zum 1. März 1991. Dieser Einsparungsbeitrag berücksichtigt, daß Arbeiter und Angestellte mit ähnlicher Wirkung durch die Veränderungen der Beitragssätze zur Sozialversicherung betroffen sind. Mit der zweimonatigen Verschiebung der Anpassung wird der Handlungsspielraum der öffentlichen Haushalte um weit mehr als 1 Milliarde DM erweitert. Beamte, Richter, Soldaten und Versorgungsempfänger leisten damit einen eigenständigen Beitrag für den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern. Dies wird in den nächsten Jahren zu berücksichtigen sein. Mit dieser Lösung bleibt das bisherige Verhältnis der aktiven Nettoeinkommen im Besoldungs- und Tarifbereich grundsätzlich unverändert; Beamte und Arbeitnehmer werden also nicht auseinanderdividiert. Dadurch, daß Beamte bei den Nettozuwächsen nicht schlechter und nicht besser als Angestellte und Arbei- 2710* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 ter im öffentlichen Dienst gestellt werden, bleibt der Gleichklang zwischen Tarif und Besoldung gewahrt; das ist wichtig für die Einheit des öffentlichen Dienstes. Dies ist verantwortungsvolle und zukunftsorientierte Besoldungspolitik. Die Bundesregierung wird auch weiterhin auf Ausgewogenheit und Gerechtigkeit der Verbesserungen und Belastungen im öffentlichen Dienst und im Verhältnis zur gewerblichen Wirtschaft achten. Weil die Bundesregierung diese Verpflichtung besonders ernst nimmt, enthält der Gesetzentwurf Vorschriften über die Beteiligung der Versorgungsempfänger an strukturellen Veränderungen im Besoldungsbereich durch einen pauschalierenden Anpassungszuschlag. Hiernach werden die Versorgungsempfänger ab 1. Januar 1993 an den strukturellen Maßnahmen im Besoldungsbereich dadurch beteiligt, daß ihnen solche Veränderungen in Form eines durchschnittlichen Vomhundertsatzes zeitversetzt zu den den Versorgungsbezügen zugrunde liegenden ruhegehaltfähigen Dienstbezügen gewährt werden. Als Vorwegmaßnahme ist ein Strukturausgleich von 0,4 v. H. der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge ab 1. März 1991 vorgesehen. Die vom Bundesrat vorgeschlagene Streichung der Wiedereinführung des Anpassungszuschlags für Versorgungsempfänger lehnt die Bundesregierung ab. Die Bundesregierung hält an ihrem Grundsatz fest, keine Sonderopfer von einzelnen Gruppen zu verlangen. Was für den Aktivbereich Geltung hat, muß ebenso für Versorgungsempfänger gelten. Der Gleichklang zwischen aktiven Beamten und Versorgungsempfängern bei der Bezügeentwicklung muß gewahrt bleiben. Neben den Regelungen zur Linearanpassung sieht der Gesetzentwurf eine möglichst gleichwertige Übertragung der im Tarifbereich vereinbarten strukturellen Verbesserungen vor. Dies sind vor allem Regelungen über die Verbesserung der Beförderungsmöglichkeiten für Beamte des einfachen Dienstes durch Erweiterung des höchstzulässigen Anteils der Planstellen im Spitzenamt A 5 plus Amtszulage, ferner Bezahlungsverbesserungen für Beamte des mittleren technischen und gehobenen technischen Dienstes durch Festsetzung günstigerer Stellenobergrenzen, Ermächtigung zur Schaffung günstigerer Stellen und damit Beförderungsverhältnisse für beamtete Sozialarbeiter und Sozialpädagogen sowie die Einführung allgemeiner Wechselschichtzulagen und Schichtzulagen. Den hierzu vom Bundesrat vorgeschlagenen Änderungen, die sehr unterschiedliche Einzel- und Detailfragen betreffen, hat die Bundesregierung meist zugestimmt, im übrigen Prüfung im weiteren Verfahren zugesagt. Damit ist eine zügige Beratung und Verabschiedung des Gesetzentwurfs nach der Sommerpause möglich. Manfred Richter (Bremerhaven) (FDP): Bei diesem Gesetzentwurf geht es uns nicht anders als bei vielen anderen vergleichbaren Besoldungsmaßnahmen für den öffentlichen Dienst: Den einen ist es zuwenig, den anderen ist es zuviel. Den Letztgenannten will ich folgendes sagen: Wer einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst haben will, muß ihn auch anständig, daß heißt leistungsgerecht, bezahlen. Dabei kann es keinen Unterschied geben zwischen Angestellten, Arbeitern oder Beamten. Ich kann diejenigen, die da meinen, der öffentliche Dienst könne vorübergehend oder noch am besten auf Dauer mit geringeren Steigerungsraten in der Einkommensentwicklung als sonst in der Bundesrepublik Deutschland auskommen, nur nachdrücklich warnen: Wir haben in den verschiedensten Bereichen, besonders in den technischen Laufbahnen, Nachwuchsgewinnungsprobleme spürbarer und zum Teil schon beklemmender Art. Nachwuchssorgen macht uns mittlerweile auch schon der nichttechnische Dienst; auch dort dürfen keine Qualitätseinbußen hingenommen werden. Was den üblichen Hinweis auf die sogenannten Beamtenprivilegien anbetrifft, gilt nach wie vor zweierlei: Erstens gibt es diese Beamtenprivilegien nicht, sondern es gibt nur ein ausgewogenes besonderes TreueLoyalitäts- und Pflichtenverhältnis. Zweitens können diese Besonderheiten gegen eine vernünftige Teilhabe an der allgemeinen Einkommensentwicklung nicht gegengerechnet werden. Sonst wäre die notwendige Schlußfolgerung, Beamte hätten ihre besonderen Pflichten, eine zusätzliche Alimentation durch Gehalt brauchten sie eigentlich gar nicht. Zum Gesetzentwurf selber. Wir stimmen mit der Bundesregierung darin überein, wie für den Tarifbereich des öffentlichen Dienstes vereinbart auch die Beamtengehälter um linear 6 % zu erhöhen. Wir stimmen mit der Bundesregierung ferner darin überein, die Strukturtarifverträge, die im Vorfeld der Besoldungsrunde 1991 ausgehandelt worden sind, in gleicher Weise, soweit das irgend geht, auf den Beamtenbereich zu übertragen. Seit Jahren setzt sich die FDP für das nahtlose Übertragen der Tarifverträge für den öffentlichen Dienst auf die Beamtenschaft ein. Für diesen Gleichklang von Tarif und Besoldung kann es keinen Unterschied machen, ob es sich um lineare Anpassung oder um Strukturverbesserungen handelt. Ich weiß, daß an dieser Stelle in diesem Jahr die Argumentation brüchig ist, weil — anders als die lineare Erhöhung bei Angestellten und Arbeitnehmern — wir die lineare Erhöhung der Besoldung der Beamten erst zum 1. März 1991 wollen. Diese zeitliche Verschiebung des Inkrafttretens hat nichts mit einer Hilfe für den Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern zu tun. Aus unserer Sicht ist die zeitliche Verschiebung begründet, weil Bund, Länder und Gemeinden durch die deutsche Einheit bereits mit erheblichen Haushaltsproblemen zu kämpfen haben. Das ist der Grund für die Besoldungsverschiebung. Die Auswirkungen der zeitlichen Verschiebungen der Beamtenbesoldung sind, prozentual gesehen, höher als die Belastungen der Arbeitnehmereinkommen im Tarifbereich durch die Veränderungen der Beitragssätze in den gesetzlichen Sozialversicherungen. Aber das ist kein Grund, in irgendeiner Weise die Verschiebung der Anpassung der Beamtenbesoldung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2711* und Versorgung um zwei Monate mit den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts in den neuen Bundesländern zu rechtfertigen. Was die Versorgungsempfänger anbetrifft, wird sichergestellt werden, daß sie bei der diesjährigen Besoldungs- und Versorgungsanpassung nicht wie in den vergangenen Jahren leer ausgehen. Eine der denkbaren Möglichkeiten wäre gewesen — wofür ich mich öffentlich eingesetzt hatte — , sie von der allgemeinen Verschiebung der Anpassung um zwei Monate auszunehmen. Der jetzt von der Bundesregierung gemachte Vorschlag der Wiedereinführung des Versorgungsanpassungszuschlages hätte uns allein nicht ausgereicht, weil er erst 1993 wirksam geworden wäre. Mit der Vorabgewährung eines Anpassungszuschlages von 0,4 % bereits in diesem Jahr wegen der Strukturverbesserungen des Jahres 1990 läßt sich möglicherweise auskommen. Insgesamt ist die Wiedereinführung des Versorgungsanpassungszuschlages — in welcher Form auch immer — zu begrüßen. Grob gesagt handelt es sich um die Rentenformel im Versorgungsrecht. Der Anpassungszuschlag stellt sicher, daß die Pensionäre, wenn sie einmal aus dem aktiven Beamtenleben ausgeschieden sind, und ihre Familien nicht auf ihrer Versorgung sitzenbleiben und von der übrigen Sozialentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland abgekoppelt sind. Auch wenn der Anpassungszuschlag in Mark und Pfennig in diesem Jahr weniger sein sollte, als wenn die Versorgung schon zum 1. Januar erhöht würde — auf Dauer gesehen ist der Versorgungsanpassungszuschlag vernünftiger, weil gerechter und sozialorientiert. Was den weiteren Beratungsgang anbetrifft, bekunde ich hier den festen Willen der FDP-Fraktion, die bisherigen Vorschläge der Bundesregierung zu überprüfen und gegebenenfalls dort, wo es nötig ist, mit zusätzlichen strukturellen Maßnahmen anzureichern. Das beginnt mit dem Problemfeld, daß bislang die Übertragung der Strukturtarifverträge im vollen Umfang auf die Beamtenbesoldung noch nicht gelungen ist. Das setzt sich fort über die Lösung bei verschiedenen mittlerweile aufgekommenen Strukturfragen bei den Zulagen, insbesondere bei den durch den Tarif vorgegebenen Wechselschichtdienstzulagen. Ich könnte eine ganze Menge weiterer Stichworte aufzählen, beginnend beispielsweise bei Einzelheiten der Verbesserungen für den gehobenen technischen Dienst, bei Überlegungen für die Ausweitung des Spitzenamtes A 13 plus Zulage im gehobenen Dienst. Ich möchte mir das ersparen. Das sind Dinge für die Einzelberatungen, die wir unmittelbar nach der Sommerpause aufnehmen werden. Wir haben eine interessante Entwicklung beobachtet bei den Beratungen im Bundesrat. Dort war plötzlich das Problem aufgetaucht, daß manche der tariflichen Fortschritte in dem Spezialbereich der gesetzlichen Krankenkassen unterlaufen werden sollten durch gesetzgeberische Maßnahmen. Für die FDP kommt ein Eingriff in die Tarifautonomie durch die Hintertür nicht in Frage. Wir müssen natürlich bei allen Maßnahmen klar sehen, daß die Zeit für große Sprünge nicht reif ist. Die Zeit ist eigentlich, weil es um die Besoldung von Beamten geht, nie gut für großzügige und weitgeplante Strukturverbesserungen. Jetzt geht es natürlich neben der Anpassung und Verbesserung der Besoldung in den westlichen Bundesländern um die Angleichung der Lebensverhältnisse in den östlichen Bundesländern an das sonst geltende Niveau, und das natürlich auch bei der Beamtenbesoldung und der Versorgung. Gleichwohl bleibt eine vernünftige Strukturpolitik im Bereich des öffentlichen Dienstes, eine Besoldungsstrukturpolitik mit Augenmaß, das fernere Anliegen, dem wir uns immer wieder widmen werden. Dazu gehört auch, manche Überlegungen und Vorstellungen aus der alten Dienstrechtsreform wieder aufzugreifen und erneut zu überprüfen. So können wir uns beispielsweise auch eine gewisse Flexibilisierung des Besoldungsrechts denken, eines Gebiets, auf dem wir in absehbarer Zeit über erste Erfahrungen aus dem Bereich der Deutschen Bundespost verfügen können, soweit es um Leistungszulagen und andere spezielle Instrumente des Besoldungsrechts geht. Wir werden umgekehrt auch ganz bestimmte Nachwuchsgewinnungsmaßnahmen, beispielsweise in den Sonderzuschlagsverordnungen daraufhin überprüfen, ob sie sich bewährt haben, wo sie verbesserungswürdig sind, ob sich eine vorsichtige und begrenzte Ausweitung solcher Personalsteuerungsinstrumente empfiehlt, um im öffentlichen Dienst Leistungsbereitschaft und Leitungsfähigkeit, Motivation und Effizienz des Personals zu steigern. Dem sind wir, nicht zuletzt auch im Interesse des Ansehens der Beamtenschaft in der öffentlichen Meinung, verpflichtet. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Rede zu Zusatztagesordnungspunkt 10 — Antrag betr. Westsahara-Friedensplan der Vereinten Nationen — Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Die Bundesregierung begrüßt den von allen im Bundestag vertretenen Fraktionen einschließlich der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN getragenen Entschließungsantrag des Kollegen Dr. Franz Altherr und anderer, mit dem die Unterstützung der VN-Friedensmission für die West-Sahara (MINURSO) gefordert wird. Wir teilen die positive Einschätzung der jüngsten Friedensmission der Vereinten Nationen und halten eine Entschließung des Deutschen Bundestages, die das zum Ausdruck bringt, für richtig. Schon seit langem fordert Bundesaußenminister Genscher, daß die Rolle der Vereinten Nationen gestärkt wird. Wir wollen entsprechend dem Auftrag unseres Grundgesetzes die Vereinten Nationen in die 2712* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Lage versetzen, daß sie ihren umfassenden Friedensauftrag erfüllen können. Der Wegfall des Ost-WestGegensatzes und die Auflösung des dadurch bedingten Patts in der Weltorganisation haben hierfür günstige Voraussetzungen geschaffen. Es gilt auch, die durch die Lösung des Golfkonflikts neu gewonnene Autorität der Vereinten Nationen zu nutzen. Uns liegt vor allem an einer Stärkung der Stellung des Generalsekretärs. Er soll das Instrumentarium erhalten und benutzen, um Krisen, wo immer sie in der Welt entstehen, nicht erst dann zu begegnen, wenn sie sich zu einem bewaffneten Konflikt ausgeweitet haben, sondern möglichst schon im Vorfeld solcher Konflikte regelnd und friedenstiftend einzugreifen. Der vom VN-Generalsekretär entworfene und vom Sicherheitsrat am 29. April 1991 beschlossene Friedensplan für die ehemalige spanische Kolonie WestSahara eröffnet einen Weg, den seit Jahren schwelenden und von der Weltöffentlichkeit fast verdrängten Konflikt in diesem Gebiet zu beenden und die Voraussetzungen für eine dauerhafte und stabile Friedensordnung zu schaffen. Die „Mission der Vereinten Nationen für die Organisation eines Referendums in der West-Sahara" (MINURSO) stellt in diesem Sinne einen neuen Typ der VN-Friedensmissionen dar. Während sich in der Vergangenheit die Friedensmissionen weitgehend darauf beschränkten, mit Hilfe von „Blauhelmen" die Einhaltung von Waffenstillstandsvereinbarungen zwischen Konfliktparteien zu überwachen, haben die Vereinten Nationen mit der Überwachung der ersten freien Wahlen in Namibia (UNTAG) Neuland betreten. Neben den klassischen Militärbeobachtern (Blauhelme) wurden erstmals ziviles Personal und Polizeibeamte zur Überwachung einer demokratischen Parlamentswahl entsandt. Die UNO hat damit entscheidende Hilfe bei der Erlangung der Unabhängigkeit des ehemaligen Mandatsgebiets geleistet. Dieses Instrument wurde bei den Missionen in Zentralamerika (ONUCA) und speziell in Nicaragua (ONUVEN) fortentwickelt. Bei der bevorstehenden Mission in der West-Sahara (MINURSO) übernehmen die Vereinten Nationen erstmals auch die Organisation und ordnungsgemäße Durchführung eines Referendums, bei dem die Bevölkerung frei über ihr künftiges Schicksal — Unabhängigkeit oder Zugehörigkeit zum Königreich Marokko — entscheiden soll. Das ist aktive und unmittelbare Hilfe zur Förderung der Demokratisierung in einem Land der Dritten Welt. Wir begrüßen den Trend zur Ausweitung der VN-Aktivitäten in dieser Richtung. Es ist genau das, was Bundesminister Genscher meinte, als er in der Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag am 13. März 1991 forderte, die Fähigkeit der UNO-Organe, des Generalsekretärs und des Sicherheitsrates im Sinne des Ausbaus der politischen Konfliktlösung zu verstärken. Die Bundesregierung wird die Friedensmission in der West-Sahara finanziell unterstützen. Sobald weitere Einzelheiten über den Einsatz der bei der Operation benötigten internationalen Polizeibeamten geklärt sind, wird die Bundesregierung zudem prüfen, ob sich Deutschland auch durch die Entsendung eines kleineren Kontingents von BGS-Beamten — und, so vorhanden, Beamtinnen — personell an dieser wichtigen Initiative beteiligen kann. Wir begrüßen daher den heute eingebrachten Entschließungsantrag, der mit der Politik der Bundesregierung übereinstimmt. Nachtrag zum Plenarprotokoll 12/33 Deutscher Bundestag Nachtrag zum Stenographischen Bericht 33. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Inhalt: Anlage 12 Verkehrsberuhigung auf der B 7 zwischen Kassel und Eisenach, z. B. durch Umleitung und Nachtfahrverbot für den Straßengüterverkehr MdlAnfr 5, 6 — Drs 12/766 — Joachim Tappe SPD SchrAntw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV 2713* A Anlage 13 Auszahlung der Liquiditätshilfen aus dem Fonds „Deutsche Einheit" an die Wohnungsunternehmen in den neuen Bundesländern, insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern MdlAnfr 11, 12 — Drs 12/766 — Dr. Christine Lucyga SPD SchrAntw PStSekr Jürgen Echternach BMBau 2713* B Anlage 14 Umsetzung der aus Mitteln des BMFT geförderten Abfallvermeidungs- und Abfallverwertungstechniken von der Entwicklung bis zur Anwendung im großtechnischen Maßstab MdlAnfr 15, 16 — Drs 12/766 — Ursula Burchardt SPD SchrAntw PStSekr Bernd Neumann BMFT 2713* D Anlage 15 Kürzung der Forschungsmittel in den alten Bundesländern; Abschluß von Sozialplänen bei einzelnen Großforschungseinrichtungen MdlAnfr 17, 18 — Drs 12/766 — Edelgard Bulmahn SPD SchrAntw PStSekr Bernd Neumann BMFT 2714* B Anlage 16 Verhandlungen zwischen dem BMZ und China über die Einrichtung verschiedener Fabriken MdlAnfr 19 — Drs 12/766 — Dietrich Austermann CDU/CSU SchrAntw PStSekr Hans-Peter Repnik BMZ 2714* D Anlage 17 Begünstigung der israelischen Kriegführung im Südlibanon durch die deutschen Finanzzuweisungen MdlAnfr 24 — Drs 12/766 — Dr. Peter Ramsauer CDU/CSU SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA 2715* B Anlage 18 Stand der bündnisinternen Beratungen über die amerikanisch-sowjetischen SNF-Verhandlungen; Einbeziehung der luftgestützten Short-Nuclear-Forces-Systeme in die Verhandlungen MdlAnfr 29, 30 — Drs 12/766 — Katrin Fuchs (Verl) SPD SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA 2315* C II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Anlage 19 Bemühungen der Bundesregierung um Rückführung der ca. 2 Millionen Flüchtlinge aus Ruanda in ihre Heimat MdlAnfr 31, 32 — Drs 12/766 — Horst Sielaff SPD SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA 2715* D Anlage 20 Sowjetische Erklärungen über Lagerung und Abzug von Atomwaffen und Trägersystemen aus dem Gebiet der früheren DDR MdlAnfr 33 — Drs 12/766 — Norbert Gansel SPD SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA 2716* B Anlage 21 Verhinderung der Diskriminierung von Bewerbern und Bewerberinnen aus anderen EG-Staaten um die Anstellung im Lehramt; Änderung dés Lehrerstatus zur Ermöglichung des Zugangs von Lehrern und Lehrerinnen aus anderen EG-Staaten zum öffentlichen Dienst MdlAnfr 3, 34 — Drs 12/766 — Eckart Kuhlwein SPD SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI 2716* C Anlage 22 Anpassung der Vergütungsordnung für Krankenpflegepersonal an die Lohn- und Gehaltsentwicklung anderer Berufe MdlAnfr 35, 36 — Drs 12/766 — Uta Würfel FDP SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI 2717* A Anlage 23 Zentrale Unterbringung neuer Asylbewerber und unmittelbare Abschiebung bei unbegründeten Asylanträgen gemäß dem Vorschlag des Bundesinnenministers; Harmonisierung des Asylrechts in Europa MdlAnfr 37, 38 — Drs 12/766 — Meinrad Belle CDU/CSU SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI 2717* C Anlage 24 Anzahl der wegen mangelhafter Ausweisepapiere nicht abschiebbaren Asylbewerber; Lösung dieses Problems MdlAnfr 39, 40 — Drs 12/766 — Bärbel Sothmann CDU/CSU SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI 2718* A Anlage 25 Gespräche über die Rückgabe von Beständen der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin durch die polnische Universitätsbibliothek in Krakau MdlAnfr 42 — Drs 12/766 — Dr. Nils Diederich (Berlin) SPD SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI 2718* D Anlage 26 Förderung des Behindertensports in den neuen Bundesländern; Aufbau eines zweiten zentralen Bundesleistungszentrums für den Behindertensport in der Sportschule Lindow (Brandenburg) MdlAnfr 43, 44 — Drs 12/766 — Friedhelm Julius Beucher SPD SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI 2719* A Anlage 27 Abwicklung der Zonenrandförderung im Zeitraum der mittelfristigen Finanzplanung MdlAnfr 45 — Drs 12/766 — Ludwig Stiegler SPD SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI 2719* C Anlage 28 Einführung eines Straftatbestandes „Geldwäsche" im Strafgesetzbuch zur Vermeidung von Geldanlagen aus dem internationalen Drogenhandel und anderen Bereichen der organisierten Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland MdlAnfr 46, 47 — Drs 12/766 — Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD SchrAntw PStSekr Dr. Reinhard Göhner BMJ 2719* D Anlage 29 Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen zu den Zwangsadoptionen in der ehemaligen DDR MdlAnfr 48 — Drs 12/766 — Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP SchrAntw PStSekr Dr. Reinhard Göhner BMJ 2720* C Anlage 30 Vereinfachung der Subventionsregelungen und Förderungsprogramme in den neuen Bundesländern MdlAnfr 49 — Drs 12/766 — Klaus Harries CDU/CSU SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald BMF 2321* A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 III Anlage 31 Anstieg des sowjetischen Militärhaushalts um über 20 % nach den deutschen Zahlungen an die Sowjetunion MdlAnfr 50 — Drs 12/766 — Ortwin Lowack fraktionslos SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald BMF 2721* B Anlage 32 Zeitpunkt der Auswirkungen des beabsichtigten Subventionsabbaus MdlAnfr 51 — Drs 12/766 — Dr. Otto Schily SPD SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald BMF 2721* D Anlage 33 Verwendung von Mitteln aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost für den kommunalen Straßenbau MdlAnfr 52 — Drs 12/766 — Dr. Margrit Wetzel SPD SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald BMF 2722* A Anlage 34 Erweiterung des Privatisierungsauftrags der Treuhandanstalt im Bereich Tourismus; Zentralisierung der touristischen Objekte bei der Treuhandanstalt MdlAnfr 53, 54 — Drs 12/766 — Sabine Leutheusser-Schnarrenberger FDP SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald BMF 2722* B Anlage 35 Personelle Verstärkung der Grenzübergänge Waidhaus und Furth i. W. MdlAnfr 55 — Drs 12/766 — Ludwig Stiegler SPD SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald BMF 2722* C Anlage 36 Bereitstellung ehemaliger Kasernen für Studentenheime; Auflagen für den britischen Käufer MdlAnfr 56, 57 — Drs 12/766 — Dietmar Schütz SPD SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald BMF 2723* A Anlage 37 Erschließung neuer Märkte für Unternehmen mit ausschließlicher Kohleförderung und -verwertung MdlAnfr 66 — Drs 12/766 — Wolfgang Meckelburg CDU/CSU SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2723* C Anlage 38 Verhinderung der Entstehung negativer Folgen für die gewachsenen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen den osteuropäischen Ländern und der Sowjetunion durch die deutschen Hilfen MdlAnfr 67, 68 — Drs 12/766 — Gernot Erler SPD SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2723* D Anlage 39 Unterstützung touristischer Pilotprojekte, z. B. für den Spreewald; Anerkennung von Kur- und Badeorten MdlAnfr 69, 70 — Drs 12/766 — Jürgen Türk FDP SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2724* C Anlage 40 Erschließung kultureller Wegstrecken in den neuen Bundesländern, z. B. die Sächsische Silberstraße, für den Tourismus MdlAnfr 71 — Drs 12/766 — Jürgen Koppelin FDP SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2725* A Anlage 41 Stärkung des Tourismus im Rahmen des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost; Berücksichtigung gastronomischer Gepflogenheiten bei der Vergabe der Mittel MdlAnfr 72, 73 — Drs 12/766 — Dr. Sigrid Semper FDP SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2725* A Anlage 42 Kritik an den Übersichten über die Fördermittel für den Tourismus in den neuen Bundesländern MdlAnfr 74 — Drs 12/766 — Dr. Gisela Babel FDP SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2725* C IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Anlage 43 Verbesserung der Infrastruktur aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost für den Tourismus; Auswirkungen der günstigen Wechselkurse für West-Touristen bei Reisen nach Osteuropa auf den deutschen Tourismus, insbesondere in den neuen Bundesländern MdlAnfr 75, 76 — Drs 12/766 — Josef Grünbeck FDP SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2725* D Anlage 44 Unterstützung der neuen Bundesländer beim Aufbau des Tourismus MdlAnfr 77, 78 — Drs 12/766 — Dr. Olaf Feldmann FDP SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2726* B Anlage 45 Wettbewerbsnachteile für die Kartoffelwirtschaft in den neuen Bundesländern durch die staatliche Förderung des Kartoffeltransports aus den alten Bundesländern nach Berlin MdlAnfr 81, 82 — Drs 12/766 — Dr. Gerald Thalheim SPD SchrAntw PStSekr Gottfried Haschke BML 2726* D Anlage 46 Zusammenhang zwischen dem Schafsterben und der PCB-Belastung im Raum Kehl MdlAnfr 83, 84 — Drs 12/766 — Harald B. Schäfer SPD SchrAntw PStSekr Gottfried Haschke BML 2727* A Anlage 47 Zusammenhang zwischen der PCB-Belastung und dem Schafsterben im Raum Kehl; Senkung der PCB-Werte MdlAnfr 85, 86 — Drs 12/766 — Marion Caspers-Merk SPD SchrAntw PStSekr Gottfried Haschke BML 2727* B Anlage 48 Begründung für den VIP-Service für den ehemaligen chilenischen Diktator Pinochet im Frankfurter Flughafen MdlAnfr 87, 88 — Drs 12/766 — Ursula Schmidt (Aachen) SPD SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2727* C Anlage 49 Weitere Entwicklung der Bundeswehrhochschulen MdlAnfr 89 — Drs 12/766 — Dr. Egon Jüttner CDU/CSU SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2728* A Anlage 50 Zahl der in der Bundesrepublik Deutschland lagernden Atomsprengköpfe; Entwicklung von als nukleare Abstandswaffen in Europa im Rahmen der NATO einsetzbaren Systemen in den USA MdlAnfr 90, 91 — Drs 12/766 — Dr. Hartmut Soell SPD SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2728* B Anlage 51 Änderung des nuklearen Waffenbestands in der Bundesrepublik Deutschland unabhängig von amerikanisch-sowjetischen SNF- Verhandlungen MdlAnfr 92, 93 — Drs 12/766 — Walter Kolbow SPD SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2728* C Anlage 52 Notwendigkeit der Ausrüstung der NATO mit nuklearen Abstandswaffen; Stationierung dieser Waffen auf deutschem Boden MdlAnfr 94, 95 — Drs 12/766 — Uta Zapf SPD SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2728* D Anlage 53 NATO-Pläne zur Stationierung nuklearer Abstandswaffen in Europa und insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland MdlAnfr 96, 97 — Drs 12/766 — Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2729* A Anlage 54 Nukleare Abdeckung der auf der NATO-Tagung beschlossenen schnellen Eingreiftruppe MdlAnfr 98 — Drs 12/766 — Dr. Hermann Scheer SPD SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2729* B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 V Anlage 55 Fähigkeit der Sowjetunion zu einem Überraschungsschlag gegen den Westen; Einstellung sowjetischer Tiefflüge MdlAnfr 99, 100 — Drs 12/766 — Hans Wallow SPD SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2729* C Anlage 56 Gründe für die vermehrten Tiefflüge über der Pfalz MdlAnfr 101, 102 — Drs 12/766 — Albrecht Müller (Pleisweiler) SPD SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2729* D Anlage 57 Anteil der verbündeten Streitkräfte an den Tiefflügen über der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere über der Pfalz MdlAnfr 103, 104 — Drs 12/766 — Lydia Westrich SPD SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2730* B Anlage 58 Vereinbarkeit der Übernahme von SS-23- Flugkörpern durch die Bundeswehr mit dem INF-Vertrag MdlAnfr 105 — Drs 12/766 — Norbert Gansel SPD SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2730* C Anlage 59 Verbesserung der finanziellen Lage der freien Wohlfahrtsverbände in den neuen Bundesländern MdlAnfr 106, 107 — Drs 12/766 — Dr. Helga Otto SPD SchrAntw PStSekrin Roswitha Verhülsdonk BMFuS 2730* D Anlage 60 Einheitliche Regelung der Anrechnung des Krankenkassen-Pflegegeldes auf das Pflegegeld nach § 69 Bundessozialhilfegesetz MdlAnfr 108, 109 — Drs 12/766 — Adolf Ostertag SPD SchrAntw PStSekrin Roswitha Verhülsdonk BMFuS 2731* B Anlage 61 Erkenntnisse über die Zunahme von Aids und des Drogenkonsums in den Großstädten der neuen Bundesländer MdlAnfr 110, 111 — Drs 12/766 — Antje-Marie Steen SPD SchrAntw PStSekrin Dr. Sabine BergmannPohl BMG 2731* D Anlage 62 Verbesserung der Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit im Rahmen des Gesundheits-Reformgesetzes MdlAnfr 112, 113 — Drs 12/766 — Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup CDU/CSU SchrAntw PStSekrin Dr. Sabine BergmannPohl BMG 2733* A Anlage 63 Verhinderung der Zweckentfremdung von Investitionsmitteln in den neuen Bundesländern, insbesondere der Mittel für soziale Einrichtungen für den Straßenbau MdlAnfr 114, 115 — Drs 12/766 — Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU SchrAntw PStSekrin Dr. Sabine Bergmann- Pohl BMG 2733* B Anlage 64 Aufhebung der Beschränkungen bei der Krankenversicherung von in den neuen Bundesländern tätigen westdeutschen Arbeitnehmern mit einem Einkommen von unter 2 250 DM (§ 311 Abs. 1, Buchst. c SGB V) MdlAnfr 116 — Drs 12/766 — Verena Wohlleben SPD SchrAntw PStSekrin Dr. Sabine BergmannPohl BMG 2733* C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2713* Anlage 12 Antwort des Parl. Staatssekretärs Wolfgang Gröbl auf die Fragen des Abgeordneten Joachim Tappe (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 5 und 6) : Ist die Bundesregierung im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit bereit, im Verlauf der nordhessischen Streckenabschnitte der A 4/A 7 ein Autobahngebot für den Güterfernverkehr auszusprechen, um die LKW im Ost-West-Verkehr zu zwingen, den zumutbaren Umweg über das Kirchheimer Dreieck zu wählen, um so die hohe Zahl von täglich mehr als 3 500 LKW im Strekkenverlauf der B 7/B 27 spürbar herunterzufahren? Sieht die Bundesregierung eine realistische Möglichkeit, als ersten Schritt zur Entlastung der leidgeprüften Menschen in den Anliegergemeinden an der B 7 zwischen Kassel und Eisenach, die täglich mehr als 20 000 KFZ-Fahrbewegungen ertragen müssen, ein Nachtfahrverbot für LKW auf der B 7 im oben genannten Streckenabschnitt auszusprechen, wie es bereits für die B 27 zwischen Fulda und Göttingen gilt? Zu Frage 5: Die Straßenverkehrsordnung eröffnet keine Möglichkeit, ein Autobahngebot für Lkw anzuordnen. Lkw können von bestimmten Straßen oder Straßenstrecken nur ferngehalten werden, wenn diese Straßen oder Straßenstrecken hierfür gesperrt wurden (Zeichen 253). Die Anordnung solcher Verbote ist nach der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung Sache der Bundesländer, deren Verkehrsbehörden vor allem auch in Kenntnis der Örtlichkeit entscheiden. In der Abwägung über die Sachgerechtheit des Verbots ist allerdings auch zu berücksichtigen, daß Bundesfernstraßen eine überörtliche Funktion haben und dem weiträumigen Verkehr dienen (§ 1 Bundesfernstraßengesetz). Zu Frage 6: Für die Anordnung eines Nachtfahrverbotes für Lkw sind ebenfalls die Länder zuständig. Auch hier gilt es aber, die Interessen der Anlieger mit der Erhaltung der verkehrlichen Funktion der Bundesfernstraßen abzuwägen. Anlage 13 Antwort des Parl. Staatssekretärs Jürgen Echternach auf die Fragen der Abgeordneten Dr. Christine Lucyga (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 11 und 12): Ist der Bundesregierung bekannt, daß die vom Bund bereitgestellten Liquiditätshilfen zur Wohnungsbewirtschaftung bis Ende Mai 1991 in Mecklenburg-Vorpommern nicht zur Auszahlung gekommen sind, und welche Gründe gibt es dafür? Anlagen zum Stenographischen Bericht Welche Maßnahmen will die Bundesregierung ergreifen, um die u. a. in einem Brief des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau vom 24. April 1991 angekündigten Soforthilfen zur Liquiditätssicherung aus dem Fonds „Deutsche Einheit" den Wohnungsbaugesellschaften und anderen Vermietern zugänglich zu machen? Zu Frage 11: Nach der grundgesetzlichen Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern sind die Länder für die Zahlung von Verbrauchersubventionen (dazu gehören auch Subventionen für Mieten) zuständig. Die Länder regeln deshalb auch in eigener Verantwortung die Zahlung von Bewirtschaftungshilfen an die Wohnungswirtschaft. Soweit der Bundesregierung bekannt, sind inzwischen überall die notwendigen Entscheidungen gefallen, so daß die entsprechenden Anträge gestellt werden können. Über den Stand der Bewilligungen und Auszahlungen ist die Bundesregierung aber nicht informiert. Zu Frage 12: In dem zitierten Brief des Bundesbauministeriums wurde die grundsätzliche Haltung der Bundesregierung dargelegt. Insbesondere wurde auf den Beitrag des Bundes zur Verbesserung der Finanzsituation der neuen Bundesländer hingewiesen. Dazu zählen u. a. auch die Soforthilfen aus dem Fonds „Deutsche Einheit". Wegen der bereits erwähnten Zuständigkeit der Länder für Verbrauchersubventionen hat der Bund allerdings keinen Einfluß darauf, wann und wie die Länder ihrerseits Finanzmittel für Hilfen an die Wohnungswirtschaft bereitstellen. Anlage 14 Antwort des Parl. Staatssekretärs Bernd Neumann auf die Fragen der Abgeordneten Ursula Burchardt (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 15 und 16) : Wie lange dauert in der Regel nach neuesten Erkenntnissen der Bundesregierung die Umsetzung der aus Mitteln des Bundesministeriums für Forschung und Technologie geförderten Abfallvermeidungs- und Abfallverwertungstechniken von der Entwicklung bis zur Anwendung im großtechnischen Maßstab? Welche Hemmnisse sind der Bundesregierung bekannt, die die Umsetzung verzögern? Zu Frage 15: Im Rahmen einer Studie „Umsetzung/Nutzen der BMFT-Förderung Umwelttechnik" ließ der BMFT von 1985 bis 1988 die Umsetzung der Ergebnisse aus Forschung und Entwicklung zur Umwelttechnologie untersuchen. In dem betrachteten Zeitraum wurden 249 Projekte mit 228 Mio. DM Gesamtfördervolumen abgeschlossen. Hieraus wurden 57 repräsentativ ausgewählte Projekte mit 101 Mio. DM Fördermitteln untersucht. 2714* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Bezüglich der Umsetzungszeiträume kommt die Studie zu folgendem Ergebnis: „Für die Entwicklung und Umsetzung von neuen Verfahren der Umwelttechnik ist mit unterschiedlichen Zeiträumen zu rechnen. Deren Kenntnis ist wesentlich für zukünftige Planungen. Der zeitliche Aufwand für die Entwicklung und Umsetzung von neuen Verfahren liegt im Bereich von 2 bis 10 Jahren, wobei dies den Zeitraum zwischen dem Beginn der Förderung der Unternehmen durch das BMFT und dem Beginn der Umsetzung, d. h. der Inbetriebnahme der entsprechenden Anlage, betrifft. Je nach Art des Verfahrens ergeben sich deutliche Zeitunterschiede. Während nachgeschaltete Maßnahmen durchweg in 2 bis 4 Jahren entwickelt und umgesetzt werden konnten, erforderte die Einführung integrierter Maßnahmen 6 bis 10 Jahren. " Zu Frage 16: Zur Frage von Innovationshemmnissen bei der Umsetzung von F + E-Ergebnissen im Bereich Abfallwirtschaft hat der BMFT auf Grund einer kleinen Anfrage (BT-Drucksache 11/5986) ausführlich Stellung genommen (BT-Drucksache 11/6194 vom 4. 1. 1990). Danach sind Innovationshemmnisse in Form einzelner rechtlicher Regelungen nicht festzustellen. Dennoch ergeben sich erhebliche Unsicherheiten bei den Unternehmen der Abfallwirtschaft, die sich als gravierende Innovationshemmnisse erweisen. Als Ursachen wurden insbesondere die Summenwirkung komplexer rechtlicher Regelungen und daraus abgeleitete Sondergenehmigungsverfahren von bis zu 10 Jahren sowie fehlende öffentliche Akzeptanz genannt. Der BMFT versucht bei seiner Förderung z. B. durch Verbundvorhaben zwischen Hochschule und Industrie zumindest die Hemmnisse beim Wissenstransfer zwischen Entwickler und Anwender zu minimieren. Daneben hat die Bundesregierung für Anlagen, die der Entwicklung und Erprobung dienen, auch im Abfallrecht eine Regelung analog der Regelung im Bundesimmissionsschutzgesetz eingeführt, die rasche Genehmigungsverfahren ermöglicht. Anlage 15 Antwort des Parl. Staatssekretärs Bernd Neumann auf die Fragen der Abgeordneten Edelgard Bulmahn (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 17 und 18) : Trifft der Bericht der „Welt" vom 14. Juni 1991 zu, daß die Forschungseinrichtungen in den alten Bundesländern in den kommenden Jahren mit erheblichen Mittelkürzungen seitens des Bundesministers für Forschung und Technologie rechnen müssen und daß hinsichtlich der Großforschungseinrichtungen sogar darüber nachgedacht werde, die einzelnen Großforschungseinrichtungen zum Abschluß von Sozialplänen zu ermächtigen? Mit welcher Zielsetzung und anhand welcher Kriterien will die Bundesregierung die Forschungslandschaft neuordnen? Zu Frage 17: Die Gestaltung einer neuen gesamtdeutschen Forschungslandschaft ist eine der herausragenden forschungspolitischen Aufgaben der vor uns liegenden Jahre. Wir werden die Chancen, die darin liegen, nur dann verantwortlich nutzen, wenn wir auch im bisherigen Bundesgebiet die bestehenden Kapazitäten hinsichtlich Aufgabenspektrum und Umfang überprüfen. Dabei werden alle Förderbereiche einzubeziehen sein. Es wird zu Verlagerungen in der Projektförderung in die Neuen Bundesländer kommen müssen. Hiervon werden Wirtschaft und Hochschulen, aber auch Fraunhofer-Gesellschaft und Max-Planck-Institute betroffen sein. Die Großforschungseinrichtungen in den alten Bundesländern sind der mit über 2,3 Milliarden DM bei weitem größte institutionelle Bereich im Haushalt des Bundesministers für Forschung und Technologie (BMFT). Es versteht sich deshalb von selbst, daß ihre Finanzplanung nicht unverändert bleiben kann. Ihre Grundfinanzierung soll aber nicht, wie die „Welt" schreibt, ab 1993 erheblich reduziert werden. Allerdings führen wir mit den GFE Gespräche, wie im Hinblick auf die knapper werdenden Mittel durch Straffungen, Vermeidung von Doppelkapazitäten und Konzentration auf die wesentlichen Aufgaben Einsparungen erreicht werden können. Dabei werden wir differenziert nach forschungspolitischen Grundsätzen, die den Abgeordneten des FTTA-Ausschusses zugeleitet werden, vorgehen. Die betroffenen Länder sind entsprechend informiert worden. Die Einrichtungen erarbeiten derzeit Konzepte. Der BMFT wird bemüht sein, die nötigen Instrumentarien für eine Umsetzung solcher Konzepte zu schaffen. Zu Frage 18: Die Forschungslandschaft der Bundesrepublik Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten in den alten Bundesländern erfolgreich entwickelt. Es steht deshalb keine Neuordnung an, vielmehr geht es gerade darum, die in den alten Ländern bewährten Methoden und Programme der Forschungsförderung und die institutionelle Differenzierung auch in den neuen Bundesländern einzuführen. Dies ist die Zielsetzung von Art. 38 des Einigungsvertrages. Die GFE sind ein tragendes Element unserer Forschungslandschaft, sie werden auch in der künftigen gesamtdeutschen Forschungslandschaft eine zentrale Rolle spielen. Es wird deshalb auch in den neuen Ländern GFE geben: DLR und DESY z. B. werden Standorte in Brandenburg und Berlin/Adlershof bekommen. Selbständige GFE sind zu Medizin, Geologie und Umwelt sehr ernsthaft im Gespräch. Die Anfang Juli zu erwartenden Empfehlungen des Wissenschaftsrates sollen hier wesentliche Weichen stellen. Anlage 16 Antwort des Parl. Staatssekretärs Hans-Peter Repnik auf die Frage des Abgeordneten Dietrich Austermann (CDU/ CSU) (Drucksache 12/766 Frage 19): Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2715* Ist es zutreffend, daß — trotz anderslautender Beschlüsse und Stellungnahmen in Gremien des Deutschen Bundestages — vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit Vereinbarungen mit der Volksrepublik China außerhalb des Umweltbereiches, der Armutsbeseitigung und der Wirtschaftsreform abgeschlossen oder vorbereitet werden, um die Einrichtung einer Ammoniakfabrik, einer LKW-Fabrik und einer Reifenfabrik mit deutscher Unterstützung zu ermöglichen? Der Deutsche Bundestag hat am 30. Oktober 1990 die Bundesregierung aufgefordert, „künftig die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China auch auf neue Maßnahmen auszudehnen, soweit sie unmittelbar der Bevölkerung bzw. dem Schutz und der Erhaltung der Umwelt dienen sowie zur Reform der chinesischen Wirtschaft beitragen" . Die Bundesregierung beachtet diese Entschließung bei der Gestaltung der Zusammenarbeit mit China konsequent. Die in der Frage genannten Projekte der Ammoniak-Fabrik, der LKW-Fabrik und der Reifenfabrik wurden bei den Regierungsverhandlungen 1988 bzw. 1989 mit der chinesischen Regierung vereinbart, also vor der Niederschlagung der Demokratiebewegung im Juni 1989 und den darauf folgenden Beschlüssen des Deutschen Bundestages, die eine wesentliche Einschränkung der Zusammenarbeit vorsahen. Es handelt sich insofern um Altprojekte. Der Bundestag ist im übrigen über die Durchführung dieser drei Projekte mehrfach unterrichtet worden, so z. B. der AwZ in seiner Sitzung am 6. September 1990 mit dem sog. Soll-Ist-Vergleich für das Jahr 1989 und über den Durchführungsauftrag über die Ammoniak-Fabrik Dalian am 3. April 1991. Anlage 17 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU) (Drucksache 12/766 Frage 24): Hält es die Bundesregierung für denkbar, daß durch die Finanzzuweisungen der Bundesrepublik Deutschland an den Staat Israel im Zusammenhang mit dem Golfkrieg die derzeitige intensive Kriegführung des Staates Israel im Südlibanon begünstigt wird? Bei der Finanzzuweisung der Bundesrepublik Deutschland an den Staat Israel handelt es sich um eine humanitäre Hilfe, die im Zusammenhang mit den durch den Golfkrieg entstandenen Schäden gewährt worden ist. Die Vereinbarung sieht ausdrücklich vor, daß durch diese Mittel die Schäden, die durch die Scud-Angriffe entstanden sind, beseitigt werden sollen. Eine Verwendung für andere Zwecke, insbesondere militärische Ausrüstung oder Maßnahmen, ist ausgeschlossen. Der Bundesregierung liegen keine Hinweise vor, daß durch die Zahlung militärische Aktionen im Südlibanon begünstigt worden sind. Anlage 18 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen der Abgeordneten Katrin Fuchs (Verl) (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 29 und 30): Wie ist der Stand der bündnisinternen Beratungen über amerikanisch-sowjetische SNF-Verhandlungen hinsichtlich ihrer Gegenstände, Zielstellungen und des Geltungsbereiches des angestrebten Abkommens? Hält es die Bundesregierung für erforderlich, bei den amerikanisch-sowjetischen SNF-Verhandlungen nicht nur über die Beseitigung der landgestützten SNF-Systeme, sondern auch über die luftgestützten SNF-Systeme zu verhandeln, und wenn ja, mit welchem Ziel? Zu Frage 29: Die zur Ausarbeitung eines westlichen SNF-Rüstungskontrollansatzes des Bündnisses eingesetzte Besondere Beratungsgruppe (Special Consultative Group) hat bisher wesentliche Fragen einer westlichen Verhandlungsposition erörtert. Sie hat aber noch keine gemeinsamen Festlegungen getroffen. Auf der NATO-Außenministertagung am 6./7. Juni 1991 in Kopenhagen hat der SCG-Vorsitzende einen Fortschrittsbericht vorgelegt. Zu Frage 30: Die Vorgabe der Londoner Erklärung für SNF-Rüstungskontrolle, von der die gegenwärtigen Bündnisberatungen ausgehen, bezieht sich auf landgestützte nukleare Raketensysteme unter 500 km Reichweite und nukleare Artilleriemunition. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß grundsätzlich auch luftgestützte Nuklearwaffen in Verhandlungen einbezogen werden sollten. Über Zielsetzung und Modalitäten wird zu gegebener Zeit entschieden werden. Anlage 19 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen des Abgeordneten Horst Sielaff (SPD) (Drucksache 12/ 766 Fragen 31 und 32): Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung in der Vergangenheit ergriffen, um zu erreichen, daß den ca. 2 Millionen Flüchtlingen aus Ruanda von der dortigen Regierung ermöglicht wird, in ihre Heimat zurückzukehren, und was gedenkt die Bundesregierung in Zukunft zu tun, um diesem Ziel näherzukommen? In welchem Umfang wird Ruanda mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt unterstützt? Zu Frage 31: Zunächst eine Richtigstellung: Die in der Frage behauptete Zahl von 2 Millionen Flüchtlingen aus Ruanda ist bei weitem zu hoch angesetzt. Nach den jüngsten Erhebungen des UNHCR (November 1990) gibt es insgesamt etwa 500 000 ruandische Flüchtlinge in der Region. Das Flüchtlingsproblem, das 1959 durch die erfolgreiche Revolution der unterdrückten Hutu-Mehrheit gegen die Herrschaft der Tutsi-Minderheit ausgelöst wurde, war über drei Jahrzehnte lang nicht virulent. Erst mit dem bewaffneten Einfall in Uganda lebender Tutsi-Flüchtlinge nach Ruanda (Oktober 1990), die 2716* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 sich zur Front Patriotique Rwandaise (FPR) zusammengeschlossen hatten, wurde die Flüchtlingsfrage Gegenstand regionaler und internationaler Lösungsbemühungen. Erfreulicherweise haben sich die betroffenen Regionalstaaten ihrer Verantwortung für die Lösung des Flüchtlingsproblems gestellt. In einer regionalen Staatschef-Konferenz am 19. Februar 1990 in Daressalam erkannte Ruanda das Rückkehrrecht für alle Tutsi-Flüchtlinge förmlich an und stellte für sie eine Amnestie in Aussicht. Der ruandische Staatspräsident Habyarimana hat diese Verpflichtung zuletzt beim OAE-Gipfel in Abuja (Nigeria) Anfang Juni 1991 bestätigt. Der UNHCR wurde von den afrikanischen Regionalstaaten beauftragt, ein umfassendes Konzept für die Reintegration rückkehrwilliger Flüchtlinge auszuarbeiten. Hauptproblem hierfür ist die schon jetzt bestehende erhebliche Überbevölkerung Ruandas. Die Bundesregierung und ihre europäischen Partner haben die afrikanischen Bemühungen um eine Lösung des Flüchtlingsproblems und um eine Beendigung der damit in Zusammenhang stehenden Kampfhandlungen zwischen FPR und ruandischer Armee politisch mit Nachdruck unterstützt. Wir haben in diesem Sinne mehrfach bilateral und gemeinsam mit den EG-Staaten in Ruanda und in den betroffenen Nachbarländern demarchiert. Nach Vorlage eines vom UNHCR und den Regionalstaaten entwickelten Konzepts für Rückkehr der Flüchtlinge nach Ruanda wird die Bundesregierung Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung eines solchen Programms prüfen. Zu Frage 32: Für den zweijährigen Zusagerahmen 1989/90 erhielt Ruanda 50 Millionen DM aus Mitteln der Finanziellen Zusammenarbeit und 38 Millionen DM aus Mitteln der Technischen Zusammenarbeit. Im September 1991 finden in Ruanda die nächsten Regierungsverhandlungen über entwicklungspolitische Zusammenarbeit in den Jahren 1991/92 statt. Es ist damit zu rechnen, daß sich das Fördervolumen im ähnlichen Rahmen wie im vorigen Zusagezeitraum bewegen wird. Schwerpunkte der Zusammenarbeit sind die landwirtschaftliche Entwicklung, Infrastrukturvorhaben und das Erziehungswesen. Anlage 20 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des Abgeordneten Norbert Gansel (SPD) (Drucksache 12/766 Frage 33): Welche Erklärungen haben sowjetische Stellen über Lagerung und Abzug von sowjetischen Atomwaffen und Trägersystemen auf dem Gebiet der früheren DDR abgegeben, und welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Glaubwürdigkeit dieser Erklärungen? Der sowjetische Außenminister Bessmertnych hat anläßlich seines Besuches am 12./13. Juni in Bonn klargestellt, es gebe noch einige Atomwaffen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, welche nach einem Abzugsplan ziemlich rasch abgezogen würden. Nach deren Abzug werde die Bundesregierung entsprechend unterrichtet. Die Bundesregierung sieht keinen Grund, an der Glaubwürdigkeit der am 13. Juni 1991 abgegebenen klarstellenden Erklärung des sowjetischen Außenministers zu zweifeln. Anlage 21 Antwort des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fragen des Abgeordneten Eckart Kuhlwein (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 3 und 34): Trifft es zu, daß die EG-Kommission die Bundesregierung schriftlich aufgefordert hat, durch eine entsprechende Gesetzesänderung sicherzustellen, daß Bewerber und Bewerberinnen aus anderen Staaten der EG um die Anstellung im Lehramt nicht diskriminiert werden, wenn sie die erforderliche Ausbildungsqualifikation besitzen? Welche Änderungen des Status der Lehrer hält die Bundesregierung für erforderlich, um der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu entsprechen, nach der die Beschränkung des Zugangs zum öffentlichen Dienst der Mitgliedsländer (Artikel 48 Abs. 4 EWG-Vertrag) nur bei „hoheitlichen Aufgaben", nicht jedoch für das Lehramt an staatlichen Schulen gilt? Aus Gründen des Sachzusammenhanges möchte ich beide Fragen zusammen beantworten. Die Bundesregierung hat sich in ihrer mit den Ländern abgestimmten Stellungnahme von April 1990 zu der sog. „systematischen Aktion" der EG-Kommission zu den Fragen des Zugangs von EG-Mitbürgern zum deutschen öffentlichen Dienst eingehend geäußert. Dabei hat die Bundesregierung gegenüber der EG-Kommission ausdrücklich ihre Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog über alle Möglichkeiten der Verbesserung der Freizügigkeit für Angehörige der Mitgliedstaaten der EG innerhalb der öffentlichen Verwaltung erklärt. Die Kommission hat dieses Angebot bisher nicht aufgegriffen. Vielmehr hat sie im Rahmen von Verfahren nach Art. 169 EWG-Vertrag mit Schreiben vom April 1991 die Bundesregierung aufgefordert, sich zu angeblichen Verstößen gegen Artikel 48 des Vertrags im Zusammenhang mit der Beschäftigung von EG-Staatsangehörigen in verschiedenen Bereichen der deutschen öffentlichen Verwaltung (u. a. Personal der staatlichen Bildungseinrichtungen, Bedienstete von Bundespost und Bundesbahn, Personal im Bereich der Wasserversorgung) zu äußern. Die Äußerung der Kommission wird geprüft und in Abstimmung mit den Ländern eine Stellungnahme erarbeitet. Im übrigen hat die Bundesregierung bereits Anfang des Jahres eine gesetzliche Neuregelung in Aussicht gestellt, um die Berufung von EG-Mitbürgern in das Beamtenverhältnis generell zu erleichtern. Der Status der Lehrer in der Bundesrepublik entspricht den Vorgaben der Verfassung, er hat sich bewährt. Weder der EWG-Vertrag noch der Prozeß der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2717* europäischen Integration erfordern hier Änderungen. Anlage 22 Antwort des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fragen der Abgeordneten Uta Würfel (FDP) (Drucksache 12/766 Fragen 35 und 36): Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß 1974 eine Unterrichtsschwester mit der Eingruppierung nach Krankenhaustarif Kr VII über der Beitragsbemessungsgrenze lag und dieselbe nun leitende Unterrichtsschwester, eingruppiert nach Kr IX und 17 Jahre älter, heute nicht mit ihrem Gehalt die Beitragsbemessungsgrenze der Krankenkasse erreicht? Zu welchem Handeln veranlaßt die Bundesregierung die Tatsache, daß das Gehalt der Krankenpflegepersonen weit hinter der Lohn- und Gehaltsentwicklung anderer Berufe zurückgeblieben ist? Zu Frage 35: Aus dem in Ihrer Frage beschriebenen Beispiel der Einkommensentwicklung einer Unterrichtsschwester von 1974 bis 1991 lassen sich keine Folgerungen für eine verzögerte Einkommensentwicklung im Bereich des Krankenpflegepersonals bzw. der Unterrichtsschwestern treffen. Mit diesem Beispiel meinen Sie eine Unterrichtsschwester, deren Vergütung 1974 wohl nur knapp über der damals geltenden Beitragsbemessungsgrenze für die gesetzliche Krankenversicherung in Höhe von 1 875, — DM gelegen hat und deren Vergütung heute in der Vergütungsgruppe Kr. IX nur dann knapp unter der derzeit geltenden Grenze von 4 875, — DM liegt, wenn sie ledig oder verheiratet ohne Kinder ist. Ebenso läßt sich umgekehrt ein Beispiel für eine Unterrichtsschwester bilden, die 1974 unterhalb und 1991 oberhalb der jeweils geltenden Beitragsbemessungsgrenze vergütet wird. Das von Ihnen herangezogene Beispiel ist auch deshalb für allgemeine Schlußfolgerungen ungeeignet, weil es nur auf ein ganz bestimmtes Basisjahr abstellt, nämlich das Jahr 1974, in dem bekanntlich eine besonders starke Anhebung der Einkommen im öffentlichen Dienst stattfand und deshalb die Bemessungsgrenze auch in vielen Fällen erreicht und überschritten wurde. Wenn man z. B. ein früheres oder ein späteres Bezugsjahr zugrundelegt, gäbe es auch andere Ergebnisse. Ferner muß beachtet werden, daß sich die individuelle Gehaltsentwicklung nach dem Bezahlungssystem des öffentlichen Dienstes auch nach der Entwicklung des Familienstandes und der Zahl der Kinder sowie danach richtet, ob man noch in den Altersstufen aufsteigt oder schon die Endvergütung erhält. Zu Frage 36: Die Bundesregierung kann — wie auch in meiner Antwort auf Ihre vorhergehende Frage aufgezeigt — nicht bestätigen, daß das Gehalt der Krankenpflegepersonen weit hinter der Lohn- und Gehaltsentwicklung anderer Berufe zurückgeblieben ist. Vielmehr umfassen gerade die Tarifverträge aus jüngster Zeit vom Juni 1989 und März 1991 eine Reihe von strukturellen Maßnahmen — z. B. die Einführung von Bewährungsaufstiegen und die Erhöhung von Zulagen für besonders belastende Dienste —, die zu erheblichen Verbesserungen der Vergütung von Krankenpflegepersonen führten. Im übrigen sieht die Bundesregierung davon ab, die tarifliche Eingruppierung und Vergütung für einzelne Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes allgemein zu werten, da es sich hierbei um eine Angelegenheit der Tarifvertragsparteien handelt. Anlage 23 Antwort des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fragen des Abgeordneten Meinrad Belle (CDU/CSU) (Drucksache 12/766 Fragen 37 und 38): Wie ist der derzeitige Sachstand der Gespräche zwischen dem Bund und den einzelnen Bundesländern über den Vorschlag des Bundesministers des Innern, neu einreisende Asylbewerber zentral unterzubringen und nach Prüfung bei offensichtlich unbegründetem Asylantrag von dort unmittelbar abzuschieben? Wie ist der Stand der Gespräche zur Vereinheitlichung des Asylrechts im Rahmen der Verhandlungen zur Realisierung des Schengener Abkommens, und wann wird mit den Gesprächen zur Harmonisierung des Asylrechts in Europa im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft begonnen? Zu Frage 37: Der Bundesminister des Innern hat die Innenminister und Senatoren für Inneres der Länder eindringlich gebeten, die Möglichkeit des § 23 Abs. 1 Asylverfahrensgesetz , Asylbewerber in Gemeinschaftsunterkünften unterzubringen, konsequenter als bisher zu nutzen, weil die zentrale Unterbringung von ganz wesentlicher Bedeutung für die von allen Beteiligten geforderte Straffung und Beschleunigung der Asylverfahren ist, wenn sich die Anträge als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet erweisen und deshalb in einem vereinfachten Verfahren beschieden werden können. Die Länder sehen das im wesentlichen ebenso. Sie haben durch Errichtung zentraler Ausländerbehörden die Möglichkeit geschaffen, daß die vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge eingerichteten Außenstellen mit den örtlichen Behörden eng zusammenarbeiten können und die Asylbewerber kurzfristig erreichbar sind. Es zeigt sich aber auch, daß es den Ländern derzeit nicht möglich ist, alle neu hinzukommenden Asylbewerber in zentralen Sammellagern unterzubringen. Hier sieht der Bundesminister des Innern bei den Ländern noch Handlungsbedarf. Denn bei zentraler Unterbringung kann die Ausreiseverpflichtung derjenigen abgelehnten Asylbewerber konsequenter durchgesetzt werden, bei denen Abschiebungshindernisse nicht entgegenstehen. Dadurch würde insbesondere den Gemeinden, die auch für die Unterbringung der abgelehnten Asylbewerber zuständig sind, ganz wesentlich geholfen werden können. Der Bundesminister des Innern wird deshalb dieses Anliegen gerade auch im Interesse der kleineren Gemeinden mit Nachdruck weiter verfolgen. 2718* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Zu Frage 38: Im Schengener Rahmen ist unter deutschem Vorsitz eine Arbeitsgruppe „Asyl" eingesetzt worden, die sich mit einem Vergleich der Asylrechtssysteme der Schengen-Staaten befaßt. Die Arbeiten werden im 2. Halbjahr unter italienischem Vorsitz fortgesetzt. Die Einwanderungsminister der EG-Mitgliedstaaten haben auf ihrer Sitzung am 13. Juni 1991 die adhoc-Arbeitsgruppe „Einwanderung" gebeten, bis Ende dieses Jahres die für eine Harmonisierung des Asylrechts zu prüfenden Problemfelder aufzulisten und für die Prüfung einen Zeitplan zu erstellen. Die EG selbst hat bisher auf dem Gebiet des Asylrechts keine Kompetenz. Fragen einer Kompetenz der EG auf dem Gebiet des Asylrechts sind derzeit Gegenstand der Erörterungen in der Regierungskonferenz zur Europäischen Politischen Union. Anlage 24 Antwort des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fragen der Abgeordneten Bärbel Sothmann (CDU/CSU) (Drucksache 12/766 Fragen 39 und 40): Ist der Bundesregierung bekannt, wie hoch die Zahl der nicht anerkannten und nach dem Ausländergesetz abzuschiebenden Asylbewerber ist, die allein aus dem Grund nicht in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden können, weil sie keine oder zweifelhafte Ausweispapiere besitzen? Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die Zahl der aus oben genanntem Grund nicht abschiebbaren Asylbewerber zu vermindern bzw. welche unterstützenden Maßnahmen kann und wird die Bundesregierung — angesichts der Länderkompetenz beim Vollzug des Ausländergesetzes — zur Lösung dieses Problems ergreifen? Zu Frage 39: Nach den Erfahrungen der Länder stellt die Paßlosigkeit nicht in jedem Einzelfall ein dauerhaftes Abschiebehindernis dar. In der überwiegenden Zahl der Fälle kommt es lediglich zu Verzögerungen bei der Abschiebung. Deshalb werden diese Fälle von den Ausländerbehörden in der bundeseinheitlichen Statistik über den Zugang und den Verbleib (ehemaliger) Asylbewerber nicht besonders erfaßt. Soweit in einzelnen Ländern eine genauere statistische Erfassung erfolgt, wird zum Teil auch nur die Zahl der aktuell erfolglosen Abschiebeversuche festgehalten. In Folge dessen hat die Bundesregierung kein einheitliches Bild über die Anzahl vorübergehender und dauerhafter Abschiebehindernisse. Aufzeichnungen darüber, wie lange in Einzelfällen die Paßlosigkeit eine Abschiebung verhindert, werden von den Ländern ebenfalls nicht geführt. Zu Frage 40: Der Verhinderung solcher Fälle dienen zum einen die Vorschriften im Ausländergesetz und im Asylverfahrensgesetz über die Verwahrung der Pässe von ausreisepflichtigen Ausländern und von Asylbewerbern bei der Ausländerbehörde. Zum anderen enthält das Ausländergesetz in § 41 die erforderliche und ausreichende Rechtsgrundlage, um bei Ausländern, die nicht im Besitz eines Passes sind, alle erforderlichen Maßnahmen einschließlich erkennungsdienstlicher Maßnahmen zur Feststellung der Identität und der Staatsangehörigkeit zu treffen. Bei der Auswertung der erkennungsdienstlichen Unterlagen leistet das Bundeskriminalamt nach § 78 Ausländergesetz Amtshilfe; dort werden Unterlagen zentral aufbewahrt. Dadurch können insbesondere die Fälle aufgedeckt werden, in denen Ausländer früher bereits mit Identitätspapieren einen Asylantrag im Bundesgebiet gestellt haben. Wenn die Staatsangehörigkeit ermittelt ist, kann bei der Auslandsvertretung des Herkunftsstaates im Bundesgebiet die Ausstellung eines Passes oder Heimreisescheines beantragt werden. Jeder Staat ist völkerrechtlich anderen Staaten gegenüber grundsätzlich zur Rücknahme der eigenen Staatsangehörigen verpflichtet. Soweit ein Herkunftsstaat die Ausstellung der von ihm für die Einreise geforderten Papiere verweigert, drängt die Bundesregierung mit Nachdruck auf diplomatischem Wege auf die Erfüllung dieser völkerrechtlichen diplomatischen Verpflichtung. Die Bundesregierung erwartet, daß auch durch die engere Zusammenarbeit mit den anderen EG-Staaten, insbesondere den Partnerstaaten des Schengener Übereinkommens, die Möglichkeiten erleichtert und erweitert werden, den Aufenthalt von Ausländern ohne Paß zu beenden. Gerade in den Fällen, in denen der Drittstaatsangehörige sich zunächst in einem anderen EG-Staat aufgehalten hatte, lassen sich dort möglicherweise Unterlagen über seine Identität und seine Staatsangehörigkeit finden. Zum anderen kann in den Fällen, in denen Herkunftsstaaten nur zögerlich zur Paßausstellung bereit sind, durch ein gemeinsames Vorgehen der EG- bzw. Schengen-Staaten eher Abhilfe geschaffen werden. Anlage 25 Antwort des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Frage des Abgeordneten Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD) (Drucksache 12/766 Frage 42): Trifft es zu, daß gegen Ende des Zweiten Weltkrieges große Teile des Bestandes der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin (Unter den Linden) ausgelagert und heute in Krakau/Polen in die dortige Universitätsbibliothek eingegliedert sind, und gibt es bereits Gespräche über eine mögliche Rückgabe dieser Bestände, analog der Lage bei den Kunstschätzen, die in der Sowjetunion lagern? Es trifft zu, daß Teilbestände der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek im 2. Weltkrieg nach Schlesien in die Abtei Grüssau ausgelagert worden sind und sich heute in der Universitätsbibliothek Krakau befinden. Dort sind sie der wissenschaftlichen Benutzung zugänglich. Es handelt sich um Handschriften, Autographen, Musikautographen und Druckschriften. Gemäß Artikel 28 Abs. 3 des am 17. Juni 1991 unterzeichneten Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenar- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2719* beit werden die Vertragsparteien bestrebt sein, die Probleme der verlagerten Kulturgüter, beginnend mit Einzelfällen, zu lösen. Die Bundesregierung wird nach Inkrafttreten des Vertrages Gespräche mit der polnischen Regierung über die Rückführung von Kulturgütern aufnehmen. Einer der zu behandelnden Einzelfälle wird der in Krakau gelagerte Bestand der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek sein. Anlage 26 Antwort des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fragen des Abgeordneten Friedhelm Julius Beucher (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 43 und 44): Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung getroffen, um die Verpflichtungen aus dem Artikel 39 Abs. 3 des Einigungsvertrages — „für eine Übergangszeit bis zum 31. Dezember 1992 unterstützt der Bund den Behindertensport" — zu erfüllen? Wie steht die Bundesregierung zur Forderung des Landessportbundes Brandenburg nach einem zweiten zentralen Bundesleistungszentrum für den Behindertensport in der Sportschule Lindow? Zu Frage 43: Für die Unterstützung des Breitensports der Behinderten in den neuen Bundesländern sollen 1991 900 000 DM zur Verfügung gestellt werden. Abschlagszahlungen sind bereits geleistet worden. Die Mittel sind vorgesehen für — Personalkostenzuschüsse für je einen Bediensteten der Landesverbände der Behinderten und der Gehörlosen, — Zuwendungen zu Breitensportmaßnahmen der Landesverbände der Behinderten und der Gehörlosen (insbesondere für Sportveranstaltungen auf regionaler Ebene; Tagungen/Schulungen von Vereinsvorsitzenden, Schatzmeistern, Organisations- und Übungsleitern sowie Trainern, Kosten der Geschäftsstellen der Landesverbände). Für 1992 sind nach gegenwärtigem Stand der Haushaltsberatungen für diese Zwecke 1 200 000 DM vorgesehen. Zu Frage 44: Die von Ihnen erwähnte Forderung des Landessportbundes Brandenburg ist der Bundesregierung nicht bekannt. Der Deutsche Behinderten-Sportverband wurde im Zusammenhang mit der Errichtung des im Bau befindlichen Leistungszentrums für den Behindertensport in Duisburg im Dezember 1990 gebeten, ein Konzept für die Errichtung von Leistungszentren für den Behindertensport in der Bundesrepublik Deutschland zu erstellen. Dieses Konzept liegt bisher noch nicht vor. Ich gehe davon aus, daß der Deutsche Behinderten-Sportverband die Forderung des Landessportbundes Brandenburg in seine Überlegungen einbeziehen wird. Anlage 27 Antwort des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) (Drucksache 12/766 Frage 45) : Wie stellt sich die Bundesregierung die Abwicklung der kulturellen und sozialen Zonenrandförderung im Zeitraum der mittelfristigen Finanzplanung vor, und welche Beträge sind nach der Ressortplanung bisher dafür in den kommenden Haushaltsjahren eingesetzt? Für das bis 1994 auslaufende kulturelle und soziale Zonenrandprogramm ist ein Plafond von 270 Millionen DM vorgesehen, der wie folgt zur Verfügung stehen soll: 1991 120 Millionen DM 1992 100 Millionen DM 1993 30 Millionen DM 1994 20 Millionen DM Dieser Gesamtplafond ist vorrangig dazu bestimmt, solche kulturellen und sozialen Maßnahmen und Einrichtungen im ehemaligen Zonenrandgebiet abzuwickeln, — für die in den Vorjahren verbindliche Zuwendungszusagen vorgelegen haben — die in Vorjahren bereits mit Bundesmitteln anfinanziert worden sind oder — bei denen die Bundesländer in Kenntnis des Bedarfes an Bundesmitteln den vorzeitigen Maßnahmebeginn gemäß Nr. 1.3 der vorl. VV zu §§ 44, 44 a BHO genehmigt haben. Außerdem soll dieser Gesamtbetrag den laufenden Unterhalt der großen bis mittleren Kulturträger des ehemaligen Zonenrandgebietes (Theater, Orchester, Festspiele und Bildungseinrichtungen) bis einschließlich 1992 garantieren. Damit soll den Ländern Bayern, Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein ausreichend Zeit für eine Umstrukturierung ihrer Haushalte zur Übernahme der künftig ausfallenden Bundesförderung verschafft werden. Der bisher für die Verteilung von Bundesmitteln maßgebende Schlüssel von Bayern 33,96 % Hessen 13,35 % Niedersachsen 28,33 % Schleswig-Holstein 24,36 bleibt hierbei unverändert bestehen. Anlage 28 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Reinhard Göhner auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 46 und 47): Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß nach der Einführung eines Straftatbestandes der „Geldwäscherei" in der Schweiz (Artikel 305 schweizerisches StGB) und in anderen westeuropäischen Ländern im Jahre 1990 die Gefahr besteht, daß vermehrt Gelder aus dem internationalen Drogenhandel und anderen Bereichen der organisierten Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland angelegt werden, wo es bisher keinen entsprechenden Straftatbestand gibt? 2720* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Beabsichtigt die Bundesregierung, daraus Konsequenzen zu ziehen und die Verpflichtungen aus den von ihr getragenen Übereinkommen, Empfehlungen und Richtlinien der UNO, des Europarates, der Europäischen Kommission und der EG trotz der Bedenken des Kreditgewerbes endlich zu erfüllen? Zu Frage 46: Die Entscheidung der einschlägigen Täter darüber, wo der Versuch unternommen wird, die Gewinne aus der Organisierten Kriminalität zu „waschen", dürfte von einer Reihe von Faktoren abhängen. Das jeweils geltende Strafrecht ist nur einer dieser Faktoren. Die in der Frage angesprochene Gefahr könnte sich auf Dauer nur dann ergeben, wenn die Geldwäsche in Deutschland straflos bliebe. Aus meiner Antwort zu der nächsten Frage wird sich aber ergeben, daß dieser Fall nicht eintreten wird. Die angesprochene Gefahr sehe ich daher nicht. Zu Frage 47: Die in der Frage angesprochenen Konsequenzen beziehen sich im Grunde auf zwei verschiedene Bereiche, auf eine Strafvorschrift über Geldwäsche und auf eine Regelung zur Aufspürung der Gewinne aus schweren Straftaten. Zur Geldwäsche habe ich in der Fragestunde vom 17. April 1991 auf eine Frage des Herrn Kollegen Singer ausgeführt, daß die Bundesregierung bereits in der Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bundesrates zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität einen eigenen Vorschlag für eine neue Strafvorschrift im vergangenen Jahr dem Deutschen Bundestag unterbreitet hat. Eine ergänzte, mit den beteiligten Bundesressorts zwischenzeitlich abgestimmte Fassung soll in das Ausführungsgesetz zu dem Vertragsgesetz zur Wiener Drogenkonvention von 1988 eingestellt werden. Die Bundesregierung hält am Ziel einer möglichst schnellen Ratifizierung dieses Übereinkommens durch den Deutschen Bundestag noch vor Jahresende 1991 fest und ist dementsprechend auch um eine schnelle Einbringung des Ausführungsgesetzes dazu bemüht. Unabhängig hiervon hat der Bundesrat am 26. April 1991 beschlossen, in seinem Gesetzentwurf zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität einen Geldwäschetatbestand aufzunehmen, der in seiner Ausgestaltung weitgehend der im Bundesministerium der Justiz ausgearbeiteten Formulierung entspricht. Damit ist sichergestellt, daß die Pönalisierung der Geldwäsche auch im Rahmen der Gesetzgebung zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität weiter verfolgt wird. Je nachdem, welches der beiden Gesetzgebungsvorhaben schneller läuft, wird die Regelung also entweder in dem einen oder in dem anderen Gesetz verabschiedet werden. Zum Gewinnaufspürungsgesetz ist darauf hinzuweisen, daß die Richtlinie der EG zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche erst am 10. Juni 1991, also in der vorigen Woche, in Brüssel beschlossen worden ist. Die Forderung, die Richtlinie „endlich" umzusetzen, ist deshalb nicht verständlich. Die Richtlinie schreibt eine Umsetzung bis zum 1. Januar 1993 vor. Die Bundesregierung ist jedoch selbstverständlich bemüht, die Richtlinie so zügig wie möglich umzusetzen. Soweit in der Frage auch noch der Europarat angesprochen ist, möchte ich darauf hinweisen, daß die Bundesregierung selbstverständlich auch das Übereinkommen des Europarates über das Waschen, das Aufspüren, die Beschlagnahme und die Einziehung von Erträgen aus Straftaten, zu dessen Erstzeichnern die Bundesrepublik Deutschland gehört hat, so schnell wie möglich zur Ratifizierung vorlegen wird, wenn die innerstaatlichen Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Wie Sie aus meinen vorausgegangenen Ausführungen entnehmen konnten, wird hieran mit Nachdruck gearbeitet. Anlage 29 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Reinhard Göhner auf die Frage des Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) (Drucksache 12/766 Frage 48) : Ist der Bundesregierung bekannt, ob im Hinblick auf die durch Aktenfunde belegten Zwangsadoptionen in der ehemaligen DDR staatsanwaltschaftliche Ermittlungen eingeleitet wurden, und denkt die Bundesregierung vor diesem Hintergrund gesetzliche Maßnahmen einzuleiten? Die Nachfrage bei den betroffenen Landesjustizverwaltungen hat ergeben, daß in Berlin und Brandenburg im Zusammenhang mit dem Verdacht von „Zwangsadoptionen" staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren bisher nicht eingeleitet worden sind. In diesen Ländern soll nach Auswertung der Verdachtsfälle durch die Senatsverwaltung für Jugend in Berlin entschieden werden, ob Anlaß zu strafrechtlichen Ermittlungen besteht. Im Lande Sachsen-Anhalt ist bei der Staatsanwaltschaft Halle auf Grund der Strafanzeige eines Rechtsanwalts ein Ermittlungsverfahren zu dem angesprochenen Fragenkomplex eingeleitet worden. Erkenntnise über weitere staatsanwaltschaftliche Ermittlungen haben sich in der Kürze der zur Beantwortung der Frage zur Verfügung stehenden Zeit nicht gewinnen lassen. Aus strafrechtlicher Sicht sind bisher keine gesetzlichen Maßnahmen angezeigt. Es ist Aufgabe der Strafverfolgungsorgane der Länder und letztlich der unabhängigen Gerichte zu beurteilen, ob sich jemand im Zusammenhang mit dem angesprochenen Fragenkomplex nach den zur Tatzeit geltenden Gesetzen strafbar gemacht hat. Soweit dies nicht der Fall sein sollte, kann eine Strafbarkeit nicht nachträglich begründet werden. Dies ist durch das in Artikel 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich verankerte Rückwirkungsverbot ausgeschlossen. Zur Erforderlichkeit gesetzgeberischer Maßnahmen im Bereich des Familienrechts, namentlich einer Verlängerung der Antragsfrist zur Überprüfung der nach dem Recht der ehemaligen DDR ohne Einwilligung der leiblichen Eltern erfolgten Adoptionen wird Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33, Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2721* Herr Bundesminister Dr. Kinkel heute abend vor dem Bundestag die Auffassung der Bundesregierung vortragen. Anlage 30 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf die Frage des Abgeordneten Klaus Harries (CDU/ CSU) (Drucksache 12/766 Frage 49): Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, die Vielzahl von Subventionen und Förderungsprogrammen in den neuen Bundesländern, die insbesondere für die Städte, Kreise und Gemeinden unübersichtlich bis verwirrend sind, baldmöglichst zu straffen und zu vereinfachen? Um den Kommunen einen Überblick über alle bestehenden Bundesprogramme zu geben, hat der Bundesminister der Finanzen in Zusammenarbeit mit den anderen Bundesressorts die Broschüre „Finanzierungshilfen der Bundesregierung 1991" zusammengestellt. In dieser Informationsschrift sind ausführlich die Förderprogramme dargestellt, die Adressen der Antragsstellen angeben sowie — soweit möglich — Musteranträge beigefügt. Die Broschüre ist inzwischen an alle Gemeinden und Kreise in den neuen Bundesländern versandt worden. Die Bundesregierung ist sich durchaus bewußt, daß die Vielzahl der Förderprogramme die Übersichtlichkeit verringert. Unter anderem auch aus diesem Grunde hat sie deshalb im Rahmen des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung Ost" und unter Beachtung der Eigenverantwortung von Ländern und Gemeinden 5 Milliarden DM den Kommunen in den neuen Ländern als Investitionspauschale für Instandsetzungen insbesondere von Schulen, Krankenhäusern und Altersheimen zur Verfügung gestellt. Damit konnten ohne bürokratische Verzögerungen unverzüglich Aufträge an die heimische Wirtschaft vergeben und Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden. Im übrigen sieht die Bundesregierung derzeit keine Möglichkeiten, die Vielzahl von Subventionen und Förderprogrammen in den neuen Bundesländern zu straffen und zu vereinfachen, da die Mischfinanzierungs- und Subventionstatbestände vielfältiger Art sind und auch unterschiedlichen Sachgesetzlichkeiten unterliegen. Anlage 31 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf die Frage des Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktionslos) (Drucksache 12/766 Frage 50): Treffen Mitteilungen zu, wonach der Militärhaushalt der Sowjetunion in diesem Jahr um über 20 % ansteigt, und wie läßt sich gegebenenfalls diese Tatsache mit den deutschen Zahlungen an die Sowjetunion vereinbaren, die in diesem Jahr eine Größenordnung von voraussichtlich 70 Milliarden DM erreichen werden? Es trifft nach den Informationen der Bundesregierung zu, daß der sowjetische Militärhaushalt 1991 um über 20 % gegenüber 1990 steigt. Dabei handelt es sich allerdings um eine Nominalzahl, die im Zusammenhang mit der offiziell mit 24 % angegebenen, aber von sowjetischen und ausländischen Ökonomen für 1991 auf bis zu 200 % geschätzten Inflationsrate zu sehen ist. Zwar ist der Bundesregierung nicht bekannt, inwieweit die sowjetischen Militärkosten von den Preissteigerungen betroffen sind. Es ist aber nicht auszuschließen, daß es real zumindest nicht zu einer Steigerung der Militärausgaben kommt. Die in der Frage genannte Zahl von 70 Milliarden DM für angeblich deutsche Zahlungen an die UdSSR ist nicht nur überhöht; sie umfaßt auch Leistungen unterschiedlicher Natur und verschiedener Zeiträume. So betragen die Zahlungen aus dem Bundeshaushalt in 1991 etwa ein Viertel der nach dem deutsch-sowjetischen Überleitungsabkommen zu erbringenden und auf vier Jahre verteilten Leistungen in Höhe von insgesamt rund 12 Milliarden DM, also rund 3 Milliarden DM. Daneben werden unter anderem deutschen Exporteuren zu kommerziellen Bedingungen Ausfuhrgarantien für Exporte in die UdSSR gewährt, wobei zugunsten der Exporte aus dem Beitrittsgebiet bestimmte Sonderkonditionen gelten. Dabei bleibt es aber bei der Verzinsung zu Marktkonditionen und der Rückzahlbarkeit. Weder die Leistungen nach dem Überleitungsabkommen noch die Exportbürgschaften eignen sich als Ansatzpunkte, um die UdSSR zur Verringerung ihrer Rüstungsausgaben zu bewegen. In dem inzwischen beiderseits ratifizierten Überleitungsabkommen hat sich die Bundesregierung völkerrechtlich verbindlich verpflichtet. Die Zahlungen dienen dazu, den termingerechten Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland zu sichern. Die Exportbürgschaften dienen zumindest auch der Sicherung der Beschäftigung, insbesondere in den neuen Bundesländern. Ein politisches Junktim würde den ohnehin stockenden Handelsaustausch gefährden, womit keiner Seite gedient wäre. Im Rahmen ihrer außenpolitischen Bemühungen strebt die Bundesregierung eine nachhaltige und dauerhafte Abrüstung an. Anlage 32 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf die Frage des Abgeordneten Otto Schily (SPD) (Drucksache 12/766 Frage 51): Zu welchem Zeitpunkt will die Bundesregierung den beabsichtigten Subventionsabbau von 10 Milliarden DM „kassenwirksam" werden lassen? Von dem vereinbarten Subventionsabbau sind im Bundeshaushalt 1991 rund 0,5 Milliarden DM kassenwirksam. Dieser Betrag steigt auf 1,5 Milliarden DM im Jahr 1994 an und ist im Finanzplan berücksichtigt. Der weitere Abbau von Finanzhilfen wird noch in einer Arbeitsgruppe beraten. Zum Abbau zusätzlicher 2722* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 steuerlicher Vergünstigungen sind bereits Vorschläge erarbeitet worden. Das Gesamtpaket wird dem Bundeskabinett am 10. Juli 1991 vorliegen. Vorher lassen sich Aussagen weder über Einzelmaßnahmen, noch über deren kassenmäßigen Auswirkungen machen. Anlage 33 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf die Frage der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel (SPD) (Drucksache 12/766 Frage 52): In welcher Höhe wurden aus dem Etat Kommunales Investitionsprogramm (insbesondere Schulen, Krankenhäuser, Altenheime) „Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost" in Höhe von 5 Mrd. DM Mittel für den kommunalen Straßenbau verwendet? Den Kommunen und Kreisen in den neuen Bundesländern sind im Rahmen des Gemeinschaftswerks „Aufschwung Ost" vom Bund fünf Milliarden DM als Investitionspauschale über die Verwaltungen der neuen Bundesländer zur Verfügung gestellt worden. Eine ausschließliche Verwendung der Mittel für Investitionen in soziale Einrichtungen — dies muß betont werden — ist in der zwischen Bund und Ländern geschlossenen Verwaltungsvereinbarung zur Investitionspauschale nicht vorgesehen. Vielmehr können bei entsprechendem Bedarf investive Maßnahmen für die Kommunale Infrastruktur insgesamt, also auch zum Beispiel für kommunale Gebäude und sonstige Anlagen allgemein, gefördert werden, mithin auch kommunale Straßen. Wie sich die Investitionsvorhaben bei den Kommunen aufgliedern, ist im Augenblick noch nicht zu sagen, da sich die neuen Länder zu einer entsprechenden Berichterstattung an den Bund bisher nicht in der Lage sehen. Anlage 34 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf die Fragen der Abgeordneten Sabine LeutheusserSchnarrenberger (FDP) (Drucksache 12/766 Fragen 53 und 54): Ist die Bundesregierung bereit, den Privatisierungsauftrag der Treuhand im Bereich Fremdenverkehr auf die Ferienheime der Betriebe der NVA und der verschiedenen Sondervermögen sowie die Gästehäuser des Ministerrates der ehemaligen DDR zu erweitern? Ist die Bundesregierung bereit, innerhalb der Treuhand die Zuständigkeit für die Privatisierung aller touristischen Objekte zu zentralisieren — und zwar möglichst beim Koordinator Fremdenverkehr — und dessen Stellung innerhalb der Treuhand durch Zuordnung eines adäquaten Mitarbeiterstabes zu stärken? Zu Frage 53: Die in der Frage angesprochenen Einrichtungen sind teils der Treuhandanstalt zur Verwaltung und Verwertung übertragen, teils stehen sie unmittelbar im Eigentum des Bundes. Diese Aufteilung ist durch Gesetz geregelt. Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, hieran etwas zu ändern. Zu Frage 54: Die Trauhandanstalt ist mittlerweile personell und organisatorisch in der Lage, ihrer Aufgabe voll gerecht zu werden. So ist zukünftig der Koordinator für Fremdenverkehr und Tourismus der alleinige Ansprechpartner für die Privatisierung von Hotels und Ferienheimen, soweit sie der Verwaltung der Treuhandanstalt unterliegen. Auch von daher sieht die Bundesregierung keinen Anlaß, Einfluß auf die Organisationsstruktur der Treuhandanstalt zu nehmen. Anlage 35 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf die Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) (Drucksache 12/766 Frage 55): Welche zusätzlichen personellen Möglichkeiten für die Grenzübergänge Waldhaus und Furth im Wald sieht die Bundesregierung auf der Grundlage des verabschiedeten Bundeshaushalts, und welche Chancen eröffnet er, den Beförderungsstau dort aufzulösen? Zur Anpassung an die allgemeine Verkehrsentwicklung ist der Personalbestand der in Bayern an der Grenze zur Tschechoslowakei gelegenen Zolldienststellen um insgesamt über 200 Beamte, die bisher an der innerdeutschen Grenze eingesetzt waren, erhöht worden. In Kürze werden den Zollämtern Waidhaus und Furth im Wald insgesamt mehr als 40 weitere Beamte auf Dauer zugeführt. Im Bundeshaushalt 1991 sind die notwendigen Personalverstärkungen an der deutsch-tschechoslowakischen Grenze berücksichtigt worden. Sie führen aber insgesamt nicht zu Stellenvermehrungen, weil gleichzeitig im Zusammenhang mit dem Wegfall von Aufgaben der Zollverwaltung an der ehemaligen innerdeutschen Grenze noch Stellenüberhänge abzubauen sind. Die Einführung der neuen Funktionsgruppe „Grenzzolldienst" eröffnet für die in diesem Bereich eingesetzten Beamten eine Vielzahl von Beförderungsmöglichkeiten. Zu den konkreten Beförderungsaussichten der Beschäftigten der Zollämter Waidhaus und Furth im Wald läßt sich jedoch keine Aussage machen, da die Beamten der Zollverwaltung — unabhängig von der Dienststelle, der sie angehören — bundeseinheitlich nach einer mit der Personalvertretung abgestimmten Reihenfolge befördert werden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2723* Anlage 36 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf die Fragen des Abgeordneten Dietmar Schütz (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 56 und 57): Steht die Bundesregierung jetzt nicht mehr zu ihrer mit den Regierungschefs der Länder getroffenen Übereinkunft vom 12. Dezember 1989 — die vor Ort durch den damaligen Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Jürgen W. Möllemann, bekräftigt wurde — Studentenwerken ehemalige Kasernen zu günstigen Konditionen zur Verfügung zu stellen? Wie soll im Kaufvertrag mit dem britischen Investor sichergestellt werden (z. B. durch Begrenzung der Höchstmiete etc.), daß der Investor — wie in der Presse angekündigt — dort 270 Studentenwohnungen bauen wird? Zu Frage 56: Die in dem Protokoll der Ministerpräsidentenkonferenz vom 21. Dezember 1989 enthaltene Forderung der Länder, der Bund solle geeignete bundeseigene Baugrundstücke „zu einem symbolischen Preis" zur Schaffung von Wohnraum für Studenten bereitstellen, ist im Rahmen der Besprechung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefs der Länder in die „gemeinsame Erklärung der Regierungschefs von Bund und Ländern zu grundsätzlichen Fragen der Bildungs- und Forschungspolitik" nicht aufgenommen worden. In der Ministerpräsidentenkonferenz am 21. Dezember 1989 ist deshalb keine Übereinkunft getroffen worden. Zu Frage 57: Es geht bei Ihrer Frage offenbar um die Pferdemarkt-Kaserne in Oldenburg. Der meistbietende Kaufinteressent, ein britischer Staatsangehöriger, beabsichtigt nach Angaben des ihn vertretenden Anwalts, die beiden unteren Stockwerke des Hauptgebäudes der Pferdemarkt-Kaserne einer gewerblichen Nutzung zuzuführen (beispielsweise Praxen für Ärzte und Anwälte) und in den beiden oberen Stockwerken Studentenwohnraum zu schaffen. In den Kaufvertrag sollen folgende Forderungen des Bundes aufgenommen werden: — Die Herrichtung zu Studentenwohnungen ist in spätestens 5 Jahren nach Eigentumsübertragung abgeschlossen. Die Nutzung als Studentenwohnungen wird für mindestens 10 Jahre nach Abschluß der Baumaßnahmen aufrechterhalten. — Der Mietzins beträgt höchstens 8, — DM/m2. Er ist für die Dauer von einem Jahr nach Erstvermietung unveränderlich. Nach diesem Zeitraum ist eine Steigerung im Verhältnis der Steigerung der Mietzinsen im öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau zulässig. — Der Bund hat sich im Kaufvertrag das Recht des Wiederkaufs für den Fall vorzubehalten, daß das Grundstück nicht vertragsgemäß verwendet wird. Zur Sicherung dieses Rechts ist eine Vormerkung für den Bund an dem Kaufgrundstück zu bestellen und an erster Rangstelle einzutragen. Im übrigen hat der Bund vom Kaufinteressenten gefordert, daß auch im Nebengebäude (rd. 660 m2) Studentenwohnungen einzurichten sind. Anlage 37 Antwort des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Frage des Abgeordneten Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) (Drucksache 12/766 Frage 66): Wie verhält sich die Bundesregierung zu Vorschlägen, Unternehmen, die bisher in der reinen Kohleförderung und -verwertung tätig sind, bei deren Bemühen zu fördern, wie andere Energiekonzerne auch neue Märkte in anderen Bereichen zu erschließen, und ist sie bereit, rechtliche und praktische Hindernisse, die dabei im Wege stehen, umgehend zu beseitigen? Die Unternehmen des deutschen Steinkohlenbergbaus unterscheiden sich von anderen Energiekonzernen u. a. dadurch, daß sie in hohem Maße von öffentlichen Hilfen abhängig sind. Von den heute im Prinzip nur noch drei selbständigen Bergbauunternehmen verfügt vor allem die Ruhrkohle AG bereits über einen umfangreichen Beteiligungsbereich. Dort erzielt sie rd. ein Drittel ihres Konzernumsatzes. Einer begrenzten und wirtschaftlich vernünftigen Ausweitung dieses Bereichs hat die Bundesregierung nichts in den Weg gelegt; die aus bürgschaftsrechtlichen Gründen erforderliche Zustimmung der öffentlichen Hand zum Erwerb von Beteiligungen ist in aller Regel erteilt worden. Eine Förderung der Bergbauunternehmen aus den Kohlehilfen zur Erschließung neuer Märkte, in denen sie im Wettbewerb mit anderen Unternehmen stehen, kann nicht in Betracht kommen. Die den Bergbauunternehmen gewährten Kohlehilfen sind zweckgebunden zur Erhaltung des politisch gewollten Versorgungsbeitrages der deutschen Steinkohle. Die Kohlehilfen können auch nur in dem Umfang gewährt werden, wie die Unternehmen alle eigenen Möglichkeiten der Finanzierung und zur Rationalisierung ausgeschöpft haben; Gewinne aus Beteiligungen sind grundsätzlich zur Verringerung der Kohlehilfen zu verwenden. Die bereits erfolgte Diversifizierung trägt auch zur Beschleunigung des Strukturwandels und zur Bewältigung des Personalüberhangs bei. Als Instrument zur Schaffung neuer Arbeitsplätze im Nichtmontanbereich stehen in den Bergbauregionen Hilfen aus der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur und anderen Förderprogrammen zur Verfügung. Anlage 38 Antwort des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen des Abgeordneten Gernot Erler (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 67 und 68) : 2724* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Von welchen Ländern sind der Bundesregierung gegenüber Klagen über Folgen der westlichen Sowjetunion-Hilfe für die eigenen Handelsbeziehungen mit der Sowjetunion geäußert worden? Welche Konzepte verfolgt die Bundesregierung, damit durch ihre Hilfen an die Sowjetunion keine negativen Folgen für die gewachsenen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen den osteuropäischen Ländern und der Sowjetunion entstehen können? Zu Frage 67: An die Bundesregierung sind bisher keine offziellen Klagen anderer Staaten über negative Auswirkungen der Hilfen für die UdSSR auf ihre Handelsbeziehungen mit der UdSSR herangetragen worden. Der Bundesregierung ist jedoch bekannt, daß sich Vertreter Polens, Ungarns und der CSFR bei verschiedenen Anlässen besorgt über Beeinträchtigungen ihrer Agrarausfuhren in die UdSSR durch die westlichen Nahrungsmittellieferungen zu Vorzugskonditionen äußerten. Die Befürchtungen dieser Staaten werden von der Bundesregierung ernst genommen. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu berücksichtigen, daß der Handel der ehemaligen RGW-Staaten seit dem 1. Januar 1991 auf der Basis konvertibler Währungen abgewikkelt wird. Diese Umstellung dürfte wegen der Devisenknappheit der UdSSR den Agrarhandel dieser Länder stärker tangiert haben als die Nahrungsmittellieferungen der westlichen Länder. Zu Frage 68: Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß mit den deutschen Wirtschafts- und Finanzhilfen an die UdSSR ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung der Volkswirtschaft dieses Landes geleistet wird. Die Stärkung der Wirtschaftskraft der UdSSR ist eine wesentliche Voraussetzung für die Aufrechterhaltung ihrer gewachsenen Handelsbeziehungen mit dem mittel- und osteuropäischen Staaten. Die Hilfen für die Sowjetunion kommen auf diese Weise mittelbar auch den anderen ehemaligen RGW-Staaten zugute. Die aus humanitären Motiven geleisteten Unterstützungen zur Erleichterung von akuten Versorgungsengpässen in der UdSSR bei Nahrungsmitteln im Winter 1990/1991, nämlich vor allem die Spende von Vorräten aus der Auflösung der Berlin-Reserve, hat traditionelle Einkäufe der UdSSR in anderen Ländern nach unserem Wissen nicht tangiert, denn die Sowjetunion war aufgrund ihrer Devisenschwäche nicht in der Lage, diese Engpässe durch zusätzliche Käufe am Weltmarkt zu überbrücken. Von den Sonderkonditionen bei der Hermes-Absicherung, die die Bundesregierung der UdSSR zur Erleichterung der Einkäufe in den fünf neuen Bundesländern für 1991 eingeräumt hat, gehen ebenfalls keine Effekte aus, die Handelsströme umlenken. Denn sie betreffen ein Volumen, das nur einen Teil der früheren langjährigen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Betrieben der ehemaligen DDR und sowjetischen Abnehmern abdeckt. Im übrigen ist die Bundesregierung bemüht, bei ihren Hilfen die mittel- und osteuropäischen Staaten und die Sowjetunion möglichst gleichgewichtig zu behandeln. Anlage 39 Antwort des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen des Abgeordneten Jürgen Türk (FDP) (Drucksache 12/766 Fragen 69 und 70): Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, z. B. für den Spreewald, im Rahmen von Pilotprojekten ein auch touristisch konzipiertes, umweltverträgliches, traditionsgebundenes und den Mittelstand förderndes, wirtschaftlich attraktives Leistungsangebot zu initiieren und sowohl finanziell als auch ideell zu unterstützen? Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, Anerkennungen von Kur- und Badeorten und die damit verbundenen Investitionen wie z. B. den Ausbau der Übernachtungskapazitäten und der Infrastruktur möglichst schnell umzusetzen, und in welchem Rahmen ist sie bereit, diese zu unterstützen? Zu Frage 69: Der Spreewald als einzigartige Niederungslandschaft in Mitteleuropa ist eine Region von besonderer touristischer Attraktivität. Dementsprechend groß ist das öffentliche Interesse. So gibt es bereits mehrere Studien mit konzeptionellen Vorstellungen für die Entwicklung dieser Region, u. a. von der Universität Trier. Über diese Unterstützung hinaus steht für konkrete Investitionsprojekte das differenzierte Förderinstrumentarium zur Verfügung, das im wesentlichen vom Land verwaltet wird. Die Bundesregierung geht davon aus, daß das Land sich bei den finanziellen Zusagen — insbesondere aus der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" — an diesen Entwicklungskonzepten orientiert. Die Konzepte berücksichtigen die in der Frage erwähnten Kriterien. Zu Frage 70: Die Situation im Kur- und Bäderbereich der neuen Länder ist noch schwierig, da die überwiegende Zahl der Erholungsorte, in denen sich Kureinrichtungen befanden, die ehrgeizigen Kriterien zur Kurortanerkennung im alten Bundesgebiet nicht erfüllen kann. Daher wird es notwendig sein, eine Auswahl von geeigneten Kurorten für die Anerkennung zu treffen, denen eine gewisse Schonzeit von mehreren Jahren zuzusichern ist und denen verstärkte Förderhilfen durch die Landesregierung zu geben sind. Zur Unterstützung des Kur- und Bäderbereiches prüft das Bundesministerium für Wirtschaft einen Untersuchungsauftrag zur Erstellung eines MarketingKonzepts unter besonderer Berücksichtigung der Situation der neuen Länder. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2725* Anlage 40 Antwort des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Frage des Abgeordneten Jürgen Koppelin (FDP) (Drucksache 12/766 Frage 71): Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, besondere kulturelle Wegstrecken wie z. B. die Sächsische Silberstraße überregional bekanntzumachen und für den Tourismus zu erschließen? Die Profilierung derartiger touristischer Straßen muß in erster Linie von den Bürgern und Verantwortlichen vor Ort mitgetragen werden. Eine enge Zusammenarbeit der beteiligten Gemeinden ist ebenfalls vorauszusetzen. Zur Unterstützung entsprechender Initiativen können die verschiedenen Möglichkeiten der wirtschaftlichen Förderung durch die Landesregierung eingesetzt werden. Eine überregionale, internationale Beachtung kann bei geeigneten Projekten durch die Deutsche Zentrale für Tourismus im Rahmen ihrer Tourismuswerbung erzielt werden. Anlage 41 Antwort des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen der Abgeordneten Dr. Sigrid Semper (FDP) (Drucksache 12/766 Fragen 72 und 73): Welche Maßnahmen sind bei der regionalen Wirtschaftsförderung im Rahmen des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung-Ost" zur Stärkung der Fremdenverkehrsbranche vorgesehen, und wie verteilen sich diese Maßnahmen auf die einzelnen Bundesländer? In welchem Umfang werden bei der Investitionsmittelvergabe die traditionellen gastronomischen Gepflogenheiten der Region berücksichtigt bzw. ein enger landsmannschaftlicher und kultureller Bezug sichergestellt? Zu Frage 72: Auch für das Sonderprogramm „regionale Wirtschaftsförderung" im Rahmen des Gemeinschaftswerks „Aufschwung-Ost" bleibt es den Ländern überlassen, regionale und sektorale Schwerpunkte der Förderung zu bestimmen. Die Aufteilung der insgesamt 2,4 Milliarden D-Mark auf die einzelnen Länder ergibt sich wie folgt: Brandenburg 360 Millionen D-Mark Mecklenburg-Vorpommern 300 Millionen D-Mark Sachsen-Anhalt 400 Millionen D-Mark Sachsen 720 Millionen D-Mark Thüringen 440 Millionen D-Mark Berlin-Ost 180 Millionen D-Mark. Zu Frage 73: Eine Bindung der Fördermittelvergabe an spezielle gastronomische Ausstattungsformen im Sinne einer staatlichen Vorgabe erfolgt nicht. Die Wahl des Leistungsprofils einer Gaststätte unterliegt der freien unternehmerischen Entscheidung und muß sich am Markt orientieren. Es wird allerdings häufig im Interesse des Investors liegen, sein Angebot in Anknüpfung an regionale Traditionen zu gestalten. Anlage 42 Antwort des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Frage der Abgeordneten Dr. Gisela Babel (FDP) (Drucksache 12/766 Frage 74): Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die vorhandenen Übersichten über die bereitgestellten Fördermittel den Anforderungen der Existenzgründer und Investoren gerecht werden, und welche Konsequenzen zieht sie aus vorgetragener Kritik wie z. B. im Rahmen der internen Anhörung der Fraktion der FDP „Fremdenverkehrstag Aufschwung-Ost"? Die Bundesregierung ist ständig bemüht, die vorhandenen Informationsmaterialien für Existenzgründer und potentielle Investoren zu verbessern. Ende Mai 1991 wurde eine neue Broschüre des Bundesministers für Wirtschaft aufgelegt mit dem Titel „Wirtschaftliche Förderung in den neuen Bundesländern" . Diese Broschüre gibt viele praktische Hinweise für potentielle Existenzgründer und Investoren. Naturgemäß gibt es im konkreten Einzelfall weitergehenden Beratungsbedarf, der seit 7. Juni 1991 u. a. auch durch die Benutzung des Bürgertelefons gedeckt werden kann, das bei der Außenstelle des Bundesministeriums für Wirtschaft eingerichtet wurde. In Regionalkonferenzen und Fachveranstaltungen vor Ort bemüht sich das Bundesministerium für Wirtschaft, zusätzliche Beratung weiterzugeben. In zunehmendem Maße sind auch die Wirtschaftsministerien der Länder, die Industrie- und Handelskammern und zahlreiche Fachverbände inzwischen in der Lage, Beratung vor Ort und im konkreten Einzelfall zu erteilen. Die Bundesregierung bleibt weiter bemüht, das vorhandene Informationsangebot zu verbessern. Anlage 43 Antwort des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen des Abgeordneten Josef Grünbeck (FDP) (Drucksache 12/766 Fragen 75 und 76): Welche Maßnahmen sind bei der beschleunigten Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur im Rahmen des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung-Ost" für einen umweltfreundlichen Tourismus vorgesehen, und auf welcher Höhe belaufen sich die Investitionen, bezogen auf jedes einzelne neue Bundesland? Wie beurteilt die Bundesregierung die Auswirkungen der extrem günstigen Wechselkurse und damit verbundenen Kaufkraftvorteile für West-Touristen bei Reisen in die benachbarten osteuropäischen Länder für den deutschen Tourismus, insbesondere in den neuen Bundesländern? Zu Frage 75: Welche Maßnahmen von den insgesamt vom Bund bereitgestellten 5,6 Milliarden DM im einzelnen finanziert werden, hängt im wesentlichen von den Länderverwaltungen ab. Die Maßnahmen dienen der Verbesserung der Mobilität und kommen damit generell dem Tourismus zugute. Soweit die Investitionen einem flüssigeren Verkehrsablauf oder einer Entlastung von Ortsdurchfahrten dienen, kann davon ausgegangen werden, daß sie besonders positive Umwelteffekte haben werden. 2726* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Von den für die Bundesfernstraßen vorgesehenen 400 Millionen DM in 1991 entfallen auf die Länder folgende Beträge: Brandenburg 116,8 Millionen DM Mecklenburg-Vorpommern 52,8 Millionen DM Sachsen 100,8 Millionen DM Sachsen-Anhalt 64,0 Millionen DM Thüringen 61,2 Millionen DM Berlin-Ost 4,4 Millionen DM. Die entsprechende Aufteilung im kommunalen Straßenbau: Brandenburg 93,0 Millionen DM Mecklenburg-Vorpommern 66,0 Millionen DM Sachsen 163,2 Millionen DM Sachsen-Anhalt 90,6 Millionen DM Thüringen 80,4 Millionen DM Berlin-Ost 106,8 Millionen DM. Die Länderaufteilung im Bereich öffentlicher Personennahverkehr wird zur Zeit mit den Ländern beraten. Die für Investitionsvorhaben der deutschen Reichsbahn vorgesehenen Mittel werden sich erst nach Durchführung der Maßnahmen aufgliedern lassen. Zu Frage 76: Seitdem die Bürger der neuen Länder über eine harte Währung verfügen, sind Reisen in die osteuropäischen Nachbarländer attraktiver geworden. Eng begrenzte Aufnahmekapazitäten lassen allerdings keine quantitativ bedeutsamen touristischen Bewegungen — abgesehen von Tagesausflügen — erwarten. Für die Bürger der alten Bundesländer, bei denen das Interesse an Osteuropa tendenziell zunimmt, dürfte das Preisniveau nur eines unter mehreren Motiven für die Reisezielwahl sein. Anlage 44 Antwort des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Olaf Feldmann (FDP) (Drucksache 12/766 Fragen 77 und 78): In welcher Weise ist die Bundesregierung aktiv an Bemühungen beteiligt, den Aufbau einer touristischen Infrastruktur in den neuen Bundesländern zwischen den einzelnen Landesregierungen zu koordinieren, und inwieweit wird dabei der Erstellung flächendeckender Landschaftspläne sowie länderübergreifender Tourismusentwicklungspläne Rechnung getragen? Mit welchen Maßnahmen unterstützt die Bundesregierung die Regierungen der neuen Länder beim Aufbau von Fremdenverkehrsreferaten sowie bei der Erstellung touristischer Entwicklungspläne? Zu Frage 77: Die Bemühungen der Bundesregierung sind zunächst darauf gerichtet, den einzelnen Regionen und Ländern beim Aufbau einer touristischen Infrastruktur Hilfe zu leitsen. Als Beitrag zur Erstellung regionaler Landschaftspläne dient das Förderinstrumtent „Projektteams zur Beratung von ausgewählten Regionen in den neuen Bundesländern beim Aufbau wirtschaftsnaher Infrastruktur" . Abgesehen von dem Bereich der Verkehrsinfrastruktur konzentrieren sich die Planungen der Länder beim touristischen Angebot auf die örtliche und regionale Ebene. Bei diesen kleinräumigeren Planungen tritt in der Regel noch kein weitergehender Koordinierungsbedarf auf. Dringlich erscheint aus touristischer Sicht eine entsprechende Abstimmung zwischen den Ländern Berlin und Brandenburg. Zu Frage 78: Das Bundeswirtschaftsministerium bemüht sich, auch durch seine Außenstelle in Berlin, mit ideeller Unterstützung, insbesondere durch laufenden Erfahrungsaustausch und Know-how-Transfer, den neuen Ländern beim Aufbau von Tourismusreferaten behilflich zu sein. Landesweite oder länderübergreifende Entwicklungspläne könnten eine wichtige Hilfe für einen rascheren Aus- und Aufbau des touristischen Angebotes darstellen; Fördermittel des Bundes stehen hierfür im Haushalt 1991 nicht zur Verfügung. Anlage 45 Antwort des Parl. Staatssekretärs Gottfried Haschke auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Gerald Thalheim (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 81 und 82): Trifft es zu, daß auch nach Herstellung der deutschen Einigung der Kartoffeltransport (sowohl der Speisekartoffeln als auch der weiterverarbeiteten Produkte) nach Berlin staatlich gefördert wird, und wenn ja, in welcher Höhe bzw. auf welchen Berechnungsgrundlagen erfolgen die Bezuschussungen? Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, daß eine Transportbegünstigung der Kartoffellieferungen aus den alten Bundesländern nach Berlin zu Wettbewerbsbenachteiligungen der Kartoffelwirtschaft in den neuen Bundesländern führt, vor allem, wenn man die ohnehin bestehenden Absatzschwierigkeiten der neuen Bundesländer berücksichtigt? Zu Frage 81: Eine Transportförderung von Kartoffeln und Kartoffelerzeugnissen nach Berlin findet aus Bundesmitteln nicht statt. Zu Frage 82: Die Bundesregierung teilt die Einschätzung, daß einseitige Förderungen für derartige Transporte aus den alten Bundesländern nach Berlin zu Wettbewerbsnachteilen für Kartoffeln und Kartoffelerzeugnisse aus den neuen Bundesländern führen würden. Da Transportvergünstigungen nicht gewährt werden, entstehen auch keine Wettbewerbsnachteile für derartige Waren aus den neuen Bundesländern. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2727 Anlage 46 Antwort des Parl. Staatssekretärs Gottfried Haschke auf die Fragen des Abgeordneten Harald B. Schäfer (Offenbach) (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 83 und 84). Treffen Pressemeldungen zu, wonach im Raum Kehl 18 Schafe mit bis zu 30fach erhöhten PCB-Werten verendet sind? Besteht nach Auffassung der Bundesregierung ein Zusammenhang zwischen dem Schafsterben und der PCB-Belastung, und sind der Bundesregierung ähnliche Fälle von Tiersterben bekannt? Zu Frage 83: Pressemeldungen, wonach im Raum Kehl 18 Schafe mit dem Nachweis erhöhter PCB-Werte verendet sind bzw. getötet wurden, treffen zu. Untersuchungen einer Anzahl von gestorbenen bzw. getöteten Tieren haben bei einem Tier einen 30fach erhöhten PCB-Wert ergeben. Bei den übrigen Tieren wurden Werte ermittelt, die über denen liegen, die in der Schadstoffhöchstmengenverordnung festgelegt sind. Zu Frage 84: Nach Auffassung der Bundesregierung kann eine gesundheitliche Beeinträchtigung der Schafe vermutet werden; es gibt allerdings keine gesicherten Erkenntnisse über einen alleinigen Zusammenhang zwischen der Erkrankung der Tiere und der PCB-Belastung. Ähnliche Fälle von Tiersterben sind der Bundesregierung nicht bekannt. Anlage 47 Antwort des Parl. Staatssekretärs Gottfried Haschke auf die Fragen der Abgeordneten Marion Caspers-Merk (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 85 und 86): Kann die Bundesregierung bestätigen, daß die beim Kehler Schafsterben verendeten Tiere in der Abluftzone der Straßburger Giftmüllverbrennungsanlage TREDI, der Straßburger Klärschlammverbrennungsanlage und der Badischen Stahlwerke geweidet haben, und sieht die Bundesregierung einen möglichen Zusammenhang zwischen diesem Umstand und der Ursache des Schafsterbens? Wird sich die Bundesregierung daran beteiligen, den möglichen Ursachenzusammenhang zwischen der PCB-Anreicherung in Tieren und der Abluft von Emittenten zu klären, und sich auf internationaler Ebene dafür einsetzen, die PCB-Werte zu senken? Die Bundesregierung kann — nach Rückfrage bei dem Minister für Ländlichen Raum, Ernährung, Landwirtschaft und Forsten des Landes Baden-Württemberg — bestätigen, daß die betroffene Schafherde im Einwirkungsbereich der Straßburger Müllverbrennungsanlage und der Badischen Stahlwerke weidete. Bisher untersuchte Aufwuchs- und Bodenproben der Schafkoppel erbrachten keine erhöhten PCB-Werte. Gleichwohl wird in Baden-Württemberg intensiv an der Ursachenermittlung gearbeitet. Die Tatsache, daß Aufwuchs- und Bodenproben keine erhöhten PCB-Werte, das Fleisch der erkrankten Schafe jedoch überhöhte PCB-Werte aufwies, läßt nach Auffassung der Bundesregierung den Schluß zu, daß in diesem Fall nicht die Abluft der genannten Anlagen, sondern andere PCB-Quellen eine Rolle spielen müssen. Anlage 48 Antwort des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen der Abgeordneten Ursula Schmidt (Aachen) (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 87 und 88) : Trifft es zu, daß der Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte und ehemalige Diktator Chiles, General Augusto Pinochet, am 23. Mai 1991 zwei Stunden den VIP-Service im Frankfurter Flughafen auf Kosten des Bundesministers der Verteidigung genoß? Wenn ja, welche Begründung führt die Bundesregierung für diese zuvorkommende Behandlung eines Gewaltherrschers an — vor allem im Hinblick darauf, daß andere demokratische Staaten Europas Pinochet die Einreise verweigert haben? Zu Frage 87: 1. Am 23. Mai 1991 wurde das Protokoll BMVg vom Auswärtigen Amt, Protokoll, sehr kurzfristig, telefonisch darum ersucht, General Pinochet und dessen Begleitung während eines gut zweistündigen Transitaufenthaltes in Frankfurt/Main protokollarisch wahrzunehmen. Ankunft: 20.15 Uhr aus Lissabon kommend Weiterflug: 22.35 Uhr nach Santiago de Chile. Vom Protokoll BMVg wurden telefonisch folgende Maßnahmen getroffen: Reservierung und Bezahlung des VIP-Raumes über die Fluggastsonderbetreuung. Auftrag an Chef des Stabes WBK IV, Mainz, den General P. auf dem Flughafen wahrzunehmen. Am 24. Mai 1991 meldete Chef des Stabes WBK IV die Durchführung. Die o. g. Maßnahmen entsprechen dem üblichen Verfahren, wenn auf Bitten des Auswärtigen Amtes oder der jeweiligen Botschaft um protokollarische Wahrnehmung wegen des Aufenthaltes bzw. Transits eines hohen ausländischen Militärs oder Verteidigungsministers das Protokoll im BMVg tätig wird. 2. Mit Schreiben vom 14. Juni 1991 hat der stellvertretende Chef des Protokolls des Auswärtigen Amtes BMVg überraschend wissen lassen, daß das BMVg im Falle des Generals Pinochet nicht auf Ersuchen oder Bitte des Auswärtigen Amtes oder in Amtshilfe gehandelt habe. Zu Frage 88: Erst nach dem 23. Mai 1991 wurde dem Bundesministerium der Verteidigung bekannt, daß General Pinochet bereits am 10. Mai 1991 auf Veranlassung des Auswärtigen Amtes durch den Bundesminister des Innern mit der Maßnahme 3 (ZURÜCKWEISUNG) ausgeschrieben worden war. Unter diesen Umständen hätte sich — nach Ansicht BMVg — eine protokollarische Wahrnehmung verboten, auch wenn, wie geschehen, General Pinochet sich ausschließlich im Transitbereich des Flughafens auf- 2728* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 hielt und somit nicht in das Bundesgebiet eingereist ist. Anlage 49 Antwort des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Frage des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) (Drucksache 12/766 Frage 89) : Wie stellt sich die Bundesregierung die weitere Entwicklung der Universitäten der Bundeswehr unter den Bedingungen der neuen Struktur der Bundeswehr vor? Die bisherigen Überlegungen zur zukünftigen Struktur basieren auf den Zahlen des Personalstrukturmodells 370. Danach wird für längerdienende Offiziere ein Bedarf ausgewiesen, der die Nutzung der vollen Kapazität der Universitäten der Bundeswehr auch in Zukunft notwendig macht. Da das in die Ausbildung zum Offizier integrierte Studium an den Universitäten der Bundeswehr mehr denn je ausschlaggebender Faktor für die Berufswahl der Offiziersbewerber ist, wird angestrebt, das Studienangebot in vollem Umfang zu erhalten. Einschnitte in quantitativer und qualitativer Hinsicht sollen vermieden werden. Zukünftige Änderungen des Personalstrukturmodells 370 müßten zu einer Neubewertung der weiteren Entwicklung der Universitäten der Bundeswehr führen. Anlage 50 Antwort des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Hartmut Soell (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 90 und 91) : Wie viele Atomsprengköpfe der nuklearen Artillerie, nuklearer Kurzstreckenraketen bzw. luftgestützter Systeme lagern zur Zeit in der Bundesrepublik Deutschland? Welche Systeme, die für einen Einsatz als nukleare Abstandswaffen in Europa im Rahmen der NATO geeignet sind, werden zur Zeit in den USA entwickelt, und wieweit ist diese Entwicklung fortgeschritten? Zu Frage 90: Die Bundesregierung vertritt unverändert die Position, daß Angaben über Art, Umfang und Lagerung des nuklearen Potentials der NATO der Geheimhaltung unterliegen und nicht öffentlich bekanntgemacht werden. Über die Anzahl der Nuklearwaffen, die die sowjetischen Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland lagern, liegen der Bundesregierung keine Informationen vor. Zu Frage 91: Die Bundesregierung nimmt zu nationalen Planungen und Entwicklungen bezüglich neuer Waffensysteme von Bündnispartnern nicht Stellung. Anlage 51 Antwort des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen des Abgeordneten Walter Kolbow (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 92 und 93): Existieren Planungen der NATO oder der USA, den Nuklearwaffenbestand in der Bundesrepublik Deutschland unabhängig von amerikanisch-sowjetischen SNF(Short Nuclear Forces)-Verhandlungen zu verändern? Sollen die landgestützten Nuklearwaffenbestände in der Bundesrepublik Deutschland auch unabhängig von amerikanischsowjetischen SNF-Verhandlungen verringert oder beseitigt werden? Zu Frage 92: In ihrer Londoner Erklärung haben die Staats- und Regierungschefs ausgeführt: „Neue Verhandlungen über die Reduzierung nuklearer Mittel kürzerer Reichweite zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion sollten kurz nach Unterzeichnung eines KSE-Abkommens beginnen. Die betroffenen Bündnispartner werden einen Rahmen für diese Rüstungskontrollverhandlungen entwickeln, der ihren Bedarf an weit weniger Nuklearwaffen sowie das verringerte Erfordernis für substrategische Nuklearsysteme kürzester Reichweite berücksichtigt." „... Sie haben konkret beschlossen, daß das Bündnis gleich nach Beginn von Verhandlungen über nukleare Mittel kürzerer Reichweite vorschlagen wird, alle seine nuklearen Artilleriegeschosse in Europa im Gegenzug zu einem gleichartigen Vorgehen der Sowjetunion zu beseitigen. " — Im Bündnis finden zur Unterstützung dieser Absichten zur Zeit Beratungen zur Vorbereitung von Verhandlungspositionen für die Rüstungskontrollverhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion statt. Diese sind noch nicht abgeschlossen. — Davon unabhängige Planungen oder Absichten bestehen nach Kenntnis der Bundesregierung nicht. Anlage 52 Antwort des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen der Abgeordneten Uta Zapf (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 94 und 95): Hält es die Bundesregierung für erforderlich, daß die NATO über nukleare Abstandswaffen verfügt? Hält es die Bundesregierung für erforderlich, nukleare Abstandswaffen in der Bundesrepublik Deutschland zu stationieren? Die Staats- und Regierungschefs der NATO — wie auch die Verteidigungsminister haben erklärt: „Zur Wahrung des Friedens muß das Bündnis für die vorhersehbare Zukunft eine geeignete Zusammensetzung nuklearer und konventioneller Streitkräfte beibehalten, die in Europa stationiert sind und auf dem gebotenen Stand gehalten werden, wo dies erforderlich ist." Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2729* Entscheidungen zur Umsetzung sind nicht getroffen. Anlage 53 Antwort des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen des Abgeordneten Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 96 und 97): Wann sollen nach den Planungen der NATO nukleare Abstandswaffen in der Bundesrepublik Deutschland stationiert werden, bzw. wann soll über eine mögliche Stationierung solcher nuklearen Abstandswaffen in der Bundesrepublik Deutschland entschieden werden? Wie weit ist innerhalb der NATO der Planungsprozeß bezüglich der Stationierung nuklearer Abstandswaffen in Europa fortgeschritten? Zu Frage 96: Entscheidungen über evtl. Stationierungen nuklearer Abstandswaffen stehen nicht an. Zu Frage 97: Es gibt keinen Planungsprozeß bezüglich einer Stationierung nuklearer Abstandswaffen innerhalb der NATO. Anlage 54 Antwort des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Frage des Abgeordneten Dr. Hermann Scheer (SPD) (Drucksache 12/766 Frage 98): Bedarf die auf der jüngsten Tagung der NATO-Verteidigungsminister beschlossene „Rapid Reaction Force" einer nuklearen Abdeckung, und wenn ja, mit welchen Mitteln soll diese gewährleistet werden? Nuklearwaffen haben auch künftig eine wesentliche Rolle in der Gesamtstrategie des Bündnisses zur Kriegsverhütung. Sie stellen sicher, daß nie eine Lage entsteht, in der nicht mit nuklearer Vergeltung als Reaktion auf militärisches Vorgehen gerechnet werden müßte. Als politische Waffen der Kriegsverhütung sind Nuklearwaffen nicht isoliert ausgerichtet auf bestimmte Einsatzoptionen oder zur Unterstützung einzelner Großverbände. Die Zusammensetzung der „Rapid Reaction Force" sieht von daher auch keine nuklearen Anteile vor. Anlage 55 Antwort des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen des Abgeordneten Hans Wallow (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 99 und 100) : Hält die Bundesregierung die Sowjetunion jetzt oder in absehbarer Zeit für fähig und willens, einen Überraschungsschlag gegen die Bundesrepublik Deutschland oder den Westen zu führen? Gibt es oder gab es mit der Sowjetunion Gespräche darüber, die Tiefflugübungen simultan einzustellen? Zu Frage 99: Die Sowjetunion ist eine nukleare Supermacht, weltweit stärkste konventionelle Landmacht und zweitstärkste Seemacht sowie zweitstärkste Weltraummacht. Sie ist aufgrund der geostrategischen Nähe für die Sicherheit Deutschlands weiterhin von maßgeblicher Bedeutung. Es gibt derzeit keinen Hinweis auf feindliche Absichten in der sowjetischen Politik. Ein „Überraschungsschlag" mit nuklearen Mitteln wäre grundsätzlich führbar. Er wird als jetzige oder künftige Absicht der Sowjetunion nicht angenommen. Zu Frage 100: Die Bundesregierung erklärt, daß Gespräche mit der Sowjetunion mit dem Ziel, „die Tiefflugübungen simultan einzustellen", weder geführt wurden noch geführt werden. Es ist auch nicht beabsichtigt, mit der Sowjetunion Gespräche über dieses Thema aufzunehmen. Anlage 56 Antwort des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen des Abgeordneten Albrecht Müller (Pleisweiler) (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 101 und 102): Was sind die Gründe dafür, daß über weiten Teilen der Pfalz in den letzten zehn Tagen in unerträglichem Maß und bis in die Nacht hinein wieder militärischer Tiefflug geübt wird — übrigens auch über der Stadt Ludwigshafen, wie Augenzeugen berichten? Gibt es Anzeichen dafür, daß eine Bedrohungssituation vorliegt, die die Tiefflugvorbereitung auf einen Überraschungsschlag des Ostens und für ein tiefes Eindringen in den Raum des (nicht mehr vorhandenen) Warschauer Pakts nötig macht? Zu Frage 101: Die Bundesregierung erklärt, daß der angesprochene Flugbetrieb „über weiten Teilen der Pfalz in den letzten Tagen", was die 24. Kalenderwoche anbetrifft, mit der NATO-Luftwaffenübung „Central Enterprise" in Zusammenhang stand. Diese jährlich stattfindende Übung dient insbesondere dazu, die Zusammenarbeit der NATO-Luftstreitkräfte in Mitteleuropa bei taktischen Luftoperationen zu überprüfen und zu erproben. Das Übungsgebiet umfaßte den Luftraum über den Benelux-Staaten, Dänemark sowie der Bundesrepublik Deutschland mit Ausnahme der neuen Bundesländer. Insgesamt gesehen, verursachte die Übung „Central Enterprise" kein zusätzliches Flugaufkommen. Die seit dem 17. 9. 1990 grundsätzlich bestehende Tiefflugmindesthöhe vom 1 000 Fuß (300 m) wurde beibehalten. 2730* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Für die 23. Kalenderwoche liegen keine Hinweise auf Verdichtungen des Flugbetriebs in der Pfalz vor. Auch auf Tiefflugübungen über der Stadt Ludwigshafen liegen keine Anhaltspunkte vor. Das aus der Luft erkennbar zum Stadtkern gehörende Siedlungsgebiet von Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern darf nicht unterhalb von 2 000 Fuß (ca. 600 m) überflogen werden. Zu Frage 102: Es gibt keine Anzeichen dafür, daß eine Bedrohungssituation vorliegt, die auf einen möglichen Überraschungsschlag „des Ostens" hindeutet. Bezüglich der Tiefflugübungen weist die Bundesregierung allerdings darauf hin, daß Streitkräfte auch weiterhin ihren Auftrag nur dann erfüllen können, wenn sie bereits im Frieden die hierfür erforderliche Ausbildung erhalten. Für die Luftstreitkräfte bedeutet dies, daß den fliegenden Besatzungen angemessene Übungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden müssen, ohne die die Befähigung zum auftragsgemäßen und sicheren Führen eines Luftfahrzeuges nicht erhalten werden kann. Anlage 57 Antwort des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen der Abgeordneten Lydia Westrich (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 103 und 104): Welchen Anteil haben die Alliierten zur Zeit an den Tiefflugübungen über der Pfalz und über der Bundesrepublik Deutschland insgesamt? Wie begründen die Alliierten gegenüber der Bundesregierung die Fortsetzung ihrer Tiefflugübungen, und wie kontrolliert die Bundesrepublik Deutschland die Einhaltung der 300 mGrenze? Zu Frage 103: Der Anteil der Alliierten am Tiefflug beträgt ca. 65 % des Gesamtumfanges. Statistiken über die Tiefflugbelastung einzelner Bundesländer werden nicht geführt. Zu Frage 104: Gemäß Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut § 46 Abs. 1 haben die Alliierten das Recht, im Luftraum der Bundesrepublik Deutschland zu fliegen. Die Untergrenze von 300 m wird von ihnen beachtet. Der Führungsstab der Luftwaffe setzt SKYGUARD- Geräte ein, um die Einhaltung der Tiefflugmindesthöhe zu überwachen. Anlage 58 Antwort des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Frage des Abgeordneten Norbert Gansel (SPD) (Drucksache 12/766 Frage 105): Warum hat die Bundesregierung einer Feststellung im Gemeinsamen Kommuniqué des Verteidigungsplanungsausschusses und der nuklearen Planungsgruppe der NATO vom 28./29. Mai 1991 zugestimmt, nach der „die endgültige Vernichtung der im INF-Vertrag erfaßten amerikanischen und sowjetischen Flugkörper nunmehr vollzogen wurde", obwohl 24 vom INF-Vertrag erfaßte SS 23-Flugkörper sowjetischer Herkunft seit dem Tage der deutschen Einheit der Verfügungsgewalt der Bundesregierung unterliegen und bis heute nicht vernichtet worden sind? Die Bundesregierung hat diesem Kommuniqué zugestimmt, weil die darin getroffene Aussage den Tatsachen entspricht. Die Bundesregierung stützt sich dabei wie alle anderen Verbündeten auf Erklärungen der beiden INF-Vertragsstaaten, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten, daß die Vernichtung der vom INF-Vertrag erfaßten Systeme beider Staaten wie im Vertrag vorgesehen abgeschlossen ist. Die Eliminierung dieser Systeme ist in beiderseitigen Inspektionen überprüft und nachgewiesen worden. Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht Vertragspartner des INF-Vertrages. Aus diesem Vertrag ist daher für die Bundesrepublik Deutschland keine Verpflichtung zur Vernichtung der von der ehemaligen NVA übernommenen SS-23-Flugkörper abzuleiten. Gleichwohl hat die Bundesregierung alle Vorbereitungen getroffen, um diese Systeme so bald wie möglich zu vernichten. Anlage 59 Antwort der Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk auf die Fragen der Abgeordneten Dr. Helga Otto (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 106 und 107): Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die finanzielle Lage der Träger der Freien Wohlfahrtsverbände in den neuen Bundesländern zu verbessern — besonders auch unter dem Blickwinkel der Notwendigkeit, sie in die Lage zu versetzen, die Kindergärten und Kinderkrippen zu erhalten — und die katastrophale Situation in diesen Einrichtungen in den neuen Bundesländern zu verbessern? Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, die Bank für Sozialwirtschaft mit finanziellen Mitteln auszustatten, so daß sie in die Lage versetzt wird, den freien Wohlfahrtsverbänden der neuen Bundesländer Kredite zu gewähren? Zu Frage 106: Die Freie Wohlfahrtspflege ist ein unverzichtbarer Faktor des modernen Sozialstaates. Dies ist auch im Einigungsvertrag gewürdigt worden. In den alten Ländern, verfügt die Freie Wohlfahrtspflege in mehr als 64 000 Einrichtungen über ca. 2,5 Mio Betten und Plätze und beschäftigt rd. 750 000 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege bewußt. Daher wurde der Titel für die zentralen und internationalen Aufgaben einschließlich der Fortbildung in 1991 auf 68 Mio DM von 30 Mio DM in 1990 erhöht. Der größte Teil der zusätzlichen Summe soll für den Aufbau der Freien Wohlfahrtspflege in den neuen Bundesländern eingesetzt werden, damit die einzelnen sozialen Einrichtungen auch ein Wirkungsoptimum erreichen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2731* Für diese Einrichtungen ist grundsätzlich eine Länderzuständigkeit gegeben. Angesichts der Situation der Länderverwaltungen und der Finanzsituation sind eine Reihe von Programmen und Instrumente entwikkelt worden, um die Freien Träger zu unterstützen. Im Rahmen des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung-Ost" ist eine kommunale Investitionspauschale in Höhe von 5 Mrd DM vorgesehen. Aus dieser Investitionspauschale können auch Freie Träger Mittel erhalten. Die Bundesregierung hat bereits 1990 im Rahmen des Soforthilfe-Programms für die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege 20 Mio DM zum Aufbau ambulanter Dienste in den neuen Bundesländern zur Verfügung gestellt. Das Soforthilfe-Programm für besondere Maßnahmen zugunsten von Familien und älteren Menschen in den neuen Bundesländern wird 1991 mit 50 Mio DM fortgesetzt. Zur Zeit werden Gespräche mit den Spitzenverbänden über den weiteren Aufbau ambulanter Dienste geführt. Darüber hinaus sollen die Mittel des Soforthilfe-Programms auch für Maßnahmen in stationären Einrichtungen, die sich in der Trägerschaft der Verbände befinden, eingesetzt werden. Nach Art. 31 Abs. 3 des Einigungsvertrages beteiligt sich der Bund bis zum 30. Juni 1991 an den Kosten für die Tageseinrichtungen für die Kinder, um ihre Weiterführung zu gewährleisten. An diesen Mitteln partizipieren gleichberechtigt die Tageseinrichtungen in freier Trägerschaft. Aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost können für freie Träger von Tageseinrichtungen Mittel aus der Investitionspauschale von 5 Mrd DM und aus dem ABM-Programm eingesetzt werden. Den Kirchen werden im Jahre 1991 70 Mio DM für die Förderung von kirchlichen und caritativen Hilfsmaßnahmen aus Bundesmitteln zur Verfügung gestellt. Schließlich ist auf Mittel zu verweisen, die freie Träger von Tageseinrichtungen von Ländern und Kommunen erhalten. Zu Frage 107: Die Bundesregierung stockt in den nächsten vier Jahren den Revolvingfonds um insgesamt 100 Mio DM auf, die vollständig für Einrichtungen in den neuen Ländern zur Verfügung stehen. Anlage 60 Antwort der Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk auf die Fragen des Abgeordneten Adolf Ostertag (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 108 und 109) : Wann gedenkt die Bundesregierung hinsichtlich der immer drängender werdenden Problematik der Anrechnung der häuslichen Pflegehilfe der Krankenkassen auf das Pflegegeld nach § 69 BSHG endlich im Rahmen einer Gesetzesänderung Rechtsklarheit zu schaffen mit dem Ziel, daß die Träger der Sozialhilfe im Interesse der Betroffenen, die dringend auf die ihnen zustehende gesetzliche Hilfe angewiesen sind, bundeseinheitlich verfahren können, und wie bewertet sie die derzeitige Anrechnungspraxis unter dem Gesichtspunkt, daß die neue Pflegehilfe nach dem SGB V §§ 53 his 57 von ihr selbst immer als ergänzend gekennzeichnet wurde, was sich auch im Text des § 55 SGB V niederschlägt? Über welche Informationen verfügt die Bundesregierung bezüglich der Anzahl der Klageverfahren hinsichtlich der Anrechnung des Krankenkassen-Pflegegeldes auf das Pflegegeld nach dem Bundessozialhilfegesetz, getrennt nach Bundesländern? Zu Frage 108: Maßgebend für die Anrechnung der Geldleistung nach § 57 Abs. 1 SGB V auf das Pflegegeld in der Sozialhilfe ist § 69 Abs. 3 Satz 3 BSHG. Nach dieser Bestimmung wird ein Pflegegeld nicht gewährt, soweit der Pflegebedürftige gleichartige Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften erhält. Auf diese Regelung ist in der Begründung zum GesundheitsReformgesetz hingewiesen worden (BT-Drucks. 11/2237, Art. 40 — Bundessozialhilfegesetz, zu Nr. 4, S. 267). Die Sozialämter verfahren zur Zeit unterschiedlich und rechnen die Geldleistung von 400 DM ganz oder nur zum Teil auf das Pflegegeld in der Sozialhilfe an. Um diese für die Betroffenen außerordentlich unbefriedigende Anrechnungspraxis möglichst bald zu beenden und um die auf die Förderung der häuslichen Pflegebereitschaft ausgerichtete Zielrichtung der gesetzlichen Pflegeleistungen für den häuslichen Bereich zu unterstützen, habe ich den Sozialressorts in den Bundesländern, den beteiligten Bundesministerien sowie den Kommunalen Spitzenverbänden mit Schreiben vom 6. Mai 1991 eine Gesetzesänderung vorgeschlagen. Sie sieht die Nichtanrechnung der Hälfte der Geldleistung nach § 57 SGB V auf das Pflegegeld in der Sozialhilfe vor. Die hierzu erbetenen Stellungnahmen stehen noch aus. Zu Frage 109: Das Bundesministerium für Familie und Senioren hat die Sozialressorts der Länder und die Kommunalen Spitzenverbände mit Schreiben vom 6. Mai 1991 auch gebeten, die ihnen bekannten gerichtlichen Entscheidungen mitzuteilen. Eine Übersicht über die Anzahl der Klageverfahren ließe sich nur mit einer gezielten Umfrage bei den Sozialressorts der Länder erreichen, die ihrerseits alle Sozialämter befragen müßten. Ich gehe aber davon aus, daß in den süd- und ostdeutschen Bundesländern, in denen man weitgehend den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge folgt und die Geldleistung der Krankenkassen nur zur Hälfte auf das Pflegegeld in der Sozialhilfe anrechnet, kaum Klagen anhängig sind. Anlage 61 Antwort der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl auf die Fragen der Abgeordneten Antje-Marie Steen (SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 110 und 111): Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, ob, vor allem durch den grenzüberschreitenden Verkehr, die AIDS-Erkrankungen und der Drogenkonsum in Großstädten wie Frankfurt/ Oder, Leipzig, Berlin, Rostock oder Dresden zugenommen haben? 2732* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 Was unternimmt die Bundesregierung über die üblichen finanziellen Hilfen hinaus, um den betroffenen Ländern in der Arbeit von Prävention und Aufklärung zu helfen und durch besondere Maßnahmen zu unterstützen? Zu Frage 110: Zum 31. Mai 1991 lagen dem AIDS-Zentrum Meldungen über 31 AIDS-Erkrankungen und 167 HIV-Infektionen in den neuen Bundesländern einschließlich Berlin (Ost) vor. Ein überproportionaler Anstieg von AIDS-Fällen ist aufgrund der langen Inkubationszeit in der kurzen Beobachtungszeit nicht zu erwarten. Es liegen außerdem keine Anzeichen für eine erhebliche Zunahme von HIV-Infektionen in den neuen Bundesländern vor. Die nachgewiesenen HIV-Infektionen entsprechen dem Muster in den alten Bundesländern, d. h. es sind hauptsächlich Homosexuelle betroffen. Bezüglich weiterer Einzelheiten wird auf die Presseerklärung des BMG Nr. 39 vom 12. Juni 1991 verwiesen. Verläßliche Daten über eine Zunahme von Drogenkonsum bzw. eine Etablierung entsprechender Szenen von iv. Drogenabhängigen in den neuen Bundesländern liegen bisher nicht vor. Zu Frage 111: Bereits 1990 wurden die damalige DDR und später die neuen Bundesländer in die Verteilung von Print- und audiovisuellen Medien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung einbezogen. Der Umfang dieser Verteilung hat stetig zugenommen. Vertreter der neuen Länder arbeiten seit Mai dieses Jahres im Bund-Länder-Gremium zur Koordinierung der AIDS- Aufklärung mit. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung führt im 1. Halbjahr 1991 im Rahmen der personalen Kommunikation etwa 30 % ihrer Aktivitäten in den neuen Bundesländern durch. Eine Ausweitung auf 50 % und ggf. 60 % ist beabsichtigt. Ebenfalls personalkommunikativen Charakter hat ein Projektantrag der Bundesvereinigung für Gesundheitserziehung e. V., der gegenwärtig mit positiver Tendenz geprüft wird. Er sieht vor, durch Multiplikatorenschulung insbesondere im verbandlichen Bereich die AIDS-Prävention in den neuen Ländern zu stärken und leistet damit zugleich einen Beitrag zum Aufbau der Gesundheitserziehung insgesamt. Vom AIDS-Zentrum des Bundesgesundheitsamtes wurden bisher präventionsorientierte Fortbildungsveranstaltungen in Ziegenhals bei Berlin, Erfurt, Magdeburg und Schwerin durchgeführt. Angesprochen als Multiplikatoren waren hier vor allem Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter und Lehrer. Entsprechende Veranstaltungen für die Länder Brandenburg und Sachsen sind in Vorbereitung. Um die AIDS-Aufklärung insgesamt möglichst frühzeitig weiten Kreisen der Gesamtbevölkerung vorzustellen, ist als massenmediales Eröffnungsangebot in den neuen Ländern eine Anzeigenschaltung in den Tageszeitungen vorgesehen. Sie soll auf die Gefahren von AIDS/HIV sowie die verschiedenen Präventionsmedien hinweisen und die Anforderung dieser Medien erleichtern. Speziell für den Einsatz in Präventionsschwerpunkten der neuen Länder wurden der Deutschen AIDS- Hilfe 5 Stellen für „Streetworker" bewilligt. Für jedes dieser Länder ist zudem die Förderung eines interdisziplinär angelegten Projekt-Teams zur AIDS-Prävention vorgesehen, das jeweils 5 Personen/Land umfassen und die Entwicklung einer zielgruppenspezifischen AIDS-Beratung und -Aufklärung vorantreiben soll. Für den Ostteil von Berlin schließlich ist beabsichtigt, im Bereich der Prävention arbeitende Dienste und Einrichtungen mit zusätzlichen, aus Bundesmitteln geförderten Stellen zu verstärken. Zwei zum Aufbau einer wirkungsvollen AIDS-Beratung dort geförderte Stellen stehen bereits seit Mai 1990 zur Verfügung. Als erste drogenpolitische Aufgabe in den neuen Bundesländern ist die Verstärkung der Prävention anzusehen. Dazu bietet sich an, das im Zuge der Umsetzung des Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplanes 1990 angelaufene Modellprogramm „Mobile Drogenprävention" in die neuen Bundesländer auszudehnen. Wie in den alten Bundesländern soll auch in den neuen Ländern die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS) Koordination und Begleitung des Programms übernehmen. Sie verfügt bereits über tragfähige Kontakte mit entsprechenden Einrichtungen und Trägern in den neuen Ländern. Es ist vorgesehen, in Berlin, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern je 2 und in Sachsen wegen der deutlich höheren Gesamtbevölkerung 3 Präventionsstellen einzurichten. Im Unterschied zu den alten Bundesländern, wo die im Programm tätigen Präventionsfachkräfte in Verbindung mit einer erfahrenen Drogenberatungsstelle eingesetzt werden, sollen in den neuen Ländern durch den zusätzlichen Einsatz von ABM-Kräften die Bildung von „Zweier-Teams" ermöglicht werden, um die in den neuen Ländern besonders problematische „Einzelkämpfer-Situation" zu vermeiden und um gleichzeitig möglichen künftigen Mitarbeitern in der Präventionsarbeit der Länder eine entsprechende Erfahrungsbildung zu ermöglichen. Das Programm soll von Mitte 1991 an zunächst eine Laufzeit von 3 Jahren haben. Darüber hinaus finden in den neuen Ländern Aktionswochen unter dem Motto „Bewußter leben — Möglichkeiten und Methoden der Gesundheitsförderung" statt. Diese Aktionswochen umfassen Ausstellungen und Präsentationen, Informationsveranstaltungen sowie Seminare zu Themen der Gesundheitserziehung und -förderung, die schwerpunktmäßig auch den Suchtbereich beinhalten. Angesprochen werden Multiplikatoren/innen aus dem schulischen und außerschulischen Bereich. Veranstalter dieser Aktionen ist die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Auch die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren informiert im Rahmen dieser Veranstaltungen über ihre Arbeit. Die Resonanz der ersten Aktionswochen, die vom 4. Mai bis 1. Juni 1991 im Hygiene-Museum in Dresden stattfanden, war gut. Es ist geplant, die o. a. Aktion in allen fünf östlichen Bundesländern durchzuführen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 33. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2733* Anlage 62 Antwort der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup (CDU/CSU) (Drucksache 12/766 Fragen 112 und 113): Welche Erfahrungen liegen der Bundesregierung in bezug auf die Erfüllung der Vorversicherungszeiten zur Gewährung von Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit im Rahmen des Gesundheits-Reformgesetzes vor? Beabsichtigt die Bundesregierung auf Grund der gemachten Erfahrungen, die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit im Sinne der Betroffenen zu verbessern? Die Leistungen der Krankenkassen bei Schwerpflegebedürftigkeit setzen zum Schutz der Beitragszahler Vorversicherungszeiten voraus. Danach muß der Versicherte u. a. seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Feststellung der Schwerpflegebedürftigkeit mindestens 9/10 der zweiten Hälfte dieses Zeitraums versichert gewesen sein. Die Erfahrungen haben gezeigt, daß gerade in der zweiten Hälfte des Arbeitslebens Unterbrechungen bei sonst langjähriger Mitgliedschaft auftreten. Für selbständige Landwirte und ehemalige Landwirte, die zum Zeitpunkt des Eintritts der Schwerpflegebedürftigkeit in der allgemeinen gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, ergibt sich zudem eine andere gesetzliche Behandlung als für Landwirte, die im Zeitpunkt des Eintritts der Schwerpflegebedürftigkeit nach dem erst im Jahre 1972 wirksam gewordenen Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG) pflichtversichert sind. Die Regierungskoalition prüft im Rahmen der Weiterentwicklung des Gesundheits-Reformgesetzes, ob und welche Änderungen möglich sind, um langjährig Versicherte unabhängig von der geltenden 9/10-Regelung in den Kreis der Begünstigten einzubeziehen. Als Lösung kommt in Betracht, neben der 9/10-Regelung eine bestimmte Anzahl von Versicherungsjahren — zum Beispiel 18 oder 20 Jahre — ausreichen zu lassen, um die Vorversicherungszeiten als erfüllt anzusehen. Auf das Erfordernis einer Vorversicherungszeit insgesamt kann bereits aus finanziellen Gründen nicht verzichtet werden. Anlage 63 Antwort der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU) (Drucksache 12/766 Fragen 114 und 115): Welche Beweise hat die Bundesministerin für Gesundheit, Gerda Hasselfeldt, für die von ihr wiedergegebene Beobachtung, daß von den (doch wohl öffentlichen?) Geldern für Investitionen für Schulen, Altenheime und Krankenhäuser nur 25 % in diese Einrichtungen fließen und der Rest im Straßenbau, auf Festgeldkonten oder anderswo landet? Welche Maßnahmen sind inzwischen getroffen worden, um zweck- und pflichtwidrige Verwendungen von öffentlichen Investitionsgeldern der genannten Art unverzüglich zu korrigieren? Aufgrund gezielter Einzelnachfragen des Bundesministeriums für Gesundheit in den neuen Bundesländern hat sich eine durchschnittliche Inanspruchnahme von ca. 25 % für die Bereiche Krankenhäuser, Alteneinrichtungen und Schulen ergeben (Stand Mai 1991). Um einen exakten Überblick zu erhalten, sind zwischenzeitlich alle Kreise und kreisfreien Städte gebeten worden, ihren Vergabeanteil mitzuteilen. Ergebnisse der Umfrage werden für Anfang Juli erwartet. Von pflichtwidrigen Verwendungen kann nicht gesprochen werden, da die Förderschwerpunkte zwar genannt, aber für die kommunalen Entscheidungsträger nicht verpflichtend sind. Anlage 64 Antwort der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl auf die Frage der Abgeordneten Verena Wohlleben (SPD) (Drucksache 12/766 Frage 116): Wie weit ist die Bundesregierung in ihren Vorbereitungen zur Änderung des § 311 Abs. 1 Buchstabe c SGB V, womit Beschränkungen bei der Krankenversicherung von Arbeitnehmern aus den alten Bundesländern, die in den neuen Bundesländern einer Beschäftigung nachgehen und unter 2 250 DM verdienen, aufgehoben werden sollen, damit diese Regelung, wie in der Fragestunde am 27. Februar 1991 angekündigt, zum 1. Juli 1991 in Kraft treten kann? Für Arbeitnehmer und ihre Familien aus den alten Bundesländern können bei Aufnahme einer Beschäftigung in den neuen Bundesländern Nachteile im Krankenversicherungsschutz entstehen. Die vertrags- und vergütungsrechtlichen Beschränkungen des für Versicherte im Beitrittsgebiet geltenden § 311 Abs. 1 Buchst. c des Fünften Buches Sozialgesetzbuch können insbesondere bei den Angehörigen zu Zuzahlungen führen, wenn sie Kassenleistungen im bisherigen Bundesgebiet in Anspruch nehmen. Um diese Nachteile zu vermeiden, hat die Bundesregierung in Artikel 6 Nr. 4 des Entwurfs eines Gesetzes zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung — Rentenüberleitungsgesetz — am 9. April 1991 eine gesetzliche Regelung beschlossen. Die Neuregelung sieht für die betroffenen Arbeitnehmer das Recht vor, bei der Krankenkasse im bisherigen Bundesgebiet Mitglied zu bleiben, bei der sie zuletzt versichert waren. Diese Regelung, die gegenwärtig in den parlamentarischen Gremien beraten wird, soll am Tag nach der Verkündung des Gesetzes in Kraft treten. Z. Z. läßt sich nicht absehen, ob die ursprüngliche Zeitplanung für die parlamentarischen Beratungen, die am 5. Juli 1991 abgeschlossen sein sollten, eingehalten werden kann.
Gesamtes Protokol
Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203300000
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich einige Worte an den Direktor beim Deutschen Bundestag, Herrn Dr. Joseph Bäcker, richten, der mit dem Ablauf dieses Monats seine aktive Dienstzeit beenden wird.
Sie haben, Herr Dr. Bücker, 33 Jahre dem Parlament gedient, darunter viele Jahre als Sekretär des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, als Leiter des Fachbereichs Parlamentsrecht, als Abteilungsleiter Parlamentarische Dienste und dann sieben Jahre als Direktor.
Es war ohne jeden Zweifel ein engagierter und nicht selten auch anstrengender Dienst. Denn die Bundestagsverwaltung war gerade in den letzten Jahren vor ungeheure Herausforderungen gestellt.

(Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Wohl wahr!)

Da gab es beispielsweise große technologische Umbrüche, den Abriß des alten Plenarsaals, den Bezug des Ersatzplenarsaals und den Neubau unseres Plenarsaals, große und leidenschaftlich umstrittene Gesetzesvorhaben und schließlich das große Werk der Wiederherstellung der deutschen Einheit mit den Aufgaben für insbesondere die Abgeordneten aus den neuen Bundesländern. Hier waren alle Kräfte für eine Aufgabe gefordert, die sicher den Höhepunkt Ihres beruflichen Lebens ausmachte.
Sie haben sich, Herr Dr. Bäcker, Verdienste um unsere Arbeit und um das Parlament insgesamt erworben. Dafür danken wir Ihnen mit dem Wunsch für viele weitere gesunde und erfüllte Lebensjahre.

(Anhaltender Beifall — Die Abgeordneten erheben sich — Zahlreiche Abgeordnete begeben sich zu Direktor Dr. Bücker, um ihm Dank und gute Wünsche auszusprechen)

Ich komme zu den amtlichen Mitteilungen zur Verlesung.
Aus dem Vermittlungsausschuß nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes scheidet Herr Kollege Klinkert als ordentliches Mitglied aus. Die CDU/CSU-Fraktion
schlägt als seinen Nachfolger Herrn Kollegen de Maizière vor.
Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist der Abgeordnete de Maizière als ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuß bestimmt.
Der Antrag der Fraktion der SPD „Mehr Arbeit durch mehr Umweltschutz in den neuen Bundesländern" auf Drucksache 12/676 soll nachträglich dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden.
Das von den Koalitionsfraktionen eingebrachte „Flächenstillegungsgesetz 1991 " auf Drucksache 12/721 soll nachträglich dem Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Ausschuß zur Kontrolle der einigungsbedingten Fördermittel des Bundes für Kultureinrichtungen (Kontrolle Kulturelle Fördermittel) — Drucksache 12/790 —
2. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zum KSZE-Expertentreffen über nationale Minderheiten in Genf vom 1. bis 19. Juli 1991 — Drucksache 12/796 —
3. Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zur Krise in Jugoslawien — Drucksache 12/795 —
4. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP: Zur Lage in Kosovo — Drucksache 12/797 —
5. Beratung des Antrags des Abgeordneten Gerd Poppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zur Lage in Kosovo — Drucksache 12/780 —
6. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur Förderung von Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen im Beitrittsgebiet sowie zur Änderung steuerrechtlicher und anderer Vorschriften (Steueränderungsgesetz 1991 — StÄndG 1991) — Drucksachen 12/219, 12/402, 12/459, 12/562, 12/698, 12/768 —
7. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz über Maßnahmen zur Entlastung der öffentli-



Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
chen Haushalte sowie über strukturelle Anpassungen in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet (Haushaltsbegleitgesetz 1991 — HBeglG 1991) — Drucksachen 12/221, 12/401, 12/461, 12/581, 12/697, 12/769 —8. Aussprache zum Stationierungskonzept der Streitkräfte
8. Aktuelle Stunde: Verhalten der Bundesregierung bezüglich der geplanten Einlagerung von radioaktiven Abfällen in das Zwischenlager Gorleben und Berücksichtigung der Bedenken der betroffenen Bevölkerung und der Landesregierung von Niedersachsen
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Walter Franz Altherr, Hans-Dirk Bierling, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Uwe Holtz, Norbert Gansel, Rudolf Bindig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Fraktion der FDP und der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Westsahara-Friedensplan der Vereinten Nationen — Drucksache 12/798 —11. Aktuelle Stunde: Hunger und Bürgerkrieg im Sudan
12. Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Egon Susset, Meinolf Michels, Richard Bayha, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Günther Bredehorn, Johann Paintner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Förderung einer einjährigen Flächenstillegung im Wirtschaftsjahr 1991/1992 (Flächenstillegungsgesetz 1991) — Drucksache 12/721 (neu) —Zugleich soll, soweit erforderlich, von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden.
Sind Sie mit den genannten Ergänzungen einverstanden? — Das ist der Fall. Es ist so beschlossen.
Dann möchte ich Ihnen mitteilen, daß sich die Fraktionen darauf verständigt haben, die heutige Sitzung von 16.30 Uhr bis 18.00 Uhr zu unterbrechen, um noch einmal Gelegenheit zur Beratung über den Parlaments- und Regierungssitz in den Fraktionen zu haben.
Um 18.00 Uhr wird die Sitzung mit der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes fortgesetzt.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 2 und den Zusatzpunkt 1 auf:
2. Überweisung im vereinfachten Verfahren Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes
— Drucksache 12/471 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend) Rechtsausschuß
ZP1 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Ausschuß zur Kontrolle der einigungsbedingten Fördermittel des Bundes für Kultureinrichtungen (Kontrolle Kulturelle Fördermittel)

— Drucksache 12/790 —
Überweisungsvorschlag: Ältestenrat (federführend) Innenausschuß
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN
Zum KSZE-Expertentreffen über nationale Minderheiten in Genf vom 1. bis 19. Juli 1991
— Drucksache 12/796 —
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Ausprache. Als erster spricht der Abgeordnete Reinhard von Schorlemer.

Freiherr Reinhard von Schorlemer (CDU):
Rede ID: ID1203300100
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst auch im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem langjährigen Direktor Dr. Bäcker ganz herzlich danken. Der Direktor hat viele Freunde in der Fraktion; das wollte ich hiermit noch einmal zum Ausdruck bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich zu unserem Antrag für das KSZE-Expertentreffen über nationale Minderheiten mit einem guten Beispiel beginnen. Die ungarische Regierung arbeitet an einem Gesetzentwurf zum Schutz der Rechte und Interessen der in Ungarn lebenden Minderheiten. Vertreter dieser Minderheiten wirken an der Formulierung des Gesetzes mit. Ich halte diesen Vorgang für nachahmenswert.
Der Schutz der Rechte nationaler Minderheiten ist kein Problem, das allein Ungarn angeht. Minderheiten treffen wir in nahezu allen europäischen Staaten: Flamen, Bretonen, Korsen, Basken, Elsaß-Lothringer in Frankreich, Slowenen, Friulaner, Deutsche und Ladiner in Italien, Lappen und Samen in Schweden und Finnland, Deutsche in Dänemark, Dänen und Sorben bei uns. Diese Aufzählung könnte man beliebig verlängern, und man brauchte dabei auch keinen europäischen Staat auszulassen.
Die Minderheiten tragen erheblich zur Pluralität und zur kulturellen Vielfalt unseres Kontinentes bei. Hierzu gehört auch die Anmerkung, daß die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion stolz ist, eine Sorbin als stellvertretende Fraktionsvorsitzende zu haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Minderheitengruppen haben das Recht, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppen ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, sich zu ihrer eigenen Religion zu bekennen und sie auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen. Kein Staat mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten diese Rechte vorenthalten. Dies sind keine neuen Formulierungen. Der Artikel 27 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte wurde schon vor 25 Jahren abgeschlossen.
Warum steht nun dieser Antrag heute auf der Tagesordnung? Weil die Rechte nationaler Minderheiten immer noch nicht allgemein anerkannt und ausreichend geschützt werden. Dies ist nicht nur meine persönliche Auffassung. Es waren immerhin die Staats-



Reinhard Freiherr von Schorlemer
und Regierungschefs der 34 KSZE-Staaten, die dieses Expertentreffen vorgeschlagen und einberufen haben im — ich zitiere — „Bewußtsein der dringenden Notwendigkeit, im Hinblick auf nationale Minderheiten die Zusammenarbeit zu verstärken und diesen Schutz zu verbessern".
Das Kopenhagener Treffen der KSZE über die Menschliche Dimension der KSZE vom Juni 1990 ist auf diesem Wege entschieden vorangeschritten. Das Kopenhagener Dokument markiert mit seinen Formulierungen zur Frage der nationalen Minderheiten einen entscheidenden Durchbruch. Es wirkt tief in die rechtlichen und politischen Strukturen der KSZE-Teilnehmerstaaten ein. Und dies ist gut so.
Zwei Tage nach Unterzeichnung des Vertrages mit Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, der für mich einer der bedeutsamsten Verträge ist, die die Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren abgeschlossen hat, ist festzustellen, daß der Standard der in dem Vertrag erreichten Regelung der Rechte der deutschen Minderheit in Polen ohne Kopenhagen wohl kaum zu erreichen gewesen wäre.

(Beifall bei der CDU/CSU — Freimut Duve [SPD]: Sehr richtig!)

Daß Polen die deutsche Minderheit erstmalig förmlich anerkannt hat, daß sie ihr Recht, einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen Gruppen ihre ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität frei zum Ausdruck zu bringen, vertraglich gesichert weiß, daß zu ihren Rechten zählt, sich privat und in der Öffentlichkeit ihrer Muttersprache frei zu bedienen, in ihr Informationen zu verbreiten, eigene Bildungs-, Kultur- und Religionseinrichtungen zu unterhalten, sich zu ihrer Religion zu bekennen und diese auch in ihrer eigenen Muttersprache durchzuführen, stellt unsere Beziehung zu Polen auf eine neue Grundlage. Die Forderung des Kopenhagener Dokuments findet damit Aufnahme in einem völkerrechtlichen Vertrag. Wir Deutsche haben daher allen Grund, mit Befriedigung auf dieses Dokument zu verweisen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang dem Bundeskanzler danken, der den Abschluß des Vertrages zu seinem persönlichen Anliegen gemacht hat. Der Bundeskanzler hat, als er den hohen Stand der erreichten Minderheitenrechte würdigte, diese Rechte als entscheidend zur Gewinnung des inneren Friedens in Deutschland und Polen hervorgehoben.
Wir dürfen dabei nicht vergessen, auch der Arbeit der Vertriebenen unsere Anerkennung auszudrükken.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Vertriebenen haben auf die Bestätigung der Minderheitenrechte unerschütterlich und zäh hingewirkt. Sie haben in den vergangenen Jahren oft Anlaß gehabt, sich in ihrer Arbeit mißverstanden, belächelt oder allein gelassen zu fühlen.

(Freimut Duve [SPD]: Es gab manches, was nicht mißzuverstehen war!)

Das Parlament, das eben, Herr Kollege Duve, die Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages lebhaft begrüßt hat, sollte bereit sein, auch den Einsatz
der Vertriebenen für eine Aussöhnung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk auf gesicherter vertraglicher Grundlage zu würdigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203300200
Herr Abgeordneter Schorlemer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Duve?

Freiherr Reinhard von Schorlemer (CDU):
Rede ID: ID1203300300
Ja, bitte.

Freimut Duve (SPD):
Rede ID: ID1203300400
Herr Kollege Schorlemer, wir freuen uns, wenn wir gemeinsam diesen deutsch-polnischen Freundschafts- und Nachbarschaftsvertrag würdigen können. Aber sind Sie bereit, die Sorge zu teilen, die man haben muß, wenn man weiß, daß der Vorsitzende des von Ihnen eben genannten Verbandes bis heute nicht bereit ist, die Grenze als endgültig anzuerkennen?

Freiherr Reinhard von Schorlemer (CDU):
Rede ID: ID1203300500
Herr Kollege Duve, ich habe von den Vertriebenen gesprochen. Ich glaube, die Aussagen, die gerade in den letzten Wochen und Monaten zu diesem Vertrag und auch zur Sicherstellung der Minderheitenrechte gemacht worden sind, bringen zum Ausdruck, daß die Vertriebenen dieses Werk positiv unterstützen. Das möchte ich zum Ausdruck gebracht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Für manche unserer Partner stellt der Kopenhagener Katalog der Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten das Maximum des Wünschbaren und des Vertretbaren dar. Dennoch sollte sich die Bundesregierung verpflichtet fühlen, den Schutz der Rechte nationaler Minderheiten weiter voranzutreiben. Dies soll mit dem vorliegenden Antrag erreicht werden.
Vor der Vereinigung war Deutschland auf Grund seiner exponierten Lage häufig genug zur besonderen Zurückhaltung gezwungen. Das vereinte Deutschland sollte, gerade wenn es um den Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten geht, diese Zurückhaltung aufgeben. Der Einsatz für Freiheit und Demokratie, für Menschenrechte und Minderheitenrechte liegt im wohlverstandenen deutschen Interesse. Die Gestaltung des größeren Europa, in dem alle Länder und Völker unseres Kontinents in Stabilität und Frieden zusammen leben und auch zusammen leben wollen, ist dauerhaft nur durch den Schutz und Ausbau der Rechte nationaler Minderheiten, die Freiheitsrechte sind, zu garantieren.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203300600
Als nächster hat der Abgeordnete Herr Duve das Wort.

Freimut Duve (SPD):
Rede ID: ID1203300700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, es fügt sich gut, daß heute morgen, just zu dieser Stunde, die Außenminister der KSZE zum ersten Mal in Berlin zur KSZE-Tagung zusammentreten. Wir begrüßen dies. Es ist für uns in Deutschland ein besonderer Tag.

(Beifall bei der SPD)




Freimut Duve
Es wäre gut, wenn sich diese Konferenz auch mit der Situation in Jugoslawien befassen würde. Es ist zu begrüßen, daß die Außenminister baltischer Staaten in Berlin anwesend sind.

(Beifall bei der SPD)

Sie nehmen nicht offiziell teil. Aber dennoch ist dies ein Schritt, der zeigt, wie offen dieser KSZE-Prozeß inzwischen geworden ist.
Ich will in diesem Zusammenhang an ein Wort des Philosophen Karl Jaspers erinnern. Vor genau 25 Jahren hat er geschrieben:
Das Mögliche und Wünschenswerte wäre zukünftig ein Gewebe von Verträgen, das die Menschheit zu einer faktisch friedlichen Einheit in einem dann immer noch labilen Zustand verbände.
In seinem Text schließt Japsers aus, daß es zu einer Weltgesellschaft oder zu einem Weltstaat kommen würde. Nein, meint er, es würden viele kleine Staaten sein, aber sie müßten durch solche Vertragssysteme zusammengehalten werden.
Dieses Gewebe vieler Verträge existiert heute in Europa. Die Gefahr eines großen Konflikts, den man Weltkrieg nennen könnte, ist heute geringer als je zuvor in den vergangenen 40 Jahren. Daran hat Helsinki und daran hat die KSZE einen nicht geringen Anteil.
Wir sind im Zusammenhang mit der Außenministerkonferenz heute morgen in Berlin stolz, an Willy Brandt und Helmut Schmidt zu erinnern. Ohne die Leistung der Ostpolitik gäbe es dieses Treffen in diesem Berlin heute nicht.

(Beifall bei der SPD — Ulrich Irmer [FDP]: Genscher nicht vergessen, Herr Duve!)

- Es ist für einen Angehörigen des Deutschen Bundestages völlig unmöglich, Herr Kollege Irmer, Herrn Genscher je zu vergessen. Dafür sorgt er schon selber.

(Heiterkeit bei der FDP)

Die KSZE ist in den letzten zwei Jahren nicht immer so ernst genommen worden wie heute und morgen in Berlin. Daß auch der amerikanische Außenminister in ihr wieder ein wichtiges Element für die friedlichen Konstruktionen des europäischen und transatlantischen Brückenbaus sieht, läßt hoffen, daß der Helsinki-Gedanke neue Strahlkraft auch woanders bekommt. Ich denke etwa daran, daß sich viele einen Friedensprozeß im Nahen Osten nur unter den Möglichkeiten eines Helsinki-Vorgangs, nämlich eines breiten Prozesses, in dem man über die verschiedenen Körbe dann auch an unterschiedlichen Tischen diskutiert, vorstellen können.
KSZE, meine Damen und Herren, das ist nicht nur ein Reichtum an Dokumenten, sondern auch an Erfahrungen. Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß es schon auf der Budapester Kulturkonferenz der KSZE zu keinem Schlußdokument gekommen war, weil sich Rumänien nicht dazu verstehen konnte, einen Passus über kulturelle Rechte von Minderheiten zu akzeptieren. Er hätte die Ungarn und die Deutschen in Rumänien betroffen.
Damals war dies in der öffentlichen Diskussion völlig untergegangen. Die beiden Warschauer-Pakt-Mitgliedstaaten Ungarn und Rumänien haben das unter der Decke gehalten, und alle gemeinsam haben den Eindruck erweckt, als läge es an den USA und an der Sowjetunion, daß es nicht zu einem Schlußdokument gekommen war. Das war noch der Kalte Krieg. Aber in Wahrheit gab es tief unter der Decke dieser Konferenz bereits einen völlig anderen Konflikt, den eigentlichen Konfliktstoff. Ich erinnere daran immer gern, weil wir es leicht vergessen.
Ich darf an das Schlußdokument von Malta aus dem Februar dieses Jahres erinnern, als ein Expertentreffen ein Rechtssicherheitsnetz zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten gesucht hatte. Dieses Treffen hat wirklich kein revolutionäres Ergebnis zustande gebracht, aber immerhin einen Schlichtungsmechanismus mit KSZE-Schiedsrichtern etabliert; dies ist ein erster Schritt. Und ich erinnere an die Pariser Konferenz vom November 1990, als die Regierungschefs die Charta für ein neues Europa vorstellten, die sich auch schon insbesondere mit den Menschenrechtsforderungen befaßte.
Wenige Tage nach dem Außenministertreffen in Berlin nimmt das Expertentreffen Anfang Juli in Genf ein wichtiges Element der europäischen Wirklichkeit auf. Über nationale Minderheiten soll im Anschluß an die Kopenhagener Erklärung zwölf Monate später diskutiert werden. Die Fraktionen des Deutschen Bundestages haben in den vergangenen Tagen eine gemeinsame Entschließung zu diesem Thema vorbereitet. Sie soll heute verabschiedet und den Genfer Experten mit auf den Weg gegeben werden. Lassen Sie mich einige grundsätzliche Fragen dazu aufwerfen.
Wenn ich unsere Verfassung richtig verstehe, dann regelt sie die Notwendigkeit, immer wieder Mehrheiten zu finden, deren vornehmste Aufgabe es ist, Minderheiten, den einzelnen und die vielfältigen Gruppen, zu denen sich einzelne zusammenschließen, zu schützen. Mehrheit in diesem Verständnis ist eine demokratische Notwendigkeit, aber kein fester sozialer oder kultureller Tatbestand. Wir alle gehören in der modernen Gesellschaft im Laufe unseres Lebens sehr verschiedenen Gruppen an, in der Regel in Wahrheit Minderheiten.
In Genf wird es um nationale Minderheiten gehen. Ich denke, wenn wir Deutschen darüber diskutieren, müssen wir einmal an die glückliche Homogenität unseres Volkes denken. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht vergessen, daß es nach wie vor das Welterschrecken über den grausamsten Völkermord gibt, den ausgerechnet wir Deutschen in diesem Jahrhundert an Juden, an Sinti und Roma verübt haben.
Meine erste Bemerkung: Wir möchten den Experten in Genf gerne die Frage mit auf den Weg geben, ob zu dem Begriff nationale Minderheiten etwa auch das Volk der Sinti und Roma gehört. Ich weiß nicht, ob wir für all das, was uns in Europa mit Minderheitenfragen beschäftigt, den Begriff nationale Minderheiten wirklich ausreichend nutzen können. Gehören also Sinti und Roma dazu? Wie werden die seit Jahrhunderten in Europa lebenden fast fünf Millionen



Freimut Duve
Menschen im Kontext der KSZE-Debatte gewürdigt?
Zweifellos bilden sie in Rumänien eine große nationale Minderheit, aber ganz zweifellos haben sie unter den anderen Minderheiten Rumäniens keinerlei Fürsprecher; auch verfügen sie nicht über einen Bruderstaat oder ein Mutterland, das sich insbesondere ihrer Rechte annehmen könnte.

(Norbert Gansel [SPD]: Eine internationale Minderheit!)

— Sie sind eine internationale, eine europäische Minderheit.
Sinti und Roma machen deutlich, daß es nicht nur um nationale Minderheiten im klassischen Sinne gehen kann. Bei der Europäisierung muß sich der Schutzgedanke gerade solcher Gruppen annehmen, auf die der Begriff national nur eingeschränkt zutrifft.
Zweite Bemerkung: Auf einer Anhörung meiner Fraktion zur künftigen sogenannten ostdeutschen Kulturpolitik hat Klaus von Bismarck in eindrucksvoller Weise daran erinnert, wie schwer es ist, von ganz kompakten Minderheitengruppen, etwa in den ehemals zu Deutschland gehörenden Teilen Osteuropas, zu sprechen. Er hat auf die von vielen Völkern geprägte Mischkultur dieser Region hingewiesen, auf Perioden friedlichen Zusammenlebens und auf solche, in denen gerade die besondere Betonung des je Eigenen zu Konflikten geführt hat.
Günter Grass hat auf dem diesjährigen Kirchentag auch daran erinnert, daß es ja im wesentlichen der Reichtum dieser Region, daß es die Mischung der Kulturen gewesen ist, die das Zusammenleben von Menschen ganz verschiedener religiöser oder anderer Überzeugungen geprägt haben.
Kulturen des Zusammenlebens unterschiedlicher Gruppen bestimmen die europäische Wirklichkeit stärker als ihre präzise, geradezu mathematische Trennbarkeit. Das Leben der modernen Gesellschaft befördert dieses ebenfalls. Es gibt kaum ein Volk in der Sowjetunion, das nicht auch Angehörige aus allen anderen Gruppen und Völkern der Sowjetunion bei sich leben hätte. In Litauen leben sogar Aserbeidschaner. Es gibt natürlich eine riesige Minderheit von Polen und Russen. Wir müssen also das eigentliche Problem nicht nur im Schutz dieses einen Korpus sehen, sondern im Schutz des Geflechts Verschiedener, die zusammen leben wollen und auch aus einer Geschichte des Zusammenlebens kommen.
Dieser Wirklichkeit entspricht der Grundgedanke des Minderheitenschutzes, wie ihn das Kopenhagener Dokument darstellt und festgelegt hat und wie ihn der deutsch-polnische Vertrag wieder aufgreift. Es geht um die Rechte der einzelnen, sich gemeinsam mit anderen in der je eigenen Kultur auszudrücken und die eigene Sprache zu sprechen. Es geht um die individuellen Bürgerrechte, sich zu ganz unterschiedlichen Gruppen zusammenzuschließen, das kulturelle Erbe der Eltern zu pflegen. Es geht auch um das individuelle Recht, dieses möglicherweise zu unterlassen und sich anderen Gruppen anzuschließen, sich also gegen die Minderheitenkultur der Eltern zu stellen und gar aus ihr auszuscheren. Das alles meint Minderheitenrechte als das Individualrecht, sich zusammenzuschließen.
Wir Sozialdemokraten legen auf diesen individualrechtlichen Ansatz besonderen Wert. Allzu schnell könnten sonst Bürger zur Verrätern gestempelt werden, die für ihre Gemeinde einen anderen Weg suchen als den ihrer sogenannten Volksgruppe. Wir haben ja solche Beispiele in Schlesien, wo Deutsche, die in dem einen Verband nicht mittun wollen, sondern in einem anderen, öffentlich als Verräter gebrandmarkt werden. Es geht auch um den individuellen Schutz.
Zum Thema Einmischung: Wir haben in den letzten Tagen an der Einmischungsklausel unserer Entschließung — das ist der letzte Spiegelstrich auf Seite 4 — gearbeitet. Ja, natürlich, Herr Lamers, wir wollen keinem Diktator erlauben, seine eigenen Bürger zu vertreiben, zu drangsalieren oder umzubringen. Wir haben darüber im Falle des Irak und der kurdischen Flüchtlinge gemeinsam diskutiert. Die Souveränität der Staaten ist nicht die Souveränität der Diktaturen oder Diktatoren, ihre eigenen Bürger zu schikanieren. Da sind wir uns völlig einig.
Wir wollen aber auch kein Europa mehr, in dem der Minderheitenschutz eines Tages möglicherweise zum Vorwand einer gewaltsamen Einmischung genommen werden könnte. Auch das wollen wir nicht mehr. Auch dafür haben wir Beispiele in der europäischen Geschichte und auch in diesem Jahrhundert. Das will heute niemand mehr; das unterstellt auch niemand irgend jemandem. Aber wo Gruppen immer noch nicht die bestehenden Grenzen akzeptiert haben und wo einzelne — das läßt sich doch nun wirklich nicht leugnen — immer noch an der Revisionschance arbeiten, ist für uns alle Vorsicht angebracht.
Unser gemeinsames Dokument soll dem Genfer Expertentreffen Anregungen geben und ihm die Grundüberzeugung aller im Parlament vertretenen Parteien übermitteln. Ich glaube, daß unsere Entschließung dies leistet. Zugleich aber bin ich überzeugt, daß wir mit dem Begriff der nationalen Minderheit zu kurz greifen und weiter diskutieren müssen.
Ich kann hier keinen besseren Begriff aus dem Hut zaubern, aber je länger man sich mit dem Problem der Minderheiten in Europa, vor allem in der modernen europäischen Gesellschaft, befaßt, um so weniger glaube ich, daß dieser Begriff ausreicht. Denn neben der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur gehören wir als Bürger des 20. Jahrhunderts immer auch bestimmten Arbeits- und Lebenszusammenhängen an, leben unterschiedlich in Städten oder auf dem Lande, sind physisch und psychisch häufig zu einer neuen Mobilität gezwungen, die uns zu Menschen in einem ganzen Bündel unterschiedlicher Rollen macht.
Die neue Wirklichkeit wird mit den alten Begriffen nur unzulänglich gekennzeichnet. Die neue Mobilität der Menschen erzeugt auf der einen Seite die Sehnsucht, Schutz im Gehäuse der eigenen Kultur zu suchen, zugleich aber auch die Notwendigkeit, sich den Anforderungen der modernen Zivil- und Wirtschaftsgesellschaft zu stellen. Unser von historischen Erfahrungen geprägtes Denken kann sich mit dieser Viel-



Freimut Duve
fachrolle des einzelnen nur sehr schwer abfinden. Gerade deshalb ist der individualrechtliche Ansatz im Kopenhagener Dokument so wichtig. Nur er deckt die vielfältigen Spannungen, denen der moderne Mensch ausgesetzt ist.
Der polnische Autor Ryszard Kapuscinski hat — damit will ich schließen — diese merkwürdige Spannung der modernen Menschen zwischen der immer engeren Bindung an das je Eigene und dem Leben in der modernen Gesellschaft am Beispiel von Los Angeles mit dem Begriff der Collagen-Gesellschaft umschrieben: Es geht weder um die Einschmelzung aller in die Moderne unterschiedsloser Fernsehgesellschaften noch um die Rückkehr zu alten Zugehörigkeiten. Es geht um eine neue Vielfalt, auch im eigenen Leben.
Meine Damen und Herren, ich sehe in der modernen Welt eigentlich nur drei Beispiele, wo das, was wir anstreben, bisher für das ganze Volk einigermaßen gelungen ist. Das ist die amerikanische Gesellschaft mit all den Fragezeichen, die wir insoweit immer stellen müssen, das ist — nur für die jüdischen Bürger — die israelische, wo sich Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen unter dem Dach einer Religion zusammenfinden, und das ist die Schweizer Gesellschaft. In allen anderen Gesellschaften haben wir sozusagen neue Typen von Problemen. Auch in allen westeuropäischen Gesellschaften haben wir alte Konflikte, wobei ich an Spanien, aber auch an Irland denke.
Lassen Sie uns gemeinsam hoffen, daß auf dieser Konferenz neue Anregungen kommen und daß die KSZE bald auch zu institutionalisierten Instrumenten kommt, um auf diesem Wege mit uns gemeinsam weiterzuarbeiten.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD, der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS/Linke Liste)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203300800
Als nächster hat der Abgeordnete Ulrich Irmer das Wort.

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1203300900
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kollegen! Viele Probleme in der Geschichte und auch in der Gegenwart sind durch Nationalitätenkonflikte verursacht. Minderheiten gibt es fast überall, und innerhalb dieser Minderheiten gibt es wiederum Minderheiten, die anderswo Mehrheiten sind.
Wenn wir etwa Jugoslawien betrachten, stellen wir fest: Dort sind die Albaner im Kosovo in der Minderheit gegenüber den Serben. Aber innerhalb des Kosovo gibt es wiederum eine serbische Minderheit unter der Mehrheit von Albanern. Die Serben, die in Kroatien leben, sind dort eine Minderheit; aber in Jugoslawien sind sie in der Mehrheit.
Wir haben Minderheiten in unserem eigenen Land: die Dänen in Schleswig-Holstein und die Sorben, die unserem Lande jetzt zugewachsen sind und die wir herzlich willkommen heißen. Ich finde es sehr schön, daß eine Sorbin bei der CDU/CSU Stellvertretende Fraktionsvorsitzende ist. Ich glaube, daß das Problem der nationalen Minderheiten bei uns kein Problem
mehr ist, weil wir Regeln gefunden haben, wie wir miteinander umgehen.
In anderen Ländern gibt es riesige Probleme. Es gibt nicht nur das Problem der nationalen Minderheiten, sondern auch der Nationalstaaten, die aus unterschiedlichen Völkern bestehen. Ich denke an die Tschechoslowakei, wo zwei Völker leben: Tschechen und Slowaken. Sie müssen miteinander leben, sie müssen miteinander auskommen.

(Dr. Peter Glotz [SPD]: Das ist ein Nationalitätenkonflikt!)

Wenige Kilometer von hier entfernt, in Belgien, leben Wallonen, Flamen und eine deutsche Minderheit, die dort Rechte genießt, zusammen. Deutsch ist in Belgien dritte Amtssprache. Wir haben Vielvölkerstaaten wie etwa die Schweiz und Jugoslawien.
Wir müssen uns eigentlich eines klarmachen: Im Lichte des europäischen Zusammenschlusses, im Lichte dessen, was wir als Europäische Union anstreben, ist jeder von uns Minderheit. In Europa sind auch die Deutschen eine Minderheit, obwohl sie an Zahlen die meisten sind. Auch in der EG sind wir eine Minderheit. Ich sollte mir immer klarmachen, daß ich überall auf der Welt, außer in meinem eigenen Lande, Ausländer bin.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Das Wort „Ausländer" ist ein ganz eigenartiger Begriff. Ich brauche nur über die Grenze zu gehen, und ich bin Ausländer. Ich bin eine Minderheit auf der ganzen Welt, auch als Deutscher.
Meine Damen und Herren, es gibt den Begriff der nationalen Minderheit. Wir haben ihn in unserem Entschließungsantrag nicht definiert. Die KSZE-Expertenkonfernz wird sich sicher Mühe geben, eine Definition zu finden. Aber es gibt über den traditionellen Begriff der nationalen Minderheit hinaus neue Formen von nationalen Minderheiten. Traditionell sagt man: Eine nationale Minderheit ist eine Gruppe, die die Staatsangehörigkeit des Landes hat, wo sie lebt. Aber betrachten wir einmal Wanderarbeitnehmer: Sind die Türken bei uns im Lande nicht auch eine nationale Minderheit, obwohl sie hierzulande keine Staatsangehörigkeit haben? Kann sich das nicht ändern? Wird nicht auch ein Türke der dritten Generation zur nationalen Minderheit, wenn er ständig hier lebt?
Vielleicht ist dieser Ansatz — Herr Duve, Sie haben die USA erwähnt — doch ganz hilfreich; denn die USA setzen sich nur aus Zuwanderern zusammen, aus Menschen, die dort heimisch geworden sind und sich heute alle als Amerikaner fühlen. Ich möchte ein wenig davor warnen, daß man die Definition der nationalen Minderheit an die Staatsangehörigkeit des Landes knüpft, in dem man lebt. Denn es wäre sonst zu leicht, daß die Mehrheit sagen würde: Dadurch, daß wir die Staatsangehörigkeit aberkennen oder nicht zuerkennen, sprechen wir dieser Gruppe die Rechte der nationalen Minderheit ab.
Wir sollten, meine Damen und Herren, einige Grundregeln als selbstverständlich akzeptieren. Nationale Minderheiten sollten loyale Bürger des Landes sein, in dem sie leben. Das ist eine Grundvorausset-



Ulrich Irmer
zung. Sobald sie eine Abspaltung von dem Land oder eine Aufspaltung des Landes betreiben, in dem sie leben, sind sie nicht loyal und schaffen neue Probleme. Dann, wenn sie die Voraussetzung, loyale Bürger zu sein, erfüllen, haben sie das Recht, weitgehende Autonomie zu genießen, die durch die KSZE und durch den Europarat mittels einer besonderen Konvention festgelegt und allgemein verbindlich gemacht werden soll.
Ich möchte Ihnen noch einen Gedanken vortragen: Wir sollten uns bei dem Verlangen nach Rechten für nationale Minderheiten, die uns selbst nahestehen, beispielsweise für deutsche nationale Minderheiten in anderen Ländern, immer vor Augen halten: Die Rechte, die wir für die deutschen Minderheiten dort fordern, sollten wir auch den nationalen Minderheiten gewähren, die bei uns leben. Wir sollten nicht über das hinausgehen, was wir selbst zuzugestehen bereit sind.
Ich frage nur einmal: Was würde denn geschehen, wenn etwa die Türken in Kreuzberg jetzt verlangten, daß dort türkische Straßenschilder aufgestellt werden sollten? Wie halten wir es denn mit den politischen Autonomierechten, die wir für die deutsche Minderheit fordern, beispielsweise gegenüber den Gastarbeitern, die bei uns leben?
Natürlich hängt das von der Definition der Minderheit ab. Ich meine aber, daß es nicht abwegig wäre, zu sagen: Das, was wir von anderen verlangen, sollten wir auch bereit sein, denen zu geben, die bei uns leben. Wir kommen hier zu guten Regelungen.
Ich bin überzeugt, im Prozeß des Zusammenwachsens von Europa müssen wir den nationalen Minderheiten wie allen Minderheiten Rechte geben. Ich meine, der Stand einer Kultur erweist sich darin, wie die Mehrheit mit den Minderheiten umgeht.
Ich bedanke mich.

(Beifall im ganzen Hause)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203301000
Als nächste hat die Abgeordnete Angela Stachowa das Wort.

Angela Stachowa (PDS/LL):
Rede ID: ID1203301100
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich begrüße es, daß dieser Antrag eingebracht wurde. Ich kenne aus eigener Erfahrung die nicht zu unterschätzende Bedeutung, die der Verwirklichung grundlegender Rechte und Pflichten einer nationalen Minderheit zukommt. Nationale Minderheiten, die in der Regel über viele Jahre, ja, zum Teil Jahrhunderte hinweg inmitten anderer Völker leben und überlebten, gehören heute zur kulturellen, sprachlichen und ethnischen Vielfalt unseres Daseins. Sie gilt es zu bewahren, zu schützen, zu pflegen und zu fördern; denn sie verkörpern einen Teil der Weltgeschichte und der Weltkultur.
Ich selbst gehöre einer nationalen Minderheit in Deutschland an, dem sorbischen Volk, das alle Tiefen und Höhen in nahezu tausend Jahren inmitten deutschen Territoriums durchgemacht hat und heute nicht nur um die Erhaltung und Entfaltung seiner nationalen Identität, sondern generell um seine Zukunft, ja, um sein Überleben kämpft.
Die in dem Antrag aufgeführten Forderungen für das Auftreten der Bundesregierung in internationalen Gremien müssen uns zugleich zu denken geben; denn auch im eigenen Land steht nicht alles zum besten. Auch hier sind einige Forderungen angebracht.
Ein Rückblick auf die vergangene Wahlperiode zeigt, daß in diesem Hohen Hause mehrfach über die Lage nationaler Minderheiten in anderen Ländern debattiert und polemisiert wurde.

(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Was heißt hier „polemisiert"? Was wissen Sie denn davon, ob polemisiert worden ist?)

Unsere Verantwortung gebietet aber, auch über die positiven Erfahrungen und die Sorgen und Nöte der drei anerkannten nationalen Minderheiten im geeinten Deutschland, der dänischen Minderheit, der friesischen Volksgruppe und des sorbischen Volkes, ohne Mutterland zu sprechen.
Konkret zum sorbischen Volk: Im Protokoll zum Art. 35 des Einigungsvertrages werden die Freiheit zum Bekenntnis zum sorbischen Volkstum und die Gewährleistung der Fortentwicklung der sorbischen Kultur festgeschrieben. Von einer Förderung wie in der Verfassung in Schleswig-Holstein ist hier keine Rede. Doch gerade das brauchen die Minderheiten, braucht diese Minderheit.
Die Problematik des sorbischen Volkes kann sich nicht in der Förderung ihrer Sprache und Kultur erschöpfen; denn das Thema die Sorben und die Braunkohle hat etwas mit ihrem direkten Überleben zu tun.
Ich spreche vom Kampf ums Überleben und frage in diesem Zusammenhang: Ist die dem sorbischen Volk vom Bund für dieses Jahr gewährte Summe von 12 Millionen DM für den Erhalt und die Weiterführung kultureller Einrichtungen wirklich ausreichend? Aus der Kenntnis der Belange meines Volkes heraus meine ich: nein.
Die Länder Sachsen und Brandenburg sind arm. Kunst und Kultur gehen in Krisenzeiten als erste über Bord. Dieses eindeutige Gesetz von Basis und Überbau, wird, fürchte ich, vor sorbischer Kunst und Kultur nicht haltmachen.

(Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/ CSU]: Was?)

Noch einige allgemeine Bemerkungen. Im vorliegenden Antrag wird das vorgesehene Minderheitenschutzgesetz in Ungarn als positives Beispiel erwähnt. Warum gibt es nichts Adäquates bei uns?
Wie Sie sicher alle wissen, gibt es weder eine Aussage zu den Rechten und Pflichten noch eine zu Schutz und Förderung nationaler Minderheiten im Grundgesetz, ganz zu schweigen von einem Gesetz über nationale Minderheiten.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203301200
Frau Abgeordnete Stachowa, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Koschyk?

Angela Stachowa (PDS/LL):
Rede ID: ID1203301300
Ja, bitte.

Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1203301400
Frau Kollegin, sind Sie mit mir der Meinung, daß es ein ernsthaftes Bemü-



Hartmut Koschyk
hen des Landes Brandenburg und des Freistaates Sachsen gibt, die Rechte der sorbischen Minderheit in diesen Ländern auch in den Landesverfassungen zu schützen, und sind Sie bereit, dieses Bemühen entsprechend zu würdigen und hier nicht zu unterstellen, daß diese beiden Länder, in denen Angehörige Ihrer Volksgruppe leben, nicht versuchen, den Rechten Ihrer Volksgruppe unter Berücksichtigung eines wirklich europäischen Standards Genüge zu tun?

Angela Stachowa (PDS/LL):
Rede ID: ID1203301500
Ich gehe mit Ihnen konform. Die Länder Sachsen und Brandenburg bemühen sich. Ich glaube aber, es ist auch die Aufgabe des Bundes, nationale Minderheiten zu fördern und zu unterstützen.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste und der SPD)

Inwieweit kommt die Anerkennung des Rechts auf kollektive Ausübung von Individualrechten und die damit verbundene Gewährung der Teilhabe nationaler Minderheiten an politischen Entscheidungen auf kommunaler, regionaler und gesamtstaatlicher Ebene in der Praxis überhaupt zum Tragen? Der Bundestag sollte die Bundesregierung auffordern, in regelmäßigen Abständen einen Minderheitenbericht vorzulegen. Ein solches Dokument würde uns auch erlauben, konkrete Vergleiche anzustellen und zu prüfen, wie die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates verabschiedeten Prinzipien zum Schutz der Rechte von Minderheiten in der Bundesrepublik tatsächlich verwirklicht werden.
Meine Damen und Herren, auch in einem zukünftigen geeinten Europa ohne Grenzen werden die Bayern Bayern und die Sachsen Sachsen bleiben. Auch die nationalen Minderheiten sollen bleiben, was sie sind, nämlich unter anderem Bindeglieder, aber vor allem Gruppen von Menschen mit einer eigenen nationalen Identität.
Zum Abschluß noch eine Bemerkung. Wenn heute diesem Antrag zugestimmt wird, so beantrage ich zugleich, daß die Bundesregierung nach der Sommerpause hier vor dem Hohen Hause einen Bericht über die Ergebnisse des Expertentreffens gibt und notwendige Schlußfolgerungen für den innerstaatlichen Umgang mit nationalen Minderheiten darlegt.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203301600
Das Wort hat jetzt Herr Staatsminister Helmut Schäfer.

Helmut Schäfer (FDP):
Rede ID: ID1203301700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Expertentreffen über nationale Minderheiten, das am 1. Juli in Genf beginnen soll, kommt zur rechten Zeit. Es wurde von den Staats- und Regierungschefs der KSZE-Staaten bei ihrem Treffen in Paris im vergangenen November einberufen — ich zitiere —, „im Bewußtsein einer dringenden Notwendigkeit des Minderheitenschutzes". Ich gehe davon aus, daß die Bundesregierung im Anschluß an das Expertentreffen, Frau Kollegin, natürlich in den Ausschüssen berichten wird; das ist doch eine Selbstverständlichkeit.
Denn über all diese Konferenzen wird anschließend zu sprechen sein.
Akute Krisen sowie offene und latente Spannungen in einigen KSZE-Staaten belegen, wie notwendig das KSZE-Expertentreffen über nationale Minderheiten ist und wie zutreffend auch die Bewertung der Staats- und Regierungschefs im Hinblick auf die Einberufung dieses Treffens war. Sie belegen auch, daß ungelöste Minderheitenfragen große Probleme schaffen können.
Meine Damen und Herren, Minderheitenschutz ist angewandte Menschenrechtspolitik.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Der Schutz der Individualrechte allein, der zunächst beim Helsinki-Prozeß in den Mittelpunkt gerückt war, reicht nicht aus.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Nur der besondere Schutz und die besondere Förderung von Minderheiten trägt dazu bei, historische Konflikte zu entschärfen und aus früheren Feinden Freunde zu machen.
Hier ist wiederholt auf das Beispiel Dänemark und Deutschland verwiesen worden. Wir könnten noch einige andere Beispiele nennen; Herr Irmer hat es getan. Aber ich glaube, dieses Beispiel macht besonders deutlich, wie Minderheiten miteinander bzw. Mehrheiten mit ihren jeweiligen Minderheiten umgehen können.
Ich darf auch sagen, daß sich dank unserer beharrlichen Ostpolitik — hier kann man ja nun eigentlich alle Parteien mit einbeziehen, Herr Kollege Duve — die Situation der deutschen Minderheiten in den Staaten Mittel- und Osteuropas doch grundlegend verbessert hat. Ich hoffe, daß diese Entwicklung viele Angehörige der deutschen Minderheit auch zum Bleiben in ihren jeweiligen Staaten veranlassen wird

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

und daß sie auch ermutigt werden, bei dem schwierigen Prozeß dort, nämlich Demokratie herzustellen und eine neue Wirtschaftsordnung zu schaffen, kräftig mit anpacken, wie sie in den vergangenen Jahrhunderten, kann man sagen, ja auch ganz wesentlich zum Lebensstandard, zur Entwicklung nicht nur der Kultur, sondern auch des Wohlstands der Länder beigetragen haben, in denen sie heute noch leben.
Im deutsch-polnischen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit werden wesentliche Bestimmungen des Kopenhagener Dokuments rechtlich verbindlich vereinbart. Dies ist auch ein konkreter wesentlicher Fortschritt und ein Beitrag zur Fortentwicklung des europäischen Minderheitenschutzes. Auf dem Genfer Treffen werden wir uns für weitere Verbesserungen des europäischen Minderheitenstandards einsetzen.
Ich habe schon gesagt: Minderheitenschutz und Schutz der Menschenrechte gehören eng zusammen. Eine Minderheit kann ihre Identität nur wahren, wenn sie ihr Anderssein als Gruppe und mittels der Gruppe



Staatsminister Helmut Schäfer
manifestieren kann. Die KSZE-Teilnehmerstaaten müssen auf dem in Kopenhagen eingeschlagenen Weg fortfahren, die Individualrechte auszubauen und damit natürlich auch Konsequenzen für die Behandlung von Minderheiten zu ziehen.
Es gibt ja nun Staaten, die besorgt sind, daß die Respektierung der berechtigten Anliegen von Minderheiten eine Gefahr für ihre staatliche Souveränität oder gar für den Bestand ihres Staates werden könnte. Aber, meine Damen und Herren, es hat sich doch gezeigt, daß akute Probleme nicht dadurch gelöst werden können, daß man ihr Bestehen leugnet. Es ist selbstverständlich, daß der Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen die Bereitschaft der Minderheit zur Zusammenarbeit mit der Mehrheit in ihrem jeweiligen Staat entsprechen muß.
Aufgeschlossene und vertrauensvolle Zusammenarbeit seitens der Minderheit ist aber um so weniger zu erwarten, je mehr eine Minderheit ihre legitimen Interessen gefährdet sieht. Eine Minderheit wird ihre Rechte um so heftiger einklagen, je mehr sie befürchten muß, bei Entscheidungen, von denen sie betroffen ist, nicht ausreichend, und zwar auf allen Ebenen, beteiligt zu werden.
Das Genfer Expertentreffen muß dafür genutzt werden, über Lösungen gerade für die schwierigsten und konfliktträchtigsten Situationen nachzudenken. Wo — wie in Südtirol — eine Minderheit in ihrem geschlossenen Siedlungsgebiet die Mehrheit bildet, bieten sich lokale und regionale Verwaltung auf territorialer Basis an. Solche Regelungen eignen sich aber nicht für Gebiete, in denen eine Minderheit weit verstreut leben muß. Aber auch dort gibt es natürlich die Möglichkeit, daß sich staatliche Autoritäten eben nicht in Dinge einmischen, die die Minderheit selbst verwalten kann und die sie auch selbst verwalten soll.
Es geht uns vor allem darum, daß es in vielen Feldern der öffentlichen Angelegenheiten, der öffentlichen Verwaltung, die man als partielle oder personelle Autonomie den Minderheiten getrost selbst überlassen kann und selbst überlassen sollte, besonders dort Fortschritte erzielt werden, wo es um den Schutz und die Förderung der Identität geht, also in Erziehungs-, Bildungs-, Kultur- und Sozialangelegenheiten. Die übrigen Bereiche der öffentlichen Verwaltung brauchen dadurch nicht tangiert zu werden.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt den Resolutionsentwurf des Deutschen Bundestages zum Expertentreffen in Genf. Er betont den Anspruch, daß Minderheitenpolitik Menschenrechtspolitik ist und daß Minderheitenpolitik gemäß dem Wort von Bundesaußenminister Genscher Minderheiten zu Brücken des Verständnisses zwischen den Nationen machen soll. Sie ist Teil einer Politik des Ausgleichs und der Verständigung. Richtschnur muß der Respekt der KSZE-Verpflichtungen durch die Mitgliedsregierungen und auch die Loyalität und der Respekt der Minderheiten gegenüber ihrem jeweiligen Staat sein, gegenüber der Mehrheit ihrer Bevölkerung.
Herr Kollege Duve, Sinti und Roma sind in dem Dokument von Kopenhagen übrigens ausdrücklich erwähnt.
Wir erwarten, daß das KSZE-Expertentreffen in Genf weitere Fortschritte für den Schutz der Minderheiten in Europa bringen wird, für die sich alle Fraktionen des Deutschen Bundestages gemeinsam mit der Bundesregierung einsetzen werden. Selbstverständlich — ich darf das wiederholen — werden wir über den Ausgang und die Fortschritte dieser Konferenz berichten.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordenten der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203301800
Das Wort hat der Abgeordente Hartmut Koschyk.

Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1203301900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es wird der Bedeutung des Minderheitenschutzes für die Verwirklichung einer europäischen Friedensordnung gerecht, wenn der Deutsche Bundestag heute mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/ GRÜNE einen gemeinsamen Antrag zu diesem wichtigen Thema verabschiedet. Denn diese Frage sollte nicht Gegenstand innenpolitischer Auseinandersetzungen sein. Man sollte sie auch im zwischenstaatlichen Bereich bei aller Diskussion um den besten Weg nicht mit Konfrontation und Antagonismus angehen.
Deshalb war es so bedeutend, daß mit dem KSZE-Dokument von Kopenhagen erstmals Staatenverpflichtungen zum Schutz von Minderheiten in einer so breiten und einer so konkreten Form festgeschrieben wurden. Es ist ermutigend, daß das Genfer Expertentreffen zu Minderheitenfragen und die dritte Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE in Moskau diesen Prozeß vertiefen sollen. Es ist sicher auch gut und richtig, daß der Unterausschuß des Bundestages für Menschenrechte und humanitäre Hilfe an diesen Konferenzen mit jeweils einer Delegation teilnehmen wird.
Minderheitenprobleme dürfen und können in Europa nicht nach unterschiedlichen Standards geregelt werden. Ein überall in Europa geltender verbindlicher und einklagbarer Minderheitenschutz muß Bestandteil der künftigen europäischen Rechtsordnung sein. Deshalb ist es auch entscheidend, daß parallel zum KSZE-Prozeß in anderen europäischen Institutionen wie dem Europarat und im Europäischen Parlament sehr wichtige, teilweise allerdings von der Öffentlichkeit unbeachtete Initiativen

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Ja, leider!)

zur europäischen Menschenrechtskonvention oder für eine besondere Minderheitenkonvention bzw. für ein europäisches Volksgruppenrecht gestartet wurden. Denn bei aller Bedeutung des KSZE-Prozesses kommt der Schaffung eines Minderheitsrechtes auf der Ebene des Europarates eine wesentliche stärkere rechtliche Verbindlichkeit zu. Um diesen Prozeß zu unterstützen — das muß man deutlich sagen — , wäre es natürlich auch entscheidend, daß die Bundesrepublik Deutschland das neunte Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention, das die Mög-



Hartmut Koschyk
lichkeit der Individualbeschwerde bei Menschenrechtsverletzungen vorsieht, alsbald ratifiziert.

(Beifall bei Abgeordenten der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Auch hier hat die Bundesrepublik Deutschland einen Nachholbedarf.
Meine Damen und Herren, die Verwirklichung des gesamteuropäischen Minderheitsschutzes ist natürlich mit der künftigen Frage der Struktur Europas und seiner Verfassung auf das engste verbunden. Deshalb muß die Verfassung der Europäischen Union auch einen entsprechenden minderheitenrechtlichen Teil beinhalten. Der europäische Einigungsprozeß verlangt nicht nur Abgabe von Souveränität nach oben, sondern auch Abgabe von Souveränität nach unten. Der international auch für die Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik Deutschland wirkende Bonner Völkerrechtler Christian Tomuschat beschrieb zu Jahresbeginn als Aufgabe künftiger Menschenrechtspolitik Deutschlands, sich für ein notwendiges „Zwischenelement im Völkerrecht" einzusetzen, „wonach eine Volksgruppe zwar einen Status der politischen Autonomie, aber nicht völlig Loslösung aus dem bisherigen Staatsverband verlangen kann". „Für viele Länder" — so fährt Tomuschat fort; wir merken das ja im Hinblick auf Jugoslawien und andere Krisenherde — „würde es geradezu eine Erlösung bedeuten, könnte sie das Völkerrecht auf einen Mittelweg hinleiten, der kompromißhaft die nationale Integrität auf der einen Seite, die Wünsche bestimmter ethnischer Minderheitengruppen nach einem Mehr an politischer Selbstbestimmung unterhalb der kritischen Schwelle der Sezession andererseits zum Ausdruck bringt. "

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Tomuschats Regensburger Kollege Otto Kimminich spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit einer „polyethnischen Staatsorganisation" — ich finde das einen sehr guten Begriff —, um Minderheiten- und Volksgruppenprobleme dauerhaft befriedigend zu lösen.
Wer den Volksgruppen und Minderheiten in Europa einen effektiven Schutz gewähren will — ich glaube, das muß immer eine besondere Förderung einschließen —, der muß ihnen auch ein Repräsentations- und Interaktionsorgan einräumen. Der Vertiefung des Minderheitenschutzes und ihrer Förderung dient es jedenfalls nicht, wenn auf KSZE-Ebene nur über Minderheiten und Volksgruppen geredet wird und sie nur am Rande dieser Tagungen als sogenannte NGOs zu Wort kommen. Für die künftige Struktur Europas bedeutet dies auch, daß sich Heimatregionen von Minderheiten und Volksgruppen in irgendeiner institutionellen Form darstellen und ihre Interessen vertreten können. Hierbei kommt dem Regionalismus eine besondere Bedeutung zu, und die Initiative des bayerischen Ministerpräsidenten Streibl für die 1989 ins Leben gerufene Konferenz „Europa der Regionen" leistet hierzu einen sehr wertvollen Beitrag.
Meine Damen und Herren, der heute zur Debatte stehende Antrag weist auch auf einen sehr wichtigen
Punkt für die Weiterentwicklung eines europäischen Minderheitenschutzes und einer gezielten Förderungspolitik für Minderheiten hin: Die Schaffung sogenannter public funds, die Volksgruppen und Minderheiten in die Lage versetzen, unabhängig von der eigenen Wirtschaftskraft und auch unabhängig von der jeweiligen Gunst nationaler Haushälter ihre Institutionen zu unterhalten und ihre Förderungsprogramme duchzuführen.
Auf die Notwendigkeit derartiger public funds für eine wirksame Minderheitenschutz- und effektive Minderheitenförderpolitik hat der bedeutende angelsächsische Völkerrechtler Lauterpacht bereits 1950 in seiner Schrift „International Law and Human Rights" hingewiesen. Deshalb sollte auch in Genf darüber nachgedacht werden, ob nicht auf europäischer Ebene ein Fonds geschaffen werden sollte, aus dem Institutionen von Minderheiten und deren Programme gefördert werden können. Ich denke beispielsweise daran, im Hinblick auf die schwierige volkswirtschaftliche Situation der Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas auch die notwendigen Mittel für eine effektive Minderheitenförderpolitik aufzubringen. Es wäre sicher besonders wegweisend und, ich meine, auch wichtig, wenn aus einem solchen Fonds auch gemeinsame Programme von Minderheiten aus verschiedenen Staaten im Sinne eines Erfahrungsaustausches und einer Begegnung gefördert werden könnten.
Die Achtung der Rechte von Minderheiten, deren Schutz und aktive Förderung können jedoch nicht nur Angelegenheit des Staates sein. In seiner Botschaft zum Weltfriedenstag mit den Leitwort „Um Frieden zu schaffen, Minderheiten achten" schrieb Papst Johannes Paul II. im Dezember 1988 — ich zitiere — :
Die Verpflichtung, die Verschiedenheit anzunehmen und zu schützen, betrifft nicht nur den Staat oder die Gruppen. Jede Person als Mitglied der einen Menschheitsfamilie muß den Wert der Verschiedenheit unter den Menschen verstehen und achten und ihn auf das Gemeinwohl hinordnen. Ein offener Geist, der bestrebt ist, daß kulturelle Erbe der Minderheiten, dem er begegnet, besser zu begreifen, wird dazu beitragen, Haltungen zu überwinden, welche gesunde gesellschaftliche Beziehungen behindern.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203302000
Herr Abgeordneter Koschyk, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1203302100
Wenn Sie mich noch einen Satz aus dem sehr bemerkenswerten PapstRundschreiben zitieren lassen. —
Und an einer anderen Stelle schreibt der Papst:

(Freimut Duve [SPD]: Das ist keine ganz faire Methode, die Redezeit mit dem Papst auszudehnen!)

— Das zeichnet unsere Fraktion aus, Herr Duve.
Das wachsende Bewußtsein, das man heute auf allen Ebenen für die Lage der Minderheiten wahrnimmt, ist in unserer Zeit ein Zeichen begründeter Hoffnung für die neuen Generationen und für die Erwartungen dieser Minderheitsgrup-



Hartmut Koschyk
pen. Denn die Achtung ihnen gegenüber muß in gewisser Weise als der Prüfstein für ein harmonisches, gesellschaftliches Zusammenleben und als Beweis für die von einem Land und seiner Einrichtungen erreichte gesellschaftliche Reife angesehen werden.
Ich wünsche mir, .. .

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203302200
Also, jetzt ist wirklich Schluß.

Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1203302300
. daß natürlich auch wir als Bundesrepublik Deutschland diese gesellschaftliche Reife zeigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203302400
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Wolfgang Börnsen.

Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1203302500
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich beziehe mich in meiner Intervention auf den Beitrag unseres Kollegen Freimut Duve. Herr Duve, ich teile in großen Zügen Ihre Aussagen. Nur in einem Punkt bin ich anderer Meinung. Sie haben in einer mehr internationalen Sicht klargemacht, daß es gelungene Beispiele für Minderheitenregelungen gibt: in den Vereinigten Staaten, in der Schweiz und in Israel. Ich denke wohl, man sollte und darf nicht vergessen, daß wir in unserem eigenen Land, nämlich in SchleswigHolstein, durch die dort vorgenommene Regelung der deutsch-dänischen Minderheitenproblematik ein ausgesprochen gelungenes Beispiel haben. Als ehemaliger Fehmarner werden Sie wissen, daß über fast 40 Jahre hier ein Modell für eine Minderheitenregelung entstanden ist, über das es sich lohnt, weiter nachzudenken.
Die Bonn-Kopenhagener-Erklärung von 1955 hat bis heute um keinen Deut verändert werden müssen, und sie ist zum Teil auch in die Landessatzung Schleswig-Holsteins eingeflossen, und alle Parteien dort stützen diese Art von Zusammenleben.
Ich glaube, daß es wichtig ist, daß man bei der Konferenz, zu der jetzt sicher viele Regierungsvertreter in Genf zusammenkommen werden, über gelungene Beispiele nachdenkt, wie sie in der deutsch-dänischen Grenzregion vollzogen worden sind, ob im Kindergartenwesen, im Schulwesen, auch in der Darstellung politischer Parteien. Ich würde mir wünschen, daß sich die Bundesregierung am Beispiel Dänemarks orientiert und zu dieser Konferenz — der Staatsminister wird das sicher auch aufnehmen — auch Vertreter und Berater der dänischen Minderheit in Deutschland und auch der sorbischen Minderheit mitnimmt. Ich denke sehr wohl, daß in einer Regierungskommission solche Vertreter, die aus dem eigenen Erleben Beiträge einbringen können für das Gelingen der Konferenz, ein Glücksfall für den Verlauf einer solchen Konferenz sein können. Ihr Kollege Uffe Ellemann-Jensen in Kopenhagen praktiziert das Beispiel mit einem Vertreter der deutschen Minderheit. Ich glaube sehr wohl, daß es notwendig ist.
Lassen Sie mich mit einer kurzen Bemerkung schließen. Wenn die Minderheiten in unserem eigenen Land den Wunsch haben, daß sie nicht nur international vertreten sind, sondern auch bei uns im Grundgesetz ihre Rechte abgesichert werden, dann sollten wir auch offen sein für diese Frage. Das gilt auch für die Überlegung, ein Büro für internationale Minderheiten zu schaffen, wo sie sich wiederfinden können.
Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203302600
Herr Abgeordneter Duve.

Freimut Duve (SPD):
Rede ID: ID1203302700
Herr Kollege Börnsen, ich danke Ihnen sehr für diesen korrigierenden Hinweis. In der Tat wäre ich völlig mißverstanden worden, wenn ich nicht die vielen Beispiele — Sie haben eines der besten und schönsten genannt — mit gemeint hätte, bei denen es sehr gut funktioniert. Ich denke, letztlich ist das auch in den meisten Zeiten Belgiens so, obwohl es da manchmal noch Probleme gab.
Ich wollte mit meinem Hinweis auf die drei Staaten Schweiz, Israel und die Vereinigten Staaten verdeutlichen, daß es dort in ganz heterogenen Gesellschaften — es gab dort sozusagen keine „Hauptgesellschaft" — gelungen ist, unter ganz bestimmten, oft auch tragischen historischen Bedingungen befriedigende Formen zu finden. All die Beispiele, die Sie nennen, sind Beispiele aus einer Region, wo in der Mehrheit die Dänen als Mehrheitsvolk leben und diese Minderheitenrechte für die Deutschen ausgehandelt haben oder wo mehrheitlich die Deutschen oder die Schleswig-Holsteiner, die, wie wir wissen, eine besondere Art sind, leben und sich auch Dänen wohl fühlen. Daß Sie meine Großmutter aus Fehmarn hier erwähnt haben, wird alle Fehmarner sehr freuen.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203302800
Meine Damen und Herren, der Abgeordnete Poppe von der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE hat seine Redebeiträge zu Zusatzpunkt 2, aber auch zu den Zusatzpunkten 3, 4 und 5 nach Abstimmung mit den Geschäftsführern zu Protokoll gegeben *). Sind Sie in Abweichung von der Geschäftsordnung damit einverstanden? — Dann ist es so beschlossen.
Frau Stachowa hat in ihrer Rede den Antrag gestellt, daß die Bundesregierung einen Bericht zur KSZE erstattet. Herr Staatsminister Schäfer hat das unmittelbar zugesagt. Damit ist auch diesem Antrag entsprochen.
Ich schließe somit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der Fraktio-
*) Anlagen 2 und 3



Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
nen der CDU/CSU, SPD und FDP sowie der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache 12/796? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Antrag einstimmig angenommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Ich rufe die Zusatzpunkte 3 bis 5 auf:
ZP3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zur Krise in Jugoslawien
— Drucksache 12/795 —
ZP4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP
Zur Lage in Kosovo
— Drucksache 12/797 —
ZP5 Beratung des Antrags des Abgeordneten Gerd Poppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zur Lage in Kosovo
— Drucksache 12/780 —
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Friedrich Vogel.

Friedrich Vogel (CDU):
Rede ID: ID1203302900
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es fügt sich gut, daß sich diese Debatte an die soeben geführte Debatte anschließt, weil wir damit unmittelbar in einen Fall konkreter Umsetzung dessen, was wir hier erörtert haben, hineinkommen.

(Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Das zeigt die Weisheit des Ältestenrates und des Präsidiums!)

— Das habe ich nie in Zweifel gestellt, Herr Kollege Feldmann.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das kann man auch gar nicht!)

Das liegt schon an der Vorsitzführung im Ältestenrat; das ist doch völlig klar.
Meine Damen und Herren, die Aufmerksamkeit, die der gesamte Deutsche Bundestag den Ereignissen und der Entwicklung in Jugoslawien widmet, wird dadurch unterstrichen, daß die beiden heute zur Beratung anstehenden Anträge von allen drei Fraktionen gemeinsam eingebracht worden sind — auch dadurch, daß wir übereingekommen sind, diese Anträge heute ohne vorherige Ausschußüberweisung zu verabschieden.
Schließlich möchte ich daran erinnern, daß in Deutschland rund 600 000 Menschen aus allen Teilen Jugoslawiens leben und deshalb die Konflikte dort auch bei uns Niederschlag finden.

(Freimut Duve [SPD]: Sehr wahr!)

Das verstärkt zweifellos unser Interesse an Jugoslawien.
Mit unseren Anträgen wollen wir in dreifacher Hinsicht Signale geben. Das erste Signal richtet sich an unsere eigene Bundesregierung. Es macht die Haltung des Parlaments zu den Problemen in Jugoslawien deutlich. Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie ihre Jugoslawienpolitik an dieser Auffassung des Parlaments ausrichtet.
Nach den Ausführungen des Bundeskanzlers zu Jugoslawien in der Haushaltsdebatte am 6. Juni 1991 gehe ich davon aus, daß sich Parlament und Bundesregierung von den gleichen Grundsätzen leiten lassen. Das gilt für den Appell des Bundeskanzlers an alle Verantwortlichen in Jugoslawien, mit Besonnenheit und unter Verzicht auf Gewaltanwendung zu versuchen, zu einem vernünftigen, erträglichen Kompromiß zu kommen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

— Wenn Sie zuviel Beifall klatschen, geht meine Redezeit flöten.

(Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Wir werden uns zurückhalten!)

Das gilt vor allem für folgende zwei Feststellungen des Bundeskanzlers.
Erstens. Nur ein demokratisch erneuertes Jugoslawien, in dem die Menschenrechte — dazu gehören immer auch die Rechte der Minderheiten — respektiert werden, hat Zukunft.
Zweitens. Nur so ist Jugoslawien ein Partner, dem wir und die Europäische Gemeinschaft unsere Zusammenarbeit anbieten können.
Das zweite Signal richtet sich an die Europäische Gemeinschaft und fordert zugleich die Bundesregierung auf, im Sinne der gemeinsamen Auffassung von Bundestag und Bundesregierung die Jugoslawienpolitik der Europäischen Gemeinschaft mitzubestimmen. Ich will nicht verhehlen, daß viele hier im Parlament mit der Jugoslawienpolitik der Europäischen Gemeinschaft bis in die jüngere Vergangenheit hinein höchst unzufrieden gewesen sind.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Durch die ständige Beschwörung der Integrität und territorialen Einheit Jugoslawiens bei gleichzeitiger Absage an Verhandlung und Zusammenarbeit mit solchen Republiken, die durch die Trennung von Jugoslawien entstehen könnten, wurden die mehr und mehr in die Minderheit geratenden serbischen Kommunisten unterstützt, die um der Macht willen zäh am



Friedrich Vogel (Ennepetal)

jugoslawischen Einheitsstaat festhalten und die Unabhängigkeitsbestrebungen der Kroaten und Slowenen zu unterdrücken versuchen. Das hat diejenigen geschwächt, die auf der Grundlage von freiheitlicher Demokratie, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung gewährleisteten Menschenrechten und geschützten Rechten von Minderheiten eine neue Form des Zusammenlebens der sechs Republiken in Jugoslawien finden wollen. Eine solche Politik der Europäischen Gemeinschaft — daran besteht kein Zweifel — findet im Deutschen Bundestag keine Unterstützung. Nach dem Treffen der EG-Außenminister in Dresden Anfang dieses Monats hat es erfreulicherweise den Anschein, daß die Prioritäten der Jugoslawienpolitik jetzt neu gesetzt worden sind.
Die Europäische Gemeinschaft muß in der Tat gegenüber allen Verantwortlichen in Jugoslawien deutlich machen, daß Jugoslawien nur dann auf wirtschaftliche und andere Hilfe der Europäischen Gemeinschaft hoffen kann, wenn die zwischennationalen Streitigkeiten eingestellt werden, überall in Jugoslawien demokratische Verhältnisse geschaffen werden, die Menschenrechte und die Rechte nationaler Minderheiten geachtet werden und im friedlichen Dialog über die verfassungsmäßige Zukunft Einigung erzielt wird.

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Das ist die Voraussetzung!)

Nur dann, wenn diese Voraussetzungen erfüllt werden, ist dem Interesse der Europäischen Gemeinschaft an einem weiteren jugoslawischen Zusammenhalt Genüge getan.

(Dr. Olaf Feldmann [FDP]): So ist es!)

Das dritte Signal des Deutschen Bundestags richtet sich an alle Verantwortlichen in Jugoslawien selbst. Wir fordern sowohl die Politiker der jugoslawischen Bundesorgane als auch die politischen Führungen in den sechs Republiken auf, sich friedlich und in konstruktivem Dialog auf eine neue Grundlage des Zusammenlebens der sechs Republiken zu verständigen. Ich wiederhole, was ich in der Aktuellen Stunde am 21. Februar 1991 gesagt habe:
Unser deutsches wie auch unser gemeinsames europäisches Interesse, das eigene jugoslawische Interesse allemal, muß es sein, daß Jugoslawien im Konsens seiner Republiken als eine freiheitliche demokratische Gemeinschaft konstituiert wird.
Die bisherige Grundlage des Zusammenlebens — davon haben wir uns bei den zahlreichen Reisen nach Jugoslawien überzeugen können — findet nicht mehr die ausreichende Zustimmung aller Völker im Vielvölkerstaat Jugoslawien und hat deshalb keine Zukunft mehr.
Natürlich muß die neue Grundlage des Zusammenlebens in Jugoslawien selbst gefunden werden. Es wäre falsch und hätte auch keine Aussicht auf Bestand, wenn von außen her versucht werden würde, darauf einzuwirken. Aber wir möchten deutlich machen, welche Voraussetzungen in Jugoslawien erfüllt sein müssen, damit wir bereit sind, seinen Wunsch
nach Aufnahme als Vollmitglied in den Europarat, nach wirtschaftlicher Hilfe und nach Assoziierung mit der Europäischen Gemeinschaft zu unterstützen.
Eine neue Einheit Jugoslawiens — so betonen wir in unserem Antrag — muß das Ergebnis freier Selbstbestimmung seiner Völker sein. Das schließt jede Form von Gewaltanwendung, mit der der eine Teil dem anderen Teil seinen Willen aufzuzwingen versucht, aus.
Unabdingbar ist auch unser Verlangen, daß freiheitliche Demokratie, politischer Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, umfassende Gewährleistung der grundlegenden Menschen- und Freiheitsrechte und nicht zuletzt der Schutz des Rechts der Minderheiten in jeder der sechs Republiken auf Wahrung ihrer ethnischen und kulturellen Identität selbstverständlicher Bestandteil der Neuordnung in Jugoslawien werden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Wir sind davon überzeugt, daß die Chance zu einem so erneuerten Jugoslawien noch besteht. Deshalb appellieren wir an alle Verantwortlichen in Jugoslawien, mit gutem Willen diese Chance zu nutzen und Jugoslawien so zu einem vollwertigen Mitglied im neuen Europa zu machen.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD — Ulrich Irmer [FDP]: Das war eine richtig schöne Rede!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203303000
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Peter Glotz.

Prof. Dr. Peter Glotz (SPD):
Rede ID: ID1203303100
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der eine oder andere mag sich fragen, warum wir als Deutscher Bundestag über Jugoslawien debattieren. Herr Kollege Vogel hat schon auf einige Gründe hingewiesen. Die vorliegenden Entschließungen bringen ja selber zum Ausdruck, daß die Völker Jugoslawiens ihren eigenen Weg finden müssen. Wir können und wollen ihnen nicht vorschreiben, wie, in welcher Form sie miteinander leben: in einer Föderation, Konföderation oder gar mehr oder weniger unverbunden. Es steht ja wohl außer Zweifel, daß wir das Selbstbestimmungsrecht unserer Nachbarvölker akzeptieren.
Aber gleichzeitig sind wir betroffen: Jugoslawien möchte der Europäischen Gemeinschaft assoziiert werden, langfristig Vollmitglied werden. Auch beziehen sich diejenigen, die in Slowenien, in Serbien oder in anderen Republiken agieren, ständig auf eine europäische Öffentlichkeit.
Und vor allem müssen wir uns klarmachen: Die Konflikte in Jugoslawien sind Teil eines großes Prozesses, bei dem sich Emanzipation, das Wiederfinden nationaler Identität und auch der Wiederaufstieg eines alten Nationalismus mischen. Deutschland — ich glaube, das ist die übereinstimmende Meinung von



Dr. Peter Glotz
uns allen — ist weder die Schutz- noch die Vormacht Osteuropas oder Südosteuropas. Aber wir sind wohl ein Nachbar, der sich nicht einfach fein heraushalten kann. Aus dieser Geisteshaltung heraus definieren sich die beiden Anträge, die wir heute hier vorlegen.
Meine erste Feststellung betrifft die Ankündigung der Republik Slowenien, Ende Juni aus dem jugoslawischen Staatsverband auszuscheiden und ihre Selbständigkeit zu erklären. Wir haben diese Entscheidung eines Nachbarvolks zur Kenntnis zu nehmen.
Ich möchte dazu aber zwei Bemerkungen machen.
Erstens. Wir müssen daran interessiert sein, daß alle nationalen Entscheidungen so getroffen werden, daß nicht noch mehr Leid, Elend und vor allem wirtschaftliche Not entstehen. Die ökonomischen Folgen nationaler Entscheidungen müssen berücksichtigt und in die Überlegungen einbezogen werden. Wenn wir raten können, dann raten wir, nicht einfach nationale Entscheidungen zu treffen, die über die ökonomischen Interessen der betroffenen Bevölkerung hinweggehen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Zweitens. Wir fordern übereinstimmend alle Betroffenen auf, von Gewaltanwendung abzusehen. Wir fügen hinzu: Ein wichtiges Kriterium für die Beurteilung jedes nationalen Emanzipationsprozesses ist für uns auch, ob die jeweiligen Mehrheits-Völker ihren jeweiligen Minderheiten Achtung und Respekt entgegenbringen oder ob sie das nicht tun. Das ist, wie gesagt, ein ganz wichtiges Kriterium. Wo in einem Zerfallsprozeß staatlicher Einheiten die Gelegenheit benutzt wird, Minderheiten zu drangsalieren und ihrer Rechte zu berauben, sind wir als Deutscher Bundestag auf der Seite der Minderheit.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

Zweifellos muß man die Verhältnisse in den einzelnen Republiken Jugoslawiens sehr deutlich voneinander unterscheiden. Slowenien ist die wirtschaftlich stärkste Republik Jugoslawiens. Der Anteil der Völkerschaften, die nicht zur slowenischen Titularnation gehören, beträgt nur 8 %. Das Verhältnis zu den Minderheiten ist dort befriedet, also erscheint ein Ausscheiden Sloweniens aus dem jugoslawischen Staatsverband vielen Beobachtern — es scheint ja kein Zweifel zu sein, daß das dem Wunsch der Mehrheit des slowenischen Volkes entspricht — als möglich, oft sogar als akzeptabel.
Wir wissen allerdings: Jeder Schritt einer Republik hat Folgen für die anderen. Kroatien hat angekündigt, einen slowenischen Schritt rasch folgen zu wollen. Heute hört man von einer ähnlichen Ankündigung aus Mazedonien. Bei Kroatien ist die Gefahr groß, daß dies rasch zu militanten Auseinandersetzungen zwischen der kroatischen Mehrheit und der serbischen Minderheit führt. Sollten sich die beiden Republiken Slowenien und Kroatien aus dem Staatsverband lösen, muß man davon ausgehen, daß viele der Völkerschaften im Süden nicht allein mit dem stärksten Volk, den Serben, in einem Staatsverband bleiben wollen und daß dies eine Fülle von Konsequenzen, nämlich eine Zerteilung des jugoslawischen Staates, zur Folge hat.
Ich wiederhole ein letztes Mal: Die Deutschen werden sich nicht zum Vormund der jugoslawischen Völker aufwerfen. Aber zu folgenden Feststellungen glauben wir uns schon berechtigt: Auch wenn es langfristig ohne weiteres denkbar ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß die einzelnen Völker Jugoslawiens in einem Europa der Regionen in Selbständigkeit leben und einem solchen Europa der Regionen angehören, müssen wir im gegenwärtigen Zeitpunkt doch für einen jugoslawischen Dialog eintreten.

(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Denn heute und in der unmittelbaren Zukunft steht eine Europäische Gemeinschaft, die den Zusammenhang des jugoslawischen Staatsverbands ersetzen könnte, nicht zur Verfügung. Wir setzen uns deshalb dafür ein, daß der Dialog in Jugoslawien fortgesetzt wird.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

Wir machen gleichzeitig darauf aufmerksam: Die Europäische Gemeinschaft ist kein Netz, in das man sich nach waghalsigen Übungen am nationalen Trapez einfach fallen lassen kann.

(Heiterkeit bei der SPD der CDU/CSU und der FDP — Ulrich Irmer [FDP]: Sehr schön gesagt!)

Nach der Süderweiterung im Prozeß der Assoziierung Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns ist diese Gemeinschaft bei aller Prosperität erheblich belastet. Die Europäische Gemeinschaft ist nicht der Große Bruder, der zur Lösung der Probleme zur Verfügung steht, die aus nationalen Auseinandersetzungen in Osteuropa oder Südosteuropa entstehen.
Meine zweite Bemerkung richtet sich auf die Lage in Kosovo-Metochia. Ich denke, dort liegt der gefährlichste, wenn auch nicht der einzige gefährliche Konfliktherd dieser Region.
Nachdem eine Delegation des Auswärtigen Ausschusses unter Ihrer Leitung, Herr Kollege Stercken, Gespräche mit allen Gruppen im Kosovo geführt hat, sagen wir klar: Die Dispensierung der verfassungsmäßigen Institutionen im Kosovo durch die serbische Staatsmacht ist eine Entrechtung der Albaner im Kosovo. Eine Befriedung wird erst möglich sein, wenn diese Beraubung von Rechten wieder rückgängig gemacht wird.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Uns ist bewußt, daß die albanische Mehrheit im Kosovo zwischen 1974 und 1990 gegenüber der serbischen Minderheit Fehler gemacht hat. Auch wollen wir zu dem staatsrechtlichen Konflikt, ob die Albaner eine Völkerschaft (narodnost) oder ein Volk (narod) sind, nicht Stellung nehmen.



Dr. Peter Glotz
Aber eines sagen wir klar und ohne Umschweife: Die Entlassung von rund 55 000 albanischen Arbeitnehmern, die Entlassung von Ärzten aus Kliniken und von Lehrern aus Schulen, die Einstellung von Finanzzuweisungen an die Gemeinden, an Schulen und andere Bildungseinrichtungen, die Entfernung von albanischem Führungspersonal aus Betrieben, Universitäten, Kliniken und Medien, die Schließung von Tageszeitungen, all dies ist eine Form von Polizei- und Justizterror, der mit den Prinzipien der KSZE nicht in Einklang gebracht werden kann und den wir unter keinen Umständen akzeptieren.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

Wir sagen auch dies: Menschenrechtsverletzungen
— ich unterstreiche das, was der Kollege Vogel ausgeführt hat — und Verfassungskonflikte dieser Art sind ein Hindernis auf dem Weg nach Europa. Wer Mitglied der europäischen Völkergemeinschaft auch institutionell werden will, muß sich an bestimmte Prinzipien halten, die im Kosovo ganz eindeutig verletzt worden sind

(Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Und weiter verletzt werden!)

— und weiter verletzt werden; Sie haben recht, Herr Kollege.
Man kann es auch noch klarer sagen: Die Chance, in den europäischen Institutionen mitzuwirken, hängt von der Bereitschaft ab, die Prinzipien zu akzeptieren, die im Kopenhagener Dokument der KSZE festgelegt sind.
Der Vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP in diesem Haus, Jugoslawien als Vollmitglied des Europarats zu akzeptieren, geht davon aus, daß der wirksame Schutz des Rechts von Minderheiten auf Wahrung ihrer ethnischen und kulturellen Identität zur Grundlage des Zusammenlebens in den einzelnen Republiken gemacht wird.
Wir sagen: Aufnahme als Vollmitglied in den Europarat, wenn diese Voraussetzungen gewährleistet sind. Dann wollen wir sie hereinziehen, aber nur unter der Bedingung, daß dies wirklich geschieht. Lassen Sie uns dies gemeinsam als Parlament festhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP)

Gleichzeitig drängen wir, Herr Staatsminister, die Bundesregierung, einen bedeutsamen und, wie ich einräume, beispiellosen Schritt zu tun. Wir fordern die Bundesregierung auf, auf einer Ministerratskonferenz des Europarats auf die Erörterung der jugoslawischen Probleme zu drängen, obwohl Jugoslawien noch nicht Mitglied ist.

(Ulrich Irmer [FDP]: Die KSZE hat sich gestern damit befaßt! — Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Und sie hat eine Entschließung verabschiedet!)

Denn wir sind der Auffassung: Europa kann nicht bewegungslos verharren, liebe Kollegen von der FDP, wenn in einem Nachbarland wie Jugoslawien die Gefahr von erheblichen Menschenrechtsverletzungen,
von blutigen Konflikten und auch von der Einführung des Faustrechts in gewisser Weise besteht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP)

Wir dürfen uns nicht auf diplomatische Floskeln und unverbindliche Freundlichkeit gegenüber den einen oder auch den anderen beschränken. Wir dürfen auch nicht Begriffe wie Selbstbestimmungsrecht und Souveränität als bequeme Entschuldigung für Nichthandeln und Attentismus benutzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP)

Denn wir sind heute, seit 1989, in einer anderen Situation, als wir Jahrzehnte nach 1945 waren.
Meine Damen und Herren, als die Panzer des Warschauer Paktes in Prag einrollten oder als der ungarische Aufstand niedergeschlagen wurde, mußte der Westen befürchten, daß es, wenn er eingreifen würde, zu einem nuklearen Krieg käme. Das heißt, es waren uns in der Tat die Hände gebunden, es war eine bipolare Welt, es gab zwei Supermächte, und jeder Konflikt, der eine der Supermächte berührte, brachte die Gefahr eines solchen nuklearen Konfliktes mit sich.
Aber diese Zeit ist vorbei. Dies heißt nicht, daß nun beliebig kleine Kriege entfesselt werden dürften oder wir dazu aufriefen, aber es heißt sehr wohl, daß die moralische Verpflichtung, nicht mit den Händen im Schoß dazustehen, für uns heute sehr viel größer ist als vor 1989. Das muß auch die Außenpolitik der Bundesrepublik zur Kenntnis nehmen, und darauf müssen wir gemeinsam reagieren.
Als sich die Delegation des Auswärtigen Ausschusses in Jugoslawien befand, schrieb der Chefredakteur der Zeitung „Polityka" , der gleichzeitig Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des serbischen Parlamentes ist, Alexander Prllya, einen fragwürdigen Artikel,

(Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Mehr als fragwürdig!)

in dem er die Gefahr an die Wand gemalt hat — einen sehr fragwürdigen Artikel, Herr Kollege Feldmann; ich akzeptiere Ihre Korrektur — , die Engländer und die Deutschen würden gemeinsam eine Eingreiftruppe von 70 000 Soldaten bilden, um im Kosovo oder anderswo in Jugoslawien in Konflikten zu intervenieren.
Ich glaube, ich sage mit der Zustimmung des ganzen Hauses, daß das Unsinn ist. Solche Pläne und Absichten bestehen nicht.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste — Norbert Gansel [SPD]: Das ist schlimmer! Es ist Manipulation!)

Ich erlaube mir, eine Zusatzbemerkung hinzuzufügen, bei der ich nicht so ganz sicher bin, daß das ganze Haus zustimmt: Es zeigt uns im übrigen auch, wie rasch in europäischen Konflikten wieder auf antideutsche Ressentiments zurückgegriffen werden kann. Vielleicht dient das als Warnung für manche, die sich einbilden, daß deutsche Truppen in absehbarer Zeit



Dr. Peter Glotz
als Friedensengel und Weltpolizisten große Erfolge feiern könnten.

(Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Aber Herr Glotz, das geht zu weit!)

— Ich habe doch gewußt, daß ich wenigstens eine Bemerkung mache, die nicht auf die volle Zustimmung des ganzen Hauses trifft.

(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Das ist Ihr gutes Recht! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Ich füge jetzt hinzu: An militärische Interventionen oder an pseudomilitärische Interventionen denkt niemand. Das ist unsere gemeinsame Auffassung.

(Zuruf von CDU/CSU: Sehr richtig!)

Wenn ich auf die jugoslawischen Konflikte schaue, dann möchte ich unterstreichen und mit Unterstützung zitieren, was heute der Außenminister der Tschechoslowakei in einem Interview, das in Deutschland veröffentlicht wurde, gesagt hat:
Die Geschichte hat uns im Übermaß darüber belehrt,
— sagt Herr Dienstbier —
daß der ethnische und ideologisch fundierte Nationalstaat die Menschenrechte ebensowenig garantieren kann wie eine moderne Entwicklung. Nur die Idee der Menschenrechte und des citizenship können heute die Basis des Staates sein. Auf Jugoslawien bezogen: Es gibt doch nicht nur religiöse, kulturelle und politische Unterschiede. Es gibt auch ein starkes ökonomisches Gefälle. Daraus folgt die Notwendigkeit der Solidarität zwischen den verschiedenen Republiken.
Meine Damen und Herren, ich halte diese Äußerung des tschechoslowakischen Außenministers für absolut richtig.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Lassen Sie mich abschließend sagen: Die Europäische Gemeinschaft hat in diesen Prozessen, sowenig sie und ihre Mitgliedstaaten direkt involviert sind, eine große Verantwortung. Als Mitglied dieser Gemeinschaft sollten wir sagen: Wir sind am jugoslawischen Dialog interessiert. Wir verurteilen Menschenrechtsverletzungen. Der Weg nach Europa kann nur erfolgreich beschritten werden, wenn die Prinzipien der KSZE eingehalten werden. Aus diesem Grund ersuchen wir die Bundesregierung, im Europarat eine Initiative zu ergreifen und dafür zu sorgen, daß das jugoslawische Thema auf die Tagesordnung gesetzt wird.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203303200
Als nächster hat das Wort der Abgeordnete Dr. Olaf Feldmann.

Dr. Olaf Feldmann (FDP):
Rede ID: ID1203303300
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Entwicklung in Jugoslawien macht uns als Europäern Sorge. Sie macht uns betroffen. Jugoslawien steht vor einer der schwersten Herausforderungen seiner jüngeren Geschichte. Wir haben hier im Hause in der Beurteilung der Situation eine große Übereinstimmung. Während in Europa die Zeichen der Zeit auf Einigung und Zusammenarbeit stehen, droht die jugoslawische Föderation auseinanderzubrechen. Jugoslawien hat in dieser schwierigen Situation einen moralischen und meines Erachtens auch politischen Anspruch auf unsere Hilfe und Solidarität. Diese Hilfe ist eine europäische Aufgabe.
Unser Engagement für eine friedliche Lösung der Krise in Jugoslawien ist keine Einmischung. Die Vorredner haben darauf schon hingewiesen. Ich möchte das ausdrücklich auch für die FDP unterstreichen. Wir mischen uns auch nicht in die Auslegung der jugoslawischen Verfassung ein. Es hat da Irritationen gegeben. Wir können und wollen Jugoslawien nicht vorschreiben, welchen Weg es zur Lösung seiner Krise wählt. Unser wichtigstes Signal ist, daß wir Jugoslawien auf dem von seiner Bevölkerung gewählten Weg unterstützen, soweit dies ein gewaltfreier und demokratischer Weg ist und er die Selbstbestimmung und die Achtung der Menschenrechte garantiert.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Meine Damen und Herren, dies ist keine Frage der Staatsform: Weder führt der zentralistische Staat automatisch zu Menschenrechtsverletzungen, noch lösen selbständige Republiken automatisch alle Probleme. Das ist wirklich keine Frage der Staatsform. Menschenrechte sind unteilbar. Die individuellen Menschenrechte sind mit dem Schutz der Minderheiten untrennbar verbunden. Ohne die Gewährung ihrer nationalen, ethnischen, kulturellen und religiösen Rechte kann es eine friedliche und dauerhafte Lösung der jugoslawischen Krise nicht geben.
Minderheiten können in einem gemeinsamen Europa ein wichtiges Bindeglied zwischen den Staaten und Völkern sein. Wo die Minderheiten unterdrückt werden, entstehen Konflikte und erwachsen damit Gefahren für den Frieden. Der Schutz von Minderheiten ist — das ist auch schon in dem ersten Punkt der heutigen Tagesordnung zum Ausdruck gekommen — eine zentrale Aufgabe einer Friedenspolitik für Europa.
Nicht nur die EG, sondern auch der Europarat und vielleicht mehr noch die KSZE sind die richtigen Gremien, um zu einer gewaltfreien und demokratischen Lösung der Krise beizutragen. Die FDP unterstützt deshalb die Forderung, in diesem europäischen Rahmen eine unparteiische Untersuchung der gegenseitigen Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen im Kosovo anzubieten, wie wir es in unserem Entschließungsantrag gemeinsam vorgeschlagen haben. Der Europarat und die KSZE sind gefordert, eine Plattform für einen Dialog zwischen den verfeindeten und meist sprachlosen Bevölkerungsgruppen zu bieten. Wir begrüßen ausdrücklich, daß sich die Außenministerkonferenz in Berlin mit der Krise in Jugoslawien befassen wird. Die demokratische Bewältigung der jugoslawi-



Dr. Olaf Feldmann
schen Krise ist eine Bewährungsprobe für ganz Europa.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203303400
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hans Modrow.

Dr. Hans Modrow (PDS/LL):
Rede ID: ID1203303500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die anhaltende Zuspitzung der Lage in Jugoslawien ruft allgemein und besonders bei all seinen Freunden Beunruhigung und gewiß auch Sorge hervor. Das friedliche Zusammenleben innerhalb der jugoslawischen Förderation ist auf das ernsteste belastet. Die Gefahr einer Ausbreitung gewaltsamer Auseinandersetzungen wächst von Tag zu Tag. Jugoslawien droht aus einem anerkannten Faktor der europäischen Entspannung und des friedlichen Zusammenlebens der Staaten zu einem Herd von Spannungen zu werden, die auf den gesamten Kontinent ausstrahlen.
Vor diesem Hintergrund stimmt die PDS/Linke Liste den vorliegenden Resolutionsentwürfen in ihrem Wesen zu. Dabei läßt sie sich davon leiten, daß man sich in ihnen zum Völkerrecht sowie zu den gurndlegenden Menschenrechten und zum Schutz der Minderheiten bekennt. Nicht minder wichtig ist es, daß sie auf gewaltfreie Lösung der Krise orientiert sind und all jene Kräfte in Jugoslawien bestärken, die sich für die Vereinbarung einer neuen Grundlage des Zusammenlebens der jugoslawischen Völker einsetzen.
Geht man jedoch vom Völkerrecht aus, dann ist es unbestritten allein Sache der jugoslawischen Völker, über ihre staatliche und gesellschaftliche Ordnung zu entscheiden. Das gilt für den Staatenbund ebenso wie für die einzelnen Republiken. Versuche, dafür ausländische Muster anzubieten, verstoßen am Ende gegen diese elementaren Rechte.
Was Kosovo anbelangt, so ist dort die Lage tatsächlich besonders und äußerst kompliziert. Nationale, politische, ökonomische und soziale Probleme und Widersprüche haben sich zu einem hochexplosiven Gemisch verbunden. Diese Situation erfordert Verständnisbereitschaft aller Seiten, hohe Sensibilität und gewiß auch Augenmaß. Um so mehr sind wir gerade hier verpflichtet, jede Einseitigkeit der Betrachtung zu vermeiden und das Prinzip der Nichteinmischung zu wahren. Damit sind zugleich alle Politiker in Jugoslawien selbst zur Lösung der inneren Probleme herausgefordert, und das auch, um Vertrauen bei den Nachbarn und in Europa insgesamt zu bewahren oder zu gewinnen.
Das Schicksal der Völker Jugoslawiens im Zweiten Weltkrieg bleibt für die Bundesrepublik Deutschland stets eine besondere Herausforderung. Unmittelbar nach dem Überfall der Hitler-Wehrmacht auf die Sowjetunion, der sich in diesen Tagen zum fünfzigstenmal jährt, begann der jugoslawische Volksbefreiungskampf, in dem Hunderttausende von Jugoslawen ihr Leben gelassen haben. Wer sich dessen bewußt ist, wird auch sehr wohl verstehen, daß militärisches Eingreifen von außen keinesfalls geschehen darf.
Angesichts der konflikt- und leidvollen Geschichte der deutsch-jugoslawischen Beziehungen sind die Bundesrepublik und ihre Regierung gefordert, mit Einfühlungsvermögen und Weitblick für ein politisches Umfeld in Europa zu wirken, das es den jugoslawischen Völkern erleichtert, die tiefe Krise gewaltfrei durch friedlichen Dialog zu überwinden und gleichberechtigt an der Gestaltung einer neuen europäischen Friedensordnung teilzunehmen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203303600
Als nächster hat der Abgeordnete Heinrich Lummer das Wort.

Heinrich Lummer (CDU):
Rede ID: ID1203303700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es besteht gewiß gar kein Zweifel daran, daß die Frage der Minderheiten- oder Gruppenrechte die Herausforderung unserer Tage ist. Diese Problematik war lange überlagert — Kollege Glotz hat darauf hingewiesen — , weil es einen Ost-West-Konflikt gab. Mit der Fortnahme der einheitlichen Ideologie und der machtpolitischen Potenzen bricht diese Frage mit besonderer Gewalt auf. Wir haben keine Alternative; wir müssen uns dieser Fragestellung widmen.
Einer der Anträge beschäftigt sich insofern mit dem Kosovo als einem besonderen Problem. Allgemein kann man heute sehr gut darüber reden, und es gibt Papiere genug, die einem den Gedanken nahelegen: Leicht beeinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen. — Kosovo und Jugoslawien insgesamt ist so ein hartes Problem. Man kann daher sagen: Wenn man in der Lage sein wird, die Minderheitenfrage in Jugoslawien zu lösen, dann kann man sie überall lösen. Jeder ist dort irgendwie Mehrheit und irgendwo Minderheit. In Serbien — wir haben es gehört — sind die Albaner Minderheit, aber im Kosovo sind die Albaner die Mehrheit und die Serben die Minderheit.
Wir wollen, daß die Minderheitenrechte dort akzeptiert werden. Kollege Vogel hat davon gesprochen, daß das, was wir tun, ein bißchen Signal sein soll, und das meine ich dann auch. Der Antrag, der den Kosovo betrifft, ist, was die Frage der Verletzung der Menschenrechte betrifft, mit äußerster Zurückhaltung formuliert. Die Aussagen der Kollegen waren zutreffender und härter. Aber wir haben dort erlebt, daß wechselseitig Vorwürfe erhoben werden; jeder beschimpft den anderen als den Bösen und als Verletzer der Menschenrechte. Ich meine, hier muß objektiv festgestellt werden, wer was wirklich tut. Wir wissen das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, aber im Interesse der Wahrheitsfindung und auch im Interesse der Mäßigung soll dort eine Beobachtung stattfinden. Ich finde, es muß durch Präsenz und Beobachtung dauernd eine Selbstrechtfertigung der Serben und der dortigen Behörden erzwungen werden. Das ist der eine Appell, der in diesem Antrag enthalten ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der zweite Gedanke, der auch schon geäußert worden ist, ist der des Dialoges. Wir haben immer wieder erlebt, daß gesagt wird: Mit denen reden wir nicht,



Heinrich Lummer
das sind Separatisten. — Gemeint sind die Albaner. Die Begründung dafür, daß sie ihnen die Autonomie weggenommen haben, wird von daher geliefert, denn sie hätten angeblich die Absicht gehabt, eine eigene Republik zu gründen. Auf der anderen Seite wird gesagt: Mit den Serben reden wir nicht, denn die haben uns die Autonomie genommen; das sind die Bösen.
Das geht nun einmal nicht. Wenn man die Probleme dort lösen will, muß man ohne solche Vorbedingungen zusammenkommen und miteinander diskutieren. Das ist das, was wir deutlich zum Ausdruck bringen wollen. Da sollten wir wirklich unsere guten Dienste anbieten, wo immer das nur möglich ist.
Ich will noch einen Gedanken des Kollegen Glotz aufgreifen. Eine Zeitlang hatte man ja den Eindruck, daß der Ost-West-Konflikt mit seinen Folgen so bequem war. Manche haben sich von daher gesehen auch nicht hinreichend deutlich zu mancher Menschenrechtsverletzung geäußert. Das hätte man mit Worten schon immer tun können. Auch das ist nicht immer geschehen. Hier ist es so gewesen. Unsere Zufriedenheit mit der Regierung und mit dem Europäischen Rat ist da nicht über die Maßen groß

(Freimut Duve [SPD]: Hört! Hört!)

— ja, ja, in dieser Frage jedenfalls nicht — , weil — das ist auch die Bestätigung gewesen — die jugoslawische Zentralregierung bis gestern offenbar davon ausgegangen ist, daß die Europäische Gemeinschaft nachhaltig an der Einheit des Staates festhält. Das haben sie geschrieben; das habe ich so gelesen. Das hat dann auch dazu geführt, daß man sich nicht immer um die internen Fragen gekümmert und dafür Sorge getragen hat, daß sie in richtiger Weise gelöst werden.
Ich finde, es ist ein heilsamer Druck, wenn man sich für die Menschenrechte einsetzt. Jedermann weiß ja, daß wir uns deswegen einmischen dürfen. Wenn die Jugoslawen etwas von uns wollen, dann müssen sie eben auch in Kauf nehmen, dieses internationale Recht akzeptieren zu müssen; dann müssen sie eben ihre Verhältnisse entsprechend ordnen. Wir wollen über sie nicht den Stab brechen und nicht besonders böse sein, aber wir wollen mit Entschiedenheit und Nachdruck dafür eintreten, daß dieses Land die Chance erhält, Mitglied der Gemeinschaft zu werden, aber unter den genannten Voraussetzungen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203303800
Abschließend hat Staatsminister Helmut Schäfer das Wort.

Helmut Schäfer (FDP):
Rede ID: ID1203303900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Entschließungsantrag ist Ausdruck unserer gemeinsamen Besorgnis über die Entwicklung in Jugoslawien. Es ist zugleich ein Signal an alle Kräfte der Vernunft und des Ausgleichs, ihre Anstrengungen für eine friedliche Beilegung des sich immer deutlicher abzeichnenden Konflikts zu verstärken.
Ein Europa, das politisch zusammenwächst, kann
— Herr Kollege Lummer, wenn Sie hier Kritik an der
Bundesregierung üben, sollten Sie das auch zur Kenntnis nehmen — die Gefahr einer Staatskrise und einer wachsenden Gewaltbereitschaft in einem Mitgliedstaat auch der KSZE nicht einfach ignorieren. Zu Recht betont der Entschließungsentwurf daher — ich möchte das hier auch mit Blick auf Belgrad noch einmal unterstreichen — die Notwendigkeit einer Stabilisierung auf der Grundlage der einvernehmlich niedergelegten Grundsätze der Charta von Paris. Ich bin sicher, daß die Lage in Jugoslawien auch bei der heute stattfindenden KSZE-Konferenz in Berlin eine sehr wichtige Rolle spielen wird. Ich bitte Sie auch, sich mit dem, was die KSZE einvernehmlich beschließt, vertraut zu machen. Der Deutsche Bundestag muß auch zur Kenntnis nehmen, was im Kreise von 35 Mitgliedstaaten der KSZE machbar ist.

(Zuruf von der FDP: Wir gehen davon aus, daß sie wesentlichen Einfluß ausüben!)

Herr Kollege Glotz, was den Europarat betrifft, so wird dort bereits ein Schritt des Ministerrates erwogen, der im Hinblick auf den noch nicht erfolgten Beitritt Jugoslawiens unmittelbar an die jugoslawische Regierung gerichtet sein wird und die Voraussetzungen des Beitritts Jugoslawiens im Zusammenhang mit den derzeitigen Geschehnissen noch einmal herausstellen wird. Es ist damit zu rechnen, daß zunächst diese Initiative kommt. Wir müssen prüfen, inwieweit sich der Europarat in einer Diskussion mit einem Nichtmitglied befassen wird.
Die Haltung der Bundesregierung stimmt mit der unserer Partner in der Europäischen Gemeinschaft überein. Sie ist in jüngster Zeit der jugoslawischen Zentralregierung und den Republikspräsidenten mit besonderem Nachdruck vermittelt worden. Diesem Zweck diente auch die Mission von Ratspräsident Santer und Kommissionspräsident Delors Ende Mai.

(Abg. Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Herr Kollege, vielleicht wird Ihre Frage durch das überflüssig, was ich jetzt gleich anschließend sage.

(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Nein!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203304000
Herr Minister Schäfer, gestatten Sie die Zwischenfrage des Abgeordneten Voigt?

Helmut Schäfer (FDP):
Rede ID: ID1203304100
Im Augenblick noch nicht. Ich möchte jetzt gerne meine Argumente fortsetzen dürfen. Dann — das sage ich noch einmal — stellt sich die Frage, ob die Zwischenfrage noch nötig ist.

(Freimut Duve [SPD]: Niemals im Leben hat Karsten Voigt eine überflüssige Frage!)

— Das ist allerdings richtig, Herr Kollege Duve.
Gemeinsam mit den Partnern treten wir für den friedlichen Erhalt gesamtjugoslawischer Strukturen auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten ein. Aber, meine Damen und Herren, ich sage hier auch ganz klar: Über die Formen dieser Strukturen müssen die Nationen Jugoslawiens selbst entscheiden.



Staatsminister Helmut Schäfer
Diese Formel muß — das will ich noch einmal unterstreichen — in allen ihren Teilen gelesen werden. Sie impliziert keineswegs eine bedingungslose Aussage zugunsten der einen oder der anderen Position im innerjugoslawischen Streit. Sie macht vielmehr deutlich, Herr Kollege Voigt, daß nur eine einvernehmliche Lösung ohne Gewalt oder Androhung von Gewalt in Frage kommt — auch im Hinblick auf die innerjugoslawischen Grenzen — und daß sich keine politische Kraft oder Institution dem Dialog über eine mögliche Umgestaltung des jugoslawischen Staates entziehen darf. Darüber hinaus müssen die Rechte der jeweiligen Minderheit respektiert werden.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203304200
Herr Staatsminister Schäfer, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?

Helmut Schäfer (FDP):
Rede ID: ID1203304300
Wenn Sie immer noch eine Frage stellen wollen, gerne!

Karsten D. Voigt (SPD):
Rede ID: ID1203304400
Herr Staatsminister, bei allem Respekt vor Ihrem Sprechzettel

(Ulrich Irmer [FDP]: Unglaublich!)

möchte ich eine ergänzende Frage hinzufügen, nachdem Sie gesagt haben, Sie träten für den Zusammenhalt Jugoslawiens ein. Wenn dies aber nicht der Wille von mehreren Republiken ist — dies ist am heutigen Tage ja die Realität — , sind Sie dann auch bereit, auf die Frage zu antworten, wie sich die Bundesregierung in dem Fall verhält, daß jugoslawische Republiken ihre Selbständigkeit wollen, also nicht in dem Staatsverband bleiben wollen? Sind dann das Selbstbestimmungsrecht, Gewaltfreiheit und Minderheitenrechte Ihre Priorität, oder würden Sie dann auch Gewaltanwendung akzeptieren, um den Zusammenhalt Jugoslawiens zu garantieren?

Helmut Schäfer (FDP):
Rede ID: ID1203304500
Herr Kollege Voigt, zunächst einmal: Sie hatten noch nie die Chance und die Möglichkeit — die ich Ihnen sehr herzlich wünsche — , Staatsminister zu werden. Dann würden Sie auch Sprechzettel ablesen müssen, weil es um sehr konkrete und wichtige Fragen geht, bei denen man nicht so einfach frei in den Raum sprechen kann.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich sage das in diesem Punkte sehr bewußt.
Es hat gestern Demarchen des jugoslawischen Außenministers in Belgrad gegeben.

(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Na ja!)

— Herr Kollege Vogel, ich glaube, wir sollten, wenn wir bei anderen Gelegenheiten Botschafter einbestellen, nicht „na ja" rufen, wenn unser Botschafter einbestellt wird. Das sollte man nicht so ganz herunterspielen. Das gleiche ist in Bonn passiert. Wir sollten in dieser Frage also sehr vorsichtig verfahren.
Herr Kollege Voigt, ich darf Ihnen weiter sagen: Ich habe eben sehr deutlich gemacht, daß wir, gerade weil wir Gewaltanwendung verhindern wollen, hier in einer sehr sensiblen Weise vorgehen. Ich halte es für ganz falsch, wenn Sie jetzt sagen, wir sollten uns
auf Fälle einstellen, die noch gar nicht eingetreten sind, und sollten hier schon Prioritäten nennen.

(Ulrich Irmer [FDP]: Die hoffentlich nicht eintreffen!)

Ich halte das für keine gute Außenpolitik.

(Beifall des Abg. Dr. Peter Glotz [SPD])

Wir sollten die Fälle, die Sie angedeutet haben, vielmehr verhindern. Darauf kommt es an!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU — Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Sehr gut, Herr Staatsminister!)

— Danke schön. Auch ein Staatsminister bedarf gelegentlich des Beifalls. Ich bin zutiefst beeindruckt.

(Ulrich Irmer [FDP]: Der Staatsminister ist immer besser, wenn er vom Sprechzettel abweicht! Dann läuft er zu Form auf!)

Meine Damen und Herren, ich darf in meiner Rede fortfahren: Beim Recht der jeweiligen Minderheiten sind das Recht auch der nichtserbischen Nationen auf autonome Gestaltung ihrer wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in einem Gesamtjugoslawien zu sehen, aber auch die Rechte der jeweiligen Minderheiten in den einzelnen Republiken, z. B. auch der serbischen Minderheiten in Kroatien.
Ein völliger Zerfall Jugoslawiens würde dagegen — darüber müssen wir uns doch wohl klar sein — auch historische und kulturelle Bindungen zerreißen. Eine für alle Parteien befriedigende Regelung der Minderheitenproblematik würde in ihren verschiedenen Erscheinungsformen bei einem solchen totalen Zerfall erschwert.
Wir glauben, daß der Kompromißvorschlag der Präsidenten von Bosnien/Herzegowina und Mazedonien den Weg für eine Fortsetzung des innerjugoslawischen Dialogs aufzeigt. In der Zwölfer-Erklärung vom 8. Juni haben wir gemeinsam mit unseren Partnern die Bereitschaft der Republikspräsidenten begrüßt, auf dieser Grundlage weiterzuverhandeln. Nach wie vor verdienen die Bemühungen der jugoslawischen Zentralregierung als der letzten verbliebenen Klammer um einen politischen Konsens auch unsere Unterstützung.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß sagen: Die Bundesregierung begrüßt das in den beiden vorliegenden Entschließungen dokumentierte Interesse des Bundestages an der Entwicklung Jugoslawiens ungeachtet der Tatsache, daß der Bundestag den Akzent stärker auf die Autonomie der einzelnen Republiken gelegt hat. Ihre Entschließungen sowie die Reisen des Auswärtigen Ausschusses und einzelner Abgeordneter fügen sich in das Bemühen der Regierung, zu einer friedlichen Beilegung des Konfliktes beizutragen.
Eine Entschließung ist ausschließlich dem Kosovo gewidmet. Ich darf dazu sagen, daß wir die Menschenrechtslage dort weiterhin als unbefriedigend und besorgniserregend ansehen. Was für den Konflikt um die Neuordnung Jugoslawiens gilt, gilt auch im Kosovo. Jede Lösung muß auf der Grundlage von Gewaltverzicht, Demokratie und Menschenrechten gefunden werden. Die Europäische Gemeinschaft ist be-



Staatsminister Helmut Schäfer
kanntlich bereits tätig geworden, und zwar mit Stufe I des CDH-Mechanismus, der „menschlichen Dimension" also, im vergangenen Jahr. Wir haben gesagt: Die zweite Stufe muß angewendet werden, wenn sich die Lage im Kosovo nicht verändert. Es ist also nicht richtig, wenn gesagt wird, daß wir hier nichts täten. Wir sind aber dafür dankbar, daß Sie uns bei unserem Tun kräftig unterstützen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203304600
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP sowie der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN zur Krise in Jugoslawien auf Drucksache 12/795. Wer stimmt für diesen Antrag? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Damit ist der Antrag einstimmig angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP zur Lage in Kosovo auf Drucksache 12/797 (neu) ab. Wer stimmt für diesen Antrag? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Wir stimmen jetzt noch über den Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN zur Lage in Kosovo auf Drucksache 12/780 ab. Wer stimmt für diesen Antrag?
— Die GRÜNEN sind nicht da. Wer stimmt dagegen?
— Wer enthält sich? — Damit ist der Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN bei Abwesenheit der GRÜNEN abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß)

zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Einrichtung eines baltischen Informationsbüros in der Bundesrepublik Deutschland
zu dem Antrag des Abgeordneten Gerd Poppe und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN
Einrichtung eines baltischen Informationsbüros in der Bundesrepublik Deutschland
— Drucksachen 12/164, 12/166, 12/673 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Reinhard Frhr. von Schorlemer Gert Weisskirchen (Wiesloch)

Dr. Olaf Feldmann
Gerd Poppe
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.
Das Wort hat der Abgeordnete Gert Weisskirchen.

Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1203304700
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das innere Band zwischen dem, worüber wir soeben diskutiert haben, und dem, worüber jetzt zu diskutieren sein wird, ist offenbar. Was in Jugoslawien vor sich geht, ist nicht identisch, aber von den strukturellen
Zusammenhängen her durchaus vergleichbar mit der Entwicklung in der Sowjetunion, die sich in einem Zwischenstadium befindet. Es käme darauf an, zu erkennen, was die eigentliche Ursache für die Implosionen jener Strukturen in Jugoslawien und der Sowjetunion sind. Das innere Band dieser Implosionen hat damit etwas zu tun, daß sich ein falscher Internationalismus entwickelt hat, der in Wirklichkeit kein Internationalismus war. Vielmehr hat sich die Dominanz einer bestimmten Gesellschaftsschicht und Gesellschaftsstruktur, ja, manchmal sogar nur einer Nation, in solchen sich international nennenden Konglomerationen gegenüber den anderen durchzusetzen versucht. In dem Moment, wo es Freiheitsbewegungen und Freiheitsbestrebungen möglich wird, sich zu entfalten, bricht das Ganze zwangsläufig zusammen, nachdem die großen Fragen — vorhin ist das schon angesprochen worden — des aufgebauschten OstWest-Konflikts in sich zusammengebrochen sind, weil eben der Ost-West-Konflikt, soweit er auf dem Widerspruch der beiden atomaren Supermächte begründet war und Bestand hatte, in sich zusammengefallen ist.
Erst ein halbes Jahrzehnt ist es her, daß Michail Gorbatschow, der große Häretiker unserer Zeit, mit unerhörtem Mut mit der Ideologie, die sich längst überlebt hatte, und mit einer Praxis, die schon in der Stunde ihrer Geburt den Keim des Unterganges in sich trug, gebrochen hat. Seither ist der real existierende Sozialismus implodiert. Seither haben die Menschen, wie Timothy Garton Ash treffend bemerkt hat, ein Jahrhundert abgewählt. Staunend waren wir meist Beobachter eines Prozesses, der diejenigen, die in den Gefängnissen einsaßen, in die Regierung schleuderte. Die Macht der Ohnmächtigen, die Gewalt einer ethischen Revolution brach sich Bahn.
Manchmal frage ich mich bis zum heutigen Tag und bis zur heutigen Stunde immer noch: Warum eigentlich bleibt unsere Entsprechung im Westen Europas gegenüber dieser ethischen Revolution aus? Vielleicht deswegen, weil wir etwas Angst und Sorge haben, daß sich nicht nur die Träume, die auch eines der inneren Bande dieses gemeinsamen Europa sind, sondern möglicherweise auch die Alpträume wiederholen könnten.
Vielleicht kann man in diesem Zusammenhang auch sagen: Einer dieser Alpträume ist gewiß der Nationalismus, den wir eben schon in bezug auf Jugoslawien angesprochen hatten, der auch in den baltischen Republiken deutlich spürbar wird; daran gibt es keinen Zweifel.
Ich meine, wir müssen noch einmal neu darüber nachdenken, was Nationalismus eigentlich bedeutet. Nationalgefühl ist, denke ich, die erste Form der Rebellion gegen den Terror und gegen den durch Terror aufgezwungenen Versuch der Zerstörung der Identität von Völkern, Kulturen und Glaubensgemeinschaften sowie des regional gewachsenen Bewußtseins der Zusammengehörigkeit.
Dieses Nationalgefühl wird dann in Nationalismus hineingleiten können und wird dann regredieren, wenn der Prozeß der Befreiung von Unterdrückung ethnisch verkürzt und/oder zugleich von dem Prozeß



Gert Weisskirchen (Wiesloch)

der Demokratisierung sowie der gesellschaftlichen Reformen abgetrennt wird.
Ich finde, daß Jiři Dienstbier in seinem Interview, das vorhin schon einmal zitiert worden ist, sehr zu Recht gesagt hat: Es kommt darauf an, die Gesellschaften der verschiedenen Länder zu stabilisieren. Wenn sie zusammenbrechen und es auf staatlicher Ebene zur Balkanisierung kommt, wird das den Westen hundertmal mehr kosten, als wenn er jetzt in eine sichere gesellschaftliche Entwicklung investiert.
Das ist der zentrale Punkt. Ich finde, wir müßten von uns aus erkennen, daß gerade die Entwicklung in den baltischen Staaten etwas mit unserer eigenen Vergangenheit, mit der der Deutschen zu tun hat. Denn diese Entwicklung, die mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt von 1939 etwas zu tun hat, müßte von uns verlangen, daß wir als Deutsche, als Bundesrepublik Deutschland, einen Beitrag dazu leisten, daß diese Emanzipationsprozesse, die da stattfinden, so gelingen, daß Freiheitsbewegungen niemals mehr in nationalistische Bewegungen umkippen können. Vielmehr kommt es darauf an, die Nationenwerdung, die dort jetzt notwendig stattfindet, von Anfang an die Demokratisierungsprozesse zu binden. Wenn das nicht gelingt, dann allerdings sehe ich die große Gefahr, daß Europa vielleicht wieder in eine — Stichwort von Jiři Dienstbier — Balkanisierung zurückfallen könnte. Das müssen wir verhindern!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir müssen von Beginn an die Nationenwerdung, den Freiheitsprozeß und die Demokratisierung zusammenbinden. Das kann auch gelingen. In den baltischen Republiken besteht zumindest die große Chance, daß dieser Prozeß gelingt. Dazu müssen wir einen Beitrag leisten.
Der gemeinsame Antrag aus dem Auswärtigen Ausschuß, den wir jetzt dem Bundestag vorlegen, ist ein ermutigendes Signal, daß wir erkannt haben, was unsere Aufgabe ist, nämlich mindestens jetzt dafür zu sorgen, daß die Interessen der baltischen Republiken, der baltischen Staaten bei uns einen Platz finden, an dem sie zur Geltung kommen können.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich möchte das noch mit einer Bitte verknüpfen. Wenn wir über die Gestaltung dieses Büros noch reden werden, sollten wir uns von Beginn an folgendes klarmachen, auch gegenüber unseren Partnern im Baltikum: Diese Informationsbüros hier und nachher das Goethe-Institut auf der anderen Seite wollen eine Einladung an einen offenen und öffentlichen friedvollen Diskurs sein, der im Baltikum geführt werden muß, damit die Probleme der Nationalitäten, die es dort gibt, sich eben nicht mit den sozialen Konflikten vermischen und möglicherweise in Chauvinismus abgleiten können.
Wir müssen dafür sorgen, daß wir — darüber haben wir vorhin geredet — alle Minderheiten, die Russen, die Juden, die Letten — alle, die im Baltikum beieinanderleben und die selber sagen: Wir wollen jetzt endlich das Recht auf demokratische Selbstbestimmung haben — , zusammenführen und mit ihnen die Probleme bewältigen, damit am Ende ein gemeinsames Europa geschaffen wird, in dem wir eine Heimat für alle bieten können.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203304800
Das Wort hat der Abgeordnete Sauer.

Helmut Sauer (CDU):
Rede ID: ID1203304900
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Aus zahlreichen Beiträgen heute morgen ist hervorgegangen, daß sich Europa mitten in einem gewaltigen Prozeß der Umstrukturierung und der Veränderungen befindet. In Ost und West werden jetzt Weichen gestellt, und Entscheidungen von großer Tragweite sind notwendig.
Wer von uns hätte es für möglich gehalten, daß z. B. in der Sowjetunion aus Leningrad wieder Sankt Petersburg werden würde und daß am ersten Osterfeiertag das sowjetische Fernsehen seine Sendung mit dem alten russischen Gruß „Christus ist auferstanden" beginnen würde?
Andererseits sehen wir auch — wir stehen fassungslos und voller Abscheu davor — , Ereignisse, wie sie sich in Wilna und in Riga ereignet haben. Dort wurden erneut mit brutalster Militärgewalt Menschenrechte verletzt, ja, es mußten zahlreiche Todesopfer beklagt werden.
Im Baltikum fragen sich viele, wie lange die westlichen Staaten dem diplomatischen Druck der Sowjetunion noch nachgeben wollen. Sie fragen mit Recht, wann denn endlich den vielfachen Sympathiekundgebungen auch Taten folgen werden. Sie fragen weiter, wann sich die Staaten der Welt denn daran erinnern wollen, daß Lettland, Estland und Litauen freie Staaten und Mitglieder des Völkerbundes, der Völkergemeinschaft nach dem Ersten Weltkrieg, gewesen sind. Darum von dieser Stelle auch ein Dankeschön an die dänische Regierung, die bei der KSZE-Konferenz in Berlin die Balten wenigstens in ihre Reihen aufgenommen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Heute ist der Deutsche Bundestag gefordert, einer gemeinsamen Bitte der drei baltischen Staaten nachzukommen, ein Informationsbüro hier bei uns einzurichten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland hat Schuld auf sich geladen; denn durch den Pakt der Nationalsozialisten mit den Kommunisten, den sogenannten Hitler-Stalin-Pakt, wurde es der Sowjetunion auch durch uns ermöglicht, die baltischen Länder zu annektieren, die Menschen politisch zu verfolgen, die regionalen Strukturen zu zerstören, kulturelle Eigenständigkeiten zu vernichten, eine Überfremdung ohne Rücksicht auf bisherige Tradition durchzuführen und historische Bindungen an Europa zu zerschneiden.
Ich könnte noch vieles aufführen, was meinem Kollen Scharrenbroich und mir im Frühjahr dieses Jahr in Lettland vorgetragen worden ist. Wir beide waren Wahlbeobachter im livländischen Riga und im kurländischen Mitau, das heute Jelgava heißt.



Helmut Sauer (Salzgitter)

Man sucht das Gespräch mit uns Deutschen, mit allen Europäern. Ob es der Parlamentspräsident, Vertreter der Parteien, die evangelische und die katholische Kirche oder die Gewerkschaft waren, alle haben uns immer wieder diese Bitte nach verstärkten Kontakten vorgetragen. Sie erläuterten uns dabei auch die Arbeitsweise schon bestehender baltischer Informationsbüros in skandinavischen Ländern.
Man bat also darum, ein solches Büro auch hier in Bonn in der Bundesrepublik Deutschland einzurichten. Dieses Büro soll der Vermittlung, der Förderung und Aufrechterhaltung von Kontakten zwischen Institutionen und Organisationen, Wirtschaftsunternehmen und kulturellen Einrichtungen bei uns und den entsprechenden Stellen im Baltikum dienen. Dadurch sollen Informationen und Kontakte in beide Richtungen möglichst direkt vermittelt werden. Sie können dies den Bundestagsdrucksachen 12/164 und 12/166 entnehmen.
Wir haben darüber in den zuständigen Gremien lange debattiert. Denn es waren ja auch diplomatische und völkerrechtliche Fragen hierbei zu erörtern. Wir sind dabei zu einer großen Gemeinsamkeit gekommen, und zwar nicht nur hinsichtlich der Errichtung eines solchen baltischen Büros hier bei uns, sondern auch hinsichtlich der Einrichtung eines Goethe-Instituts dort in den baltischen Staaten. Diese Vorhaben entnehmen Sie bitte der Bundestagsdrucksache 12/673.
Wir haben uns fraktionsübergreifend für diese Schritte entschieden und bitten die Bundesregierung, Herr Schäfer, diesen Forderungen des Parlaments nachzukommen.
Wir sind der Auffassung, daß im Geist der KSZE-Akte, nach den Prinzipien von Helsinki und der Charta von Paris die baltische Frage keine innere Angelegenheit der Sowjetunion ist,

(Beifall bei der CDU/CSU)

auch wenn sich die Sowjetunion über 50 Jahre lang permanent und häufig gewalttätig in die inneren Angelegenheiten der baltischen Staaten eingemischt hat.
Die Unabhängigkeit der baltischen Staaten und ihre Zukunft sind nach wie vor und bleiben weiterhin internationale Probleme. Gerade wir Deutschen sollten mithelfen, Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Selbstbestimmungsrecht und Gerechtigkeit auch für die Menschen in Litauen, Lettland und Estland zu erreichen.
Darum bitte ich namens der CDU/CSU-Fraktion um Annahme dieser gemeinsamen Beschlußvorlage gemäß Drucksache 12/673.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203305000
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. von Teichman.

Dr. Cornelia Christiane von Teichman (FDP):
Rede ID: ID1203305100
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Heute treten wir ein weiteres Mal zusammen, um das Thema Baltikum zu erörtern. Aus unserer historischen Verantwortung für
die baltischen Völker sprechen wir heute über eine Form der Zusammenarbeit und Mithilfe, die ihnen ermöglichen soll, sich im Ausland darzustellen und zu artikulieren. Dabei stehen wir im Spannungsfeld zwischen einer Sowjetunion, die um ihre geschichtliche Rolle und um ihre nationale Existenz ringt, und einem Teil Europas, der uns kulturell und menschlich auf besondere Weise verbunden ist.
Unserer Unterstützung der baltischen Völker bei ihrem Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit liegt nicht zuletzt auch die Verantwortung zugrunde, die gerade uns Deutschen durch die geheimen Zusatzprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 auferlegt ist. Genauso wie dieser Pakt für uns eine ganz bittere Hypothek aus dunkler Geschichte ist, belastet dieses Erbe die heutige Sowjetunion, die sich um Rechtsstaatlichkeit, um Demokratisierung und um Liberalisierung bemüht. Diese Erblast müssen wir gemeinsam bewältigen. Sie verpflichtet sowohl die Sowjetunion als auch die Bundesrepublik, gemeinsam für die Folgen der Vergangenheit zu haften und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])

Die Lösung der deutschen Frage war ohne die Sowjetunion nicht möglich. Auch die baltische Frage kann nicht gegen, sondern nur mit der Sowjetunion gelöst werden.

(Zustimmung bei der FDP)

In diesem Sinne sollten alle Anstrengungen unternommen werden, ernsthafte Verhandlungen zwischen gewählten Vertretern der baltischen Völker und den politischen Kräften der Zentrale in Moskau zu fördern. Ziel sollte eine Lösung sein, die eingebettet ist in eine Gesamtentwicklung eines demokratischen, eines friedlichen und eines freiheitlichen Europas.

(Zustimmung bei der FDP)

Manche mögen meinen, daß die Geduld der Balten überstrapaziert sei. Es hilft aber wenig, meine Damen und Herren, historischen Entwicklungen ungeduldig vorzugreifen. Brachialgewalt nützt niemandem. Wir verurteilen sowohl den Einsatz des sowjetischen Militärs im Baltikum als auch radikale Maßnahmen von baltischer Seite gegen sowjetische Institutionen.

(Zustimmung bei der FDP)

Grundlage für jeden Fortschritt, Grundlage für jede Annäherung ist gegenseitige Information. Auch die Sowjetunion sollte an objektiven Informationen aus dem Baltikum ein Interesse haben. Umfassende Informationen sind Teil des Veständigungsprozesses, in den alle eingebunden werden müssen. Daher halten wir die Einrichtung baltischer Informationsbüros für sinnvoll und wünschenswert. Sie fördern den politischen, den wirtschaftlichen, den kulturellen und sozialen Dialog, und daran, meine Damen und Herren, muß uns allen gelegen sein.
Es muß aber nicht Aufgabe der Bundesregierung sein, derartige Informationsbüros zu finanzieren. Wir Liberale würden es begrüßen, wenn nicht nur Forde-



Dr. Cornelie von Teichman
rungen an den Staat gestellt würden. Ermutigen wir doch auch private Initiativen!

(Zustimmung bei der FDP)

So sind z. B. Finanzierungsmodelle über Stiftungen denkbar. Wir alle wissen, daß das Informationsbüro in London z. B. durch das Baltic World Council finanziert wird und auch funktioniert.
Die baltischen Gesellschaften haben ihren Oberlebens- und Durchsetzungswillen über Jahrzehnte bewiesen. Geben wir ihnen die moralische Unterstützung und wirken wir darauf hin, daß eine friedliche Lösung der Probleme gefunden wird!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203305200
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Modrow das Wort.

Dr. Hans Modrow (PDS/LL):
Rede ID: ID1203305300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits bei der Erörterung dieser Frage im Februar habe ich hier im Bundestag betont, daß es für die PDS/Linke Liste keine wesentlichen Einwände gegen ein Informationsbüro gibt, wenn es durch seine Tätigkeit einen solchen Namen auch verdient. Das heißt, es sollte darauf hinwirken, die kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den baltischen Republiken zu vertiefen, die Kontakte zwischen den Menschen zu fördern und einen sinnvollen Informationsaustausch zu gewährleisten. Keinesfalls aber sollte es Elemente einer offiziellen Vertretung dieser Republiken in der Bundesrepublik Deutschland an- oder wahrnehmen.
Es bleibt unsere feste Überzeugung, daß von außen her kein Fakt geschaffen werden sollte, der wie eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Sowjetunion wirken könnte. Jedes Zeichen dieser Art wäre für die deutsch-sowjetischen Beziehungen wie für europäische Angelegenheiten wenig dienlich. Die inneren Probleme der Sowjetunion sind in der Tat widersprüchlich und tragen auch dramatischen Charakter. Die Anstrengungen Gorbatschows bleiben weiter auf eine friedliche innere Lösung der Probleme gerichtet. Dazu wird Dialog geführt. Auf diesem Gebiet werden auch umfassende Aktivitäten entfaltet.
Außenpolitik sollte möglichst in jeder Phase berechenbar und gerade jetzt für die Lösung der inneren Probleme der Sowjetunion hilfreich sein. In der Sowjetunion steht der neue Unionsvertrag zur Entscheidung an. Nach dem vorliegenden Entwurf werden auch die Unionsrepubliken Außenkontakte verstärken. Auch wenn sich die baltischen Republiken am Unionsvertrag nicht beteiligen, ist die Gestaltung der inneren Beziehungen noch nicht gelöst. Gewiß werden sich künftig unsere Kontakte und der Austausch mit den Teilrepubliken der Sowjetunion ausweiten und verstärken. Es werden neue Formen der Zusammenarbeit entstehen. Das bringt vielfältige neue Erfordernisse für die Bundesrepublik und wohl auch für die Bundesländer mit sich.
Das alles sollte den deutsch-sowjetischen Beziehungen nützlich sein, Geist und Buchstaben der abgeschlossenen Verträge entsprechen und die partnerschaftlichen Beziehungen sowohl stärken als auch erweitern.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203305400
Nun hat das Wort der Abgeordnete Dr. von Stetten.

Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1203305500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben das Wort „historisch" in den vergangenen achtzehn Monaten häufig gebrauchen dürfen. Nun will ich den heutigen Tag, an dem wir die Einrichtung eines baltischen Informationsbüros in der Bundesrepublik Deutschland beschließen, nicht dazu mißbrauchen. Aber es ist ein Schritt zu einem wirklich historischen Tag, dem Tag, an dem die baltischen Republiken Litauen, Lettland und Estland wirklich frei werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist erfreulich, daß wir in diesem Ziel über alle Parteigrenzen hinweg einig sind. Das wurde auch bei der Gründung des deutsch-baltischen parlamentarischen Freundeskreises deutlich, als letzte Woche fast einhundert Mitglieder des Deutschen Bundestages mit baltischen Freunden zusammentrafen. Es gibt keine vergleichbare Initiative in anderen westlichen Ländern. Ich bin stolz darauf, daß damit unsere besondere Verantwortung für diese drei Länder eindrucksvoll dokumentiert wurde. Das wurde auch in den drei baltischen Ländern lebhaft begrüßt.
Wir wünschen uns deutlichere Signale von der Außenpolitik, Herr Schäfer, und hätten uns für die Länder einen offiziellen Beobachterstatus bei der heute beginnenden KSZE-Konferenz in Berlin gewünscht. Aber immerhin: sie sind dabei.
Wenngleich Geschichte, Herkunft und heutige Bevölkerungszusammensetzung der drei baltischen Republiken unterschiedlich waren und sind, haben alle drei Länder ähnliche Schicksale erlitten und waren schicksalhaft Spielball zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Die in den Jahren 1918 bis 1920 erkämpfte Freiheit verloren alle drei 1940 nach dem Hitler-Stalin-Pakt durch Okkupation und anschließende Zwangsmitgliedschaft als Republik in der Sowjetunion. 1941 wurden sie durch Deutschland besetzt, nach der Rückeroberung 1944/45 wieder durch die Sowjetunion. In allen vier Phasen haben die Länder nicht nur das Übliche eines grausamen Krieges erlebt, sondern wurden in vier Schüben ihrer Intelligenzschicht beraubt. Nachdem sie zunächst 1918 und 1921 den ersten Teil der deutschen Oberschicht vertrieben, verließ der Rest der deutschen Schicht durch die Umsiedlung das Baltikum 1938/39. 1940 wurden über hunderttausend Litauer, Letten und Estländer von der Sowjetarmee nach Sibirien und anderswo verschleppt und in den Jahren 1941 bis 1944 Hunderttausende von Juden von der deutschen Besatzungsmacht deportiert.

(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Und ermordet, kann man nur ergänzend hinzufügen!)

— Ich will dem nicht widersprechen, Herr Kollege Voigt.



Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Den Rest der Intelligenzschicht ereilte 1945 bis 1949 bei neuen Deportationswellen der Sowjetunion das gleiche Schicksal. Erst mühsam haben sich die Völker davon erholt.
Die Okkupation und Einverleibung in die Sowjetunion wurde vom Westen niemals anerkannt, und so wollen sie jetzt ihre Freiheit, und sie wollen sie gleich. Wir von der Bundesrepublik Deutschland müssen sie unterstützen. Wir, die wir die Freiheit unserer Mitbürger in den fünf neuen Ländern erst seit einem Jahr wieder zurückerhalten haben, sollten Verständnis für die Ungeduld haben.
Dennoch versuche ich, Strömungen entgegenzuwirken, wenn der Präsident der Sowjetunion, Gorbatschow, in unqualifizierter Weise angegriffen wird. Ich sage allen meinen Gesprächspartnern — und dies waren insbesondere auch die führenden litauischen Politiker — : Ohne Gorbatschow und seine Politik in den letzten Jahren gäbe es kein Thema Baltikum, würden wir als Parlament nicht über die Freiheit dieser Menschen diskutieren und würden wir heute nicht über ein Informationsbüro als Vorläufer von drei Botschaften entscheiden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich bin der Meinung, daß die Freiheit der drei Völker nur mit Gorbatschow — und sei es, damit er sein Gesicht nicht verliert, durch eine finnische Lösung — zu erreichen ist und nicht gegen ihn und natürlich jetzt auch mit Jelzin. Es darf keinen blutigen Januar 1991 mehr geben, und die Übergriffe auf baltische Einrichtungen, wie sie noch in den letzten Wochen durch sowjetische Behörden stattfanden, müssen aufhören. Gorbatschow könnte seine historische Leistung für Frieden und Freiheit mit der Freiheit der drei baltischen Staaten krönen, und wir tragen heute mit unseren Beschlüssen ein Stückchen dazu bei.
Es ist noch ein steiniger Weg, aber der Bundestag hat die Verantwortung der Deutschen erkannt. Wir bitten und fordern den Kanzler und den Außenminister auf, wann immer sie Möglichkeiten haben, mit sowjetischen Gesprächspartnern diese Frage zur Sprache zu bringen, auch im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Zukunftsplänen und dem ständigen Hinweis, daß die völkerrechtliche Situation dieser drei Länder anders ist als die der übrigen sowjetischen Republiken, weil die Einverleibung 1940 völkerrechtlich unwirksam ist.
Die drei baltischen Staaten könnten als wirtschaftlicher Katalysator zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der künftigen Sowjetunion dienen und damit dem Endziel, dem vereinten Haus Europa, nutzen. Mit der hoffentlich baldigen Eröffnung der Informationsbüros soll auf diesem Weg ein Signal gesetzt werden.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203305600
Und nun hat das Wort der Staatsminister Dr. Helmut Schäfer.

Helmut Schäfer (FDP):
Rede ID: ID1203305700
Vielen Dank. „Doktor" ist etwas zu hoch gegriffen. Ich warte immer noch auf den Ehrendoktor. Der ist mir bisher noch nicht zuteil geworden.

(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Das könnte Ihnen so passen, ohne jede Anstrengung!)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf, weil die Bundesregierung wiederholt angesprochen worden ist, noch einmal auf das zurückkommen, was ich hier am 28. Februar schon einmal gesagt habe: Der Einrichtung baltischer Informationsbüros in der Bundesrepublik steht nichts im Wege, wenn sie nach den Regeln des Privatrechtes, des Vereinsrechtes sowie des Ausländerrechtes organisiert wird, wie es z. B. auch in Polen der Fall sein wird. Das heißt allerdings auch, daß ein diplomatischer Status, fiskalische Privilegien sowie Betrauung mit quasikonsularischen Aufgaben ausgeschlossen sind. Ich muß dies hier noch einmal wiederholen.
Erlauben Sie mir, dies zu erläutern: Die Bundesregierung hat, wie Sie wissen, die Annexion der baltischen Staaten niemals anerkannt. Sie hatte bei der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion einen Vorbehalt hinsichtlich des beiderseitigen territorialen Besitzstandes ausgesprochen und ihn seither stets berücksichtigt. Dieser Vorbehalt gilt weiter. Es ist aber unbestreitbar und unbestritten, daß seit den Republikwahlen in allen drei Staaten eine qualitativ neue Lage eingetreten ist. Wir haben es — und da ist doch gar kein Zweifel — heute dort mit demokratisch legitimierten Regierungen und Parlamenten zu tun, die danach streben, das Selbstbestimmungsrecht der baltischen Völker zu verwirklichen.
Es ist Ihnen bekannt — und ich verstehe insofern nicht die Kritik, die einige hier geäußert haben —, daß die Bundesregierung gemeinsam mit ihren Partnern in der EG nachdrücklich auf Verhandlungen zwischen der sowjetischen Zentralregierung und den gewählten Vertretern der baltischen Länder drängt, die auf der Grundlage der Ergebnisse der baltischen Referenda die legitimen Erwartungen der baltischen Völker erfüllen müssen.
Wir haben mit Genugtuung festgestellt — und das muß auch einmal deutlich gemacht werden — , daß Ende März ein Dialog in Gang gekommen ist.
Der Bundeskanzler und der französische Staatspräsident haben im vergangenen Jahr ausdrücklich in ihren Schreiben nach beiden Seiten hin gedrängt, daß man zu einer Verhandlung kommt und daß der Weg des Dialogs eingeschlagen werden muß, auch im Hinblick auf die spätere Lebensfähigkeit der baltischen Staaten, d. h. auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten, aber natürlich auch im Hinblick auf die zahlreichen politischen, juristischen und wirtschaftlichen Bindungen, die es natürlich mit der Sowjetunion noch gibt.
Dieser Weg ist schwierig, die Begleitumstände, die angesprochen worden sind, sind gelegentlich belastend. Ich darf an die Grenzpostenzwischenfälle erinnern; all das ist unschön, aber es bleibt festzuhalten: Die Verhandlungen sind auf dem Wege, und gerade vor wenigen Tagen, am 6./7. Juni 1991, sind zuletzt lettische und sowjetische Verhandlungspartner zusammengetroffen. Ich weiß auch aus Äußerungen des



Staatsminister Helmut Schäfer
polnischen Außenministers, mit dem ich vorgestern gesprochen habe, daß die Gespräche wesentlich substantieller geworden sind.
Diesen Prozeß wollen wir fördern; es gibt hieran überhaupt keinen Zweifel.
Was die finanzielle Unterstützung eines eventuellen baltischen Informationsbüros betrifft, so darf ich noch einmal klar sagen, daß es im Interesse der Balten liegt, daß die Bundesrepublik diese Informationsbüros nicht finanziert. Eine solche Unterstützung würde eine politische Abhängigkeit von der Bundesregierung herstellen. Ich glaube, das kann man wohl nicht bezweifeln. Es wäre auch eine Verantwortlichkeit der Bundesregierung für die Art und Weise, wie diese Informationsbüros arbeiten, gegeben. Denn wir können nicht Steuermittel für die Einrichtung ausländischer Informationsbüros verwenden und dann sagen: Was die tun, ist uns gleichgültig. So können wir nicht verfahren. Eine Finanzierung durch andere Mittel
— das haben wir auch schon gesagt — ist möglich. Es gibt eine ganze Fülle von baltischen Organisationen auch bei uns, und es gibt auch Privatinitiativen, die das unterstützen werden.

(Zurufe von der SPD)

— Meine Damen und Herren, ich kann nur wiederholen, was die Auffassung der Bundesregierung ist, und wir stehen zu dieser Auffassung. Sie können versuchen, sie zu ändern, Sie können eine Finanzierung dieser Büros beantragen. Ich darf Ihnen noch einmal sagen: Unser Standpunkt ist hier klar.

(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Wem soll es nutzen, daß wir das hier im Plenum des Bundestages erörtern? — Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben doch gar keinen Antrag gestellt! Das war doch gar nicht Gegenstand der Debatte!)

— Heute bei Ihren Reden ist mehrfach nicht ganz klargeworden, was Sie sich unter den Informationsbüros vorstellen.
Ich darf zum Schluß sagen: Wir haben auch die Anregung des Deutschen Bundestages aufgegriffen, um umgekehrt in den baltischen Staaten tätig zu werden und nach Möglichkeit ein Kulturinstitut, ein Goethe-Institut in einer der Hauptstädte der drei Staaten einzurichten. Das liegt uns sehr am Herzen; die Bundesregierung wird in den erforderlichen Gesprächen über die rechtlichen und politischen Grundlagen dieses Büros sehr bald eintreten. Ich hoffe, daß es dann auch bald zur Finanzierung eines solchen GoetheInstituts kommen wird.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203305800
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.
Mit Einverständnis der Fraktion hat ein Vertreter des Bündnisses 90/DIE GRÜNEN eine Rede zu Protokoll gegeben. *)
*) Anlage 4
Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/673, eine Entschließung anzunehmen sowie die Anträge der Fraktion der SPD, sowie der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 12/164 und 12/166 für erledigt zu erklären. Ich möchte fragen, wer der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zuzustimmen gedenkt. — Enthaltungen? — Gegenstimmen! — Dann ist bei Enthaltung der Gruppe der PDS/Linke Liste diese Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses angenommen worden.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ursula Männle, Renate Diemers, Rainer Eppelmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Eva Pohl, Norbert Eimer (Fürth), Hans A. Engelhard, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Verordnung über die weitere Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Familien mit Kindern (Gesetz zur Einführung von Mütterunterstützung für Nichterwerbstätige in den neuen Bundesländern)
— Drucksache 12/409 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie und Senioren (13. Ausschuß)

— Drucksache 12/754 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Ursula Männle Frank-Michael Habermann
b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/755 —
Berichterstatterinnen:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Irmgard Karwatzki
Dr. Sigrid Hoth

(Erste Beratung 24. Sitzung)

Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer halben Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann kann ich die Aussprache eröffnen. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Frau Pfeiffer.

Angelika Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1203305900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Vorfeld meiner Rede heute habe ich mir noch einmal die Redebeiträge zu diesem Thema von der 24. Sitzung des Deutschen Bundestages angeschaut und noch einmal gründlich durchgelesen. Besonders aufgefallen ist mir die Rede des Kollegen Habermann der SPD-Fraktion.
Es ist schon eigenartig, immer wieder feststellen zu müssen, daß die SPD eigentlich nichts weiter so richtig kann als alles kritisieren, und jede auch noch so kleine Aktivität der Koalition zu bremsen versucht.
Ich als neue Politikerin, die ich noch nicht viel Ahnung von dem Geschäft der Politik habe, frage mich:



Angelika Pfeiffer
Warum kann es keine Gemeinsamkeiten zwischen Opposition und Koalition geben, wenn es um eine gute Sache geht? Dann müßte man doch Parteigrenzen überwinden und müßte zustimmen, auch wenn es kein Antrag ist, den man selber eingebracht hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Gemeinsamkeit über alle Parteigrenzen hinweg für alle Frauen müßte möglich sein, und das wünsche ich mir für die nächsten dreieinhalb Jahre.
Ist es nicht erfreulich, meine Damen und Herren, über eine weitere Verbesserung der Lebensbedingungen der Familien mit Kindern in den neuen Bundesländern berichten zu können? Ich jedenfalls freue mich von ganzem Herzen über den Gesetzentwurf zur Einführung der Mütterunterstützung für Nichterwerbstätige in den neuen Bundesländern.
Zugleich bietet mir der vorliegende Gesetzentwurf die begrüßenswerte Gelegenheit, Antwort auf die vielen Fragen von Hausfrauen aus meinem Wahlkreis zu geben, Antwort darauf, ob man sie vergessen hat, die Nichtberufstätigen, die bis dato laut DDR-Regelung keinen Anspruch auf Mutterunterstützung hatten.

(Zuruf von der CDU/CSU: So war es!)

Im Klartext: Wer nicht berufstätig war, der hatte keinen Anspruch auf Mutterunterstützung. Das ist nun, Gott sei Dank, bald Geschichte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nichterwerbstätige Mütter aus den neuen Bundesländern, deren Kinder zwischen dem 3. Oktober 1990 und dem 31. Dezember 1990 geboren wurden, erhalten jetzt ab Geburt monatlich 250 DM bei einem Kind, 300 DM bei zwei Kindern und 350 DM bei drei und mehr Kindern. Diese Minimalbeträge, die auch mich nicht befriedigen — das ist ganz klar, aber im Moment haben wir nur diese Minimalbeträge — , weiter zu erhöhen wird eine nicht zu vergessende Aufgabe für uns alle sein.
Diese Übergangsregelung kostet den Bund 1991 — auch das sollte hier einmal erwähnt werden — ca. 15 Millionen DM; im Jahr 1992 werden es 1,73 Millionen DM und 1993 noch 30 000 DM sein.
Zugunsten der betroffenen Hausfrauen und Schülerinnen schlägt sich auch die damit geschaffene Möglichkeit der Vermeidung der Sozialhilfebedürftigkeit nieder. Als ehemals praktizierende Sozialarbeiterin ist mir bekannt, wie sich unsere Mitbürger in den neuen Bundesländern überwinden müssen, den Weg zum Sozialamt zu gehen.
Außerdem erkennen wir endlich auch, entgegen der DDR-Verordnung, die großartige Erziehungsleistung von Hausfrauen an.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es war schon fast anrüchig, wenn eine Frau in der damaligen DDR nicht gearbeitet hat. Meine Großmutter sagte immer: Früher war man wer, wenn eine Frau nicht gearbeitet hat. Zu DDR-Zeiten wurde gemunkelt, daß irgend etwas nicht stimmen kann, wenn eine Frau nicht arbeiten ging; ob sie das Arbeiten vielleicht nicht erfunden hat — solche Reden wurden geäußert.
Ich möchte zum Schluß kommen, meine Damen und Herren. Im Interesse der betroffenen Mütter fordere ich alle auf, auch wenn uns verschiedene Regelungen nicht so angenehm sind, wie wir es gern hätten, über Parteigrenzen hinweg mitzuwirken, daß dieser gute Gesetzentwurf möglichst schnell umgesetzt wird.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zustimmung des Abg. Michael Habermann [SPD])


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203306000
Das Wort hat der Abgeordnete Habermann.

Michael Habermann (SPD):
Rede ID: ID1203306100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Pfeiffer, die SPD wird diesem Gesetzentwurf zustimmen, so wie wir auch in erster Lesung zugestimmt haben. Die Kritik und die Bedenken, die Sie in meinem Redeprotokoll gefunden haben, werden wir natürlich aufrechterhalten. Es geht uns nicht um Miesmachen; mit dem, was wir vorgeschlagen und diskutiert haben, wollen wir vielmehr Verbesserungen erreichen.
Wir glauben, daß mit der Absicht, die ich gerade erwähnte, auch ein Stück der Politik verwirklicht wird, die Sie sich selbst als Zielvorgabe gesteckt haben. Wenn Frau Michalk gesagt hat, daß mit diesem Gesetzentwurf eine Lücke geschlossen wird, die von den Betroffenen zu Recht als Unrecht erfahren wird, und Sie das eben noch einmal bestätigt haben, dann muß es natürlich erlaubt sein, zu fragen, wie diese Lücke geschlossen wird und ob sie tatsächlich so geschlossen wird, daß Familien in Ost und West die gleichen Lebensverhältnisse haben. Die Absicht, mit einer Angleichung der sozialen Leistungen schneller zur sozialen Einheit unseres Vaterlandes beizutragen, ist für uns ein Schritt in die richtige Richtung. Deshalb werden wir dem Gesetzentwurf trotz Bedenken zustimmen.
Ich darf Ihnen noch einmal unsere Ausgangsüberlegungen in Erinnerung rufen. Wir waren zunächst mit der Frage beschäftigt, ob es nicht möglich ist, daß wir allen Familien rückwirkend ab 3. Oktober Erziehungsgeld gewähren; denn wenn eine nachträgliche Verbesserung eintritt, sollte man möglichst für alle gleiche Verhältnisse schaffen. Das, was zum 1. Januar 1991 möglich ist, hätte auch in einer Korrektur nachträglich auf den 3. Oktober zurückdatiert werden können.
Wir kritisierten in der ersten Lesung die Ungleichbehandlung und haben das als ein Dreiklassenrecht definiert, das jetzt zu einem Zweiklassenrecht wird. Ich möchte auch darauf hinweisen, daß mich Staatssekretärin Verhülsdonk in der damaligen Debatte gefragt hat, ob mir denn nicht bewußt sei, daß sich die Einheit für alle Frauen auch darin ausdrückt, daß kein Unterschied mehr zwischen erwerbstätigen und nichterwerbstätigen Frauen gemacht wird. Sie fragte weiter, ob mir nicht bewußt sei, daß bei allen Frauen die Erwartung bestehe — so formulierte sie — , daß diese Unterstützung ab dem Tag des Beitritts erfolge.
Wir haben in den Ausschußberatungen festgestellt, daß genau dieser Punkt, nämlich daß die Frauen die Erwartung haben, gleichbehandelt zu werden, durch



Michael Habermann
diesen Gesetzentwurf nicht erfüllt ist. Lassen Sie mich an vier Punkten verdeutlichen, weshalb dies so ist.
Der erste Prüfstein für die versprochene soziale Gerechtigkeit wäre der Vergleich mit dem Erziehungsgeld, und zwar dort, wo auch die Väter diese Leistung beziehen können. Dies wird durch Ihren Gesetzentwurf nicht sichergestellt. Das ist der erste Nachteil dieses kleinen Erziehungsgelds.
Der zweite Prüfstein für die versprochene soziale Gleichbehandlung wäre die Frage, ob Frauen, die teilzeitbeschäftigt sind, diese Leistung beziehen können. Auch dies trifft nicht zu. Das ist der zweite Nachteil Ihres „kleinen Erziehungsgeldes".
Der dritte Prüfstein für die versprochene Gleichbehandlung wäre die Frage: Wie sieht es mit der materiellen Leistung aus? Sie haben das schon angesprochen. Wir glauben, daß es ungerecht ist, daß Frauen in Ost-Berlin, die ihr Kind zwischen dem 3. Oktober und dem 31. Dezember bekommen haben, 3 000 DM für ihre Erziehungsleistung erhalten, während in WestBerlin 10 800 DM gezahlt werden.
Der vierte Prüfstein im Hinblick auf die versprochene soziale Gleichbehandlung ist die Frage der Anrechenbarkeit auf die Sozialhilfe. Auch hierin drückt sich aus, ob wir tatsächlich wollen, daß die Frauen in den neuen Bundesländern mit den Frauen in den alten Bundesländern gleichgestellt werden. Auch hier haben wir festzustellen, daß dies nicht möglich ist. Ja, wir müssen sogar davon ausgehen, daß wir überhaupt nicht wissen, wieviel Frauen, die derzeit Sozialhilfe erhalten, diese Leistung jetzt gar nicht bekommen können, weil das Sozialamt sie kassiert.
Wir werden in einem halben oder in einem Dreivierteljahr feststellen können, daß in diesen 4 200 Fällen, von denen hier gesprochen wird, in denen die Mütterunterstützung gewährt werden soll, diese Leistung den Frauen überhaupt nicht gewährt wird.
Insofern verpufft Ihr positiver Ansatz. Es hätte der sozialen Gerechtigkeit mehr entsprochen, wenn wir diese Elemente mit in den Gesetzentwurf hätten aufnehmen können.

(Beifall bei der SPD)

Ein letzter Prüfstein, der in dem Gesamtzusammenhang sicherlich erwähnenswert ist, betrifft die Frage, ob eine solche Ungleichbehandlung letztendlich nicht eine verfassungsmäßige Überprüfung provoziert, ja, dieser vielleicht sogar nicht standhält. Das heißt letztlich, die Richter in Karlsruhe werden entscheiden, daß wir bei gleicher Ausgangssituation rückwirkend die gleiche Leistung anbieten müssen.
Ich möchte mich ausdrücklich bei denjenigen Kolleginnen und Kollegen bedanken — auch aus den Reihen der FDP und der CDU/CSU — , die im Ausschuß für Frauen und Jugend genau an dieser Stelle in einem gemeinsamen Entschließungsantrag dafür gestimmt haben, daß keine Anrechnung auf die Sozialhilfe erfolgt. Ich bedaure es sehr, daß dies in unserem Ausschuß zu einer, wie ich es nennen möchte, Parlamentarierschelte geführt hat. Frau Ministerin, Ihre Staatssekretärin hat sich sehr verwundert gezeigt, als dieser Beschluß im Ausschuß verlesen wurde, und meinte: Wir wissen doch, wie so etwas geschieht; da
hat irgend jemand eine Idee, da sitzen neue Abgeordnete, die den ganzen Diskussionsprozeß noch nicht mitbekommen haben, zusammen; und dann wird halt schnell einmal entschieden.
Ich glaube, das Bemühen — das sage ich ausdrücklich auch für die Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion —, ein Stück mehr soziale Gerechtigkeit in diesen Gesetzentwurf zu integrieren, hätte nicht einer solchen Schelte bedurft, sondern hätte im Gegenteil unsere Unterstützung verdient.

(Beifall bei der SPD)

Ich weise diese Schelte für meine Fraktion ausdrücklich zurück.

(Ursula Männle [CDU/CSU]: Sie haben auch dagegengestimmt!)

— Nein, wir haben nicht dagegengestimmt. Wir wollten die Erziehungsgeldlösung haben, von der Sie gesagt haben, daß sie mit Ihnen nicht zu machen sei. Wir haben uns der Stimme enthalten.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Ich gehe davon aus, daß es einem sozialen Rechtsstaat bei seinem Bemühen, gleiche Lebensverhältnisse in unserer Republik zu schaffen, gut angestanden hätte, wenn er
— möglichst ab dem 3. Oktober 1990 — mit einem entsprechenden Gesetz tatsächlich den Versuch gemacht hätte, dies zu erreichen.

(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)

Was ab 1. Januar dieses Jahres ging, hätte — unter Beibehaltung eines Bestandsschutzes für Empfänger höherer Leistungen — bei der Mütterunterstützung auch ab 3. Oktober 1990 gehen können; davon bin ich fest überzeugt.
Ihr jetziger Gesetzentwurf schreibt ein Zweiklassenrecht fest — trotz der Zusage des Bemühens, die Mindestbeträge anzuheben. Auf Grund der ungeklärten Fragen, insbesondere im Bereich der Sozialhilfe, wissen wir heute noch nicht, welche Auswirkungen dieser Gesetzentwurf tatsächlich haben wird. Er provoziert, wie ich schon sagte, eine verfassungsrechtliche Überprüfung.
Wir sind als SPD-Fraktion nicht zufrieden. Wir haben unsere Ziele in den Beratungen nicht erreicht. Wir stimmen dieser Lösung trotzdem zu, weil sie wenigstens eine Minimallösung ist.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203306200
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Pohl.

Dr. Eva Pohl (FDP):
Rede ID: ID1203306300
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der heute von Ihnen zu verabschiedende Gesetzentwurf zur Einführung von Mütterunterstützung für Nichterwerbstätige ist ein weiterer besonderer und bedeutender Schritt hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit für Frauen in den neuen Bundesländern. Denn rückwirkend zum Tag der Herstellung der deutschen Einheit erhalten nun auch Hausfrauen und Schülerinnen in der ehemaligen DDR, deren Kind in der „sozialen Schwebezeit" zwischen diesem Tag und dem 31. De-

Dr. Eva Pohl
zember 1990 geboren wurde, eine Mütterunterstützung.
Dies war nicht immer so. Den nichterwerbstätigen Müttern wurde diese Unterstützung versagt, hatten sie doch keinen Beitrag in Form von Arbeitsleistungen zur Stärkung des sozialistischen Regimes geleistet. Wir wollen die Erziehungsleistungen auch dieser Mütter mit dem vorliegenden Gesetzentwurf — ich denke, darin kann mir jeder hier beipflichten — honorieren.

(Uwe Lühr [FDP]: Sehr richtig!)

Das ist auch notwendig; denn Erziehungsgeld nach dem Erziehungsgeldgesetz gibt es in den neuen Bundesländern erst für Geburten ab dem 1. Januar 1991.
Die von der von Ihnen vorgelegten Regelung betroffenen Mütter erhalten jetzt ab der Geburt des Kindes monatlich 250 DM bei einem Kind, 300 DM bei zwei Kindern, 350 DM bei drei oder mehr Kindern — meine Kollegin von der CDU hat darauf schon hingewiesen —, und zwar für ein Kind bis zum Ende des ersten Lebensjahres, ab dem dritten Kind bis zum Ablauf des 18. Lebensmonats, bei Zwillingen bis zum Ende des zweiten sowie bei Drillingen bis zum Ende des dritten Lebensjahres.
Nicht beipflichten kann ich hier hingegen der Forderung aus den Reihen der Opposition — die das Gesetzesvorhaben grundsätzlich positiv bewertet, was mich sehr erfreut —, die Leistungen des Erziehungsgeldgesetzes darüber hinaus auch jenen Familien in den neuen Bundesländern zugänglich zu machen, die bisher ausschließlich Mütterunterstützung erhalten haben. Denn damit wird doch nur bezweckt, daß keine Anrechnung auf die Sozialhilfe erfolgt, wie Sie das soeben dargestellt haben.
Für ebensowenig akzeptabel halte ich persönlich in diesem Zusammenhang das Postulat, die heute zur Abstimmung gestellte Mütterunterstützung auf eben diese Sozialhilfe nicht anzurechnen. Denn, meine Damen und Herren, zum einen beschäftigen wir uns heute mit einer Übergangsregelung, die einen Zeitraum von nur drei Monaten betrifft. Zum anderen muß auch ich als Abgeordnete aus einem der neuen Bundesländer Ihnen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, in Erinnerung rufen: Der Bundeshaushalt ist kein Dukatenesel.

(Uwe Lühr [FDP]: Das ist wahr!)

Und: Die Sozialhilfe unterliegt dem Grundsatz der Subsidiarität.
Immerhin sind die Kosten dieses Gesetzentwurfs bereits beträchtlich. Sie wurden hier schon genannt; ich darf sie in Erinnerung rufen: 15,12 Millionen DM 1991, 1,73 Millionen DM 1992 und schließlich 30 000 DM 1993.
Vergessen wir auch nicht, daß alle Mütter aus den neuen Bundesländern, deren Kind nach dem 31. Dezember 1990 geboren wurde, Erziehungsgeld nach dem Erziehungsgeldgesetz bekommen, das kumulativ, neben einer eventuellen Sozialhilfe, geleistet wird.
Ich fordere Sie daher auf, dem Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von Mütterunterstützung für Hausfrauen und Schülerinnen in den neuen Bundesländern zuzustimmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203306400
Nun hat die Abgeordnete Frau Dr. Höll das Wort.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1203306500
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Abgeordnete! Schon in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs haben wir, die PDS/ Linke Liste, unsere Unterstützung zum Ausdruck gebracht, weil mit dieser Nachbesserung erstens eine Lücke im Einigungsvertrag geschlossen wird und zweitens der Anspruch von ca. 4 200 nichterwerbstätigen Müttern, deren Kinder in der Zeit vom 3. Oktober 1990 bis zum 31. Dezember 1990 geboren wurden, auf diese Sozialleistung des Staates realisiert wird.
Daß wir diese Mütterunterstützung begrüßen, heißt jedoch nicht, daß wir die Nichterwerbstätigkeit von Frauen lobpreisen wollen. Wir hoffen vielmehr, daß auch diese Frauen nach der häuslichen Betreuung ihres Kleinstkindes zwischen Familienarbeit und Berufstätigkeit frei wählen können. Berufstätigkeit setzt voraus, daß bis dann der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz vom Staat eingelöst wird.
Daß es uns gelang, in der kurzen Zeit von nicht einmal zwei Monaten in diesem Parlament Entscheidungen zugunsten von Menschen, diesmal aus dem Osten Deutschlands, zu treffen, sollten wir zum Modell für weitere anstehende Probleme dieser Art machen. Ich könnte an dieser Stelle einen schier unendlichen Katalog solcher bundesweit dringlicher sozialer Probleme auflisten, von Arbeitslosigkeit über Altersarmut, deren besondere Zuspitzung in der weiblichen Dimension und Beschränkung des Menschenrechts auf eine Wohnung durch Mietwucher bis hin zu den bekannten Defiziten in der Versorgung mit Kinderbetreuungseinrichtungen.
Wir erwarten von dem Hohen Hause, daß an die Lösung dieser genannten Probleme mit derselben Zügigkeit und Tatkraft herangegangen wird.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203306600
Nun hat die Ministerin für Familie und Senioren, Frau Hannelore Rönsch, das Wort.

Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1203306700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Einführung der Mütterunterstützung für die Zeit vom 3. Oktober 1990 bis zum 31. Dezember 1990 jetzt endlich auch für die nichterwerbstätigen Frauen schließen wir eine Lücke im Einigungsvertrag.
Ich meine, daß ist zwingend erforderlich. Jetzt erhalten Schülerinnen und Hausfrauen in den neuen Bundesländern, die bisher von dieser Maßnahme nicht berücksichtigt worden sind, endlich auch Mütterunterstützung.



Bundesministerin Hannelore Rönsch
Ich will Ihnen, Herr Habermann, gleich sagen, daß ich die Beratung im Ausschuß mit großer Aufmerksamkeit verfolgt habe. Ich wundere mich ein wenig, daß Sie von Zweiklassenrecht sprechen. Ich glaube, wir schaffen durch diese Mütterunterstützung jetzt endlich ein Zweiklassenrecht ab, das vorher bestanden hat,

(Beifall bei der CDU/CSU)

indem die Frau, die zu Hause geblieben ist, und die Schülerin mit der berufstätigen Frau gleichgestellt werden.
Ich meine, diese Gerechtigkeit mußte endlich hergestellt werden, denn in der Vergangenheit gab es jenes Zwei-Klassen-Recht; man stellte die Frau, die zu Hause erzog, bewußt zurück. Das wollten wir ändern. In der DDR dienten die familienpolitischen Regelungen in erster Linie den Erwerbstätigen. Nichterwerbstätige Mütter wurden bewußt benachteiligt und unter Druck gesetzt. Man wollte ja erreichen, daß das Kind sehr früh in eine Kinderbetreuungseinrichtung, in eine Kinderkrippe kam, damit es in dem sozialistischen Staat entsprechend ideologisch erzogen werden konnte. Ich meine, es ist endlich an der Zeit, auch den Müttern, die zu Hause geblieben sind, und den Schülerinnen diese Mütterunterstützung zu zahlen.
Daß es nach dem Einigungsvertrag an der einen oder anderen Stelle noch unterschiedliche rechtliche Regelungen gibt, erleben wir mehrfach. Es ist für alle nicht befriedigend. Es besteht jetzt aber auch keine andere Möglichkeit.
Sie hatten während der Ausschußberatungen gefordert, daß diese Mütterunterstützung nicht als Einzelgesetz eingebracht, sondern zusammen mit dem Erziehungsgeldgesetz beraten und ab dem 3. Oktober in den neuen Bundesländern eingeführt werden sollte.
Ich will jetzt noch einmal deutlich machen, daß dies zu großen Schwierigkeiten geführt hätte, da dies zu einer noch größeren Verwirrung in den Verwaltungen der fünf neuen Bundesländer führen würde. Wir müßten trotz der Unterstützung aus dem Ministerium — und diese gewähren wir umfangreich auch mit Informationen — das Erziehungsgeld in den neuen Ländern noch einmal neu berechnen und alles noch einmal neu aufrollen. Momentan läuft es noch nicht reibungslos. Ich hatte am vergangenen Montag auch den gesamten Ausschuß eingeladen, um deutlich zu machen, wie groß die Schwierigkeiten für Männer und Frauen auch bei der Beantragung von Erziehungsgeld sind.
Wir werden in den fünf neuen Bundesländern jetzt eine Buskampagne starten und mit sieben Bussen in allen fünf Bundesländern in den Mittelstädten von 30 000 bis 90 000 Einwohnern über Mütterunterstützung, über Erziehungsgeld und über Kindergeld informieren. Dort sollen die Busse jeweils in einer Mittelstadt eine Woche lang stehen und den Bürger am Bus umfangreich darüber informieren, wie die Anträge gestellt werden usw., damit dann jeder in den Genuß der Unterstützung kommen kann. Ich meine, es gibt zur Zeit keine andere Möglichkeit, wenn wir ganz realistisch sind. Ich bin froh, daß wir jetzt auch für die Nichterwerbstätigen endlich eine Regelung gefunden haben.
Ich würde mich freuen, wenn die Kolleginnen und Kollegen gerade aus den fünf neuen Bundesländern auch in ihren Wahlkreisen dazu beitragen würden, damit diese gemeinsamen Regelungen, die wir gefunden haben, jetzt auch in der Bevölkerung bekannt werden. Ich bitte Sie, auf Erziehungsgeld und auf Kindergeld aufmerksam zu machen und darauf hinzuweisen, daß man einen Antrag stellen muß. Die Kolleginnen und Kollegen aus den fünf neuen Bundesländern bitte ich, den Mitbürgern bei der Antragstellung behilflich zu sein; denn sie haben immer noch große Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Es hätte nur zur weiteren Verwirrung beigetragen, wenn wir jetzt alle Altfälle noch einmal aufgerollt hätten.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203306800
Damit sind wir am Ende der Aussprache. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung.
Der Ausschuß für Familie und Senioren empfiehlt auf Drucksache 12/754, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich rufe die Art. 1 und 2 sowie Einleitung und Überschrift auf. Ich bitte diejenigen, die den Vorschriften zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Dann darf ich feststellen, daß die aufgerufenen Vorschriften angenommen sind.
Wir treten nunmehr in die
dritte Beratung
ein und kommen damit zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf auf der Drucksache 12/409 und der Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/754 zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann darf ich feststellen, daß das Gesetz einstimmig angenommen worden ist.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des .von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines . . . Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 146 GG)

— Drucksache 12/656 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

— Drucksache 12/794 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Herta Däubler-Gmelin Norbert Geis
Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Verfahren zur Durchführung des Volksentscheides nach Artikel 146 Abs. 2 des Grundgesetzes (G Artikel 146 Abs. 2)

— Drucksache 12/657 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

— Drucksache 12/794 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Herta Däubler-Gmelin Norbert Geis



Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache 12/801 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Michael von Schmude
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Hinrich Kuessner

(Erste Beratung 29. Sitzung)

Interfraktionell ist vereinbart worden, von der Frist für den Beginn der Beratung abzuweichen. Ist das Haus damit einverstanden? — Widerspruch erhebt sich nicht. Dann darf ich das zunächst einmal als beschlossen feststellen.
Der Ältestenrat empfiehlt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde. — Auch dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann habe ich dies ebenfalls als beschlossen festzustellen.
Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß über die Änderung des Grundgesetzes namentlich abgestimmt werden soll. Die Abstimmung soll nach der Sitzungsunterbrechung, also gegen 18 Uhr, stattfinden. Wie bekannt, wird die Sitzung um 16.30 Uhr unterbrochen, weil verschiedene Fraktionssitzungen stattfinden sollen.
Nach diesen Informationen eröffne ich die Aussprache und erteile zunächst einmal der Abgeordneten Frau Däubler-Gmelin das Wort.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD):
Rede ID: ID1203306900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung eine Grundgesetzänderung und ein Verfahrensgesetz. Damit soll der Deutsche Bundestag die Möglichkeit schaffen, die Entscheidung über Parlaments- und Regierungssitz nicht im Bundestag und Bundesrat alleine zu treffen, sondern diese Frage einer Volksabstimmung vorzulegen, also den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land die Letztentscheidung über diese Frage vorzubehalten.
Wir Sozialdemokraten haben diese Vorschläge eingebracht und halten sie aus drei Gründen für vernünftig. Erstens halten wir sie für vernünftig, weil die Menschen in unserem Lande selber über die Frage abstimmen wollen, von welcher Stadt aus sie regiert zu werden wünschen.

(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Es hat selten eine Frage gegeben, die mit so viel Engagement in jeder Familie diskutiert wurde wie die Frage, ob nun das geeinte Deutschland weiter aus Bonn oder zukünftig aus Berlin regiert werden sollte. Das zeigt uns mittlerweile jede Umfrage von Forschungsinstituten. Mehr als 80 % der Menschen in unserem Land sagen, daß sie selber entscheiden wollen.
Das zeigen uns auch die vielen Briefe, die wir doch alle bekommen. Die Briefe, die ich bekomme, zeigen noch ein weiteres: Sie enthalten eine ganze Menge wohlabgewogener, sehr interessanter Stellungnahmen — übrigens völlig unabhängig davon, ob sich die Verfasserinnen und Verfasser für Berlin oder für Bonn entscheiden möchten. Aber daß sie nicht entscheiden können, ärgert sie. Gerade weil sie es nicht können, gibt es mittlerweile eine Menge von Ersatz- und Alibiaktionen. Zeitungen rufen zu Meinungsäußerungen auf. Rundfunkanstalten melden täglich, es könne bei ihnen in dieser Sache angerufen werden. Die Rundfunkinstitution TED wird genutzt; Unterschriftenaktionen werden mit großer Begeisterung und großem Engagement angenommen.
Für uns hier im Bundestag stellt sich die Frage: Müssen wir es wirklich bei solchen Ersatzaktionen belassen, obwohl wir doch alle wissen, daß sie wegen der häufig einseitigen Fragestellung und einer völlig unüberprüfbaren, bisweilen auch manipulativen Verfahrensausgestaltung ein jämmerliches Zerrbild von Bürgerbeteiligung darstellen?

(Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ GRÜNE und der PDS/Linke Liste)

Wir sagen: Wir sollten es nicht dabei belassen. Wir sollten uns — auch Sie meine Damen und Herren von den Parteien, die die Regierung tragen — dazu durchringen, nach der Entscheidung von Bundestag und Bundesrat und damit der Stellungnahme in der Sache, die dann Empfehlungscharakter bekommt, eine Volksabstimmung zu ermöglichen, die Entscheidungsmöglichkeit bei den Bürgerinnen und Bürgern zu eröffnen, und zwar in einem einwandfreien und vorher festliegenden Verfahren, das Manipulationen und Einseitigkeit ausschließt.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben keinen Zweifel — das ist unser zweiter Grund —, daß die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land auch fähig sind, über diese Frage selbst zu entscheiden — allerdings als Abschluß eines ebenso offenen wie fairen Diskussionsprozesses, in der unter Einbeziehung der Stellungnahmen aus der Politik und unter Einbeziehung einer verantwortlichen Berichterstattung durch die Medien Meinungen vorgetragen, Standpunkte geklärt und Argumente ausgetauscht und bewertet werden können. Das muß für die Vor- und Nachteile jedes Vorschlags und jeder Empfehlung, auch für die Berücksichtigung der möglichen Kostenfolgen gelten.
Ich will wiederholen: Daß die Bürgerinnen und Bürger heute noch nicht selbst entscheiden dürfen, nicht einmal in dieser Frage, ärgert viele. Das verstärkt die Vorwürfe, normale Bürger seien sowieso hilflos gegenüber dem, was Politiker entscheiden. Es vertieft das Gefühl, die ganzen wichtigen Fragen der deutschen Einheit und die Überwindung der Teilung in Deutschland werde an den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land vorbei, ja, über ihre Köpfe hinweg entschieden.
Die Entscheidung für Bonn oder Berlin oder auch für eine Konsenslösung ist doch für viele Menschen in unserem Land viel mehr als eine Entscheidung über eine Stadt. Das ist doch geradezu Symbol für die Frage, wie es nach der staatlichen Einheit jetzt mit der Überwindung der Teilung in Deutschland weitergehen soll.
Die Entscheidung für Bonn oder Berlin — ich will das nochmals betonen — wird nicht einmal überwiegend mit lokalen, mit kommunalen oder mit regionalen Argumenten begründet, sondern es geht auch, ja,



Dr. Herta Däubler-Gmelin
vordringlich um Fragen nach der Ausgestaltung, nach dem Selbstverständnis und nach der Beschaffenheit, ja, nach der Politik dieses geeinten Deutschland.
Diese Fragen bewegen die Menschen, nicht allein die Abgeordneten im Deutschen Bundestag oder die Ministerpräsidenten im Bundesrat. Wir haben morgen — der Bundesrat Anfang Juli — Gelegenheit, dazu Argumente auszutauschen und unsere Sachentscheidung vorzunehmen.
Wir, meine Damen und Herren, sagen, es ist falsch, daß Sie von der Regierungskoalition den Menschen in unserem Land die Gelegenheit dazu nicht zugestehen wollen. Es ist falsch, es ist ein verhängnisvoller Fehler.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)

Wir sagen: Es ist gut, wenn über diese Fragen an Hand der Entscheidung über den Regierungssitz diskutiert wird. Es muß offen und breit diskutiert werden. Die Ängste, die Fragen und die unterschiedlichen Meinungen, auch die Konflikte im Zusammenhang mit der Überwindung der Teilung Deutschlands müssen endlich auf den Tisch, nicht nur auf den Tisch des Bundestages, nein, sie müssen in einem geordneten Diskussionsprozeß auch in die Öffentlichkeit. Die Entscheidung über den Regierungssitz, die Entscheidung über den Parlamentssitz gibt dazu Gelegenheit. Der Diskussionsprozeß ist notwendig und hilfreich.
Wer die Letztentscheidung in dieser Frage den Menschen in unserem Land zugesteht, der befriedet zugleich, der schafft auch in Sachen „Wie geht es in unserem Land weiter?" bessere Voraussetzungen dafür, gemeinsam ein solides Fundament für die Zukunft aufzubauen.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Eigentlich, meine Damen und Herren, müßten Ihre Erfahrungen der letzten Monate — ich meine jetzt die Kolleginnen und Kollegen von den spärlich vertretenen Regierungsparteien —

(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Spärlich ist gut!)

— es hat etwas mit dem Thema zu tun — unsere Argumentation unterstützen: recht geben. Sie büßen doch zur Zeit am eigenen Leib, daß Ihre bisherige Politik des Verschweigens von Problemen bei der Überwindung der Teilung in Deutschland, daß Ihre Beschwichtigungshaltung und vor allem Ihre Auffassung „Lieb Wähler, du magst ruhig sein, wir richten's schon in Bonn im Rhein" genauso verstanden wird, wie Sie sie gemeint haben, nämlich als interessenverstrickte, deshalb doppelt vorwerfbare Haltung eines Vormunds gegenüber seinem Mündel, nicht aber die doch selbstverständliche Haltung demokratischer Politiker im Umgang mit mündigen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern,

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

von denen Sie in Ihren Reden doch genauso häufig reden wie wir, nur meinen Sie es offensichtlich nicht ernst.

(Zuruf von der SPD: Lernen tut weh!)

Ich finde, Sie sollten mit Ihrer Haltung Schluß machen, und Sie sollten mit uns die Möglichkeit zu Diskussionsprozessen und Volksentscheid eröffnen. Der Zeitpunkt für den Volksentscheid sollte im Herbst liegen. Das gibt einerseits genügend Zeit für Vorbereitung und Diskussion und liegt als Termin, also zeitlich gesehen, zudem viel näher als mancher Ihrer sogenannten Konsensvorschläge, die wir in den letzten Tagen aus purer Ratlosigkeit aus Ihren Reihen gehört haben, die in Wirklichkeit auf Vertagungsvorschläge hinauslaufen.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr! — Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Das können Sie so nicht sehen! Das ist falsch!)

Daß wir mit dieser Entscheidung für eine Volksabstimmung, verehrte Frau Kollegin, einen ersten wirksamen Schritt zu mehr direkter Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger auch auf Bundesebene unternehmen wollten — das ist unser drittes Argument —, sollten Sie gleichfalls mit uns begrüßen.
Die Forderung nach einer Volksabstimmung über die Verfassung des geeinten Deutschland in Anschluß an einen Prozeß der Beratung im Parlament, der Weiterentwicklung unseres Grundgesetzes zur gesamtdeutschen Verfassung und nach einem breiten und öffentlichen Diskussionsprozeß ist doch vernünftig, und zwar gerade deshalb, weil wir damit dokumentieren: Hier geht es um etwas Besonderes, und das Parlament und die Politikerinnen und Politiker nehmen die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ernst.

(Beifall bei der SPD)

Übrigens: Daß wir die Abstimmung jetzt auch als Einstieg für Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid, die wir im Zuge der Weiterentwicklung unseres Grundgesetzes zur gesamtdeutschen Verfassung sowieso wollen, daß wir dies als Parallele schon jetzt mit andiskutieren, das halten wir nur für vorteilhaft. Schließlich könnten wir die beim Volksentscheid über die Frage des Regierungs- und Parlamentssitzes gewonnenen Erfahrungen in der dann folgenden Diskussion nützlich verwerten.
Meine Damen und Herren, so weit, so gut. Unsere Vorschläge sind gut durchdacht, sie sind unbestritten verfassungsrechtlich zulässig, und sie sind auch rechtspolitisch sinnvoll. Trotzdem — damit komme ich eigentlich zum Kern unseres politischen Vorwurfs — haben Sie, die Union und die FDP, zu diesen Vorschlägen von vornherein unüberhörbar nein gesagt, und zwar deshalb, weil es Ihre Parteizentralen und das Kanzleramt so bestimmt haben.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/ CSU]: Ach du lieber Himmel! — Norbert Geis [CDU/CSU]: Ihr habt ja nie den Versuch gemacht, ein Gespräch zu führen!)

Es war völlig klar, dort wurde ganz schnell anders
entschieden. Mitbestimmung, Mitbeteiligung der
Bürgerinnen und Bürger in ihrer Frage wollen Sie



Dr. Herta Däubler-Gmelin
nicht. Sogar der Justizminister, der doch mit guten Argumenten für eine offene Diskussion — wenigstens dafür — unserer Vorschläge geworben hat, weil sie sinnvoll, weil sie zulässig sind, wurde zurückgepfiffen. Auch Frau Adam-Schwaetzer bekam Klassenkeile,

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Jetzt übertreiben Sie aber!)

obwohl sie sich — das anerkennen wir — in Zwischenschritten an das Problem lediglich herangetastet hat.
Meine Damen und Herren, Sie haben von Anfang an nein gesagt, und genau das ist der Punkt, den wir Ihnen politisch vorwerfen, den wir ablehnen, und dies keineswegs nur, verehrter Herr Kollege Gerster, weil wir unsere Argumente für besser und unsere Forderung für richtig halten, sondern deshalb, weil Sie mit Ihrem Nein von Anfang an jede ernsthafte Auseinandersetzung blockiert haben. Damit wurden nicht nur sinnvolle Möglichkeiten und auch Zeit vertan, sondern Sie haben, finde ich, damit auch der demokratischen Auseinandersetzung hier in unserem Parlament einen ganz schlechten Dienst erwiesen.

(Beifall bei der SPD)

Ich will das auch begründen:
Daß Vorschläge nach Offenlegung unterschiedlicher Interessen und unterschiedlicher Standpunkte abgelehnt werden, daß die Mehrheit nein sagt, nachdem sie Gründe erwogen und ihre Gründe für besser erachtet hat, daß Forderungen nach einer Diskussion durch Mehrheitsentscheidungen zurückgewiesen werden, ist normal. Das ist in einer Demokratie nicht nur akzeptabel, sondern das gehört zum Wesen einer Demokratie. Zum Wesen einer Demokratie — Herr Gerster — das sollten Sie sich auch noch anhören —

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ich habe keinen Zwischenruf gemacht! Was wollen Sie denn mit mir?)

gehört aber auch, eine Auseinandersetzung nicht durch ein Nein zu blockieren — eben das tun Sie —, sondern sich für neue Argumente zu öffnen, zuzuhören und selbst zu argumentieren, kurz: die Auseinandersetzung zu führen. Das haben Sie nicht zugelassen.
Das Anhörungsverfahren im Rechtsausschuß war deshalb — Sie werden mir zustimmen, Herr Kollege Geis — reichlich sinnlos. Dort wurden nur Gründe gesucht, um Ihr Nein untermauern zu können. Das ist schade.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das haben die Wissenschaftler gesagt!)

— Ach, keine Rede davon. Das haben lediglich die von Ihnen benannten Gutachter gesagt, die aber zu rechtlichen und verfassungsrechtlichen Fragen natürlich überhaupt nicht Stellung genommen haben, sondern die lediglich Vorurteile reproduziert haben.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das sagen Sie!)

Sie, verehrter Herr Kollege Geis, haben es übrigens bei jemandem, der Ihnen in der Sache nicht zustimmte, als erster im Rechtsausschuß moniert.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das war auch berechtigt, Frau Kollegin!)

Die Bürgerinnen und Bürger merken ganz genau, was da gespielt wird. Eine derartige Haltung trägt zur Politikverdrossenheit bei und fördert auch nicht die Glaubwürdigkeit unserer Art, uns im Parlament auseinanderzusetzen. Sie trägt auch nicht dazu bei — lassen Sie mich das mit allem Nachdruck sagen —, die Zweifler zu übertönen, die Ihnen von den Regierungsparteien heute schon vorwerfen, Sie hätten überhaupt nicht vor, den Auftrag aus Art. 5 des Einigungsvertrages zu erfüllen, nämlich unser Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung mit der nötigen Offenheit, mit der nötigen Gesprächsbereitschaft und auch mit der nötigen Ernsthaftigkeit weiterzuentwickeln.
Meine Damen und Herren, das wollen wir nicht zulassen.

(Beifall bei der SPD) Deswegen spreche ich das hier so deutlich aus.

Ich will nur am Rande erwähnen, daß die Argumente, die in den letzten Tagen gegen unsere Vorschläge, sowohl gegen den einer Grundgesetzänderung als auch gegen den einer Verfahrensregelung, vorgebracht wurden, wegen ihrer Leichtgewichtigkeit und ihres Alibicharakters außerordentlich leicht zu entkräften sind, z. B. das hartnäckig ausgestreute Gerücht, die Letztentscheidung der Bürgerinnen und Bürger solle dem Bundestag und dem Bundesrat die Möglichkeit geben, sich in der Sache zu drücken, sich in ein Schlupfloch zu verziehen und selbst nicht Stellung nehmen zu müssen. Keine Rede davon,

(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!)

alles unwahr! Die Stellungnahmen von Bundestag und Bundesrat sind Voraussetzungen für den Diskussions- und Entscheidungsprozeß, den wir anstreben.
Da wurde sogar von Vertragsverletzungen wegen der Protokollnotiz zu Art. 2 geschwätzt. Ich bin noch heute dem Kollegen de Maizière sehr dankbar dafür, daß er sich, als Zeuge im Ausschuß aufgerufen, nicht dafür hergegeben hat, zu bestätigen, hier sei eine Entscheidung unter ausdrücklichem Ausschluß der Bevölkerung vorgenommen worden. Davon war damals ja auch keine Rede.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hat er so nicht gesagt!)

— Ja eben. Ich bin ihm ja auch sehr dankbar, daß er das ausdrücklich nicht bestätigt hat. —

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Er hat es aber auch nicht so gesagt, wie Sie es gesagt haben!)

Da wurde vom Volksentscheid als Prämie für Demagogen geredet.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben nicht zugehört!)

— Doch, doch, Ihnen immer.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: So wie Sie es sagen, hat er es nicht gesagt!)




Dr. Herta Däubler-Gmelin
— Ja eben. Ich sagte ja gerade: Ich bin ihm sehr dankbar, daß er es nicht bestätigt hat.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Er hat es nicht so gesagt, wie Sie es gesagt haben!)

— Dann müssen Sie vielleicht etwas anderes sagen. Seine Äußerungen waren außerordentlich eindeutig.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203307000
Herr Abgeordneter Geis, Sie haben die Gelegenheit, das anschließend klarzustellen. Dann kann der Dialog unterbleiben.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Soviel Redezeit hat er gar nicht, um das alles klarzustellen!)


Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD):
Rede ID: ID1203307100
Er hat auch die Möglichkeit zu einer Zwischenfrage.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203307200
Auch das ist möglich.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD):
Rede ID: ID1203307300
Herr Präsident, auch das weiß er; deswegen nimmt er die Möglichkeit ja nicht wahr,

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD) ich könnte ihm ja antworten.

Da wurde von Volksentscheid als „Prämie für Demagogen" geredet. Da wurde die „Instabilität" der Staaten unterstellt, die so etwas wie einen Volksentscheid haben. Das wurde als Menetekel an die Wand gemalt. Da wurde gar behauptet, Volksbegehren, Volksinitiative und Volksentscheid seien — man höre — Kennzeichen totalitärer oder sozialistischer Staaten.
Meine Damen und Herren, das sage ich Ihnen jetzt ganz im Ernst: Wenn das wahr wäre, dann könnten einem die Österreicher, also unsere Nachbarn im Süden, wirklich leid tun. Dann wäre die Schweiz nicht etwa eine Insel der Stabilität, sondern schon längst zerrüttet, in Auflösung begriffen. Italien — ausgerechnet Italien! — wäre dann so etwas wie ein totalitärer Staat. Lachhaft, kann man nur sagen.
Dann müßten auch alle unsere Bundesländer, die Instrumente der direkten Demokratie in ihrer Verfassung niedergelegt haben, als instabil und inhomogen mit unserem Grundgesetz angesehen werden, das den Volksentscheid ja bisher nicht kennt, aber gleichwohl auf keinen Fall Homogenität mit instabilen oder mit totalitären Gemeinwesen zuläßt. Auch das ist doch eine abstruse Konstruktion. Sie wird um so abstruser, als ja Länderverfassungen gemeint sind, die keineswegs nur vor Inkrafttreten des Grundgesetzes verabschiedet wurden, sondern natürlich auch solche, die in den 70er Jahren, wie die baden-württembergische, oder in den letzten Jahren, wie die schleswig-holsteinische, übrigens immer unter Zustimmung von CDU
— CSU gibt es dort nicht — und Freien Demokraten, verabschiedet wurden.
Meine Damen und Herren, Sie sollten aufhören, so einen Unfug zu behaupten. Sie sollten sich dazu durchringen, mit uns den Volksentscheid zu ermöglichen. Die Abstimmung über den Parlaments- und Regierungssitz gibt da einen außerordentlich guten Anlaß.

(Zuruf von der SPD: Man kann sich auch ein Beispiel an Bayern nehmen!)

Übrigens ist auch das Befriedungsargument falsch, also die Behauptung, der Volksentscheid in der Frage Bonn oder Berlin würde blutende Wunden aufreißen und hindern, daß sie wieder heilen, die Befriedungsfunktion würde also ausbleiben.

(Zuruf von der SPD: Ein Schmarrn ist das!)

Wie falsch! Wir wissen doch ganz genau, daß in Österreich in einer Situation, in der die Bevölkerung durch die Atom-Frage wirklich zutiefst gespalten war, nach einem Volksentscheid nicht nur innerer Friede gefördert wurde,

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau das Gegenteil ist richtig, Frau Kollegin!)

sondern daß zugleich die Grundlage für eine vernünftige, auf Konsens beruhende Politik in der Energiefrage geschaffen wurde. Wer das bestreitet, sollte sich das im einzelnen wirklich endlich einmal anschauen, Herr Kollege Geis.
Seien Sie doch nicht so ängstlich: Solche Behauptungen, solche wirklich falschen und leicht widerlegbaren Meinungen zeigen doch nur, wieviel Angst und wieviel Mißtrauen gegenüber den Staatsbürgern noch vorhanden ist.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Sie sollten mit solchen Schlagworten und solchen Blockadeworten aufhören, und Sie sollten mit uns anfangen, auch diese Ängste zu thematisieren, damit wir sie gemeinsam ausräumen können. Das würde uns weiterführen und brächte — das meine ich sehr ernst — die Möglichkeit, auch über Sorgen zu reden, die im Hinblick auf unsere Geschichte geäußert werden. Es muß doch einfach möglich sein, auch in diesem Parlament offen darüber zu reden, daß die Weimarer Republik eben nicht an zuviel Mitbestimmung durch die Bürgerinnen und Bürger zugrunde gegangen ist, sondern deshalb, weil es insgesamt zu wenig Demokraten gab, die sich für sie eingesetzt haben, in der Wirtschaft, in der Beamtenschaft, in der Verwaltung und, Gott sei es geklagt, eben auch im Reichstag.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE — Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist ein bösartiger Vorwurf gegen die Bevölkerung!)

Hitler kam eben nicht durch Wahlen an die Macht. Er hat nicht ein einziges Volksbegehren gewonnen. Das Ermächtigungsgesetz, Herr Kollege Geis, das ihm den Freibrief für seine verbrecherische Politik von Verfassungsbruch, Unterdrückung, Rassenwahn und Krieg gab, ist nicht durch das Volk, sondern durch die Mehrheit im Reichstag verabschiedet worden, weil damals viele, aus welchen Gründen auch immer, nicht nein sagen wollten.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)




Dr. Herta Däubler-Gmelin
Das eignet sich als Beispiel gegen mehr direkte Demokratie in unserem Lande also nicht.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sie schulmeistern Carlo Schmid! Den sollten Sie mal lesen!)

— Nein, ich schulmeistere Carlo Schmid nicht,

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Der dreht sich im Grab herum, wenn er Sie hört!)

aber ich habe gerade etwas zu Theodor Heuss gesagt, Herr Kollege Gerster. Wenn Sie sich nur einmal ernsthaft mit diesen Fragen befassen wollten, dann könnten wir einmal ernsthaft in die Diskussion eintreten. Aber Sie sollten sich vorher informieren.

(Detlev von Larcher [SPD]: Information macht ja einfache Antworten unmöglich!)

Ich finde bedauerlich, daß diese Diskussion von Ihnen bisher versperrt wird. Ich teile, ich unterstütze die Haltung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Professor Herzog, der immer wieder zu Recht mahnt, wir Parlamentarier sollten schnell das Signal für mehr Mitbestimmung der Menschen, der Bürgerinnen und Bürger, auch auf Bundesebene, geben, damit wir uns dann den sehr viel schwierigeren Einzelfragen zuwenden können, wie das gehen soll, wo wir die Grenzen ziehen, wie also unser parlamentarisch-repräsentatives System sinnvoll ergänzt werden kann; denn das ist es ja, was wir ja wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, auch jetzt noch, sozusagen in letzter Sekunde, Ihre Haltung zu überprüfen, die ja falsch ist, und sie zu ändern. Stimmen Sie unseren Vorschlägen zu und überwinden Sie Ihr Mißtrauen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern! Widerlegen Sie damit vor allen Dingen den Vorwurf, der immer stärker zu hören ist, den Vorwurf, die Arroganz der Mächtigen hindere Sie am Dazulernen.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Nein, der Populismus Ihrer Art schreckt sie ab, Frau Kollegin! — Widerspruch bei der SPD)

— Meine Damen und Herren, wir werden, damit auch Herr Gerster irgendwann einmal lernt, daß er sich mit diesen Fragen ernsthaft auseinandersetzen muß, eine namentliche Abstimmung zu dieser Frage beantragen.
Danke schön.

(Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203307400
Nun erteile ich dem Abgeordneten Geis das Wort.

Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1203307500
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben keine Angst vor der Entscheidung des Volkes und brauchen auch keine Angst davor zu haben.

(Zuruf von der SPD: Natürlich haben Sie das!)

Wir, die Koalitionsparteien, sind bei den letzten Wahlen mit einer eindeutigen Mehrheit wiedergewählt worden.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Wie haben Sie das denn gemacht?)

Wir brauchen keine Angst zu haben, uns dem Wähler zu stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich möchte einmal wissen, Frau Däubler-Gmelin was, wenn wir morgen hier im Parlament und in der nächsten Woche im Bundesrat eine Entscheidung für oder gegen Berlin mit allen Variationen treffen, dann eigentlich der Volksentscheid noch soll. Ist dies nicht ein Präjudiz? Sie müßten konsequenterweise eigentlich sagen: Wir müssen die Entscheidung, die für morgen und für die nächste Woche vorgesehen ist, absetzen und müssen erst das Volk entscheiden lassen.

(Uwe Lambinus [SPD]: Das ist doch völlig falsch! — Weiterer Zuruf von der SPD: Sie haben es nicht begriffen!)

Denn sonst könnte das auf eine Bevormundung des Volkes hinauslaufen.
In Wirklichkeit will die SPD mit diesem Antrag aus ihrer Hopplahopp-Entscheidung des letzten Parteitages, die ja knapp genug ausgefallen ist, ausbrechen. Sie will aus diesem Dilemma heraus. Aus dieser kläglichen, unvorbereiteten

(Zuruf von der SPD: So ein Quatsch!)

und nicht lang und ausgiebig genug geführten Diskussion heraus will sie jetzt den Versuch unternehmen, über das Volk zur Entscheidung zu kommen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203307600
Herr Abgeordneter Geis, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?

Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1203307700
Er möchte mich eine Sekunde reden lassen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203307800
Das ist in Ordnung.

Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1203307900
Ich bitte Sie, mich mit meinen Ausführungen erst einmal beginnen zu lassen. Herr Meyer, Sie sind ein sehr lieber Kollege. Ich bitte Sie, lassen Sie mich erst einmal kurz reden. Sie wissen ja noch gar nicht, was ich im einzelnen sagen will.

(Widerspruch bei der SPD)

Sie wollen aus der kläglichen Entscheidung Ihres Parteitages herausfinden. Aber Sie appellieren nicht etwa an eine verantwortungsvolle Entscheidung im Parlament oder im Bundesrat. So wie Sie Ihre eigene Partei und Ihren eigenen Parteitag verstehen, kommen nach dem Parteitag nicht etwa die Institutionen, die dafür vorgesehen sind; nach dem Parteitag hat gefälligst das Volk selbst zu kommen. Der Souverän selbst hat zu entscheiden; denn alles andere ist Ihnen viel zuwenig. Das ist der eigentliche Grund, weshalb Sie jetzt von uns verlangen, wir sollten dieses Spiel-



Norbert Geis
chen, das Sie betreiben, mitspielen. Dazu sind wir nicht bereit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Detlev von Larcher [SPD]: Können Sie nicht zuhören oder wollen Sie nicht?)

Aber es gibt noch einen weiteren Grund, Frau Däubler-Gmelin, weshalb Sie den Volksentscheid wollen. Sie sagen es ja laut genug, und deshalb ist es gar nicht verkehrt, das hier zu wiederholen. Sie sagen nämlich, daß Sie mit diesem Volksentscheid den Einstieg in eine Verfassungsdebatte finden wollen, an deren Ende eine grundlegende Veränderung unseres Grundgesetzes stehen soll. Der Volksentscheid in der Frage des Parlaments- und Regierungssitzes soll dafür nur den Einstieg bilden.
Der Einstieg wird aber auch — das haben wir heute erlebt — von dem entsprechenden Theaterdonner begleitet. Sie sprechen von der Arroganz der Mächtigen und meinen uns hier im Bundestag und im Bundesrat.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Völlig zu Recht!)

Das parlamentarische, repräsentative System, verehrte Frau Däubler-Gmelin, das in den 60er Jahren während der Studentenrevolte und in den 70er Jahren während der Terroranschläge nie umstritten gewesen ist und das sich in den letzten 40 Jahren für unser Land hervorragend bewährt hat, wird plötzlich von Ihnen angegriffen. Es wird miesgemacht. Sie denunzieren es. Sie stellen es hin als die Arroganz der Mächtigen.

(Widerspruch bei der SPD)

Sie wollen uns, die Vertreter dieses Regierungssystems, uns Abgeordnete als Mächtige draußen beim Volk denunzieren, um aus Ihrer kläglichen Situation auf diese Weise herauszukommen. Ich halte dies für einen sehr unangemessenen und außerordentlich miesen Stil, den Sie hier versuchen.
Bei der Anhörung im Rechtsausschuß, sehr verehrte Frau Däubler-Gmelin, haben sich die Wissenschaftler — es waren ja nicht ganz unbekannte; es waren bedeutende Verfassungsrechtler unseres Volkes — aus gutem Grund eindeutig gegen diesen Volksentscheid ausgesprochen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203308000
Herr Abgeordneter Geis, sind Sie bereit, Herrn Lambinus eine Zwischenfrage zuzugestehen?

Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1203308100
Sofort werde ich ihm die Frage zugestehen, einen Augenblick. — Nur der von Ihnen, Frau Däubler-Gmelin, herbeizitierte Verfassungsrechtler und vormalige Verfassungrichter — Sie wissen genau, wen ich meine — hat sich zu der Äußerung vom Absolutismus unseres parlamentarischen Regierungssystems verstiegen. Wer so leichtfertig die Grundlagen unseres Zusammenlebens — das ist das parlamentarische Regierungssystem all die vierzig Jahre hindurch gewesen — in Frage stellt, der muß sich wirklich fragen lassen, ob er mit seinen polemischen Äußerungen nicht ganz andere Ziele verfolgt. — Bitte sehr.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sie zitieren schon wieder falsch! Das tun Sie wider besseres Wissen!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203308200
Nun kommen wir zu den Zwischenfragen. Bitte sehr, Herr Abgeordneter Meyer.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (SPD):
Rede ID: ID1203308300
Herr Kollege Geis, stimmen Sie mir zu, daß es zwischen der Sachentscheidung für Bonn oder Berlin und der hier zu erörternden Frage eines Volksentscheides einen ganz engen verfassungspolitischen oder, wie einer der Sachverständigen in der von Ihnen eben erwähnten Anhörung gesagt hat, verfassungsmoralischen Zusammenhang gibt, nämlich folgenden, daß diejenigen unter uns, die für Bonn votieren wollen, doch gleich entgegengehalten bekommen, daß es über Jahrzehnte hinweg Versprechungen in Richtung Berlin, dort werde man nach der Wiedervereinigung den Regierungs- und Parlamentssitz haben, gegeben hat, und ist nicht der einzige Weg, von diesen Versprechungen loszukommen, der, daß man den Adressaten dieser Versprechungen, das Staatsvolk, befragt, ob man jetzt nicht bessere Gründe für eine andere Entscheidung sieht? Müßten Sie als jemand — das vermute ich jetzt einmal; entschuldigen Sie, wenn ich das so unterstelle — , der für Bonn votieren könnte, jetzt nicht sagen: Dieses geht verfassungsmoralisch einwandfrei nur mit einem Volksentscheid?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203308400
Entschuldigen Sie bitte, Herr Abgeordneter Geis, bevor Sie darauf antworten, möchte ich folgendes sagen: Herr Professor Meyer, darf ich Sie darum bitten, gelegentlich einmal in die Geschäftsordnung zu gucken;

(Heiterkeit)

denn dort ist vermerkt, daß die Zwischenfragen kurz und präzise sein sollten. Wir wären Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie sich in Zukunft danach richten würden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Präzise fand ich es ja!)

Herr Abgeordneter Geis, nun haben Sie das Wort.

Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1203308500
Ich glaube nicht, daß für die Beantwortung der Frage, ob wir uns für Bonn oder für Berlin entscheiden, eine moralische Rechtfertigung durch das Volk in Form eines Volksentscheides notwendig ist. Soviel Verantwortungsbewußtsein müssen wir hier im Parlament haben. Ich wehre mich also gegen die Unterstellung, wir bräuchten jetzt gewissermaßen eine Absegnung des Volkes selber für unsere Entscheidung. Wir sind in dieses Parlament gewählt worden — das ist ja die Grundüberlegung des parlamentarischen, repräsentativen Systems —, damit wir, unserem Gewissen verantwortlich, Entscheidungen für das Volk treffen. Ich sehe also diesen Zusammenhang, den Sie genannt haben, Herr Kollege Meyer, nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)





Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203308600
Der Abgeordnete Lambinus — geschäftskundig, wie er ist — wird jetzt eine Zwischenfrage stellen.

(Heiterkeit)


Uwe Lambinus (SPD):
Rede ID: ID1203308700
Herr Kollege Geis, wollen Sie ernsthaft behaupten, daß das in Bayern gegebene Institut des Volksbegehrens und Volksentscheides dort den Parlamentarismus in Frage stellt, und können Sie bestätigen, daß selbstverständlich im Rahmen des Volksbegehrens und Volksentscheides in Bayern der Landtag vorher in vielen Fällen seine Meinung zu der zur Beantwortung anstehenden Frage sagt?

(Dr. Peter Stuck [SPD]: Jetzt sind Sie aber sprachlos!)


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1203308800
Ich möchte Ihnen zu dem Volksentscheid vom 17. Februar in Bayern folgendes sagen: Er hat keine Befriedung in der Bevölkerung herbeigeführt. Im übrigen bin ich der Auffassung, daß die Bevölkerung in Bayern am 17. Februar aufgerufen war, über einen Fragenkomplex zu entscheiden, den zu beurteilen sie auf Grund der Tatsache, daß ein Riesenpaket von Papieren vorgelegt worden ist, in dem ein ganzer Gesetzentwurf stand, nicht in der Lage war.

(Lachen bei der SPD — Detlev von Larcher [SPD]: Das Volk ist dumm, nur die Abgeordneten sind klug!)

Das genau ist ja die Bestätigung des parlamentarischen Regierungssystems.

(Zuruf von der SPD)

— Vielleicht ist es möglich, daß ich meine Ausführungen einmal ohne Zwischenrufe zu Ende bringen kann; Sie haben mich ja gefragt.
Wir, die Abgeordneten, haben die Möglichkeit und auch eher die Zeit, uns den Sachverstand anzueignen, der notwendig ist, um in einer so komplizierten Frage der Müllentsorgung, wie es am 17. Februar in Bayern der Fall gewesen ist, entscheiden zu können. Deswegen ist es im Grunde genommen sehr, sehr fragwürdig, ob man — wie in Bayern geschehen — das Volk auf diese Weise zur Entscheidung anrufen soll.

(Abg. Herbert Werner [Ulm] [CDU/CSU], Abg. Gudrun Weyel [SPD] und Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE] melden sich zu einer Zwischenfrage)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203308900
Herr Abgeordneter Geis, ich möchte einmal auf die Geschäftslage aufmerksam machen. Wir haben jetzt noch drei Wünsche an Sie nach Zwischenfragen vorliegen. Weitere werde ich auch nicht zulassen, unabhängig davon, wie Sie sich entscheiden.

(Zurufe von der SPD)

— Das ist mein gutes Recht. Ich mache darauf aufmerksam, daß die Debatte nach den jetzigen Berechnungen zwischen 0.00 und 0.30 Uhr enden wird. Eine Verlängerung — bisher habe ich die Zeiten ja nicht angerechnet — wäre, glaube ich, für das ganze Haus unzumutbar.
Meine herzliche Bitte ist also, noch einmal kurz auf den Abgeordneten Lambinus einzugehen und, wenn
Sie wollen, die Zwischenfragen zuzulassen. Wir fassen sie dann zusammen und machen anschließend im normalen Debattenverlauf weiter. Denn sonst bekommen Sie für die Antworten mehr Zeit, als Ihnen insgesamt als Redezeit zur Verfügung steht. Auch das ist dann nicht im Sinne der Geschäftsordnung.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1203309000
Herr Präsident, ich entscheide mich ganz in Ihrem Sinne. Ich möchte die weiteren Zwischenfragen nicht mehr zulassen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203309100
Okay, danke schön. Dann, bitte sehr, fahren Sie fort, Herr Abgeordneter.

Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1203309200
Ich möchte in meinen Ausführungen fortfahren.
Unser Grundgesetz hat gerade in der Wiedervereinigung seine bisher größte Bestätigung erhalten. Als die Deutschen in der vormaligen DDR endlich die demokratische Selbstbestimmung erlangt hatten, haben sie sich nicht nur für die deutsche Einheit, sondern auch für die Grundordnung entschieden, nach der wir über 40 Jahre lang gelebt haben, die uns in unserer Geschichte nie dagewesene Freiheiten beschert hat und die uns einen nie für möglich gehaltenen Wohlstand erwirkt hat.
Wer deshalb jetzt nach dem angeblich wahren Willen des Volkes fragt, der mißachtet die Tatsache, daß sich die Menschen im östlichen Teil unseres Vaterlandes wie auch im westlichen Teil unseres Vaterlandes längst unter dem gemeinsamen Dach unseres Grundgesetzes zusammengefunden haben. Nur scheinen manche aus der SPD, die so sehr nach dem Volk rufen, noch gar nicht gemerkt zu haben, daß sich das Volk längst für unser Grundgesetz entschieden hat.

(Uwe Lambinus [SPD]: Das ist doch nicht die Frage!)

— Das ist schon die Frage, weil Sie nämlich erklärtermaßen über den Volksentscheid den Einstieg in eine Gesamtrevision unseres Grundgesetzes finden wollen.

(Uwe Lambinus [SPD]: Das ist doch Quatsch!)

Wir werden uns von Anfang an — dies sei gesagt — mit aller Macht gegen ein solches Vorgehen wenden.

(Detlev von Larcher [SPD]: Nichts darf verändert werden!)

Der Parlamentarische Rat hat, als er das Grundgesetz verfaßt hat, an die Tradition der Weimarer Republik anknüpfen können. Aber er hat zum Glück auch den Versuch unternommen, die Fehler der Weimarer Republik nicht zu übernehmen. Er hat sich deshalb gegen Volksbegehren und gegen Volksentscheid, die ja damals vorgesehen waren und auch weidlich genutzt worden waren, entschieden. Denn bis zum Jahre 1926 war es für die Linken und nach dem Jahre 1926 war es für die Rechten ein Fest — ein Fest für die Demagogen — die Mittel des Volksbegehrens und des Volksentscheides dazu zu benutzen, die Demokratie selbst anzugreifen.



Norbert Geis
Sie haben gesagt, andere Länder hätten bessere Erfahrungen damit gemacht. Das ist nicht der Fall, Frau Däubler-Gmelin. Es gibt in der ganzen westlichen Welt kein Land, das gute Erfahrungen mit Volksbegehren und Volksentscheiden gemacht hätte.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist schlicht falsch!)

Denken Sie einmal daran, daß sich der von Ihnen hochgeschätzte, aus Ihren Reihen kommende Gerhard Leibholz, Verfassungsrichter und Verfassungsrechtler, ausdrücklich gegen den Volksentscheid entschieden hat. Theodor Heuss hat sich ebenfalls ausdrücklich gegen den Volksentscheid entschieden, und zwar aus ganz bestimmten und aus ganz richtigen Gründen.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Was Sie behaupten, entbehrt jeder sachlichen Grundlage!)

Gegen den Antrag der SPD bestehen aber nicht nur verfassungspolitische, sondern auch handfeste verfassungsrechtliche Bedenken.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist überhaupt nicht wahr!)

Sicher ist der Volksentscheid, fände er Eingang in die Verfassung, für sich genommen — da stimme ich mit Ihnen überein — noch nicht verfassungswidrig. Aber dadurch, daß er beim Art. 146 angesiedelt werden soll, entstehen, wie ich meine, wichtige verfassungsrechtliche Bedenken. Immerhin müssen Sie bedenken, daß der Art. 146 ja dafür vorgesehen ist, dem Volk die Verfassung insgesamt zur Entscheidung vorzulegen.

(Detlev von Larcher [SPD]: Das wollen Sie ja auch nicht!)

Dann hat er sich erledigt.
Wenn Sie aber jetzt den Versuch unternehmen, im Art. 146 weitere Volksentscheide vorzusehen und jetzt den Volksentscheid über den Regierungssitz als Einstieg in andere Volksentscheide zu nehmen

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Ganz genau!)

— genau, Sie sagen es richtig; genau das wollen Sie —, dann perpetuieren Sie den Art. 146. Das ist ganz ausgesprochen gegen den Willen des damaligen Verfassungsgesetzgebers.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Lesen Sie sich den Art. 146 einmal durch! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Hören Sie doch einmal zu; vielleicht können Sie mir dann zustimmen.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Mein Gott, Sie müssen es mal lesen!)

Außerdem bestehen erhebliche Bedenken gegen den Art. 146 selbst.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Absurd!)

Denn immerhin muß man berücksichtigen, daß durch
den Art. 146 die Möglichkeit gegeben ist, unsere Verfassung insgesamt auszuhebeln. Denn der Volksentscheid könnte ja beispielsweise bei niedriger Beteiligung anders ausgehen, als wir es uns vorstellen.
Wenn uns aber der Verfassungsgeber, wenn uns das Volk selbst eine Verfassung gegeben und vorgesehen hat, daß diese Verfassung nur unter bestimmten Voraussetzungen ausgehebelt werden kann, dann müssen diese Voraussetzungen aber auch eingehalten werden. Wir sind aber in der deutschen Einigung den Weg über Art. 23 des Grundgesetzes gegangen. Dann war die Möglichkeit des alten Art. 146 des Grundgesetzes gegeben. Der Weg über diesen alten Art. 146 des Grundgesetzes, der eine neue Verfassung im Falle der Wiedervereinigung ermöglicht hat, wurde aber nicht begangen.

(Zuruf von der SPD: Weil Sie nicht wollten!)

Eine weitere Möglichkeit aber, unsere Verfassung auszuhebeln, hat der Verfassungsgeber, das Volk, der Parlamentarische Rat, nie vorgesehen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Deshalb ist sehr wohl die Frage — sie darf nicht so einfach vom Tisch gewischt werden — , ob Art. 146 des Grundgesetzes in seiner neuen Fassung, nach der wir erneut eine Möglichkeit vorsehen, die Verfassung insgesamt auszuhebeln, verfassungswidrig sein kann.

(Uwe Lambinus [SPD]: Was heißt denn „verfassungswidrig"? Billige Demagogie: „aushebeln" ! )

Diese Möglichkeit ist ohne weiteres gegeben.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Dummes Zeug!)

Das sollten Sie bedenken. Auch deshalb haben wir gegen Ihren Antrag erhebliche Bedenken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie müssen darüber hinaus aber auch bedenken — Sie haben das abgetan; Herr de Maizière hat nicht so geantwortet, wie Sie es gesagt haben, Frau Däubler-Gmelin — : Natürlich kann diese Entscheidung durch das Volk unter Umständen gegen den Einigungsvertrag verstoßen, weil dort vorgesehen ist, daß die gesetzgebenden Körperschaften, also Parlament und Bundesrat, die Entscheidung treffen sollen, wo Parlaments- und Regierungssitz sein soll; nicht das Volk soll die Entscheidung treffen, sondern Bundesrat und Bundestag.

(Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/ GRÜNE]: „Nicht das Volk", das war deutlich!)

So sieht es der Einigungsvertrag vor. Ich weiß nicht, ob der Einigungsvertrag auch mit Hilfe einer verfassungsändernden, qualifizierten parlamentarischen Mehrheit abgeändert werden kann.

(Zurufe von der SPD)

— Das ist sehr wohl die Frage. Das kann nicht so ohne weiteres vom Tisch gefegt werden.
Frau Däubler-Gmelin, es ist auch nicht richtig, wenn Sie sagen, durch eine solche Entscheidung, die vom Volk zu treffen sei, könnten keine Gräben aufgerissen werden. Wenn sich das Volk wirklich beispielsweise für Bonn entscheiden sollte, wären dann nicht



Norbert Geis
leicht Emotionen in den fünf neuen Bundesländern möglich, Emotionen, die dahin gehen, zu sagen: Im Grunde genommen haben sich die Westler gegen uns entschieden; weil sie sich nicht für Berlin entschieden haben, haben sie sich gegen uns entschieden? — Das sind Gräben, die aufgerissen werden können. —

(Detlef von Larcher [SPD]: Und wenn der Bundestag entscheidet?)

Vielleicht haben sie sich, so könnte man in den neuen Bundesländern denken, auch gegen die Wiedervereinigung entschieden. — All dies böte breiten Raum für alle mögliche Demagogie, für alle mögliche Verhetzung. Das sollten Sie mit bedenken.
Ich meine, wenn aber die Entscheidung im Parlament selbst getroffen wird, dann kann eine solche Entscheidung eher nachvollzogen werden, weil ihre Rationalität eher einsichtig ist. Das Volk selbst kann ja seine Entscheidung nicht begründen, Herr Ullmann.

(Peter Struck [SPD]: Das ist eine unglaubliche Rede, die Sie hier halten! Suchen wir uns ein anderes Volk!)

Der Begründungszwang liegt bei den Abgeordneten, die sich für die eine oder für die andere Richtung entscheiden. Dieser Begründungszwang führt natürlich dazu, daß eine solche Entscheidung einsichtiger ist und deshalb eher verständlich ist und deshalb auch eher nachvollzogen werden kann und deshalb viel, viel mehr, als Sie annehmen, zur Befriedung beiträgt.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203309300
Herr Abgeordneter Geis, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß das Mehr an Redezeit, das Sie jetzt in Anspruch nehmen, auf Kosten des Kollegen Gerster geht. Ich will das nur in Ihre Erinnerung zurückrufen.

Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1203309400
Ich komme zum Schlußsatz. — Wir lehnen den Antrag der SPD ab. Wir sind der Auffassung, daß dieser Antrag von Anfang an überhaupt nicht ernst gemeint gewesen ist.

(Lachen bei der SPD — Detlef von Larcher [SPD]: Das ist ja wohl das Letzte! — Weiterer Zuruf von der SPD: Das ist ja wirklich unerhört! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Er war nicht ernst gemeint. Bevor Sie ihn in die Welt gesetzt haben, hätten Sie ja erst einmal Kontakt aufnehmen können. Es ist ja so, daß man verfassungsändernde Mehrheiten braucht. Man braucht Zweitdrittelmehrheiten. Immer dann, wenn der Versuch unternommen wird, im Parlament die Verfassung zu ändern, werden schon im Vorfeld Gespräche geführt. Das haben Sie aber gar nicht gemacht. Sie wollten es ja auch gar nicht. Sie wollten nur Volksnähe demonstrieren. In Wirklichkeit geht es Ihnen gar nicht um das Volk;

(Detlef von Larcher [SPD]: Das ist eine Unverschämtheit! — Weitere Zurufe von der SPD)

es geht Ihnen nur darum, aus Ihrem Dilemma herauszukommen, in das Sie sich hineinmanövriert haben. Das ist der Grund, und dafür soll nun das Parlament herhalten. Da machen wir nicht mit.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203309500
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Frau Däubler-Gmelin das Wort.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD):
Rede ID: ID1203309600
Herr Präsident! Verehrter Kollege Geis, ich habe mich nicht deswegen gemeldet, weil Sie gerade in einer unüberbietbar überzeugenden Form all das bestätigt haben, was ich vorhin an Vorwürfen in Ihre Richtung losgeworden bin.

(Beifall bei der SPD)

Ich habe mich auch nicht deswegen gemeldet, weil Ihr Argument mit dem Mangel an Ernsthaftigkeit nun mehr als widerlegt ist: Sie werden sehen, wie ernst wir es mit dem Gesetzentwurf meinen, spätestens dann, wenn auch die Länder im Bundesrat ihn am Freitag diskutieren und wenn wir unsere Forderung nach Volksbegehren, Volksinitiative und Volksentscheid im Zuge der Weiterentwicklung des Grundgesetzes zur gesamtdeutschen Verfassung ganz selbstverständlich wieder stellen. Das alles wissen Sie auch. Ich habe mich gemeldet, weil ich den Art. 146 gegen Sie in Schutz nehmen muß.
Sie haben so getan und dabei Worte gebraucht, als habe dieses Haus mit einer Zweidrittelmehrheit, als habe die Volkskammer nach der Wende, das erste demokratisch gewählte Parlament in der DDR, mit Zweidrittelmehrheit die Möglichkeit geschaffen, die Verfassung „auszuhebeln" . Bedenken Sie bitte Ihre Worte. Das sind Worte, die nicht nur gegen die Bürgerinnen und Bürger gerichtet sind, die eine Weiterentwicklung des Grundgesetzes wollen,

(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist Demagogie!)

das sind auch antiparlamentarische Worte, die ein Abgeordneter eigentlich nicht benutzen dürfte. Lieber verehrter Kollege Geis, das sind auch demagogische Sprüche, gegen die Sie sich glaubwürdig nicht mehr verwahren können, wenn Sie sie selbst verwenden.

(Beifall bei der SPD)

Richtig ist, daß im Art. 146 mit Verfassungsrang die demokratische Selbstverständlichkeit festgehalten wurde, nach der sehr schnell erfolgten staatlichen Einigung Deutschland, durch sorgfältige Nacharbeit — auf die wurde immer wieder hingewiesen, und deren Notwendigkeit stand eigentlich immer außer Zweifel — unser Grundgesetz in eine gesamtdeutsche Verfassung umzuwandeln und dazu auch die Abstimmung von Bürgerinnen und Bürgern des geeinten Deutschland vorzusehen.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Die schmeißt alles durcheinander!)

Wer diesen Vorgang als „Aushebeln" bezeichnet, meine Damen und Herren, sollte solche Worte schnellstens zurücknehmen.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD)





Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203309700
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Geis das Wort. Ich kündige gleich an: Weitere werde ich an dieser Stelle nicht zulassen.

Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1203309800
Frau Däubler-Gmelin, ich gehe davon aus, daß Sie den Art. 146 immer noch nicht richtig durchgelesen haben.

(Lachen bei der SPD)

Wenn Sie ihn richtig durchgelesen hätten, würden Sie mit mir darin übereinstimmen, daß das Volk in Art 146 natürlich aufgerufen ist, über die Verfassung insgesamt zu entscheiden. Sonst hätte er ja auch gar keinen Sinn. Wenn das Volk aufgerufen ist, über die Verfassung insgesamt zu entscheiden, muß eine Entscheidung gegen die Verfassung möglich sein. Sonst wäre dieser Aufruf nur eine reine Farce.
Ich habe lediglich weithin bekannte verfassungsrechtliche Bedenken vorgetragen, Frau DäublerGmelin. Sie haben vorhin im Eifer des Gefechtes offenbar nicht richtig zugehört. Die Bedenken bestehen darin, daß der Verfassungsgeber, der Parlamentarische Rat, die Möglichkeit der Selbstaufhebung der Verfassung nicht vorgesehen hat. Eine solche Möglichkeit muß aber der Verfassungsgeber selbst und nicht der Verfassungsgesetzgeber vorsehen, weil der Verfassungsgeber selbst die Verfassung gibt und er die Möglichkeit einräumen muß, ob über die Verfassung insgesamt entschieden wird, d. h. ob sie aufgehoben oder angenommen wird. Das ist Aufgabe des Verfassungsgebers. Es ist sehr wohl die Frage, ob sich nicht der Verfassungsgesetzgeber — ich bitte Sie, diesen Ausführungen zu folgen — ein Recht angemaßt hat, das nur dem Verfassungsgeber zusteht.
Das sind verfassungsrechtliche Bedenken, die ich angemeldet habe und die es zu erwägen gilt. Ich bitte sehr darum, daß Sie über diese Frage einmal in aller Ruhe nachdenken.
Danke schön.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203309900
Nun hat das Wort der Abgeordnete Dr. Ullmann.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1203310000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages hat empfohlen, den Gesetzentwurf der SPD, der von der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE unterstützt wird, abzulehnen. Er hat das mit der Mehrheit der Koalitionsstimmen getan. Ich gehe davon aus, daß die Koalitionsmehrheit ihn auch hier ablehnen will. Darum werde ich meine kostbare Zeit nicht verschwenden, tauben Ohren zu predigen. Aber, meine Damen und Herren von der Koalition, ich habe die Aufgabe, Sie auf die Konsequenzen aufmerksam zu machen, die diese Ablehnung nach sich zieht.
Die Anhörung im Rechtsausschuß hat bewiesen: Dieser Gesetzesvorschlag ist verfassungsgemäß. Sie lehnen also eine verfassungsgemäße Möglichkeit demokratischer Willensbildung ab. Begründen Sie das! Was ich hier gehört habe, war keine Begründung. Ich denke, Sie belasten damit die Debatte, die im ganzen Volk bereits geführt wird.
Es ist doch nicht so, daß nur wir hier darüber reden — wir reden ja am allerwenigsten — , im ganzen Lande wird darüber geredet, beim Evangelischen Kirchentag wird darüber geredet. Ich bin befremdet, Herr Geis, daß Sie es fertigbringen, in diesem Hause eine hervorragende Persönlichkeit des Kirchentages wie Bundesrichter a. D. Simon zu verleumden, daß er antiparlamentarische, und das heißt doch: antidemokratische Ziele verfolge.

(Beifall bei der SPD — Norbert Geis [CDU/ CSU]: Diese Verleumdung habe ich nicht gemacht!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203310100
Herr Dr. Ullmann, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Mahlo zu beantworten?

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1203310200
Bitte sehr.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203310300
Bitte sehr, Herr Dr. Mahlo.

Dr. Dietrich Mahlo (CDU):
Rede ID: ID1203310400
Herr Kollege Ullmann, entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche. Darf ich Ihnen die Frage stellen: Würden Sie auch dafür sein, Fragen der Ausländerpolitik und des Asylrechts unter einen Volksentscheid zu stellen, und falls Sie da Bedenken hätten, wie auch ich sie hätte: Wie will man unterscheiden, für welche Fragen man das Volk für geeignet hält und für welche nicht?

(Detlev von Larcher [SPD]: Semper idem!)


Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1203310500
Es ist Sache der Verfassungsorgane, solche Fragen in einer Weise zu formulieren, daß sie beantwortet werden können. Aber die Verfassungsorgane wie das Parlament haben auch Fragen anzunehmen, die das Volk stellt. Ich bin immer wieder befremdet, daß mit solchen Suggestivfragen unterstellt wird, das Volk verfolge immer böse Absichten, wenn es sich zu Wort melde.

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203310600
Nun eine Zwischenfrage — wenn Sie sie beantworten wollen, Herr Dr. Ullmann — von Herrn Abgeordneten Geis.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1203310700
Ja, bitte.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203310800
Bitte schön, Herr Abgeordneter.

Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1203310900
Herr Ullmann, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen,

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Schon wieder so arrogant!)

daß ich den von der SPD benannten Wissenschaftler und ehemaligen Verfassungsrichter zitiert habe,

(Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/ GRÜNE]: Bundesrichter a. D. Simon!)




Norbert Geis
der geredet hat vom Absolutismus des repräsentativen parlamentarischen Systems.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sie haben ihn vorher falsch zitiert!)

— Das ist genau das, was der vormalige Bundesrichter gesagt hat. Genau das habe ich zitiert.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Herr Geis, das trifft doch nicht zu!)

Ich habe ihn damit nicht verleumdet. Stimmen Sie da mit mir überein?

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1203311000
Sie haben ihn verleumdet mit Ihrer Interpretation;

(Beifall bei der SPD)

denn Herr Simon hat den Absolutismus angegriffen, aber nicht die repräsentative Demokratie.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Er hat den Absolutismus des repräsentativen parlamentarischen Systems genannt!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203311100
Dann möchte ich den Dialog beenden, Herr Abgeordneter, und Sie können in Ihrer Rede fortfahren.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1203311200
Ich komme zu meinem zweiten Punkt: Die Anhörung hat ergeben, daß der Appell an die verfassunggebende Gewalt, das Volk, den Souverän, in der Form, wie der SPD-Gesetzentwurf ihn vorsah, keine Präjudizierung enthält, meine Damen und Herren von der Koalition, wie man in der Verfassung das Verhältnis von Parlament und Plebiszit sieht. Trotzdem wird von Ihnen und einem Teil der deutschen Rechtsgelehrsamkeit immer nur darüber geredet, ob Plebiszit, Bürger- und Bürgerinnenbeteiligung, wünschbar sei. Die Frage ist aber, ob es notwendig ist und ob es hilft zur Lösung der Probleme, die wir vor uns haben. — Es ist nötig zur Lösung der Probleme der deutschen Vereinigung, und es ist nicht die Frage, ob bestimmte konservative Juristen das für wünschbar halten oder nicht.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203311300
Herr Abgeordneter Ullmann, ich muß Sie noch einmal unterbrechen, weil eine weitere Bitte wegen einer Zwischenfrage vorliegt.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1203311400
Ja.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203311500
Herr Abgeordneter Krey.

Franz Heinrich Krey (CDU):
Rede ID: ID1203311600
Herr Kollege, Sie übersehen sicher mit mir nicht den zeitlichen Zusammenhang einer Sachfrage der deutschen Politik, nämlich ob Bonn oder Berlin Regierungssitz sein soll, mit dem Thema, das wir heute behandeln? Wir haben im Einigungsvertrag den Ort der Entscheidung festgemacht. Der Ort ist das Parlament und nicht das Volk. Das ist doch mit großer Mehrheit von uns allen so entschieden worden. Glauben Sie nicht, daß es auch viele gute Gründe für die Vermutung gibt, daß das Volk von uns erwartet, daß wir diese Frage hier in Wahrnehmung unserer Pflichten entscheiden und nicht vertrösten auf eine Veränderung in unserer Verfassung,
über die ich im übrigen gerne mit Ihnen weiter diskutieren möchte?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Detlev von Larcher [SPD]: Sehen Sie sich doch die Befragungen an!)


Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1203311700
Das Volk hat gewiß diese Hoffnung, aber ich nehme an, es wird mittlerweile Zweifel haben, ob wir dazu in der Lage sind.
Was den Einigungsvertrag anbelangt, so verlangt der, das Parlament solle darüber befinden.

(Johannes Gerster [CDU/CSU]: Eben, aber in der Sache befinden!)

Wir sind ja gerade dabei. Ich versuche, Ihnen klarzumachen, daß Sie unsere Möglichkeiten, die uns hier von der Verfassung gegeben sind, einengen wollen. Dagegen geht meine Rede.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203311800
Frau Däubler-Gmelin möchte auch noch einmal das Wort. Aber ich möchte Sie herzlich bitten, keine weiteren Zwischenfragen mehr zu stellen. Sonst kommen wir heute wirklich in Zeitprobleme. Bitte, Frau Däubler-Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD):
Rede ID: ID1203311900
Danke schön, Kollege Ullmann.
Ich habe mich zu einer Zwischenfrage gemeldet, weil ich es furchtbar gern hätte, daß Sie als ein Vertreter der Menschen in den neuen Ländern den Kollegen einfach noch einmal sagen, ob Sie es überhaupt für möglich gehalten hätten, daß eine solche Frage, die in der Protokollnotiz angesprochen wurde, gegen die Bevölkerung, gegen die Bürgerinnen und Bürger interpretiert und ausgelegt werden darf. Das ist meine Bitte.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sagen Sie doch nicht, daß das gegen die Bevölkerung ist!)

— Die CDU sagt das offensichtlich anders.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1203312000
Die Frage ist natürlich zu verneinen, und zwar aus folgendem Grund, Herr Geis: Natürlich haben wir uns unter das Dach des Grundgesetzes gestellt. Ich habe, denke ich, sehr viel dazu beigetragen, daß das geschehen ist, aber eines Grundgesetzes, in dem auch der Art. 146 steht, den Sie merkwürdigerweise für verfassungswidrig halten.
Ich wundere mich, wenn ich Sie und auch die von Ihnen benannten Rechtsgelehrten höre, was Sie dem Volk unterstellen: Es ist aufgeregt, es ist zur Feindseligkeit geneigt,

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hat doch keiner gesagt!)

es hat die schlechte Absicht, wahrscheinlich die Todesstrafe wieder einzuführen.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hat keiner gesagt!)

Welche Meinung haben Sie eigentlich von dem Volk,
von dem laut unserer Verfassung die Staatsgewalt



Dr. Wolfgang Ullmann
ausgehen soll und nicht irgendwelche unvernünftigen Emotionen?
Meine letzte Anmerkung: Sie tragen, meine Damen und Herren der Koalition, die Verantwortung dafür, daß wir die Chance, die Diskussion über Parlaments-und Regierungssitz in den Zusammenhang mit der Verfassungsreform zu stellen, zerstören. Ich mache Sie darauf aufmerksam: Sie haben im Einigungsprozeß schon sehr viele Chancen vertan. Wollen Sie noch eine vertane Chance auf Ihre Verantwortung nehmen? Ich rate Ihnen davon ab.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203312100
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Heuer das Wort.

Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS):
Rede ID: ID1203312200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundestag steht heute vor einer großen Stunde. Erstmals in seiner Geschichte steht ein verfassungsänderndes Gesetz, zum Volksentscheid zur Abstimmung. Das zwingt uns zu einer Demokratiedebatte.
Ich höre schon jetzt wieder die Zurufe „ausgerechnet Sie!" Dazu eine Bemerkung: Die Partei- und Staatsführung der DDR vertrat eine Doktrin, wonach die Kenntnis der Gesetze der Geschichte es der Partei erlaube, die Interessen des Volkes zu vertreten, ohne das Volk selbst fragen zu müssen. Ich habe mich mit dieser Doktrin mehrfach auseinandergesetzt, 1974 in einem Buch, „Gesellschaftliche Gesetze und politische Organisation" , 1989 in einem Buch „Marxismus und Demokratie". Meine Meinung war damals und heute: Ohne Mitwirkung des Volkes können seine Interessen und Wünsche nicht ermittelt werden. Daraus leite ich das persönliche Recht ab, mich heute gegen diejenigen zu wenden, die die Mitwirkung des Volkes auf die Wahlen beschränken wollen.
In der Anhörung des Rechtsausschusses zur Vorbereitung der heutigen Tagung erklärte mein verehrter Kollege, Herr Professor Lerche, zu der Position der repräsentativen Demokratie als eigentlicher Demokratie:
Aus dieser Verantwortung sollte es keinen Fluchtweg geben, erst recht nicht in optischer Verbrämung. Zuflucht beim Volk suchen heißt flüchten.
Ich verstehe nicht, wie ein Demokrat von Flucht sprechen kann, wenn eine wichtige und bedeutsame Frage dem Volk zur direkten Entscheidung vorgelegt wird.
Herr Geis hat hier gesagt: Wir, d. h. die Abgeordneten, haben die Möglichkeit und Zeit, uns den Sachverstand aneignen zu können, offenbar im Gegensatz zum Volk. Mich erinnert das an eine Formulierung aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts, wo gesagt wurde, es zieme den Untertanen nicht, an die Handlung der Obrigkeit das Maß ihres beschränkten Verstandes anzulegen.
Wohltuend gegenüber dem war die Erklärung von Rainer Barzel vom 24. April 1958, daß niemand von der CDU/CSU behauptet, daß es undemokratisch sei, eine Ausweitung des plebiszitären Charakters unseres Grundgesetzes zu fördern. Unser Volk ist Souverän, nicht Orakel und nicht Hampelmann, erklärte er damals.
Die SPD hat jetzt den Entwurf einer Grundgesetzänderung eingebracht, die festlegt, daß der Sitz von Parlament und Regierung durch Volksentscheid festgelegt wird, sowie ein entsprechendes Gesetz. An der Zulässigkeit einer solchen Grundgesetzänderung besteht kein Zweifel. Bestritten wird dagegen ihre Zweckmäßigkeit.
Als Argument dagegen wird immer wieder die Rolle von Volksbegehren und Volksentscheid in der Weimarer Republik gebraucht; hierzu hat schon die Abgeordnete Däubler-Gmelin überzeugend argumentiert. Die Weimarer Republik ist nicht an den acht Volksbegehren — mit zwei Volksentscheiden — zugrunde gegangen, sondern an ganz anderen, weitgehend jenseits des Verfassungsrechts liegenden Fragen wie dem Streben nach Revision des Versailler Vertrages, der Nutzung der Arbeitslosigkeit durch reaktionäre Kräfte, der Spaltung der Arbeiterbewegung, auch der Weigerung der KPD, diese Republik gegen den Faschismus zu verteidigen.
Ich möchte noch auf einige ernsthafte Bedenken bezug nehmen: Es wird die Frage gestellt, ob es sich hier wirklich um eine derart wichtige Frage handelt. Tatsächlich ist bei vielen, meines Erachtens wichtigeren Fragen dieser Weg nicht gegangen worden. Ich erinnere an den Kampf gegen Aufrüstung in den 50er Jahren, an die Auseinandersetzungen um die Notstandsverfassung Ende der 60er Jahre und an die Herstellung der Einheit Deutschlands; die Bestätigung einer neuen Verfassung durch Volksentscheid steht noch zur Debatte.
Bedenken gibt es auch gegen die Einleitung eines Volksentscheids von oben. Der Sachverständige Professor Preuß erklärte in der Anhörung, daß es als problematisch anzusehen sei, staatlichen Organen das Recht zur Initiative eines Volksentscheids einzuräumen. Es bestehe die Gefahr einer autoritären Manipulation zu Zwecken der plebiszitären Akklamation, womit der demokratische Charakter plesbizitärer Beteiligung verlorenginge.
Tatsächlich muß sich die SPD fragen lassen, warum sie plötzlich ein solches Grundsatzproblem aufwirft, es dann aber nur für einen Fall beantwortet, das demokratietheoretische Grundproblem jedoch nicht gesetzgeberisch in Angriff nimmt.
Schließlich kann der dritte Einwand erhoben werden, daß der Volksentscheid einen mündigen Bürger voraussetzt, daß hier Fehlentscheidungen vorkommen können. Tatsächlich kann auch das Instrument der Volksgesetzgebung, wie es in Arbeiten des Gaismarer Kreises heißt, nur so gut sein wie seine Einbettung in andere Formen der Bürgerbeteiligung: Anhörungsrechte, Mitwirkungsrechte in Betrieben, Schulen, Kommunen wie die Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit überhaupt.
Es wird schließlich der Einwand erhoben, daß es sich um einen unsystematischen Einstieg handele. Ich meine aber, daß alle Anfänge zunächst unsystematisch sind. Die Systematik wird erst später von der Wissenschaft hergestellt; die Politik muß beginnen.



Dr. Uwe-Jens Heuer
Trotz der dargelegten Bedenken hinsichtich der Konsequenz des Vorgehens sind wir für diesen Einstieg in eine Periode der Verbindung von repräsentativer und unmittelbarer Demokratie.
Meine Damen und Herren, 1918 führten Trotzki, Lenin und Kautsky eine Demokratiedebatte. In dieser Diskussion erklärte Karl Kautsky, daß, bevor das Volk die Macht ergreifen könne, es erst lernen müsse. Bevor man ein Pferd besteige, müsse man erst, wie er, in eine Reitschule gegangen sein. Trotzki antwortete ihm, daß man Reiten nur in dieser Tätigkeit selbst lernen könne.
Meine 17 Damen und Herren von der CDU/CSU und der FDP, haben Sie den Mut, das Volk auf das Pferd zu setzen!
Danke schön.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203312300
Nun hat der Abgeordnete van Essen das Wort.

Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1203312400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bestreiten es überhaupt nicht: Es können gewichtige Gründe für eine stärkere Mitbestimmung des Volkes bei politischen Entscheidungen ins Feld geführt werden. Die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR hat ein hohes Maß an Besonnenheit und Vernunft der Bevölkerung gezeigt. Wann, wenn nicht jetzt, wäre die Zeit reif für die Einführung eines Volksentscheides?
Trotzdem hat die Mehrzahl der Sachverständigen, die der Rechtsausschuß in der vergangenen Woche gehört hat, massive, insbesondere verfassungspolitische Bedenken gegen den Entwurf der SPD vorgebracht und damit deutlich die ablehnende Haltung der FDP gestützt.
Frau Däubler, wir haben diese Frage übrigens sehr sorgfältig und ausgiebig in der Fraktion diskutiert und unsere Position mit nur einer Gegenstimme und einer Enthaltung beschlossen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203312500
Herr Abgeordneter van Essen, der Abgeordnete Schmude möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1203312600
Herr Präsident, im Hinblick auf Ihre Ausführungen zur Zeit möchte ich keine Zwischenfragen gestatten. Außerdem glaube ich, daß man auch mit Zwischenfragen aus einem Zwergpony keinen rassigen Araber machen kann.

(Beifall bei der FDP — Detlev von Larcher [SPD]: Meinen Sie sich selbst oder die Sache?)

Von den Sachverständigen ist zu Recht insbesondere darauf hingewiesen worden, daß nach dem Grundgesetz mit der parlamentarischen Macht gleichzeitig die Verantwortung übertragen wird, für andere zu entscheiden. Aus dieser Verantwortung darf es keinen Fluchtweg geben, besonders dann nicht, wenn dieser so offenkundig eine Verlegenheitslösung ist wie hier.
Die SPD verbrämt dies in ihrer Begründung damit, daß die Frage des Regierungssitzes die Bürgerinnen und Bürger in außerordentlichem Maße bewegt. Bei der Bandbreite dessen, was bei unseren Wählern zu starken Emotionen führt, wirft diese alleinige und gleichzeitig dünne Begründung für eine so schwerwiegende Maßnahme wie eine Verfassungsergänzung die Frage auf, welchen Stellenwert die SPD dem unabängigen Parlament noch beimißt.

(Beifall bei der FDP)

Sollen wir nur noch bei den das Volk nicht interessierenden Fragen der Entscheidungsträger sein? Gerade als neugewählter Abgeordneter lasse ich mir auch bei unangenehmen und schwierigen Fragen die Verantwortung nicht aus der Hand nehmen.

(Zustimmung bei der FDP)

Es kann und darf nicht nach Belieben auf das Volk zurückgegriffen werden.
Eine zweite Überlegung macht die Fragwürdigkeit des vorliegenden Entwurfs noch deutlicher. Die grundlegende Entscheidung über den Beitritt der Länder der DDR zur Bundesrepublik, aber auch die Bestimmung Berlins zur Hauptstadt sind ohne Rückgriffe auf das Volk entschieden worden. Es bedeutet doch gerade keine Anerkennung des Volkes als Souverän, wenn es nun in einer demgegenüber nachrangigen Frage aus bloßer Entscheidungsschwäche der dazu eigentlich Berufenen gefragt wird.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

So verfassungspolitisch wünschenswert die Diskussion über eine stärkere Einbeziehung des Bürgers in politische Entscheidungen sein mag, wobei ich persönlich aus meiner Zurückhaltung in dieser Frage keinen Hehl mache, so schädlich ist ein Hauruckverfahren, wie es hier nun versucht wird. Gerade die sehr unterschiedlichen Erfahrungen in einigen Bundesländern und auch im Ausland zwingen zu sorgfältigen Überlegungen, wo und unter welchen Bedingungen stärkere pelbiszitäre Elemente erwünscht sein können. Dabei ist ein Punkt weitgehend unstrittig: Plebiszite helfen nicht bei der Entscheidung besonders komplexer Sachverhalte; sie behindern gerade in diesem Bereich notwendige und sachdienliche Kompromisse.
Der SPD-Entwurf verschleiert dies nur, indem er ausschließlich die Frage der Lokalität des Parlaments- und Regierungssitzes zur Entscheidung stellt. Wichtige andere entscheidungsbedürftige Bereiche wie die Zeitachse bei einer Verlagerung nach Berlin und deren Kosten bleiben völlig offen. Ein Ende der Diskussion und eine konsensfördernde Wirkung des Volksentscheids sind damit gerade nicht zu erwarten.
Völlig ungeklärt ist auch die Frage, in welcher Mindestbeteiligung von Stimmberechtigten das Plebiszit eine Wirkung entfalten soll. Die Frage ist auch deshalb sehr aktuell, weil bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg die Gruppe der Nichtwähler bereits die stärkste Partei war.

(Uwe Lambinus [SPD]: Warum wohl?)

Gerade nach den Erfahrungen in Weimar sind auch hier sorgfältige Überlegungen vonnöten.
Das Stichwort Kosten ist von mir in anderem Zusammenhang bereits genannt worden. Dabei drängt sich



Jörg van Essen
die Frage auch bei einem Volksentscheid selbst auf. Im Entwurf der SPD heißt es, diese seien noch näher zu bestimmen. Wer bezahlt eigentlich den zu erwartenden aufwendigen und langwierigen Wahlkampf, wer die Volksabstimmung selbst? Sicher werden sich finanzkräftige Interessengruppen auf beiden Seiten finden. Der größte Teil wird aber aus öffentlichen Kassen, etwa der beteiligten Städte, kommen und damit vom Steuerzahler zu tragen sein. Ich denke, wir haben bei der Situation, in der wir uns im Augenblick in diesem Land befinden, sicherlich viele Gründe, Geld besser einzusetzen als hier.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der Auftrag aus der Protokollerklärung zum Einigungsvertrag ist eindeutig. Danach bleibt die Entscheidung über den Parlaments- und Regierungssitz den gesetzgebenden Körperschaften, also Bundestag und Bundesrat, vorbehalten. Trotz unübersehbarer Kosten und der vielen aufgezeigten Nachteile will die SPD aus ihrer parlamentarischen Verantwortung fliehen.

(Lachen bei der SPD)

Mit uns, der FDP, ist das nicht zu machen. Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203312700
Das Wort hat der Abgeordnete Gerster.

Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1203312800
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute im Vorfeld der großen Debatte morgen im wesentlichen Verfahrensfragen. Das ist so etwas wie eine Generalprobe. Ich hoffe, daß das alte Prinzip gilt, daß einer schlechten Generalprobe eine gute Aufführung folgt.
Ich finde, Frau Kollegin Däubler-Gmelin — und Sie als erste Rednerin sind für die Schärfe verantwortlich, die hier in die Debatte hineingekommen ist —,

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Danke für die Blumen, Herr Kollege! — Weitere Zurufe von der SPD)

wir sollten diese Grundsatzfragen mit etwas mehr Gelassenheit und damit auch Ernst diskutieren. Es hat mir nicht gefallen, wie Sie das hier gemacht haben.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Mir gefällt auch nicht, was Sie machen! Sie schreien immer bloß dazwischen, auch jetzt sind Sie schon wieder dabei!)

— Nein, ich schreie überhaupt nicht, ich sage das in aller Ruhe. Was nützt es, pausenlos zu sagen, Sie hätten recht und die anderen unrecht.
Ich will zu zwei Punkten etwas sagen: erstens zur Grundfrage, zu den Volksentscheiden, und zweitens zu dem konkreten, aktuellen Anlaß.
Die repräsentative Demokratie verbindet politische Führung mit demokratischer Verantwortung. Mit anderen Worten: Es gibt grundsätzliche Erwägungen, die gegen Volksentscheide sprechen. Das ist keine aktuelle und modische Feststellung. Diese Feststellung begleitet unser Grundgesetz von der ersten
Stunde des Entstehens über den Parlamentarischen Rat bis heute. Es waren doch die Väter des Grundgesetzes, die aus verantwortungsvollen, grundsätzlichen Erwägungen und aus einem klaren Ja zur Demokratie Volksentscheide — mit Ausnahme der Länderneugliederung — abgelehnt haben.
Ich will das in drei Punkten noch einmal kurz nennen: Gerade bei Angelegenheiten, die der Bundestag zu entscheiden hat, liegen den Entscheidungen oft sehr schwierige und differenzierte Abwägungsprozesse zugrunde. Die Fragen, die man per Volksentscheid zur Entscheidung stellen kann, müssen vernünftigerweise überschaubar und für den Bürger beurteilbar sein.

(Uwe Lambinus [SPD]: Sehr wahr!)

Und wenn hier Fragen an die Entscheidungsmöglichkeit des Bürgers gestellt werden, dann doch nicht deshalb, weil man dem Bürger nicht etwa zutrauen würde, er werde die einzelnen Fragen nicht verstehen können, sondern deshalb, weil es Realität ist, daß wir Politiker uns bedeutend mehr mit politischen Tagesfragen auseinandersetzen als der Normalbürger, der — aus welchen Gründen auch immer — vielleicht ein bißchen öfter an den Fußball, den Sport überhaupt, an musische Themen, vielleicht auch an Literatur denkt, als Politiker das tun, die sich den ganzen Tag mit politischen Sachfragen auseinandersetzen.

(Franz Heinrich Krey [CDU/CSU]: Leider ist das so!)

Sie können sicher sein — das ist kein schlechtes Zeugnis für die Bevölkerung — , daß es immer viele Bürger geben wird, die eine gewisse Grundinformation über Politik wollen, die aber — aus welchen Gründen auch immer — nicht in sehr komplizierte Einzelfragen einsteigen wollen, sondern — im Gegenteil — diese Fragen gerade beim Parlament abgeben und das Parlament für sich entscheiden lassen wollen.
Weil das so ist, kann man Politik eben nicht nach dem einfachen Ja/Nein-Schema gestalten, das Volksentscheiden naturgemäß zugrunde liegt, sondern es müssen ganz komplizierte Abwägungsprozesse erfolgen. Das wollte der Kollege Geis hier vortragen, als er sagte, daß er Zweifel habe, daß man die Palette der politischen Fragen Volksentscheiden unterlegen kann.
Ein zweiter Punkt: Außerhalb überschaubarer Verhältnisse begründen plebiszitäre Komponenten die Gefahr unangemessener Emotionalisierung. Der Demagogie würden Tür und Tor geöffnet; die Folgen wären Unberechenbarkeit und Unsicherheit. Das heißt: Es ist völlig unerträglich, wenn man den selbsternannten Demagogen, die an der Ecke stehen, die nicht einmal durch Nichtwahl bestraft werden können, sondern die verschwunden sind, wenn die Entscheidung gefallen ist, die Emotionalisierung überläßt. Dann wird weniger Sachlichkeit, weniger Verläßlichkeit herzustellen sein. Und das würde letzten Endes auch der Demokratie schaden.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203312900
Würden Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Heuer beantworten, Herr Abgeordneter Gerster?


Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1203313000
Dem Kollegen von der PDS gestatte ich keine Zwischenfrage. Mein lieber Herr Heuer, Sie sind ja fast doppeltes Ehrenmitglied der SED, seit 1948 Mitglied dieser Partei. Daß Sie sich zum Fürsprecher von mehr Demokratie machen, heißt den Bock zum Gärtner machen. Darf ich daran erinnern, daß es gerade zwei Jahre her ist, daß Sie ein System unterstützt haben, das freie Wahlen gar nicht zugelassen und unfreie Wahlen sogar noch manipuliert hat, nämlich die Kommunalwahl 1989.

(Detlev von Larcher [SPD]: Sie antworten auf eine nicht zugelassene Zwischenfrage!)

Wenn Sie sich hier hinstellen und für Demokratie reden, sollte sich die SPD sehr genau überlegen, in welcher Gesellschaft sie sich mit ihrem Ansinnen bewegt. Ich rate Ihnen, hier lieber den Mund zu halten. Sie sind kein Fürsprecher für mehr Demokratie.

(Abg. Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste] begibt sich zum amtierenden Präsidenten)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1203313100
Es ist das Recht des Abgeordneten, Herr Dr. Heuer, eine Zwischenfrage nicht zuzulassen.

Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1203313200
Dritte Bemerkung, meine Damen, meine Herren: Träte eine Entscheidung durch den Volkssouverän als Möglichkeit der politischen Sachentscheidung parallel neben die parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen, so würden wir die Entscheidungsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Parlaments zwangsläufig beschädigen. Nicht zuletzt wäre es für die gewählte parlamentarische Mehrheit dann kaum noch möglich, eine in sich logisch zusammenhängende Gesamtpolitik zu verfolgen.
Es ist doch die Wahrheit — hierzu hat Frau DäublerGmelin in ihrer Intervention meines Erachtens die Entwicklung der Weimarer Republik zumindest, um es vorsichtig auszudrücken, nicht zutreffend dargestellt — , daß gerade die Erfahrungen mit Volksentscheiden, mit Volksbegehren, die in der Weimarer Republik so negativ waren, die Verfassungsväter, auch die von der SPD, veranlaßt haben, Volksbegehren und Volksentscheide auf die Länderneugliederung zu beschränken und ansonsten auszuschließen. Das ist die historische Wahrheit. Ein Nachlesen etwa der Motive unseres Grundgesetzes macht sie deutlich.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist falsch!)


( V o r s i t z : Vizepräsident Hans Klein)

Deswegen gibt es, sagen wir von der CDU/CSU, gewichtige Gründe, aus denen wir gegen Volksbegehren und Volksentscheide über den Verfassungsrahmen hinaus eintreten.
Es dekuvriert das Vorgehen der SPD, daß es ihr, wenn sie jetzt dieses Thema erörtert, letzten Endes weniger um die Frage Bonn oder Berlin geht, sondern nur um einen Einstieg in Volksentscheide allgemein

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Auch einen Einstieg! Nicht nur einen Einstieg!)

soweit sie so argumentiert, wie es hier geschehen ist.
Ich halte den Vorschlag der SPD nicht nur für kurios, sondern auch für wenig glaubwürdig, Frau Däubler-Gmelin.

(Detlev von Larcher [SPD]: Natürlich! Wie können Sie auch etwas anderes sagen?)

— Ich werde Ihnen das gleich begründen — . Frau Däubler-Gmelin hat vorgetragen, der Bundestag und der Bundesrat sollten in dieser Woche entscheiden, und dann solle ein Volksentscheid kommen.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Richtig!)

Aber nach der Verfassung ist diese Entscheidung bindend. Sie wollen, daß diese Entscheidung zunächst nach der Verfassung bindend getroffen wird. Doch dann soll sie ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr bindend sein, und das Volk soll letzten Endes entscheiden.

(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist GersterLogik! — Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Er dreht sich im Kreis! Er hat nichts verstanden!)

Es kann doch nicht wahr sein, daß Sie dies mit der Verfassung machen wollen. Das ist doch nicht richtig.
Es ist auch nicht glaubwürdig, Frau Kollegin, was Sie betreiben.

(Detlev von Larcher [SPD]: Das kann er nicht verstehen!)

Ich muß Sie daran erinnern, daß es bei dem epochalen Ereignis der Vereingiung Deutschlands — als es darum ging, ob wir den Bürgern der neuen Bundesländer sofort die Möglichkeit der unmittelbaren Wahl und Mitentscheidung geben, was ein gesamtdeutsches Parlament angeht — just die SPD war, die eine Grundgesetzänderung, um vorgezogene Wahlen herbeiführen zu können, ablehnte.
Das heißt, wenn Sie jetzt einen Volksentscheid wegen der Entscheidung zwischen Bonn und Berlin wollen, dann ist das in zweifacher Weise im Widerspruch zu ihrem bisherigen Verhalten.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Nein!)

Es ist widersprüchlich, weil Sie im vorigen Jahr dem Einigungsvertrag zugestimmt haben, in dem festgelegt ist, daß das gesamtdeutsche Parlament die Entscheidung über den Sitz der Regierung und des Parlaments zu treffen hat. Es ist zudem unglaubwürdig, weil Sie im vorigen Jahr den Bürgern der neuen Bundesländer einschließlich Opposition

(Detlev von Larcher [SPD]: Sie müssen gerade von Glaubwürdigkeit reden!)

die Möglichkeit genommen haben, mit dem Beitritt sofort ein gesamtdeutsches Parlament gemeinsam mit uns zu wählen. Hier haben Sie eine Grundgesetzergänzung abgelehnt.
Mit anderen Worten: Wenn Sie heute oder vor 14 Tagen nach Ihrem Parteitag plötzlich das Grundgesetz ändern wollen,

(Detlev von Larcher [SPD]: Nicht plötzlich!)




Johannes Gerster (Mainz)

um einen Volksentscheid über den Regierungssitz herbeizuführen, müssen Sie sich entgegenhalten lassen, daß Sie bei viel wichtigeren Entscheidungen nicht bereit waren, das Grundgesetz zu ändern, um einen Volksentscheid herbeizuführen,

(Widerspruch bei der SPD)

und müssen Sie sich entgegenhalten lassen, daß es letzten Endes

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist an den Haaren herbeigezogen!)

bei Ihnen um die Frage geht: Wie kann ich mich der morgigen Entscheidung des Parlamentes für oder gegen Bonn entziehen?

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist falsch! — Detlev von Larcher [SPD]: Sie wissen, daß das Quatsch ist!)

Das nennen wir die Flucht aus der Verantwortung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sie haben doch die Schwierigkeit in der Sache, nicht wir! Die CDU ist doch in dieser Frage zutiefst zerstritten, nicht wir!)

Wenn Sie einen Volksentscheid über diese Frage wirklich immer gewollt haben, hätten Sie früher kommen müssen. Wenn Sie glauben, die Bürger zu begeistern, indem Sie jetzt, nachdem alle Argumente für und wider in endlosen Sitzungen und Besprechungen ausgetauscht sind, fünf vor zwölf aus der Entscheidung des Parlaments, dem Sie selber das zugewiesen haben, aussteigen,

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sie wollen doch vertagen!)

dann sage ich Ihnen einfach: Sie täuschen sich. Die Bürger wollen eine Entscheidung.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Die Bürger wollen selber entscheiden!)

Die Bürger wollen, daß die Politiker ihre Tätigkeit in diesem ersten gesamtdeutschen Parlament nicht jahrelang dieser Frage zuwenden,

(Detlev von Larcher [SPD]: Sie wissen ja, was die Bürger wollen!)

sondern daß sie erheblich wichtigere Fragen lösen, die — das sei zugegeben — in den letzten Wochen im Parlament wegen der Entscheidung zwischen Bonn und Berlin zu kurz gekommen sind.
Mit anderen Worten: Wir sind gut beraten, wenn wir das, was sich regional zum Teil emotionalisiert, was natürlich Kreise über die regionalen Interessen hinaus schlägt, möglichst zügig entscheiden. Wir sollten sehen, daß dies eine wichtige Entscheidung ist, daß aber bedeutend wichtigere Entscheidungen durch dieses Parlament vorzubereiten, durchzuführen, zu diskutieren und letzten Endes auch endgültig zu treffen sind.
Wir lehnen deshalb dieses Begehren ab. Ich sage noch einmal: Die Grundentscheidung über Volksentscheide hat nichts mit der Frage zu tun, was man den Bürgern letzten Endes zutraut, sondern hat damit zu tun, welcher Art von Demokratie man die größere Stabilität und die bessere Wirkungskraft sowie die bessere Dienstleistung für den Bürger zutraut. Dazu war die Meinung der verfassungsgebenden Versammlung bei der Beratung unseres Grundgesetzes, daß die repräsentative Form der Demokratie der bessere Weg ist — ich unterstreiche diese Meinung —; sie hat sich auch mehr als 40 Jahre bewährt. Gerade die Bürger in den neuen Bundesländern haben natürlich auch demonstriert, um zu dieser Verfassung zu kommen, die für sie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Freiheit garantiert hat.

(Detlev von Larcher [SPD]: Das bestreitet keiner! — Norbert Geis [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Der zweite Punkt ist: Wir sind der Meinung, daß wir uns der Verantwortung nicht entziehen sollten, so wie wir in Vertretung des Volkes und für das Volk gewählt worden sind, und zügig entscheiden sollten, damit endlich Planungen stattfinden können.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU — Detlev von Larcher [SPD]: Sie weigern sich, dazuzulernen!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203313300
Ich erteile zu einer Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung dem Abgeordneten Heuer das Wort.

(Dr. Heribert Blens [CDU/CSU]: Das habe ich kommen sehen!)


Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS):
Rede ID: ID1203313400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gerster hat erklärt, er sei nicht bereit, mir zu antworten, weil ich es sei, weil ich aus der SED komme, und weil die SED die Kommunalwahlen gefälscht habe und weil ich seit 1948 in der SED gewesen sei.
Mit meiner Geschichte könnte Herr Gerster sich befassen. Er könnte die beiden Bücher lesen, die ich hier genannt habe. Dann wäre ich gern bereit, mich mit ihm darüber, über mein und sein Demokratieverständnis zu unterhalten. Dabei könnten interessante Ergebnisse herauskommen.
Er hat mir weiterhin gesagt, ich sollte in diesem Kreise nicht das Wort ergreifen. Ich bin in Sachsen für den Bundestag gewählt worden, um hier die Interessen meiner Wähler zu vertreten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo waren Sie denn beim Volksentscheid am 17. Juni 1953?)

Ich kann mir nicht von Ihnen den Mund verbieten lassen. Ich glaube, daß das nicht möglich ist. Ich muß das tun; ich bin dafür gewählt worden, und ich nehme dieses Recht für mich in Anspruch.

(Dr. Herta Däubler-Gemlin [SPD]: Sie haben völlig recht!)

Noch eine Bemerkung: Vor einer Woche ist hier von einem Abgeordneten der CDU erklärt worden, man solle hier miteinander hart in der Form, aber vernünftig in der Sache umgehen; auf lateinisch: fortiter in re, suaviter in modo.

(Detlev von Larcher [SPD]: Das kann Herr Gerster nicht!)




Dr. Uwe-Jens Heuer
Dann wurde ergänzt, das gelte aber nicht für die PDS. Ich meine, daß das keine Form des Umgangs miteinander ist. Ich meine, daß sich politische Kultur dann zeigt, wenn man Sieger ist, und daß ein Sieger seine politische Kultur beweisen sollte. Ich meine, daß die CDU/CSU da einiges zu lernen hat.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203313500
Meine Damen und Herren, ich gebe jetzt das Wort für eine Kurzintervention dem Abgeordneten Gerster. Ich weise allerdings darauf hin, daß Herr Dr. Heuer noch einmal die Möglichkeit hat, darauf zu antworten. So sieht es unsere Geschäftsordnung vor. Ich möchte nur sagen: Wie immer es verläuft — damit wollen wir es dann aber bewenden lassen, sonst wird es eine Dialogveranstaltung.
Herr Kollege Gerster, Sie haben das Wort.

Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1203313600
Herr Präsident, Herr Heuer hat behauptet, ich hätte mich geweigert, ihm eine Antwort zu geben. Das ist unzutreffend. Ich habe mich geweigert, ihm innerhalb meiner Rede eine Zwischenfrage zu gestatten.
Zweiter Punkt. Er hat praktisch behauptet, ich wollte ihm das Wort verbieten. Das ist ebenfalls unzutreffend. Ich habe lediglich ausgeführt, daß Sie, Herr Heuer, einer der schlechtesten Fürsprecher dieses Hauses in Sachen Demokratie sind, der Sie über 40 Jahre für ein undemokratisches System, das Menschen und Menschenrechte mit Füßen getreten hat, Verantwortung tragen.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU — Detlev von Larcher [SPD]: Was ist mit euren Blockflöten?)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203313700
Das Wort nach § 31 unserer Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Lüder.

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1203313800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem in der Debatte einerseits zum Teil generell Argumente über die Frage der Wünschbarkeit von Volksentscheiden und andererseits die konkrete Frage Volksentscheid über die Frage Berlin oder Bonn miteinander vermengt worden sind, erkläre ich, daß mein Nein zu den Anträgen der SPD in der heutigen namentlichen Abstimmung ausschließlich damit begründet ist, daß ich gegen ein vorgezogenes, punktuelles, den Parlamentsbeschluß umgehendes Gesetzesverfahren bin, daß ich mir aber die Abstimmung zu Volksentscheiden und insbesondere zu Volksbegehren im Rahmen der Verfassungsreform, die wir in dieser Legislaturperiode noch vorhaben, offenhalte.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203313900
Ich schließe die Aussprache.
Wie bereits vor der Aussprache mitgeteilt, soll die Abstimmung nach der Sitzungsunterbrechung, die sich an die Fragestunde und an die Aktuelle Stunde anschließen wird, um 18 Uhr stattfinden. Sind Sie damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich rufe die Zusatztagesordnungspunkte 6 und 7 auf:
ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur Förderung von Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen im Beitrittsgebiet sowie zur Änderung steuerrechtlicher und anderer Vorschriften (Steueränderungsgesetz 1991
— StÄndG 1991)
— Drucksachen 12/219, 12/402, 12/459, 12/562, 12/698, 12/768 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Peter Struck
ZP7 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz über Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haushalte sowie über strukturelle Anpassungen in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet (Haushaltsbegleitgesetz 1991 — HBeglG 1991)
— Drucksachen 12/221, 12/401, 12/461, 12/581, 12/697, 12/769 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Peter Struck
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Herr Kollege Struck.

Dr. Peter Struck (SPD):
Rede ID: ID1203314000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Vermittlungsausschuß hat über die in Rede stehenden Gesetze 15 bis 16 Stunden getagt. Ich verspreche Ihnen aber, daß meine Redezeit etwas kürzer sein wird als die Tagungsdauer.
Ich möchte zunächst den Mitgliedern der Verhandlungsdelegation auf seiten der Regierungskoalition und der von der CDU regierten Länder meinen Dank über das Ergebnis dieser Verhandlungen aussprechen, die heute dem Bundestag und morgen dem Bundesrat zur Entscheidung vorliegen werden. Ganz persönlich möchte ich mich bei Ihnen, Herr Kollege Blens, Herr Staatssekretär Grünewald und auch Herr Kollege Gattermann, für die sehr faire Art und Weise der Zusammenarbeit bedanken.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Ich glaube, dieses Kompliment können Sie sicherlich auch uns machen, weil wir alle von dem Bestreben geleitet waren, in dieser komplizierten Materie doch zu einer Einigung zu kommen.

(Hans H. Gattermann [FDP]: Wird ausdrücklich bestätigt!)

Ich habe den Auftrag, dem Bundestag über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses kurz Bericht zu erstatten. Ich möchte mich jetzt nicht über einzelne Vorschriften mit Ihnen auslassen, sondern möchte nur die wesentlichen Punkte nennen: Ich stelle für den Vermittlungsausschuß fest, daß der Vermittlungsausschuß Änderungsvorschläge gemacht hat zum Haushaltsbegleitgesetz und zum Steuerän-



Dr. Peter Struck
derungsgesetz. Der Vermittlungsausschuß hat keine Vorschläge, die heute etwa zur Abstimmung anstehen, zum sogenannten Solidaritätsgesetz gemacht. Das ist nicht unsere Angelegenheit, sondern das wird möglicherweise morgen im Bundesrat noch einmal angesprochen werden.
Für uns im Vermittlungsausschuß war wichtig, daß wir uns alle von dem Bestreben leiten ließen, die notwendigen finanziellen Voraussetzungen für den Aufbau in den neuen deutschen Ländern ab 1. Juli dieses Jahres zu schaffen. Dies bedeutete auch, daß alle bemüht waren, zu einem Konsens zu kommen. Dieser Konsens bezieht sich sowohl auf das Thema Gewerbekapital- und Vermögensteuer, bei dem festgestellt worden ist, daß grundsätzlich beide Gesetze eine volle Anwendung finden, die Steuer wegen der bestehenden Verwaltungsschwierigkeiten in den neuen Ländern jedoch für zwei Jahre nicht erhoben und auch nicht nacherhoben wird.
Wir haben dann auch das Anrufungsbegehren des Bundesrates, was eine bessere Finanzierung im Rahmen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes angeht, aufgegriffen. Der Vermittlungsausschuß hat auch die Vermittlungsbegehren zum Zinsanpassungsgesetz und zur steuerlichen Behandlung von Handelsschiffen aufgegriffen.
Von besonderer Bedeutung war auch, daß wir uns im Vermittlungsausschuß auf eine Änderung bei der Investitionszulage im Fördergebiet einigen konnten, die für einen Zeitraum von einem weiteren halben Jahr bessere Bedingungen für Investitionen in den neuen deutschen Ländern festschreibt.
Im übrigen sind die Anrufungsbegehren erledigt.
Der Vermittlungsausschuß hat sich auch mit einer Reihe von Fragen im Zusammenhang mit dem BundLänder-Finanzausgleich befaßt, die nicht unmittelbar Gegenstand des Anrufungsbegehrens waren und zu den Gesetzespaketen gehören. Er hat in diesem Zusammenhang auch das Thema, welche Möglichkeiten es gibt, für vom Truppenabbau besonders betroffene Länder eventuell zusätzliche Hilfen über ein Sonderprogramm zu leisten, in, wie ich finde, angemessener Weise aufgegriffen.
Ich empfehle daher als Berichterstatter dem Deutschen Bundestag, diesem Ergebnis des Vermittlungsausschusses, das einstimmig so beschlossen worden ist, zuzustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203314100
Wir kommen jetzt zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß über die Änderungen im Deutschen Bundestag jeweils gemeinsam abzustimmen ist.
Wir stimmen zunächst über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/768, Steueränderungsgesetz 1991, ab. Ich bitte diejenigen, die der Beschlußempfehlung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! —
Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses ist angenommen.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/769, Haushaltsbegleitgesetz 1991, ab. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Auch diese Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Dritten Änderung des Übereinkommens über den Internationalen Währungsfonds
— Drucksache 12/336 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuß)

— Drucksache 12/791 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Norbert Wieczorek Gunnar Uldall

(Erste Beratung 21. Sitzung)

b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr (16. Ausschuß)

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung über eine Eisenbahnpolitik der Gemeinschaft:
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen in der Gemeinschaft
Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1191/69 über das Vorgehen der Mitgliedstaaten bei mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes verbundenen Verpflichtungen auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs
Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über die Schaffung eines Hochgeschwindigkeitsnetzes für Eisenbahnen
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 75/130/EWG über die Festlegung gemeinsamer Regeln für bestimmte Beförderungen im kombinierten Güterverkehr zwischen Mitgliedstaaten
— Drucksachen 12/210 Nr. 162, 12/701 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Dietmar Matterne
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung (20. Ausschuß)

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Entscheidung des Rates
über ein spezifisches Programm für Forschung
und technologische Entwicklung im Bereich



Vizepräsident Hans Klein
der nuklearen Sicherheit bei der Kernspaltung (1990 bis 1994)

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Entscheidung des Rates zur Annahme eines spezifischen Programms für Forschung und technologische Entwicklung auf dem Gebiet der kontrollierten Kernfusion (1990 bis 1994)

Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur Billigung der Änderung der Satzung des gemeinsamen Unternehmens Joint European Torus (JET), Joint Undertaking
— Drucksachen 12/210 Nr. 176, 12/152 Nr. 61, 12/702 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Christian Lenzer Wolf-Michael Catenhusen Jürgen Timm
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)

zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Fünfzehnte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
— Drucksachen 12/333, 12/760 —
Berichterstatterin:
Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)

zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Vierundsiebzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung —— Drucksachen 12/334, 12/761 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Peter Kittelmann
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)

zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Fünfundsiebzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung —— Drucksachen 12/482, 12/762 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Peter Kittelmann
g) Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Vierzehnte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
— Drucksache 12/268 —
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 18 zu Petitionen
— Drucksache 12/684 — i) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 20 zu Petitionen
— Drucksache 12/747 —
j) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 21 zu Petitionen
— Drucksache 12/748 —
Tagesordnungspunkt 6 a: Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu der Dritten Änderung des Übereinkommens über den Internationalen Währungsfonds. Der Finanzausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Wer dem Gesetzentwurf — Drucksachen 12/336 und 12/791 — mit seinen Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift, zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 6b: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr auf Drucksache 12/701 zu mehreren verkehrspolitischen EG-Vorhaben. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 c: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 12/702 zu mehreren forschungspolitischen EG-Vorhaben. Ich bitte diejenigen, die der Beschlußempfehlung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 d bis f: Beratung von Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Wirtschaft auf den Drucksachen 12/760, 12/761 und 12/762. Es handelt sich um Verordnungen zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung und der Ausfuhrliste. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich seiner Stimme? — Die Beschlußempfehlungen sind angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 g. Ich könnte jetzt dem Vorsitzenden des Ausschusses für Wirtschaft, unserem Kollegen Friedhelm Ost, das Wort erteilen. Er hat seine Erklärung aber bereits schriftlich hier hinterlegt. Der Vorsitzende des Ausschusses, Friedhelm Ost, erklärt, daß der Ausschuß für Wirtschaft dem Deutschen Bundestag empfiehlt, von seinem Aufhebungsrecht keinen Gebrauch zu machen. Diese Erklärung erfolgt im Einvernehmen mit den Obleuten der im Ausschuß vertretenen Fraktionen.
Sie haben diese Empfehlung gehört. Darf ich unterstellen, daß Sie ihr folgen? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 6h bis j, das heißt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses zu den Sammelübersichten 18, 20 und 21. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind angenommen.



Vizepräsident Hans Klein
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
— Drucksache 12/766 —
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Zur Beantwortung der Fragen ist Herr Staatsminister Helmut Schäfer erschienen.
Wir kommen zuerst zu den Dringlichen Fragen, Drucksache 12/799.
Ich rufe die Dringliche Frage 1 des Abgeordneten Dr. Klaus Kübler auf:
Treffen Meldungen zu, daß die Regierung von Kuwait Iraker, die in Kuwait leben, in den Irak zwangsdeportiert, und sind der Bundesregierung weitere Zwangsdeportationen bekannt?
Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.

Helmut Schäfer (FDP):
Rede ID: ID1203314200
Herr Kollege! Kuwaitische Sicherheitskräfte haben in der vergangenen Woche in einer Abschiebeaktion 130 Personen, größtenteils irakischer Nationalität, aus Kuwait in den südlichen Irak verbracht. Viele von ihnen wurden gegen ihren Willen aus Kuwait abgeschoben.
Nachdem das Internationale Rote Kreuz und die westlichen Botschafter einschließlich des deutschen Botschafters scharfen Protest bei der kuwaitischen Regierung eingelegt hatten, ist es zu keinen weiteren Abschiebungen mehr gekommen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203314300
Eine Zusatzfrage Kollege Dr. Kübler.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1203314400
Nach Zeitungsmeldungen haben UN-Beobachter diesen Vorgang verfolgt. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die UN-Beobachter hätten einschreiten und den Versuch unternehmen müssen — natürlich ohne Gewaltanwendung — , die Zwangsdeportationen nicht unter den Augen der UNO — ich will das bewußt so politisch formulieren — stattfinden zu lassen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann diese Frage aus der Sicht der Bundesregierung nicht beantworten, weil ich der Meinung bin, daß wir hier schlecht berurteilen können, in welchem Zusammenhang UN-Beobachter hätten eingreifen können oder nicht.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203314500
Eine zweite Zusatzfrage, Kollege Dr. Kübler.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1203314600
Sind der Bundesregierung vor diesem Vorfall Zwangsdeportationen bekannt gewesen, und, falls ja, hat sie dagegen interveniert?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich kann mich bei Ihrer Frage nur auf die Zwangsdeportationen beziehen, die uns bekannt geworden sind. Wir haben, wie ich Ihnen bereits gesagt habe, sofort reagiert. Ich kann mich aber nicht auf Vermutungen über andere Deportationen einlassen. Wir wußten von anderen Menschenrechtsverletzungen, über die ich bei der Beantwortung Ihrer zweiten Anfrage gleich berichten kann.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203314700
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Ganseforth.

Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1203314800
Herr Staatsminister, die Iraker sind abgeschoben worden. Haben eigentlich die Palästinenser die Möglichkeit auszureisen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, hier geht es um Abschiebungen, die durch Maßnahmen der kuwaitischen Regierung zwangsweise erfolgt sind. Ihre Frage bezieht sich jetzt auf die Möglichkeit der Ausreise von Palästinensern. Das ist meiner Ansicht nach zwar kein identischer Sachzusammenhang, aber Palästinenser können, soviel mir bekannt ist, aus Kuwait ausreisen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203314900
Keine weiteren Zusatzfragen. — Dann rufe ich die Dringliche Frage 2 des Kollegen Dr. Kübler auf:
Wird die Bundesregierung, die zur Befreiung Kuwaits weit über 17 Milliarden DM zur Verfügung gestellt hat, die massiven und massenhaften Menschenrechtsverletzungen der kuwaitischen Regierung (willkürliche Inhaftierungen von Tausenden von Palästinensern, Ermordung von Hunderten von Palästinensern seit Februar dieses Jahres, Folterungen, Zwangsdeportationen von Irakern, Ausreiseverbote für ausreisewillige Jordanier, Sudanesen, Jemeniten, Unrechtsurteile) vor der UNO und mit den USA zur Sprache bringen mit dem Ziel, daß seitens der UNO, aber auch der USA, Maßnahmen ergriffen werden, die die kuwaitische Regierung veranlassen, diese Menschenrechtsverletzungen sofort einzustellen?
Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Kollege Kübler, bereits am 28. April 1991 bei dem informellen Treffen der EG-Außenminister in Mondorf les Bains in Luxemburg hat Bundesminister Genscher die Lage der Menschenrechte in Kuwait zum Gegenstand der Erörterung im Kreise seiner europäischen Kollegen gemacht. Die Initiative mündete in eine gemeinsame Demarche, bei der die Zwölf der kuwaitischen Regierung ihre Besorgnis über die Lage der Menschenrechte in Kuwait deutlich machten.

(Unruhe bei der FDP)

— Herr Präsident, wenn auch die FDP-Fraktion diesen Ausführungen folgen könnte, wäre ich als FDP-Angehöriger ganz dankbar. Das ist ein Menschenrechtsproblem, das doch eine wichtige Rolle spielt.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203315000
Herr Staatsminister, ich greife diesen Hinweis auf. Meine Damen und Herren von der FDP, in der ersten Reihe findet bei Ihnen in der Tat eine Konferenz statt. Wenn Sie diese vielleicht verlegen oder unterbrechen könnten, damit der Staatsminister durchdringt.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich selbst habe anläßlich der Sitzung der Außenminister des Golfkooperationsrates und der Europäischen Gemeinschaft am 11. Mai in Luxemburg unseren Standpunkt zu den Menschenrechtsverletzungen in Kuwait deutlich gemacht.
Auf Weisung von Bundesminister Genscher wurde außerdem der kuwaitische Botschafter erstmals am 30. April 1991 und dann wieder nach den Berichten über die Verhängung von Todesstrafen in Kuwait am 17. Juni, also vorgestern, ins Auswärtige Amt einbestellt. Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes trug



Staatsminister Helmut Schäfer
ihm dabei die schweren Bedenken der Bundesregierung über die anhaltenden Verfolgungen, insbesondere von Palästinensern, und die ausgesprochenen Todesurteile vor.
Die Bundesregierung erwartet, daß diese Todesurteile nicht vollzogen und daß keine weiteren ausgesprochen werden. Der kuwaitischen Regierung ist klargemacht worden, daß wir hierin eine Verletzung elementarer Menschenrechte sehen. Kuwait ist in einer internationalen Aktion befreit worden, um dem Lande wieder zu seinen vollen Rechten zu verhelfen. Es kann deshalb nicht hingenommen werden, daß dort jetzt Menschenrechte in dieser Form verletzt werden.
Auch unser Botschafter in Kuwait hat mehrmals bei der kuwaitischen Regierung interveniert, um ihr die zunehmende Besorgnis der deutschen Regierung und Öffentlichkeit über Menschenrechtsverletzungen in Kuwait vorzutragen. Zuletzt hat Botschafter Mulack am 17. Juni im Anschluß an die Berichte über die Verhängung weiterer Todesurteile und die Abschiebung von Irakern in den südlichen Irak gegenüber Kronprinz und Premierminister Scheich Saad al Sabah die Betroffenheit der Bundesregierung zum Ausdruck gebracht. Bei allem Verständnis für die Leiden des kuwaitischen Volkes unter der irakischen Besetzung können wir diese Maßnahmen nicht hinnehmen.
Schließlich hat das Auswärtige Amt am 18. Juni, also gestern, unsere Ständige Vertretung bei den Vereinten Nationen in New York angewiesen, den Vereinten Nationen uns vorliegende neue und zuverlässige Informationen über anhaltende Menschenrechtsverletzungen in Kuwait zu unterbreiten. In gleicher Weise erhielt die deutsche Botschaft in Washington Weisung, die US-Regierung zu unterrichten.
Darüber hinaus legte die Bundesregierung am 18. Juni den zwölf EG-Partnern in Kuwait gewonnene zuverlässige Informationen über aktuelle Menschenrechtsverletzungen vor.
Die Bundesregierung — lassen Sie mich das in diesem Zusammenhang sagen — legt großen Wert darauf, daß sich die internationale Staatengemeinschaft, deren gemeinsames Handeln ausschlaggebend für die erfolgreiche Abwehr des irakischen Überfalls auf Kuwait war, mit der gleichen Geschlossenheit für die Einhaltung der Menschenrechte in Kuwait einsetzt.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203315100
Zusatzfrage, Herr Kollege Kübler.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1203315200
Wenn ich dies sagen darf: Ich bin für den letzten Satz sehr dankbar.
Sind Ihnen Zahlen über Todesurteile, über vollstreckte Todesurteile und über Inhaftierte bekannt?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich kann Ihnen jetzt keine genauen Zahlen angeben, bin aber gerne bereit, nachprüfen zu lassen, was uns an Zahlen bekannt ist.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203315300
Ihre zweite Zusatzfrage.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1203315400
Meine zweite Frage geht dahin: Wird sich die Bundesregierung bemühen — gegebenenfalls gemeinsam mit anderen Ländern — , zu ermöglichen, daß amnesty international dorthin fahren und sich vor Ort informieren kann?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich halte es für gut, wenn amnesty international im Zusammenhang mit den von mir eben bereits ausgeführten Maßnahmen diese Möglichkeit bekommt. Amnesty international ist die Organisation, die weltweit die Möglichkeit hat, vor Ort neutral zu prüfen und Vorwürfe zu untersuchen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203315500
Eine Zusatzfrage des Kollegen Bindig.

Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1203315600
Angesichts von Informationen über nicht rechtsstaatlich zustande gekommene Urteile möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, wie die Sondergerichte in Kuwait zusammengesetzt sind, die jetzt die Urteile fällen, und ob es nach Auffassung der Bundesregierung in Kuwait überhaupt eine rechtsstaatliche Strafgerichtsbarkeit gibt.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, uns ist von kuwaitischer Seite immer wieder versichert worden, daß nach der Beendigung des Überfalls des Irak und nach der Wiederherstellung der Autonomie Kuwaits Reformen erfolgen sollten. Ich selbst habe während des Golfkrieges eine Delegation von Oppositionellen aus Kuwait empfangen, die ihrer Hoffnung Ausdruck gegeben haben, daß dort nach Beendigung des Krieges die Demokratie hergestellt werden könnte. Wir haben diese Hoffnung weiterhin und sind der Meinung, daß die Regierung in Kuwait ihren Versprechungen zur Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie jetzt Taten folgen lassen sollte.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203315700
Weitere Zusatzfrage der Kollegin Ganseforth.

Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1203315800
Herr Staatsminister, Sie haben gesagt, daß Sie mit den anderen Regierungen über die Botschafter Kontakt aufgenommen haben. Ist schon bekannt, ob andere Regierungen interveniert oder ob internationale Maßnahmen, Gespräche oder Proteste stattgefunden haben?
Helmut Schäfer, Staatminister: Da ein Teil unserer Maßnahmen erst in dieser Woche erfolgen konnte, gehe ich davon aus, daß weitere internationale Bemühungen einsetzen werden. Wir haben auch die Vereinten Nationen eingeschaltet und sind in Gesprächen mit unseren Nachbarstaaten. Ich glaube, daß dort die Entwicklung in Kuwait genauso kritisch gesehen wird wie bei uns. Ich erinnere mich, daß bei dem Treffen mit den Außenministern der Golf-Kooperationsstaaten, bei dem der kuwaitische Außenminister anwesend war, auch von Kollegen aus der Europäischen Gemeinschaft entsprechende Fragen gestellt worden sind. Davon kann man also ausgehen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203315900
Dazu keine weiteren Zusatzfragen. Dann, Herr Staatsminister, darf ich mich bei Ihnen bedanken.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf.



Vizepräsident Hans Klein
Zur Beantwortung der Fragen ist der Parlamentarische Staatssekretär Bernd Schmidbauer erschienen.
Ich rufe die Frage 1 des Abgeordneten Karl Stockhausen auf:
Ist die Bundesregierung bereit, den durch die Verwendung von „Kieselrot" aus den ehemaligen Hermann-Göring-Werken in Marsberg (Nordrhein-Westfalen) beim Bau von Freizeitanlagen betroffenen Kommunen finanziell zu helfen?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1203316000
Herr Kollege Stockhausen, auf Ihre Frage darf ich wie folgt antworten: Die Beseitigung von Bodenkontaminationen aus der Kriegszeit ist, soweit es sich nicht um bundeseigene Grundstücke handelt, eine Aufgabe, die nach Art. 30 und 104 a des Grundgesetzes als ordnungsbehördliche Aufgabe den Bundesländern obliegt. Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Bund verpflichtet ist, den Ländern die Aufwendungen für Kriegsfolgelasten zu erstatten, richtet sich nach einer auf die fünfziger Jahre zurückgehenden Staatspraxis, die bei der Neufassung des Art. 120 des Grundgesetzes in den Jahren 1965 und 1969 als fortgeltende Kostenverteilungsregelung zugrunde gelegt worden ist.
Nach § 1 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes sind sämtliche Ansprüche gegen das Deutsche Reich und die anderen dort genannten Rechtsträger erloschen, soweit sie nicht durch besondere Bestimmungen aufrechterhalten wurden.
Nach § 19 Abs. 2 Nr. 1 des von mir erwähnten Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes in Verbindung mit § 1004 BGB hat der Bund den Ländern die Kosten für die Beseitigung solcher Gefahren zu erstatten, die von Sachen ausgehen, die Eigentum des Deutschen Reiches oder eines anderen in § 1 AKG genannten Rechtsträgers waren. Auf Grund dieser Staatspraxis ersetzt der Bund den Ländern z. B. die Kosten für die Beseitigung ehemals reichseigener Kampfmittel auf nicht bundeseigenen Liegenschaften.
Nicht erstattungsfähig — das zielt auf Ihre Frage ab — sind die Beseitigungskosten für Sachen im Eigentum anderer natürlicher oder juristischer Personen. Dies gilt auch für chemische Stoffe, deren Eigentümer Unternehmen waren, an denen das Deutsche Reich beteiligt war, z. B. die Hermann-GöringWerke.
Maßgebend für eine Kostenerstattungspflicht nach § 19 Abs. 2 Nr. 1 AKG ist, daß das Deutsche Reich selbst Eigentum an den in Betracht kommenden chemischen Stoffen gehabt hat. Ansprüche gegen das Deutsche Reich können auch nicht im Wege der Durchgriffshaftung begründet werden.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203316100
Zusatzfrage.

Karl Stockhausen (CDU):
Rede ID: ID1203316200
Herr Staatssekretär, das war natürlich ein Überrollen mit vielen Paragraphen. Dem kann man im Moment gar nicht folgen.
Klar ist doch, daß die Hermann-Göring-Werke Reichseigentum waren, daß die Betroffenen nach 1945 Abfall aus dem Kupferbergwerk in dem Glauben benutzt haben, sehr billig Sportplätze, Laufflächen
oder andere Einrichtungen mit diesem Kieselrot aufzuschütten. Heute stellt sich heraus, daß sie dioxinbelastet sind und daß enorme Aufwendungen, und zwar von den Kommunen, aber auch von Vereinen, notwendig sind, das Kieselrot zu beseitigen. Gibt es, abgesehen von Paragraphen, keinen Ermessensspielraum, daß der Bund ohne gesetzliche Verpflichtung bemüht ist, den Kommunen zu helfen?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stockhausen, ich habe Ihnen die Rechtspraxis hier dargestellt, sehr theoretisch und für Sie auch zum Nachvollziehen. Ich darf Ihnen aber gleichzeitig sagen, daß wir vor wenigen Tagen gemeinsame Handlungsempfehlungen für diese belasteten Flächen zusammen mit den Ländern erstellt haben und daß es darüber hinaus weitere Besprechungen gemeinsam mit den Ländern gibt, um nach Lösungen in diesem Bereich zu suchen. Aber im Augenblick ist die Rechtspraxis so, daß der Bund keine finanziellen Hilfestellungen geben kann.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203316300
Weitere Zusatzfrage.

Karl Stockhausen (CDU):
Rede ID: ID1203316400
Kann ich aus der letzten Formulierung entnehmen, daß in Fortführung der begonnenen Gespräche eventuell doch noch Hilfe vom Bund zu erwarten ist?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Das kann ich Ihnen so nicht beantworten. Aber Sie können davon ausgehen, daß wir bereit sind, im Zusammenhang mit der Sanierung dieser Flächen — dies wird eine große Aufgabe für die Länder darstellen — jeden Einzelfall entsprechend zu prüfen.

(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Schönen Dank!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203316500
Frau Kollegin, eine Zusatzfrage.

Marion Caspers-Merk (SPD):
Rede ID: ID1203316600
Herr Staatssekretär, Sie haben in der gemeinsamen Sitzung des Sportausschusses und des Umweltausschusses damals ausgeführt, daß es möglich sei, eventuell über die Abfallabgabe zu einer Bundesfinanzierung zu kommen. Halten Sie diese Aussage aufrecht?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich bin Ihnen für die Frage sehr dankbar. Wir haben bei dieser Ausschußsitzung eine Möglichkeit aufgezeigt, wie Bund und Länder gemeinsam in dieser Frage zu neuen Finanzierungsmechanismen kommen können — Sie haben dort auch gehört, daß eines der anwesenden Länder, Nordrhein-Westfalen, dies bereits aufgegriffen hat — , mit denen wir in der Lage wären, über einen gemeinsamen finanziellen Beitrag durch eine solche Abfallabgabe solche Dinge als Altlasten, um den Begriff zu verwenden, zu finanzieren. Diese Aussage steht.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203316700
Ich rufe die Frage 2 des Kollegen Stockhausen auf:
Ist die Bundesregierung bereit, bei den ihr direkt oder indirekt zugeordneten Dienststellen (Deutsche Bundespost, Deutsche Bundesbahn, Zoll, Bundeswehr, Bundesgrenzschutz usw.) Hydrauliköl auf biologischer Basis (beispielsweise Rapsöl) einzusetzen, um die Belastung der Umwelt zu vermindern?



Vizepräsident Hans Klein
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stockhausen, die Substitution von Schmierstoffen und Ölen auf Mineralölbasis durch biologisch schnell abbaubare Öle auf Pflanzenbasis, z. B. Rapsöl, ist ein wichtiger Beitrag zum Boden- und Gewässerschutz und trägt darüber hinaus zur Verminderung klimarelevanter Spurengasemissionen bei. Dieser Substitutionsprozeß wird von uns mit Hilfe des Umweltzeichens gefördert.
Für Kettenschmierstoffe für Motorsägen und für Schmieröle, Schmierfette und Trennmittel auf pflanzlicher Basis hat die „Jury Umweltzeichen" bereits entsprechende Umweltzeichen vergeben.
Für den Bereich der Hydrauliköle wird zur Zeit der Entwurf einer Vergabegrundlage für ein Umweltzeichen erarbeitet. Die technischen Anforderungen an Hydrauliköle sind jedoch komplexer als die an die von mir eben erwähnten Einsatzmittel.
Es ist davon auszugehen, daß die Vergabegrundlagen für ein Umweltzeichen für biologisch schnell abbaubare Hydraulikflüssigkeiten bis Ende 1991 vorliegen. Die Vergabe eines Umweltzeichens ist dann für Anfang 1992 zu erwarten.
Wir sind dann grundsätzlich bereit, den Beschaffungsstellen von Bund, Ländern und Gemeinden sowie der privaten Wirtschaft den Einsatz pflanzlicher Hydrauliköle zu empfehlen. Voraussetzung ist allerdings, daß die entsprechenden Pflanzenöle den technischen Anforderungen entsprechen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203316800
Zusatzfrage, Herr Stockhausen.

Karl Stockhausen (CDU):
Rede ID: ID1203316900
Vielen Dank für die Beantwortung beider Anfragen. Ich habe noch eine Zusatzfrage. Es ging mir darum, ob der Bund bereit ist, wenn diese Anforderungen, wie Sie sagten, entsprechend sind, die Hydrauliköle in seinen Zuständigkeitsbereichen einzusetzen, also nicht nur zu prüfen, sondern auch dafür zu sorgen, daß sie dort eingesetzt werden, wo der Bund zuständig ist.
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Wir sind bereit, Herr Kollege Stockhausen, direkt oder indirekt zugeordneten Dienststellen solche Hinweise zu geben und das 01 dann einzusetzen.

(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Schönen Dank; das ist gut!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203317000
Gibt es dazu weitere Zusatzfragen? — Das ist nicht der Fall. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, dann bedanke ich mich für die Beantwortung der beiden Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Horst Günther zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 4 der Abgeordneten Angela Stachowa auf:
Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung zum Umgang mit der freischaffenden künstlerischen Intelligenz der ehemaligen DDR in bezug auf eine sozial-gerechte Rentenregelung, die auch die in der Vergangenheit gezahlten Beiträge — einschließlich der Freiwilligen Rentenversicherung (FZR) — berücksichtigt, und wie gedenkt sie diese berechtigte Forderung in das Renten-Überleitungsgesetz einfließen zu lassen?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Horst Günther (CDU):
Rede ID: ID1203317100
Danke schön, Herr Präsident!
Frau Kollegin Stachowa, die Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen regelt der Entwurf eines Gesetzes zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebiets nach dem Art. 3 des Entwurfs eines Renten-Überleitungsgesetzes. Dort ist dies über mehrere Seiten mit Anlagen, die ich hier nicht alle vortragen kann, ausführlich dargelegt. Das können Sie bitte nachvollziehen.
Zu Ihrer konkreten Frage will ich weiter ausführen: In den Geltungsbereich dieses Gesetzes sollen auch die Zusatzversorgungssysteme der freiberuflich tätigen Mitglieder des Schriftstellerverbandes sowie des Verbandes bildender Künstler einbezogen werden. — Danach hatten Sie im wesentlichen gefragt.
Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen stellen nicht auf die Beitragszahlung ab. Die Rentenberechnung soll vielmehr nach den Regelungen des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches auf der Grundlage des im Erwerbsleben erzielten Einkommens erfolgen. Die aus dieser Berechnung ermittelte Rente löst die bisherigen Leistungen aus der Rentenversicherung und dem Zusatzversorgungssystem bzw. die Leistung aus dem Sonderversorgungssystem ab. Dies bedeutet allerdings nicht, daß die Beitragszahlung des von Ihnen genannten Personenkreises zur freiwilligen Zusatzrentenversicherung, also FZR, unberücksichtigt bleibt. Der Gesetzentwurf ermöglicht es über eine entsprechende Verordnungsermächtigung, für diese Personen Leistungen in gleicher Höhe zu erbringen, als wenn sie ausschließlich in der Sozialpflichtversicherung und der FZR versichert gewesen wären. Die von diesen Personen geleisteten Beiträge bewirken also, daß ihre Entgelte und Einkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze des Sechsten Sozialgesetzbuches, d. h. grundsätzlich bis zum 1,8fachen des Durchschnittsentgelts, berücksichtigt werden können, während ohne solche Beitragsleistungen nur eine Berücksichtigung bis zur wesentlich niedrigeren Beitragsbemessungsgrenze in der Sozialversicherungspflicht der ehemaligen DDR — nämlich bis 600 Mark — möglich wäre.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203317200
Frau Kollegin Stachowa, Sie haben zwei Zusatzfragen.

Angela Stachowa (PDS/LL):
Rede ID: ID1203317300
Ich danke.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203317400
Gibt es Zusatzfragen von seiten der übrigen Mitglieder des Hauses? — Das ist nicht der Fall. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, verbindlichen Dank.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr auf. Zur Beantwortung der Fragen ist der



Vizepräsident Hans Klein
Parlamentarische Staatssekretär Wolfgang Gröbl erschienen.

(Dr. Hermann Scheer [SPD]: Er kann es auch besser als der Minister!)

Für die Fragen 5 und 6 des Kollegen Tappe ist um schriftliche Beantwortung gebeten worden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 7 der Frau Abgeordneten Ulrike Mehl auf:
Sieht die Bundesregierung in dem von der Wasser- und Schifffahrtsdirektion, dem Land Niedersachsen, der Bezirksregierung Weser-Ems, dem Landkreis Emsland und der Stadt Papenburg erarbeiteten Kompromiß zum Ausbau der Ems unter Einbeziehung einer Umweltverträglichkeitsprüfung für tragfähig, und sind bzw. werden dafür Bundesmittel zur Verfügung gestellt?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Wolfgang Gröbl (CSU):
Rede ID: ID1203317500
Frau Kollegin Mehl, die Bundesregierung sieht jede einvernehmliche Lösung zur Anpassung der unteren Ems als tragfähig an, um dem Werftenstandort Papenburg im Emsland eine langfristige Perspektive zu geben. Nach der gesetzlichen Lage entscheidet die Planfeststellungsbehörde unter Einbeziehung der Umweltverträglichkeitsprüfung über diese Maßnahme. Im Bundeshaushalt 1991 sind Mittel für diese Maßnahme enthalten.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203317600
Frau Kollegin Mehl, eine Zusatzfrage.

Ulrike Mehl (SPD):
Rede ID: ID1203317700
Ist dieses Einverständnis allen an dem Verfahren Beteiligten bekannt? Denn das war ja mal eine Zeitlang umstritten. Dies steht auch in der Frage.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Das Einvernehmen wird sich herausstellen, wenn der Planfeststellungsbeschluß erlassen ist und von niemandem angefochten wurde.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203317800
Dann rufe ich die Frage 8 der Kollegin Ulrike Mehl auf:
Hält der Bundesminister für Verkehr, Dr. Günther Krause, es für den richtigen Stil, auf mein Schreiben an ihn erst nach acht Wochen, bei mehrmaliger Nachfrage, zu reagieren, und lehnt Bundesminister Dr. Günther Krause die Annahme der Unterschriftenliste zur Erhaltung des Wasserstraßenmaschinenamtes Rendsburg ab?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bitte schön.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Mehl, Bundesminister Krause hat die Beantwortung Ihres Schreibens an mich übertragen. Ich bedaure, daß Ihr Schreiben erst nach sechs Wochen beantwortet wurde.

(Zuruf von der SPD: Nach acht Wochen! — Manfred Opel [SPD]: Das ist aber typisch!)

Im Hinblick auf die Frage nach der Annahme der Unterschriftenliste möchte ich Ihnen anbieten, daß wir im Anschluß an dieses Zwiegespräch einen Termin vereinbaren, bei dem wir uns auch über die Problematik des Betriebes in Rendsburg unterhalten können.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203317900
Zusatzfrage.

Ulrike Mehl (SPD):
Rede ID: ID1203318000
Sie sagten gerade, daß Sie es bedauern, daß es so lange gedauert habe. Ich habe ja auch ganz geduldig sechs Wochen gewartet, aber dann war meine Geduld am Ende, und wir haben sodann sehr intensiv nachgefragt. Wie lange dauert es denn schätzungsweise, wenn man nicht intensiv nachfragt? Ab wann darf uns in bezug auf Ihr Haus der Geduldsfaden reißen?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Wir bemühen uns, die Schreiben in einer Frist zwischen zwei und vier Wochen zu beantworten.

(Zurufe von der SPD)

— Ja, es gibt kompliziertere Sachverhalte; da muß man bei anderen Behörden nachfragen. Dann kann es schon einmal länger dauern.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203318100
Eine weitere Zusatzfrage, mit der Sie möglicherweise einen Zwischenbescheid einfordern wollen.

Ulrike Mehl (SPD):
Rede ID: ID1203318200
Kann ich davon ausgehen, daß es das nächste Mal — in diesem Fall brauchten Sie ja nicht so viel bei anderen nachfragen — schneller geht?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ich werde mich sehr darum bemühen, Ihrem Wunsch gerecht zu werden.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203318300
Zusatzfrage des Kollegen Koppelin.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1203318400
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, der Kollegin zu bestätigen, daß auch Abgeordnete der Koalition acht Wochen auf eine Beantwortung warten?

(Lachen bei der SPD — Dr. Hermann Scheer [SPD]: Das macht es doch noch schlimmer!)

Ich darf an mein Schreiben an Sie zum Thema Elektrifizierung der Bahn in Schleswig-Holstein erinnern. Sind Sie bereit, in Ihrem Hause dafür zu sorgen, daß Abgeordnete zukünftig schneller eine Antwort erhalten, und sind Sie weiter bereit, der Kollegin Mehl zu bestätigen, daß ich, nachdem ich ebenfalls in Ihrem Hause mehrfach Klage darüber geführt habe, bereits am nächsten Tag eine Antwort bekam?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Es kann durchaus passieren, daß Schreiben in einer unangemessen langen Frist nicht beantwortet werden. Ich bitte, uns dies nachzusehen. Unser Bemühen ist sehr stark darauf ausgerichtet, dies nicht mehr vorkommen zu lassen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203318500
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, es geht jetzt offenbar um ein sehr populäres Thema.

(Heiterkeit)

Der Kollege Bindig hat die nächste Zusatzfrage.

Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1203318600
Wäre es dem Verkehrsministerium vielleicht lieber, wenn wir in Zukunft alle Sachverhalte in Form von Fragen in die Fragestunde ein-



Rudolf Bindig
bringen und nicht in Form von Briefen an Sie herantragen, weil man dann automatisch innerhalb von fünf oder sechs Tagen hier im Plenum eine Antwort bekommen muß?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Das bleibt vollkommen Ihnen überlassen, Herr Kollege.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203318700
Herr Kollege Scheer, bitte.

Dr. Hermann Scheer (SPD):
Rede ID: ID1203318800
Herr Staatssekretär, ist es vielleicht denkbar, daß der Bundesminister für Verkehr überfordert ist?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Mit Sicherheit nicht.

(Lachen bei der SPD — Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Undenkbar!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203318900
Weitere Zusatzfragen dazu? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich jetzt Frage 9 der Kollegin Ingrid Walz auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Verfassungsmäßigkeit von Nahverkehrsabgaben als Mittel der Verkehrslenkung in Ballungsgebieten als „Haltermodell", als „Einwohnermodell" und den damit verbundenen Einkünften für das Land?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Walz, angesichts der Aufgabenverteilung des Grundgesetzes, nach der der öffentliche Personennahverkehr in den Zuständigkeitsbereich der Länder gehört, hat die Bundesregierung keinen Anlaß gesehen, die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Erhebung von Nahverkehrsabgaben zu prüfen.
Innerhalb der für die Beantwortung mündlicher parlamentarischer Anfragen vorgeschriebenen Zeit ist eine rechtlich abgesicherte Prüfung der damit verbundenen Fragen sicherlich auch nicht zu leisten.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203319000
Frau Kollegin Walz, Zusatzfrage.

Ingrid Walz (FDP):
Rede ID: ID1203319100
Vielleicht kann der Herr Staatssekretär jetzt auch die zweite von mir eingebrachte Frage beantworten.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203319200
Sie wollen, daß beide Fragen im Zusammenhang beantwortet werden?

(Ingrid Walz [FDP]: Richtig!)

— Dann rufe ich Frage 10 der Abgeordneten Ingrid Walz auf:
Wann ist eine Nahverkehrsabgabe — gleichgültig in welcher Form — als Lenkungsabgabe zulässig, wenn keine öffentlichen Nahverkehrssysteme als Alternativen vorhanden sind oder z. B. von Behinderten nicht benutzt werden können?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte Sie, freundlicherweise auf dieses Begehren einzugehen.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Mit Vergnügen. — Frau Kollegin, die baden-württembergische Landesregierung hat zu den sehr komplexen Fragen der Zulässigkeit bzw. der Voraussetzungen für eine
Nahverkehrsabgabe ein Rechtgutachten bei dem Münchener Rechtswissenschaftler Klaus Vogel in Auftrag gegeben. Die Bundesregierung geht davon aus, daß die baden-württembergische Landesregierung das Ergebnis der Prüfung Interessierten zugänglich machen wird.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203319300
Frau Kollegin, Sie haben jetzt das Recht, vier Zusatzfragen zu stellen, aber Sie haben nicht die Pflicht, sie alle vier zu stellen.

Ingrid Walz (FDP):
Rede ID: ID1203319400
Ich werde versuchen, davon nicht Gebrauch zu machen. — Teilen Sie die Ansicht sehr vieler, die sich sachkundig mit der Frage beschäftigen, daß die Länder und die Kommunen bei der Finanzierung von ökologisch nötigen Nahverkehrssystemen überfordert sind?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Der Vermittlungsausschuß hat, wie Kollege Struck vorhin dargelegt hat, eine wesentliche finanzielle Verbesserung durch den Bundeshaushalt für Länder und Kommunen beschlossen. Die Bundesregierung begrüßt dieses Ergebnis sehr.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203319500
Die nächste.

Ingrid Walz (FDP):
Rede ID: ID1203319600
Herr Staatssekretär, ich bin leider nicht im Besitz dieser Erkenntnisse. Vielleicht könnten Sie hier erklären, inwieweit die Kommunen und die Länder beim nötigen Ausbau ihrer Nahverkehrssysteme davon profitieren.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Die Mittel für das GVFG, das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, sind von einem derzeitigen Plafond, der bei 3,28 Milliarden DM liegt, für das Jahr 1992 um 1,5 und für das Jahr 1993 um 3 Milliarden DM aufgestockt. Das bedeutet eine erhebliche Verbesserung der Situation für den öffentlichen Personennahverkehr im Bereich der Kommunen und der Länder.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203319700
Nummer 3.

Ingrid Walz (FDP):
Rede ID: ID1203319800
Ich muß trotzdem nachfragen. Falls je eine Nahverkehrsabgabe, sei es in Form eines Haltermodells oder in Form eines Einwohnermodells, eingeführt werden soll: Sind damit Einkünfte für die Länder verbunden, und ist eine solche Abgabe verfassungsgemäß?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Genau diese Frage sollte der Verfassungsrechtler Klaus Vogel untersuchen. Mir ist das Ergebnis dieser Untersuchung nur über Pressemitteilungen bekannt. Bekannt ist aber, daß Mittel, die durch eine Abgabe eingenommen werden, zweckgebunden auszugeben sind.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203319900
Nummer 4. Ingrid Walz (FDP): Ich verzichte darauf.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203320000
Der Kollege Bindig hat die nächste Zusatzfrage.

Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1203320100
Herr Staatssekretär, da Sie in Ihrer Antwort so bestimmt gesagt haben, daß der ÖPNV in die Zuständigkeit der Länder gehört, möchte



Rudolf Bindig
ich Sie fragen, ob das einhellig geklärt ist oder ob es dazu nicht andere Auffassungen gibt, insbesondere beim Schienenpersonennahverkehr, aber auch allgemein beim ÖPNV, nämlich in der Form, daß sich die anderen politischen Ebenen teilweise dagegen verwahren, den ÖPNV vom Bund voll als Verpflichtung zugesprochen zu bekommen.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Hierzu gibt es eine Aussage der Bundesregierung. In dem ÖPNV-Bericht, in dem auch etwas über die Zuständigkeiten festgelegt ist, heißt es:
Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der öffentlichen Aufgabe auf dem Gebiet des ÖPNV ist grundsätzlich Sache der Länder.
Das ist die Bestätigung meiner Aussage. Dann kommt die Einschränkung:
Der Bund hat nach Art. 73 Abs. 6 GG die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit für die Bundeseisenbahnen
— danach hatten Sie gefragt —
und nach Art. 74 Abs. 22 und 23 GG die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für den Straßenverkehr und die Schienenbahnen, die nicht Bundeseisenbahnen sind.
In der Tat bestätige ich, was Sie gefragt haben: Für die Bundeseisenbahnen ist der Bund zuständig.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203320200
Die nächste Zusatzfrage stellt Frau Kollegin Dr. Margrit Wetzel.

Dr. Margrit Wetzel (SPD):
Rede ID: ID1203320300
Herr Staatssekretär, im „Handelsblatt" vom 6. Juni wird der Bundesminister Krause mit der Aussage zitiert:
Es wäre jetzt auch im Hinblick auf die Lage der Städte und Gemeinden in den alten Bundesländern an der Zeit, über die Aufhebung der Plafondierung nachzudenken.
Können Sie diese Aussage bestätigen? Ist das, nachdem wir den Haushalt 1991 beschlossen haben, in dem die Forderung der SPD-Fraktion abgelehnt wurde, jetzt der Anlaß, daß neu darüber nachgedacht wird und wir schon für den Haushalt 1992 von dieser Aussage ausgehen können?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Wir haben über diese Aussage nicht nur nachgedacht, sondern wir haben im Vermittlungsausschuß bereits gemeinsam gehandelt und eine deutliche Verbesserung erzielt, was eine Beendigung der Plafondierung bedeutet.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203320400
Sie haben noch einen Schuß frei, Frau Kollegin Walz. Sie können noch eine Zusatzfrage stellen.

Ingrid Walz (FDP):
Rede ID: ID1203320500
Ich möchte den Herrn Staatssekretär doch noch fragen, ob die Plafondierung zum Ausbau des Nahverkehrs in den verschiedenen Ballungsgebieten der Bundedsrepublik ausreicht oder ob nicht eine Erhöhung der Mineralölsteuer, zweckgebunden ausgegeben, für den Ausbau des Nahverkehrs nötig wäre.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Es läuft auf dasselbe Ergebnis hinaus, Frau Kollegin, ob man eine Zweckbindung der Mineralölsteuer in einer bestimmten Höhe festsetzt oder einen absoluten Betrag für denselben Zweck in den Haushalt einstellt. Der Vermittlungsausschuß bzw. Bundesregierung und Bundesrat haben sich für den zweiten Weg entschieden. Ich sehe darin keine Schlechterstellung gegenüber einer Zweckbindung der Mineralölsteuer.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203320600
Herr Schily, bitte.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1203320700
Herr Staatssekretär Gröbl, wir sind uns wahrscheinlich doch einig darin, daß gerade in Ballungsgebieten die Verbesserung des ÖPNV eine vorrangige Aufgabe ist und daß das häufig an mangelnder Finanzmasse scheitert. Aus Ihren heutigen Antworten kann ich nicht so ganz klar erkennen, was Ihr Konzept ist, die finanzielle Situation des öffentlichen Personennahverkehrs in Ballungsgebieten zu verbessern. Ich möchte das vielleicht noch mit einem besonderen Hinweis auf den Ballungsraum München und Umgebung verknüpfen, aus dem man z. B. hört, daß rollendes Material entweder nicht verbessert wird oder sogar abgezogen werden soll und ähnliches.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Zum ersten Teil der Frage: Herr Kollege Schily, wir sind uns weiß Gott nicht allzuoft einig, aber in dieser Frage schon.
Zum zweiten Teil: Unser Konzept ist ganz einfach, deutlich mehr Geld für Länder und Kommunen für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen. Wir sind deshalb dankbar, daß dieses Ergebnis im Vermittlungsausschuß erreicht wurde. Diese Verbesserung betrifft natürlich den Ballungsraum München wie auch die anderen Ballungsräume, und auch auf die Fläche wird es positive Auswirkungen haben.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203320800
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Lowack.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1203320900
Nachdem die München-Connection zum Zuge gekommen ist, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, möchte ich die Frage stellen, ob Sie bestätigen können, daß der Anteil der Investitionsmittel aus der Mineralölsteuer für Ballungszentren bei ungefähr 94 % liegt und daß der ländliche Raum dazu beiträgt, daß auf diese Art und Weise vor allen Dingen der Personennahverkehr in den Ballungszentren entscheidend verbessert wird?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Diese Zahl kann ich nicht bestätigen. Dagegen ist richtig, daß wir beim ÖPNV nicht nur die Ballungszentren, sondern auch den ländlichen Raum im Auge behalten müssen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203321000
Gibt es zu dieser letzten Frage noch eine weitere Zusatzfrage? — Das ist nicht der Fall. Herzlichen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Zur Beantwortung der Fragen ist der Parlamentarische Staatssekretär Jürgen Echternach erschienen.



Vizepräsident Hans Klein
Die Fragen 11 und 12 der Kollegin Dr. Christine Lucyga sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Schily auf :
Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Gesamtkosten der durchgeführten und noch durchzuführenden Maßnahmen zur Asbestsanierung in öffentlichen und privaten Gebäuden der Bundesrepublik Deutschland?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Jürgen Echternach (CDU):
Rede ID: ID1203321100
Herr Kollege Schily, die Bundesregierung sieht sich nicht in der Lage, die Höhe der Gesamtkosten der durchgeführten und noch durchzuführenden Maßnahmen zur Asbestsanierung in öffentlichen und privaten Gebäuden zu schätzen. Die dazu notwendigen umfangreichen und schwierigen Erhebungen und Untersuchungen liegen weder beim Bund noch bei den für das Bauen zuständigen Bundesländern vor. Erhebungen einzelner Hochbauverwaltungen wie z. B. der Deutschen Bundespost oder Einzelangaben zu den Kosten bisher durchgeführter oder veranschlagter Sanierungsmaßnahmen im Zuständigkeitsbereich des Bundesbauministeriums haben für die Gesamtsituation der öffentlichen Gebäude keine Aussagekraft, die ja zum überwiegenden Teil Kommunaloder Landesbauten sind. Für den privaten Bereich sind derartige Erfassungen ohnehin nicht möglich, weil dafür eine Begehung und Untersuchung mindestens aller bis 1978 errichteten Privatgebäude notwendig wäre.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203321200
Herr Kollege Schily, Zusatzfrage.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1203321300
Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht, daß es notwendig wäre, solche Zahlen zu erarbeiten, und sehen Sie Möglichkeiten, solche Zahlen in Zukunft zu eruieren? Denn ich könnte mir vorstellen, daß auch Sie die Auffassung teilen, daß ja in sehr breitem Umfang solche Sanierungsmaßnahmen notwendig geworden sind und mit Sicherheit auch schon sehr kostenaufwendig waren und daß die Politik in der Zukunft doch darauf gerichtet sein sollte, solchen Reparaturbedarf zu vermeiden? Wenn man das im Kopf hat, sollte man sich vielleicht auch Erkenntnisse darüber verschaffen, welche Größenordnungen zur Debatte stehen.
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schily, wir sind uns einig, daß die Politik alles tun muß, um solche Bauschäden und Gesundheitsschäden, wie sie aufgetreten sind, zu vermeiden. Aus diesem Grunde ist schon seit 13 Jahren die Verwendung des hier besonders relevanten Spritzasbestes untersagt. In der Zwischenzeit sind weitere Verordnungen erlassen worden, die letzte Verordnung erst vor wenigen Wochen von der Bundesregierung, durch die auch jeder Handel mit asbesthaltigen Produkten untersagt wird, so daß über den Verordnungsweg sichergestellt ist, daß Bauschäden und Gesundheitsschäden im Zusammenhang mit Asbest nicht mehr auftreten können.
Nichtsdestoweniger bleibt die Frage der Sanierung, die schon seit vielen Jahren Bund und Länder gemeinsam beschäftigt. Wir haben schon vor fünf Jahren von seiten des Bundes gemeinsam mit der ARGE Bau, der Vereingiung der Länderbauminister, eine Schrift über die Sanierung der Asbestschäden in den öffentlichen Bauten herausgegeben. Die Sanierung ist bereits in vollem Gange. Eine Kostenschätzung stößt aber auf die Schwierigkeiten, die ich eben dargelegt habe.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203321400
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Schily.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1203321500
Herr Staatssekretär, welche Konsequenzen ziehen Sie denn aus dem Vorgang überhaupt, wenn Sie nun schon kein Zahlenmaterial haben und ein bißchen im Nebel stochern und wir uns darüber einig sind, daß es ein Schaden großen Ausmaßes ist, wie immer man ihn definiert, für die Frage, welche Baustoffe man zulassen soll, welche Kennzeichnungspflichten eingeführt werden sollen usw.?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schily, es gibt Institute, die Baustoffe auf ihre Verwendbarkeit und ihre gesundheitliche Unschädlichkeit prüfen. Die Schäden, die im Zusammenhang mit Asbest aufgetreten sind, sind allerdings nicht vorhergesehen worden. Als sie auftraten, ist sehr bald — im Jahre 1978 — eine Verwendung des Spritzasbestes untersagt worden.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203321600
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Professor Diederich.

Dr. Nils Diederich (SPD):
Rede ID: ID1203321700
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wenn es, was einzusehen ist, schon schwierig ist, einen Gesamtüberblick zu haben: Haben Sie denn wenigstens einen Überblick über Anzahl bzw. Anteil der asbestverseuchten Gebäude und über die notwendigen Kosten der Sanierung der bundeseigenen Gebäude, einschließlich der Gebäude, die von Bundesorganen usw. gebraucht werden?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Es gibt in Einzelbereichen Untersuchungen, z. B. im Bereich der Post. Es gibt keine Gesamtuntersuchung für alle Bauten, die im Eigentum des Bundes stehen. Jedenfalls kenne ich solche Zahlen im Moment nicht.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Solche Auskünfte kann man sich auch sparen! Das ist ja die absolute Inkompetenz!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203321800
Dann rufe ich die Frage 14 des Abgeordneten Jürgen Koppelin auf:
Inwieweit werden im Rahmen der Stadt- und Dorfsanierung und beim städtebaulichen Denkmalschutz im Rahmen des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung Ost" in den einzelnen neuen Bundesländern die Sanierung bzw. Renovierung von Gastronomiebetrieben berücksichtigt?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort zur Beantwortung.
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Koppelin, die Durchführung von Baumaßnahmen im Rahmen von städtebaulichen Sanierungsmaßnahmen ist regelmäßig Angelegenheit der privaten Eigentümer. Nach § 177 des Bundesbaugesetzes



Parl. Staatssekretär Jürgen Echternach
hat der Eigentümer von baulichen Anlagen die Kosten für die Modernisierung oder Instandsetzung grundsätzlich selbst zu tragen, auch wenn sie von der Gemeinde wegen vorliegender städtebaulicher Mißstände angeordnet worden ist.
Allerdings kann die Gemeinde Zuschüsse für sogenannte unrentierliche Leistungen aus dem Städtebauförderungsprogramm gewähren.
Diese Regeln gelten auch für das Sonderprogramm zum städtebaulichen Denkmalschutz im Rahmen des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost. So kann die Gemeinde auch für Gebäude, in denen sich gastronomische Einrichtungen befinden, Zuwendungen aus Städtebauförderungsmitteln bewilligen, wenn es sich, z. B. bei denkmalgeschützten Gebäuden, um bauliche Teilleistungen handelt, die aus städtebaulichen oder denkmalpflegerischen Gründen erforderlich sind, die jedoch dem Eigentümer wegen Unrentierlichkeit sonst nicht zugemutet werden könnten.
Der vom Eigentümer zu tragende Kostenanteil wird dabei nach der Durchführung der Modernisierungsoder Instandsetzungsmaßnahmen unter Berücksichtigung der Erträge ermittelt, die für die modernisierte oder instandgesetzte bauliche Anlage bei ordentlicher Bewirtschaftung nachhaltig erzielt werden können. Im Einzelfall kann zwischen Gemeinde und Eigentümer eine Pauschale für die Kostenerstattung vereinbart werden.
Wie bei allen städtebaulichen Sanierungsmaßnahmen gilt auch hier, daß der Bund auf die Auswahl der zu fördernden Einzelmaßnahmen keinen Einfluß hat. Diese Auswahl ist allein Sache der Länder.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203321900
Herr Kollege Koppelin, Zusatzfrage.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1203322000
Herr Staatssekretär, können Sie uns sagen, wieviel Mittel für die neuen Bundesländer für die Städtesanierung zur Verfügung gestellt werden? Können Sie uns auch sagen, ob diese Mittel von den Ländern abgerufen werden?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Koppelin, wir geben den neuen Bundesländern über vier verschiedene Wege Mittel für die Stadterneuerung: einmal direkt in der allgemeinen Form der Stadterneuerungsmittel, wie wir sie auch im Westen kennen, mit einem Volumen von 300 Millionen DM, dann für den städtebaulichen Denkmalschutz in einer Höhe von 180 Millionen DM, dann für städtebauliche Planungsleistungen in Höhe von 50 Millionen DM und schließlich Mittel für Modellvorhaben der Stadterneuerung in einer Größenordnung von 100 Millionen DM per anno.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203322100
Zweite Zusatzfrage.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1203322200
Herr Staatssekretär, können Sie uns sagen, wann Ihr Haus bereit ist zu überprüfen, ob diese Mittel ausreichend sind?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Wir haben von seiten der Regierungen der Beitrittsländer gehört, daß die Finanzausstattung ausreichend sei.
Die Frage, inwieweit diese Mittel abfließen, läßt sich natürlich erst im Laufe des Jahres beantworten. Für den Fall, daß sie nicht abfließen sollten, ist durch einen entsprechenden Haushaltsvermerk, den der Bundestag beschlossen hat, vorgesehen, daß sie dann auch in den westlichen Bundesländern eingesetzt werden können.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203322300
Nächste Zusatzfrage, Kollege Dr. Olderog.

Dr. Rolf Olderog (CDU):
Rede ID: ID1203322400
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß aus diesem Programm bisher praktisch keine Mittel abgeflossen sind, und teilen Sie die in den neuen Ländern vielfach geäußerten Bedenken, daß wegen der Kompliziertheit und der Unübersichtlichkeit dieser Programme damit gerechnet werden muß, daß der weitaus größte Teil dieser Mittel 1991 überhaupt nicht in Anspruch genommen werden wird?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Olderog, wir haben schon vor dem Haushaltsbeschluß mit den Regierungen der neuen Länder die notwendigen Verwaltungsvereinbarungen ausgehandelt und haben sie den Regierungen der neuen Länder zugesandt. Sie sind inzwischen samt und sonders von den Länderregierungen beschlossen und unterzeichnet worden; die letzten sind Ende Mai in Kraft getreten, so daß die Verwaltungsvereinbarungen stehen.
Was nicht überall steht, sind die Förderrichtlinien, nach denen die Länder diese Mittel im. Einzelfall vergeben. Viele Länderregierungen haben diese Förderrichtlinien zu den vier verschiedenen Programmen, von denen ich gesprochen habe, bereits erstellt und auf dieser Basis auch schon Bewilligungen ausgesprochen. Erfahrungsgemäß — das zeigt die Städtebauförderung im Westen — fließen die Mittel nicht schon im gleichen Jahr ab, in dem sie bewilligt werden. Sie fließen vielmehr in der Regel über einen längeren Zeitraum hinweg. Entscheidend ist aber, daß die Mittel noch in diesem Jahr bewilligt werden.
Ich wage jetzt keine Prognose, inwieweit dies tatsächlich in den nächsten Monaten gelingt. Für den Fall, daß dies bis zum Spätherbst nicht gelingen sollte, verfallen die Mittel nicht automatisch — davon habe ich eben gesprochen —; es ist vielmehr durch den entsprechenden Haushaltsvermerk, den der Bundestag beschlossen hat, vorgesehen, daß sie dann in den westlichen Bundesländern eingesetzt werden können.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203322500
Herr Kollege Dr. Feldmann, Sie haben die nächste Zusatzfrage.

Dr. Olaf Feldmann (FDP):
Rede ID: ID1203322600
Herr Staatssekretär, können Sie meiner Feststellung zustimmen, daß die Betriebe des Hotel- und Gaststättengewerbes oft das Image einer Stadt wesentlich prägen, ja meist Aushängeschild eines Ortes sind, und können Sie meiner Schlußfolgerung folgen, daß sie deswegen auch eine besondere Förderung verdienen?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Ich würde dem uneingeschränkt zustimmen. Die Frage ist natür-



Parl. Staatssekretär Jürgen Echternach
lich nur, welche Fördertöpfe dafür in Frage kommen. Bei der städtebaulichen Sanierung geht es in erster Linie um städtebauliche Mißstände, deren Beseitigung normalerweise vom privaten Eigentümer zu finanzieren ist, jedenfalls soweit die dafür notwendigen Kapital- oder Bewirtschaftungskosten aus dem Objekt heraus finanziert werden können. Nur dann, wenn es sich um städtebauliche Mißstände handelt, bei denen die Gemeinde ein entsprechendes Modernisierungsgebot erläßt und eine nachhaltige Erwirtschaftung aus dem Objekt heraus nicht möglich ist, kommt eine Finanzierung aus den Mitteln für die städtebauliche Sanierung in Frage.
Aber es gibt durchaus die Möglichkeit, dafür gegebenenfalls andere Förderhilfen in Anspruch zu nehmen. Ich denke hier insbesondere an Finanzhilfen, die der Wirtschaftsminister im Rahmen der Mittelstands- und Existenzgründungshilfen gewährt.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203322700
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schmalz.

Ulrich Schmalz (CDU):
Rede ID: ID1203322800
Herr Staatssekretär, könnten Sie sich vorstellen, daß ein besserer Mittelabfluß zu erreichen wäre, wenn man bei den Komplementärmitteln eine geringere Eigenbeteiligung vorsähe?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Wir haben 1990, als wir andere Programme aufgelegt haben, einen niedrigeren Komplementäranteil der Gemeinden vorgesehen. Bei den Programmen für das Jahr 1991 legen wir dieselben Komplementäranteile für die Länder und Gemeinden im Beitrittsgebiet zugrunde, wie sie den Programmen hier im Westen zugrunde liegen. Wir glauben, daß wir mit den Beschlüssen, die Ende Februar zwischen dem Bund und den Regierungschefs der Länder vereinbart wurden, insgesamt für eine ausreichende Finanzausstattung im Beitrittsgebiet Sorge getragen haben, so daß auch die Länder und Gemeinden in der Lage sind, die entsprechenden Komplementärmittel aufzubringen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203322900
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Brähmig.

Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1203323000
Herr Staatssekretär, ist die Situation in den alten Bundesländern und in den neuen Bundesländern vergleichbar? Können Sie sich vorstellen, daß die Situation nicht vergleichbar ist? Das ist eigentlich das Problem, das wir haben.
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Vergleichbar unter dem Gesichtspunkt der ausreichenden Ausstattung der Länder und Gemeinden mit eigenen Komplementärmitteln — das müßte ja die Frage sein, denn die verfassungsrechtliche Zuständigkeitsverteilung für Fragen der Stadterneuerung ist im Beitrittsgebiet genau dieselbe wie im Westen. Primär ist die Stadterneuerung keine Aufgabe des Bundes, sondern eine Aufgabe, die in örtlicher Verantwortung zu erledigen ist, bei der der Bund jetzt im Beitrittsgebiet Finanzhilfen in dem gleichen Verhältnis gewährt, wie er sie auch den westlichen Bundesländern gibt.
Entscheidend kann nur die Frage sein: Sind die neuen Länder in der Lage, die entsprechenden Komplementärmittel aufzubringen? Wir sind der Auffassung, daß mit den Beschlüssen, die wir Ende Februar gefaßt haben, diese Voraussetzungen auch im Beitrittsgebiet gegeben sind.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203323100
Ich erteile jetzt dem Kollegen Türk das Wort zu einer Zusatzfrage.

Jürgen Türk (FDP):
Rede ID: ID1203323200
Herr Staatssekretär, können Sie sich vorstellen, daß die Mittel für das Jahr 1991, die in Ostdeutschland wegen der Verwaltungsschwierigkeiten nicht in Anspruch genommen werden können — das könnte ja sein —, aber dringend gebraucht werden, auf das Jahr 1992 überschrieben werden?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Der Haushaltsbeschluß des Parlaments sieht etwas anderes vor, Herr Kollege. Aber man kann sich vielerlei vorstellen, wenn das Parlament dies so beschließen will.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203323300
Gibt es zur Frage 14 des Kollegen Jürgen Koppelin weitere Zusatzfragen? — Dies ist nicht der Fall. Dann bedanke ich mich, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Der Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie braucht nicht aufgerufen zu werden, da die Fragen 15 und 16 der Abgeordneten Ursula Burchardt und die Fragen 17 und 18 der Abgeordneten Edelgard Bulmahn auf Wunsch der Fragestellerinnen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Dann rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Peter Repnik zur Verfügung.
Die Frage 19 des Abgeordneten Dietrich Austermann soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 20 des Kollegen Jürgen Augustinowitz auf:
Welche Begriffsbestimmungen, Zusammenhänge bzw. Kriterien meint die Bundesregierung, wenn sie im Zusammenhang mit der Vergabe von Entwicklungshilfeleistungen von „ungerechtfertigt hohen Rüstungsausgaben" spricht?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Hans-Peter Repnik (CDU):
Rede ID: ID1203323400
Herr Präsident, ich bitte um Verständnis dafür, daß ich wegen der in der Frage angesprochenen Komplexität der Problematik etwas umfangreicher antworten muß.
Übermäßige Rüstungsausgaben tragen zu den Haushaltsdefiziten einzelner Entwicklungsländer bei. Sie verringern den Spielraum für eine sich selbst tragende, eigenständige Entwicklung und verschlechtern somit auch die Rahmenbedingungen für die Entwicklungszusammenarbeit. Eigenanstrengungen und entwicklungsfördernde Rahmenbedingungen sind somit ein entscheidendes Vergabekriterium unserer Entwicklungszusammenarbeit.
Die Bundesregierung entwickelt mit wissenschaftlicher Unterstützung derzeit ein Verfahren zur Bewertung des Rüstungsumfangs eines Entwicklungslan-



Parl. Staatssekretär Hans-Peter Repnik
des. Dazu dienen quantitative Kriterien, z. B. der Anteil der Militärausgaben an den staatlichen Ausgaben insgesamt und das Verhältnis von Militärausgaben zur Summe der Ausgaben für Gesundheit und Bildung.
Dabei geht es um das relative Gewicht der Militärausgaben im Vergleich zum Entwicklungsstand des Landes und um das proportionale Gewicht im Vergleich zu anderen Ländern einer Region. Die quantitativen Daten können dann in eine qualitative Prüfung eingebracht werden. Hier spielt der Militarisierungsgrad eines Landes vor dem Hintergrund seiner Sicherheitsinteressen eine wichtige Rolle. Ein weiteres Kriterium ist die Bereitschaft des Landes, sich an internationalen Vereinbarungen über Rüstungskontrolle und insbesondere über den Verzicht auf Massenvernichtungswaffen zu beteiligen.
Die Bundesregierung sieht es zwar nicht als ihre Aufgabe an, für die Entwicklungsländer eine Politik der Rüstungsbegrenzung zu definieren — sie bleibt souveräne Entscheidung der einzelnen Staaten —, dennoch hält die Bundesregierung es für geboten, bei ihrer Entscheidung über Art und Umfang der Entwicklungszusammenarbeit mit den jeweiligen Staaten Rüstungsausgaben als ein Element zu berücksichtigen.
Darüber hinaus hat der Zusammenhang zwischen Rüstung und Entwicklung in den Politikdialog zwischen Geber- und Nehmerländern sowohl auf bilateraler als auch auf multilateraler Ebene bereits Eingang gefunden. Dabei wächst auch in den Partnerländern, in den Entwicklungsländern zunehmend die Einsicht, daß durch Einsparungen auf dem Gebiet der Rüstung Mittel für den Entwicklungsprozeß freigemacht werden müssen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203323500
Herr Abgeordneter, eine Zusatzfrage.

Jürgen Augustinowitz (CDU):
Rede ID: ID1203323600
Herr Staatssekretär, vielen Dank für die ausführliche Beantwortung der Frage. Aber ein Punkt ist für mich offengeblieben: Wann, zu welchem Zeitpunkt ist mit der Vorlage dieser Kriterien zu rechnen?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Ich habe darauf hingewiesen, daß wir diese Kriterien unter Zuhilfenahme wissenschaftlichen Rates erarbeiten. Die ersten Ansätze, die wir schon erarbeitet haben, finden bereits Anwendung bei der Erarbeitung der Rahmenplanung, die wir derzeit vornehmen. Wir sind also bereits dabei, einen Teil dessen, was wir erarbeitet haben, umzusetzen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203323700
Zweite Zusatzfrage.

Jürgen Augustinowitz (CDU):
Rede ID: ID1203323800
Könnten Sie sich vorstellen, daß wir im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit derzeit bei der Beratung des Haushalts 1992 eine Liste Ihres Hauses bekommen, aus der hervorgeht, bei welchen Ländern es auf Grund übermäßig hoher Rüstungsausgaben zu einer Kürzung gekommen ist?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Wir werden uns auf alle Fälle bemühen, auch diese Frage im
Rahmen der Haushaltsberatungen transparent zu machen. Ich bin zu gegebener Zeit, wenn die Beratungen anstehen, selbstverständlich bereit, im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Rede und Antwort zu stehen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203323900
Zusatzfrage des Kollegen Bindig.

Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1203324000
Ich begrüße zunächst, daß Sie den Versuch unternehmen, das Kriterium „übermäßige Rüstungsausgaben" zu operationalisieren, nachdem von der Bundesregierung jahrelang die Auffassung vertreten worden ist, das sei nicht möglich. Sie haben soeben gesagt, das solle bei der Entwicklungshilfe nach Art und Umfang berücksichtigt werden. In welche Richtung denken Sie, wenn Sie von Berücksichtigung sprechen? Denken Sie in Richtung auf eine Kürzung von Entwicklungszusammenarbeit mit diesen Ländern, oder denken Sie in der Richtung, die Zusammenarbeit nur noch auf bestimmte Projekte auszurichten?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Bindig, Sie kennen als erfahrener Entwicklungspolitiker ja den breiten Ansatz der Instrumente, die uns zur Verfügung stehen.
Das erste — und da sind wir schon mitten in der ersten Phase der Implementierung dieser Gedanken — ist der Politikdialog. Es ist zuerst einmal wichtig, daß wir alle unsere Partner im Süden für dieses Thema sensibilisieren. Sie wissen selbst, daß entsprechende Erkenntnisse bei vielen unserer Partner noch längst nicht Allgemeingut sind. Daher ist der Politikdialog der erste Einstieg. Sie müssen wissen, daß wir dieses Kriterium bei der Erarbeitung unserer Länderkonzepte und — als Ausfluß dessen — bei der Zusage bestimmter Mittel verstärkt heranziehen werden. Ich glaube, wir müssen unseren Partnern die Chance geben, sich darauf einzustellen.
In weiteren Schritten wird eine Verweigerung im Rahmen dieses Dialogs Konsequenzen haben. Dies kann ein Einschränken der Entwicklungszusammenarbeit sein; dies kann eine Umwidmung der Mittel sein; dies kann bedeuten, daß man stärker versucht, über Nicht-Regierungsorganisationen die Probleme vor Ort zu lösen. Das Instrumentarium ist vielfältig. Wir werden keine Facette auslassen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203324100
Nächste Zusatzfrage, Herr Kollege Grünbeck.

Josef Grünbeck (FDP):
Rede ID: ID1203324200
Herr Staatssekretär, ist der Handlungsspielraum der Bundesregierung bei der Reduzierung von Rüstungspotential in Entwicklungsländern nicht durch unsere bestehenden Kooperationsverträge eingeengt, und müßte man nicht ein Ziel der Bundesregierung darin sehen, daß bei künftigen Kooperationsverträgen auf die Entwicklungsländer besondere Rücksicht genommen wird, damit kooperative Rüstungsproduktionen für Entwicklungsländer reduziert werden?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Grünbeck, wir müssen hier differenzieren. Gegenstand der bisherigen Fragen war die Rüstungsent-



Parl. Staatssekretär Hans-Peter Repnik
wicklung in unseren Partnerländern unabhängig davon, woher diese Rüstungsgüter kommen, ob aus der Bundesrepublik Deutschland oder woher auch immer. Die Bundesregierung hat hier in der Vergangenheit immer eine ganz klare und restriktive Haltung eingenommen. Wir werden auch in Zukunft darauf achten, daß beim Rüstungsexport, der ja nicht zuletzt auf Grund der Beschlußlage des Deutschen Bundestags durch eine entsprechende Initiative der Bundesregierung eine noch größere Einengung erfahren soll, Partnerländer im Süden nicht bevorzugte Kunden für Rüstungsgüter aus der Bundesrepublik Deutschland oder in Kooperation mit anderen Ländern sein werden.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203324300
Nächste Zusatzfrage, Herr Kollege Erler.

Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1203324400
Herr Staatssekretär, sehen Sie vor, daß bei der Feststellung ungerechtfertigt hoher Rüstungsausgaben bei bedachten Ländern auch unsere Zuwendungen im Rahmen von Ausstattungs- und Aufwendungshilfe und Polizeihilfe berücksichtigt werden?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Dies ist eine andere Frage, für die der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit ja nicht zuständig ist. Wir müssen allerdings sehen: Wenn wir die Souveränität dieser Staaten und die Bereitschaft unserer Partnerländer, Demokratie gegen Feinde von innen wie gegen Feinde von außen auch wehrhaft zu verteidigen, ernst nehmen wollen, bedarf es eines bestimmten polizeilichen oder militärischen Potentials. Dies kann auch in Zukunft nach sorgfältiger Prüfung im Einzelfall bedeuten, daß wir vor diesem demokratischen Hintergrund bereit und in der Lage sind, Ausstattungshilfe zu leisten.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203324500
Frau Kollegin Walz, Sie haben die nächste Zusatzfrage.

Ingrid Walz (FDP):
Rede ID: ID1203324600
Herr Staatssekretär, wie werden wir es mit den Entwicklungsländern halten, die selbst Waffen herstellen und exportieren?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Dies ist eine Frage, die uns zunehmend besorgt. Es ist nicht nur so, daß ebensolche Waffenexporte aus den Industrienationen kommen, sondern zunehmend Schwellenländer hier als Exporteure auftreten. Diese Fragestellung ist Gegenstand auch unseres Prüfungsverfahrens. Wir haben also im Rahmen der jetzt schon für uns intern erarbeiteten Prüfungskriterien auch diese Frage aufgeworfen: Gibt es Rüstungsproduktionen in diesen Ländern, und tragen diese Länder durch Rüstungsexporte mit dazu bei, daß andere Entwicklungsländer eine zu hohe Rüstung haben? Das ist ein Teil der Prüfung.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203324700
Weitere Zusatzfragen dazu? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 21 des Abgeordneten Augustinowitz auf:
Wann und mit wem fanden in der Zeit von Juni 1989 bis heute entwicklungspolitische Regierungskonsultationen bzw. sonstige Gespräche mit chinesischen Verantwortlichen in Deutschland bzw. in China selbst statt?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort zur Beantwortung.
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, seit Juni 1989 gab es auf politischer Ebene des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit insgesamt fünf Besuche bzw. chinesische Delegationen in der Bundesrepublik Deutschland. In der gleichen Zeit reiste Staatssekretär Lengl dreimal nach China.
Wichtigste Gesprächspartner bei dem Aufenthalt von Staatssekretär Lengl im Juli 1990 waren der Ministerpräsident, der für die Planungs- und die Erziehungskommission zuständigen Staatsräte und die Minister für Außenwirtschaft, für Arbeit, für zivile Angelegenheiten und Forst sowie der Gouverneur der Provinz Fujian und der Oberbürgermeister der Stadt Shanghai.
Die zweite Reise im Dezember 1990 erfolgte aus Anlaß der ersten deutsch-chinesischen Regierungsverhandlungen nach dem Bundestagsbeschluß vom 30. Oktober 1990. Staatssekretär Lengl führte bei dieser Gelegenheit auch Gespräche mit einem der chinesischen Vizepremiers, Tian Juyen, dem für die Erziehungskommission zuständigen Staatsrat, dem Oberbürgermeister von Peking und dem Landwirtschaftsminister.
Über seine dritte Reise aus Anlaß der Konsultationen im vergangenen Monat hat Staatssekretär Lengl dem Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ausführlich berichtet. Sie selbst, Herr Kollege Augustinowitz, waren zugegen.

(Rudolf Bindig [SPD]: Er hat dort die Unwahrheit gesagt!)

Wichtigste Gesprächspartner waren der Ministerpräsident, Vizepremier Zhu, der für die Erziehungskommission zuständige Staatsrat sowie die Minister für Arbeit, Handel und Gesundheit und der neue Oberbürgermeister von Shanghai.
Staatssekretär Lengl hatte über diese Gespräche mit Regierungsvertretern hinaus auch Kontakte mit Professoren und Studenten der chinesischen Außenhandelsuniversität, über die er ebenfalls im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit erschöpfend berichtet hat.
Bei den genannten fünf Delegationen aus China handelte es sich um zwei Besuche des Vizeministers des chinesischen Außenhandelsministeriums im Dezember 1989 und im Dezember 1990, bei denen es um die Gestaltung der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit auf der Basis der Bundestagsbeschlüsse vom Juni 1989 bzw. vom Oktober 1990 ging.
Im Juni 1990 besuchte der neue Präsident der in China für Fortbildungsmaßnahmen zuständigen Organisation, Herr Ye, das BMZ und die im Fortbildungsbereich tätigen deutschen Organisationen.
Im Oktober 1990 war eine Delegation der chinesischen Erziehungskommission in Deutschland zur Erörterung der Zusammenarbeit im Bereich der berufli-



Parl. Staatssekretär Hans-Peter Repnik
chen Bildung, einem Schwerpunktbereich der deutsch-chinesischen Entwicklungszusammenarbeit.
Bei der fünften Delegation handelte es sich um den Besuch des neuen Vizepremiers und früheren Oberbürgermeisters von Shanghai, Herrn Zhu, der im BMZ Grundlinien der künftigen Zusammenarbeit besprach und u. a. einer Einladung des Hamburger Senats Folge leistete.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203324800
Herr Abgeordneter Augustinowitz zu einer Zusatzfrage.

Jürgen Augustinowitz (CDU):
Rede ID: ID1203324900
Herr Staatssekretär, ist es eigentlich üblich, daß auf der Ebene von Regierungskonsultationen in diesem Stadium ein Staatssekretär diese Gespräche führt?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Die Konsultationen werden grundsätzlich nicht auf Staatssekretärsebene geführt. Herr Kollege Lengl hat auch nicht selbst die Konsultationen geleitet, sondern er hat parallel zu den laufenden Konsultationen über die Entwicklungszusammenarbeit entwicklungspolitische Fragestellungen mit politischen Gesprächspartnern in der Volksrepublik China erörtert.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203325000
Zweite Zusatzfrage.

Jürgen Augustinowitz (CDU):
Rede ID: ID1203325100
Herr Staatssekretär, entsprechen alle in diesen eben von Ihnen genannten Gesprächen behandelten Projekte auch dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 30. Oktober 1990?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Nach unserer Einschätzung, soweit diese Gespräche zu ganz konkreten Ergebnissen geführt haben, ja. Hierüber wurde auch jeweils der zuständige Fachausschuß sowohl in der letzten Legislaturperiode als auch in der jetzigen Legislaturperiode unterrichtet.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203325200
Darf ich — nur aus Gründen der inneren Vorbereitung — die Reihenfolge der nächsten Fragesteller nennen: Dies sind die Kollegen Schily, Soell, Erler und Bindig.
Bitte sehr.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1203325300
Herr Staatssekretär, können Sie uns Auskunft darüber geben, wie oft Herr Staatssekretär Lengl bei seinen zahlreichen Besuchen von Funktionären aus dem chinesischen Bereich zwangsweise umarmt worden ist?

(Zuruf von der CDU/CSU: Öffentlich oder nichtöffentlich?)

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Nein.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203325400
Nächste Frage, Herr Kollege Soell.

Dr. Hartmut Soell (SPD):
Rede ID: ID1203325500
Herr Staatssekretär, können Sie uns Auskunft darüber geben, wie oft, wie intensiv und mit welchem Ergebnis Staatssekretär Lengl darauf gedrungen hat, daß die wegen der Demokratiebewegung 1989 durch zahlreiche Prozesse Verurteilten durch eine Amnestie freigelassen werden?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Soell, Staatssekretär Lengl hat bei den von mir jetzt aufgeführten drei Besuchen in den vergangenen zwei Jahren, die nach den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens vom Juni 1989 stattgefunden haben, jeweils als einen Bestandteil seiner Gespräche mit der politischen Führung in Peking Menschenrechtsfragen gehabt, und er hat nachweislich auch des Botschaftsberichts von seiner letzten Reise, über die ja in den letzten Wochen auch in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, gerade dem Bereich der Menschenrechtsverletzungen einen großen Stellenwert eingeräumt.

(Dr. Hartmut Soell [SPD]: Mit welchem Ergebnis? Das war noch die Frage!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203325600
Nächste Frage, Herr Kollege Erler.

(Dr. Hartmut Soell [SPD]: Und das Ergebnis?)


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1203325700
Herr Staatssekretär, angesichts der eindrucksvollen Liste von Konsultationen und Besuchen auf Staatssekretärsebene frage ich Sie: In welches Land sind denn seit Juni 1989 häufiger solche Delegationen des BMZ auf Staatssekretärsebene gefahren? Oder muß man aus der Liste schließen, daß die Volksrepublik China der erste Adressat bundesrepublikanischer Entwicklungshilfe ist?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Ich habe jetzt nicht die Unterlagen über die gesamte Reisetätigkeit der Leitung des BMZ bei mir,

(Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Umfangreich! Wird schriftlich nachgereicht!)

so daß ich jetzt keine erschöpfende Antwort geben kann. Es kann aber natürlich nicht bestritten werden, daß es gerade auch im Hinblick auf die Beschlüsse des Deutschen Bundestages und auf Grund einer ganzen Reihe von vereinbarten Maßnahmen, die es ja zum Teil abzubrechen oder später umzuwidmen galt, einen erhöhten Bedarf an Gesprächen mit der chinesischen Führung gegeben hat.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203325800
Herr Kollege Bindig.

Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1203325900
Angesichts der Tatsache, daß der Staatssekretär in diesem abgefragten Zeitraum dreimal in China gewesen ist, möchte auch ich fragen, ob er in anderen Ländern ähnlich oft gewesen ist oder ob es sich bei China um ein sogenanntes LLC, ein Lengl Loved Country, handelt?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Ich muß mich auf die Antwort zurückziehen, die ich dem Herrn Kollegen Erler gegeben habe. Ich habe jetzt nicht die Liste der Länder, die Herr Lengl im Vergleichszeitraum bereist hat. Aber ich möchte Ihrer Neugier insoweit entgegenkommen, als ich vermute, daß er im Vergleichszeitraum nicht häufiger in anderen Ländern war.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203326000
Gibt es dazu weitere Fragen? — Wenn das nicht der Fall ist, könnte ich dem



Vizepräsident Hans Klein
Kollegen Bindig ein Privatissimum darüber anbieten, wie die Abkürzung LLDC in Wahrheit lautet.

(Rudolf Bindig [SPD]: Ich weiß das!)

Aber das machen wir besser nach der Sitzung. Nun rufe ich Frage 22 des Kollegen Bindig auf:
Hat die Bundesregierung vor Beginn der Regierungsverhandlungen mit Marokko, die vom 3. Juni bis 5. Juni 1991 in Bonn stattgefunden haben, die Ermittlungsergebnisse von amnesty international über die Lage der Menschenrechte in Marokko eingeholt und zum Gegenstand der Erörterungen im Zusammenhang mit der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit dieses Landes gemacht, und, wenn ja, zu welchen konkreten Ergebnissen im Hinblick auf eine verbesserte Respektierung der Menschenrechte haben die Regierungsverhandlungen geführt?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Im Vorfeld der Regierungsverhandlungen mit Marokko vom 3. bis 5. Juni 1991 haben auf Grund der dem BMZ u. a. von amnesty international vorliegenden Erkenntnisse zur Menschenrechtslage sowohl Gespräche mit dem Generalsekretär von amnesty international als auch mit dem marokkanischen Botschafter in Bonn zur Frage der Menschenrechte in Marokko stattgefunden.
Während der Regierungsverhandlungen selbst hat Frau Parlamentarische Staatssekretärin Geiger mit dem marokkanischen Delegationsleiter ein ausführliches Gespräch zur Lage der Menschenrechte in Marokko geführt und dabei darauf hingewiesen, daß wir der Arbeit der in Marokko existierenden Menschenrechtsorganisationen und insbesondere des Konsultativrats für Menschenrechte große Bedeutung beimessen, die Entwicklung der Arbeiten insbesondere des Konsultativrats sorgfältig beobachten und an einer effektiven und unbeeinträchtigten Aktivität äußerst interessiert sind.
Die marokkanische Seite hat sich gegenüber unseren Anliegen sensibel gezeigt. Ich gehe dabei davon aus, daß unsere Anliegen in Marokko den zuständigen Regierungsstellen übermittelt worden sind. Wir werden die weitere Entwicklung sorgfältig verfolgen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203326100
Herr Kollege Bindig.

Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1203326200
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, ob bei diesem Gespräch über die Menschenrechte auch das Schicksal der zahlreichen verschwundenen Sahrauis angesprochen worden ist?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Bindig, wir haben noch keine offizielle, förmliche Berichterstattung über die auch uns aus Zeitungsmeldungen bekanntgewordenen Fragestellungen. Entsprechende Initiativen wurden eingeleitet. Die marokkanische Botschaft befaßt sich mit den Menschenrechtsfragen, und wir warten auf einen entsprechenden Bericht.
In diesem Gespräch selbst hat dieses Thema wohl keine Rolle gespielt.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203326300
Zweite Zusatzfrage.

Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1203326400
Herr Staatssekretär, wenn Sie ein solches Gespräch führen und die Bundesregierung dort die Menschenrechtsproblematik anspricht, werden dann auch konkrete Einzelfälle besprochen, oder wird die Menschenrechtssituation allgemein erörtert?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Sowohl als auch. Dort, wo uns gravierende Fälle bekannt sind, nehmen wir Einfluß, indem wir diese Fälle ansprechen. Sie selbst wissen aus Ihrer Erfahrung, daß es im Einzelfall auch einmal kontraproduktiv sein kann, einen bestimmten Namen einzuführen. Wir stellen uns hier also auf den Einzelfall ein.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203326500
Weitere Zusatzfragen aus dem Kollegenkreis? — Das ist nicht der Fall.
Ich rufe Frage 23, ebenfalls vom Kollegen Bindig gestellt, auf:
Hat die Bundesregierung vor Beginn der Regierungsverhandlungen mit der Türkei, die vom 11. bis 13. Juni in Bonn stattgefunden haben, die Ergebnisse von amnesty international über die Lage der Menschenrechte in der Türkei eingeholt und zum Gegenstand der Erörterungen im Zusammenhang mit der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit dieses Landes gemacht, und, wenn ja, zu welchen konkreten Ergebnissen im Hinblick auf eine verbesserte Respektierung der Menschenrechte haben die Regierungsverhandlungen geführt?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte um Beantwortung.
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Bindig, die Bundesregierung ist ständig bemüht, unabhängig von der laufenden Unterrichtung u. a. durch amnesty international ein eigenes Bild über die Lage der Menschenrechte in der Türkei zu gewinnen.
Das große Interesse, das die Bundesregierung der Respektierung der Menschenrechte beimißt, wurde sowohl bei den Verhandlungen über die entwicklungspolitische Zusammenarbeit als auch beim Besuch des türkischen Delegationsleiters von meiner Kollegin Michaela Geiger im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie anläßlich der Unterzeichnung eines Abkommens über finanzielle Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt am 13. Juni 1991 verdeutlicht. Die türkische Seite erklärte sich dabei im Einklang mit den von uns vorgetragenen Vorstellungen.

Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1203326600
Herr Staatssekretär, kann ich aus Ihrer Antwort schließen, daß also von amnesty international für diese Regierungsverhandlungen keine konkreten Informationen extra eingeholt worden sind, und sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Frage darauf beruht, daß der entwicklungspolitische Sprecher Ihrer Partei hier im Bundestag bei einer Menschenrechtsdebatte begrüßt hat, daß die Bundesregierung die Absicht erklärt hat, bei allen Regierungsverhandlungen in Zukunft vorab Informationen von amnesty international einzuholen?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Das zuständige Referat hat auch hier auf dem Schriftweg die aktuellen Informationen von amnesty international mit einbezogen und berücksichtigt. Im Gegensatz zum vorher genannten Fall hat aber kein eigenständi-



Parl. Staatssekretär Hans-Peter Repnik
ges Gespräch mit dem Generalsekretär von amnesty international stattgefunden.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203326700
Zweite Zusatzfrage.

Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1203326800
Ist bei den Gesprächen, die dann geführt worden sind, auch die menschenrechtliche Situation der Kurden behandelt worden?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Jawohl, das Thema hat eine bedeutende Rolle gespielt.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203326900
Weitere Zusatzfragen dazu? — Kollege Professor Dr. Hauchler.

Prof. Dr. Ingomar Hauchler (SPD):
Rede ID: ID1203327000
Herr Staatssekretär, die Bundesregierung hat die Menschenrechtsfrage zu einem der wichtigsten Kriterien der deutschen Entwicklungspolitik gemacht, vor allem in den letzten Monaten. Wie erklärt es sich vor diesem Hintergrund, daß die entwicklungspolitischen Zusagen für die Türkei erhöht werden sollen oder schon erhöht worden sind, obwohl sich die Menschenrechtslage in der Türkei nicht verbessert hat?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Hauchler, ich habe mich gerade noch einmal vergewissert, wie groß die Zahl der Flüchtlinge war, die auf Grund der Ereignisse im Irak und der Menschenrechtsverletzungen dort in der Türkei Zuflucht gesucht haben: immerhin über eine halbe Million. Wir haben natürlich auch dieser Situation Rechnung getragen und haben in diesem Zusammenhang unsere Mittel im Hinblick auf die Situation der kurdischen Flüchtlinge erhöht. Darüber hinaus haben wir keine Erhöhung der Mittel vorgenommen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203327100
Zusatzfrage, Frau Kollegin Fischer.

Dr. Ursula Fischer (PDS/LL):
Rede ID: ID1203327200
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, daß die Probleme der Kurden eine Rolle gespielt haben. Im Osten der Türkei sind die Menschenrechte zum Teil aufgehoben. Was tut die Bundesregierung, damit sich diese Situation dort ändert?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Wir greifen diese Themen im Rahmen unserer Gespräche, sowohl der Gespräche des Auswärtigen Amtes als auch der Gespräche des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit, auf allen Ebenen auf, und besprechen sie mit unseren Partnern, um für eine Verbesserung der Situation einzutreten. Ich möchte allerdings — nicht entschuldigend, aber immerhin erklärend — hinzufügen: Wenn binnen kurzem, innerhalb von wenigen Wochen, eine halbe Million Flüchtlinge die Grenze in einem unwegsamen Gebiet überschreiten, dann kommt es auch auf Grund der besonderen Notsituation gelegentlich zu nicht geplanten, aber doch objektiv gegebenen Menschenrechtsverletzungen. Ich glaube, das muß gesehen werden.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203327300
Weitere Zusatzfragen dazu? — Das ist nicht der Fall. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, dann darf ich mich bei Ihnen für die Beantwortung der Fragen bedanken.
Nachdem wir zu Beginn der Fragestunde bei den Dringlichen Fragen schon den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen aufgerufen hatten, rufe ich diesen Geschäftsbereich jetzt erneut auf. Herr Staatsminister Helmut Schäfer steht uns wiederum zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Die Frage 24 des Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage 25 des Abgeordneten Ortwin Lowack auf:
Wie gedenkt die Bundesregierung auf das Strategiepapier des Zentralkomitees der KPdSU (vgl. FAZ vom 7. Juni 1991), welches von Präsident Gorbatschow gebilligt wurde und in dem eine politische und psychologische Beeinflussung der ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes festgelegt ist, zu reagieren?
Sie haben das Wort, Herr Staatsminister.

Helmut Schäfer (FDP):
Rede ID: ID1203327400
Herr Kollege, die Bundesregierung wird ihre bisherige erfolgreiche Politik gegenüber der Sowjetunion und den Staaten Mittel- und Osteuropas konsequent fortsetzen, die nämlich auf die Herstellung eines neuen Vertrauensverhältnisses zwischen allen Staaten Europas abzielt.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203327500
Zusatzfrage, Herr Kollege Lowack.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1203327600
Herr Staatsminister, ist Ihnen klar, daß Sie mit dieser Antwort in keiner Weise auf meine konkrete Frage eingegangen sind, weil sich diese Frage auf eine Strategiepapier des Zentralkomitees der KPdSU bezogen hat und ich gerne wissen wollte, welche Haltung die Bundesregierung dazu einnimmt und ob sie nicht der Auffassung sein müßte, daß hier eine klare Entgegnung von deutscher Seite ein wichtiger Beitrag sein könnte, um die früheren Warschauer-Pakt-Länder außerhalb der Sowjetunion auf ihrem Weg zum freiheitlichen Europa zu ermutigen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Tatsache, daß dieses sogenannte Strategiepapier auf verschlungenen Wegen an die Öffentlichkeit gelangt ist, sollte Sie vielleicht zum Nachdenken darüber anregen, wer Interesse daran gehabt hat, dieses sehr umstrittene Papier der Öffentlichkeit bekanntzumachen.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203327700
Eine weitere Zusatzfrage.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1203327800
Herr Staatsminister, ich räume gerne ein, daß das ein sehr umstrittenes Papier ist. Aber ist nicht die Bundesregierung mit mir der Auffassung, daß Michail Gorbatschow immer noch Generalsekretär der KPdSU ist und daß er insoweit über den Inhalt des Papiers eigentlich hätte informiert sein müssen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, schon die Tatsache, daß Sie andeuten, daß es sich bei den Verfassern dieses Papiers und bei Herrn Gorbatschow um unterschiedliche Personen handelt, legt



Staatsminister Helmut Schäfer
den Verdacht nahe, daß wir das Papier nicht ganz so ernst nehmen müssen, wie Sie es tun.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203327900
Gibt es dazu weitere Zusatzfragen? — Bitte, Herr Kollege Erler.

Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1203328000
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die bisherigen Bündnispartner der Sowjetunion im Warschauer Pakt in der Praxis der sowjetischen Politik nicht unter einen politischen oder psychologischen Druck gesetzt werden, was ihre jetzigen Entscheidungen und ihre jetzige Sicherheitspolitik angeht?

(Vorsitz : Vizepräsident Helmuth Becker)

Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann sogar bestätigen, daß sich Vertreter der von Ihnen genannten Staaten mit Sicherheit einem solchen Druck nicht mehr unterziehen würden, sondern sich in ihren Gesprächen mit der Sowjetunion als souveräne Partner bewähren.

(Gernot Erler [SPD]: Danke!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203328100
Keine weiteren Zusatzfragen.
Dann rufe ich Frage 26 des Abgeordneten Dr. Hermann Scheer auf:
Für welchen Zeitpunkt erwartet die Bundesregierung den Beginn von amerikanisch-sowjetischen SNF (Short Nuclear Forces)-Verhandlungen?
Bitte sehr, Herr Staatsminister.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Soweit ich sehe, hätte ich noch eine zusätzliche Frage — — Entschuldigung, nein, das war ein Irrtum. Sie haben recht, Herr Präsident, wie immer.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Das entscheidet der Präsident, Herr Minister, damit das einmal klar ist!)

— Ich habe schon klargestellt, daß der Präsident, wie immer, recht hat. Sie haben das offensichtlich auch gehört. Das war ein Mißverständnis.
Herr Kollege Scheer, die Bundesregierung setzt sich dafür ein, bis zum NATO-Gipfel am 7.18. November 1991 eine gemeinsame SNF-Verhandlungsposition des Bündnisses auszuarbeiten und zum frühestmöglichen Zeitpunkt danach Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion aufzunehmen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203328200
Zusatzfrage, Herr Dr. Scheer.

Dr. Hermann Scheer (SPD):
Rede ID: ID1203328300
Herr Staatsminister, da die Bundesrepublik Deutschland ja kein marginaler Staat ist und sicherlich eigene Vorstellungen hat: Wie sehen denn die Vorstellungen für eine Verhandlungsposition, mit denen man ins Bündnis geht, aus?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, soviel ich weiß, sind Sie Mitglied des Unterausschusses für Abrüstung.

(Walter Kolbow [SPD]: Vorsitzender!)

— Entschuldigung, Vorsitzender. Ich bitte, mir auch das nachzusehen.
Ich glaube daher, daß die Erörterung dieser Vorstellungen nicht in der Kürze einer Fragestunde geschehen kann. Die Vorstellungen sind bekannt. Der Unterausschuß behandelt sie hoffentlich; das müßte auf seiner Tagesordnung stehen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203328400
Eine weitere Zusatzfrage.

Dr. Hermann Scheer (SPD):
Rede ID: ID1203328500
Da ich das trotz meiner Funktion als Vorsitzender des Unterausschusses nicht feststellen konnte, frage ich, ob die Bundesregierung bereits eine Position hat, die wir dann vielleicht nachfragen könnten?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Die Bundesregierung ist bei dem Ziel, das ich Ihnen genannt habe, nämlich bis zum NATO-Gipfel zu erreichen, daß es eine gemeinsame Verhandlungsposition des Bündnisses gibt, natürlich bemüht, solche Positionen auch ihren Partnern gegenüber darzustellen. Ich kann nur sagen: Das Ganze befindet sich in der Mache. Wir können Ihnen abschließende Vorstellungen der Bundesregierung jetzt sicher noch nicht mitteilen, weil das mit unseren Partnern bis zu dem besagten Gipfel abgesprochen werden muß.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203328600
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Otto Schily.

Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1203328700
Herr Staatsminister, Sie haben den Ausdruck „frühestmöglicher Zeitpunkt" verwendet. Könnten Sie etwas genauer erläutern, nach welchen Konditionen ein solcher Begriff zu verstehen ist?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Für uns wäre dieser Zeitpunkt so früh wie möglich, was aber nicht unbedingt alle unserer Partner ähnlich sehen. Wir wollen erreichen,

(Otto Schily [SPD]: Frühestmöglicher heißt also so früh wie möglich!)

das mit dem Bündnis so früh wie möglich zu schaffen. Ich darf es wiederholen: Es ist das Interesse der Bundesrepublik, solche Verhandlungen so früh wie möglich zustande zu bringen und insofern auch eine Gemeinsamkeit der Verhandlungspositionen der Partner in der NATO zu erarbeiten, so daß wir davon ausgehen können, daß die Verhandlungsposition des Bündnisses bis zum NATO-Gipfel steht. Danach können die Verhandlungen schnell begonnen werden.
Der Hinweis „frühestmöglich" heißt: Wir müssen uns auch mit unseren Partnern verständigen. Bei dem Termin sind wir auch von dem Verlauf der Vorberatungen bzw. der Erarbeitung dieses Konzeptes abhängig.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203328800
Eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Katrin Fuchs.

Katrin Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1203328900
Herr Staatsminister, es ist soeben schon meinem Kollegen gesagt worden, daß die Bundesrepublik eine relativ starke Position in diesem Konzert hat. Ist es dann eigentlich zu verstehen, daß die Bundesrepublik immer darauf wartet, welche Positionen das Bündnis hat, bevor sie zu eigenen Posi-



Katrin Fuchs (Verl)

tionen gelangt? Bestünde nicht auch die Möglichkeit, daß die Bundesrepublik ihr Gewicht nutzt und selbst dafür streitet, daß der frühestmögliche Zeitpunkt terminiert wird, und daß Sie uns wirklich konkret antworten?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Genau diese Annahme entspricht der Tatsache.

(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Aber das ist ja nun schon lange her!)

Aber wenn Sie in dem ersten Teil Ihrer Frage sozusagen auf den gewachsenen Einfluß der Bundesregierung abheben, Frau Kollegin, und sagen, wir müßten auf Grund des gewachsenen Einflusses jetzt eine deutlichere Sprache sprechen, dann muß ich feststellen, daß das neue Töne aus der SPD-Fraktion sind.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203329000
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können noch zwei Fragen zur Beantwortung zulassen.
Ich rufe die Fragen 27 und 28 des Abgeordneten Manfred Opel auf:
Welche eigenen Zeitvorstellungen vertritt die Bundesregierung in den Gremien des Bündnisses bezüglich des Beginns amerikanisch-sowjetischer SNF-Verhandlungen?
Treffen Berichte zu, wonach die amerikanische Regierung in Erwägung zieht, auf amerikanisch-sowjetische SNF-Verhandlungen zu verzichten?
Bitte sehr, Herr Staatsminister.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Die Fragen 27 und 28 des Kollegen Opel beantworte ich wie folgt: Herr Kollege, die Bundesregierung setzt sich dafür ein, daß bis zum NATO-Gipfel — dies ist praktisch die Wiederholung der Antwort auf die vorhergehende Frage — eine gemeinsame Position erreicht wird. Ich verweise in diesem Zusammenhang darauf, daß die amerikanische Regierung den in der Londoner Erklärung vom 6. Juli enthaltenen Bündnisbeschluß zur Aufnahme neuer Verhandlungen über die Reduzierung nuklearer Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion maßgeblich mitgetragen hat. Diese Bündnisposition wurde auch im Kommuniqué der NATO-Außenminister vom 7. Juni dieses Jahres noch einmal ausdrücklich bestätigt.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203329100
Herr Abgeordneter Opel, eine Zusatzfrage.

Manfred Opel (SPD):
Rede ID: ID1203329200
Herr Staatsminister, kann ich aus Ihrer vorhin gegebenen Antwort schließen, daß der Beitrag, den Sie im Bündnis zu leisten gedenken, ein eigenes Konzept der Bundesregierung einschließt, das sie im Moment noch nicht zu veröffentlichen gedenkt?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich glaube, man muß hier zwischen unserer Bemühung bei den Vorbereitungen zu diesen für uns sehr wichtigen Verhandlungen und dem tatsächlichen Ergebnis unterscheiden. Die Verhandlungen werden ja bilateraler Art sein. Sie erfolgen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, nicht zwischen uns und der Sowjetunion. Wir werden alles dafür tun, daß es eine gemeinsame Verhandlungsposition geben wird. Daß
wir dazu Vorstellungen haben, ist klar. Daß wir aber im Vorfeld dieser Bemühungen zu einer gemeinsamen Position kommen wollen und unsere Vorstellungen, nicht jetzt apodiktisch in den Raum stellen wollen, sondern sie mit den Partnern diplomatisch absprechen, dafür bitte ich um Verständnis.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203329300
Noch eine Zusatzfrage des Abgeordneten Opel? — Bitte sehr.

Manfred Opel (SPD):
Rede ID: ID1203329400
Herr Staatsminister, es gab in der Vergangenheit durchaus Diskrepanzen in der Definition dessen, was SNF bedeutet. Können Sie mir sagen, ob die Bundesregierung unterdessen zu einer einvernehmlichen Interpretation mit den Amerikanern bzw. den NATO-Partnern und den Sowjets gefunden hat und wie diese aussieht?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich glaube, es hat sich bei den noch bestehenden Differenzen innerhalb des Bündnisses vor allem um die noch zu klärende Frage des geographischen Anwendungsgebietes des SNF-Abkommens gehandelt. Wir haben immer die Meinung vertreten, und sind auch mit der Mehrheit der Verbündeten der Auffassung, daß das Anwendungsgebiet auch den europäischen Teil der Sowjetunion einschließen sollte. Damit würde auch das sowjetische SNF-Potential in den angestrebten Abbau mit einbezogen und nicht nur eine Rückverlegung auf sowjetisches Gebiet festgeschrieben. Das war unsere Position. Ich glaube, daß sich hier die Positionen angenähert haben.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203329500
Herr Staatsminister, vielen Dank.
Ich kann keine weiteren Zusatzfragen zulassen. Wir haben die Fragestunde schon um zwei Minuten überzogen.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Zusatztagesordnungspunkt 8 auf:
Aussprache zum Stationierungskonzept der Streitkräfte
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Aussprache mit Fünf-Minuten-Beiträgen wie in einer Aktuellen Stunde erfolgen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat unser Kollege Albrecht Müller.

Albrecht Müller (SPD):
Rede ID: ID1203329600
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer jahrelang Abrüstung fordert, der sollte nicht kopfstehen, wenn sie endlich möglich ist

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

und wenn dies auch Folgen für Menschen und Regionen haben kann. Wir Sozialdemokraten haben Abrüstung immer gewollt. Wir begreifen auch den Truppenabbau zuallererst als eine Chance, nicht als eine Last.
Allerdings, gerade weil die Arbeit für die Betroffenen im Konkreten schwierig ist, verlangen wir die volle Aufmerksamkeit der Verantwortlichen. Das ver-



Albrecht Müller (Pleisweiler)

missen wir bei Herrn Stoltenberg und der Bundesregierung insgesamt.

(Walter Kolbow [SPD]: Sehr richtig!)

Wir haben die heutige Debatte zum Stationierungskonzept der Streitkräfte beantragt, weil die Gefahr besteht, daß durch Stümperei, Nachlässigkeit und Konzeptionslosigkeit die Chance vertan wird, die Abrüstung auch in den Herzen der betroffenen Menschen zu verankern. Abrüstung ist eine große Chance. Was haben Sie daraus gemacht?
Die Bundesregierung hat zunächst einmal viel Zeit vertan. Schon Mitte der 80er Jahre war klar, daß man sich auf Abrüstung vorbereiten kann. Ich habe im Mai 1989 die Bundesregierung nach einem Sonderprogramm zur Konversion gefragt und habe die klassische Antwort einer verschlafenen Bundesregierung bekommen. Man hat mich nämlich wissen lassen, es bestehe kein Anlaß, insbesondere nicht zu einer regionalpolitischen Flankierung. Das war im Mai 1989; das muß man sich einmal vorstellen!

(Walter Kolbow [SPD]: Hört! Hört!)

Das war es dann, und da ist es kein Wunder, daß die Bundesregierung bei dieser Frage bis heute nicht an der Spitze der Bewegung, sondern am Rockschoß der Geschichte hängt.

(Walter Kolbow [SPD]: Leider wahr!)

Sie haben nicht rechtzeitig informiert. Sie haben die Planungsarbeit am Ressortkonzept wie eine geheime Kommandosache behandelt. Sie haben dem Verteidigungsausschuß Information und Kooperation versprochen und die Information dann über die Presse lanciert. Sie haben einseitig die Koalitionsparteien informiert und mit ihnen das Konzept besprochen,

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das stimmt doch gar nicht! Sie sind doch gar nicht dabeigewesen!)

aber zugleich versäumt, es mit Ländern und Gemeinden abzustimmen.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Sie haben die betroffenen Gemeinden mit Ihrer Forderung nach Verkauf von Grundstücken zum Verkehrswert — allenfalls minus 15 % — hingehalten und Unruhe geschaffen. Sie schreiben mit Ihrem Konzept überwiegend veraltete Strukturen fort. Ex-General Schmückle nannte dieses Reduzierungskonzept eine schlampige Arbeit und eine Zumutung für Kommunen und Truppe.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Sie haben in einigen besonders strukturschwachen Räumen die Reduzierung der Bundeswehr ohne Rücksicht auf die angekündigte Reduzierung alliierter Truppen oben draufgepackt.
Bei allen diesen Ungereimtheiten und Versäumnissen zeigt sich: Hier ist eine Bundesregierung am Werk, die weder handwerklich noch konzeptionell in der Lage ist, schwierige Fragen unserer Zeit rechtzeitig und gut zu lösen.
Wir fordern Sie erstens auf, endlich parallel zur Abrüstungsplanung ein Konversionssonderprogramm
vorzulegen, das den wirtschaftlichen Folgen von Abrüstung, Truppenreduzierung und Standortauflösung Rechnung trägt.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Wir fordern Sie zweitens auf, die dafür notwendigen Verhandlungen mit den Ländern und den betroffenen Gemeinden zu führen und am 30. September 1991 abzuschließen.
Wir fordern Sie drittens auf, Sozialpläne zu entwikkeln und ein schlüssiges Konzept zur Überwindung der Auswirkungen auf die Zivilbeschäftigten vorzulegen, ein Konzept, das auch wirklich weiterträgt.
Wir verlangen viertens von der Bundesregierung, daß sie endlich Schluß macht mit der absonderlichen Vorstellung, die Strukturerneuerung in den strukturschwachen Regionen sei vom Markt allein zu leisten. Da bedarf es wirklich einer massiven besonderen Anstrengung und auch besonderer Rahmenbedingungen.
Fünftens. Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich eine großzügige Regelung über die Abgabe von Grundstücken an die Gemeinden vorzulegen.

(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Das ist alles im Fluß!)

Wir fordern, die Grundstücke altlastenfrei und verbilligt abzugeben, mit einem Rabatt von bis zu 80 %, in besonderen Fällen kostenlos.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU: 110 %!)

Wir verlangen zugleich auch Klarheit und Durchsichtigkeit dieser Regelungen.
Sechstens. Wir fordern eine bessere Abstimmung des Bundeswehrkonzeptes mit der Planung der Alliierten.
Siebtens. Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich bei der Beschaffung, insbesondere bei Großprojekten, rigoros zu streichen. Die dort bisher verschwendeten Mittel werden dringend gebraucht.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Achtens. Wir unterstützen Sie bei allem, was sozialen Sinn für die betroffenen Menschen und Weitsicht erkennen läßt. Dahin bewegen müssen Sie sich allerdings schon selbst.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203329700
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, noch ein kurzer Hinweis zur Fragestunde: Es ist eine Unklarheit aufgetreten, was denn mit den heute nicht beantworteten Fragen geschieht. Sie alle werden natürlich schriftlich beantwortet, weil wir in dieser Woche keine Fragestunde



Vizepräsident Helmuth Becker
mehr haben *). Es bedarf also nicht einer besonderen Beantragung.
Als nächste Rednerin hat nun Frau Kollegin Claire Marienfeld das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1203329800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frieden schaffen mit weniger Waffen! — Jetzt sind wir soweit, und nun ist es nicht recht.

(Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]: Wem denn? — Widerspruch bei der SPD)

Die von uns allen politisch gewollte und vertraglich vereinbarte Reduzierung unserer Truppen bis Ende 1994 mit der Überwindung der deutschen Teilung und veränderten Sicherheitsbedingungen in Europa darf jetzt nicht unter regionalpolitischen Gesichtspunkten zerredet werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/ GRÜNE]: Das sagen Sie mal Ihren Kollegen! — Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Aber tun müssen Sie was!)

Die Verringerung unserer Streitkräfte bei gleichzeitiger Vergrößerung unseres Territoriums bedingt eine Neuaufteilung und zwangsweise Verlagerung bzw. Auflösung von Einheiten und Verbänden der Bundeswehr. 370 000 Soldaten können eben nur auf eine bestimmte Anzahl von Standorten sinnvoll verteilt werden.

(Zurufe von der SPD: Richtig! — Das ist doch logisch!)

„Abrüstung ja, aber nicht bei mir" ist kein brauchbares Planungsprinzip.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Erstes Kriterium für die Reduzierung ist die Sicherstellung der militärischen Aufgabenerfüllung.
Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt war die Maßgabe, Ballungsräume zu entlasten und in strukturschwächeren Gebieten auch aus wirtschaftlichen Gründen geringere Reduzierungen vorzunehmen.

(Manfred Opel [SPD]: Sie sollten sich mal einen besseren Redenschreiber zulegen!)

— Herr Kollege Opel, im Gegensatz zu Ihnen schreibe ich meine Reden selbst.
Meine Damen und Herren, ein weiteres Kriterium war die Akzeptanz der Bundeswehr in der Bevölkerung und bei den politisch Verantwortlichen in den Städten und Gemeinden. Aber gerade da machen wir die Erfahrung, die alles auf den Kopf stellt: Ratsbeschlüsse in SPD-regierten Rathäusern, die noch vor einigen Monaten Gültigkeit hatten und die Forderungen nach Abzug zum Inhalt beinhalteten, werden
*) Die Fragen 41 des Abgeordneten Rolf Schwanitz, 58, 59 des Abgeordneten Gerhard Schulz (Leipzig), 60, 61 Elisabeth Grochtmann, 62, 63 des Abgeordneten Krziskewitz, 64, 65 des Abgeordneten Gunnar Uldall, 79 und 80 des Abgeordneten Peter Conradi wurden zurückgezogen.
Die schriftlich erteilten Antworten auf die übrigen Fragen werden in einem Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll abgedruckt. heute revidiert. Plötzlich entdeckt man seine Liebe zur Bundeswehr.

(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Nennen Sie doch mal ein paar Beispiele, damit wir dem nachgehen können!)

Das Positive an dieser gesamten Diskussion ist für mich allerdings die Tatsache, daß damit in den betroffenen Städten und Gemeinden eine Überprüfung des eigenen Verhaltens gegenüber unseren Soldaten stattgefunden hat,

(Beifall des Abg. Dr. Egon Jüttner [CDU/ CSU])

und daß, wenn man den Reaktionen glauben darf, Anzeichen von Bewußtseinswandel auch bei der SPD erkennbar sind. Ich hoffe, daß das so weitergeht.

(Zuruf von der SPD: Machen Sie sich keine Hoffnungen!)

Ich verkenne nicht, daß die vor Ort entstehenden Reduzierungen, Verlegungen und Auflösungen große strukturelle und wirtschaftliche Probleme mit sich bringen. Doch die SPD sollte sich mit massiver Kritik am Stoltenberg-Plan zurückhalten.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Stoltenberg-Plan, was ist das denn?)

Die Bürger haben nicht vergessen, daß der sozialdemokratische Kanlzerkandidat Oskar Lafontaine eine Verringerung der Truppenstärke der Bundeswehr auf 200 000 Soldaten durchsetzen wollte.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

— Hören Sie bitte weiter!
Ganz abgesehen von der Frage, ob die Armee ihren Auftrag dann noch erfüllen könnte, hätte dies unweigerlich ganze Regionen ins wirtschaftliche Chaos geführt.

(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Mit Ihrer Regierung schon!)

Es ist unglaubwürdig, wenn Sozialdemokraten jetzt, abgesehen von besonderen regionalen Überlegungen, generell um jeden Soldaten kämpfen.
Wir sind nun gefordert, und wir werden auch sozial verträgliche Lösungen finden,

(Manfred Opel [SPD]: Was denn zum Beispiel? — Zuruf von der SPD: Das glauben Sie doch selbst nicht! — Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Sie haben ja bisher geschlafen!)

vor allem für unsere Soldaten und insbesondere im Hinblick auf die Zivilbeschäftigten.
Noch eines darf bei dieser Diskussion nicht unter den Tisch fallen: die Möglichkeiten der Städte und Gemeinden zur Umgestaltung des militärisch genutzten Geländes.

(Zurufe von der SPD: Machen Sie doch Vorschläge! — Alles verschlafen in RheinlandPfalz!)

— Bitte, Herr Kollege.



Claire Marienfeld
Es ist doch eine herrliche Vorstellung, wo vorher Kasernen waren, Schulen, Altenwohnungen und Altenheime zu finden. Das ist eine wunderschöne Vorstellung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Darauf wollen wir uns in den nächsten Wochen konzentrieren.

(Zuruf von der SPD: Das wird auch Zeit! — Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Wieviel Rabatt gibt es?)

Wenn wir und vor allem Sie von der SPD dies begreifen, hat dieser historische Vorgang, nämlich der Vollzug eines Riesenschrittes in Richtung Frieden in Europa, den Stellenwert, der ihm gebührt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203329900
Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist die Frau Abgeordnete Jutta Braband.

Jutta Braband (PDS/LL):
Rede ID: ID1203330000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte hier ausdrücklich darauf hinweisen, daß ich der Meinung bin, daß der Mißbrauch des Wortes „Frieden schaffen ohne Waffen" in diesem Zusammenhang ein starkes Stück ist.

(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Mit weniger Waffen!)

Es wäre ja wirklich zu schön, denke ich, wenn er denn recht hätte, der Herr Wellershoff, und die Deutschen wären tatsächlich ein machtvergessenes und friedensverwöhntes Volk. Er hat aber nicht recht, jedenfalls nicht soweit es das Führungspersonal dieses Volkes angeht, denn sonst müßten wir uns heute nicht über ein Stationierungskonzept aus dem Hause Stoltenberg unterhalten. Die Bundeswehr wäre überhaupt kein Thema, denn es würde sie nicht mehr oder — schlechtestenfalls — nur rudimentär geben.
Die Absicht der NATO, schnelle Eingreiftruppen zu installieren, und der Nichtverzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zeigen deutlich, daß es keineswegs etwa um einen Willen zu echter Abrüstung geht. Darum sind alle Gefechte um mögliche Truppenreduzierungen, Standortschließungen lediglich Scheingefechte, solange das eigentliche Konzept, mögliche internationale Konflikte auch mit militärischen Mitteln lösen zu wollen, nicht geändert wird. Offensichtlich wird, wie die Debatte der letzten Wochen zeigt, eine deutsche Beteiligung hieran nachdrücklich angestrebt.
Stoltenbergs Ressortkonzept ist darum eben nicht mehr und nicht weniger als die Synthese aus der — machen wir uns nichts vor — vertraglich notwendig gewordenen Reduzierung des Personalbestandes, der strategisch notwendigen Anpassung an die Geländegewinne im Osten und den — allerdings nicht notwendigen, aber heiß ersehnten — Umstrukturierungsmaßnahmen zur Erhöhung der Schlagkraft und weltweiten Einsatzfähigkeit der Bundeswehr.
Daß dabei die Interessen der von Standortauflösung oder -reduzierung — in diesem Fall muß ich sogar sagen — betroffenen Städten und Gemeinden unter
den Tisch fallen, daß sie nicht im Vorfeld konsultiert, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt werden, daß es keine wirklichen Konversionskonzepte und -regelungen gibt, daß diese nicht einmal angestrebt werden, daß vielmehr in bekannter Manier gnadenloser Kahlschlag betrieben wird, ist ebenso verwerflich wie kennzeichnend für die Politik dieser Regierung.
Dort, wo sozial und ökologisch verträgliche Konversionskonzepte angesagt wären, allerdings, so meine ich, weit über das jetzt anstehende Maß hinaus, geht die Bundesregierung einen ähnlichen Weg, wie sie ihn schon bei der Auflösung und Eingliederung der Nationalen Volksarmee gegangen ist: Abwicklung einzig und allein auf dem Rücken der Menschen, die selbst sehen müssen, wie sie zurechtkommen.
Dabei ist es natürlich nicht so, daß es keine sinnvollen, den Bedürfnissen der Menschen verpflichteten Konversionskonzepte gäbe oder diese nicht zu entwickeln wären. Sie liegen vor. Auch einzelne Städte und Gemeinden haben sich dahin gehend ihre Gedanken gemacht und sich engagiert. Solche Konzepte sind aber ebensowenig gewollt wie etwa die Möglichkeit für jede Bürgerin und jeden Bürger dieses Landes, über den Einsatz seiner Einkommensteuer für Militärausgaben selbst zu entscheiden.
Der Grund für diese Verfahrensweise liegt weniger in der Unfähigkeit oder in besonderer Böswilligkeit des Herrn Stoltenberg, vielmehr schlicht an der Tatsache, daß Konversion eben nicht sein Anliegen ist, daß diese Regierung jeder — und sei es auch eine noch so kümmerliche — Form von Abrüstung, jeder Form von Truppenreduzierung, der Reduzierung der Zahl der Zivilbeschäftigten und der Standortreduzierung nur höchst widerwillig durch von außen gesetzten Zwang nachkommt. Folglich kann diese Regierung überhaupt kein Interesse an echter Konversion entwikkeln. Ihr das vorzuwerfen, hieße, ihr bessere Absichten zu unterstellen, als sie eigentlich hat. Insofern hat der Herr Wellershoff nur das gesagt, was Herr Stoltenberg vielleicht ändern will.
Im übrigen möchte ich noch ein Wort zu den Damen und Herren der SPD sagen. Ihre ohne Frage berechtigte und angemessene Empörung über das Stoltenbergsche Ressortkonzept und seine absehbaren Folgen hätten wir uns schon weit früher gewünscht, nämlich als es um die nicht weniger unsoziale Abwicklung diverser Institutionen der Ex-DDR ging. Dagegen werden die Folgen des Ressortkonzepts tatsächlich nur ein Hauch im Wind sein, ohne daß ich sie damit verharmlosen will. Ich stelle dabei gewiß auch in Rechnung, daß Sie es als besondere Gemeinheit des Herrn Stoltenberg verstehen müssen,

(Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Was heißt hier „Gemeinheit"? Das ist doch dummes Zeug, was Sie da reden!)

wenn relativ mehr von der SPD als anders regierte Städte und Gemeinden betroffen sind.
Ich danke Ihnen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203330100
Nächster Redner ist der Abgeordnete Jürgen Koppelin.




Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1203330200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Reduzierung unserer Streitkräfte bis zum Dezember 1994 auf 370 000 Soldaten ist von uns allen begrüßt worden. Diese internationale Verpflichtung hat u. a. dazu beigetragen, daß wir Deutschen unsere Einheit wiedererlangt haben.
Es ist, so meine ich, dem Bundesminister der Verteidigung und seinem Haus dafür Anerkennung auszusprechen, daß es gelungen ist, innerhalb von wenigen Monaten ein Konzept vorzulegen, um das Ziel der Reduzierung zu erreichen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Selten hat wohl der Entwurf eines Konzeptes den Deutschen Bundestag und seine Abgeordneten, aber auch die Landtage, die Landesregierungen und die Kommunen so beschäftigt und so bewegt wie jetzt die Vorlage zur Truppenreduzierung.
Wer die Diskussion der letzten Wochen verfolgt und sich daran beteiligt hat, der kann sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, daß vielerorts nach dem Motto argumentiert wird: Truppenreduzierung ja, aber bitte nicht in meiner Kommune oder in meinem Wahlkreis.

(Zurufe von der SPD)

— Es ist so. Man verfolgt ja die Diskussion.

(Zuruf des Abg. Manfred Opel [SPD])

— Herr Opel, seien Sie doch nicht immer so vorlaut!

(Walter Kolbow [SPD]: Wir sind hier im Parlament und nicht in der Schule!)

— Wir kennen uns ja. Er kann nicht anders. — Ich hoffe, das geht nicht von meiner Zeit ab, Herr Präsident.
Es zeigt sich heute, daß viele die Bundeswehr immer nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gesehen haben. Ich bitte herzlich darum, die Diskussion um die Reduzierung etwas emotionsfreier zu führen, auch wenn man selber — das will ich gerne zugeben, Kollege Opel — von diesen Emotionen nicht ganz frei ist.

(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Er schürt sie zumindest!)

Aber eines muß doch gesagt werden — das sage ich nach der Aufregung in den Beiträgen eben zur linken Seite — : Ich finde es schon sehr interessant, wer sich plötzlich für die Bundeswehr einsetzt. Am besten arbeitet man ja mit Beispielen. Ich will gern eines aus Schleswig-Holstein nennen, Herr Kollege Opel: die Stadt Itzehoe. Zur 750-Jahr-Feier wird die Bundeswehr ausgeladen, eine bestehende Patenschaft mit einem Boot der Marine wird aufgekündigt, und man weigert sich sogar, Geld von Soldaten anzunehmen, das diese für humanitäre Zwecke gesammelt haben.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wer hat denn da die Mehrheit?)

— Ich verrate jetzt kein Geheimnis, Kollege Nolting, wenn ich bekanntgebe, daß in Itzehoe seit Jahren die SPD regiert und dort die Mehrheit hat. Nun plötzlich wird vorgeschlagen, daß dieser Standort Itzehoe erhalten bleiben soll. Man entdeckt sein Herz für die Bundeswehr.
Ich will noch ein anderes Beispiel bringen. In Kiel soll ein Ausschuß zur Truppenreduzierung durch die Stadt gebildet werden. Man kommt nicht zu Potte, weil die Sozialdemokraten fordern, daß in diesem Ausschuß selbstverständlich auch die Kirchen und die Friedensgruppen beteiligt werden müssen. Ich will das nicht kommentieren, um mir nicht bei meiner ersten Rede einen Ordnungsruf einzuhandeln.

(Dieter Heistermann [SPD]: Den können Sie aber schnell bekommen, wenn Sie so weiterreden!)

Ich kann den Bundesminister der Verteidigung nur darin unterstützen, daß solche Standorte bei der Truppenreduzierung zuerst berücksichtigt werden. Da, wo die Bundeswehr in der Vergangenheit immer gern gesehen war, sollte man, wenn es geht, eine Reduzierung vermeiden. Das ist übrigens keine Abstrafung, so meine ich, sondern eine logische Konsequenz.
Zum vorliegenden Konzept des Verteidigungsministeriums scheint es mir nötig, einige Anmerkungen zu machen.
Für eine Entscheidung über die Standorte ist es wichtig und notwendig, zu wissen, wie viele Zivilmitarbeiter betroffen sind. Diese Zahlen haben wir heute im Ausschuß nachgeliefert bekommen. Ich meine, sie waren dringend notwendig.

(Beifall bei der FDP)

Wenn ein Kleinstandort wie Tönning in Nordfriesland drei Soldaten ausweist, so mag man für die Streichung sein. Das mag einem leichtfallen. Man sieht das jedoch in einem anderen Licht, wenn man erfährt, daß an diesem Kleinstandort ca. 40 Zivilmitarbeiter beschäftigt sind.
Die im Konzept genannten Ist-Zahlen vom 22. Mai scheinen nicht immer den tatsächlichen Zahlen zu entsprechen. Ich halte eine Überprüfung der Ist-Zahlen für notwendig.
In den Ballungszentren ist nach meinem Eindruck nicht in dem Umfang reduziert worden, wie es wünschenswert gewesen wäre. Dafür sehen die Pläne leider eine starke Reduzierung in einigen strukturschwachen Gebieten vor. Ich will als Beispiel den Kreis Nordfriesland mit den Standorten Husum und vor allem Leck ansprechen, Kollege Opel. Ich halte es nicht für vertretbar, daß sich die Bundeswehr aus solchen Kreisen zurückzieht, in denen in der Vergangenheit andere Entwicklungen versäumt werden mußten,

(Beifall des Abg. Manfred Opel [SPD])

weil die Bundeswehr da war. Ich denke z. B. an den Fremdenverkehr. Er fand nicht statt, weil es die Bundeswehr gab.
Wir müssen uns bei der Diskussion über die Truppenreduzierung stärker darüber Gedanken machen, welche Aufgaben unsere Teilstreitkräfte zukünftig im Rahmen der internationalen Aufgaben haben werden. Ich spreche hier besonders die Marine an und meine, daß die bisherigen Planungen zur Reduzierung der Marine bis zum Jahr 2005 nicht mehr den Gegebenheiten entsprechen.

(Beifall des Abg. Manfred Opel [SPD])




Jürgen Koppelin
Unter diesem Gesichtspunkt, denke ich, muß man sich noch einmal über die Marinestandorte unterhalten. Ich denke hier in Schleswig-Holstein z. B. an Kappeln und Neustadt.
Dank möchte ich den Angehörigen der Bundeswehr bei dieser Gelegenheit sagen. Ich habe bei meinen Besuchen bei der Truppe in diesen Tagen bei den Soldaten großes Verständnis für die Reduzierung gefunden. Das ist, wenn man selber betroffen ist, nicht immer selbstverständlich.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenig Verständnis habe ich allerdings dafür gefunden — das muß ich schon sagen, Herr Minister — , daß es vor der offiziellen Bekanntgabe der Reduzierungspläne eine merkwürdige Informationspolitik aus dem Ministerium heraus gegeben hat.

(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])

Das hatte nichts mit Fürsorgepflicht zu tun. Bei der Gelegenheit möchte ich auch sagen: Es wäre gut, wenn auch im Ministerium reduziert würde.
Zum Schluß folgendes: Die Bundesregierung und die Landesregierung werden in den nächsten Monaten gemeinsam nach Lösungen suchen müssen, um den Kommunen zu helfen, die von der Reduzierung der Bundeswehr besonders betroffen sind. Das wird nicht einfach sein, besonders dann, wenn eine Landesregierung wie z. B. die von Schleswig-Holstein sich seit Jahren geweigert hat, überhaupt Wirtschaftsoder Verkehrspolitik zu betreiben. Die Bundesregierung wird das nicht ausgleichen können, was eine solche Landesregierung in der Vergangenheit versäumt hat.
Vielen Dank für Ihre Geduld.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203330300
Herr Kollege Koppelin, Sie haben die Redezeit natürlich überschritten. Aber ich weiß, wie es ist, wenn man hier das erste Mal das alles genau einteilen muß.
Nun hat als nächste Frau Kollegin Vera Wollenberger das Wort.

Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1203330400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Stoltenberg, Sie haben am 24. Mai 1991 vor der Bundespressekonferenz überaus vollmundig erklärt, daß Sie — ich zitiere — „nachhaltige und breite Unterstützung der politischen und gesellschaftlichen Kräfte unseres Landes brauchen, wenn die Neugestaltung der Bundeswehr in einer sinnvollen und menschlich vertretbaren Weise gelingen soll" . Das sind schöne Worte, aber leider in die Irre führende Worte; denn die Reduzierung vollzieht sich ohne vorherige Rücksprache mit den eigentlich Betroffenen. Das heißt, so undemokratisch die Aufrüstungsbeschlüsse waren, so undemokratisch ist die Art und Weise der an sich positiven Abrüstungsschritte.
Wer von den betroffenen Landesregierungen, geschweige denn den Kreis- und Kommunalbehörden hatte in irgendeiner Phase die Möglichkeit, das von
Herrn Stoltenberg präsentierte Werk zu unterstützen? Sie kannten es schlicht nicht, sie waren in keiner Phase in den Entstehungsprozeß einbezogen.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Sie müssen mal an den Sitzungen teilnehmen!)

— Die Kommunen können nicht an Sitzungen des Verteidigungsausschusses teilnehmen, tut mir leid, Herr Nolting.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Nein, Sie!)

— Ich hatte eben von den Kommunen und Ländern gesprochen. Hören Sie doch bitte richtig zu!

(Zuruf von der SPD: Nicht verwirren lassen!)

Dabei gab und gibt es genug willige und mit- und vorausdenkende Menschen; das wissen besonders meine Kollegen aus dem Verteidigungsausschuß, in dem ständig Unterlagen eingehen, deren Berücksichtigung es gestattet hätte, den bevorstehenden Umgestaltungsprozeß der Bundeswehr wirklich sinnvoll zu vollziehen. Wissen Sie, Herr Minister Stoltenberg, irgendwie erinnert mich die jetzige Grundsituation in fataler Weise an die Situation, in der wir unlängst in der ehemaligen DDR im Zusammenhang mit der Auflösung der NVA und allen damit verbundenen Problemen waren. Damals, also vor einem Jahr, haben wir im Zeitraffer das durchlebt, was man aus Sicht von Bündnis 90/GRÜNE den alteingesessenen Bundesbürgern ersparen sollte, nämlich Konfusion statt Konversion.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD)

Mit Rücksicht auf die betroffenen Menschen sollte sich diese katastrophale Situation nicht wiederholen.
Meine Damen und Herren, auf einem Forum der Zeitschrift „Wehrtechnik" äußerte ein Brigadegeneral unlängst trefflich — Zitat — :
Nach gängiger Definition ist Planung der gedankliche Vorgang, bei dem versucht wird, mit einer endlichen Menge an Ressourcen ein genau bestimmtes Ziel auf dem kosteneffektivsten Weg zu erreichen.
Wie steht es nun mit Ihrem Ziel, Herr Stoltenberg? Dazu heißt es im Ressortkonzept, die Neuordnung der Stationierung könne sich nicht ausschließlich an den Belangen des zivilen Umfelds der Streitkräfte orientieren; Ziel müsse es sein, von der Belegung her lebensfähige Standorte zu erreichen, damit die ständigen Aufgaben im Frieden aufwandswirksam wahrgenommen werden können.
Aber, Herr Minister, das Gesamtstationierungskonzept ist eindeutig nach vorrangig militärischen Kriterien erarbeitet worden, die sich nach wie vor nach Ihrem alten Feindbild ausrichten. Wie anders ist sonst die insgesamt hohe flächendeckende Stationierungsdichte zu erklären und das besonders augenfällig im Land Mecklenburg-Vorpommern, also unmittelbar an der Grenze zum polnischen Nachbarland? Wie anders, Herr Minister, ist die Planung der Luftwaffe zu verstehen, alle derzeitigen Standorte von höheren



Vera Wollenberger
Kommandobehörden und Divisionsstäben für die Stationierung zukünftiger Kommandostäbe zu erhalten? Eine Entscheidung, die sicher von unserem Nachbarn sehr aufmerksam zur Kenntnis genommen wird.
Was nun den Weg zu Ihrem, mit Verlaub, zweifelhaften Ziel betrifft, Herr Stoltenberg, so ist er mit Sicherheit alles andere als kosteneffektiv; denn das hätte er nur sein können, wären die Kommunen rechtzeitig in die Planung einbezogen worden, wäre vorher wirklich umfassend über Konversion in all ihrer Komplexität nachgedacht worden.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD)

Bezogen auf das Territorium der fünf neuen Bundesländer heißt das, daß kein Bundesland für sich allein die Probleme bewältigen kann, die mit der Auflösung der NVA bzw. ihrer reduzierten Überführung in die Bundeswehr und dem Abzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte verbunden sind. Kein Bundesland kann allein und ausschließlich aus eigener Kraft verhindern, daß die Belegschaft ehemaliger Rüstungsbetriebe arbeitslos wird, wenn die Bundesregierung nicht bereit ist, in der Rechtsnachfolge des Bundes zur untergangenen DDR für die Folgen zentralstaatlichen Handelns einzustehen.
Aus der Sicht der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE stehen vor allem zwei Probleme im Vordergrund. Zum einen geht es um die Landumnutzung für zivile Zwecke. Wir fordern, daß die Liegenschaften aus der militärischen Nutzung altlastenfrei entlassen werden. Dazu muß der Bund finanzielle Mittel für die Sanierung und zivile Erschließung bisher militärisch genutzter Liegenschaften bereitstellen. Einen zweiten Schwerpunkt sehen wir in der Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen, also in der personellen Konversion.
Da meine Redezeit schon abgelaufen ist, möchte ich nur noch schnell etwas zu dem Konzept der Zivilbeschäftigten sagen. Dieses Konzept wurde bezeichnenderweise erst heute vormittag im Verteidigungsausschuß verteilt und konnte deshalb nicht ausführlich beraten werden. Wir sind aber der Meinung, daß das Gesamtressortkonzept erst verabschiedet werden sollte, wenn über dieses Zivilpersonalkonzept ausführlich und abschließend beraten werden konnte.
Vielen Dank.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203330500
Ich erteile nunmehr dem Herrn Staatssekretär Klaus Beckmann das Wort.

Klaus Beckmann (FDP):
Rede ID: ID1203330600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich denke, wir sind uns alle einig, daß die Abrüstung uneingeschränkt zu begrüßen ist. Neben den damit verbundenen Chancen für die Sicherung des Friedens in Europa werden die Abrüstungsmaßnahmen mittel- bis langfristig auch wirtschaftliche Vorteile mit sich bringen. Auf der anderen Seite — das ist jetzt in der Debatte deutlich geworden — ist auch jedem klar, daß diese Entwicklung ebenso negative Auswirkungen haben kann. Das wird ganz konkret sichtbar, wenn Truppen aus strukturschwachen Regionen abziehen.
Der Bundesverteidigungsminister hat bei der Standortplanung einen Kriterienkatalog zugrunde gelegt, der u. a. auch regional-wirtschaftliche Aspekte einschließt. Das heißt, bei der Planung wurde, soweit dies möglich war, der Schließung von Standorten in Ballungsgebieten Vorrang vor der Schließung von Standorten in strukturschwachen Regionen gegeben. Daß dieser Grundsatz allerdings nicht immer gelten konnte, zeigt das vom Bundesverteidigungsministerium vorgelegte Ressortkonzept. Herr Kollege Koppelin hat eben darauf hingewiesen.
Daraus ergibt sich nun die Schlußfolgerung, daß in den betroffenen strukturschwachen Regionen, für die die Einrichtungen der Bundeswehr ein wichtiger Arbeitgeber und auch Wirtschaftsfaktor sind, erheblicher Anpassungsbedarf eintreten wird. Gleiches gilt natürlich auch für die Regionen, die von einem Truppenabzug ausländischer Streitkräfte betroffen sind. Diese Regionen werden nicht in der Lage sein, allein aus eigener Kraft diese Folgen abzufangen. Es entsteht also Handlungsbedarf.
Meine Damen und Herren, die seit Februar 1990 eingerichtete interministerielle Arbeitsgruppe unter Federführung des Bundeswirtschaftsministers hat die Felder und Politikbereiche festgelegt, die für die erforderliche notwendige Flankierung in Betracht kommen.
Lassen Sie sie mich wegen der Kürze der Zeit nur stichwortartig nennen:
Erstens. Beschleunigung des Freigabeverfahrens für ehemalig militärisch genutzten Geländes.

(Beifall bei der FDP)

Zweitens. Erhöhung der Preisabschläge beim Verkauf bundeseigener Liegenschaften.
Drittens regionalpolitische Flankierung.
Der Planungsausschuß der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" hat bereits im Januar dieses Jahres einen Grundsatzbeschluß für ein regionales Sonderprogramm für die Regionen getroffen, die erheblich vom Truppenabbau betroffen werden und die daher mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind, wie sie früher an Stahlstandorten oder Küstenstandorten mit Werften anzutreffen waren.
Viertens werden städtebauliche Maßnahmen oder Infrastrukturmaßnahmen greifen müssen. Dies sind einige Bereiche, die Möglichkeiten für eine Flankierung bieten und die geeignet sind, die Standortbestimmungen in den Regionen zu verbessern.
Wenn ich mich nun hier auf die regionalen Flankierungsaspekte konzentriert habe, so bedeutet das nicht — das will ich unterstreichen — , daß nicht auch über soziale Maßnahmen nachgedacht wird. Es ist aber so, daß zivile Arbeitnehmer bei den Streitkräften im Falle einer Entlassung nicht in ein Vakuum fallen, sondern durch tarifvertragliche Regelungen oder durch die Instrumente des Arbeitsförderungsgesetzes weitgehend



Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann
abgesichert sind; allerdings wird über zusätzliche Verbesserungen nachgedacht.
Der hier, insbesondere auch von dem Kollegen Müller (Pleisweiler), geäußerten Kritik, die Bundesregierung hätte noch keine Entscheidungen getroffen, muß folgendes entgegengehalten werden:
Erstens, verehrter Herr Kollege Müller, hätte ich anstatt dieser Kritik einmal Dank für die Friedenspolitik dieser Bundesregierung erwartet, die ja diese Abrüstung erst ermöglicht hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Lachen bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Zweitens. Das endgültige Standortkonzept der Bundeswehr wird ja erst im August festgelegt.
Drittens. Das Ressortkonzept zum Abbau der zivilen Arbeitsplätze bei der Bundeswehr liegt seit heute vor.
Viertens. Die Abzugspläne der Alliierten Streitkräfte sind nur bruchstückhaft bekannt.
Das heißt, die wirklich konkreten Entscheidungsgrundlagen fehlen noch weitgehend.
Gleichwohl, Herr Präsident, meine Damen und Herren, wird der Bundeswirtschaftsminister im Rahmen seiner Zuständigkeiten alle Möglichkeiten zur Flankierung des Umstrukturierungsprozesses prüfen und sinnvolle Maßnahmen, insbesondere im Rahmen der Instrumentarien der Gemeinschaftsaufgabe, unterstützen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203330700
Meine Damen und Herren, unser nächster Redner ist der Kollege Gerhard Neumann.

Gerhard Neumann (SPD):
Rede ID: ID1203330800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesminister der Verteidigung führte anläßlich der Übernahme der Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte im beigetretenen Teil Deutschlands am 3. Oktober 1990 aus: Die Bundeswehr und die deutsche Verteidigungspolitik stehen vor ihrer größten Herausforderung seit 1955, und zwar sowohl in menschlicher als auch in organisatorischer Hinsicht.
Betrachtet man heute das am 24. Mai dieses Jahres vorgelegte Ressortkonzept für die Stationierung der Streitkräfte und die daraus resultierenden komplexen Probleme der Kommunen, so wird schnell deutlich, daß die größte Herausforderung seit 1955 in organisatorischer Hinsicht in keiner Weise gemeistert wird.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Auf die menschlichen Probleme der Integration der NVA in die Bundeswehr wollen wir heute hier gar nicht erst eingehen. In welcher Situation befinden sich also die bisher militärisch genutzten Liegenschaften auf dem Gebiet der fünf neuen Länder? —
Von den rund 3 320 NVA-Liegenschaften wurden vom BMVg bisher 1 230 zur weiteren Nutzung freigegeben. 1 320 wurden als Wohnungen oder als Forstgelände unmittelbar an das BMF weitergeleitet. Rund 770 Liegenschaften werden weiterhin militärisch genutzt.
Die Liegenschaften der Sowjetarmee werden erst bis zum Jahre 1994 vollständig in Bundeseigentum übergegangen sein.
Ein Übungsplatzkonzept, in das auch die Liegenschaften einbezogen werden, konnte trotz Stationierungsentscheidung bisher nicht vorgelegt werden.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Ferner ist dem Stationierungskonzept nicht zu entnehmen, welche Liegenschaften für die zivile Nutzung in Zukunft noch freigegeben werden sollen.
Die Konfusion wird sogar noch größer, wenn es um den Erwerb der Liegenschaften aus NVA-Besitz geht. Sofern diese nämlich nicht für Bundesaufgaben benötigt werden, kann sie im Prinzip jeder Interessent erwerben, der bereit ist, nach haushaltsrechtlichen Bestimmungen den vollen Wert als Kaufpreis zu bezahlen. Dieser Verfahrensweg gilt auch für die finanziell angeschlagenen Kommunen der neuen Länder, die lediglich für die Flächen, die für Naherholungszwecke ausgewiesen sind, eine Art Vorkaufsrecht eingeräumt bekommen haben.

(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Unglaublich ist das!)

Eine Subventionierung von Grundstücksveräußerungen für Naherholungszwecke ist nicht möglich.

(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Da saniert sich der Finanzminister!)

Wie aber sollen unter diesen Umständen ein zügiger Aufbau und die Herstellung der kommunalen Arbeitsfähigkeit gewährleistet werden?

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE])

Bundesministerin Frau Dr. Adam-Schwaetzer hat sich am 10. Mai dieses Jahres nachdrücklich dafür ausgesprochen, die zur Diskussion stehenden Liegenschaften möglichst schnell den Gemeinden zu übereignen. Ich zitiere: „In vielen Fällen könnten diese Liegenschaften kurzfristig der Wohnnutzung oder der gewerblichen Nutzung zugeführt werden."
Warum war das BMVg oder zumindest das BMF als Vermögensverwalter bisher nicht in der Lage, ein entsprechendes Konzept vorzulegen?
Auf meine Anfrage beim Verteidigungsministerium wurde mir lediglich mitgeteilt, daß die Kommunen bundeseigene Grundstücke für Verwaltungszwecke verbilligt kaufen bzw. nutzen können, wenn sie nicht selber über geeignete Grundstücke verfügen. Ich zitiere: „Den Gemeinden soll in diesen Fällen grundsätzlich ein Preisabschlag von 50 % vom Verkehrswert bzw. Nutzungsentgelt eingeräumt werden. "
Ich frage Sie: Heißt dies im Klartext, daß die Gemeinden zunächst den Nachweis erbringen müssen, daß sie eine Liegenschaft tatsächlich für Verwaltungszwecke benötigen, bevor sie als Käufer in Betracht gezogen werden? Wer wird wann den Verkehrswert



Gerhard Neumann (Gotha)

der umweltverseuchten und oft in desolatem Zustand befindlichen Liegenschaften festlegen, die vielfach schon als Bauerwartungsland behandelt werden?
Der von der Bundesregierung eingeschlagene Verfahrensweg ist unzureichend, was den Preis der Liegenschaften betrifft, unangemessen und deshalb nicht akzeptabel.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE])

In das Preiskalkül müssen zumindest die Sanierungskosten der Liegenschaften einbezogen werden. Zu fordern ist die gesamte Übernahme der Kosten für die Altlastenbeseitigung durch den Bund.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE])

Neue wehrtechnische Entwicklungen werden im Haushalt 1991 mit mehr als 3 Milliarden DM veranschlagt. Hinzu kommen 800 000 Millionen DM für das mehr als fragliche Waffensystem Jäger 90.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203330900
Herr Kollege Neumann, ich muß Sie bitten, zum Schluß zu kommen.

Gerhard Neumann (SPD):
Rede ID: ID1203331000
Mit Blick auf die sicherheitspolitische Lage in Europa sollte es jedem eingängig sein, daß diese Summe zur Sanierung der Altlasten auf NVA-Liegenschaften erheblich sinnvoller eingesetzt werden könnten. Als persönlich betroffener Abgeordneter aus den neuen Ländern kann ich Ihnen zudem versichern: Die Bevölkerung der ehemaligen DDR — und nicht nur sie — wüßte eine solche Umverteilung im Haushalt als den Beweis für einen verantwortungsvollen Umgang mit Steuergeldern zu schätzen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE])


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203331100
Ich muß Ihnen das Wort entziehen, Herr Kollege Neumann. Noch einen Schlußsatz bitte.

(Zuruf von CDU/CSU: Der kriegt doch Seniorenzuschlag, Herr Präsident!)


Gerhard Neumann (SPD):
Rede ID: ID1203331200
Ich wollte nur noch darauf hinweisen, daß mit hochspezialisierten Analyse- und Meßlabors und umwelterfahrenen Wehrgeologen und vor allem mit dem Spürpanzer „Fuchs" ohne Schwierigkeiten die Beseitigung der ökologischen Schäden auf ehemaligem Militärgelände in den fünf neuen Ländern erfolgen könnte.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE])


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203331300
Nun muß ich aber wirklich sagen: Es ist Schluß, Herr Kollege Neumann! Wir können das nicht machen.
Ich will noch einmal auf unsere Regeln aufmerksam machen. Wenn wir allgemeine Debatten haben, kann es vorkommen, daß die Redezeit einmal etwas überzogen wird. Aber wir müssen bei unseren Regeln bleiben: Dies sind Fünfminutenreden; es darf nicht länger geredet werden. Ich muß wirklich, so unangenehm das auch ist, bei fünf Minuten abläuten.
Nun hat als nächster das Wort unser Kollege Karl Stockhausen.

Karl Stockhausen (CDU):
Rede ID: ID1203331400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Außer Kritik und Vorwürfen habe ich von der SPD in den zwei Beiträgen nichts Konkretes gehört.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, ich möchte deutlich die Frage stellen: Welches Zeitverständnis haben Sie eigentlich? Wenn die SPD-regierten Länder vier Monate brauchen, um eine Stellungnahme zu der Planung abzugeben, dann muß man doch einmal fragen, welche Zeit es beansprucht, bis ein Verteidigungsminister, bis die Hardthöhe in der Lage ist, eine solche Herausforderung, wie sie die Entspannungspolitik im Gefolge hat, nämlich die Abrüstung, zu bewältigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

Meine Damen und Herren, wir sind Gerhard Stoltenberg, unserem Verteidigungsminister, ausdrücklich dankbar — und wenn einmal einige undichte Stellen im Ministerium vorhanden sind, ist dafür nicht der Minister verantwortlich.

(Zurufe von der SPD: Nein?! — Weitere Zurufe von der SPD)

— ach, passen Sie doch einmal auf; das mit Guillaume war noch viel schlimmer —,

(Beifall bei der CDU/CSU — Lachen und Zurufe von der SPD)

daß er den Erfolg unserer Politik, nämlich Frieden zu schaffen mit weniger Waffen, in dieser konkreten Form vorgelegt hat. Frieden schaffen mit weniger Waffen heißt natürlich auch: Frieden schaffen mit weniger Soldaten.
Daß dies möglich wurde — auch daran muß man sich erinnern — , verdanken wir vor allen Dingen den Alliierten, insbesondere den USA, zu denen Sie immer ein distanziertes Verhältnis hatten.

(Lachen und Widerspruch bei der SPD)

Ich erwähne aber auch ausdrücklich Herrn Gorbatschow, der erkannt hat, daß man den Freiheitswillen von Völkern auf Dauer nicht mit militärischer Macht unterdrücken kann. Darum gilt unser Dank Gorbatschow,

(Zuruf von der SPD: Seien Sie vorsichtig!)

daß er den mutigen Schritt gewagt hat, die Völker des Warschauer Pakts ihren Weg selbst bestimmen zu lassen.
Meine Damen und Herren, ich sage noch etwas, was Sie auch nicht gern hören: Es war ganz entscheidend, daß diese Bundesregierung und die sie tragenden Parteien durch den Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses deutlich gemacht haben,

(Klaus Lennartz [SPD]: Aha! Weitere Zurufe von der SPD)

daß diese Bundesrepublik zu ihren Verpflichtungen
im Rahmen der NATO steht. Meine Damen und Her-



Karl Stockhausen
ren von der SPD, Sie haben Ihren ehemaligen Kanzler Schmidt im Regen stehengelassen.

(Lachen bei der SPD — Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Das war der falsche Zettelkasten — Gegenruf von der CDU/CSU: Der Tiefflieger Müller! — Weitere Zurufe von der SPD)

Sie haben damals im alten Plenarsaal kein gutes Bild abgegeben, als Helmut Schmidt mit einer Handvoll Getreuen zu dem gestanden hat, was richtig war.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ihre Prognosen „Beginn der Eiszeit" oder „Verstärkung des kalten Krieges" haben sich nicht realisiert, sondern unsere Überzeugung, daß eine wirksame Abrüstungspolitik nur auf unserem Weg erreicht werden kann, war richtig.
Meine Damen und Herren, auch das sage ich heute hier: Voraussetzung war auch die Bereitschaft von Millionen junger deutscher Bürger, die ihrer Wehrpflicht nachgekommen sind und damit ihren Beitrag zur Verteidigung und zum Friedensdienst geleistet haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich möchte der Bundesregierung und unserem Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl ausdrücklich Dank aussprechen. Sie waren an diesem Erfolg durch ihren konsequenten Weg maßgeblich beteiligt und können ihn daher für sich in Anspruch nehmen, nicht dagegen Sie von der SPD.
Meine Damen und Herren, ich wiederhole es: Wenn Sie für diesen Erfolg der Bundesregierung schon nicht Dank sagen können, dann hätte es Ihnen heute tatsächlich gut angestanden — die Chance dazu haben Sie gehabt —, wenigstens Ihren Respekt vor diesem einmaligen Erfolg zum Ausdruck zu bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Selbst den haben Sie versagt! Das zeugt von wenig Größe!)

Die Reduzierung der Bundeswehr auf 370 000 Soldaten ist eine Vorleistung der Bundesrepublik. Legt man den Anfangsbestand Bundeswehr/NVA von 620 000 Mann zugrunde, bedeutet das eine Reduzierung um 250 000 Soldaten. Dies bringt vor allen Dingen bei uns in den alten Bundesländern, in den Regionen, wo Standorte aufgegeben oder verringert werden, Probleme mit sich.

(Zuruf von der SPD: Aha!)

Die Soldaten, die zivilen Mitarbeiter und die Wirtschaftskraft der Truppe sind für die Standorte zu einem wichtigen Faktor geworden. Es geht um das Schicksal von Menschen, die um ihren Arbeitsplatz bangen, um Kommunen, die eine Beeinträchtigung ihrer Struktur in Kauf nehmen müssen. Hier wird die Bundesregierung — das ist gerade betont worden — ihrer Verpflichtung nachkommen, den betroffenen Menschen zu helfen. — Das rote Licht leuchtet schon auf; ich will nur noch zwei Sätze sagen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203331500
Nein, eigentlich nicht, Herr Kollege Karl Stockhausen. So alte Routiniers müssen wissen, daß fünf Minuten jetzt um sind.

(Heiterkeit)


Karl Stockhausen (CDU):
Rede ID: ID1203331600
Gut, letzter Satz.
Meine Damen und Herren von der SPD. Sie spekulieren bei den Bürgern auf die Gnade des Vergessens,

(Lachen bei der SPD)

die Ihnen in der Vergangenheit schon sehr oft zuteil wurde.

(Lachen und Zurufe von der SPD)

Wir werden es aber nicht zulassen, daß dies in Vergessenheit gerät.
Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dieter Heistermann [SPD]: Den Satz hätten Sie sich sparen können! — Detlev von Larcher [SPD]: Wir danken Ihnen für die konkrete Vorgabe, die Sie gemacht haben!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203331700
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, der nächste Redner ist der Abgeordnete Günther Nolting.

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1203331800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundeswehr wird auf 370 000 Mann reduziert. Diese Reduzierung ist von uns politisch gewollt. Sie ist auch das Ergebnis einer erfolgreichen Außen- und Sicherheitspolitik. Herr Kollege Stockhausen, Sie werden Verständnis dafür haben, daß ich als FDP-Vertreter dies besonders erwähne.

(Beifall bei der FDP)

Es besteht jetzt aber auch die Chance einer Umstrukturierung der Bundeswehr bis 1994. Ich erinnere nur an die Erhöhung der Führerdichte, die Verbesserung der Ausbildung und die Steigerung der Attraktivität.

(Dieter Heistermann [SPD]: Und die Verlängerung des Wehrdienstes!)

Minister Stoltenberg hat ein insgesamt ausgewogenes Konzept vorgelegt. Herr Minister, ich danke Ihnen und Ihren Mitarbeitern im Ministerium hierfür ausdrücklich. Ich danke auch dafür, daß Sie uns heute die Vorlage für den zivilen Bereich übergeben haben,

(Dieter Heistermann [SPD]: Das ist zu klein!)

so daß wir in der Sommerpause weiterberaten können.
Aus der Sicht der FDP sind noch gewisse Nachbesserungen in Einzelfragen nötig. Ein grundlegendes Infragestellen des vorgelegten Konzepts ist aus unserer Sicht, Herr Kollege, aber nicht angebracht. Sie wissen, daß die Ministerpräsidenten angeschrieben wurden. Sie sollen zu den Stationierungsplanungen Stellung beziehen. Wir gehen davon aus, daß bei den Eingaben, die uns erreichen werden, auch die Interessen der Kommunen berücksichtigt werden.



Günther Friedrich Nolting
Eine Fristverlängerung bis Ende September, die die Länder jetzt fordern, ist für uns nicht akzeptabel. Sie kann nicht akzeptabel sein;

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

denn ich sage Ihnen: Die betroffenen Soldaten, ihre Familien, die zivilen Mitarbeiter und die Regionen und Standorte müssen jetzt endlich Planungssicherheit haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Zu geringfügigen Fristverlängerungen können wir uns bestimmt noch äußern.
Die SPD hat noch im letzten Jahr eine Reduzierung der Bundeswehr auf 200 000 Mann gefordert. Davon ist jetzt, wo es darum geht, Standorte auszudünnen oder aufzulösen, natürlich nichts mehr zu hören. Wenn man alle Forderungen der SPD-Vertreter im Verteidigungsausschuß nach Verbesserungen und Zuschlägen zusammenzählt, dann dürften wir die Bundeswehr nicht verkleinern, sondern müßten ihre Stärke um einige hunderttausend Mann erhöhen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dieter Heistermann [SPD]: Märchenerzähler Nolting!)

— Ich beweise Ihnen das. — Dieses Verfahren ist schlicht und einfach unredlich.

(Dieter Heistermann [SPD]: „Es war einmal" !)

Hier stellt sich Frau Matthäus-Maier für die SPD-Fraktion hin, und fordert drastische Kürzungen des Verteidigungshaushalts, die auch zu Lasten der Bundeswehrsoldaten gingen; gleichzeitig beginnt Herr Lafontaine das strukturpolitische Gejammer, weil in seinem Land nur um ein Prozent gekürzt wird.

(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Viel zuwenig!)

Plötzlich hat die SPD die Liebe zur Bundeswehr entdeckt. Das haben wir soeben auch bei Herrn Müller erlebt.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Eine späte Liebe!)

Herr Müller, Ihnen und Ihrer Partei sage ich dazu: Sie möchten die Bundeswehr doch am liebsten in den Kasernen verstecken. Ich erinnere an den Gelöbnisbeschluß Ihres vorletzten Bundesparteitags.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Lachen bei der SPD)

Für die FDP ist wichtig, daß es bei der Umsetzung des Konzepts nicht zu einem Verschiebebahnhof für Soldaten kommen darf. Die Zahl der Umzüge muß möglichst geringgehalten werden. Die Soldaten und ihre Familien dürfen keine beliebige Manövriermasse sein.

(Beifall bei der FDP)

Sie dürfen nicht die Verlierer dieser erfolgreichen Abrüstungspolitik sein. Dies gilt auch für den zivilen Bereich.

(Zuruf von der SPD: Eben!)

Im weiteren Verlauf der Beratungen der Standortkonzeption müssen die anderen Ministerien einbezogen werden. Der Kollege Beckmann hat darauf hingewiesen. Dies muß eine Gemeinschaftsaufgabe sein.
Ich erinnere an die Standortschließung bei Stahl und Kohle, wo schon fast der nationale Nostand ausgerufen wurde und eine Sondersitzung die andere jagte. Hier aber geht es um weit über 100 000 Soldaten und Zigtausende von Zivilbeschäftigten und ihre Familien, also eine Größenordnung, die noch nie dagewesen ist.
Deshalb handelt es sich um eine Aufgabe der gesamten Regierung und des gesamten Parlaments, und ich beziehe die Opposition ausdrücklich ein, weil ich noch nicht die Hoffnung aufgegeben habe, daß Sie zu einem Konsens in der Lage sind.
Ausschließen möchte ich hier ausdrücklich die Kollegin von der PDS, die sich hier als Sprecherin der Nachfolgeorganisation der SED hinstellt, uns hier Vorschriften macht, aber an keiner Sitzung, als das Stationierungskonzept beraten wurde, teilgenommen hat. Ich frage Sie: Woher nehmen Sie eigentlich Ihre Informationen? Wenn Sie dann hier als Sprecherin der SED-Nachfolgeorganisation uns etwas über Abrüstung erzählen wollen, dann darf ich Sie doch wohl daran erinnern, daß es die SED war, die ihr Land bis in den letzten Winkel aufgerüstet hat. Unter diesen Folgen leiden unsere Mitbürger noch heute, und Sie tragen dafür die Verantwortung.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203331900
Meine Damen und Herren, das Wort hat nunmehr der Bundesminister der Verteidigung, Herr Gerhard Stoltenberg.

Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1203332000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der Vorlage und Begründung des Stationierungskonzepts für die Standorte der Soldaten am 24. Mai erleben wir in der Öffentlichkeit eine beite, ganz überwiegend sachbezogene Debatte. Ich will das unterstreichen.
Wir haben seitdem über acht Stunden im Verteidigungsausschuß diskutiert — heute morgen noch über die schon erwähnte Folgevorlage für die zivilen Mitarbeiter der Streitkräfte. Ich hebe das auch hervor, weil es schon erstaunlich ist, wie Hauptsprecher der Opposition — Kollege Müller als erster — hier lustig drauflosreden, die an keiner dieser Beratungen teilgenommen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Von Sachkenntnis ungetrübt übernehmen Sie den polemischen Teil, und das im Namen einer Partei, die ja leider im letzten Jahr bewiesen hat — daran ist schon ein ganzes Jahr lang von Oskar Lafontaine bis Egon Bahr erinnert worden — , daß sie eine Bundeswehr von etwa 200 000 Mann wollte. Wenn wir das umsetzen müßten, würden wir unsere sicherheitspolitische Verantwortung mißachten und einen Kahlschlag bei den Soldaten und den zivilen Mitarbeitern machen, der vollkommen unvertretbar wäre.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)




Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg
Also, Herr Müller, mäßigen Sie sich vor dem Hintergrund dieser Debatten. Sie gehören auch zu denen, die mit massiver Emotionalität die Übungen der Luftwaffe vor zwei, drei Jahren in ihrem Heimatland bekämpft haben und heute erklären, die Luftwaffe müsse hierbleiben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Tiefflug kommt von Tiefflieger, Herr Müller!)

Die Soldaten müssen als Mitbürger in ihrer Verantwortung ernstgenommen und nicht plötzlich als Wirtschaftsfaktor entdeckt werden, wenn man über sie redet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben dieses Angebot zur Diskussion mit den Ländern, den kommunalen Spitzenverbänden und allen anderen Interessierten gemacht, und wir spüren, daß es von vielen ernstgenommen wird. Es ist auch möglich — ich habe dies heute im Ausschuß gesagt —, wenn wir die abschließenden Entscheidungen für diesen Bereich im August treffen, noch Stellungnahmen bis gegen Ende Juli in die Schlußwürdigung einzubeziehen. Aber dann muß entschieden werden. Herr Kollege Nolting hat als letzter überzeugend die Gründe genannt, warum wir das nicht immer weiter verschleppen dürfen.
Man muß auch den jetzigen Diskussionsprozeß in vier Stufen der Entscheidungsfindung über eine grundlegende Reform der Bundeswehr sehen.
Wir haben nach sorgfältiger Beratung über eine drastische Straffung und Vereinfachung der Führungsorganisation der Kommandobehörden der Bundeswehr entschieden. Wir sind jetzt im Entscheidungsprozeß über die Stationierung der Soldaten und die Standorte für die zivilen Mitarbeiter in den Streitkräften. Wir wollen im September — ich habe das heute im Ausschuß ausführlicher vorgetragen — dann ein grundlegendes Reformkonzept vorlegen, natürlich auch mit einer notwendigen Rückführung für fast 100 000 Mitarbeiter allein in Westdeutschland bei der übrigen Bundeswehrverwaltung und im Bereich der technischen Einrichtungen, der sogenannten Rüstungsorganisation. Das kann man auch nicht alles übers Knie brechen; denn hier geht es um zwei Dinge: die vielbeschworene, von uns ernstgenommene Verantwortung für die Menschen, aber auch um eine für die Aufgaben der Bundeswehr sinnvolle Zukunftsorganisation.
Ich will einmal im Deutschen Bundestag sagen, daß hier in einer ungewöhnlich engagierten Weise gearbeitet wird, daß die Belastung für diejenigen, die die Hauptarbeit leisten, an die Grenze dessen geht, was man ihnen zumuten kann.

(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Wieviel arbeiten denn daran?)

— Alles in allem geht es in die Tausende, wenn wir die Rückkopplungen in die Kommandobereiche und Verwaltungen sehen, und im Ministerium sind es sicher auch weit über tausend.
Herr Kollege Müller, es gibt natürlich auch noch andere Aufgaben. Seit dem 3. Oktober stehen wir vor der Aufgabe, die alten Strukturen der NVA aufzulösen und mit dem Aufbau der neuen Bundeswehr zu
beginnen. Wir haben die Aufgabe, uns an den internationalen Diskussionen über die neue Konzeption des Bündnisses über Rüstungskontrolle und Reform zu beteiligen.
Insofern ist das eine große Zeit der Gestaltung, bei der wir in der Tat vor dem, was an tiefgreifenden Änderungen kommt, die Verantwortung für die Menschen zu beachten haben, hier für die Soldaten und zivilen Mitarbeiter. Ich hoffe, daß wir so zu tragfähigen Ergebnissen kommen, die der Zukunft und den Betroffenen gerecht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203332100
Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist Frau Kollegin Brigitte Schulte.

Brigitte Traupe (SPD):
Rede ID: ID1203332200
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Stoltenberg, es ist schon erstaunlich, was Sie zu Ihrem Konzept heute vorgetragen haben. Wir haben dieses große Werk ja unvollständig erhalten, und in der militärischen Konzeption ist es auch für den Fachmann nicht durchschaubar. Sie hatten es ja nicht nötig, uns vorher zu erklären, warum denn im Jahre 1995 der Umfang des Heeres mit 255 400, der Luftwaffe mit 82 400 und der Marine mit 32 200 Soldaten der Stein der Weisen ist.
Im Gegenteil, allen Angeboten der SPD-Opposition entgegen haben Sie mit uns kein Gesamtkonzept über moderne Streitkräfte erarbeitet. Ich habe immer den Verdacht — auch die Soldaten empfinden das inzwischen draußen so —, daß diese Bundesregierung die Bundeswehr als ihre Privatarmee versteht und nicht als Gesamtaufgabe der Gesellschaft.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Das sagen Sie! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Bei einer solchen Haltung konnten Sie auch nicht erwarten, daß die Regierungschefs Ihnen ernsthaft auf das vorgelegte Konzept eine Antwort geben konnten. Das haben doch nicht einmal die CDU- und CSU-geführten Länder getan.

(Zuruf von der SPD: Das ist die Wahrheit! — Zuruf von der FDP: Herr Schäfer, Niedersachsen!)

Meiner Meinung nach haben Sie in diesem riesigen Konzept selber zugeben müssen, daß es unvollständig ist, weil, als Sie es am 24. Mai vorlegten — Herr Stockhausen, Sie hätten es sich ansehen sollen —,

(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Ich habe es angeguckt!)

noch immer kein Niederschlag der zivilen Mitarbeiter drin war. Was Sie uns heute über die zivilen Mitarbeiter geboten haben, ist unvollständig, ist wieder eine Täuschung der Bevölkerung und erlaubt es wieder nicht, den Flächenlandministerpräsidenten eine entsprechende Antwort zu geben.



Brigitte Schulte (Hameln)

Meine Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen nur das Beispiel Niedersachsen sagen.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das hätte uns auch gewundert, wenn Sie nichts gesagt hätten!)

Niedersachsen hatte — Herr Kollege Nolting, hören Sie doch einmal zu — 106 000 Soldaten als Friedensumfang. Es hat jetzt nach den Aussagen von Herrn Stoltenberg gerade noch 86 000 Soldaten. Das liegt an der Verkürzung der Wehrdienstzeit und dem Abbau von Truppenteilen. Es soll 1994, das wissen wir seit dem 24. Mai, knapp 60 000 Soldaten haben. Das bedeutet — und darum kümmern sich Sozialdemokraten — , daß sich der Verteidigungsumfang in Friedenszeiten um 40 % erfreulicherweise verkleinert. Nur, was bedeutet das in den Folgen für die Region? Das bedeutet doch auch, daß wir — und das geben Sie selbst an — über 20 000 Arbeitsplätze für Berufs- und Zeitsoldaten verloren haben, allein in diesen letzten Jahren über 16 000. Das sind Einschnitte, die ganz besonders die Flächenstaaten treffen. Es lag doch nicht an uns, Herr Kollege Nolting, daß gerade diese Länder in der Fläche mit militärischen Ausstattungen besonders stark waren.

(Beifall bei der SPD)

Es war doch die politische Lage und nicht die Lage der SPD oder der CDU/CSU und der FDP. Wir müssen das auffangen, denn es kommen zu diesem Abbau von Arbeitsplätzen bei Berufs- und Zeitsoldaten noch weit über 10 000 allein in Niedersachsen hinzu. Der Minister hat uns heute ja nur ein halbes Ergebnis gegeben. Meine Informationen sagen, daß wir über 50 000 zivile Arbeitsplätze verlieren werden. Das ist in der Tat, meine Damen und Herren, viel mehr, als wir alle angenommen haben.
Deswegen stimme ich dem Kollegen Müller zu: Dies ist eine wirtschaftliche Frage. Dies ist eine eminente strukturpolitische Frage. Deswegen haben wir sie zum Gegenstand einer Diskussion für Wirtschaftspolitiker und Verteidigungspolitiker gemacht.
Ich bin sehr dankbar, Herr Stoltenberg, daß auf unsere Initiative hin wenigstens die Industrie- und Handelskammern und die Handwerkskammern in Niedersachsen versucht haben, diese Problematik aufzuarbeiten.

(Beifall bei der SPD — Günther Friedrich Nolting [FDP]: Die haben das freiwillig gemacht!)

— Herr Nolting, wenn Sie sich einmal unterrichten würden! Wir haben Sie zu Gesprächen eingeladen.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Ich habe mit den Leuten gesprochen!)

— Sie sind unheimlich schlau, das ist ganz klar.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Die haben das auf freiwilliger Basis gemacht, weil Ihre Landesregierung nicht fähig ist!)

— Wenn Sie so klug sind, wie Sie sich geben, dann sage ich Ihnen: Wir als SPD-Fraktion haben diese Thematik bereits am 4. Februar 1991 angesprochen,
als uns die Regierung noch keine Antwort geben wollte.

(Beifall bei der SPD)

Die Industrie- und Handelskammer — ich stelle Ihnen den Brief zur Verfügung — hat uns das mitgeteilt.

(Günther Friedrich Nolting [FDP] : Hatte ich vor Ihnen!)

Wir brauchen einen Strauß an Antworten.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Einen Strauß, den brauchen wir in der Tat!)

Deshalb verlangt die SPD-Fraktion ein Abrüstungsfolgengesetz, in dem eben nicht nur die Arbeitnehmer, zivile wie militärische, berücksichtigt werden, sondern auch die Schaffung neuer ziviler Arbeitsplätze erreicht wird,

(Beifall bei der SPD)

die Liegenschaften eine Rolle spielen. Meine Kolleginnen und Kollegen, erst dann kann eine ordentlich arbeitende Landesregierung auch eine Antwort geben.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das wäre prospektiv im Jahre 2010!)

Fragen Sie doch einmal Ihre bayerische Landesregierung, was sie von diesen Konzepten hält!
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203332300
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist der Abgeordnete Dr. Egon Jüttner.

Dr. Egon Jüttner (CDU):
Rede ID: ID1203332400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erinnern wir uns: Als im Sommer des vergangenen Jahres unser Bundeskanzler bei seinem Treffen mit Gorbatschow die Verringerung der Bundeswehr von 495 000 auf 370 000 Mann vereinbarte, da waren wir alle erleichtert. Helmut Kohl hatte damals Einigkeit mit der Sowjetunion über alle äußeren Aspekte der deutschen Einheit erzielt, so auch über die Zugehörigkeit des vereinten Deutschland zur NATO, über den Abzug aller sowjetischen Truppen bis 1994, aber auch über die Reduzierung der Streitkräfte des vereinten Deutschlands. Die Reduzierung der Streitkräfte ist eine schwierige Operation und bedeutet für die Bundeswehr einen tiefgreifenden Umbruch. Sie ist eine große Herausforderung für die Verantwortlichen. Diese müssen nicht nur die Reduzierung, sondern auch die weitreichendste Strukturreform der Bundeswehr seit ihrer Gründung und gleichzeitig den Aufbau der Bundeswehr in den neuen Bundesländern bewältigen. Dafür sollten wir den Herren auf der Hardthöhe einmal herzlich danken!
Meine Damen und Herren, das Ressortkonzept für die Stationierung der Streitkräfte ist eine hervorragende Entscheidungsgrundlage. Die Vorschläge orientieren sich an Kriterien, über die allgemein Konsens besteht. Konsens besteht auch über die Grundsätze, die dem Ressortkonzept zugrunde liegen.



Dr. Egon Jüttner
Meine Damen und Herren, es war vorauszusehen, daß es bei manchen Vorschlägen des Ressortkonzepts Enttäuschung und auch Kritik Betroffener geben würde. Kein Verständnis aber kann man für jene Politiker haben, die noch vor kurzer Zeit die Bundeswehr auf einen unverantwortlich niedrigen Stand zurückführen wollten,

(Dieter Heistermann [SPD]: Die FDP! „230 000!" Da sitzen sie doch !)

jetzt aber das Ressortkonzept kritisieren und erstaunlich schnell ihr Herz für die Bundeswehr entdeckt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wie glaubwürdig ist Ihr Eintreten für die Erhaltung von Standorten, und wie ernsthaft ist Ihre Kritik am Vorschlag des Verteidigungsministers?
Im Einzelfall mag das Ressortkonzept sicher manch unliebsamen Vorschlag enthalten. Man darf es aber nicht allein unter lokal- oder regionalpolitischen Gesichtspunkten sehen, sondern muß es als Ganzes beurteilen. Dann kommt man zu dem Schluß, daß es, gemessen an seinen Vorgaben und Rahmenbedingungen, insgesamt das Ziel, den künftigen Aufgaben der Bundeswehr gerecht zu werden, und gleichzeitig die Vorgabe, die Personalstärke auf 370 000 zu reduzieren, erfüllt.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dieter Heistermann [SPD]: Hoffentlich holt Sie das nicht eines Tages wieder ein, was Sie hier sagen!)

Dies sollte auch die Opposition zur Kenntnis nehmen!
Die Länder sind frühzeitig vom Verteidigungsminister in die Planungen einbezogen worden. Nun haben sie vor der endgültigen Entscheidung noch einmal die Möglichkeit, sich zu äußern und Vorschläge zu unterbreiten. Diese Vorschläge müssen sorgfältig und ernsthaft geprüft werden.
Die Regierung beispielsweise meines Bundeslandes Baden-Württemberg war von Anfang an damit einverstanden, Ballungsräume zu entlasten und den ländlichen Raum zu stärken. Im Ressortkonzept ist dieser Grundsatz im wesentlichen eingehalten worden. Das zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß das Heer um 33 % verringert wird, gleichzeitig aber die Standorte nur um 12 % vermindert werden. Das bedeutet, daß die überwiegende Zahl der Standorte in strukturschwachen Gebieten erhalten bleibt. Den Forderungen der CDU-Landesgruppe und der Landesregierung Baden-Württemberg wurde somit weitgehend entsprochen. Schließlich gibt es bei uns noch vier Standorte, für deren Erhalt wir uns weiterhin einsetzen.
Meine Damen und Herren, die Schließung von Standorten bedeutet stets, auch in einer strukturstarken Gegend, einen Verlust an Beschäftigungsmöglichkeiten, einen Verzicht auf Kaufkraft und überdies einen Verlust an heimatnahem Einsatz Wehrpflichtiger. Ich halte es deshalb für dringend erforderlich, daß sich im Zuge der Auflösung und Reduzierung von Standorten die Bundesministerien der Verteidigung, sowie für Wirtschaft und Arbeit nicht nur um wirtschaftsschwache, sondern um alle betroffenen Regionen, Gemeinden und Städte kümmern.

(Dieter Heistermann [SPD]: Nennen Sie dabei auch noch den Finanzminister!)

Ich meine, es muß in allen vom Bundeswehrabzug betroffenen Standorten bei der Reduzierung des Zivilpersonals stufenweise und sozialverträglich vorgegangen werden. Wirtschaftsstrukturelle Hilfen müssen gegeben werden; Konzepte für den heimatnahen Einsatz Wehrdienstleistender müssen vorgelegt werden; für ältere Mitarbeiter muß die Möglichkeit des vorzeitigen Ausscheidens vorgesehen werden. Darüber hinaus müssen schon bald auch im Verwaltungsbereich Entscheidungen getroffen werden. Auch hier wollen die Betroffenen wissen, ob beispielsweise Standortverwaltungen aufgelöst, verlegt oder zusammengefaßt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU — Manfred Opel [SPD]: Natürlich wollen die das wissen! — Detlev von Larcher [SPD]: Dann man tau!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203332500
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist der Abgeordnete Manfred Opel.

(Zuruf von der CDU/CSU: Der General a. D.! — Günther Friedrich Nolting [FDP]: Uns bleibt nichts erspart!)


Manfred Opel (SPD):
Rede ID: ID1203332600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ach wissen Sie, Herr Nolting, kurz, knapp, schnell, präzise und falsch — das kann ich auch. Das will ich aber nicht machen.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Da sind Sie gerade dabei!)

Meine Damen und Herren, selbstverständlich freuen wir uns über die Erfolge bei der Abrüstung, aber wir möchten auch, daß die europa- und weltweite Abrüstung weitergeht.

(Beifall bei der SPD)

Wir können nicht bei 370 000 Soldaten stehen bleiben. Deswegen muß die Abrüstung so strukturiert werden, daß sie auch zukunftssicher ist, daß sie der Bevölkerung Chancen bietet und für sie attraktiv ist, damit sie angenommen wird. Genau hier setzt unsere Kritik an.
Wir wissen natürlich auch, daß Abrüstung nicht ohne potentielle soziale, wirtschaftliche und strukturelle Folgewirkungen durchzuführen ist.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Dann sagen Sie das doch öffentlich!)

Abrüstung muß deshalb Hand in Hand gehen mit überzeugenden Ausgleichsmaßnahmen. Hier sind Sie eine Antwort schuldig geblieben, Herr Nolting.

(Beifall bei der SPD)

Die dringende Frage ist nicht, o b man abrüstet, sondern, wie man abrüstet. Deswegen brauchen wir ein „Gesamtkonzept Abrüstung".
Der erste Entwurf der Hardthöhe zur Reduzierungsplanung kam nicht nur mit großer Verspätung, son-



Manfred Opel
dern erwies sich auch, wie Sie ja selbst gesagt haben, als höchst unvollständig und unausgewogen.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Sie haben nicht zugehört!)

Würde das sogenannte Ressortkonzept in der vorliegenden Form umgesetzt, wären vermeidbare Nachteile und soziale Härten bei den betroffenen Bundeswehrangehörigen, Gemeinden und Regionen die Folge. Vor allem die Soldaten vermögen aus dem Konzept nicht zu erkennen, wie ihre sozialen Belange wahrgenommen werden sollen. Das aber haben diejenigen — in erster Linie in den Standortgemeinden —, die in der Vergangenheit viel in Kauf genommen haben, um den Frieden in Europa zu sichern, nicht verdient. Um es klar zu sagen: Das Ressortkonzept des Verteidigungsministers ist sozial- und strukturpolitisch unakzeptabel.
Den Plänen des Verteidigungsministers fehlt insbesondere die Ausrichtung auf ein politisches, strategisches und operatives Konzept. So werden lediglich überwiegend veraltete Strukturen fortgeschrieben. Die Beschaffung der Dinosauriersysteme des Kalten Krieges wird fortgesetzt, als sei in der Zwischenzeit überhaupt nichts geschehen.

(Beifall bei der SPD)

Die Aufgabenteilung zwischen den Teilstreitkräften wurde nicht neu definiert, obgleich eine Umplanung zugunsten der Marine — hier trete ich Ihnen bei, Herr Koppelin — dringend geboten ist.

(Zuruf von der CDU/CSU: Militärisches Fossil!)

Fazit: Das sogenannte Ressortkonzept ist auch politisch und militärisch nicht tragfähig.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, wir laufen ernsthaft Gefahr, die „Friedensdividende" zu verspielen. Das sollten Sie sich einmal zu Gemüte führen.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Nennen Sie uns mal Ihr Konzept!)

Man nehme nur einmal das Beispiel des Landesteils Schleswig im Norden Schleswig-Holsteins. Da läßt der Verteidigungsminister ausgerechnet eine der strukturschwächsten Regionen dieser Republik am meisten bluten. Das beweist das heute veröffentlichte Konzept für die „Zivilbediensteten bei den Streitkräften" sogar verstärkt. Die diesbezüglichen Ausführungen des Kollegen Koppelin sind richtig, und ich schließe mich ihnen an. Im übrigen, Herr Kollege Koppelin, wurde Itzehoe vom Verteidigungsminister ja schon bestraft. Dort wurde der Standort sang- und klanglos geschlossen. Die zahlreichen und konstruktiven Alternativvorschläge, die wir gemacht haben, stießen beim Minister auf taube Ohren.
Wir benötigen dringend die Aufschlüsselung der zukünftigen Personalstruktur nach Dienstgraden und Laufbahnen. Wir brauchen endlich die Vergleichszahlen für alle zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr und nicht nur für einen Teil. Wir müssen die Planzahlen in Jahresschritten präzise genannt erhalten. Die Bürgermeister und Landräte wissen nämlich im Moment nicht, wie ihre Planung vor Ort aussieht. Es herrscht dort absolute Unsicherheit.

(Beifall bei der SPD)

Wir brauchen ein Abrüstungsfolgen-Gesetz mit folgenden drei Elementen: erstens ein Konzept für soziale Konversion in Form von sozialer Absicherung der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr sowie für alle anderen Betroffenen, zweitens ein Konzept zur Standortekonversion für wirtschaftliche Hilfen, in erster Linie für die betroffenen Kommunen, drittens ein Konzept für Rüstungskonversion, bestehend vor allem aus Überleitungsmaßnahmen von der Rüstungsproduktion in die zivile Produktion. Wichtig ist, daß wir damit weiterkommen, daß Sicherheit vor Ort entsteht.
Vorzuwerfen ist dem Verteidigungsminister vor allem auch, daß er seine Planungsarbeit wie seine Privatsache gefahren hat. Er hätte Gemeinden, Kreise, Länder, Berufsverbände, Personalräte, Vertrauenspersonen, Gewerkschaften und andere Betroffene von Anfang an beteiligen müssen. Dann wären die eklatanten Fehler, die nun leider zu verzeichnen sind, vermeidbar gewesen.
So haben wir heute Gemeinden, die ihre Soldaten loswerden wollen, sie aber behalten müssen; und umgekehrt solche, die ihre Soldaten behalten wollen, sie aber abgeben müssen. Genau das hätte man durch Offenheit von Anfang an anders machen können.
Wir hoffen, daß der Verteidigungsminister endlich Einsicht zeigt, sich kooperationswillig sowie vor allem kooperationsfähig erweist und daß wir die Planung in der Substanz in dem Sinne, wie ich es gesagt habe, noch im Laufe der nächsten Monate grundlegend korrigieren können.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203332700
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Hans Raidel.

Hans Raidel (CSU):
Rede ID: ID1203332800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir führen heute eine ganz erstaunliche Debatte: Die SPD spielt sich als Gralshüter der Bundeswehr auf.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Plötzlich heißt es: Abrüsten ja, aber nicht bei uns. Schärfste Kritiker des Militärs wandeln sich, Wendehälsen gleich, aus regionalem Egoismus und mit Blick auf die Stimmung im eigenen Wahlkreis zu Freunden soldatischer Präsenz.

(Gudrun Weyel [SPD]: Sie kennen sich nicht aus! — Josef Vosen [SPD]: Wer hat Ihnen das aufgeschrieben?)

— Ich würde an Ihrer Stelle Ihre Phrasendreschmaschine in der Scheune stehen lassen!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, die Verringerung der Bundeswehrstärke auf rund 370 000 Mann und der gleichzeitige Aufbau demokratischer Streitkräfte in



Hans Raidel
den neuen Bundesländern sowie der Abzug der sowjetischen Truppen sind der Erfolg der Sicherheits- und Außenpolitik dieser Regierung. Die Bundeswehr erfährt mit der vorliegenden Entscheidung die größte Umstrukturierung in ihrer Geschichte. Ziel ist dabei weiterhin, die Sicherheit Deutschlands zu gewährleisten. Wirtschaftliche Interessen sind zwar, wo immer es geht, zu berücksichtigen, haben sich aber letztlich dem Sicherheitsziel unterzuordnen.
Um die militärischen Interessen mit denen der Länder soweit wie möglich zu harmonisieren, erfolgte die Stationierungsplanung unter Anlegung eines umfassenden Kriterienkatalogs: a) Sicherstellung der militärischen Aufgabenerfüllung, b) politische und gesellschaftliche Akzeptanz, c) Lebensfähigkeit der Standorte.
Meine Damen und Herren, das vorgelegte Konzept ist in sich schlüssig und erfüllt die gestellten Ansprüche.

(Detlev von Larcher [SPD]: Glauben Sie das selber?)

Ich darf Ihnen, Herr Minister, und allen Mitarbeitern Ihres Hauses, insbesondere den Planungsstäben, herzlich für die enorme Fleißarbeit danken. Dieses Konzept ist ausgewogen; es hat Hand und Fuß.
Wir wissen, am Truppenabbau geht kein Weg vorbei. Das darf uns aber nicht den Blick auf die großen Probleme verstellen, die sich für einzelne Städte und Gemeinden ergeben, wenn die Soldaten abziehen. Kaufkraft geht verloren; Infrastruktureinrichtungen, die für die Bundeswehrangehörigen und ihre Familien geschaffen wurden, stehen leer.
Als bayerischer Abgeordneter darf ich mir erlauben, insbesondere auf die bayerischen Probleme hinzuweisen, die z. B. in Ostbayern, insbesondere in Niederbayern und der Oberpfalz, oder auch in Nordschwaben entstehen.
Flankierende Maßnahmen sind nötig. Aus meiner Sicht sind diese flankierenden gesetzgeberischen Maßnahmen: erstens das Personalstärkegesetz für die Reduzierung des Soldatenumfanges, zweitens eine Vorschrift zur sozial verträglichen Reduzierung des Zivilpersonals und drittens eine Konzeption, die die wirtschaftlichen und strukturellen Auswirkungen in den neuen Stationierungsplanungen auf die Standorte berücksichtigt.
Die Bundesregierung muß in Abstimmung mit den Ländern rechtzeitig Vorbereitungen treffen, um geeignete Maßnahmen einleiten zu können, z. B. aus der Programmförderung der regionalen Wirtschaftsstruktur.

(Josef Vosen [SPD]: Das ist doch überholt!)

Zudem sollten alle bisher militärisch genutzten Liegenschaften auf die Möglichkeit ihrer zivilen Folgenutzung geprüft werden. Als Alternative nenne ich z. B. die Nutzung für den Wohnungsbau. Hier ist dem Finanzminister herzlich zu danken, daß das Konzept für die Abgabe von Bauland deutlich verbessert worden ist:

(Josef Vosen [SPD]: Viel zu teuer!)

30 % bisher und in möglichen weiteren Fällen über diese 30 % hinaus. Diese Preisbevorzugungen sollten sich auf alle der Öffentlichkeit dienenden Einrichtungen der Länder, Bezirke und Gemeinden erstrekken.
Meine Damen und Herren, die vor Ort entstehenden wirtschaftlichen und strukturellen Probleme bei Auflösung bzw. Verlegung von Bundeswehreinheiten sind politisch sicherlich nicht zu unterschätzen. Dennoch muß dem Ministerium bescheinigt werden, daß mit dem vorgelegten Ressortkonzept eine schlüssige und den künftigen Aufgaben der Bundeswehr gerecht werdende Stationierungsplanung vorgelegt wurde.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203332900
Meine Damen und Herren, als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nunmehr der Abgeordnete Thomas Kossendey das Wort.

Thomas Kossendey (CDU):
Rede ID: ID1203333000
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als ich die Reden der Kollegen von der Opposition hörte, fiel mir Ihr Bürgermeister Momper ein. Er hat den Ausdruck vom „Rumeiern" geprägt. Sehr viel mehr war es eigentlich nicht, was Sie heute geboten haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben viel geredet, viel lamentiert, aber eigentlich wenig Konstruktives beigetragen.

(Detlev von Larcher [SPD]: Das machen Sie jetzt!)

Das kollektive In-die-Kissen-Schluchzen, das Sie hier demonstriert haben, kann Politik nicht ersetzen. Die Bürger wollen wissen: Was wollen die Sozialdemokraten nun eigentlich?

(Zuruf von der CDU/CSU: Das wissen die doch selber nicht! — Dieter Heistermann [SPD]: Wir wollen wissen, was die Regierung will!)

Daß Sie reduzieren wollen, haben wir gehört. Aber eines würde uns natürlich interessieren: Wieviel und wo würden Sie reduzieren? Was ist eigentlich aus Ihren hochtrabenden Plänen geworden?
Mit einem Irrtum unserer Kollegen möchte ich einmal aufräumen: Die SPD sprach immer von 200 000 Mann. Ich habe hier eine Überschrift aus einer politischen Zeitung: „Der roten Heidi reichen 100 000 Mann",

(Josef Vosen [SPD]: Für die Heidi allein! — Heiterkeit)

— Für Heidi allein? Ja, gut.
Mich würde eigentlich interessieren: Wann legen Sie die Liste der Standorte vor, die wir dann schließen müßten? Wie sagen Sie das den Zivilbediensteten? Wie sagen Sie das den Soldaten?
Eines, meine Herren und Damen, wollen wir Ihnen nicht durchgehen lassen: Jahr für Jahr seit 1988 pachten Sie die Schlagzeilen der Wochenendzeitungen mit immer niedrigeren Zahlen für die Bundeswehr. Wenn



Thomas Kossendey
es wirklich ernst wird, dann fangen Sie an zu jammern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Jetzt ziehen Sie — ich habe das in Niedersachsen erlebt — wie ein mehr oder weniger gut organisierter Haufen professioneller Klageweiber durchs Land, bejammern den Abbau der Bundeswehr und beschwören Ihre Liebe zu den Soldaten.

(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Wo sind denn die Klageweiber? — Gegenruf von der CDU/CSU: In der Südpfalz zuvorderst!)

Jede Garnison ist auf einmal strukturpolitisch sehr wichtig. Was wäre denn wohl mit 100 000 Mann? Wo blieben denn Standorte, die wir in der letzten Zeit in der Diskussion hatten.
Wenn ich Sie dann vom Strukturfaktor Bundeswehr reden höre, der ganz wichtig sei, und daß viele Regionen geradezu veröden würden, wenn die Bundeswehr wegginge, kann ich Ihnen nur eines sagen: Wer Soldaten in erster Linie als Strukturfaktoren sieht, der baut keine gute Basis für eine verantwortungsvolle Zusammenarbeit für die Zukunft.

(Beifall des Abg. Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD])

Denn zu einer guten Zusammenarbeit mit Soldaten und der Bundeswehr gehört mehr. Da muß auch die innere Bejahung des Auftrages der Bundeswehr und der Sicherheitspolitik hinzukommen.

(Josef Vosen [SPD]: Das brauchen Sie uns doch nicht zu erzählen!)

Das lassen Sie vermissen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ihre Liebesschwüre an die Soldaten erinnern mich ein bißchen an die Mitgiftjäger. Sie wollen zwar mit der Braut nicht viel zu tun haben; aber die Mitgift interessiert alle.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dieter Heistermann [SPD]: Das ist eine alte Schallplatte!)

Das ist für politische Arbeit zu wenig.
Strukturfaktor Soldat ist vielleicht auch aus einer anderen Sicht problematisch: Wir würden der Bundeswehr, glaube ich, eine viel zu große Verantwortung auf den Buckel binden, wenn wir sie auch noch für die Strukturpolitik in unserem Lande verantwortlich machen wollten. Wer so denkt, wird zum Schluß noch Fregatten bauen, weil es den Werften schlechtgeht. Ich mag gar nicht daran denken: Vielleicht kommen Sozialdemokraten noch auf die Idee, wegen irgendeiner industriepolitischen Misere in Bayern den Jäger 90 zu bauen. So eine Logik fände ich nicht gerade prima.
Mich hat die Rede der Kollegin Schulte beeindruckt, die im Augenblick nicht mehr da sein kann.

(Zuruf des Abg. Manfred Opel [SPD])

— Herr Opel, seien Sie vorsichtig. Sie sind eines der wenigen gelungenen Beispiele für personelle Konversion. Aber wir können nicht jedem Soldaten eine solche Zukunft bieten.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sorgen machen mir die Zivilbediensteten; lassen Sie mich das ganz deutlich sagen. Hier wird es unser aller Anstrengung bedürfen — der Anstrengung der Regierung und des Parlamentes, und zwar beider Seiten des Parlamentes — , um allen eine sozialverträgliche Lösung zu bringen. Aber das Schema zieht nicht, daß Sie erst die Leute in Panik bringen, uns diese Panik vorhalten und dann meinen, wir seien dafür verantwortlich, Rezepte für die Beruhigung der Menschen zu bringen, die Sie erst in Panik gebracht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zum Schluß möchte ich in fünf Punkten zusammenfassen, was mir in den nächsten Wochen wichtig erscheint. Das Konzept von Minister Stoltenberg, das gut und schnell ausgearbeitet worden ist, ist aus meiner Sicht in einigen Punkten nachbesserungsbedürftig. Das werden wir leisten. Ich denke dabei insbesondere an den Nordwesten unseres Vaterlandes.
Zweiter Punkt: Wir müssen das Rahmenkonzept für eine Hilfe in Zukunft sowohl für die Soldaten als auch für die Zivilbediensteten präziser fassen. Ich denke, in der Sondersitzung am 5. August werden wir dazu einiges erfahren. Es darf nämlich nicht passieren — mit den 370 000 Mann sind wir ja im Wort — , daß wir ein Gesetz vorlegen und keiner von der Bundeswehr weggehen will, weil nämlich auf einmal der Arbeitsplatz ganz wichtig ist.
Wir müssen drittens die wirtschaftlichen Ausgleichsmaßnahmen, von denen Herr Staatssekretär Beckmann sprach, den Kommunen sehr schnell und sehr präzise darlegen.

(Josef Vosen [SPD]: Sehr richtig! — Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Das haben alle schon zweimal gesagt!)

Wenn ich richtig informiert bin, wird das am 26. Juni klarer werden.
Ein vierter Punkt betrifft die Frage der Grundstücke. 30 % kann für mich nicht das letzte Wort sein. Darüber werden wir mit dem Finanzminister zu diskutieren haben. Wir sollten das Problem durchaus differenziert betrachten. Es gibt durchaus Regionen, die 100 % bezahlen können, und es gibt Regionen, die höchstens 30 bis 40 % bezahlen können.

(Josef Vosen [SPD]: Und das ist noch zuviel!)

Da werden wir ein differenziertes Konzept vorlegen.
Ich fordere Sie auf, im Sinne der Reden des Kollegen Opel und der Kollegin Schulte — bei den anderen habe ich kaum Ansätze entdeckt — , als Opposition daran mitzuwirken, daß wir das zum Wohle der Soldaten und der Zivilbediensteten der Bundeswehr machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Josef Vosen [SPD]: Ganz vernünftiger Schluß von Ihnen!)





Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203333100
Meine Damen und Herren, die beschlossene Redezeit ist zu Ende. Ich schließe daher die Aussprache.
Ich mache Sie auf folgendes aufmerksam: Es ist interfraktionell vereinbart, daß diese Sitzung um 16.30 Uhr unterbrochen werden soll. Nun gibt es inzwischen eine neue interfraktionelle Vereinbarung, die sich auf die Aktuelle Stunde, auf den Zusatzpunkt 9, bezieht. Mir haben die Fraktionen mitgeteilt, daß sie für die Aktuelle Stunde jeweils nur einen Redner benennen. Unter diesen Voraussetzungen möchte ich diesen Tagesordnungspunkt, Zusatzpunkt 9, aufrufen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe auf: Aktuelle Stunde
Verhalten der Bundesregierung bezüglich der geplanten Einlagerung von radioaktiven Abfällen in das Zwischenlager Gorleben und Berücksichtigung der Bedenken der betroffenen Bevölkerung und der Landesregierung von Niedersachsen
Die Gruppe PDS/Linke Liste hat eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Jutta Braband.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Schon wieder! Muß das denn sein, Herr Präsident?)


Jutta Braband (PDS/LL):
Rede ID: ID1203333200
Zu Ihrer Freude, das muß sein! Es hat sich offenbar sonst niemand gefunden, der zu diesem Thema etwas sagen möchte.

(Unruhe)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203333300
Entschuldigen Sie bitte. — Darf ich Sie um Ruhe bitten, meine Kolleginnen und Kollegen, damit die Rednerin zu Wort kommen kann! — Bitte sehr, Frau Braband.

Jutta Braband (PDS/LL):
Rede ID: ID1203333400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Es gibt — das wird immer augenscheinlicher — eine real existierende Kumpanei zwischen der Atomlobby auf der einen Seite und Herrn Töpfer auf der anderen Seite."

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Ein ganz schlechter Einstieg, Frau Kollegin! Aber das sind wir ja von Ihnen gewöhnt!)

Das ist ein Zitat vom Ministerpräsidenten von Niedersachsen, von Herrn Schröder.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE — Zuruf von der FDP: Aber dadurch wird es ja nicht besser!)

— Nein, natürlich nicht, aber vielleicht beschäftigen Sie sich einmal mit dem Inhalt dieses Satzes.
Der gewalttätige Polizeieinsatz gegen Atomkraftgegner und -gegnerinnen in Gorleben und Lüchow auf Anweisung der Bundesregierung offenbart das häßliche Gesicht der Atomenergie. In Gorleben haben wir ein Stück Atomstaat in Aktion gesehen. Mit einem brutalen Einsatz wurde gestern die Einlagerung des Transnuklear-Skandal-Atommülls aus Mol in das
Zwischenlager Gorleben gegen den Widerstand der Bevölkerung der Region mit Gewalt durchgesetzt.
Wie zum Hohn erreichte uns diese Woche wieder einmal die Nachricht von einem Störfall in den Hanauer Nuklearbetrieben, auf Grund dessen das hessische Umweltministerium nun endlich die Konsequenzen gezogen und die Anlage stillgelegt hat.
Die Geschichte der bundesdeutschen Atomwirtschaft erweist sich als Geschichte der Pleiten, wie Brüter, Hochtemperaturreaktor und Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf belegen. Sie ist aber auch die Geschichte der Skandale und von Abgründigkeiten um Transnuklear und große RWE-Vorstandsehrenworte um Biblis A. Zwischenlagerung und Erkundungsbergwerk zur Endlagerung in Gorleben, Pilotkonditionierungsanlage usw., finde ich, sind untaugliche Ergebnisse des Versuchs der Bundesregierung, der Atomwirtschaft einen Entsorgungspfad freizuklopfen. Der Kampf der Bürgerinitiative dagegen ist bekannt.
Was wir in dieser Woche erleben, ist ein Vorgeschmack auf das, was kommt, wenn in den nächsten Jahren die Kompaktlager für abgebrannte Brennelemente in den Atomkraftwerken voll sein werden. Tausende von Waggonladungen mit mehr oder minder radioaktiven Abfällen werden pro Jahr durch das Land fahren, mit erheblichen Risiken für die Bevölkerung und gegen ihren Willen.
Das handstreichartige Vorgehen dieser Tage beweist, in welcher Situation sich das befindet, was Atomwirtschaft und Bundesregierung als Entsorgung bezeichnen. Ihnen steht der Atommüll bis zum Hals. Sie wissen nicht, wie es in den nächsten Jahren, wenn erst der gesamte Atommüll aus La Hague und Sellafield zurückgenommen werden muß, weitergehen soll. Was sie wissen, ist: Es gibt weltweit kein geeignetes Endlager für Atommüll, in dem das strahlende Erbe unserer Epoche für Zehntausende von Jahren wirklich sicher eingeschlossen ist. Trotzdem wollen sie den Atommüll unter den Teppich der Gorlebener Salzstöcke kehren, im Schacht Konrad und Morsleben verschwinden lassen nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn, und nach uns die Sintflut. Sie behaupten lediglich: Atomenergie ist sicher und verantwortbar.
Der Transnuklear-Skandal findet in diesen Wochen mit diesem Einlagerungsskandal seine Fortsetzung. Selbst die Landesregierung Niedersachsens hatte erhebliche Bedenken gegen die Einlagerung des Transnuklear-Atommülls aus Mol erhoben, da Zusammensetzung und Herkunft des Abfalls weitgehend unbekannt sind. Trotzdem bestand Atomminister Töpfer auf der Einlagerung und machte von seinem Weisungsrecht Gebrauch. Der Polizeieinsatz ist daher nicht nur vom Innenminister Niedersachsens zu verantworten, sondern vor allem von Herrn Töpfer selbst.
Unverständlich ist allerdings, daß die rosa-grüne Landesregierung in Hannover

(Heiterkeit bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)




Jutta Braband
nicht alle rechtlichen und politischen Mittel zur Verhinderung der Einlagerung ausschöpfte. Angesichts der Brisanz des Themas und des Anspruchs der niedersächsischen Koalition hätten wir etwas mehr Widerstandsgeist erwartet.
Ich frage: Was wäre denn geschehen, wenn Niedersachsen der Anweisung des Atomministers nicht Folge geleistet hätte? Hätte Herr Töpfer womöglich eine Erzwingungshaft für Frau Griefahn erwirkt? Wahrscheinlich nicht. Die Sache wäre vor dem Bundesrat verhandelt worden, und hier hätte sich die SPD nun endlich zu ihrer Forderung nach dem Ausstieg aus der Atomenergie praktisch bekennen können und müssen.
Der Polizeieinsatz im Wendland offenbart: Atomenergie ist nicht nur umweltunverträglich, sondern auch sozial unverträglich und demokratiefeindlich. Hier zeigt sich, daß statt Abbau der Mitwirkungsrechte des und der einzelnen, z. B. im VerkehrswegeBeschleunigungsgesetz, gerade der Ausbau dieser Rechte dringend nötig ist. Nur der Ausbau dieser Rechte ist eine Garantie dafür, daß Proteste von Bürgerinnen und Bürgern nicht kriminalisiert werden können, ebenso wie dafür, daß die Lösung von Problemen der ganzen Gesellschaft nicht mit polizeistaatlichen Mitteln erfolgt. Denn was Atomminister Töpfer hier versucht hat, ist offensichtlich eine Delegierung des Problems an die Landespolizei von Niedersachsen. Statt sich hierfür mißbrauchen zu lassen, sollte die Polizei nicht nur von der Landesregierung, sondern vor allem von der Bundesregierung eine politische Lösung im Sinne der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes verlangen, die — ich sagte es schon einmal — zu 70 % den Ausstieg aus der Atomenergie fordern.
Ich möchte hier noch einmal daran erinnern, daß sich der, der hier in diesem Hause ständig von der friedlichen Revolution in der DDR redet und die Friedlichkeit der Veränderungen begrüßt, auch daran erinnern möge, daß die Friedlichkeit durchaus darin bestanden hat, daß Menschen gegen eine Regierung demonstriert haben, daß sie Blockaden gemacht, Kerzen angezündet haben usw. Stellen Sie sich endlich dieser Situation!
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203333500
Frau Braband, wir haben Ihre Redezeit verlängert, weil es eingangs hier nicht ruhig war. Ich will Sie nur darauf aufmerksam machen.
Nächster Redner ist jetzt unser Kollege Klaus Harries.

Klaus Harries (CDU):
Rede ID: ID1203333600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon ein starkes Stück: Wir haben Störfälle und reden seit Jahren in aller Öffentlichkeit, verehrte Frau Braband, darüber. Sie haben in der früheren DDR bei uns nicht genehmigungsfähige Kraftwerke gehabt, die wir durch Entscheidung unseres Bundesumweltministers erst abstellen mußten. Darüber konnte bei Ihnen niemals geredet werden. Über diesen Unterschied sollten Sie bitte einmal nachdenken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Daß bei der Fraktion der PDS das Bewußtsein für unsere verfassungsmäßige Ordnung, für unseren Rechtsstaat noch nicht ausgeprägt ist, meine Damen und Herren, das kann ich beinahe noch nachvollziehen, daß es aber Lücken in der Beachtung und Anwendung der Rechtsnormen bei der niedersächsischen Landesregierung gibt, halte ich für bedenklich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

Meine Damen und Herren, wenn wir dazu kommen, daß ein Bundesland auf Grund von Bundesgesetzen nur noch dann tätig wird, wenn eine Weisung ergeht oder wenn das Bundesverfassungsgericht entscheidet, dann ist das auf die Dauer unerträglich und bekommt unserem Verfassungsstaat nicht gut. Auch darüber bitte ich Sie einmal nachzudenken.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Aufkündigung der Bundestreue ist das!)

Es bedurfte erst einer rechtmäßigen Anweisung des Bundesumweltministers, um die Rückführung radioaktiver Abfälle aus Belgien in das genehmigte Zwischenlager Gorleben zuzulassen. Erst auf Weisung des Bundesumweltministers hat die niedersächsische Landesregierung die rechtswidrige und eine Nötigung darstellende Blockade von etwa 100 bis 150 Jugendlichen in Lüchow beseitigt.
Dank sage ich an dieser Stelle, meine Damen und Herren, der Polizei, die beispielhaft und vorbildlich gehandelt hat und gegen diesen Rechtsbruch vorgegangen ist. Dank sage ich den Tausenden von Einwohnern des Kreises Lüchow-Dannenberg, die keineswegs alle für die Kernenergie sind, aber sich an rechtswidrigen Maßnahmen nicht beteiligt haben, sondern ohne Hysterie und mit Gelassenheit das Vorgehen und die Vorgänge, glaube ich, sehr, sehr kritisch verfolgt haben.
Der Bundesumweltminister hat mit seiner Weisung im Rahmen der Gesetze gehandelt. Die Abfälle aus Mol waren bedenkenlos nach Gorleben zu bringen, und zwar einfach deswegen, weil der Herkunftsort völlig unstrittig war.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das ist leider nicht wahr!)

Neckarwestheim und Krümmel waren die Lieferanten. Es war überhaupt kein Rechtsgrund gegeben, um den Transport in der Polizeikaserne zu stoppen.
Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland war auf Grund bestehender Verträge nicht nur zur Abnahme dieser überschaubaren Atommülltransporte verpflichtet. Sie ist auch verpflichtet, in Zukunft ohne Störung, regelmäßig und auch sicher all die Fässer aus Mol zurückzunehmen, zu deren Abnahme wir vertraglich verpflichtet sind.
Wir reden immer mehr, wir reden intensiv und mit Recht vom europäischen Wirtschaftsraum. Dazu gehören auch immer mehr Absprachen zur Behandlung



Klaus Harries
der Energie im weitesten Sinne. Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit sind gerade auf diesem Gebiet nötig. Wir haben geschlossene Verträge einzuhalten. Da kann man vor Ort nicht so eine kleinkarierte — entschuldigen Sie diesen Ausdruck — rechtswidrige Politik machen.

(Jutta Braband [PDS/Linke Liste]: Sie nennen die Reaktion der Bevölkerung kleinkariert?)

Ich habe den Skandal in Hanau keineswegs vergessen. Der Bundestag hat sich durch einen von ihm eingesetzten Untersuchungsausschuß

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Den Sie nicht wollten!)

über drei Jahre mit Vertretern aller Fraktionen eingehend mit diesem Skandal befaßt. Dabei ist nichts unter den Teppich gekehrt worden. Alles ist aufgedeckt, alles ist diskutiert worden.

(Zuruf vom Bündnis 90/GRÜNE: Aber nichts unternommen worden!)

Die Ursachen sind beseitigt. Die Ursachen sind behoben. Der Bund hat gehandelt. Die Rechtsgrundlage ist da, um in Zukunft die Entsorgung vorzunehmen.
Meine Damen und Herren, vergessen Sie nicht — ich richte diesen Appell insbesondere an die niedersächsische Landesregierung — : Bei der Entsorgung sitzen wir — ganz egal, wie wir zur Kernenergie stehen — in einem Boot. Das sollte uns zu einer gemeinsamen Verantwortung und zu einem gemeinsamen Handeln auch in Zukunft bringen. Dagegen hat man in Niedersachsen verstoßen.
Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203333700
Als nächster Redner hat unser Kollege Arne Fuhrmann das Wort.

Arne Fuhrmann (SPD):
Rede ID: ID1203333800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Harries, ich würde schon Wert darauf legen, daß Sie sich nicht darauf beschränken zu sagen — so kenne ich das aber von Ihnen, und wir kennen uns aus dem Wahlkreis gut genug — , 150 junge Leute — wenn ich Sie richtig interpretiere, haben Sie nur vergessen dazuzusetzen: „Randalierer" — waren in Gorleben.

(Heinrich Seesing [CDU/CSU]: Das sagen Sie!)

Herr Harries, in Gorleben waren 250 Menschen. Davon war mindestens ein Drittel älter als 60 Jahre.

(Klaus Harries [CDU/CSU]: Das ändert nichts an der Nötigung!)

Ich bitte, irgendwann einmal zur Kenntnis zu nehmen, daß es sich hier nicht um einzelne junge Leute handelt, sondern um den Querschnitt der Bevölkerung aus der Region.

(Beifall bei der SPD — Dr. Paul Laufs [CDU/ CSU]: Verteidigen Sie jetzt die Blockierer und die Nötigung?)

Mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, würde ich gerne ein Zitat aus dem heutigen „General-Anzeiger" verlesen:
Mir Hilfe starker Polizeikräfte sind gestern drei Atommüll-Container in das Zwischenlager Gorleben eingelagert worden. Am selben Tag wurde die Plutonium-Verarbeitung in Hanau vorläufig eingestellt. In einem Gutachten wurden Zweifel an der Sicherheit des Atomkraftwerkes Stade geäußert.
Die Verwirrung der Bürger ist komplett. Aber wir wissen ganz genau: Es bringt uns nicht ein Stück weiter, wenn wir alle verwirrt in der Gegend herumgucken. Wir müssen vielmehr tatsächlich etwas tun.
In der niedersächsischen Gemeinde Gorleben im Landkreis Lüchow-Dannenberg wird einfach häufiger demonstriert, verweigert und blockiert als sonst irgendwo in der Bundesrepublik. Aber die Betroffenheit der Menschen in dieser Region kann nur derjenige begreifen und nachvollziehen, der immer wieder mit den Bürgern vor Ort spricht, sich mit ihnen auseinandersetzt und versteht, daß a) ein atomares Zwischenlager, b) die Erkundung und Vorbereitung eines atomaren Endlagers und c) die Baustelle für eine Pilotkonditionierungsanlage auch hartgesottene Kernkraftbefürworter, Herr Harries, als Bedrohung des eigenen Lebensraumes und Gefahrenquelle ganz realen Ausmaßes erkennen.

(Klaus Harries [CDU/CSU]: Sie wissen doch, daß das alles nicht stimmt! — Lachen bei der SPD)

— Herr Harries, wir können uns gerne darüber nochmals persönlich unterhalten.

(Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Aber es ist wirklich Unsinn!)

Aber an dieser Stelle werde ich einfach weiterfahren in meinen Ausführungen.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Gehen Sie einmal darauf ein!)

— Bevor Sie so etwas sagen, empfehle ich Ihnen, den Kopf und nicht nur den Kehlkopf zu benutzen, Herr Kollege.

(Beifall bei der SPD — Dr. Paul Laufs [CDU/ CSU]: Ich bin sehr oft in Gorleben gewesen und habe mir das angesehen! — Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Verschärfen Sie nicht die Debatte, Herr Laufs!)

Ich hätte gerne den Bundesumweltminister angesprochen. Er beweist zwar seine Chemiebeständigkeit, indem er durch den Rhein kreuzt, und er erschreckt die letzten Seehunde durch unangebrachte Ausflüge ins Wattenmeer, aber die Sorgen und Ängste der Frauen, Kinder und Männer im Kreis LüchowDannenberg sind ihm nur aus Fernsehen, Funk und Presse bekannt. Ich nehme an, er ist äußerst selten da. Ich habe ihn dort bisher jedenfalls noch nie gesehen.
Der Gebrauch der Weisungsbefugnis im Fall der drei Container, von denen die Herkunft des einen noch immer nicht zweifelsfrei geklärt ist, mag zwar rechtlich so in Ordnung sein — das ist gar nicht die



Arne Fuhrmann
Debatte — , sie zeigt aber sehr deutlich, wie wenig sensibel und überlegt der Bundesumweltminister das Risiko einer Eskalation vor Ort in Kauf nahm und nach der Hauruckmethode ohne Rücksicht auf die explosive Stimmung

(Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Wer hat die denn geschaffen?)

und die zu diesem Zeitpunkt erheblich gestörten Umfeldbedingungen in Gorleben reagiert hat.
Ich würde mir wünschen, daß mehr verantwortliche Politiker den Mut hätten, gelegentlich gegen den Stachel zu löcken und so, wie Frau Griefahn das getan hat, mit Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen

(Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Es ist unerhört, was Sie sagen!)

auf die berechtigten Wünsche und Hoffnungen der Menschen einzugehen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Anschlag auf den Rechtsstaat!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203333900
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Karl-Hans Laermann.

Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP):
Rede ID: ID1203334000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, wie man die Tatsachen verdrehen kann und wie man in einer solchen Diskussion, wo Sachlichkeit sicher angebracht wäre, nur noch in Polemik macht.

(Beifall des Abg. Günther Friedrich Nolting [FDP] — Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Wie wahr!)

Ich möchte von einer Prämisse ausgehen. Alle
— diejenigen, die für Kernenergie sind, und vor allen Dingen die, die gegen Kernenergie sind — müßten ein ausgesprochenes Interesse haben, dafür zu sorgen, daß die Entsorgungsmöglichkeiten endlich realisiert werden.

(Zuruf von der PDS/Linke Liste)

— Wo wollen Sie denn hin mit Ihrem Schrott aus Greifswald? Das waren doch Sie, die das Ding da gebaut haben. Das wäre ja noch in Betrieb, wenn die SED weiter am Ruder geblieben wäre.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es steht doch wohl außer Zweifel, daß der radioaktive Abfall in Mol, der aus der Bundesrepublik stammt, wieder zur ordnungsgemäßen Entsorgung und Endlagerung zurückgenommen werden muß. Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend jemand daran Zweifel hat.
Die Umstände, unter denen der Abfall nach Mol transportiert wurde, sind u. a. auch in dem Untersuchungsausschuß Transnuklear-Skandal untersucht
und weitgehend oder, sagen wir, hinlänglich aufgeklärt worden.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Dem Versuch einer Aufklärung unterworfen worden!)

Ich hoffe, wir sind uns darin einig, daß es keinen Müllexport geben darf.

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das machen wir doch! Gerade Atommüll!)

— Wo? Sie wollen das doch jetzt mit Ihrer Weigerung, den wieder zurückzunehmen.

(Dietmar Schütz [SPD]: Nein, Herr Kollege Laermann, der Bundesumweltminister will es, egal wo es herkommt!)

Deswegen, denke ich, ist die Bundesrepublik verpflichtet, den aus der Bundesrepublik stammenden Müll aus Mol auch wieder zurückzunehmen und hier zu entsorgen.

(Dietmar Schütz [SPD]: Das ist sehr richtig!)

Ich füge mit gleichem Nachdruck hinzu, daß wir auch keinen Müllimport wollen. Auch dies ist eine klare Position der Bundesregierung. Ich glaube, daran brauchen wir nicht zu zweifeln.
Daß niemand in Parlament und Regierung, auch nicht die niedersächsische Landesregierung, Belgien zumutet, Müll aus der Bundesrepublik zu lagern, dürfte doch wohl einmütige Auffassung sein. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es jemand hier im Hause und in der Bundesrepublik gibt, der Belgien zumutet, die Entsorgung des Mülls, der zweifelsfrei aus unserem Land gekommen ist, zu übernehmen. Das kann doch wohl niemand wollen. Dazu müssen Sie hier Stellung nehmen.

(Dietmar Schütz [SPD]: Leider können wir das nicht!)

Es wäre auch schon interessant zu erfahren, was das niedersächsische Ministerium für Umwelt bewogen hat, die Herkunft des atomaren Abfalls auf bloße Vermutungen hin — Herr Kollege, auf bloße Vermutungen hin! — zu bezweifeln, obwohl deren Ursprungsherkunft durch verschiedene unabhängige Überwachungsinstitutionen zweifelsfrei festgestellt wurde.

(Arne Fuhrmann [SPD]: Wenn! Sie ist aber nicht zweifelsfrei festgestellt!)

Um es noch einmal deutlich zu sagen: Es handelt sich dabei nicht um hochradioaktiven Müll —

(Arne Fuhrmann [SPD]: Spielt doch keine Rolle!)

auch den Eindruck dürfen wir in der Öffentlichkeit nicht erwecken — , sondern um rund 4 000 kg preßbarer Mischabfälle. In den Containern sind Putzwolle, Putzlappen, Kleidungsstücke, schwach radioaktiv belastet, aus den Einrichtungen und etwa 2 500 kg Glaswolle, die bei Umbauarbeiten in einem Kernkraftwerk in der Bundesrepublik angefallen sind.
Es wäre geradezu grotesk, wenn das niedersächsische Ministerium für Umwelt die Verbringung der Container in das Zwischenlager Gorleben etwa nur



Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann
deshalb abgelehnt haben sollte, weil als Ursprungshinweis zwei deutsche Kernkraftwerke angegeben wurden, sich aber bei Verzicht auf diesen Hinweis nicht von vornherein geweigert hätte, den Müll in Gorleben zwischenzulagern. Darauf hätten wir doch gerne eine Antwort.
Ich darf abschließend — die Uhr läuft — feststellen: Ich verstehe nicht den anhaltenden Widerstand einiger Gruppen gegen die Realisierung von Zwischen- und Endlagermöglichkeiten für schwach-, mittel- und, ich füge hinzu, auch hochradioaktiven Abfall. Wer aus der Kernenergienutzung aussteigen will,

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Sie wollen doch permanent mehr Müll produzieren!)

muß doch ein besonderes, ausgeprägtes Interesse daran haben, daß Endlagermöglichkeiten geschaffen werden. Wo wollen Sie denn damit hin? Wollen Sie das in der Gegend liegen lassen? Das ist unverantwortlich. Damit müssen Sie sich auseinandersetzen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich möchte auch darauf hinweisen, daß unsere Zwischenlager, die Landessammelstellen, ja nicht voll sind mit atomarem Abfall, mit schwach-, mittel-radioaktivem Abfall aus den Kernkraftwerken. Wer dies einer Öffentlichkeit suggerieren will, verhält sich nun wirklich schändlich; denn es ist ja wohl klar — und das muß man auch noch einmal sagen — , daß wir auch die Verpflichtung haben, die Menge des nuklearen Mülls, schwach- und mittelradioaktiv, aus den medizinischen Bereichen, aus den Forschungsinstituten ordnungsgemäß und relativ sicher zu entsorgen.
Ich denke, angesichts dieser Verpflichtung müssen Sie sagen, wo Sie das machen wollen. Das Floriansprinzip hilft uns hier überhaupt nicht. Insofern denke ich, daß auch der Bundesumweltminister Töpfer hier verantwortlich gehandelt hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203334100
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Dr. KlausDieter Feige.

Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1203334200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Harries ist gerade rausgegangen, aber noch einmal zu seinen Worten. Wir sind damals auch mit der Meinung angetreten, Freiheit ist immer die Freiheit der anders Denkenden. Mir passiert es in der letzten Zeit auch häufiger, daß ich als Atomkraftgegner kriminalisiert werde. In dieser Form muß ich das für die, die dort in Gorleben einfach ihre persönliche Angst geäußert haben, die dort einen passiven Protest artikulieren wollten, zurückweisen. Diese Menschen sollten nicht kriminalisiert werden.

(Dr. Pauls Laufs [CDU/CSU]: Wer verhält sich kriminell?)

Das ist für mich unangenehm und unerträglich.
Der gestrige Polizeieinsatz gegen die besorgten Bürgerinnen und Bürger hat mir gezeigt, daß eigentlich die Bundesregierung mit ihrem Latein am Ende
ist. Weisungen an die Bundesländer können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bundesregierung über kein akzeptables Konzept für die Atommüllentsorgung verfügt.

(Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Das ist doch eine absolut unsinnige Behauptung!)

— Drauf kommen wir gleich noch zurück.
Für mich ist das mit der Herkunft vielleicht nicht so primär. Entscheidend ist, daß überhaupt versucht wird, Atommüll einzulagern, ohne daß solch ein Konzept vorliegt. Dies ist ein erneuter Beweis dafür, wie verantwortungslos im Umweltministerium mit der Meinung der Mehrheit der deutschen Bevölkerung umgegangen wird.
Auch wenn ich den Unterschied zwischen DDR und Bundesrepublik Deutschland durchaus kenne, die Erscheinungsbilder sind gleich in der Form des Umgangs mit einer angeblichen Minderheit. Dabei ist das in diesem Fall eine Mehrheit.
Aber nicht nur die Entsorgungsfrage des Atommülls insgesamt ist ungelöst, nein die gesamte Atompolitik der Regierung steht auf tönernen Füßen. Es muß nicht immer wieder auf Tschernobyl oder Harrisburg verwiesen werden, um die Unwägbarkeiten und die Gefahren der Atomenergie zu verdeutlichen. Genügt es nicht, daß wir alljährlich allein in der Bundesrepublik mehr als 300 kleinere oder größere Störfälle zu verzeichnen haben?
Wie war das denn am Montag in Hanau, als mehrere Arbeiter radioaktiv verseucht wurden? Von einer prompten Reaktion aus dem Bundesministerium war nichts zu verspüren. Herr Fischer, der grüne Minister — nicht rosa-grün aus der rot-grünen Fraktion — hat in verantwortungsvoller Weise gehandelt. Am Dienstag hat dann erst Herr Töpfer eine nachträgliche Reaktion gezeigt. Ich bin auch fest davon überzeugt, daß nach dieser Schwachstellenanalyse diese Atomfabriken in Hanau für immer geschlossen werden müssen.
Hanau ist ja schon berühmt-berüchtigt. Der Zwischenfall dort hat erneut gezeigt, daß es keine sichere Atomkraftnutzung gibt. Auch für diejenigen, die glauben, die drohende Klimakatastrophe bzw. die notwendige massive CO2-Reduzierung rechtfertige eine Renaissance der Atomenergie, wiederhole ich: Nur der sofortige Ausstieg aus der Atomenergie ermöglicht ein ökologisches und dauerhaftes Energiesystem. Zentrale Großstrukturen verhindern dagegen die Nutzung von dezentralen Energieeinsparpotentialen und der Abwärmenutzung in größerem Maßstab.
Wenn Sie nach der Entsorgung fragen, so sage ich: Wenn klar ist, wieviel tatsächlich noch zu entsorgen ist, wenn der Zeitpunkt einmal festliegt, dann sind wir durchaus bereit, uns auch aktiv an der Lösung für eine Endlagerung zu beteiligen. Aber solange diese Gesamtmenge nicht klar ist, wird immer wieder nach neuen Lagerstätten zu suchen sein. Genau das ist nicht das Konzept, das wir durchstehen können.
Atomkraftwerke stellen keinen schnell verfügbaren Beitrag zur CO2-Verminderung dar. Jede Mark, die in die Energieeinsparung investiert wird, vermeidet sie-



Dr. Klaus-Dieter Feige
benmal mehr CO2 als eine Mark, die in den Ausbau der Atomenergie fließt.
Die Strahlenbelastung von Atomkraftwerken ist schon im Normalbetrieb für die Umgebung nicht zumutbar. In der Debatte wurde gesagt: Das ist ja nur schwach radioaktiv. Dafür, daß jemand Krebs bekommt, reicht bereits eine ganz, ganz kleine Dosis. Dann ist es egal, ob das schwach oder stark radioaktiv ist. Auf Dauer ist die gesamte nukleare Prozeßkette nicht nur umweltbelastend, sondern stellt auch eine permanente Gefährdung des menschlichen Lebens dar.
Deshalb ist jegliche weitere Diskussion über den Einsatz oder gar Ausbau der Atomenergie eine Diskussion von vorgestern und gegen die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes gerichtet. Damit werden eine fortschrittliche, zukunftsorientierte und überlebensfähige Energiepolitik und der dafür notwendige Innovationsschub der Wirtschaft verhindert.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203334300
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zur Geschäftslage: Wenn wir jetzt die Sitzung unterbrechen und um 18 Uhr fortsetzen, dann ist nach den interfraktionellen Vereinbarungen damit zu rechnen, daß wir die Sitzung morgen früh zwischen 2 Uhr und 2.30 Uhr beenden.
Infolgedessen haben offenbar jetzt eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen in dieser Aktuellen Stunde Reden zu Protokoll gegeben. Ich muß Sie aber alle fragen, ob Sie damit einverstanden sind, weil wir von der Geschäftsordnung abweichen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann haben wir diese Abweichung von der Geschäftsordnung heute und für diesen Fall so gebilligt. Ich danke Ihnen. *)
Wie bereits heute morgen angekündigt, haben sich die Fraktionen darauf verständigt, daß die Sitzung jetzt bis 18.00 Uhr unterbrochen wird. Die Sitzung soll dann mit der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 146) fortgesetzt werden.
Ich unterbreche die Sitzung.

(Unterbrechung von 16.46 bis 18.00 Uhr)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1203334400
Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die unterbrochene Sitzung ist wiedereröffnet.
Wir kommen jetzt noch einmal zum Tagesordnungspunkt 5 zurück, und zwar, wie wir es heute mittag beschlossen haben, zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 146). Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/794, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich rufe den Gesetzentwurf mit seinen Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift auf. Die Fraktion der SPD verlangt dazu namentliche Abstimmung. Ich eröffne die Abstimmung. —
*) Anlage 5
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme abgeben möchte? — Das ist der Fall. Ich bitte Sie aber, einen Zahn zuzulegen; das wäre ganz reizend. In einer halben Minute schließe ich die Abstimmung. —
Ist jetzt womöglich noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme abgeben möchte? — Dies ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.

(Unruhe)

Ich bitte des weiteren die Kollegen, wieder Platz zu nehmen, die Gespräche über Berlin und Bonn und das Verfahren einzustellen und dem weiteren Verlauf der Debatten zu folgen.

(Anhaltende Unruhe)

— Dies ist eine ernstgemeinte Aufforderung an alle Seiten des Hauses, insbesondere an die von mir aus gesehen rechte Seite.
Kann ich davon ausgehen, daß die Beratungen fortgesetzt werden können? Man kann auch im Sitzen über Berlin und Bonn diskutieren. — Ich sehe keinen Widerspruch. Wir können also mit den Beratungen fortfahren.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahre 1990
— Drucksache 12/683 —
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind dafür zwei Stunden vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.
Das Wort hat der Abgeordnete Gero Pfennig.

Dr. Gero Pfennig (CDU):
Rede ID: ID1203334500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich möchte Ihnen den Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 1990 vorstellen.
Der Berichtszeitraum ist weitgehend von der Wiedervereinigung Deutschlands bestimmt, die sich im Jahr 1990 vollzog. Zahlreiche Petitionen betreffen Folgen der Wiedervereinigung. Im schriftlichen Bericht und seinen Beispielen wird dies nur dort deutlich, wo Gesetzgebungsmaßnahmen des Bundes oder bestimmte Regelungen im Einigungsvertrag vorgeschlagen wurden.
Erst mit dem Tag der Einheit und dem rechtlichen Beginn exekutiver und legislativer Zuständigkeit des Bundes für das neue Bundesgebiet schnellte die Zahl der Einzelbeschwerden steil nach oben. Hiervon konnten in der 11. Legislaturperiode nur noch die wenigsten bearbeitet werden.
Vor allem durch die aus der ehemaligen DDR und dem neuen Bundesgebiet eingegangenen ca. 2 750 Petitionen stieg 1990 die Zahl der Eingaben auf rund 16 500. Sie liegt damit im Vergleich zu den Vorjahren,
*) Ergebnis Seite 2638 B



Dr. Gero Pfennig
ja im Vergleich zu den letzten zehn Jahren eindeutig an der Spitze.
Auch beim Vergleich der Legislaturperioden liegt die 11. Legislaturperiode mit 52 528 Eingängen insgesamt, also mit den Sammelpetitionen und den anderen, weit an der Spitze. Schon jetzt kann die Prognose für das Jahr 1991 gewagt werden, daß die Zahl der Eingaben nochmals kräftig, auf ca. 20 000 wachsen wird.
Dies stellt die Kollegen im Ausschuß, aber auch den Ausschußdienst vor erhebliche Probleme. Täglich gehen Zuschriften aus dem gesamten Bundesgebiet ein. Übrigens, die größte Steigerung unter den Bundesländern kam aus Berlin unter Einbeziehung des Ostteils der Stadt. Ab dem Beitritt am 3. Oktober 1990 kamen von dort insgesamt 883 Zuschriften, d. h. pro 1 Million Bevölkerung 350. Zum Vergleich: Aus Hamburg kamen 256, aus Nordrhein-Westfalen 254, wobei man allerdings wissen muß, daß Nordrhein-Westfalen als bevölkerungsreichstes Bundesland natürlich mit 26 % aller Petitionen weit an der Spitze liegt. Gegenstand der Eingaben aus dem Beitrittsgebiet waren die Währungsunion, die Fragen der Anpassung von Löhnen, Gehältern und Renten sowie der Eigentumsordnung von Grundstücken. Hinzu kommen die Forderungen vieler Petenten nach strafrechtlicher, beruflicher und verwaltungsrechtlicher Rehabilitierung, weil das Rehabilitierungsgesetz der ehemaligen DDR nur in Teilen weitergilt.
Rund 270 Petenten begehrten die Wiedergutmachung von Schäden, die in der Folge zwangsweiser Aussiedlung aus dem früheren Grenzgebiet der DDR zur Bundesrepublik Deutschland entstanden waren. Natürlich ist auch die Stasi-Problematik Gegenstand zahlreicher Eingaben gewesen.
Bei den Eigentumsverhältnissen spielten sowohl Fragen aus dem neuen Bundesgebiet als auch aus dem alten Bundesgebiet, darunter übrigens auch von sehr vielen früheren Flüchtlingen, eine Rolle und auch die Frage der Rückgabe zwischen 1945 und 1949 enteigneten Eigentums.
Der Petitionsausschuß hat zu allem eine Stellungnahme abgegeben und insbesondere die Bundesregierung gebeten, möglichst schnell Fragen wie etwa der Aussiedlung aus dem Sperrgebiet zu klären. Einzelfragen können wir als Petitionsausschuß des Bundestages nicht regeln, weil hier die Kommunal- und Landesbehörden zuständig sind. Deswegen werden diese Petitionen an die Eingabeausschüsse der sechs östlichen Bundesländer weitergegeben.
Der Zusammenhang zwischen Vereinigung und Zunahme der Eingaben besteht im weitesten Sinne auch bei der Kriegsfolgengesetzgebung. Viele Bürger aus dem Beitrittsgebiet begehren Lastenausgleich für Vertreibungsschäden. Auch sind Forderungen im Zusammenhang mit Kriegsgefangenenentschädigung und Häftlingshilfe erhoben worden.
Der Petitionsausschuß hat auch insoweit ein Überdenken der geltenden Gesetzgebung gefordert und der Bundesregierung alle Petitionen als Material im Jahre 1991 nach Abschluß der Grundverfahren überwiesen.
Zu den einzelnen Ressorts. Eine deutliche Steigerung der Zahl der Petitionen hat es im Bereich des Bundesjustizministers und des Bundesministers des Innern sowie des Finanzministers und beim früheren Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen gegeben. Beim zuletzt genannten Ressort gingen früher viele Petitionen mit der Bitte um Unterstützung bei Übersiedlungen und Häftlingsfreikäufen ein. Im Jahre 1990 hat sich das mehr auf Fragen des Einigungsvertrages verschoben.
Insgesamt ist also im Jahre 1990 eine gewisse Verlagerung der Schwerpunkte der Eingaben festzustellen. Beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung verzeichnete man trotz vieler neuer Eingaben aus dem neuen Bundesgebiet einen leichten Rückgang und dafür einen starken Anstieg beim Bundesminister der Justiz. Bei den Fragen der Staatssicherheit, die ich noch einmal aufgreifen möchte, also Eingaben, die vor allen Dingen an das Innenministerium weitergegeben wurden, haben die berufliche Zurücksetzung, überhaupt die Verfolgung und — nach Beginn der Vereinigung im Oktober 1990 — auch vor allen Dingen die Frage von Stasi-Mitarbeitern in den Arbeitsämtern eine große Rolle gespielt. Hier hat der Petitionsausschuß die entsprechenden Hinweise über das Bundesministerium für Arbeit an die Landesanstalt gegeben. Ich kann heute feststellen, daß beispielsweise 20 Leiter von Arbeitsämtern auf Grund der Hinweise, die wir gegeben haben, abgelöst worden sind.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1203334600
Kollege Pfennig, darf ich Sie einmal — nicht zu Lasten Ihrer Zeit — ganz kurz unterbrechen? — Darf ich darum bitten, daß die Stehkonferenz hinten im Saale außerhalb des Saales oder im Sitzen stattfindet, aber dann so ruhig, daß der Redner nicht gestört wird und die anderen dem Redner folgen können. Ich bedanke mich ganz herzlich.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Herr Abgeordneter, Sie haben wieder das Wort.

Dr. Gero Pfennig (CDU):
Rede ID: ID1203334700
Wie Sie wissen und wie ich hier schon einmal vorgetragen hatte, hatte die Volkskammer der ehemaligen DDR einen eigenen Petitionsausschuß gebildet, dessen Vorsitzender unser heutiger Kollege Göttsching gewesen ist. Nach dem Beitritt lagen dort noch eine Reihe unbearbeiteter Zuschriften. Diese sind unter Mithilfe von Ausschußmitarbeitern unseres Petitionsausschusses aufgearbeitet worden und — soweit sie in die Länderzuständigkeit fielen — an die Petitionsausschüsse in den sechs östlichen Bundesländern zur Weiterbearbeitung gegeben worden.
Beim Rückblick auf die Eingänge des Ausschusses im Jahre 1990 ist in quantitativer Hinsicht vielleicht am bemerkenswertesten, daß sich neben den Zuschriften aus dem neuen Bundesgebiet insbesondere die Zahl der Sammeleingaben mit vielen Unterschriften merklich erhöht hat. Sie erreichten rund 460 000 gegenüber 300 000 im Vorjahr. Allein 320 000 Bürger forderten beispielsweise ein sofortiges Verbot der Herstellung und des Verbrauchs von FCKW.



Dr. Gero Pfennig
Wir nehmen als Ausschuß derartige Sammelpetitionen sehr ernst, weil sie sich insbesondere mit Umweltanliegen beschäftigen. Wir werden auch in der jetzigen Legislaturperiode alles tun, damit die Umweltpetitionen in Zusammenarbeit mit dem zuständigen Fachausschuß einer sachgerechten Erledigung zugeführt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Die Sammelpetitionen enthielten darüber hinaus vielfach Forderungen gegen Lärmbelästigung durch militärische Einrichtungen, aber auch gegen Lärmbelästigung durch zivile Einrichtungen wie z. B. die Eisenbahn. In vielen Fragen hat sich allein durch den Ablauf der Zeit manche Petition gegen Flugplätze, Truppenübungsplätze, Schießplätze oder gegen Tiefflugübungen erledigt.
Wir haben einen großen Teil der 16 497 Einzeleingaben für das Ressort des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung verzeichnet, wie ich bereits sagte: insgesamt 3 300. Bei diesen Bitten ging es vorwiegend um Rentensachen, insbesondere wenn sie aus dem Beitrittsgebiet kamen. Aber auch Fragen etwa der Kindererziehungszeiten spielten eine Rolle, beispielsweise die Anerkennung von Kindererziehungszeiten für Kindererziehung im Ausland, Fragen der Rentensteigerung durch Kindererziehungszeiten und vieles andere mehr. Ich glaube, auch hier hat der Ausschuß jedem Petenten in zufriedenstellender Weise die erforderliche Auskunft gegeben und in Einzelfällen auch weitergeholfen.
Insgesamt, so möchte ich zu dem Bereich des Bundesministers für Arbeit bemerken, ist die Zahl der Petitionen wohl auch deswegen etwas rückläufig, weil kaum noch Petitionen zum Thema Gesundheitsreform eingehen,

(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Sie haben resigniert!)

die im Vorjahr eine große Rolle gespielt hatten.
Der Tätigkeitsbericht enthält erneut zahlreiche Beispiele betreffend die Integration behinderter Menschen. Es macht deshalb ausgesprochen betroffen, wenn bei der Eingabe eines Rollstuhlfahrers, der seit 1953 bei einer Behörde im Beitrittsgebiet, also in der ehemaligen DDR, tätig war, von einem unserer Ministerien in der Antwort folgendes bemerkt wird: „Aus dem Schriftwechsel, der hier vorliegt, ist zu entnehmen, daß Herr L. selbst auf einem täglichen Weg zur Arbeit und zurück eine Gefährdung für sich und andere im Straßenverkehr darstellt. Schon aus Gründen der Fürsorge hätte Herr L. beim ... Dienst der ehemaligen DDR nicht beschäftigt werden dürfen. " Ich finde, daß ist eine grobe Entgleisung. Der Ausschuß wird solche Entgleisungen nicht hinnehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste])

Der Bericht weist aus, daß der Bundestag auf Empfehlung des Petitionsausschusses in einer Reihe von Fällen gegenüber der Bundesregierung mit dem Ersuchen vorgegangen ist, einer Petition abzuhelfen, weil das Anliegen als berechtigt angesehen worden war.
Dennoch ist die Bundesregierung in zwei Fällen bei ihrer ablehnenden Haltung geblieben, ohne daß neue Argumente oder Tatsachen geliefert wurden.
Es ist zwar richtig — wir haben das auch früher schon als Petitionsausschußmitglieder an dieser Stelle gesagt — , daß Ersuchen des Bundestages in Form von Berücksichtigungsbeschlüssen die Bundesregierung rechtlich nicht verpflichten, diesem Ersuchen zu entsprechen. Der Ausschuß geht jedoch davon aus, daß der gegenseitige Respekt, den die Verfassungsorgane einander schulden, und die Achtung vor dem Grundrecht des Art. 17 GG die Bundesregierung zumindest politisch verpflichten, das ihr Mögliche zu tun, um dem Ersuchen des Bundestages gerecht zu werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Der Ausschuß hat deshalb in all den Fällen, in denen die Bundesregierung einem solchen Beschluß nicht entsprochen hat, sehr gründlich die Gründe für die Nichtbefolgung geprüft. Der Ausschuß hält es übrigens auch nicht für vertretbar, wenn erst zum Zeitpunkt der Antwort auf einen Berücksichtigungsbeschluß Gründe nachgeschoben werden, die einer Abhilfe der Petition entgegenstehen; denn dieses hätte vorher geschehen können und dann vom Ausschuß ausreichend geprüft werden können. Diese Verhaltensweise muß ich im Namen des Ausschusses nachdrücklich beanstanden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

Der Ausschuß wird übrigens genausowenig hinnehmen, daß die Bundesregierung auf Grund einer anderen Wertung eine Befolgung von Beschlüssen in solchen Fällen verweigert, in denen der Ausschuß auch nach Prüfung der Gegenargumente der Bundesregierung im Rahmen des geltenden Rechts einen Handlungsspielraum gesehen hat. Der Ausschuß wird, wie erst jetzt wieder verschiedentlich geschehen, die Verantwortlichen dann in den Ausschuß laden und auf Befolgung der Beschlüsse des Bundestages drängen und durch entsprechende Fristsetzungen das Verfahren weiter begleiten.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wir wissen aus der Vergangenheit, daß dies häufig doch noch zu einer Änderung der Haltung der Regierung geführt hat und deshalb etliche Fälle nach mehreren Jahren noch erfolgreich abgeschlossen werden konnten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Ich möchte mich abschließend bei den Petitionsausschüssen der Länder und beim Petitionsausschuß des Europäischen Parlaments für die gute Zusammenarbeit im Berichtsjahr bedanken. Sie haben vielleicht gelesen, daß wir in diesem Jahr eine sehr erfolgreiche Zusammenkunft mit den Petitionsausschüssen aus unseren 16 Bundesländern hatten, die sich auf meine Einladung hin mit dem Petitionsausschuß des Bundestages in Berlin getroffen haben, wo wir unsere Kontakte vertieft haben und die Erfahrungen bei der Bear-



Dr. Gero Pfennig
beitung von Petitionen, die Bund und Länder gleichzeitig betreffen, austauschen konnten.
Allen Mitgliedern des Ausschusses möchte ich herzlich danken. Sie müssen nicht nur den Eingabenzuwachs bewältigen, sie sind durch Tätigkeit im Petitionsausschuß und der Mitgliedschaft in den Fachausschüssen auch einer Doppelbelastung ausgesetzt. Der gleiche Dank gilt den Mitarbeitern des Petitionsausschusses, die, wie ich es dargestellt habe, eine enorme Mehrarbeit schon im Jahre 1990 und fortgesetzt jetzt auch 1991 bewältigen müssen.
Allen Bürgern, die sich mit ihren Sorgen an den Petitionsausschuß gewandt haben, darf ich versichern, daß der Ausschuß in seinem Bemühen nicht nachlassen wird, berechtigte Interessen engagiert zu vertreten.

(Beifall im ganzen Hause)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1203334800
Das Wort hat der Kollege Horst Peter.

Horst Peter (SPD):
Rede ID: ID1203334900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute über den letzten Jahresbericht des Petitionsausschusses der vergangenen Legislaturperiode, deshalb ein knapper Rückblick auf die vergangene Legislaturperiode. Wir hatten in den Debatten der letzten Jahresberichte drei Streitpunkte: Erstens. Gibt es einen Unterschied zwischen politischen Petitionen und privaten Anliegen? Zweitens. Gibt es die Notwendigkeit, Massenpetitionen anders als Einzelpetitionen zu behandeln? Drittens. Ist der Petitionsausschuß ein Überausschuß, der auch fachpolitische Problemstellungen zu entscheiden hat?
Inzwischen bin ich der Auffassung, daß sich diese Streitpunkte im Lichte unserer neuen Grundsätze als scheinbare Streitpunkte erwiesen haben. Ich bin nun wirklich kein Feind von Konfrontation,

(Zuruf des Abg. Bernd Reuter — ich gehe keinem Streit aus dem Wege, kann man auch sagen —, aber die neuen Grundsätze haben die richtige Konfliktlinie dargestellt. Wir sind im Petitionsausschuß über die Behandlung von Verfahren weitgehend einig und können uns dann oft gemeinsam an der Verwaltung, an der Bundesregierung, am Arbeitsamt, an der Krankenversicherung usw. abarbeiten, und das ist, glaube ich, die richtige Zielstellung im Interesse der Petenten. Die Ursache dafür sind unsere Verfahrensgrundsätze. Wir haben uns Mühe gegeben, die Voten differenzierter zu gestalten. So ist es möglich, die Unterschiede zwischen politischen und privaten Anliegen, zwischen Einzelund Massenpetitionen und auch die Frage, ob der Petitionsausschuß ein übergreifender Ausschuß ist, auszugleichen. Wir haben uns mit den neuen Grundsätzen auch die Möglichkeit eröffnet, den Bundesrechnungshof einzuschalten, wenn es uns sinnvoll erscheint, das Bundesversicherungsamt einzuschalten, um in dem Bereich, in dem wir oft machtlos sind — bei Verhaltensweisen der Sozialversicherungen —, einen Zugriff zu erhalten. Wir haben ja das Problem, daß unser Zugriff im Sozialversicherungsbereich durch die Aufgabe, die die Selbstverwaltung wahrnimmt, gebremst ist. Ich werde im Laufe dieses Beitrags verdeutlichen, daß das für Petenten manchmal eine sehr schwierige Sache ist. Wir haben auch die kritische Auseinandersetzung mit den Stellungnahmen der Regierung auf Berücksichtigungsund Erwägungsbeschlüsse zu unserer ständigen Praxis gemacht. Darauf ist der Vorsitzende des Ausschusses eingegangen; darauf wird dann mit weniger Verpflichtung zur Zurückhaltung auch der Kollege Reuter noch eingehen. Mir ist aus dem inzwischen klargeworden: Die Trennung in Petitionen mit privatem oder politischem Anliegen ist eine Scheinalternative, wenn man so will: ein antiquierter Streit. Jede Petition hat eine politische Dimension. Der Unterschied liegt in der Reichweite des Anliegens. Beispiel 1: Ein Petent aus Norddeutschland bezog nach Abschluß seines Studiums von Juli bis Dezember 1989 Arbeitslosenhilfe. Er bewarb sich im gesamten Bundesgebiet und erhielt im Dezember 1989 eine mündliche Zusage in Frankfurt am Main. Dort suchte, fand und renovierte er mit Freunden bis Ende Dezember eine Wohnung. Seinen schriftlichen Arbeitsvertrag erhielt er erst am 6. Januar 1990. Am 8. Januar — die Daten sind wichtig — schrieb er seinem zuständigen Arbeitsamt, daß er einen Arbeitsvertrag abgeschlossen habe, der ab dem 1. Januar 1990 gelte und den er seit dem 2. Januar 1990 erfülle. Des weiteren fragte er nach Rückzahlungsmodalitäten für eventuell zuviel erhaltene Arbeitslosenhilfe. Außerdem bat er um Informationen über Beihilfe zu seinen Umzugskosten. Am 25. Januar teilte ihm das Arbeitsamt mit, daß sein Antrag auf Gewährung von Umzugskosten verspätet erfolgt sei — spätestens bis zum Tag der Arbeitsaufnahme oder am Tag des Umzugs —, und übersandte als Beleg nunmehr das entsprechende Merkblatt. Mit Schreiben vom 20. Februar erteilte ihm das Arbeitsamt darüber hinaus noch eine förmliche Verwarnung für seine verspätete Meldung der Arbeitsaufnahme bezüglich der Zeit vom 2. bis 10. Januar 1990, sah aber „ausnahmsweise" von einem Verwarnungsgeld ab. In der Stellungnahme gegenüber dem Petitionsausschuß schreibt das Arbeitsamt im April 1990 zur Begründung der Ablehnung der Umzugskostenhilfe unter anderem: „Er hat durch die Durchführung des Umzugs faktisch bewiesen, daß er auf die Hilfe des Arbeitsamtes nicht unbedingt angewiesen war." Die arbeitsverwaltungsbehördliche Posse findet ihren Höhepunkt in einem Bescheid vom 10. September 1990, in dem das Arbeitsamt die Arbeitslosenhilfe in Höhe von 32,10 DM für den 1. Januar 1990 zurückfordert, da er insoweit die Arbeitsaufnahme nicht richtig mitgeteilt habe. Deutlicher als der Petent allerdings in seinem Schreiben vom 8. Januar 1990 kann man die maßgeblichen Daten nicht formulieren. Das Arbeitsamt hat demnach neun Monate später faktisch bewiesen, daß es der Lektüre einfachster Schreiben nicht unbedingt gewachsen war. Die Reichweite dieser Petition geht dahin: Der Arbeitsverwaltung am zuständigen Ort ist Horst Peter klarzumachen, daß Bürgerinnen und Bürger Anspruch auf angemessene Behandlung haben. Da also die Petition in der dargestellten Form notwendig wurde, wäre das zuständige Arbeitsamt gut beraten, einmal ein Verhältnis zu den Bürgerinnen und Bürgern, die Anliegen vorbringen, zu überprüfen. Die vielen Eingaben zur Gesetzgebung oder auch die Eingaben gegen staatliche Großprojekte, einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen, insbesondere die vielen Eingaben von Bürgerinnen und Bürgern aus den neuen Bundesländern, tragen ihre politische Reichweite in sich. Ich will im folgenden eine Eingabe darstellen, bei der sich die politische Reichweite im Verlauf der Behandlung erst erschloß. Es geht um die Eingabe eines Chemiearbeiters, der als Mitarbeiter der BASF Ludwigshafen im November 1953 bei einem Betriebsunfall durch ausströmende Halogenwasserstoffe — Dioxine sind damit gemeint — eine Vergiftung erlitt. Wegen der unmittelbaren gesundheitlichen Schädigungen erhielt er von der Berufsgenossenschaft Chemie eine Unfallrentenleistung. Im März wurde die Rente nicht mehr gewährt, da die Berufsgenossenschaft Chemie nach den gutachtlichen Stellungnahmen der damaligen Werksärztin des Unfallbetriebs eine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht mehr als gegeben ansah. Man beachte: Der Werksärztin des Unfallbetriebs! Von diesem Zeitpunkt an kämpfte der Petent um seine Unfallrente. 1985 wandte er sich erstmals an den Petitionsausschuß wegen Anerkennung seiner sich verschlechternden Krankheitsbefunde als Berufskrankheit — vergeblich, da die Gutachter eine Kausalität zwischen der Dioxinexposition und den Krankheitsbefunden nicht als gegeben ansahen. 1987 kam es zu einer erneuten Petition, diesmal wegen einer rückwirkenden Rentenzahlung ab 1955, dem Zeitpunkt des Rentenentzugs, für die im März 1987 gewährte Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % und einer Erhöhung seines MdE-Prozentsatzes. Inzwischen war die Einschätzung von krankheitsverursachenden Auswirkungen von Dioxin in der Wissenschaft weiter vorangeschritten. Hier sind wir am Beginn der Ausweitung der Eingabe, hin zur politischen Reichweite für den Berichterstatter. Wir haben im Ausschuß insgesamt drei Anhörungen gemacht. Wir haben in der Auseinandersetzung mit der Berufsgenossenschaft, durch Einschaltung von Experten, durch Anhörung von Vertretern der Bundesregierung, durch Einschaltung des Bundesversicherungsamtes, durch Einladung von alternativen Experten, durch die Bemühung, eine Einigung mit dem Geschäftsführer der Berufsgenossenschaft Chemie herbeizuführen, versucht, dem prinzipiell schwächeren Teil — die Beweislast liegt nicht bei der Berufsgenossenschaft, sondern bei dem Petenten als dem betroffenen Versicherten — , also dem Petenten, zu seinem Recht zu verhelfen. Dabei stellte sich — das ist die Dimension für die Gesetzgebung — heraus, daß § 44 Abs. 4 des SGB X ein überwindbares Hindernis für eine weitere Rückwirkung der Petition war. Ich meine, wir haben den vielen Fällen nachzugehen, bei denen es nicht um zuviel oder zuwenig gezahlte Renten, sondern darum geht, anzuerkennen, daß jemand wegen eines Berufsunfalls vom Zeitpunkt des Eintretens dieses Unfalls an Ansprüche haben muß. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE)





(Beifall bei allen Fraktionen)


(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)

Der Ansatz, die MdE, die Minderung der Erwerbsfähigkeit, zu erhöhen, steht in Widerspruch zur Praxis der Berufsgenossenschaft Chemie bei der Gewährung der Unfallrente aus dem Unfall von 1953 für den Petenten und für weitere 78 Personen, die sich für mich als Skandal darstellt. Für mich ist die Verhaltensweise der Berufsgenossenschaft Chemie an vier Punkten zu kritisieren.
Ich werfe ein Verschleiern der tatsächlich vom Unfall betroffenen Personengruppe durch Einbeziehung weiterer Dioxinfälle bei der BASF vor, wodurch Kausalitätsaussagen erschwert wurden.
Ich werfe das Heranziehen von Gutachtern vor, die inzwischen in der wissenschaftlichen Diskussion höchst umstritten sind. Auf diese Weise wurden Gutachten erstellt, die es dem Versicherten teilweise unmöglich gemacht haben, schon frühzeitig zu seinem Unfallrentenanspruch zu kommen.
Ich werfe das Nichtheranziehen einer Mortalitäts-
und Morbiditätsstudie der Unfallkohorten des Unfalls von 1953 im Auftrag der BASF vor. Kausalitätsvermutungen im Hinblick auf den Fall des Petenten, werden dadurch unmöglich gemacht.
Der Absprache, die sich aus einem Gespräch mit dem Ausschußvorsitzenden und den Berichterstattern des Ausschusses ergab, jede Chance zu nutzen, um in einem sozialgerichtlichen Verfahren einen Vergleich mit dem Petenten über die Höhe der MdE zu erreichen, und die eine Brücke darstellte, ist der Geschäftsführer der Berufsgenossenschaft Chemie nicht nachgekommen, sondern im Gegenteil: Er hat dann, als von uns angeregte Gegengutachten zur Feststellung einer höheren Minderung der Erwerbstätigkeit führten, seinerseits Gegengutachten in Auftrag gegeben, und zwar unter Einbeziehung einer Dioxin-Studie der BG Chemie, die wissenschaftlich nicht unstrittig ist, ebenfalls keine klare Kohorte darstellt.
Ich werfe dem Geschäftsführer vor, daß er die vom Petitionsausschuß eingeladenen Experten nachträglich in einer Form unter Druck gesetzt hat, die eigentlich eine Mißachtung des Auftrags des Petitionsausschusses darstellt, die wir uns nicht gefallen lassen können.

(Beifall im ganzen Hause)

Das Ganze führt zu einer verschleppenden Behandlung. Wenn wir uns vor Augen führen, daß die Krankheitsauswirkungen von Dioxin tödliche Folgen haben können, kann eine schleppende Behandlung zur Erledigung der Fälle. durch Tod der Anspruchsteller führen. Das ist eine Verfahrenspraxis, die wir einfach nicht akzeptieren können.
Das Fazit: § 44 Abs. 4 ist überprüfungsbedürftig. Deshalb haben wir Regierung und Fraktionen des



Horst Peter (Kassel)

Bundestages die Petition zur Kenntnis gegeben. Wir meinen, hier ist es möglich, eine Gesetzesinitiative zu starten. Das ist auch notwendig.
Die Beschwerde über die berufsgenossenschaftliche Behandlung ist nach unserer Auffassung berechtigt. Deshalb haben wir das Bundesversicherungsamt zur Überprüfung der berufsgenossenschaftlichen Behandlung der Opfer des Dioxinunfalls eingeschaltet. Wichtig ist das vor allen Dingen für die Behandlung der weiteren anstehenden Petitionen aus diesem Fall. Wichtig ist das auch für Petitionen bezüglich anderer Berufskrankheiten. Wichtig ist es für die Veränderung der Praxis der Gutachterbenennung durch die Berufsgenossenschaften. Wichtig ist es vor allen Dingen, um gesetzliche Regelungen zu finden, die durch eine Umkehr der Beweislast den Schwächeren in dieser ungleichen Auseinandersetzung stärker werden lassen, indem nämlich die schädigenden Unternehmen beweisen müssen, ob eine Schädigung durch die Arbeit an einem Arbeitsplatz in einem solchen Unternehmen ausgeschlossen werden kann.
Eine offene Frage ist: Angesichts der Satzungszwecke der Träger der Unfallversicherung, der Vorsorge zur Vermeidung von Unfällen und der Versicherung im Falle von Unfällen im Interesse ihrer Versicherten frage ich: Wo ist die Selbstverwaltung, die sich kritisch mit dem Verhalten des Geschäftsführers der BG Chemie auseinandersetzt und die prüft, ob er weiter tragbar ist?
Hervorzuheben ist, daß in der Behandlung dieser Petition der Ausschuß an einem Strang und alle in die richtige Richtung gezogen haben. Zu danken ist dem Petenten, der einer der wenigen ist, der sein Anliegen zäh in einer unterlegenen Position vorangetragen hat.
Die Schlußfolgerung lautet: Die Trennung in private und politische Eingaben ist nicht haltbar. Die Frage ist, wie die Eingaben mit großer politischer Reichweite für die Zukunft zu behandeln sind.
Hier zum Schluß ein Vorschlag: Wir müssen zukünftig prüfen, ob durch eine Änderung der Geschäftsordnung Fachausschüsse durch den Bundestag auf Überweisungsbeschluß des Petitionsausschusses eingeschaltet werden können, so wie es der Petitionsausschuß des Europäischen Parlaments geregelt hat. Dadurch kann das Petitionsverfahren als Teilhaberecht der Bürgerinnen und Bürger nur effektiver gestaltet werden.

(Beifall im ganzen Hause)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1203335000
Bevor ich nun den nächsten Redner aufrufe, möchte ich Ihnen das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekanntgeben, und zwar über die zweite Beratung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Art. 146 des Grundgesetzes.
Die Schriftführer haben folgendes Ergebnis ermittelt. Es wurden 599 Stimmen abgegeben. Davon war keine Stimme ungültig. Mit Ja haben 237 Kollegen und Kolleginnen gestimmt. Mit Nein haben 358 gestimmt. Vier haben sich der Stimme enthalten.
Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 598;
ja: 237
nein: 357
enthalten: 4
Ja
SPD
Frau Adler
Andres
Bachmaier
Frau Barbe
Bartsch
Becker (Nienberge) Bernrath
Beucher
Bindig
Frau Blunck
Dr. Böhme (Unna) Börnsen (Ritterhude) Brandt
Frau Brandt-Elsweier Büchner (Speyer)

Dr. von Bülow
Büttner (Ingolstadt) Frau Bulmahn
Frau Burchardt Bury
Frau Caspers-Merk Catenhusen
Conradi
Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser
Dr. Diederich (Berlin) Diller
Frau Dr. Dobberthien Dreßler
Duve
Ebert
Dr. Eckardt
Dr. Ehmke (Bonn) Eich
Dr. Elmer
Erler
Esters
Ewen
Frau Ferner
Frau Fischer

(Gräfenhainichen) Fischer (Homburg) Formanski

Frau Fuchs (Köln) Frau Fuchs (Verl) Fuhrmann
Frau Ganseforth Gansel
Dr. Gautier
Gilges
Dr. Glotz
Graf
Großmann
Haack (Extertal) Habermann
Hacker
Frau Hämmerle Hampel
Frau Hanewinckel Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz
Dr. Hauchler
Heistermann
Heyenn
Hiller (Lübeck) Hilsberg
Dr. Holtz
Horn
Huonker
Ibrügger
Frau Iwersen
Frau Jäger
Frau Janz Jaunich Dr. Jens
Jungmann (Wittmoldt) Frau Kastner
Kastning Kirschner Frau Klemmer
Dr. sc. Knaape
Körper
Frau Kolbe
Kolbow Koltzsch Koschnick Kretkowski
Kubatschka
Dr. Kübler Kuessner Dr. Küster Kuhlwein Lambinus Frau Lange
von Larcher
Leidinger Lennartz Frau Dr. Lucyga
Frau Marx Frau Mascher
Matschie
Dr. Matterne
Frau Matthäus-Maier Frau Mattischeck Meckel
Frau Mehl Meißner
Dr. Mertens (Bottrop)

Dr. Meyer (Ulm) Mosdorf
Müller (Düsseldorf) Müller (Pleisweiler) Müller (Schweinfurt) Frau Müller (Völklingen) Müntefering
Neumann (Bramsche) Neumann (Gotha)
Frau Dr. Niehuis
Dr. Niese
Frau Odendahl Oesinghaus
Oostergetelo
Opel
Ostertag
Frau Dr. Otto
Paterna
Dr. Penner Peter (Kassel)

Dr. Pfaff Dr. Pick Purps
Reimann Rempe
Frau von Renesse
Frau Rennebach
Reuter
Rixe
Schäfer (Offenburg)

Frau Schaich-Walch Schanz
Scheffler Schily
Schluckebier Schmidbauer (Nürnberg) Frau Schmidt (Aachen) Frau Schmidt (Nürnberg) Schmidt (Salzgitter)
Frau Schmidt-Zadel
Dr. Schmude
Dr. Schnell



Vizepräsidentin Renate Schmidt
Schreiner
Frau Schröter Schröter
Schütz
Dr. Schuster Schwanhold Schwanitz Seidenthal Frau Seuster Sielaff
Frau Simm Singer
Frau Dr. Skarpelis-Sperk Frau Dr. Sonntag-Wolgast Sorge
Dr. Sperling Frau Steen Stiegler
Dr. Struck Tappe
Frau Terborg Dr. Thalheim Thierse
Tietjen
Frau Titze Toetemeyer Urbaniak
Vergin
Verheugen Dr. Vogel
Voigt (Frankfurt)

Vosen
Wagner
Wallow
Waltemathe Walter (Cochem)

Walther (Zierenberg) Wartenberg (Berlin)
Frau Dr. Wegner Weiermann
Frau Weiler Weis (Stendal) Weißgerber
Weisskirchen (Wiesloch) Welt
Dr. Wernitz Frau Wester Frau Westrich
Frau Wettig-Danielmeier Frau Dr. Wetzel
Frau Weyel Dr. Wieczorek
Wieczorek (Duisburg) Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspütz
Wimmer (Neuötting)

Dr. de With Wittich
Frau Wohlleben
Frau Wolf
Frau Zapf
Dr. Zöpel
Zumkley
FDP
Grünbeck PDS/LL
Frau Bläss Frau Braband
Dr. Briefs
Frau Dr. Enkelmann
Frau Dr. Fischer
Dr. Gysi Henn
Dr. Heuer Frau Dr. Höll
Frau Jelpke Dr. Keller
Frau Lederer
Dr. Modrow
Dr. Riege
Dr. Schumann (Kroppenstedt) Frau Stachowa
Bündnis 90/GRÜNE
Dr. Feige
Frau Köppe
Poppe
Schulz (Berlin)

Dr. Ullmann
Weiß (Berlin)

Frau Wollenberger
Fraktionslos Lowack
Nein
CDU/CSU
Adam
Dr. Altherr
Frau Augustin
Augustinowitz
Bargfrede
Dr. Bauer
Frau Baumeister
Bayha Belle
Frau Dr. Bergmann-Pohl Bierling
Dr. Blank
Frau Blank
Dr. Blens
Bleser Dr. Blüm
Böhm (Melsungen)

Frau Dr. Böhmer
Börnsen (Bönstrup)

Dr. Bötsch
Bohl
Bohlsen Borchert
Brähmig
Breuer
Frau Brudlewsky Brunnhuber
Bühler (Bruchsal)

Büttner (Schönebeck)

Buwitt
Carstens (Emstek) Carstensen (Nordstrand) Dehnel
Frau Dempwolf
Deres Deß
Frau Diemers
Doppmeier
Doss
Dr. Dregger
Echternach
Ehlers Ehrbar Frau Eichhorn
Engelmann
Eylmann
Frau Eymer
Frau Falk
Dr. Faltlhauser
Feilcke
Dr. Fell
Fischer (Hamburg)

Frau Fischer (Unna) Fockenberg
Francke (Hamburg) Frankenhauser
Dr. Friedrich Fritz
Fuchtel
Ganz (St. Wendel)

Frau Geiger Geis
Dr. Geißler
Dr. von Geldern
Gerster (Mainz)

Gibtner
Dr. Göhner Göttsching Dr. Götzer Gres
Frau Grochtmann
Gröbl
Grotz
Dr. Grünewald
Günther (Duisburg)

Frhr. von Hammerstein Harries
Haschke (Großhennersdorf) Haschke (Jena-Ost)
Frau Hasselfeldt
Hauser (Esslingen)

Hauser (Rednitzhembach) Hedrich
Heise
Frau Dr. Hellwig
Helmrich Dr. Hennig
Dr. h. c. Herkenrath Hinsken
Hintze
Hörsken
Hörster
Dr. Hoffacker
Hollerith
Dr. Hornhues Hornung
Hüppe
Jäger
Frau Jaffke Jagoda
Janovsky Frau Jeltsch Dr. Jobst
Dr. Jüttner Junghanns Dr. Kahl
Kalb
Kampeter Dr. Kappes Frau Karwatzki
Kauder
Keller
Kiechle
Kittelmann Klein (Bremen)

Klein (München)

Klinkert
Köhler (Hainspitz)

Dr. Köhler (Wolfsburg)

Dr. Kohl
Kolbe
Frau Kors Koschyk
Kossendey Kraus
Dr. Krause (Börgerende) Dr. Krause (Bonese)
Krause (Dessau)

Krey
Kriedner
Kronberg Dr.-Ing. Krüger Krziskewitz
Lamers
Dr. Lammert Lamp
Lattmann
Dr. Laufs
Laumann
Frau Dr. Lehr Dr. Lieberoth Frau Limbach Link (Diepholz)

Lintner
Dr. Lippold (Offenbach)

Dr. sc. Lischewski
Louven
Lummer
Dr. Luther Frau Männle Magin
Dr. Mahlo
de Maizière Frau Marienfeld
Marschewski
Dr. Mayer (Siegertsbrunn) Meckelburg
Meinl
Frau Dr. Merkel
Frau Dr. Meseke
Dr. Meyer zu Bentrup
Frau Michalk Michels
Dr. Möller
Müller (Kirchheim)

Müller (Wadern)

Müller (Wesseling)

Nelle
Dr. Neuling Neumann (Bremen)

Nitsch
Frau Nolte Dr. Olderog Ost
Oswald
Dr. Päselt
Dr. Paziorek Petzold
Pfeffermann Frau Pfeiffer Dr. Pfennig Dr. Pflüger Dr. Pinger Pofalla
Dr. Pohler Frau Priebus Dr. Probst
Dr. Protzner Pützhofen
Frau Rahardt-Vahldieck Raidel
Rauen
Rawe
Reddemann Reichenbach Dr. Reinartz Frau Reinhardt Repnik
Dr. Rieder
Dr. Riesenhuber
Rode (Wietzen)

Frau Rönsch (Wiesbaden)

Frau Roitzsch (Quickborn) Romer
Dr. Rose
Rossmanith Roth (Gießen) Rother
Dr. Ruck
Rühe
Dr. Rüttgers Sauer (Salzgitter)

Sauer (Stuttgart) Scharrenbroich
Frau Schätzle Dr. Schäuble



Vizepräsidentin Renate Schmidt
Schartz (Trier)

Schemken Scheu
Schmalz
Schmidbauer
Schmidt (Fürth)

Dr. Schmidt (Halsbrücke) Schmidt (Mühlheim)
Frau Schmidt (Spiesen) Schmitz (Baesweiler)
von Schmude
Dr. Schneider (Nürnberg)

Dr. Schockenhoff
Graf von Schönburg-Glauchau Dr. Scholz
Frhr. von Schorlemer
Dr. Schreiber
Dr. Schroeder (Freiburg) Schulhoff
Dr. Schulte

(Schwäbisch Gmünd) Schulz (Leipzig)

Schwalbe Schwarz
Dr. Schwarz-Schilling
Dr. Schwörer
Seehofer Seesing
Seibel
Seiters
Skowron Dr. Sopart Frau Sothmann
Spilker
Spranger Dr. Sprung
Dr. Stavenhagen
Frau Steinbach-Hermann
Dr. Stercken
Dr. Frhr. von Stetten Stockhausen
Dr. Stoltenberg
Strube
Stübgen
Frau Dr. Süssmuth
Susset
Tillmann Dr. Töpfer Dr. Uelhoff Uldall
Frau Verhülsdonk
Vogel (Ennepetal)

Vogt (Düren)

Dr. Voigt (Northeim)

Dr. Vondran
Dr. Waffenschmidt
Dr. Waigel
Graf von Waldburg-Zeil
Dr. Warnke Dr. Warrikoff
Werner (Ulm)

Frau Wiechatzek
Dr. Wieczorek (Auerbach) Frau Dr. Wilms
Wilz
Wimmer (Neuss)

Frau Dr. Wisniewski Wissmann
Dr. Wittmann
Wittmann (Tännesberg) Wonneberger
Frau Wülfing
Würzbach Frau Yzer Zeitlmann Zöller
SPD Niggemeier
FDP
Frau Albowitz
Frau Dr. Babel
Baum
Beckmann Bredehorn
Cronenberg (Arnsberg) Eimer (Fürth)
Engelhard van Essen Dr. Feldmann
Friedhoff Friedrich Funke
Frau Dr. Funke-Schmitt-Rink Gallus
Ganschow Gattermann Gries
Grüner
Günther (Plauen)

Dr. Guttmacher
Hackel
Hansen
Dr. Haussmann
Heinrich Dr. Hirsch Frau Dr. Hoth
Dr. Hoyer Hübner
Irmer
Kleinert (Hannover)

Kohn
Dr. Kolb
Dr.-Ing. Laermann
Dr. Graf Lambsdorff
Frau LeutheusserSchnarrenberger
Lüder
Lühr
Dr. Menzel Nolting
Otto (Frankfurt)

Paintner
Frau Dr. Pohl
Richter (Bremerhaven)

Dr. Röhl
Schäfer (Mainz)

Schmidt (Dresden)

Dr. Schmieder
Schüßler Frau Sehn Frau Seiler-Albring
Frau Dr. Semper
Dr. Solms Dr. Starnick
Frau Dr. von Teichman und
Logischen
Thiele
Dr. Thomae Timm
Türk
Frau Walz
Dr. Weng (Gerlingen) Wolfgramm (Göttingen) Frau Würfel
Zurheide Zywietz
Enthalten
SPD
Frau Dr. Leonhard-Schmid Steiner
Frau Homburger
Koppelin
Damit ist dieser Gesetzentwurf abgelehnt.
Nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung unterbleibt damit jede weitere Beratung. Damit ist das Durchführungsgesetz zum Volksentscheid, die dafür vorauszusetzende Grundgesetzänderung, abgelehnt worden. Ich kann wohl davon ausgehen, daß wir deshalb über den Entwurf eines Durchführungsgesetzes heute nicht mehr weiter beraten müssen. — Darüber besteht Einverständnis. Dann ist das so beschlossen.
Nun rufe ich als nächsten Redner den Kollegen Günther Nolting auf.

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1203335100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine kurze Vorbemerkung: Wie wichtig der Jahresbericht 1990 des Petitionsausschusses von der Regierung genommen wird, zeigt sich u. a. an der großen Anzahl der anwesenden Regierungsvertreter.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Dies ist nicht nur quantitativ, sondern vor allen Dingen auch qualitativ gemeint.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, der Vorsitzende des Petitionsausschusses, Herr Dr. Pfennig, hat schon auf folgendes hingewiesen: Im Jahre 1990 sind insgesamt 16 497 Eingaben beim Petitionsausschuß eingegangen. Dies ist eine deutliche Zunahme gegenüber dem Vorjahr, die sich neben der generell steigenden Tendenz bei der Zahl von Eingaben vor allem auf die neuen Bundesländer zurückführen läßt. 16,5 % der Eingaben kamen aus den neuen Bundesländern, obwohl die Vereinigung erst am 3. Oktober — sie wirkt sich also nur auf ein Viertel des Berichtszeitraumes aus — vollzogen wurde. Dies ist zweifellos ein wesentliches Merkmal dieses Jahresberichtes. Die neuen Bundesbürger haben ihr Petitionsrecht nicht nur entdeckt, sondern auch gleich in großem Maße in Anspruch genommen.
Das deutet auf die vielen Probleme im sozialen und rechtlichen Bereich hin. Die Verwaltung befindet sich teilweise noch im Aufbau. Die Bürger haben oft für ihre Schwierigkeiten noch nicht den für uns alte Bundesbürger selbstverständlichen Ansprechpartner in einem bestimmten Amt und wenden sich daher in ihrer teilweise vorhandenen Verzweiflung an den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages. Mancher dieser Petenten war froh, bei dieser Institution einfach seinen Kummer loszuwerden und einmal in einem Brief alle Sorgen darstellen zu können, ohne daß er tatsächlich die Hilfe des Ausschusses erwartete.
Im Mittelpunkt der Eingaben stand dabei die persönliche Betroffenheit der Menschen, vor allem die Gefährdung und der Abbau von Arbeitsplätzen, das Rentenniveau und die Neugestaltung der Preise nach Einführung der Sozialen Marktwirtschaft.
Einen erheblichen Anstieg der Zahl der Petitionen im Fachbereich des Bundesministers der Justiz lösten



Günther Friedrich Nolting
die ungeklärten Grundeigentumsfragen in den neuen Bundesländern aus. Da der Sachverhalt zu einer Petition erst sorgfältig recherchiert wird, konnten nur wenige der Eingaben aus den neuen Bundesländern schon 1990 abschließend behandelt werden. Deshalb schlagen sich solche Fälle noch nicht in den Beispielen nieder, die der Ausschuß in seinem Jahresbericht bringt, um den Bürgern anschaulich zu machen, welche Chancen sich bieten, wenn sich jemand mit einem wohlbegründeten Anliegen an uns wendet.
Jeder von uns, der im Petitionsausschuß arbeitet, bekommt von Zeit zu Zeit böse Briefe von Petenten, deren Anliegen wir ablehnen mußten. wird dann bezweifelt, daß wir überhaupt die Möglichkeit haben, etwas zu bewegen.
Natürlich können wir nicht jedem Petenten weiterhelfen, das, was er persönlich für Recht hält, zu bekommen. Aber wer unseren Jahresbericht liest, wird keine Zweifel haben, daß es auch 1990 wieder eine Fülle von Fällen gab, in denen wir konkret Einfluß genommen und auch geholfen haben.
Lassen Sie mich einige wenige Beispiele hier aufzeigen. So hatte die britische Rheinarmee jahrelang geplant, auf ihrem Truppenübungsplatz in der Senne eine Stadtkampfübungsanlage zu bauen. Dies ist in der Bevölkerung unter dem Stichwort Kampfdorf Augustdorf bekanntgeworden. Die Petenten, eine regionale Bürgerinitiative, befürchteten zu Recht, daß von dieser Anlage eine erhebliche vermehrte Lärmbelastung ausgehen und der Verkehrswert der Häuser und Grundstücke weiter abnehmen würde. Drei Jahre lang zog sich dieses Petitionsverfahren hin, in denen immer wieder versucht wurde, über das BMF und auf anderen Wegen auf die Briten einzuwirken. Schließlich waren diese Bemühungen erfolgreich, und im Juli 1990 verzichtete die britische Rheinarmee auf ihr Projekt.
Eine andere Eingabe forderte die unbefristete Umschreibung von Führerscheinen von Bürgern aus anderen EG-Ländern. Bisher mußte dies innerhalb eines Jahres geschehen. Nach drei Jahren war es sogar erforderlich, in Deutschland eine neue Führerscheinprüfung abzulegen. Nachdem der Petitionsausschuß diese Eingabe der Bundesregierung zur Erwägung überwiesen hatte, bekam er eine positive Antwort. Es ist nunmehr möglich, ohne jegliche Fristen den Führerschein gegen den jeweiligen nationalen einzutauschen.
Auf der anderen Seite dokumentiert der Jahresbericht aber auch zahlreiche Fälle, in denen der Ausschuß aus politischen Gründen gewisse Anliegen nicht unterstützen wollte und nicht unterstützen konnte. So konnten wir uns beispielsweise die Forderung nach einem Friedensvertrag gerade angesichts der politischen Vorgänge im Zusammenhang mit der Herstellung der deutschen Einheit nicht zu eigen machen.
Meine Damen und Herren, unter den Eingaben sind in diesem Jahr nur knapp 6 000 Massenpetitionen,
also etwa Postkartenaktionen mit vorgedruckten Texten. Die Zahl der Massenpetitionen ist damit die niedrigste seit Jahren, was mir beweist, daß die Bürger und vor allem die Organisationen erkannt haben, daß sich der Ausschuß von einer besonders großen Zahl von Zuschriften nicht beeindrucken läßt, sondern genauso schnell und gründlich recherchiert wie in jedem anderen Fall auch. Das heißt, auch jede Einzelpetition wird sorgfältig bearbeitet.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mit den meisten Unterschriften, nämlich mit ca. 317 000, wurde ein sofortiges FCKW-Verbot gefordert. Der Kollege Vorsitzende Dr. Pfennig hat darauf hingewiesen. Diese Wünsche gingen in die richtige Richtung, da die Fluorchlorkohlenwasserstoffe als Zerstörer der Ozonschicht der Erde lebensgefährliche Folgen für den Menschen und seine Umwelt haben. Die Bundesregierung hat inzwischen ein FCKW-Verbot bis 1995 beschlossen, was von uns nachhaltig begrüßt wird. Bis dahin stehen dann auch die Ersatzstoffe in gewünschtem Ausmaß zur Verfügung.
Mit gut 17 000 Unterschriften wandten sich Bürger gegen angeblich mangelnde Sicherheitsvorkehrungen während des amerikanischen C-Waffenabzugs aus der Pfalz im letzten Sommer. Da diese Eingaben sehr kurzfristig eingingen, konnte der Ausschuß keine Entscheidung in der Sache mehr fällen. Als Verteidigungspolitiker kann ich hier aber feststellen, daß selten ein so umfassender und perfekter Sicherheitsaufwand getrieben wurde und daß zu keinem Zeitpunkt für die Bürger an der Transportstrecke eine Gefahr bestanden hat. Hier ist es leider zu Überreaktionen gekommen. Es besteht bei mir der Verdacht, daß bestimmte Gruppierungen bewußt oder unbewußt die Angst der Menschen für ihre politischen Ziele einsetzen wollten.
Meine Damen und Herren, im Rahmen der deutschdeutschen Rechtsangleichung gab es bereits 1990 und vor allem auch in den letzten Monaten zahlreiche Eingaben zur Neugestaltung des § 218 des Strafgesetzbuches und damit zur Frage des Schutzes des ungeborenen Lebens. Die Petenten decken dabei das gesamte Spektrum des Themas ab: von der Forderung nach einer drastischen Einschränkung der Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs und entsprechenden Strafverschärfungen bis hin zur völligen Liberalisierung der Abtreibung. Der Ausschuß kann in diesem Fall auf den Einigungsvertrag verweisen, in dem eine Neuregelung bis 1992 festgelegt worden ist.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat im Mai als erste Fraktion einen Gesetzentwurf eingebracht, der — lassen Sie mich das dazu sagen — gleichzeitig die beste der derzeit diskutierten Lösungsmöglichkeiten enthält.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)




Günther Friedrich Nolting
Wir wollen die Fristenlösung mit obligatorischer Beratung, aber natürlich auch mit umfassender sozialer Flankierung. Diese Lösung wird am ehesten dazu führen, daß sowohl die Abtreibungszahlen sinken als auch die Betroffenen entkriminalisiert werden.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, eine entsprechende Rechtsangleichung soll es auch beim § 175 des Strafgesetzbuches geben. Für die Abschaffung dieses Paragraphen gab es ca. 4 000 Unterschriften. Da es sich hier um eine langjährige Forderung der FDP handelt, findet diese Petition unsere Unterstützung. Eine entsprechende Gesetzesinitiative der Bundesregierung ist in Kürze zu erwarten.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuß genießt hohes Ansehen bei unseren Bürgern im Lande, die in uns ihre Anwälte sehen. Ich will es einmal so sagen: Der Petitionsausschuß wird als Kummerkasten der Nation angesehen. Dies ehrt und ist gleichzeitig Verpflichtung und Ansporn für die Zukunft. Auch die in diesem Jahr noch einmal enorm gestiegene Zahl von Eingaben darf uns nicht nachlässig werden lassen, jeder Petition mit der erforderlichen Gründlichkeit nachzugehen.
In diesem Zusammenhang möchte ich mich beim Ausschußdienst bedanken, der seine Aufgabe, den der Petition zugrunde liegenden Sachverhalt zu ermitteln und uns Politikern einen Entscheidungsvorschlag zu machen, nach wie vor zu unserer vollsten Zufriedenheit bewältigt.

(Zustimmung bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Dies ist bei einzelnen Petenten, die beinahe wöchentlich anrufen, wahrhaftig nicht einfach; davon wissen wir alle, glaube ich, ein Lied zu singen.
Ich möchte mich aber natürlich auch bei den Kolleginnen und Kollegen aus der eigenen Fraktion, vor allem aber auch bei den Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen für die allseits kollegiale Zusammenarbeit bedanken. Ich denke, diese Zusammenarbeit sollte beispielhaft auf andere Ausschüsse übertragen werden.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste] — Zuruf von der SPD)

— Wir dürfen uns ja vielleicht auch einmal selbst loben.
Meine Damen und Herren, selbst wenn Sie und wir gelegentlich über die ständig steigende Zahl von Eingaben stöhnen: Nehmen wir diese steigende Zahl als gutes Signal, als Zeichen für die Mündigkeit unserer Bürger, die sich Verwaltungshandeln nicht widerspruchslos gefallen lassen und die bei politischen Entscheidungsprozessen mitdenken und Einfluß nehmen wollen. Ich denke, dies ist ein Zeichen lebendiger Demokratie.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1203335200
Als nächster Redner hat der Kollege Konrad Weiß das Wort.

Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1203335300
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte den Bericht und die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahre 1990 nicht bewerten. Das Bündnis 90/DIE GRÜNEN war zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Bundestag vertreten und kann somit die Ausschußarbeit der 11. Legislaturperiode auch nicht beurteilen. Gestatten Sie mir aber einige Anmerkungen zu Dingen, die ich als Mitglied des Petitionsausschusses inzwischen aus eigener Anschauung kenne, hier zu benennen: Dies ist zum einen die Tätigkeit des Petitionsausschusses in der ersten Hälfte dieses Jahres, und dies ist zum Zweiten — hier bin ich als ostdeutscher Abgeordneter sowohl Betroffener als auch Verantwortlicher — die Lebenssituation der Menschen in den östlichen Bundesländern.
Die Bürgerinnen und Bürger in der ehemaligen DDR sind mit großen Hoffnungen und großem Vertrauen den Weg in die Vereinigung der beiden deutschen Staaten gegangen. Auch das in Art. 17 des Grundgesetzes verbriefte Grundrecht, sich mit Bitten und Beschwerden an seine Volksvertretung wenden zu können, gehörte und gehört zu unseren Vorstellungen von Demokratie. Gerade nach unseren Erfahrungen mit einer Scheindemokratie, in der Bürgerinnen und Bürger, die sich mit Eingaben an staatliche Stellen wandten, zu Bittstellern degradiert oder sogar als Staatsfeinde behandelt wurden, wissen wir den hohen Wert eines solchen Rechtes zu schätzen.
Wie groß die Hoffnungen der Bürgerinnen und Bürger aus den ostdeutschen Bundesländern auch in bezug auf das Petitionsrecht sind, zeigt nicht zuletzt die stetig ansteigende Flut ihrer Eingaben an den Petitionsausschuß. Dreimal so häufig wie die Bürger im Westen wenden sich die Menschen aus der ehemaligen DDR an ihre frei gewählten Volksvertreter mit der Bitte um Hilfe.
Es ist für den Petitionsausschuß und damit für den Deutschen Bundestag insgesamt eine große Verpflichtung, dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen. Ich fürchte — das muß ich nach meinen ersten Erfahrungen mit der Arbeit des Petitionsausschusses leider sagen — , daß es uns mit den zur Zeit zur Verfügung stehenden Kapazitäten und Instrumentarien nicht gelingen kann. Seit Januar beträgt der Posteingang im Ausschußsekretariat im Tagesdurchschnitt 180 Eingaben. Das ist eine Zahl, mit der das fleißige und sehr kompetente Ausschußsekretariat mehr als überfordert ist.

(V o r sitz : Präsidentin Dr. Rita Süssmuth)

Eine erhebliche Erhöhung der Anzahl der Arbeitskräfte in diesem Bereich ist also das mindeste, was wir zu fordern haben.
Aber auch die Abgeordneten sind mit der Menge der Eingaben heillos überlastet. Die Zeit, in der wir uns im Ausschuß jeder einzelnen Petition widmen



Konrad Weiß (Berlin)

können, wird immer geringer. So habe ich eine Sitzung des Petitionsausschusses erlebt, in welcher in neunzig Minuten einschließlich zweier Anhörungen und der Beratung über 83 Eingaben, bei denen die Anträge der Berichterstatter hinsichtlich der Art der Erledigung übereinstimmten, insgesamt 123 Petitionen dank der akrobatischen Fähigkeiten unseres Vorsitzenden behandelt wurden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Von einer intensiven und sachgerechten Prüfung der Anliegen kann man trotz allen gerechten Bemühens, das ich allen Beteiligten bescheinige, unter diesen Umständen nicht mit reinem Gewissen sprechen.
Zweifellos sollten sich mehr Abgeordnete des Deutschen Bundestages, nicht nur jene, die im Petitionsausschuß ihren Sitz haben, mit den Eingaben der Bürgerinnen und Bürger befassen und sich verantwortlich wissen. Vielleicht wäre es sinnvoll, ein Arbeitssekretariat schon heute in Berlin einzurichten, um so unmittelbarer auf Petitionen der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger reagieren zu können und sie unverzüglich zu beraten.
Jeder von Ihnen, der mit den Eingaben aus Ostdeutschland befaßt ist, wird mir bestätigen können, daß in diesen Petitionen zumeist dramatisch verschlechterte Lebenssituationen und Lebensperspektiven, häufig individuell nicht lösbare Notsituationen oder unhaltbare Rechtszustände geschildert werden. Häufig sind es Menschen, die sich erneut gedemütigt, deklassiert und unverstanden fühlen. Die Petitionen belegen an einer Vielzahl von Einzelfällen anschaulich die ungeheuren Lücken und Mängel des Einigungsvertrages. Die Berichte über Arbeitslosigkeit, Lehrstellenmangel, niedrige Löhne und Gehälter, mangelhafte gesundheitliche Versorgung, den für viele, insbesondere Alte und Kranke, nicht zu verkraftenden Anstieg der Lebenshaltungskosten sowie Probleme bei der Privatisierung und Fragen des Eigentums zeigen, wie weit wir tatsächlich von einer sozialen Einheit in Deutschland entfernt sind.
Angesichts der Zurückhaltung der Bundesregierung, die Probleme der in ihrer Lebenssituation oftmals tiefgreifend verunsicherten Bürgerinnen und Bürger wirklich zur Kenntnis zu nehmen, wäre es eigentlich angebracht, alle Petitionen aus den ostdeutschen Ländern mit dem hohen Votum, über das der Deutsche Bundestag verfügt, der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen, weil Abhilfe notwendig erscheint.
Klar ist: Der Petitionsausschuß allein kann nicht die Wunden heilen, die die weitgehende Übertragung des bundesdeutschen Rechtssystems auf die ehemalige DDR in vielen Bereichen schlägt. Genau dort aber, wo schnelle, unbürokratische und unkonventionelle Hilfe gefragt wäre, stößt der Petitionsausschuß an eine weitere Grenze. Nach Recht und Gesetz kann in akuten Notlagen oftmals nicht geholfen werden. Die Rechtslage ist infolge der unreflektierten Übernahme des westdeutschen Rechtssystems auf ostdeutsche Verhältnisse nun einmal so. Aber darf das das letzte Wort des Deutschen Bundestages sein? Es ist doch eindeutig, daß es in diesen Fällen nicht mit
einer Darstellung der Rechtslage oder der Vertröstung auf langwierige Gesetzesinitiativen der Fraktionen des Deutschen Bundestages getan ist.
Ich möchte Sie deshalb, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, darum bitten, mehr Mut zu unkonventionellen Entscheidungen im Einzelfall zu haben und häufiger auch dort zugunsten der Petenten zu entscheiden, wo das Anliegen mit der Rechtslage nicht in Übereinstimmung zu stehen scheint. Der gesunde Menschenverstand und Ihr Gerechtigkeitssinn sind oft eine bessere Richtschnur als gedrucktes Gesetzeswerk.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD)

Gesetze kann man ändern. Wenn ein Gesetz absolut keine Ausnahme im Einzelfall zuläßt, müssen die Gesetze vom Deutschen Bundestag in Zukunft vermehrt mit Härtefallregelungen ausgestattet werden,

(Beifall bei der SPD)

die es dem Petitionsausschuß ermöglichen, angemessen zu reagieren.
Zu erwägen ist im Sinne einer demokratischen, unmittelbaren Einmischung der Bürgerinnen und Bürger in ihre Angelegenheiten, für die wir in der friedlichen Revolution eingetreten sind, eine Stärkung der sogenannten Massenpetitionen. Ich habe viel Sympathie für den Vorschlag, daß Petitionen, die von mehr als hunderttausend Menschen unterstützt werden, im Plenum des Deutschen Bundestages behandelt werden müssen und daß Vertreterinnen und Vertreter der Petitionsgemeinschaft vom Ausschuß angehört werden sollen. In diesem Sinne liegt dem Deutschen Bundestag übrigens eine Petition zur Stärkung des Petitionsrechts vor, mit der wir uns im Ausschuß zu bef assen haben.
Weiterhin möchte ich die Bundesregierung auffordern, die Petitionen, die ihr vom Bundestag zugeleitet werden, ernster als bisher zu nehmen. Dem Bericht des Petitionsausschusses entnehme ich, daß dies offenbar nicht selbstverständlich ist. Ich unterstütze nachdrücklich den Hinweis des Petitionsausschusses, daß die Bundesregierung politisch verpflichtet ist, alles ihr Mögliche zu tun, um den Ersuchen des Bundestages gerecht zu werden.
Zum Schluß möchte ich die Gelegenheit nutzen, um die Innenminister der Länder und den Herrn Bundesinnenminister nachdrücklich darum zu bitten, jene Bestimmung des Ausländergesetzes rückgängig zu machen, nach der es möglich ist, trotz laufender Petitionsverfahren die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber durchzuführen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste])

Ohne die Entscheidung eines Landesparlaments oder des Bundestages abzuwarten, werden hier von der Exekutive Tatsachen geschaffen, die für die Betroffenen eine unmittelbare Härte oder einen unakzeptablen sozialen Abstieg bedeuten können. Ich sehe hierin eine Verletzung des Art. 17 des Grundgesetzes und eine Mißachtung der frei gewählten Abgeordneten durch die Exekutive, die wir nicht hinnehmen können.



Konrad Weiß (Berlin)

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/ Linke Liste])


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203335400
Als nächster hat der Abgeordnete Martin Göttsching das Wort.

Martin Göttsching (CDU):
Rede ID: ID1203335500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Genau heute vor einem Jahr, zeitlich etwas günstiger, wandte ich mich an die Bürgerinnen und Bürger der Noch-DDR, um ihnen als Vorsitzender des Petitionsausschusses der Volkskammer über die Tätigkeit dieses Ausschusses seit den ersten demokratischen Wahlen zu berichten. Heute nun, wie gesagt, nach einem Jahr, wende ich mich für meine Fraktion nicht nur an die ehemaligen Bürger der DDR, sondern an alle Bürgerinnen und Bürger im vereinten Deutschland. Ich möchte etwas zu ebenjenem zur Zeit diskutierten Bericht des Petitionsausschusses sagen.
Dieser Bericht verdeutlicht nicht nur ein weiteres Mal die umfangreiche Arbeit des Petitionsbüros und der Ausschußmitglieder — meine Vorredner haben darauf intensiv hingewiesen — , sondern in Schwerpunkten wird auch auf die vielen Sorgen und Nöte der Bundesbürger eingegangen, die sich eben an diesen Petitionsausschuß im Bundestag richten.
Wenn man den Bericht des Ausschusses liest, so hat man den Eindruck — ich habe diesen Eindruck —, daß er ein Spiegelbild all derjenigen ungelösten politischen und sozialen Probleme ist, die uns gerade aktuell betreffen und die im vergangenen Jahr, als es zu jener politischen Veränderung in Deutschland kam, mit Nachdruck im Petitionswesen zu Buche schlugen — haben sich doch die Eingaben im vergangenen Jahr um eine stattliche Zahl erhöht. Wenn von rund 16 500 Eingaben im vergangenen Jahr die Rede ist, so möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß während meiner Volkskammerzeit 12 980 Posteingänge beim Petitionsausschuß zu verzeichnen gewesen sind — für die kurze Zeit der frei gewählten Volkskammer.
Gerade im Hinblick auf die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern sollte die heutige Debatte gleichzeitig auch dazu dienen, den Inhalt des Petitionsrechtes und die Zuständigkeiten des Deutschen Bundestages darzustellen. Es ist nämlich für die Bürger der neuen Länder nicht unbedingt einsichtig, daß es ein Grundrecht, nach Art. 17 des Grundgesetzes ein verbrieftes Recht ist, daß sich jedermann einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen mit Bitten und Beschwerden auch an den Petitionsausschuß wenden kann, aber natürlich auch an die anderen Institutionen. Es sind Forderungen nach einem bestimmten Verwaltungshandeln oder Vorschläge zur Gesetzgebung, es sind Beanstandungen von Entscheidungen staatlicher Stellen, die ein Recht benennen, das es, jedenfalls in dieser Form, in der ehemaligen DDR nicht gab. Es gab zwar das Eingabengesetz seit 1975; dieses Eingabenrecht war jedoch nicht im entferntesten mit dem Recht nach Art. 17 des Grundgesetzes vergleichbar. Jeder weiß: Erwünscht waren gesellschaftlich nützliche und politisch genehme Eingaben. Ein positives Ergebnis für den Bürger war nur zu erwarten, wenn die Aufdeckung von Mißständen im
ideologischen Interesse der Staatsgewalt der SED lag.
— So habe ich es vor einem Jahr in der Volkskammer gesagt.

(Zuruf von der SPD: Herr Göttsching, es gab auch noch andere als die SED! — Horst Peter [Kassel] [SPD]: Streichen wir das!)

— Streichen wir es.
Zahlreiche Bürger der ehemaligen DDR hatten sich bereits vor dem Beitritt unmittelbar an den Petitionsausschuß des Bundestages gewandt. Nach dem Beitritt gab es natürlich selbstverständlich einen weiteren Anstieg dieser Zahlen. Dies war ein Zeichen für die besondere Betroffenheit meiner Mitmenschen in den neuen Bundesländern durch die staatlichen Maßnahmen aus alten SED-Zeiten, aber auch durch Rechtsunsicherheiten, die aus den beiden großen Verträgen zwischen den Ländern des vergangenen Jahres in Deutschland herrührten. Sie waren aber auch ein Zeichen für die großen Erwartungen, die Möglichkeiten wahrzunehmen, ihrem Parlament ihre Sorgen und Nöte darzulegen.
Einige Stichworte möchte ich nennen, um das gesamte Spektrum der Petitionen aus den neuen Bundesländern zu verdeutlichen. Ich wiederhole mich nicht und beziehe mich auf das, was zumindest der Vorsitzende Pfennig hier gesagt hat. Ich möchte auf eines hinweisen und es ergänzen, wenn es zum Thema „Vergangenheitsbewältigung" auch unter dem Stichwort „Lastenausgleich" etwas zu sagen gilt. Dieser Lastenausgleich betrifft etwa 1,5 Millionen Menschen in den neuen Bundesländern. Über 600 Einzelpetitionen liegen vor. Der Ausschuß ist der Auffassung, daß die Petitionen für eine parlamentarische Initiative geeignet sind. Er hat daher die Eingaben den Fraktionen zur Kenntnis zugeleitet und erwartet hierzu entsprechende Initiativen.
Es gibt andere persönliche Probleme, mit denen man sich an den Petitionsausschuß gewandt hat, die aber schon von meinen Vorrednern erwähnt worden sind. Wenn ich noch einmal darauf Bezug nehme, dann nicht, um den Bericht quasi zu ergänzen, sondern weil ich sehe, daß aus all dem ein Problem für die Arbeit des Petitionsausschusses entstehen könnte, denn dieser Ausschuß ist kein unpolitischer Ausschuß. Seine Mitglieder sind natürlich in die Willensbildung der Fraktionen eingebunden. Gerade im Petitionsausschuß weiß ich es zu schätzen, daß wir immer wieder bestrebt sind, einen Konsens zwischen den Fraktionen zu finden, wobei manchmal auch die Mehrheit der Regierungskoalition entscheidet.
Sehe ich mir die Statistik an, so stelle ich fest, daß eine ganze Reihe von Petitionen zur Berücksichtigung überwiesen worden sind. Meine Damen und Herren, Sie wissen, der Berücksichtigungsbeschluß ist das stärkste Votum des Parlaments. Dies muß die Bundesregierung konsequenter umsetzen. Der Petitionsausschuß hat das Verhalten der Bundesregierung manchmal kritisiert, und zwar auch in den früheren Jahren. Jetzt hätte ich erwartet, daß der Kollege Peter intensiver zuhört. Im 9. Bericht wurde es kritisiert:



Martin Göttsching
zuwenig zur Berücksichtigung, zuwenig an Konsequenzen seitens der Bundesregierung.

(Bernd Reuter [SPD]: Sie spuren einfach nicht!)

— Herr Reuter, erst warten, was ich sage!
Der Ausschuß verkennt nicht, daß die Bundesregierung Berücksichtigungsbeschlüssen überwiegend gefolgt ist. Dieser Bericht ist es bei allem Für und Wider und auch bei den „Verbalitern" aus der SPD wert, die besondere Achtung auch all der Kollegen, die nicht hier sind, auf jeden Fall aber die Wertschätzung der Öffentlichkeit zu finden.

(Beifall im ganzen Hause)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203335600
Als nächste hat die Abgeordnete Lisa Seuster das Wort.

Lisa Seuster (SPD):
Rede ID: ID1203335700
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Als ich den Petitionsbericht bearbeitet habe, ist mir aufgefallen, daß wir sehr fleißig waren. Wenn ich daran denke, daß unabhängig von dem Berichtszeitraum ja auch noch der Zeitraum, in dem der Bundestag nicht getagt hat, weil eine Pause für den Wahlkampf angesetzt war, zu berücksichtigen ist, dann ist schon eine Menge passiert. Die Zahl der Eingaben hat sich in dem Berichtszeitraum, nicht zuletzt bedingt durch den Beitritt der neuen Länder, erheblich gesteigert. Die Mitglieder des Ausschußbüros hatten wesentlich mehr zu tun, um erst einmal die Spreu vom Weizen zu trennen.
Etwa die Hälfte der eingegangenen Petitionen konnten im Vorfeld durch Auskünfte, durch Überweisung an die zuständigen Stellen, durch Übersendung von Informationsmaterial usw. erledigt werden, ohne daß überhaupt Berichterstatter eingesetzt werden mußten. Ich denke, daß diese Vorarbeit, die dort geleistet wird, Vor- und Nachteile hat. Manche Petitionen hätten wir sicher gern im Ausschuß behandelt. Nur ist das bei der Fülle von Petitionen nicht möglich. Deshalb sind wir dankbar, wenn im Vorfeld zumindest einige Petenten insofern zufriedengestellt werden konnten, als diese Tätigkeit durch das Ausschußbüro erfolgt.
Aber auch die Mitglieder des Petitionsausschusses mußten Mehrarbeit hinnehmen und mehr Zeit aufwenden. Zur Mehrarbeit führten jedoch nicht nur die Petitionen aus den neuen Ländern; insgesamt sind es einfach mehr Petitionen geworden. Wer seine Arbeit ernst nimmt und eventuell auch mehrere Stunden in der Woche mit der Bearbeitung von Petitionen zubringt, der wird sich darüber nicht beklagen. Nur: Wir erwarten, daß die Ergebnisse dieser Beratungen von der Bundesregierung dann auch ernstgenommen werden. Auch in diesem Bericht wird wie in dem vorigen Bericht — meine Vorredner sind schon darauf eingegangen — deutlich, daß es bei Berücksichtigungsüberweisungen oder bei Erwägungsüberweisungen oft dazu gekommen ist, daß die Bundesregierung den Vorschlägen nicht gefolgt ist. Mein Kollege Reuter wird das noch näher erläutern.

(Martin Göttsching [CDU/CSU]: Dann muß der viel sagen!)

Nur soviel: Es reicht uns nicht, wenn wir hier, wie auch heute, gemeinsam unsere Arbeit loben. Wir wollen im Interesse der Petenten ernstgenommen werden. Der Petitionsausschuß hat es nicht verdient, als Spielwiese für einige gutmütige Trottel abgewertet zu werden, deren Arbeit nur eine Alibifunktion in der Öffentlichkeit hat.

(Beifall im ganzen Hause)

Das Gegenteil sollte der Fall sein. Die Bundesregierung täte gut daran, die Petitionen der Bürgerinnen und Bürger sorgfältig zu beobachten; denn sie sind ein Seismograph für die Stimmung im Land. Petitionen zeigen genau, wo die Schwachstellen in Gesetzeswerken stecken. Außerdem kann man an ihnen ablesen, wie die Stimmung im Lande ist. Der Ton der Petitionen der letzten Jahre ist durchweg ungeduldiger und auch fordernder als in früheren Zeiten. Das empfinde jedenfalls ich so. Das sind Zeichen, die die Bundesregierung nicht leichtfertig übersehen sollte.

(Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Jawohl!)

Dies zeigt sich z. B. bei der Anerkennung von Kindererziehungszeiten. Viele Petenten wandten sich dagegen, daß sich die Kindererziehungszeiten deswegen nicht in der erhofften Höhe rentensteigernd auswirkten, weil sie mit anderen rentenrechtlich anerkannten Arbeitszeiten zusammentrafen und deshalb nicht oder nur in einem geringfügigen Umfang berücksichtigt wurden.
Wir erinnern uns an die laute Ankündigung des Bundesarbeitsministers: Jede Mutter hat Anspruch auf die Berücksichtigung von Erziehungszeiten in der Rente. Dies hat die Bevölkerung vernommen, und entsprechend war auch die Erwartungshaltung. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn sich insbesondere viele Petentinnen an den Petitionsausschuß wenden, um Abhilfe zu suchen, weil sie der Meinung sind, daß sie ungerecht behandelt werden.

(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Man kann der Bundesregierung nicht alles glauben!)

Bei dem anstehenden Renten-Überleitungsgesetz für die neuen Bundesländer müssen deshalb die erworbenen Kindererziehungszeiten von vornherein berücksichtigt werden. Sonst wird es auch dort eine Flut von Petitionen geben, da sich die Frauen ungerecht behandelt fühlen, und zwar, wie ich meine, zu Recht. Hier können wir vorbeugen, um uns nachher viel Arbeit zu ersparen.
Viele Eingaben betrafen den Familienlastenausgleich. Dazu gab es auf Grund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts auch eine Massenpetition mit 324 Unterschriften. Der Petitionsausschuß hat der Bundesregierung zu verstehen gegeben, daß eine Erhöhung des seit 1975 in unverminderter Höhe geltenden Erstkindergelds familien- und sozialpolitisch wünschenswert wäre. Der Petitionsausschuß unterstützt auch grundsätzliche Überlegungen, den Familienlastenausgleich einfacher und übersichtlicher zu gestalten.
Das ist sicher nur ein Minimalkonsens, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich habe gehört, daß sich in dieser Richtung etwas bewegt. Uns als Fraktion ist das selbstverständlich zuwenig. Wir sind der Meinung:



Lisa Seuster
Man sollte hier dem Bundesverfassungsgericht folgen.

(Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ GRÜNE und der PDS/Linke Liste)

Neu waren im Berichtszeitraum die Petitionen, die im Zusammenhang mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten standen. Die meisten Petitionen — jedenfalls bei denen, die ich bearbeitet habe — drehten sich um Immobilienbesitz, um Grundstücke u. ä. Welche Emotionen sich in solchen Fällen entwikkeln, möchte ich an Hand einer Petition deutlich machen. Der Petent spricht sich gegen die Anerkennung der Oder-Neisse-Grenze aus. Falls diese Grenze jedoch rechtsverbindlich anerkannt werden sollte, fordert er, in Zahlen ausgedrückt, 1 000 000 DM und fügt in Klammern hinzu „in Buchstaben: eine Million". Das fordert er als Entschädigung für seinen Bauernhof. Es fehlt eigentlich nur noch, daß er bittet, diesen Betrag innerhalb von vier Wochen auf sein Konto zu überweisen.
Wir haben diese Petition — wie viele andere auch — an den Finanzminister überwiesen und den Fraktionen zur Kenntnis gegeben. Hier gerechte Lösungen zu finden wird für den Gesetzgeber nicht einfach sein und wird uns, den Mitgliedern des Petitionsausschusses, bei der Beurteilung der Einzelfälle noch viel Kopfzerbrechen bereiten.
Das gleiche gilt für die Rentenanpassung in den neuen Ländern. Auch hier wird es mit Sicherheit im Einzelfall noch viele Beschwerden und Bitten geben, die uns erreichen werden. Herr Kollege Weiß vom Bündnis 90 sagte dazu vorhin: Wir sollten es gleich ändern. So einfach stelle ich mir das nicht vor. Aber ich wäre froh, wenn wir ab und zu wenigstens die Klausel „im Härtefall" hätten. Dann wäre uns in vielen Fällen schon geholfen.

(Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ GRÜNE und der PDS/Linke Liste)

Auch Umweltfragen nahmen einen breiten Raum in unseren Beratungen ein. Die Schwerpunkte der Eingaben lagen in den Bereichen Luftverunreinigung, Abfallbeseitigung, Kernenergie und Artenschutz. In mehreren Eingaben — u. a. einer Sammelpetition — wurde ein sofortiges Verbot der Herstellung und des Verbrauchs von FCKW gefordert. Hier gab es unterschiedliche Voten von Koalition und Opposition. Die Petition wurde daraufhin zur weiteren Bearbeitung — das war ein einstimmiges Votum — an die Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" überwiesen.
Beanstandet wurde auch der Einsatz von Herbiziden auf Gleisanlagen der Deutschen Bundesbahn. Nach zähen Verhandlungen, Anhörungen, nochmaligen Stellungnahmen usw. konnte sich der Petitionsausschuß gegenüber der Bahn durchsetzen. Die Petition wurde der Bundesregierung zur Berücksichtigung überwiesen. Die tatsächliche Umsetzung werden wir jedoch aufmerksam verfolgen müssen. Diesen Fall hat insbesondere unser ausgeschiedener Kollege Dr. Emmerlich bearbeitet.
Auch im letzten Jahr konnte der Ausschuß erfreulicherweise zahlreichen Petenten im Einzelfall helfen.
Zum Beispiel erhofften sich zahlreiche Versicherungsnehmer und Bankkunden durch eine Petition die Klärung ihrer Auseinandersetzungen mit Versicherungsunternehmen und Kreditinstituten. Ich habe viele Fälle bearbeitet, bei denen die Unerfahrenheit oder auch die Gutgläubigkeit von Bankkunden böswillig ausgenutzt wurden. Leider hat der Bundestag in diesen Fällen keine Möglichkeit der direkten Einwirkung. Auf dem Kulanzweg ist es uns aber in manchen Fällen gelungen, zu einem Vergleich zu gelangen.
All diese Fälle zeigen jedoch deutlich: Hier besteht eine Gesetzeslücke. Auch Privatleuten müßte die Möglichkeit eines persönlichen Konkurses eröffnet werden. Ich glaube, dann wäre die Überschuldung gar nicht so groß geworden.
Erreichen konnte der Petitionsausschuß auch, daß die Krankenkasse die Kosten eines Kuraufenthaltes am Toten Meer übernommen hat. Das war nach dem Gesundheits-Reformgesetz an und für sich ausgeschlossen.
Auch im Rentenbereich gelang es dem Petitionsausschuß in Einzelfällen, die Bearbeitungszeiten zu verkürzen und eine Nachzahlung zu erreichen. In einem anderen Fall konnte die Nachentrichtung von Beiträgen ein Anrecht auf eine Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente bewirken.
Auch bei der Bewilligung von Umschulungsmaßnahmen und bei Höhergruppierungen in der Bundesverwaltung war der Petitionsausschuß erfolgreich.
Erfreulicherweise ließe sich diese Liste noch erheblich verlängern. Das war nur dank der guten Zusammenarbeit innerhalb des Ausschusses möglich. Wenn wir diese gute Zusammenarbeit und den festen Willen behalten, für den Petenten im Einzelfall etwas zu erreichen, dann hat sich unsere Arbeit gelohnt.

(Beifall im ganzen Hause)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203335800
Als nächste hat die Abgeordnete Frau Birgit Homburger das Wort.

Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1203335900
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht des Petitionsausschusses aus dem Jahre 1990 beweist einmal mehr, wie wichtig und wie richtig es von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes gewesen ist, das Petitionsrecht der Bürgerinnen und Bürger in Art. 17 des Grundgesetzes zu verankern. Damit ist der Petitionsausschuß neben dem Auswärtigen Ausschuß und dem Verteidigungsausschuß einer von drei Ausschüssen, die im Grundgesetz Erwähnung finden. Im Gegensatz zu den anderen Ausschüssen müssen diese drei Ausschüsse vom Deutschen Bundestag also immer eingesetzt werden.
Dies hebt noch einmal die Bedeutung hervor, die die Verfasser des Grundgesetzes dem Petitionsrecht beimaßen. Ich denke, wir tun gut daran, dem Petitionsausschuß diese hohe Wertschätzung auch heute noch — oder aber gerade heute — entgegenzubringen. Denn nach Vollendung der deutschen Einheit finden wir uns in einer Situation wieder, in der vieles noch im Umbruch ist, in der vieles, gerade in den neuen Bundesländern, verwaltungsmäßig noch im Aufbau ist. Das heißt: Wir finden uns in einer Situation



Birgit Homburger
wieder, in der vieles unvollkommener ist als sonst und damit Anlaß zu Eingaben an den Petitionsausschuß gibt.
Der Petitionsausschuß ist nicht etwa ein Überausschuß, wie das hier heute schon gesagt wurde, aber er ist — im Gegensatz zu den anderen Ausschüssen des Deutschen Bundestages — fachübergreifend tätig. Schließlich kommen Petitionen aus der Bevölkerung aus allen Sachbereichen, und damit hat sich der Bundestag zu befassen.
Die große Anzahl von Auskunftsersuchen, bloßen Mitteilungen und Meinungsäußerungen ohne materielles Verlangen, die an den Petitionsausschuß gerichtet sind, gibt Veranlassung, aus unserer Sicht auch an dieser Stelle erneut zu verdeutlichen, mit welchen Anliegen man sich an den Petitionsausschuß wenden kann:
Art. 17 des Grundgesetzes legt fest, daß jeder das Recht hat, „sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden" an den Bundestag zu wenden. Bitten sind dabei Forderungen und Vorschläge für ein Handeln oder Unterlassen der Verwaltung, insbesondere aber auch Vorschläge zur Gesetzgebung. Beschwerden dagegen sind Beanstandungen, die sich auf ein Handeln oder Unterlassen von staatlichen Organen, Behörden oder sonstigen Einrichtungen, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen, richten. Der Petitionsausschuß kann also nur im Falle von Bitten und Beschwerden tätig werden.
Ein Problem des Petitionsausschusses besteht nach wie vor darin, daß Ersuche des Bundestages in Form von Berücksichtungsbeschlüssen die Bundesregierung rechtlich nicht verpflichten können, dem Ersuchen zu entsprechen. So ist auch dem Bericht 1990 zu entnehmen, daß einigen Berücksichtigungs- und Erwägungsüberweisungen an die Bundesregierung im Berichtsjahr 1990 wieder nicht entsprochen wurde.
Insgesamt gesehen kann aber festgehalten werden, daß die Bundesregierung den Beschlüssen und Bitten des Bundestages in der überwiegenden Zahl der Fälle nachgekommen ist. So wurden im Berichtsjahr 1990 vom Bundestag 90 Petitionen zur Berücksichtigung und 85 zur Erwägung überwiesen. Hiervon wurden während des Berichtszeitraums 28 Berücksichtigungs- und 5 Erwägungsfälle positiv erledigt. In 5 Berücksichtigungs- und 17 Erwägungsfällen wurde dem Anliegen nicht entsprochen. In den weiteren Fällen ist noch nicht abschließend entschieden.
Dies zeigt nach Meinung der FDP, daß die Bundesregierung durchaus Respekt vor der Arbeit des Petitionsausschusses hat. Es zeigt aber auch, daß es nach wie vor verbesserungswürdig ist, in welcher Weise die Bundesregierung den Bitten und Ersuchen des Petitionsausschusses bzw. den daraus folgenden Beschlüssen des Bundestages nachkommt.
Dies ist von besonderer Bedeutung, da es sicherlich Eingaben an den Petitionsausschuß gibt, die nicht von großem öffentlichen Interesse sind. Gleichwohl sind sie für den Petenten von herausragender Bedeutung, und jede Bürgerin und jeder Bürger haben den Anspruch und das Recht, mit ihren persönlichen Nöten
und Sorgen vom Petitionsausschuß ernst genommen zu werden.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und der PDS/Linke Liste)

Wir sollten auch weiter, wie es bisher der Fall ist, deutlich machen, daß die Anliegen der Petenten unsere Anliegen sind. Indem wir das tun, ermuntern wir die Menschen, mit ihren Sorgen und Nöten zum Petitionsausschuß zu kommen. Dies ist nicht nur für den einzelnen in unserer Gesellschaft, sondern auch für unser Parlament von besonderer Bedeutung; denn die Eingaben der Bürgerinnen und Bürger sind ein Spiegel der Meinungen und Sorgen der Bevölkerung und können daher dem Parlament als Stimmungsbarometer dienen.
Einige Beispiele aus der Arbeit des Petitionsausschusses aus dem Jahr 1990 möchte ich erwähnen, zunächst einen Fall, bei dem es um die Förderung von Ersatzmethoden für Tierversuche ging.
Nach Auffassung der FDP gilt: Tiere sind Mitgeschöpfe des Menschen und schmerzempfindliche Lebewesen.

(Bernd Reuter [SPD]: Sehr wahr!)

Um dieser Tatsache gerecht zu werden, ist in den vergangenen Jahren schon eine Menge passiert: So wurde im Bürgerlichen Gesetzbuch die formale Gleichstellung von Tieren mit Sachen beseitigt und die Verantwortung des Eigentümers für sein Tier hervorgehoben. Darüber hinaus wurde das Tierschutzgesetz im Jahr 1986 novelliert. Dennoch ist damit die Problematik von Tierversuchen nicht erledigt. Vielmehr bedarf es zusätzlicher Anstrengungen, um Tierversuche weiter einzuschränken.
Die FDP will, daß nur medizinisch unvermeidbare Tierversuche durchgeführt werden. Daher begrüßen wir die Arbeit der Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu Tierversuchen. Für diese Institution waren, damit sie ihre Aufgabe wahrnehmen kann, 14 Planstellen vorgesehen. Inzwischen sollten diese Planstellen aber nicht mehr gewährt werden. Daher erfolgte eine Petition dahingehend, daß der Petitionsausschuß sich dafür einsetzen solle, diese 14 Planstellen zu schaffen, damit bei dieser Koordinationsstelle des Bundesgesundheitsamts noch einmal Erkenntnisse und Alternativen zu Tierversuchen nutzbar gemacht werden können.
Die vom Petitionsausschuß eingeholte Stellungnahme des Haushaltsausschusses ergab, daß bisher zehn Planstellen vorgesehen waren und der Haushaltsausschuß die vier weiteren Planstellen nicht für notwendig erachte. Der Petitionsausschuß schloß sich dieser Meinung nicht an und unterstützte die Forderung des Bundesgesundheitsamts auf Bewilligung der in der ursprünglichen Planung vorgesehenen 14 Stellen.
Nach einer Befragung der Bundesregierung bewilligte diese für das Haushaltsjahr 1991 vier weitere Planstellen. Das ist ein weiterer Erfolg im Engagement gegen unnötige Tierversuche, der durch den Peti-



Birgit Homburger
tionsausschuß erreicht wurde und der von der FDP sehr begrüßt wird.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Anlaß für eine weitere Petition war das nach wie vor durchgeführte sogenannte „Schärfen" von Jagdhunden an lebendem Wild. Hier wurde eine Änderung des Tierschutzgesetzes dahingehend gefordert, daß dies zu untersagen ist. Im Grundsatz darf zwar kein Tier auf ein anderes gehetzt werden; jedoch gilt dies nicht für die Grundsätze waidgerechter Jagdausübung. Diese Einschränkung sollte nach dem Wunsch der Petenten gestrichen werden.
Eine Anhörung der Verbände und des BML ergab, daß die Ausbildung von Jagdhunden an lebendem Wild gesetzlich nicht vorgeschrieben, sondern verbandsintern geregelt ist und sowohl in mehreren Bundesländern als auch in etlichen europäischen Ländern verboten ist.
Der Petitionsausschuß schloß sich dem Anliegen der Tierschützer an und überwies die Eingabe an die Bundesregierung. Eine Antwort von dort steht noch aus. Die FDP hofft, daß sie für die Petenten ausfällt.
Eine weitere Eingabe betraf Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Auch über dieses Thema wurde mehrmals diskutiert. Hier unterbreitete ein Petent Vorschläge zum Entwurf eines Gesetzes über die Strafbarkeit der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung in der Ehe. Die SPD hatte bereits in einem Gesetzentwurf vorgeschlagen, das Wort „außerehelich" zu streichen, damit das Gesetz auch in der Ehe zur Anwendung käme. Der Bundestag lehnte diesen Entwurf jedoch deshalb ab, weil er der Meinung war, es müsse eine konsequente Neuregelung dieser Vorschriften erfolgen, und es genüge nicht, das Wort „außerehelich" zu streichen.

(Widerspruch bei der SPD — Horst Peter [Kassel] [SPD]: Das haben Sie jetzt aber schöngeredet!)

— Wir können gern hinterher noch darüber diskutieren, welche Gründe zur Ablehnung geführt haben. Aber unserer Ansicht nach waren das die Gründe, mit denen es abgelehnt wurde.
Der Petitionsausschuß jedenfalls ersuchte die Bundesregierung daher, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Der Fachminister teilte dem Ausschuß mit, daß ein entsprechender Regierungsentwurf bisher nicht in die parlamentarischen Beratungen einbezogen werden konnte, da es hierbei Bedenken wegen der Auswirkungen des Vorhabens auf § 218a Abs. 2 Nr. 2 des Strafgesetzbuches gäbe.

(Zuruf von der SPD: Richtig, das war der Grund!)

Die FDP allerdings erwartet, daß ein Gesetz, das Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe stellt, nun schnellstmöglich dem Bundestag vorgelegt wird, und ich begrüße es, aus dem Justizministerium zu hören, ein solcher Entwurf sei in Vorbereitung.

(Beifall bei der FDP, der SPD, dem Bündnis 90/GRÜNE und der PDS/Linke Liste)

Eine weitere Eingabe befaßte sich mit einem Rentenanerkennungsverfahren. Hier geriet ein Petent durch die überlange Bearbeitungszeit seines Antrags auf Berufsunfähigkeitsrente in eine finanzielle Notlage. Dem Petitionsausschuß gelang es, durch Einschaltung des Bundesversicherungsamtes und anderer Stellen, das Verfahren zu beschleunigen, so daß dem Petenten eine Rente sowie eine größere Nachzahlung zuerkannt werden konnten. Dies ist ein Beispiel, wie ein Bürger ohne Verschulden in erhebliche Not geraten ist. Hier konnte der Petitionsausschuß erfolgreich helfen. Dieses Beispiel sollte meiner Meinung nach Aufmunterung für all jene sein, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben.

(Beifall bei der FDP, der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE)

Der Petitionsausschuß befaßte sich aber auch mit Petitionen aus dem Bereich des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation. So betraf eine Eingabe die neue Dienstbekleidung der Postbeamten.

(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Jetzt kommt die Satire!)

In dieser Petition ging es um die Verpflichtung zum ausschließlichen Tragen von neu eingeführter Postkleidung ab dem 1. Januar 1991. Der Petent fühlte sich in seiner freien Entfaltung gehindert, da er die von ihm zu einem Drittel mitfinanzierte alte Dienstkleidung nicht mehr nutzen könne und nun, nur um ein einheitliches Bild der Post herzustellen, mit neuen Anschaffungskosten belastet werde.

(Zuruf von der SPD: Lederhosen in Bayern!)

— Die können wir gern in Bayern einführen; vielleicht gibt es dazu eine Eingabe an den Petitionsausschuß.
Nach Auffassung des Petitionsausschusses sollte die Effizienz der Leistung der Post an erster Stelle stehen und geringfügig unterschiedliche Bekleidung nicht so sehr ins Gewicht fallen. Außerdem appellierte der Ausschuß an die Grundsätze der Sparsamkeit. Das Bundesministerium für Post und Telekommunikation hat daraufhin immerhin die Frist zum Auftragen der bisherigen Dienstkleidung bis zum 31. Dezember 1991 verlängert.

(Zuruf von der FDP: Wahnsinniger Fortschritt!)

— Ein Riesenfortschritt!
Die Kombination alter und neuer Dienstbekleidungsstücke wurde jedoch auf bestimmte Teile beschränkt. Aus unserer Sicht ist das nur ein Teilerfolg

(Manfred Richter [Bremerhaven] [FDP]: Nur der rechte Ärmel!)

— das kann ich nicht beurteilen; ich müßte es nachlesen, Herr Richter — , denn nach Auffassung der FDP ist die Post ein modernes Dienstleistungsunternehmen oder sollte es jedenfalls sein.

(Zuruf von der FDP: Sollte es sein! — Bernd Reuter [SPD]: Das letztere war richtig!)

— Einigen wir uns darauf: Sie sollte es sein.



Birgit Homburger
Dies wird allerdings nicht dadurch erreicht, daß einheitliche Uniformen getragen werden. Es scheint uns fraglich, ob dies überhaupt notwendig ist.
Ein weiterer Punkt, der die Post betraf, betraf Nebentätigkeiten von Postbediensteten im Versicherungswesen. In dieser Petition wird die Nebentätigkeit von Bediensteten der Bundespost als Vertrauensleuten für eine Postversicherung gerügt. Daneben werde auch das Datenschutzgesetz verletzt, da Daten von Auszubildenden an die Versicherung weitergegeben wurden.
Der Petitionsausschuß vertrat nach Prüfung der Angelegenheit die Ansicht, daß, selbst wenn die Versicherung als Selbsthilfeeinrichtung der Post anerkannt sei, die Post den Anschein vermeiden müsse, als würde sie die geschäftlichen Interessen dieser Einrichtung vertreten. Zur Adressenweitergabe vertrat der Ausschuß die Meinung, daß Berufsanfänger zumindest unterschwellig eine Verbindung zwischen Einstellung und Beitritt in die Versicherung herstellen könnten und es daher unerheblich sei, daß die Adressenweitergabe zulässig sei.
Im übrigen befand der Ausschuß, daß das Verständnis in der Bevölkerung für Beamte, die in ihrer Dienstzeit einer Nebentätigkeit nachgehen, nicht vorhanden sei.
Nach der Berücksichtigungsüberweisung teilte der Bundesminister für Post und Telekommunikation mit, daß die Vertrauensleute strengstens angewiesen worden sind, auf die Einhaltung der vorgegebenen Grenzen zu achten, um die Nebentätigkeit nur außerhalb der Dienstzeit und außerhalb von Diensträumen auszuüben. Ich denke, es ist nur recht und billig, daß der Bundesminister für Post und Telekommunikation dieser Forderung nachkam.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn die Mitglieder des Petitionsausschusses gelegentlich über den hohen Arbeitsaufwand stöhnen — wir haben das heute abend schon mehrfach gehört — und durch die Beschäftigung mit Einzelfällen teilweise sehr in Anspruch genommen werden, so bleibt, denke ich, zum Schluß zu sagen, daß der Petitionsausschuß ein gutes Beispiel aktiver Demokratie ist, der den Respekt aller im Parlament verdient.
Ich möchte abschließend noch einmal alle Bürgerinnen und Bürger, die in irgendeiner Weise Anliegen, die als Bitten oder Beschwerden zu bezeichnen sind, haben, ermuntern, sich an den Petitionsausschuß zu wenden. Denn so haben wir Gelegenheit, dem „Teufel im Detail" abzuhelfen.
Danke.

(Beifall im ganzen Hause)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203336000
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Dagmar Enkelmann.

Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1203336100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Rednerliste zu dieser Debatte spricht nicht gerade für ein Bemühen um Gleichstellung von weiblichen und männlichen Abgeordneten.

(Bernd Reuter [SPD]: Das ist richtig! Zu viele Frauen! — Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das können Sie uns nicht vorwerfen! — Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Frau Kollegin Dempwolf wird noch sprechen!)

Aber das nur als Einstieg.
Ich möchte zu Beginn meiner Rede ebenfalls die Gelegenheit nutzen, aus Anlaß der Debatte um den Jahresbericht des Petitionsausschusses den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes für ihre oftmals sehr mühevolle, aufwendige Arbeit Dank zu sagen. Ich möchte gleichfalls ein Wort über die sachliche, zumeist konstruktive Zusammenarbeit im Ausschuß selbst verlieren. Das hebt sich wohltuend von manchen Plenardebatten, die im Bundestag geführt werden, ab.

(Bernd Reuter [SPD]: Das ist wahr!).

Ich wünschte mir — ebenso wie mein Kollege Nolting — eine solche Sachlichkeit und einen solchen kulturvollen Umgang von Abgeordneten bei der gesamten Tätigkeit des Bundestages.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste, der CDU/ CSU, der FDP und der SPD — Bernd Reuter [SPD]: Dann würde es sich doch nicht mehr abheben!)

— Ich fasse das als Zustimmung auf.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Tolle Kombination: PDS und FDP)

Der Petitionsausschuß ist auf besondere Weise mit den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes verbunden. Das im Grundgesetz verankerte Petitionsrecht eröffnet ihnen die Möglichkeit, ihre Bitten, Beschwerden, ihre Sorgen und Probleme sozusagen auf höchster Ebene loszuwerden. Demzufolge werden große Erwartungen an die Arbeit des Ausschusses geknüpft.
Meine Erfahrung der letzten Monate ist, daß das vor allem auch auf Petenten aus den neuen Bundesländern zutrifft. In der ehemaligen DDR war, so vermerkt es der vorliegende Bericht, die „Eingabefreudigkeit ... bereits sehr hoch". Dabei haben die Bürgerinnen und Bürger zwei für sie bedeutsame Erfahrungen gemacht, die darin bestanden, daß die Wirksamkeit ihrer Eingaben entweder davon abhängig war, an welche Ebene der staatlichen Verwaltung diese gerichtet wurden, oder aber davon, wann die nächsten Wahlen stattfinden sollten.

(Martin Göttsching [CDU/CSU]: Was man so Wahlen nannte!)

Je näher dieser Termin lag, um so erfolgversprechender konnte eine Eingabe sein.
Nach dem Anschluß der DDR an die Bundesrepublik

(Martin Göttsching [CDU/CSU]: Das war kein Anschluß! — Steffen Kampeter [CDU/ CSU]: Das war eine friedliche Revolution!)

ist die Anzahl der Petitionen aus den neuen Bundesländern drastisch angestiegen. Ihr Anteil, gemessen an den Einwohnerzahlen, liegt heute deutlich über dem der alten Bundesländer. Diese Zunahme hat meines Erachtens mehrere Ursachen. Sie liegen sowohl in einer großen Unsicherheit vieler Bürgerinnen und



Dr. Dagmar Enkelmann
Bürger im Umgang mit den neuen Gesetzlichkeiten, den Behörden, den Zuständigkeiten usw. als auch in den zahlreichen im Einigungsvertrag unzureichend gelösten Problemen begründet.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Oftmals haben sich die Bürgerinnen und Bürger vor dem Einschalten des Petitionsausschusses des Bundestages bereits an andere staatliche Stellen oder parlamentarische Organe gewandt und dort entweder kein Gehör oder keine Abhilfe gefunden. Nach meinem Verständnis zeugen viele Petitionen von zwei sich nur scheinbar widersprechenden Erscheinungen: Sie zeugen von gewachsener Mündigkeit der Bürger gegenüber dem Staat und von wachsender Müdigkeit oder auch Verdrossenheit dem Staat gegenüber.
Der Inhalt der Petitionen und die Stellungnahmen von betroffenen Behörden und Ämtern zeugen sehr oft von bürokratischem, engherzigem Handeln. Sie zeugen auch von dem Gefühl der Ohnmacht gegenüber einer allmächtigen Bürokratie und Staatsmaschinerie. Oftmals scheint der Petitionsausschuß die letzte Rettung zu sein,

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Na, na! — Zuruf von der CDU/CSU: Die letzte Instanz!)

eine Hoffnung, die aber eben leider nur selten erfüllt werden kann.
In diesem Zusammenhang ist es untragbar, wenn in einigen Stellungnahmen derer, über die Beschwerde geführt wird, Beklagte zu Klägern werden; Kollege Peter hat bereits auf Beispiele dafür hingewiesen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ein Beispiel!)

Wünschenswert wäre auch eine generelle unabhängige Begutachtung, die nicht nur rechtliche, sondern auch soziale, ethisch-moralische, einfach menschliche Aspekte des konkreten Einzelfalls berücksichtigen würde, also die Frage des Härtefalls.
Meiner Auffassung nach sind aber gerade die Petitionen aus den neuen Bundesländern nicht selten ein Anzeiger dafür, daß manches, was in der Regierung bzw. im Bundestag quasi am grünen Tisch entschieden wurde, praktisch nicht funktionieren kann. Sie belegen in bezug auf eine Reihe von Kernproblemen die Inkompetenz und die fehlende Sachkenntnis dieser Bundesregierung.

(Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Genau!)

Oder sollte ich besser sagen: Sie sprechen für die fehlende Bereitschaft der Bundesregierung, die tatsächlichen Probleme in den neuen Bundesländern zur Kenntnis zu nehmen?

(Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört!)

Das betrifft meines Erachtens insbesondere Petitionen, deren Inhalt sich auf die Regelung offener Vermögensfragen, die Sicherung der medizinischen Versorgung, die Rehabilitierung und das Rentenrecht beziehen. Hier ist die Bundesregierung gefordert, konsequent und schnell zu reagieren. Das wird aber wohl auch in Zukunft eine Illusion bleiben, stellt doch selbst der vorliegende Bericht fest — ich zitiere —:
... daß die Bundesregierung im Berichtsjahr 1990 wiederum in einer Reihe von Fällen Berücksichtigungsbeschlüssen des Bundestages nicht oder nicht im vollen Umfang gefolgt ist, obwohl diese Beschlüsse das Ersuchen des Bundestages beinhalten, für Abhilfe zu sorgen.
Was in diesem Bericht da so harmlos klingt, heißt im Klartext, daß 1990 z. B. von 90 Petitionen, die der Regierung zur Berücksichtigung überwiesen wurden, lediglich 28 positiv erledigt wurden. Hier muß sich die Bundesregierung fragen lassen: Wie ernst nimmt sie eigentlich die Beschlüsse des Bundestages, wie ernst nimmt sie die Abgeordneten dieses Hohen Hauses, wie ernst nimmt sie vor allem die Bitten und Beschwerden der Bürgerinnen und Bürger?
Der Bericht macht deutlich, daß verstärkt darüber nachgedacht werden sollte, wie eine höhere Verbindlichkeit erreicht werden kann, daß also Berücksichtigungsbeschlüsse des Bundestages eben auch Berücksichtigung durch die Regierung erfahren müssen. Petitionsausschuß und Bundestag sollten ihr Kontrollrecht gegenüber der Regierung mit mehr Nachdruck und Konsequenz wahrnehmen.
Abschließend noch einige Bemerkungen aus aktuellem Anlaß. Am Freitag wird der Bundestag in zweiter und dritter Lesung das Rentenüberleitungsgesetz beraten. Gegen diesen Entwurf sind bereits eine Reihe von Petitionen und Unterschriftensammlungen, u. a. der Brandenburgischen Rentnerinitiative, eingegangen. Ihre Anliegen sollten vor der Entscheidung — —

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203336200
Frau Abgeordnete Enkelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Nolting?

Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1203336300
Ich habe noch einen letzten Satz, und den würde ich gern zu Ende führen.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203336400
Aber dann.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Aber dann darf ich die Frage stellen!)


Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1203336500
Die Anliegen dieser Petitionen, dieser Unterschriftensammlungen sollten vor der Entscheidung sorgfältig geprüft und in die nötige Sachkompetenz einbezogen werden. Das jedenfalls würde dem Petitionsausschuß viel Arbeit im nachhinein ersparen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)

Jetzt dürfen Sie.

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1203336600
Frau Kollegin, Sie haben gerade in Zweifel gezogen, daß die Bundesregierung die Voten des Petitionsausschusses berücksichtigt. Darf ich Sie fragen: Wie hat denn die SED-Regierung die Beschlüsse der Volkskammer berücksichtigt? Dies auch vor dem Hintergrund, daß Sie seit 1977 Mitglied der SED sind.

Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1203336700
Das Thema dieser Debatte ist der Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 1990, und zu dem habe ich hier



Dr. Dagmar Enkelmann
gesprochen. Ich habe mich ansonsten zu dem „Eingabenunwesen" in der DDR geäußert, und das sollte genügen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wenn Sie hier moralisieren, sollten Sie auch darauf zurückkommen!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1203336800
Als nächster hat das Wort die Abgeordnete Gertrud Dempwolf.

Gertrud Dempwolf (CDU):
Rede ID: ID1203336900
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie sehr die Bundesregierung den Petitionsausschuß ernst nimmt, ersehen wir heute an der gut gefüllten Regierungsbank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Und wenn ich sehe, daß bis vor einer Minute — Kollege Grünewald geht gerade — zwei Mitglieder des Petitionsausschusses hier zwei Stunden auf der Regierungsbank gesessen haben, dann kann ich nur sagen: Das ist für uns sehr erfreulich, und: Meine Damen und Herren der Koalition, lassen Sie uns im Petitionsausschuß weiterarbeiten; der Weg ist nicht so sehr weit.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD — Günther Friedrich Nolting [FDP]: Da braucht die SPD gar nicht zu klatschen! Da kommt ihr nie hin! — Gegenruf des Abg. Bernd Reuter [SPD]: Ihr wollt immer dabei sein!)

Über die große Anzahl von Eingaben an den Petitionsausschuß möchte ich jetzt nicht mehr im einzelnen sprechen, aber vielleicht nur noch ein Bild: Wenn wir heute täglich 160 Eingaben an den Petitionsausschuß bekommen, dann sehen wir, wie weise die Verfasser unseres Grundgesetzes gehandelt haben, als sie das Petitionsrecht der Bürger in Art. 17 verankerten. Wie sehr politisches Handeln in das Leben hineinreicht, sehen wir auch an den Eingaben an den Petitionsausschuß.
Wir beklagen darum auch nicht, daß die Anzahl der Petitionen weiterhin zugenommen hat. Es ist gut zu sehen, daß unsere Bürger um ihr Recht wissen und davon selbstverständlich Gebrauch machen. Sie wissen auch, daß sie nicht Bittsteller sind, sondern daß sie ein selbstverständliches Recht in Anspruch nehmen. So erfahren wir Abgeordnete des Petitonsausschusses täglich auf beeindruckende Weise, wo den Bürger der Schuh drückt. Die Petitionen zeigen uns die Lücken, die wir im Gesetz noch zu schließen haben.
Ohne die engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschußdienstes aber könnten wir diese schwierige Arbeit nicht leisten. Darum möchte ich von dieser Stelle aus dem Ausschußdienst und dem Büro ganz herzlich danken.

(Beifall im ganzen Hause)

Wieder einmal betrafen 26 % der Eingaben den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Helfen konnte der Petitionsausschuß zum Beispiel einem Petenten, dessen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte mit der Begründung abgelehnt worden war, daß die erforderlichen Beitragszeiten nicht erfüllt seien. Der Ausschuß hat sich ausführlich mit dieser Petition befaßt. Wir konnten nachweisen, daß eine Ausfallzeit wegen Arbeitslosigkeit nicht angerechnet wurde. Dennoch verweigerte die BfA zunächst die Rentenzahlung, weil dem Petenten Rehabilitationsmaßnahmen bewilligt worden waren, er aber die Durchführung ablehnte. Der Ausschuß ließ nicht locker und veranlaßte eine nochmalige Überprüfung, bis schließlich die BfA auf die Durchführung der Rehabilitationsmaßnahmen verzichtete und dem Petenten die Erwerbsunfähigkeitsrente zubilligte. Der Nachzahlungsbetrag war_ eine fünfstellige Zahl. Ich meine, auch das ist eine Hilfe im Einzelfall.
Ich möchte hervorheben, daß der Petitionsausschuß nicht nur der vielzitierte Kummerkasten der Nation ist, sondern daß wir uns alle gemeinsam in erster Linie als Anwalt der Bürger verstehen.

(Beifall im ganzen Hause)

Wenn es auch im Ausschuß unterschiedliche Meinungen gibt und das im Einzelfall zu heftigen Sachauseinandersetzungen führt, so suchen wir doch immer einen vernünftigen gemeinsamen Weg, um dem Petenten bei seinem Anliegen zu helfen. Ich erinnere hier noch einmal an den Fall der Schädigung durch Dioxin, den wir so gut zum Abschluß gebracht haben. Da muß ich sagen: Herr Peter, Sie hatten da sehr lange die richtige Nase.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Er ließ nicht locker, und er hat mich dann auch immer wieder überzeugt.

(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Das war die sogenannte Dioxinnase!)

Es gibt sehr viele Petitionen, die wir zu einem guten Abschluß gebracht haben. Über Erfolge spricht man zwar gerne, aber es liegt mir sehr am Herzen, eine Petition zu erwähnen, die uns im letzten Jahr erreichte und die wir noch nicht abgeschlossen haben. Sie betrifft den Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz und bezieht sich auf die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruches. Es geht um einen Petenten, der im Jahre 1949 am Kopf operiert wurde. Nach dieser Operation stellte sich ein Anfallsleiden mit Schwerstbehinderung ein. Erst 1986 konnte auf Grund von medizinischen Untersuchungen ein ärztlicher Fehler, eine bei der Operation vergessene Tamponade — versteinert — , aufgedeckt werden. Es ist zu spät, um Schadensersatzansprüche zu stellen; denn die Verjährung trat 30 Jahre nach der Operation, also bereits 1979, ein.

( V o r s i t z : Vizepräsident Hans Klein)

Es fällt mir sehr schwer, diesen Fall zu akzeptieren. Daß die Verjährungsfrist auch dann gilt, wenn der Verletzte keine Kenntnis von der schädigenden Handlung hatte und deswegen keinen Schadensersatzanspruch stellen konnte, läßt mich nicht ruhen. Wegen der Tragik dieses Falles bemüht sich der Petitionsausschuß auf allen nur möglichen Wegen, wenigstens eine finanzielle Unterstützung für den Petenten



Gertrud Dempwolf
zu bekommen. Der Petent lebt bei seinem Bruder und von der Sozialhilfe mit dem niedrigsten Satz.
Unsere Bemühungen sind noch nicht abgeschlossen. Aber wir suchen noch nach weiteren Lösungen, damit dieser Mann einen Ausgleich für verlorene Gesundheit und für verlorenes Lebensglück bekommt. Ich weiß, daß das sehr schwer ist, aber ich wünschte mir, es käme ein guter Rat aus unserem Kreis.
Ich danke Ihnen.

(Beifall im ganzen Hause)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203337000
Das Wort hat der Abgeordnete Bernd Reuter.

Bernd Reuter (SPD):
Rede ID: ID1203337100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie wir in dieser Aussprache schon einige Male zur Kenntnis genommen haben, hat sich die Tätigkeit des Petitionsausschusses im Jahre 1990 erheblich ausgeweitet, vor allem auch durch eine Vielzahl von Petitionen aus den östlichen Bundesländern. Dies reflektiert vor allem die großen sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Menschen in der ehemaligen DDR. Wir stellen allerdings auch hier vielfach überhöhte Erwartungen an die Regelungskompetenz des Petitionsausschusses fest.
Bei der Diskussion des Jahresberichts des Petitionsausschusses kann natürlich nicht nur Positives zur Sprache kommen. In einigen Fällen ist auch Kritik an der Bundesregierung angebracht, die unser Vorsitzender schon in so hervorragender Weise formuliert hat. Es gibt Entscheidungen des Petitionsausschusses, die die Bundesregierung nicht beachtet hat.
Ich will Ihnen, meine Damen und Herren, dazu ein Beispiel vortragen. Da schreibt ein Minister am Schluß seiner Aussage zu einer Petition, die wir zur Berücksichtigung überwiesen hatten:
Nach allem komme ich zu dem Ergebnis, die der Bundesregierung vom Deutschen Bundestag überwiesene Petition auf Grund der dargestellten Rechtslage nicht berücksichtigen zu können. Ich bedaure, dem Wunsch des Bundestags nach einem anderen Ergebnis nicht entsprechen zu können, sehe mich aber durch das Gesetz zu dieser Entscheidung gezwungen.
Meine Damen und Herren von der Regierung, das wußte der Petent auch, sonst hätte er keine Petition eingereicht. Sein Begehren war doch, sich hilfesuchend an den Bundestag zu wenden und zu sagen: Hier ist Handlungsbedarf.
Der Petitionsausschuß sagt in seinen Beratungen: Jawohl, wir sehen das auch so; die Bundesregierung möge das berücksichtigen. Die Bundesregierung stellt dann fest: Die Rechtslage steht dem entgegen. Das wußten alle. Ich hätte gerne von der Bundesregierung, daß sie die Entscheidungen des Petitionsausschusses in Zukunft etwas ernster nimmt, als das in der Vergangenheit geschehen ist.
Ich will auch hinzufügen, daß Entscheidungen des Petitionsausschusses auch solche des Deutschen Bundestages sind. Sie sollten für die Regierung eigentlich schon aus diesem Grunde beachtenswert sein.
Auch in diesem Berichtszeitraum gab es eine große Anzahl von Fällen, in denen die Petitionen der Bundesregierung zur Berücksichtigung oder zur Erwägung überwiesen worden waren, aber nicht im Sinne des Petitionsausschusses erledigt wurden.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203337200
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Göhner?

Dr. Reinhard Göhner (CDU):
Rede ID: ID1203337300
Verehrter und hochgeschätzter Kollege Reuter, würden Sie mir darin zustimmen, daß auch bei einem Beschluß des Petitionsausschusses und des Bundestages die Bundesregierung als Exekutive gleichwohl an die Gesetze gebunden bleibt, so daß dann, wenn der Bundestag die Regierung zu einem bestimmten Verhalten aufgefordert hat, dieses Verhalten aber ohne eine Gesetzesänderung nicht möglich ist, nur der Bundestag selbst dem Petitum der Petition durch eine Gesetzesänderung entsprechen kann?

Bernd Reuter (SPD):
Rede ID: ID1203337400
So wie ich die Praxis unserer Arbeit kenne, Herr Kollege Dr. Göhner, ist es richtig, daß die Regierung an das Gesetz gebunden ist. Es wäre noch schöner als schön, wenn die Regierung machen könnte, was sie wollte!

(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Na eben!)

Das ist vollkommen klar.
Wenn aber Handlungsbedarf aus einer Petition erwächst, weil ein Mensch erklärt und uns darlegt, daß das Gesetz eine Lücke, keine Härteregelung oder etwas ähnliches hat, dann kann ich doch von einem ausgewachsenen Minister, der noch dazu Professor ist, erwarten, daß er uns sagt: Wir sehen das ein; wir werden bei der nächsten Novelle des Gesetzes darangehen, diesen Mangel zu beheben. — Darum geht es im wesentlichen.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste, beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Dr. Göhner, Sie kennen mich schon lange, und ich kenne Sie auch. Natürlich will ich der Regierung nicht einfach Schuld zuweisen; denn es gibt vielfach Petitionen, wo der Bundestag selber, die Fraktionen Handlungsbedarf erkennen müßten und selber handeln müßten. Das will ich Ihnen gerne zugestehen.
Meine Damen und Herren, es ist aus meiner Sicht nicht hinnehmbar, daß manche Petitionen nur deshalb über mehrere Jahre laufen, weil die Stellungnahmen nicht fristgerecht abgegeben wurden. Ich will deshalb einmal ganz nachhaltig Kritik an den Ministerien und Bundesbehörden üben, die sich über Gebühr lange Zeit lassen, wenn sie um Stellungnahmen zu Petitionen gebeten werden.
Erfreulich — auch das ist heute abend schon einige Male angeklungen — ist die Tatsache, daß im Petitionsausschuß im Interesse der hilfesuchenden Menschen sehr oft parteiübergreifende Entscheidungen fallen. Es soll allerdings auch nicht verschwiegen werden, daß es durchaus strittige Themen gibt, die kontrovers diskutiert werden und diskutiert werden müssen.



Bernd Reuter
In diesem Zusammenhang möchte ich einmal auch das Problem der Massenpetitionen ansprechen. Ein Beispiel hierfür sind die Auseinandersetzungen um die Reaktivierung des US-Flughafens Wiesbaden-Erbenheim für Kampfhubschrauber oder auch die Stationierung von Hubschraubern in Büdingen in Hessen gewesen. Hier haben von Lärmbelästigungen betroffene Menschen ein Problem an den Petitionsausschuß herangetragen, das auch unter den Parteien und Fraktionen kontrovers diskutiert wurde.
Vor allem aus dem Naturschutz- und Umweltbereich werden gelegentlich Petitionen eingereicht, die einige tausend Unterschriften tragen. Ich meine, meine Damen und Herren, auch wenn solche Zahlen beeindruckend sind, darf eine Petition mit nur einer Unterschrift aus meiner Sicht nicht weniger ernst genommen werden.

(Beifall im ganzen Hause)

Auch im zurückliegenden Jahr wurde bei strittigen Entscheidungen im Ausschuß § 112 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages von der Opposition in Anspruch genommen. Er bietet nämlich die Möglichkeit, strittige Entscheidungen des Ausschusses im Plenum des Deutschen Bundestages zu diskutieren und unterschiedliche Auffassungen vor einer breiteren Öffentlichkeit darzustellen.
Ich will hier nicht nur kritisieren, sondern auch den Behörden ein hohes Lob aussprechen, die kooperativ und hilfsbereit nach menschlichen Lösungen suchen und sich nicht allein an den Wortlaut des Gesetzes klammern. Hier denke ich z. B. an Leiter von Kreiswehrersatzämtern, deren menschliche und hilfsbereite Zusammenarbeit oft in krassem Gegensatz zum Verhalten des Bundesverteidigungsministeriums steht.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Jawohl! Das ist wirklich wahr!)

Ich will hier gerne einmal ein Beispiel vortragen, bei dem ein Arzt der Allgemeinmedizin, der einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung eingereicht hatte, kurz darauf die Einberufung zu einer einwöchigen Wehrübung erhielt. Dieser Arzt mit einer großen Praxis, der noch dazu seinen Vater postoperativ versorgen mußte, wurde gezwungen, die Wehrübung abzuleisten, da nach der Ablehnung seines Zurückstellungsantrages auch seine Petition an den Deutschen Bundestag erfolglos blieb.
Meine Damen und Herren, mir will einfach nicht einleuchten, daß in der jetzigen Entspannungssituation, in der die Bundeswehr erheblich reduziert werden soll, ein Arzt seine Patienten für eine Woche im Stich lassen muß, um an einer Wehrübung teilzunehmen. Dieses stupide Festhalten an einmal getroffenen Beschlüssen demonstriert die sture Betonkopfmentalität der Hardthöhe auf eindrucksvolle Art und Weise.
Ich appelliere deshalb an die Bundesregierung wie an die Ministerien, daß bei Vorlagen des Petitionsausschusses nicht im praktischen Verwaltungshandeln irreversible Fakten geschaffen werden, die das Petitionsrecht ad absurdum führen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Besonders prägnante Fälle gibt es z. B. beim Straßenbau und beim Ausländerrecht. Gerade das neue Ausländerrecht — der Kollege Konrad Weiß hat darauf hingewiesen — birgt große Gefahren durch seine Möglichkeiten zur sofortigen Abschiebung, wenn eine Anerkennung als Asylant verweigert wird. Wenn uns hierzu dann eine Petition vorgelegt wird, kann sie nicht mehr greifen, weil sich der Betroffene möglicherweise bereits außer Landes befindet und bei einem eventuellen positiven Ausgang der Petition auch nicht mehr in das Land einreisen kann, weil er keinen Sichtvermerk erhält.
Der Bundesminister des Innern sollte seine diesbezügliche Anweisung an die Innenminister und Senatoren der Länder zur Auslegung des § 55 Abs. 4 des Ausländergesetzes vom Februar dieses Jahres noch einmal überdenken. Durch Anweisungen dieser Art besteht nämlich die große Gefahr, daß unser Petitionsrecht ausgehöhlt wird. Es kann nicht angehen, daß laufende Petitionen durch Maßnahmen von Ministerien abgewürgt werden. Beim Gesetzesvollzug im Ausländerrecht ist zudem in besonderem Maße auf ein enges Zusammenwirken zwischen Bundestags- und Landtagspetitionsausschüssen zu achten.
Als Fazit stelle ich fest, daß sich am Petitionswesen am eindeutigsten die Fehlentwicklungen der Politik widerspiegeln. Zwar ist der Petitionsausschuß kein Überausschuß, der andere bevormunden könnte. Er ist vielmehr auf die Kompetenz der anderen Fachausschüsse angewiesen. Nicht selten ist er jedoch die letzte Anlaufstelle für Menschen, die in Not geraten sind.
Ich will am Schluß meiner Ausführungen gerne noch hervorheben, daß wir in diesem Ausschuß relativ kollegial zusammenarbeiten.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Was heißt denn „relativ"?)

Ich will natürlich nicht so weit gehen, das auch für andere Ausschüsse zu empfehlen, weil wir uns sonst nicht mehr von anderen Ausschüssen abheben können.

(Heiterkeit)

Frau Dempwolf hat dankenswerterweise den Sprecher unserer Fraktion, Horst Peter, hier genannt, der bei dem Dioxinfall wirklich bohrend war, um Erfolge zu erzielen. Er war aber noch woanders bohrend, nämlich bei dem behindertengerechten Ausbau des Bahnhofs Wilhelmshöhe in Kassel. Es wurden auch für die Behinderten Aufzüge eingebaut, die heute in Kassel unter dem Namen „Peternoster" ihren Eingang gefunden haben.

(Heiterkeit)

Meine Damen und Herren, unserem Vorsitzenden, Herrn Gero Pfennig, danke ich nicht für seine akrobatische Art, wie er die Dinge hier regelt, sondern für seine sachliche und effiziente Arbeit. Er ist stets ein kollegialer und pünktlicher Vorsitzender, der die Arbeit des Ausschusses auf vorbildliche Art und Weise organisiert und sich — wie hier schon mehrfach erwähnt — um Konsens bemüht. Minderheitenmeinungen fallen im Petitionsausschuß nicht zwangsläufig unter den Tisch.



Bernd Reuter
Wir müssen — das will ich am Schluß noch sagen — mittelfristig mit einem weiteren erhöhten Eingang von Petitionen rechnen. Daher richte ich abschließend meine Bitte an die Präsidentin und die zuständigen Stellen, hierfür die personellen Voraussetzungen zu schaffen.
Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die im Ausschuß in so hervorragender Art und Weise mitgewirkt haben, und bin überzeugt davon, daß wir auch in der vor uns liegenden Zeit im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger dort etwas Vernünftiges leisten können.
Schönen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203337500
Herr Kollege Steffen Kampeter, bevor ich Ihnen das Wort gebe, kann ich folgende Bemerkung einfach nicht unterdrücken: Ich wünsche mir, daß diese interfraktionelle Tonlage der Debatte über die Petitionen gewisse Beispielkraft auf unsere morgige Diskussion hat.

(Heiterkeit — Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Kollege Kampeter, bitte.

Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1203337600
Herzlichen Dank. — Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erst einmal will ich — es ist eine schwierige Aufgabe, am Ende einer zweistündigen Debatte noch etwas wesentlich Neues beizutragen — denjenigen Kolleginnen und Kollegen danken, die, statt den zahlreichen Einladungen zu Sommerfesten gefolgt zu sein, dieser Debatte folgen.
Zweitens. Wir haben gerade im letzten Beitrag viel Kritik an der Bundesregierung und an ihrem Verhalten gehört. Wenn ich mir die Präsenzquote auf der Regierungsbank angucke und mit der Präsenzquote der Parlamentarier vergleiche, muß ich in diesem Falle feststellen: i : 0 für die Bundesregierung.

(Beifall im ganzen Hause)

Rund 16 000 Eingaben im vergangenen Jahr an den Petitionsausschuß haben gezeigt, wie wichtig die Bürgerinnen und Bürger dieses grundgesetzlich garantierte Recht schätzen. Es ist davon auszugehen, daß wir in diesem Jahr die Schallmauer von 20 000 Eingaben an den Petitionsausschuß deutlich übersteigen werden.
An dieser Stelle ist daher nicht nur den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Petitionsausschusses zu danken; vielmehr müssen wir vor allen Dingen auch den Petenten dafür danken, daß sie von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, oftmals Finger in Wunden gelegt haben, die wir noch nicht erkannt hatten, und so uns Parlamentariern neue Wirklichkeiten eröffnet haben, die dazu beitragen sollten und dazu beigetragen haben, daß wir in Zukunft staatliches Handeln etwas bürgernäher gestalten werden. Die erfreuliche Vielzahl der Petitionen ist ein Beleg für die Lebendigkeit dieses Verfassungsrechts.
In welchem Maße die Bürger der Institution Petitionsausschuß Vertrauen schenken, wird wesentlich dadurch bestimmt, wie entschlossen wir als Petitionsausschuß bei einem erkannten Mißstand Abhilfe
schaffen. Der Bericht führt aus, daß im Jahre 1990 90 Petitionen zur Berücksichtigung und 85 Petitionen zur Erwägung überwiesen wurden. 33mal wurde dem Anliegen entsprochen. In 22 Fällen geschah dies nicht.
Es ist aus meiner Sicht festzustellen, daß zum einen die Geschwindigkeit, mit der die Regierung unsere Voten bearbeitet, verbessert werden könnte. Hier ist verschiedentlich schon auf diesen Aspekt verwiesen worden.
Zum anderen ist in einer nicht geringen Anzahl dem Votum des Ausschusses nicht gefolgt worden. Klar ist: Wir können die Bundesregierung nicht zu einer bestimmten Handlung verpflichten; aber — so führt der Bericht aus, die Verfassungsorgane sollten auf Grund des gegenseitigen Respekts dem Art. 17 eine entsprechende Wertschätzung entgegenbringen. Also sollte
die Bundesregierung die Voten des Ausschusses entsprechend würdigen.
Herr Kollege Weiß hat hier darauf hingewiesen, daß wir die Voten manchmal im Schnellverfahren in den Ausschüssen beraten. Herr Weiß, ich weise darauf hin, daß sich die Intensität, mit der ein Anliegen behandelt wird, nicht unbedingt in der Länge der Ausschußberatung niederschlägt; die Arbeit muß vielmehr im vorhinein gemacht worden sein. Von daher halte ich das, was die Intensität der Behandlung der Bürgeranliegen angeht, für einen schlechten Indikator.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Lassen Sie mich auf eine in diesem Bericht ausgewiesene Neuerung hinweisen. Wir haben im Berichtszeitraum erstmals mit dem Bundesrechnungshof direkt zusammengearbeitet. Von zwei Petenten wurde die nicht sachgerechte Verwendung öffentlicher Mittel beklagt. Das betroffene Ministerium hat zwar in dem einen Fall wiederholt die Zweck- und Rechtmäßigkeit der Ausgabe betont. Die Überprüfung durch den Rechnungshof hat aber in die Bemerkungen dieser Behörde Eingang gefunden.
Für mich ist es höchst erfreulich, wenn Bürger — neben der Klage über eine finanzielle Benachteiligung — uns als Staat auf die Finger klopfen, gefälligst sachgerecht mit ihrem Geld umzugehen. Es ist sicherlich richtig, daß der Rechnungshof und der Petitionsausschuß unterschiedliche Aufgaben haben. Aber die Kooperation zwischen diesen beiden Institutionen sollte zukünftig sicher fortgesetzt werden. Ich empfinde es nämlich als einen interessanten Aspekt, wenn wir im Bereich der öffentlichen Verwaltung dazu beitragen könnten, das Gebot der Sparsamkeit stärker zu beachten. Die öffentliche Berichterstattung über einen solchen Vorfall hat schon viel Heilsames bewirkt.
Meine Vorredner haben hier von zahlreichen Einzelpetitionen berichtet. Ich möchte daher nochmals auf den Bereich Massenpetitionen eingehen. Die Petition mit der größten Anzahl von Unterschriften beschäftigte sich mit der Situation bei den Fluorchlorkohlenwasserstoffen, einem der gefährlichsten Klimakiller mit verdeckter Langzeitwirkung. Sie wurde von knapp 320 000 Bürgern unterzeichnet und auf Initiative des Petitionsausschusses den Fraktionen zur



Steffen Kampeter
Kenntnis gegeben. Neben anderen parlamentarischen Anstößen, z. B. aus der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre", hat diese Petition wesentlich dazu beigetragen, daß die Bundesrepublik Mitte der 90er Jahre als erstes Land in Europa fluorchlorkohlenwasserstofffrei ist.
Unsere Verordnung hat hohe Aufmerksamkeit erregt. So hat die bundesdeutsche Vorreiterrolle anläßlich der letzten Konferenz zum Montrealer Protokoll eine hohe Anerkennung der Position der Bundesregierung auch bei den Umweltschutzverbänden erfahren. Länder wie die Schweiz und Österreich werden in dieser Frage der bundesdeutschen Position folgen.
Die 320 000 Bürger — sicherlich ist eine Petition so wichtig wie die andere; aber 320 000 ist eine beachtenswerte Zahl — haben mit dazu beigetragen, daß die Klimaproblematik in der 12. Legislaturperiode wieder Gegenstand der parlamentarischen Beratung geworden ist.
Wir haben einen Arbeitsauftrag zur erneuten Einsetzung einer Klima-Enquete erteilt. Sie wird ihre Arbeit nach der Sommerpause aufnehmen. Sie hat den Auftrag, die Zusammenhänge zwischen Treibhauseffekt und Klimaänderung und mögliche Auswirkungen der weltweiten Klimaänderungen zu untersuchen. An diesem Beispiel läßt sich zeigen, daß mit Petitionen auch aktuelle Diskussionspunkte aus der Bevölkerung in die parlamentarische Beratung hineingetragen werden. Die Anliegen der Petenten lassen sich zwar, wie ich ausdrücklich betone, nicht immer vollständig umsetzen, aber sie werden von uns als wichtige Diskussionsbeiträge aus der Bevölkerung interpretiert.
Dies trifft beispielsweise auch auf die Petitionen zur Kfz-Steuer zu. Wir haben die Umgestaltung hin zu einer ökologieorientierten Kfz-Steuer vorbereitet.
Lassen Sie mich abschließend auf eine Dreistigkeit, verkleidet in Form einer Petition, hinweisen. Deutsche Bewohner einer Einrichtung in Chile — Ihnen wohl am besten unter dem Namen „Colonia Dignidad" bekannt — haben sich über das Auswärtige Amt und die Botschaft in Chile beschwert. Dieser Institution wurde vorgeworfen, ihre Bewohner zu verleumden und zu diskriminieren. Obwohl zahlreiche Indizien diese Anschuldigungen als absurd erscheinen lassen mußten, beabsichtigte der Petitionsausschuß, dem Begehren nachzugehen und vor Ort zu ermitteln. Die Colonia Dignidad lehnte dies ab. Der Vorwurf konnte nicht geklärt werden, da unser Verfassungsorgan in Chile nicht ermitteln konnte.
Heute gehört die chilenische Diktatur der Vergangenheit an. Die Gegenwart wird von dem seit langem erstmals wieder demokratisch gewählten Präsidenten Aylwin gestaltet.

(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Sie können ja jetzt den Ortstermin machen!)

— Herr Kollege Göhner, Sie müßten gelegentlich auch einmal zuhören. Das Verfahren ist ja im Gange; wir sind ja dabei, die Geschichte einmal zu machen. —

(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Der gewachsene internationale Druck auf die jetzt demokratisch legitimierte chilenische Regierung führte dazu, daß der christdemokratische Präsident dem Treiben der Kolonie nach seiner Amtsübernahme ein Ende bereitete, indem er ihr die Rechtspersönlichkeit entzog.
Was dann an die Öffenlichkeit kam, zeigte, daß die Petition eine an Dreistigkeit kaum zu überbietende Verdrehung der Tatsachen darstellte. Die Kolonie hatte nach den jetzt vorliegenden Berichten beispielsweise das Zollprivileg dazu mißbraucht, Güter für den Verkauf in Chile einzuführen, darunter Presseberichten zufolge auch ein Fahrzeug für den Diktator Pinochet. Dies mag Anlaß gewesen sein, daß Pinochetnahe Kräfte die Verfassungskonformität dieses Dekrets vor dem Verfassungsgericht bestritten haben. Kurz vor dieser Debatte habe ich die Information aus Chile bekommen, daß die Klage abgewiesen wurde und das Dekret verfassungskonform ist. Ich glaube, daß damit ein weiterer Schritt zur Beendigung eines ungünstigen Kapitels gemacht worden ist. Der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages hat dabei in gutem Geiste mitgewirkt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Lassen Sie mich diese Debatte damit schließen, daß mir als relativ jungem und neuem Mitglied des Petitionsausschusses — auch wenn man mir das vielleicht nicht so ansieht, Kollege Nolting,

(Heiterkeit)

aber ich bin eines der jüngsten Mitglieder des Petitionsausschusses — die Arbeit viel Freude macht und daß wir sicherlich auch bei der Diskussion des Jahresberichts 1991 feststellen können, daß wir viel Gutes im Sinne der Bürger erwirkt haben.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203337700
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP
Umsetzung der EG-Richtlinien auf dem Gebiet des öffentlichen Auftragswesens
— Drucksache 12/770 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend)

Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau EG-Ausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hermann Schwörer.

Dr. Hermann Schwörer (CDU):
Rede ID: ID1203337800
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag auf Drucksache 12/770 befaßt sich mit der Verzögerung bei der Umsetzung der Vergaberichtlinien



Dr. Hermann Schwörer
der EG im Bundesrecht. Zur Vermeidung von Diskriminierungen von Bietern bei der Vergabe öffentlicher Aufträge hatte die Kommission 1988 die obengenannten Richtlinien vorgelegt mit dem Ziel, ein eigenes Vergabegesetz für diesen Zweck zu erreichen.
In den Verhandlungen setzte sich die deutsche Delegation dafür ein, erstens die angestrebten Ziele der Richtlinien durch die Angleichung von VOB und VOL an den Inhalt der Richtlinie zu verwirklichen und damit unser bewährtes deutsches Vergabesystem zu behandeln und zweitens die Nachprüfung einer Entscheidung der ersten Instanz nicht durch ein Gericht, schon gar nicht durch ein Verwaltungsgericht, sondern durch eine gerichtsähnliche Instanz im Verwaltungswege zu erreichen.
Dieser deutsche Sonderweg wurde in Brüssel akzeptiert, vor allem nachdem sich der Deutsche Bundestag einstimmig für die Erhaltung des deutschen Vergabeverfahrens ausgesprochen und sich das Europäische Parlament der deutschen Position angeschlossen hatte.
Nun hat sich die Bundesregierung darangemacht, diese Richtlinie durch eine Novelle zum Haushaltsgrundsätzegesetz in deutsches Recht umzusetzen. Sie liegt nun im Rohentwurf vor und ist zwischen den Behörden des Bundes und der Länder fachlich abgestimmt.
Plötzlich gibt es Schwierigkeiten. Durch ein Schreiben der Europäischen Kommission wurde das früher Abgesprochene und im Gesetzgebungsverfahren Abgeschlossene aus rechtlichen Gründen in Frage gestellt. Die Arbeiten kamen ins Stocken. Die heutige Debatte soll dafür sorgen, daß die Umsetzung weitergeht, daß also das von der Bundesregierung ausgearbeitete Gesetz dem Bundestag auch vorgelegt wird.
Ich möchte mich nun mit den rechtlichen Bedenken befassen, die hiergegen vorgebracht werden und die nach meiner Meinung unbegründet sind.
Das erste Argument: Die Kommission verlange ein Vergabegesetz, um damit einen subjektiven Anspruch im Sinne eines Klagerechts zu verwirklichen. Diese Forderung der Kommission gab es. Das ist richtig. Aber bereits in einer früheren Phase, nämlich bei der Beratung in den europäischen Gremien, ist diese Richtung der Kommission für die Bundesrepublik fallen gelassen worden, wie ich schon dargestellt habe. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie diese Richtung nun plötzlich wieder einbringen will. Ich bin der Meinung, sie muß bei der früher erklärten Haltung bleiben. Damit kann sie diese Forderung jetzt nicht mehr stellen.
Das zweite, die Berufung auf den EuGH, den Europäischen Gerichtshof: Dieser wolle ein Klagerecht vor ordentlichen Gerichten. Auch dieses Argument zieht nicht. Ein subjektiver Anspruch nach EG-Recht verlangt nicht unbedingt ein Gerichtsverfahren in der zweiten Instanz. Es muß nur sichergestellt werden, daß ein Verstoß gegen Vergaberichtlinien rasch und wirksam abgestellt wird. Das ist auch im Rahmen des Haushaltsrechts möglich, so wie es jetzt vorgesehen ist. Der Europäische Gerichtshof überläßt es nach seiner bisherigen Rechtsprechung jedem Mitgliedstaat, wie er die Überprüfung von Rechten, die aus umgesetzten Richtlinien erwachsen, ausgestalten wird. Das ergibt sich aus seiner bisherigen Rechtsprechung zu § 77 des EWG-Vertrages. Auch die Kommission hat bei der Verabschiedung der Richtlinie durch den Ministerrat am 21. Dezember 1989 nicht Bedenken aus der Rechtsprechung des EuGH geltend gemacht.
Das dritte Argument. Es wird behauptet, ohne ein Vergabegesetz komme es zu einem Durcheinander von Rechtsbehelfen. Auch das ist nicht richtig. Zwar ist der Rechtsweg durch die haushaltsrechtliche Lösung nicht ausgeschlossen. Es ist aber wenig wahrscheinlich, daß dieser zusätzlich eingeschlagen wird. Es ist auch heute schon möglich, neben dem VOB-Verfahren ein Gerichtsverfahren zu erzwingen. Trotzdem ist es nicht zu einem Durcheinander gekommen. Warum sollte es in Zukunft so sein, wenn eine funktionierende Überwachungs- und darüber hinaus eine unabhängige Instanz existiert?
Viertens. Es wird behauptet, der Bieter könne auf Grund Art. 19 des Grundgesetzes das Eingreifen eines Verwaltungsgerichts fordern. Auch das ist nicht richtig. Die Rechtsweggarantie nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes gilt nur für Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt. Die Vergabe öffentlicher Aufträge ist jedoch keine hoheitliche, sondern eine fiskalische Tätigkeit.
Zusammengefaßt: Die vorgesehene haushaltsrechtliche Lösung ist rechtlich nicht zu beanstanden und für jeden seriösen Bieter sogar ein Vorteil. Sie schafft eine Beschwerdeinstanz, die mit Fachleuten des Vergaberechts besetzt ist. Diese werden für eine schnelle Abwicklung der Streitigkeiten sorgen — und gerade diese zügige Erledigung von Differenzen ist ein Erfordernis unserer Zeit. Alle Bauverwaltungen können ein Lied davon singen, wieviel Mehrkosten aus Steuermitteln aufgebracht werden müssen infolge monate-
oder gar jahrelanger Verzögerungen durch zeitraubende Verwaltungsgerichtsverfahren bei Planfeststellungen. Wenn diese Verzögerungen auch bei der Vergabe noch möglich werden, dann wäre eine zügige Baudurchführung wichtiger öffentlicher Bauvorhaben überhaupt nicht mehr möglich. Deshalb unterstützt der Wirtschaftsausschuß, der für diese Materie federführend ist, das Petitum des Bauausschusses, die begonnene Umsetzung fortzuführen.
Diesem Vorstoß parallel läuft ein Antrag des für diese Materie im Bundesrat federführenden Landes Baden-Württemberg. Dort wird verlangt, VOB und VOL weiterhin beizubehalten und Verwaltungsverfahren für die Überwachung einzurichten. Dort wird auch verlangt, die abgesprochenen Arbeiten für die haushaltsrechtliche Umsetzung umgehend fortzusetzen und das Gesetzgebungsverfahren einzuleiten. Dieser Forderung schließe ich mich vollinhaltlich an. Die Bundesregierung sollte den ausgearbeiteten Entwurf fertigstellen und umgehend dem Parlament zur Beschlußfassung vorlegen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203337900
Frau Abgeordnete Gabriele Iwersen, Sie haben das Wort.




Gabriele Iwersen (SPD):
Rede ID: ID1203338000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was erwarten wir von Europa im letzten Jahrzehnt dieses Jahrtausends? In erster Linie positive Veränderungen auf dem Weg in eine Gemeinschaft der Regionen mit annähernd gleichen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen. Die EG-Kommission arbeitet für dieses Ziel seit Jahren mit viel Energie und überschwemmt uns dabei mit einem gewaltigen Meer an bürokratischen Verfahrensregelungen, in dem die schöne Idee der Gemeinschaft unterzugehen droht.
Wieder einmal stehen die Baukoordinierungsrichtlinien und die Überwachungsrichtlinie auf der Tagesordnung. Es geht um ihre Umsetzung in nationales Recht. Nach Art. 189 des EWG-Vertrages sind Richtlinien für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet werden, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel.
Um diese geeignete Form ist schon in der 11. Wahlperiode gerungen worden. Das Ergebnis war eindeutig. Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau empfiehlt die Beibehaltung des in der Bundesrepublik üblichen Vergabesystems durch eine verbindliche Anwendung der VOB und VOL und erwartet dazu die notwendige Ergänzung des Haushaltsgrundsätzegesetzes, in das alle Eckwerte der EG-Kommissionsrichtlinie eingearbeitet werden müssen.
An dieser Auffassung hat auch die Wahl zur 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages nichts ändern können.
Es sei mir aber gestattet, an dieser Stelle mein Erstaunen zum Ausdruck zu bringen über die Hartnäkkigkeit, mit der die Willensbildung des Parlaments und auch die des Bundesrates ignoriert werden; denn anders kann ich die Tatsache nicht bezeichnen, daß wir erneut mit dieser Frage konfrontiert werden.
Der gemeinsame Antrag der CDU/CSU, FDP und SPD soll sowohl der Bundesregierung als auch der EG-Kommission zeigen, daß der Bauausschuß nicht bereit ist, ein umfassendes Vergabegesetz mit dem Rechtsanspruch auf gerichtliche Nachprüfung des Verfahrens zu akzeptieren. Wir lehnen es ab, die fachkundige Beurteilung einer Vergabeentscheidung durch eine rein juristische Beurteilung zu ersetzen.
Schon am 8. März 1989 hat der Bauausschuß eine diesbezügliche Stellungnahme abgegeben, die bereits am 9. und 10. März 1989 zu einem entsprechenden Einlenken der EG-Kommission führte; das heißt, die Richtlinie enthielt nicht mehr die Notwendigkeit, den am Vergabeverfahren Beteiligten einen Rechtsanspruch und, damit verbunden, einen Anspruch auf gerichtliche Nachprüfung des Verfahrens einzuräumen.
Nach dem dort ausgehandelten Wortlaut würde, wie vom Ausschuß gefordert, eine Nachprüfung durch eine Verwaltungsinstanz genügen.
Die EG-Kommission hat außerdem auf ihre Interventions- und Aussetzungsrechte verzichtet und wollte nunmehr nur noch gegebenenfalls als Gutachter die Mitgliedstaaten auf ihre, der EG-Kommission also bekanntgewordenen Verfahrensverstöße hinweisen und diese sozusagen aus erzieherischen Gründen veröffentlichen. Voraussetzung für diese Art der Beschwerdeinstanz ist allerdings, daß diese wieder von einer unabhängigen Instanz überprüft werden kann. Ist auch diese Instanz kein Gericht, so soll sie notfalls noch einmal einer gerichtlichen Nachprüfung unterliegen.
Soweit der Sachstand vom April 1989, der im großen und ganzen auch den Einwendungen des Bundesrates im September 1987 Rechnung trägt.
Am 15. Oktober 1990 erscheint ein Entwurf zur Umsetzung der EG-Richtlinien auf dem Gebiet des öffentlichen Auftragwesens und der Überwachungsrichtlinie in das Haushaltsgrundsätzegesetz. Auch die hierin enthaltene Überwachung durch je einen Beauftragten für das Vergabewesen bei Bund und Ländern erscheint allseits akzeptabel. Aber schon wieder treten Irritationen auf. Ein Schreiben der EG-Kommission vom September 1990 beanstandet abermals das Fehlen eines gerichtlichen Verfahrens zur Überprüfung von Verstößen, diesmal bei der schon längst in Kraft befindlichen Liefer- und Koordinierungsrichtlinie. Wieder kommt ein Vergabegesetz ins Gespräch.
Es interessiert mich wirklich, an welcher Stelle dieser hartnäckige Verfechter juristischer Instanzen sitzt. Ich sage dies, in der Hoffnung, daß diese Stellungnahme hier im Bundestag mehr Wirkung erzielen wird als die bisherigen Bemühungen durch Bundestagsausschüsse, Bundesrat, Vertreter des Städtetages, des Städte- und Gemeindebundes, der Wirtschaftsminister der Länder, des Bund-Länder-Ausschusses Haushaltsrecht und Haushaltsdynamik und auch der Bauindustrie, in deren Interesse angeblich diese Liberalisierung des europäischen Baumarktes durchgeführt werden soll.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr wahr!)

Ich frage denjenigen, der das Verfahren immer wieder von Anfang an neu aufrollen möchte, in wessen Interesse er das eigentlich beabsichtigt. Ich würde ja in diese Richtung gucken, aber ich nehme an, daß er da nicht sitzt, und deshalb gucke ich weiterhin ins Plenum.
Die Notwendigkeit für eine weitere Liberalisierung des öffentlichen Auftragswesens im gemeinsamen Markt und die zu dessen Durchsetzung angeblich notwendige Überwachung bzw. gerichtliche Überprüfung sollte doch im Interesse der potentiellen Güter bei den zukünftigen öffentlichen Ausschreibungen liegen.
Diese aber lehnen ein Vergabegesetz aus vielerlei Gründen ab. Wichtige Einwände sind die überlangen gerichtlichen Verfahren mit der Möglichkeit der Aussetzung des Vergabeverfahrens. Die Blockadewirkung dieser Prüfinstrumente muß sich einfach investitionshemmend auswirken. Daß heißt, es muß befürchtet werden, daß die vorgeschlagenen endlosen bürokratischen Verfahren mit anschließenden zeitaufwendigen gerichtlichen Überprüfungen nicht zu einer Liberalisierung des Binnenmarktes, sondern zu einem Zusammenbruch der öffentlichen Investitionstätigkeit führen.



Gabriele Iwersen
Eine andere Gefahr liegt auf der Hand: Die VOB — Verdingungsordnung für das Baugewerbe —, die nach unserem Wunsch weiterhin Grundlage der öffentlichen Vergabe bleiben soll, sieht die getrennte Ausschreibung und Vergabe nach Gewerken vor, so daß jedes Fachlos an einen anderen mittelständischen Handwerksbetrieb mit all seiner fachlichen Spezialerfahrung vergeben werden kann. Hier liegt die Marktchance für die Handwerksbetriebe. Muß aber eine ausschreibende Stelle, sagen wir das Bauamt einer mittleren Kommune am Rande unserer Republik, bei jedem Fachlos Klagen von nicht berücksichtigten Bietern aus halb Europa erwarten, wird sie zur eigenen Absicherung auf die Einzelausschreibungen der Gewerke verzichten und sich lieber einen Generalübernehmer suchen, damit der Verwaltungsaufwand und das Prozeßrisiko kleiner werden. Schon werden die kleineren Betriebe höchstens noch als Subunternehmer an öffentlichen Aufträgen beteiligt werden, und das soll verhindert werden.
Im Gegenteil, wir müssen den einzelnen Regionen die besondere Fachkunde und Erfahrung der Handwerksbetriebe gerade in regionaltypischen Bauweisen erhalten.

(Beifall bei der SPD)

Ich komme aus einer Region, in der der Regen zuweilen waagerecht fällt oder besser weht und durch alle nur denkbaren feinsten Ritzen und Haarrisse in das Mauerwerk eindringt. Darüber hinaus drückt der Wind das Wasser auch aufwärts oder um die Ecken herum. Die Details, mit denen der ständige Kampf gegen dieses Element ausgefochten wird, sind auf dem Papier wunderbar darstellbar. Aber nur ein Maurer, Klempner oder Tischler, der diese Gemeinheiten des Wetters kennt, weiß, weshalb hier so unwahrscheinlich pingelig gearbeitet werden muß.
Das ist hier kein Versuch, wieder über die Fachkunde Grenzen zu ziehen, sondern ein Hinweis darauf, daß wir eine Ausschreibungsart erhalten müssen, die es uns ermöglicht, auch kleinere Betriebe mit besonderen Erfahrungen — z. B. mit Erfahrungen im Bauen direkt an der Küste — zu beauftragen.

(Beifall bei der SPD)

Dies kann bestimmt ein Holländer genausogut wie ein Deutscher oder ein Däne; aber ein Bonner hat da vielleicht nicht die notwendige Phantasie, um sich auch nur annähernd vorzustellen, wie die Probleme anderswo vor Ort aussehen. Auch in Brüssel glaubt man offensichtlich, alle Probleme allein durch Juristen lösen zu können. Da irrt die Kommission jedoch. Zumindest irrt der eine, der als treibende Kraft dahintersteht.
Wir wollen kein Europa der Juristen, sondern ein Europa der Regionen, die zwar nicht durch nationale Grenzen zusätzlich zerschnitten sind, die sich aber sehr wohl voneinander unterscheiden. Wenn mein europäisches Haus an der Küste nun einmal ein zweischaliges Mauerwerk braucht, möchte ich nicht den Bau dadurch um ein Jahr verzögert haben, daß ein Konzern mit eigener Rechtsabteilung und einschlägiger Erfahrung im erdbebensicheren Bauen von Tiefgaragen und Parkhochhäusern vor einem Gericht im „finstersten Binnenland" einen Prozeß gegen das ausschreibende Bauamt führt, weil er die Vergabe als Diskriminierung der Alpenvorlandbewohner entlarvt hat.
In Deutschland haben wir sehr gute Erfahrungen mit der VOB gemacht und wollen diese auch weiterhin nutzen, damit die öffentlichen Aufträge auch weiterhin von den mittelständischen Handwerksbetrieben ausgeführt werden können, falls diese neben ihrer besonderen Fachkunde auch konkurrenzfähige Preise angeboten haben.
Wir sind nicht daran interessiert, Vergaben durch Juristen abwickeln zu lassen, sondern betrachten das Vergabewesen immer noch als einen Teilbereich des Bauwesens und wehren uns deshalb mit allen Mitteln gegen ein Vergabegesetz, in dem die Verantwortung auf Juristen verlagert wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diese Ansicht vertreten Fachleute des Baugewerbes, der öffentlichen Verwaltung von Bund, Ländern und Kommunen sowie das Parlament und der Bundesrat. Mehr an demokratischer Legitimation ist nicht möglich. Das sollten auch die Beamten in Brüssel und in Bonn zur Kenntnis nehmen; denn sie haben kein politisches Mandat, sondern sollen politischen Willen in problemlos anwendbare Richtlinien oder Gesetze umsetzen. Oder sollte die treibende Kraft vielleicht doch ein politischer Beamter sein? Dann sollte er sich doch der Ansicht seiner Parteifreunde anschließen; denn dieser Antrag hier ist, wie Sie der Drucksache entnehmen können, von allen größeren Parteien getragen. Zu irgendeiner dieser Parteien müßte sich ja auch dieser politische Beamte zugehörig fühlen. — Diese Bemerkung bezieht sich selbstverständlich nicht auf rein zufällig anwesende Personen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der PDS/Linke Liste)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203338100
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Heinrich Leonhard Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1203338200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie bereits bei den Kollegen Frau Iwersen und Herrn Dr. Schwörer angeklungen, bietet uns der heute hier zu behandelnde interfraktionelle Antrag die, wie ich finde, insgesamt nicht allzu häufig gegebene Möglichkeit, quer durch die Fraktionen und, wie ich vermute, auch durch die Gruppen, Einigkeit in einer wichtigen Sachfrage zu demonstrieren. Bei dem Thema, um das es hier geht, halte ich das allerdings auch für durchaus angemessen.
Es ist nicht das erste Mal, daß wir uns mit diesem Problembereich des öffentlichen Auftragswesens beschäftigen müssen.
Der Bundestag hatte vielmehr in der Vergangenheit bereits mehrfach Gelegenheit, sich mit der Thematik der Gestaltung und Umsetzung von EG-Richtlinien und deren Auswirkungen auf das deutsche Vergabewesen zu befassen.
Auch damals schon herrschte Einigkeit zwischen den Fraktionen. Damals wie heute ging es um die



Dr. Heinrich L. Kolb
Erhaltung des bewährten deutschen Vergabesystems. Die Voraussetzungen dafür wurden in mühsamen Verhandlungen auf EG-Ebene geschaffen. Mit erheblichen Anstrengungen war es möglich, daß die Bundesrepublik durchsetzte, die EG- Überwachungsrichtlinie auch auf den Einsatz außergerichtlicher Rechtsbehelfe auszudehnen, so daß man mit einer Beschwerde nicht mehr zwingend vor Gericht gehen muß, sondern sie an dafür eingerichtete Überprüfungsstellen, vergleichbar mit unseren früheren Schiedsstellen, richten kann.
Nun sehen wir heute erneut Anlaß, unseren politischen Willen deutlich zu machen und diese mühsam bewahrte Möglichkeit zur Beibehaltung des deutschen Vergabewesens auf nationaler Ebene zu nutzen. Das heißt, die Umsetzung der EG-Überwachungsrichtlinie muß im Wege des Haushaltsrechts erfolgen. Ein eigenes Vergabegesetz lehnen wir ab.
Damit sprechen wir uns nicht gegen einen wirksamen Wettbewerb aus. Im Gegenteil, wir wollen Wettbewerb auch auf den Beschaffungsmärkten öffentlicher Auftraggeber. Wir sind aber überzeugt, daß die juristischen Bedenken, die gegen die haushaltsrechtliche Lösung gelegentlich erhoben werden, auch bei sorgfältiger Prüfung und Abwägung nicht schwer genug wiegen, um von diesem erfolgreichen Weg abzugehen. Betroffene, Wirtschaftsfachleute und Gutachter sind mit uns dieser Meinung.
Es ist bei den früheren Debatten zu diesem Thema schon zutreffend ausgeführt worden, daß zunehmend die Gefahr besteht, daß EG-Regelungen zu einer Überbürokratisierung führen. Das kann und darf nicht im Sinne eines lebendigen, vielfältig strukturierten und wirtschaftlich aktiven Europa sein. Natürlich ist es auch unser Ziel, im Sinne des europäischen Binnenmarktes den Marktzugang über die Grenzen hinweg zu gewährleisten. Dazu gehören selbstverständlich auch Kontroll- und Beschwerdemöglichkeiten. Es besteht aber kein Grund, sich von einem seit 60 Jahren funktionierenden System, wie es in der Bundesrepublik Deutschland besteht, ohne zwingende Notwendigkeit zu trennen, wenn — und davon sind wir überzeugt — der Zweck der EG-Regelungen auch mit unserem bestehenden Regelwerk vollkommen erreicht wird.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Ein Gesetzentwurf zur Umsetzung der EG-Richtlinie über das Haushaltsrecht ist in den Ministerien bereits erarbeitet worden. Unser gemeinsamer Antrag nimmt darauf Bezug. Mit einer solchen Regelung soll Bietern, die sich durch einen Verstoß gegen die Vergaberegelungen benachteiligt fühlen, wirksamer Rechtsschutz gewährt werden. Die Einschaltung von Gerichten zur regelmäßigen Überprüfung von Vergabeverfahren wird aber vermieden.
Mit einem Vergabegesetz wären dagegen zwangsläufig Gerichtsverfahren verbunden, und diese würden sich im Falle großer Aufträge besonders problematisch auswirken. Für diese soll die zu suchende Regelung gerade gelten. Solche großen Aufträge sind gekennzeichnet durch eine Aufgliederung des Gesamtprojekts in zahlreiche Teillose. Die Klage gegen ein im Sinne des Baufortschritts grundlegendes Los müßte zwangsläufig dazu führen, daß das gesamte Projekt gestoppt würde. Terminverzug oder auch Schadenersatzforderungen derjenigen Auftragnehmer, deren Lose ohne eigenes Verschulden gestoppt würden, stellten ein besonderes Risiko für die öffentlichen Auftraggeber dar.
Der von mir beschriebene Fall brächte überdies die Gefahr mit sich, daß Auftraggeber, die die EG-Richtlinie beachten müssen, aus Sorge vor Verfahrensverzögerungen künftig überwiegend Generalunternehmer beauftragen würden. Das hätte gravierende Auswirkungen vor allen Dingen für den Mittelstand; denn im Baugewerbe sind zu 90 % mittelständische Betriebe tätig. Hier bin ich der Meinung, daß wir als gewählte Parlamentarier eines Landes, das zu Recht und mit Stolz die wirtschaftliche Bedeutung seines Mittelstandes betont, gut beraten sind, diese Bedrohung ernst zu nehmen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Meine Damen und Herren, der interfraktionelle Antrag dient dazu, unseren gemeinsamen politischen Willen noch einmal deutlich zu machen. Wir wollen miteinander am Europa der Zukunft bauen, nicht aber miteinander prozessieren.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203338300
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, unser Kollege Klaus Beckmann.

Klaus Beckmann (FDP):
Rede ID: ID1203338400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Einmal mehr verursacht uns die Umsetzung von EG-Richtlinien in nationales Recht erhebliche Schwierigkeiten. Die sogenannte Überwachungsrichtlinie legt fest, welche Rechte die Mitgliedstaaten Bietern einräumen müssen, die sich gegen Form- und Rechtsverstoß bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zur Wehr setzen wollen.
Dieses Thema ist für uns Deutsche deshalb so schwierig, weil wir unsere Vergabegrundsätze aus alter Tradition im internationalen Vergleich zwar vorbildlich entwickelt, zugleich aber auch Wert darauf gelegt haben, die Rechtsform von innerdienstlichen Weisungen beizubehalten. Freilich sind das keine Weisungen üblicher Art. Sie werden vielmehr in Verdingungsausschüssen mit der Wirtschaft bis in alle Details diskutiert, und zwar in der Regel so lange, bis ein Konsens gefunden ist. Durch ihre amtliche Veröffentlichung zeigt dann die Exekutive, daß sie diese Regeln als für ihr Verwaltungshandeln verbindlich anerkennt.
Um dieses System auch nach der EG-Harmonisierung in etwa beibehalten zu können, ist es dem Bundeswirtschaftsminister in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesbauminister in langwierigen Brüsseler Verhandlungen gelungen, zu erreichen, daß eigentlich speziell für den deutschen Gebrauch eine Son-



Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann
derregelung geschaffen wurde. Hiernach gibt es neben dem üblichen gerichtlichen Verfahren eine als gleichwertig anerkannte Überprüfung: zunächst durch eine Beschwerdeinstanz und sodann — in rein rechtlicher Hinsicht — durch eine unabhängige, gerichtsähnliche Instanz.
Auf dieser Basis haben die beteiligten Ressorts im Herbst 1990 einen Gesetzentwurf erarbeitet, der im Kern darauf beruht, die erforderliche Neuregelung in das Haushaltsgrundsätzegesetz aufzunehmen und die Bundesregierung zu ermächtigen, auf der Basis der dort vorgesehenen drei neuen Paragraphen mit Zustimmung des Bundesrates die entsprechenden Verordnungen zu erlassen. Dadurch werden die Verdingungsordnungen in toto den Rechtscharakter von Verordnungen erhalten. Dies ist nötig, um auch solche Auftraggeber den Vergaberegelungen zu unterwerfen, die privatrechtlich als GmbH oder als Aktiengesellschaft organisiert sind, aber nach EG-Recht dennoch zu deren Anwendung zu verpflichten sind. Andererseits zeigt die Verankerung im Haushaltsrecht, daß der für die Umsetzung verantwortliche Gesetzgeber die klare Absicht hat, einen Zugang zu den normalen Gerichten nicht zu gewähren.
Leider — das will ich hier auch sagen — sind bei der weiteren Vorbereitung dieses Gesetzentwurfs, der Anfang dieses Jahres auch mit den Ländern abgestimmt wurde, aus zweierlei Richtung Bedenken aufgetaucht, die ich hier nicht verhehlen möchte.
Zum einen droht die EG-Kommission mit Klage. Sie meint, es genüge nicht, wenn ein abgewiesener Bieter die Überprüfung bei den außergerichtlichen Instanzen lediglich beantragen könne; er müsse vielmehr einen subjektiven Anspruch hierauf bekommen. Würden wir uns aber darauf einlassen, so würde dies nach Art. 19 Abs. 4 unserer Verfassung zwangsweise den Weg zu den Gerichten eröffnen.
Das andere Bedenken kommt aus unserer nationalen Rechtsordnung. Der Bundesjustizminister — das will ich hier auch noch erwähnen — weist darauf hin, daß ganz unabhängig von der erwähnten Gefahr eines Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof allein die Tatsache, daß unsere Verdingungsordnungen künftig zu Rechtsverordnungen würden, genüge, um zusätzlich den Weg zu den Gerichten zu eröffnen, und zwar nebeneinander gleichermaßen zu den Verwaltungs- wie auch zu den Zivilgerichten.
Andererseits, verehrte Kolleginnen und Kollegen, stehen diesen noch in Diskussion befindlichen Bedenken der dezidierte Wunsch der Koalitionsfraktionen bzw. wie ich heute abend gesehen habe, der drei größeren Fraktionen dieses Hauses nach Verwirklichung der angedachten haushaltsrechtlichen Lösung und der Zeitdruck zur Umsetzung der Richtlinie bis Ende dieses Jahres gegenüber.
Der Bundeswirtschaftsminister hat deshalb in Verfolgung der haushaltsrechtlichen Lösung am 12. Juni dieses Jahres die Verbände angehört. Diese haben sich für die haushaltsrechtliche Lösung ausgesprochen, zur Überprüfung der Einzelheiten aber um einige Wochen Zeit bis zu ihrer definitiven Äußerung gebeten. Auch die Länder möchten zu den Einzelheiten des Entwurfs noch einmal Stellung nehmen und waren im übrigen der Meinung, daß das EG-Recht der haushaltsrechtlichen Lösung nicht entgegenstehe. Leider — das will ich hier auch sagen — hat EG-Vizepräsident Bangemann in seiner soeben, also nach der Anhörung eingegangenen Antwort auf eine Anfrage des früheren Staatssekretärs Schlecht ausgeführt, er, die Kommission habe keine Zweifel, daß die Liefer-
und die Baukoordinierungsrichtlinie nach der Rechtsprechung des EuGH subjektive Rechte des einzelnen herbeiführten.
Bei der Beratung des heutigen Entschließungsantrags in den Ausschüssen wird deshalb Gelegenheit sein, über den Fortgang der Arbeiten zu berichten und dabei auch die Antwort von Vizepräsident Bangemann zu werten. Außerdem kann dann auch schon das Konzept für die Umsetzung der sogenannten Sektorenüberwachungsrichtlinie, die der Binnenmarktrat gestern im ersten Durchgang beschlossen hat, in die Beratungen einbezogen werden. Ich glaube, wir werden uns hier noch viele Gedanken machen müssen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203338500
Ich erteilte dem Abgeordneten Georg Brunnhuber das Wort.

(Dr. Hermann Schwörer [CDU/CSU]: Jungfernrede!)


Georg Brunnhuber (CDU):
Rede ID: ID1203338600
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die deutsche Wiedervereinigung und die Probleme in den neuen Bundesländern haben die Bedeutung eines nach wie vor wichtigen Zieles deutscher Politik ein wenig in den Hintergrund treten lassen: die Schaffung des Europäischen Binnenmarktes.
Wenn Europa zu einem Binnenmarkt zusammenwachsen soll, ist es unerläßlich, daß die Unternehmen der verschiedenen EG-Staaten über die nationalen Grenzen hinweg gleiche Chancen erhalten. Die Baukoordinierungsrichtlinie will dies durch eine Reihe von Maßnahmen sicherstellen. Die Überwachungsrichtlinie hat das Ziel, durch Kontrollen und Sanktionen die Einhaltung der Vergabevorschriften der Gemeinschaft zu gewährleisten.
Bundestag und Bundesrat haben sich in den vergangenen Jahren ausführlich mit beiden Richtlinienentwürfen befaßt und sind jeweils einmütig für eine Richtlinienfassung angetreten, die die Umsetzung dieser Richtlinie durch Anpassung der Verdingungsordnung für Bauleistungen sowie haushaltsrechtlicher Vorschriften gewährleistet. Dies entsprach im übrigen dem bei der Umsetzung der Baukoordinierungsrichtlinie seit 1973 gewählten Vorgehen, das von der EG-Kommission bis dato nicht beanstandet wurde. Trotzdem wird nun von der EG-Kommission erneut die Auffassung vertreten, daß zur Umsetzung der EG-Richtlinie ein Vergabegesetz erforderlich sei.
Dabei gibt es zwei Aspekte zu berücksichtigen, und zwar einerseits den rechtlichen, auf den vor allem der Kollege Schwörer schon detailliert eingegangen ist,

(Manfred Carstens [Emstek] [CDU/CSU]: Das hat er gut gemacht!)




Georg Brunnhuber
und andererseits die praktischen Auswirkungen, die ein Vergabegesetz hätte.
Bei einem Vergabegesetz hat, wie schon erwähnt, jeder abgewiesene Bieter die Möglichkeit, durch Wahrnehmung seines subjektiven Rechtes den Verwaltungsrechtsweg zu beschreiten und damit überlange gerichtliche Verfahren einzuleiten, die so weit gehen könnten, daß die Aussetzung des Vergabeverfahrens bis zur endgültigen Entscheidung notwendig wäre. Dies hätte, worauf Frau Iwersen zu Recht hingewiesen hat, unübersehbare Blockadewirkungen zur Folge und würde sich darüber hinaus äußerst investitionshemmend auswirken.

(Manfred Carstens [Emstek] [CDU/CSU]: Sehr wahr! — Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Für den Aufbau in den neuen Bundesländern wäre dies verheerend und verhängnisvoll.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Man muß sich hier auch fragen: Was macht es für einen Sinn, daß die Regierung derzeit Überlegungen anstellt, wie man das Planungsverfahren beschleunigt, wenn nachher bei der Ausschreibung eine Baustelle nicht begonnen werden kann, weil durch die Wahrnehmung subjektiven Rechtes eines Bieters bei gerichtlichen Verfahren die Baumaßnahme Monate verzögert würde und das, was durch eine schnellere Planung an Zeit eingespart wurde, durch das EG-Vergabegesetz verlorenginge?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die CDU/CSU-Fraktion ist deshalb der Meinung, daß schon aus diesem Grund die Regierung in Brüssel mit Vehemenz gegen dieses Vergabegesetz vorgehen muß.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!)

Der für die mittelständische Industrie verhängnisvollste Aspekt bei der Einführung dieses Vergabegesetzes wäre die zukünftige Ausschreibungspraxis. Nach der VOB ist vorgesehen, daß getrennte Ausschreibungen und die Vergabe von Bauaufträgen nach Fachlosen und Gewerken zu erfolgen haben, dies ganz besonders, um mittelständischen Baubetrieben Marktchancen zu eröffnen. Eine Mehrzahl von Ausschreibungen für eine Baumaßnahme würde das Prozeßrisiko durch Klagen nicht berücksichtigter Bieter deutlich erhöhen. Um das Prozeßrisiko zu minimieren, würden die vergebenden und ausschreibenden Stellen dazu übergehen, ganze Bauwerke nur noch an Generalunternehmer auszuschreiben, was den Kreis der konkurrierenden Firmen deutlich verringern würde. Viele kleine und mittlere Betriebe könnten dann allenfalls nur noch als Unterauftragnehmer beschäftigt werden. Dadurch würde ein Konzentrationsprozeß in Gang kommen, der gerade die mittelständische Wirtschaftsstruktur in der Baubranche stark beeinträchtigen würde. Dies kann auch nicht im Interesse der Europäischen Gemeinschaft sein.
Auch das Wirtschaftsministerium der Bundesrepublik Deutschland ist aus den oben genannten Gründen dazu herausgefordert, mit Engagement, Sachkunde und den vorhandenen guten rechtlichen Argumenten, wie wir gehört haben, in Brüssel ein Vergabegesetz zu verhindern.
Alle diese Gesichtspunkte haben den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau bewogen, dem Bundestag zu empfehlen, für eine Lösung im Rahmen unseres bewährten Systems der VOB und der VOL einzutreten.
Der Deutsche Bundestag sollte diese Empfehlung nicht nur deshalb annehmen, um zu verhindern, daß eine übermächtige europäische Bürokratie alles erdrückt und daß die mittelständische Bauwirtschaft das Nachsehen hätte, sondern es geht hier auch um das Selbstverständnis dieses Parlaments, das bei der Schaffung des EG-Gemeinschaftsrechts und der Umsetzung europäischer Vorstellungen ohnehin schon fast auf eine Zuschauerrolle reduziert ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Europa braucht das wache Auge des Deutschen Bundestages. Wir fordern die Bundesregierung auf, alles zu tun, um in Brüssel eine ordnungsgemäße, in unserem Sinn ausgestaltete Lösung zu erzielen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203338700
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 12/770 an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse zu überweisen. Der EG-Ausschuß erhält die Vorlage zur Mitberatung nach seiner Konstituierung. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia Nolte, Dr. Maria Böhmer, Monika Brudlewsky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Eva Pohl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Fristverlängerung zur Antragstellung auf Aufhebung von Zwangsadoptionen
— Drucksache 12/763 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend) Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend
Interfraktionell gibt es eine Einigung, daß die Beiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll gegeben werden. — Dazu sehe ich auch keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen *)
Interfraktionell wird ebenfalls vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 12/763 an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse zu überweisen. Besteht damit Einverständnis, oder gibt es andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
*) Anlage 6



Vizepräsident Hans Klein
Meine Damen und Herren, jetzt sind die Redner für den Tagesordnungspunkt 10 noch nicht da.

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Also können wir das auch absetzen!)

Dann überblättere ich zunächst einmal diesen Tagesordnungspunkt, bis die Kolleginnen und Kollegen im Saal sind.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN
Nationale und internationale Konsequenzen der ökologischen Auswirkungen des GolfKrieges
— Drucksache 12/779 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (federführend)

Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft Verteidigungsausschuß Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Haushaltsausschuß
Interfraktionell ist für die Aussprache eine Runde mit Zehn-Minuten-Beiträgen vereinbart worden. — Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Feige.

Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1203338800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der frühe Debattenzeitpunkt wird jetzt, glaube ich, einige Kollegen in Verlegenheit bringen, die diesen Beitrag ebenfalls kommentieren wollten. Aber ich denke, sie werden im Laufe der Zeit noch eintrudeln.
Gestern früh, auf dem Weg zur Pressekonferenz, fragte mich ein Kollege, zu welchem Thema ich mich denn dort äußern wolle. Die Antwort war, daß es um die ökologischen Auswirkungen des Golfkrieges gehe. Dies veranlaßte ihn — sinngemäß — zu der Aussage: Wen interessiert denn jetzt so etwas? Da kommt ja nicht einmal Berlin und Bonn drin vor. — Somit, meinte er, sei es schon fast aussichtslos, daß das Aufmerksamkeit bekomme.

(Vorsitz : Vizepräsident Helmuth Becker)

Es stimmt: Der Krieg am Golf ist zu Ende. Die Konfetti-Siegesparaden wollen uns gar suggerieren, alles sei wieder in bester Ordnung. Aber noch brennen die Schlachtfelder, noch sterben die Menschen an den Folgen dieses Krieges, der, genau gesehen, ein Krieg um Erdöl war. Es werden noch lange Menschen und vor allem Kinder an den Spätfolgen dieses datengeschützten Umweltkrieges umkommen. Die Zensur über die genauen Kriegsfolgen besteht immer noch.
Damit kein Mißverständnis aufkommt: Saddam Hussein ist ein Verbrecher. Aber Verbrecher sind auch all diejenigen, die ihn aktiv gefördert haben, ihm die Waffen lieferten oder ihn technisch beraten haben.
Nicht erst seit Hiroshima sind die Auswirkungen eines Krieges auf die natürlichen Lebensgrundlagen bekannt. Die Giftgaseinsätze im Ersten Weltkrieg töteten nicht nur zigtausend Soldaten, sie rotteten auch alles höhere tierische Leben im Frontgebiet aus. Ich möchte hier nur an die Schlachten von Verdun erinnern. Selbst auf dem Gebiet sogenannter konventioneller Kriegswaffen gibt es kein Tötungsinstrument mehr, das nicht nachhaltig auf die Umwelt wirken kann. So beinhaltet jeder Krieg, der heute geführt wird, die Gefahr der unwiederbringlichen Vernichtung wertvoller Ökosysteme oder der Erde selbst. Da wir nun einmal nur diese eine Erde haben, ist es die Pflicht der friedensbewahrenden Menschen, endlich Konfliktlösungsstrategien zu entwickeln und die Menschenrechte und die Freiheit ohne den Einsatz des Waffenarsenals sogenannter moderner Kriege zu sichern.
Es kann eben nicht nur darum gehen, mit Nachsorgemaßnahmen und einer internationalen Neubewertung der Umweltauswirkungen von Kriegen den Eindruck zu erwecken, als wäre die ökologische Bedrohung der Menschheit durch technischen Umweltschutz oder völkerrechtliche Vereinbarungen zu bewältigen. Es muß um die Beseitigung der Kriegsursachen selbst gehen.
In Kuwait brennen die Ölfelder. Mediziner raten jedem, der es sich leisten kann, das Land zu verlassen. Die regionalen oder globalen Folgen der Ölbrände, die möglicherweise erst in Jahren gelöscht sein werden, sind völlig unabsehbar. Aber nicht nur das: Unmengen Rohöl sind in den Persischen Golf geflossen. Dort, wo das Öl unmittelbar auf Meeresfauna und -flora trifft, vergiftet und vernichtet es sofort alles Leben. Treibende Fischeier und Larven erleiden irreparable Schäden; Vögel, deren Gefieder verklebt, erfrieren oder müssen jämmerlich ertrinken. Es erscheint schon makaber, wenn sogenannte Experten angesichts der dicken ausgehärteten Ölfladen an den Stränden von einer „angenehmen Küstensicherung" oder „Verfestigung" sprechen.
Aber schon die sogenannten normalen Folgen des Krieges können sich zu einer langen Liste von Zeitbomben summieren. Hunderttausende Minen und Bomben, eine Unmenge von Kampfstoffen verseuchen Böden und Luft, erzeugen gefährliche Altlasten, deren Sanierung nur mit Milliardenaufwand möglich sein wird. Die Zerstörung von Ent- und Versorgungssystemen führte in größeren Städten bereits nach wenigen Tagen zum Zusammenbruch der Strom- und der Wasserversorgung. Gesundheitsgefahren durch schlechte Wasserqualiltät und unzureichende medizinische Versorgungsmöglichkeiten für die Zivilbevölkerung sind die Folge.
Lange genug hat sich Deutschland intensiv an der Verbrennung jahrmillionenlang aufgespeicherter Sonnenenergie beteiligt und auch gut vom Golföl gelebt. Ohne diese Voraussetzung wäre die Regierung auch nicht in der Lage gewesen, so problemlos die fast 20 Milliarden DM für die Unterstützung des militärischen Einsatzes der USA bzw. der Alliierten aufzubringen. Aus einem Gefühl der Mitverantwortung für die Zukunft und nicht zur Restaurierung eines vergangenen Status quo muß die Bundesrepublik



Dr. Klaus-Dieter Feige
Deutschland der Bevölkerung der betroffenen Region in besonderer Weise verpflichtet sein.
Diese Mitverantwortung ist dann auch eine Mitverantwortung für den Schutz des Ökosystems Erde. Die drohende Erwärmung der Erdatmosphäre und die fortschreitende Zerstörung der Ozonschicht haben bereits in den letzten Jahren deutlich gemacht, daß nur eine strukturelle Veränderung der wirtschaftlichen Abhängigkeit von fossilen Energieträgern die Gefahren des Treibhauseffektes und anderer umwelt- und gesundheitsschädigender Auswirkungen der Verbrennung fossiler Energieträger mildern kann. Drei Erdölkrisen in 17 Jahren und schließlich der Golfkrieg sind eine kleine Warnung, daß die Welt auf dem Weg der Unabhängigkeit vom Öl nicht weitergehen kann.
Ich weiß, die Damen und Herren der Koalition werden wie bei der Diskussion des Antrags der SPD-Fraktion zur Hilfe beim Löschen der kuwaitischen Ölbrände in der letzten Woche wieder beteuern, daß sie ja schon alles Mögliche versucht haben. Doch die versprengte unkonzeptionelle Hilfe an einzelnen Punkten genügt der erforderlichen deutschen Mitverantwortung keineswegs. Erst ein Gefüge aus Soforthilfen, vorbeugenden technischen und langfristig wirkenden politischen Maßnahmen auch hier bei uns zu Hause in Deutschland gibt uns die Chance zu einer Lösung für diese Herausforderung.
In unserem Antrag haben wir ein Bündel notwendiger Maßnahmen zusammengefaßt. Erstens: umfassende Hilfeleistung bei der Erkundung, Erforschung, Beseitigung von unmittelbaren Kriegsauswirkungen durch die Ölpest im Persischen Golf; das, was dort angedacht ist, reicht nicht.
Zweitens. Die bereits bestehenden Bemühungen bei der Löschung der Ölbrände sind zu intensivieren und auch durch internationale Aktivitäten zu unterstützen. Hierbei geht es auch um die Bereitstellung finanzieller Mittel.
Drittens. Beim Umweltbundesamt ist eine Expertengruppe zusammenzustellen, die unmittelbar mit der regionalen Umweltorganisation ROPME zusammenarbeiten kann.
Viertens. Kurzfristig ist ein humanitäres Hilfsprogramm zur Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung, Trinkwasserbereitstellung und medizinische Betreuung der Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten aufzubauen. Die Arbeiten von Organisationen wie Rotem Kreuz beziehungsweise Rotem Halbmond in den von Flüchtlingsströmen betroffenen Gebieten sind mit 1 Milliarde DM zu unterstützen.
Fünftens. Die Bundesregierung sollte eine Konferenz der Vertragsstaaten des Umweltkriegsübereinkommens mit dem Ziel der Überprüfung und Verschärfung des Abkommens beantragen, um eine internationale Ächtung und Verfolgung von Methoden der Kriegführung gegen die Umwelt zu erreichen, und sie sollte auf alle Partner in der NATO einwirken, endlich das Umweltkriegsübereinkommen und das 46. Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention der Vereinten Nationen von 1977 verbindlich anzuerkennen.
Sechstens. Die Folgen aus Kriegen und fossile Energieträger machen zwingend einen konsequenten Umbau auch der nationalen Wirtschaftsweise notwendig. Das betrifft sowohl die Energieproduktion überhaupt, insbesondere Markteinführungshilfen für erneuerbare Energieträger bei gleichzeitiger Einschränkung beziehungsweise dem mittelfristigen Ausstieg aus der Öl- und Atomwirtschaft. Das bedeutet aber auch, unverzüglich den Stromvertrag in den neuen Bundesländern zu annullieren und den ostdeutschen Kommunen beim Aufbau eigenständiger Energiedienstleistungsunternehmen zu helfen.
Siebtens. Wir schlagen Maßnahmen für eine umfassende Neugestaltung der Verkehrspolitik der Bundesrepublik vor. Ein wesentliches Element ist dabei der Auftrag an die Regierung, dem Bundestag noch 1991 einen Entwurf eines Mineralölabgabegesetzes vorzulegen, durch den über eine spürbare Verteuerung von Vergaser- und Dieselkraftstoff eine nennenswerte Verlagerung von motorisiertem zu nichtmotorisiertem Individualverkehr und öffentlichem Personennahverkehr gewährleistet wird.
Achtens und letztens. Die Bundesregierung wird aufgefordert, sich für einen globalen und umfassenden Schuldenerlaß für die Länder der sogenannten Dritten Welt einzusetzen, um für diese die Chancen ökologischer und sozialer Reformen wesentlich zu verbessern und eine ressourcenschonende Wirtschaft aufzubauen. Dies setzt allein schon aus Gründen der Glaubwürdigkeit natürlich die Durchführung der vorgeschlagenen umfassenden Aktivitäten auf nationaler Ebene voraus.
Es darf keinen Krieg mehr geben. Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1203338900
Herr Kollege Feige, es war ein Mißverständnis. Es war eine Zehn-MinutenRede vereinbart, Sie haben sich durch die Lampe, die da dauernd leuchtet, aber nicht ganz aus der Fassung bringen lassen.
Es geht mit Zehn-Minuten-Beiträgen weiter. Der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Norbert Rieder.

Prof. Dr. Norbert Rieder (CDU):
Rede ID: ID1203339000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ohne Zweifel hat uns die Situation am Golf gezeigt, daß wir Deutsche uns nicht isoliert sehen dürfen, vor allen Dingen nicht isoliert von den militärischen und ökologischen Folgen eines Konflikts, der sich scheinbar weit weg von uns abspielt. Es kann uns eben nicht mehr egal sein, wenn sich weit hinten in der Türkei die Völker schlagen; doch die Politik der Bundesregierung zeigte eindeutig, daß eine isolierte Haltung, ein Zurücklehnen in den bequemen Ohrensessel eben nicht ihre Art ist, hat doch Minister Töpfer sehr schnelle Hilfe gebracht.
Unsere deutschen Ölsperren haben in vielen Fällen das Schlimmste verhindert, wenn auch diese Hilfe bei der Größe der Aufgabe mitten im verminten Gebiet nur ein Tropfen auf den heißen Stein war. Deutsche Meßtechnik ist zur Erfassung der ökologischen Ge-



Dr. Norbert Rieder
samtsituation ebenfalls vor Ort. Das BMFT organisiert den Einsatz deutscher Löschtechnik. Die Kuwaitis, die sich ja lange Zeit etwas gesperrt haben, sind inzwischen an dieser deutschen Hilfe interessiert. Der Einsatz der Bundeswehr bei den Minenräumaktionen ist ebenfalls allgemein bekannt. Deutsche Wissenschaftler waren oder sind vor Ort, um Daten zur ökologischen Gesamtsituation zu erheben. Somit sind Deutsche ohne Zweifel in angemessener Weise an dieser internationalen Aufgabe voll beteiligt.
Weitere Konsequenzen werden mit Sicherheit gezogen werden, sobald neue, weiterführende Daten vorliegen. Wir sind deshalb der Ansicht, daß der erste Teil des Antrags der GRÜNEN unbegründet ist, da die vorgeschlagenen Maßnahmen entweder bereits vollzogen sind oder auf Grund der noch mangelnden Daten nicht sinnvoll durchgeführt werden können. Zum Teil können sie aber auch nicht unsere deutsche Aufgabe sein; denn wir sind sicherlich nicht dazu da, überall auf der Welt alles, was irgendwo schiefgegangen ist, hinterher wieder in Ordnung zu bringen. Ein paar eigene Probleme im eigenen Land haben wir schließlich auch.
Dem zweiten Teil Ihres Antrags können wir voraussichtlich ebenfalls nicht zustimmen, denn leider haben Sie der Versuchung nicht widerstehen können und haben die große Gebetsmühle — ich muß das einmal so ausdrücken — wieder einmal anlaufen lassen. Ich zitiere aus Ihrem Antrag:
Viele der im vorliegenden Antrag skizzierten Überlegungen und Forderungen für eine neue Energie-, Verkehrs- und Weltwirtschaftspolitik sind bereits ... in der 11. Wahlperiode in zahlreichen parlamentarischen Initiativen ausgeführt worden.
Nun, das können wir nur bestätigen. Es ist immer das gleiche; nur der Vorspann ändert sich. Dieses Mal ist es der Golfkrieg, morgen sind es vielleicht die Vulkanausbrüche in Japan oder auf den Philippinen, und wenn übermorgen in der Antarktis ein großer Gletscher kalbt, kommt wieder derselbe Antrag mit einem anderen Vorspann.
Deshalb kann ich nur sagen: Sicherlich müssen wir Deutsche unserer Verantwortung der Welt und der Natur gegenüber gerecht werden, das aber Schritt für Schritt, und nicht alles auf einmal. Am deutschen Wesen kann und wird die Welt sicherlich nicht allein genesen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203339100
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der nächste Redner ist der Abgeordnete Dr. Klaus Kübler.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1203339200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will nicht so anfangen wie der von mir wirklich geschätzte Kollege Rieder, der eine ganz interessante schwarz-grüne Mischung in der Argumentation hat. Das ist nicht negativ gemeint, das ist wirklich im wahrsten Sinn des Wortes eine interessante Mischung.
Ich möchte auch nicht meine Kritik an der Bundesregierung von der letzten Woche in denselben Punkten im wesentlichen wiederholen, sondern nur das ansprechen, was in der Zwischenzeit, in dieser einen Woche, im Zusammenhang mit dem Antrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE erfolgt ist.
Ich begrüße es, daß Sie, Herr Feige, und auch Ihre Gruppe dieses Thema in der Öffentlichkeit wachhalten wollen. Ich bin dafür außerordentlich dankbar.
Ich füge hinzu: Dazu wäre es sicherlich besser gewesen, einen Antrag mit kurzfristig notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Ölbrandkatastrophe nicht mit Anträgen für längerfristig wirkende Strategien zu verbinden. Ich glaube, daß dies ein strategisches oder auch taktisches Handicap Ihres Antrages ist. Eine Trennung hätte den Antrag möglicherweise politisch erfolgreicher gemacht. Trotzdem: Der Antrag hat in nicht unwichtigen Teilen seinen politischen Stellenwert.
Die Expertengruppe, die im Auftrag des BMFT letzte Woche nach Kuwait gereist ist, hat gestern eine Presseerklärung abgegeben, die heute in den Zeitungen erschienen ist und die die Katastrophe und ihre Folgen — ich betone: in erfreulicher Offenheit und in dramatischer Weise — geschildert hat. Ich begrüße ausdrücklich — ich wiederhole dies heute genauso, wie ich es in der letzten Woche gesagt habe — diese offene Informationspolitik der Bundesregierung in diesem Punkt und hoffe — ich spreche dies deutlich aus —, daß dies in Zukunft anhält.
Viel zu lange hat es gedauert — das hat der Besuch und das Ergebnis des Besuchs der Expertenkommission bestätigt — , bis diese Expertenkommission vier Monate nach Kriegsende nach Kuwait gereist ist. Ich stelle die nicht nur rhetorische Frage — dies muß man zugestehen — : Wie wäre die Situation heute, wenn die Amerikaner dazu auch vier Monate gebraucht hätten?
Ich muß deshalb, bestätigt durch das Ergebnis dieses Besuchs, das zögerliche Verhalten der Bundesregierung erneut scharf verurteilen. Ungeschicktes Management, Unentschlossenheit, aber vor allem auch mangelndes Vertrauen der Bundesregierung in die Fähigkeit und in das Know-how deutscher Firmen und deutscher Experten beim Löschen von Ölbränden haben die unnötigen Verzögerungen verursacht.
Leider war die deutsche Expertenkommission — entgegen nachhaltig erhobenen Forderungen der SPD — ohne einen einheitlichen umfassenden Vorschlag für das Löschen der Ölquellen dorthin gereist. Jetzt kommen die Experten zurück, und was sagen sie? — Der Bundesforschungsminister Riesenhuber teilt mit, mehr oder weniger wörtlich wiedergegeben, die kuwaitische Seite habe die Deutschen aufgefordert, einen solchen einheitlichen umfassenden deutschen Vorschlag nun endlich — „endlich" füge ich hinzu — vorzulegen.
Das hatte ich Herrn Riesenhuber nach unserer Rückkehr von Kuwait schon vor Fünf Wochen genau in diesem Punkte mitgeteilt. Auch im persönlichen Gespräch hatte er eigentlich nichts gegen diese Verfahrensweise eingewendet. Übrigens hatte sich auch



Dr. Klaus Kübler
der deutsche Botschafter unmittelbar nach unserem Besuch entsprechend geäußert.
Wir alle wissen ja, daß die Katastrophe in Kuwait nicht kleiner, sondern immer größer wird. Ich will auch nicht zwischen den Zeilen der Erklärung von Herrn Riesenhuber lesen, daß die Deutschen dorthin müssen, um, was nachher ganz schwierig ist, abräumen zu helfen. Aber auch damit würde ich mich einverstanden erklären.
Die SPD sieht jetzt gleichwohl einen Fortschritt bei der Realisierung einer wirksamen deutschen Beteiligung beim Löschen der Ölbrände. Wer will, daß das bisherige Tempo der Löscharbeiten beschleunigt wird — dies ist nicht nur eine Frage Kuwaits — , der muß im Grunde die Beteiligung aller weltweit vorhandenen Löschkapazitäten fordern.
Sie wissen, daß der amerikanische Löschexperte Ted Adair davon gesprochen hat: Wenn es so weitergeht wie bislang — er hat seine amerikanischen Freunde und Arbeitskollegen genannt — , dann würden die Löscharbeiten noch fünf Jahre andauern.
Die sozialdemokratische Fraktion fordert deshalb die Bundesregierung erneut auf, auf politischer Ebene eine Beteiligung bei der Ölbrandbekämpfung durchzusetzen, gegebenenfalls auch dadurch, daß zu diesem Zweck auch Kontakte zur US-Regierung aufgenommen werden.
Ich frage deshalb insbesondere den Bundesforschungsminister — ich gehe davon aus, daß er dies hinterher zur Kenntnis nimmt —: Bis wann wird denn nun der konkrete Vorschlag für eine deutsche Löschexpertengruppe erarbeitet sein, und wann wird der Bundesforschungsminister nach Kuwait reisen? Da es bisher sehr schwerfällig gelaufen ist, muß sich wohl der Minister persönlich durch eine Reise bis hin vor Ort einschalten. Ich darf dies nicht nur ironisch sagen: Ich bitte den Bundesforschungsminister, sich rechtzeitig um ein Visum zu bekümmern, damit er nicht vier oder sechs Wochen braucht, um ein Visum zu erhalten.
Lassen Sie mich zum Schluß als Perspektiven folgendes sagen: Aus dem Völkerrecht kann durchaus eine Informations- und Kooperationspflicht Kuwaits abgeleitet werden. Ich komme deshalb kurz auch auf Kuwait zu sprechen. Wir müssen — nicht nur im Interesse Kuwaits, aber auch im Interesse Kuwaits — die Regierung von Kuwait auffordern, mögliche Vorbehalte gegen eine deutsche Beteiligung aufzugeben. Mögliche Vorbehalte: ausdrückliche habe ich nie gehört. Ich betone noch einmal: Selbst wenn mögliche Vorbehalte da sind, muß ich eben politisch handeln und muß wissen, wie ich diese möglichen Vorbehalte abbaue. Aber ich fordere die Regierung von Kuwait auf, mögliche Vorbehalte gegen eine deutsche Beteiligung aufzugeben. Ich bitte die kuwaitische Regierung auch, richtig zu verstehen, wenn ich unterstreiche und in Erinnerung rufe, daß sich Deutschland mit über 17 Milliarden DM an der Befreiung Kuwaits beteiligt hat.
Die Bundesregierung ist aufgefordert, auch die anderen Lehren zu ziehen und internationale Initiativen zu ergreifen. Lassen Sie mich in der Kürze der Zeit zwei oder drei Punkte ansprechen.
Es kann wohl nicht sein, daß auch relativ unzulängliche Umweltschutzabkommen völkerrechtlicher Art von der Bundesrepublik und auch von anderen Ländern unterzeichnet worden sind, aber von wesentlichen Ländern der EG und unseres Bündnisses NATO, wie immer man dazu auch steht, nicht ratifiziert worden sind. Was dem Umweltstandard in dieser völkerrechtichen Weise angeht, müssen die Partner der NATO, wenn wir uns als richtige Partner verstehen, und die Mitglieder der EG an einem Strang ziehen. Ich fordere die Bundesregierung auf, mit darauf hinzuwirken, daß die Länder, die nicht ratifiziert haben, in Richtung Ratifizierung arbeiten.
Ich bitte die Bundesregierung weiterhin und fordere sie auf, zu überlegen, wieweit das internationale Umweltschutzvölkerrecht fortzuschreiben ist. Ich spreche hier den Gedanken an, daß es wohl nicht sein kann, daß das internationale Umweltschutzrecht immer sofort zurückstecken muß, wenn militärische Notwendigkeiten unterstellt werden. Mit einer militärischen Notwendigkeit kann man in der Tat jede Umweltschutzmaßnahme aushebeln.
Ich fordere die Bundesregierung auch auf, ihre Überlegungen zu einem internationalen Strafgerichtshof — Überlegungen, die von ihr durch den Außenminister angesprochen wurden — weiter zu prüfen. Ich fordere die Bundesregierung auf, Haftungsfragen in diesem Zusammenhang zu klären, wer für solche Umweltschäden international zur Haftung zu ziehen ist.
Ich glaube, die Bundesrepublik Deutschland wäre gut beraten, wenn sie im internationalen Spektrum in schwierigen Situationen ihre Umweltaktivitäten und ihr Umweltprofil schärfen würde. Dies ist mit diesen Möglichkeiten als e i n Schritt gegeben.
Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste, beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203339300
Meine Damen und Herren, ich erteile der Abgeordneten Birgit Homburger das Wort.

Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1203339400
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kübler, Sie haben gerade gesagt, Sie wollten eigentlich nicht das wiederholen, was wir hier schon in der letzten Woche an gleicher Stelle gesagt haben. Aber ich denke, das wird sich nicht vermeiden lassen; denn sehr viel Neues in der Sache gibt es eigentlich seit letzter Woche nicht. Nach wie vor gibt es die gleiche schlimme ökologische Situation am Golf. Es brennen nach wie vor ungefähr gleich viele Ölquellen in Kuwait.
Im Umweltausschuß haben wir heute morgen in Fortsetzung der Expertenanhörung, die wir am 29. April durchgeführt haben, einen weiteren Zwischenbericht des Bundesministers für Umwelt erhalten. Dieser Bericht unterstreicht im Prinzip zweierlei: erstens, daß man nach wie vor nur unzureichend schnell oder, besser gesagt, viel zu langsam mit dem Löschen der Brände vorankommt, und zweitens, daß offensichtlich nach wie vor insbesondere von Kuwait



Birgit Homburger
und dem Iran die Brisanz der Lage nicht wirklich verstanden wird. Nur so ist aus Sicht der FDP jedenfalls zu erklären, daß weiterhin gezögert wird, die Hilfe, die z. B. in Form von zwei mobilen Meßstationen von der Bundesregierung angeboten wurde, anzunehmen. Es sind Hilfen von seiten der Bundesregierung angeboten worden — auch wenn das bestritten wird — , und sie sind nach wie vor nicht angenommen worden.
Anläßlich der Rückkehr einer deutschen Expertengruppe zur Bekämpfung der Ölbrände aus Kuwait
— Sie haben sie gerade schon zitiert, Herr Kübler — erklärte der Bundesforschungsminister gestern, daß Kuwait nun offensichtlich bereit ist, einen Einsatz deutscher Unternehmen beim Löschen der Ölbrände zuzulassen, und dafür auch einen Vorschlag einer Arbeitsgemeinschaft der beteiligten Firmen erbeten hat.
Nachdem Kuwait eine solche Hilfe in den vergangenen Monaten abgelehnt hat, ist es für mich eine erfreuliche Nachricht — —

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das trifft nicht zu! Ich sage das noch einmal ausdrücklich und habe das auch Herrn Riesenhuber vor fünf Wochen mitgeteilt!)

— Herr Kübler, Sie behaupten immer und immer wieder — das haben wir auch letzte Woche hier schon gehört — , daß Kuwait diese Hilfe nicht ablehnt. Es ist doch die Frage, wie diese Hilfe aussieht. Es ist eine ganze Menge Hilfe von seiten der Bundesregierung geleistet worden. Ich denke nur daran, daß eine Menge Material zur Ölbekämpfung in die Golfregion geliefert wurde, daß z. B. Ölbarrieren und Skimmer, also Ölabsaugpumpen, sowie aufblasbare Tanks hingeliefert wurden. Es sind z. B. allein 2 700 m Ölsperren und fünf große Skimmer an Saudi-Arabien im Wert von 4 Millionen DM gegeben worden.

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das ist doch ganz unbestritten! Das ist doch nicht das Problem!)

— Diese Hilfe ist auf jeden Fall gegeben worden. Es ist auch Kuwait Hilfe z. B. in Form zweier Meßwagen angeboten worden. Die Hilfe wird nach wie vor nicht angenommen. Es wird von Kuwait verhindert, daß die Meßstationen ins Land gelassen werden und daß sie die Arbeit aufnehmen können. Kuwait lehnt sie nach wie vor überwiegend deswegen ab

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das ist doch nicht das Problem!)

— doch! —, weil es darum geht, wer diese Hilfe bezahlt.
Ich muß Ihnen ganz deutlich sagen, was ich schon einmal gesagt habe: Ich sehe nicht ein, daß wir die Hilfen, die wir anbieten, kostenlos leisten, wenn andere Hilfen, z. B. aus den USA, die privatwirtschaftlich geboten werden, bezahlt werden. Das ist doch der springende Punkt. Ein Punkt war offensichtlich auch, daß Kuwait nicht akzeptiert hat, daß diese Hilfen von der deutschen Seite angeboten wurden.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203339500
Frau Kollegin Homburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kübler?

Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1203339600
Sicherlich. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1203339700
Ich stelle die Zwischenfrage deshalb, weil ich glaube, daß man in diesem Punkt wirklich Einigkeit erzielen kann. Ich wiederhole noch einmal, was ich schriftlich und mündlich mehrfach gesagt habe, und frage Sie, ob Sie nicht mitbekommen haben, daß ich natürlich erklärt habe, daß die Löscharbeiten auf kommerzieller Basis abgewickelt werden müssen, genauso wie die Amerikaner die Löscharbeiten auf kommerzieller Basis abwickeln. Darf ich Sie bitten, dies zur Kenntnis zu nehmen? Wenn Sie mit Ja antworten, bin ich voll zufrieden.

Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1203339800
Sie dürfen mich bitten, Herr Kübler; ich nehme es zur Kenntnis.
Es gibt einen Dissens also nur noch in der Frage, ob Kuwait die Hilfe abgelehnt hat oder nicht. Ich glaube nicht, daß wir diesen Dissens ausräumen werden.
Die Bundesregierung hat verschiedene Gespräche, z. B. auch mit dem Botschafter Kuwaits, geführt und sich ernsthaft bemüht, Expertenkommissionen hinunterzuschicken. Diese Hilfen wurden aber nicht angenommen. Ich meine, daß dieses Bemühen der Bundesregierung durchaus einmal anerkannt werden muß.
Ich möchte dazu noch folgende Bemerkung machen: Kuwait ist nach wie vor ein selbständiger Staat. Wenn die Kuwaitis nicht bereit sind, Hilfen, die angeboten werden, anzunehmen, dann können wir sie ihnen nicht aufzwingen.
Die FDP erwartet nun vor allen Dingen, daß schnellstmöglich ein Vorschlag dieser Arbeitsgemeinschaft erarbeitet und den Kuwaitis ein Angebot unterbreitet wird.
Gleichzeitig erwartet die FDP von der Bundesregierung, daß in weiteren Gesprächen mit der kuwaitischen Regierung und mit den Vertretern Kuwaits hier in der Bundesrepublik klargemacht wird, daß auch Kuwait eine Verantwortung für die entstehenden ökologischen Schäden trägt, insbesondere dann, wenn es durch eine Ablehnung von Hilfen dazu beiträgt, die Beiseitigung der Ursachen der ökologischen Schäden weiter hinauszuzögern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist hier also nochmals zu verdeutlichen, daß es a) eine regionale Verantwortung, aber b) auch eine internationale Verpflichtung für Kuwait gibt.
Im Hinblick auf die Ursache der verheerenden ökologischen Auswirkungen des Golfkrieges möchte ich aber auch noch eines aufgreifen und klarstellen, und zwar im Hinblick auf den Antrag des Bündnisses 90/ GRÜNE, nämlich daß aus unserer Sicht der irakische Diktator Saddam Hussein derjenige ist, der diese Umweltkatastrophe zu verantworten hat und niemand anders. Dies gilt insbesondere für die Ölpest und für die Luftverschmutzung, die durch die Ölbrände in Kuwait entstanden ist. Das rührt aus unserer Sicht aus einer verbrecherischen, gegen die Umwelt gerichteten und nichthinnehmbaren Kriegführung her. Das, glaube ich, sollte man nicht vergessen, wenn man einen solchen Antrag stellt.



Birgit Homburger
Daher ist es aus Sicht der FDP unumgänglich, alle erforderlichen Schritte zu unternehmen, um dem bereits geltenden Völkerrecht mehr Wirksamkeit und Beachtung zu verschaffen und um es auch der UNO zu ermöglichen, eine Kriegführung gegen die Umwelt sowie Verstöße gegen internationale Konventionen zum Schutz der Umwelt zu verhindern und auch zu ahnden.
Gleichzeitig gilt es auch erneut festzuhalten — das geht jetzt in Richtung Bundesregierung — , daß die Koordinationsprobleme — da stimmen wir ja überein, und zwar eigentlich durchgängig, auch im Umweltausschuß — , national und international noch nicht endgültig angegangen worden sind. Wenn, wie es in diesem Fall in der Bundesrepublik Deutschland ist, mehrere Minister zuständig sind, dann kommt es vor allen Dingen an den Nahtstellen zwischen den einzelnen Ministerien immer wieder zu erheblichen Problemen. Daher wiederhole ich hier für meine Fraktion die Forderung, daß diese Kompetenzschwierigkeiten unverzüglich auszuräumen sind.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Gleichzeitig wiederholt die FDP aber auch ihre Forderung, daß das Wissen, das auf verschiedenen Ebenen vorhanden ist, so z. B. in der Industrie, bei der Wissenschaft, aber auch in verschiedenen Fachministerien auf Verwaltungsebene, koordiniert werden muß und daß eine ökotechnologische Arbeitsgruppe installiert werden muß. Das Bündnis 90/GRÜNE hat das dankenswerterweise aufgenommen. Dies ist ein Punkt, bei dem wir übereinstimmen, auch wenn ich glaube, daß wir nicht ganz die gleiche Zielrichtung dieser Arbeitsgruppe sehen. Aber immerhin gibt es schon den gleichen Ansatz.

(Klaus Harries [CDU/CSU]: Die halten nichts vom Öl!)

Wir wollen also eine ökotechnologische Arbeitsgruppe auf nationaler Ebene einsetzen, die die Personen, die Fachwissen haben, umfassen muß.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Diese Gruppe muß dann Schwerpunktaufgaben erhalten.

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Diese richten sich nach den Katastrophen!)

— Das richtet sich natürlich nach den Katastrophen. Es ist ja Wissen in verschiedensten Bereichen vorhanden, Herr Kübler. Dies bezieht sich nicht nur auf Ölunfälle, sondern auch auf Chemieunfälle und andere Umweltkatastrophen. Dieses Wissen sollte man endlich bündeln und in einer Arbeitsgruppe zusammenführen, um zu verhindern, daß beim Eintreten eines Ernstfalles Reibungsverluste entstehen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Insofern sind wir ja, wie ich sehe, alle so ziemlich einig. Das ist genau der Wunsch. Das sollte sich die Bundesregierung zu Herzen nehmen, und sie sollte diese Arbeitsgruppe einrichten.
Ich möchte noch kurz ein paar Worte zu den Aufgaben dieser Arbeitsgruppe sagen, also zu dem, was sie aus unserer Sicht tun soll. Sie soll eine ökotoxikologische Schadens- und Risikodefinition vornehmen; sie soll humantoxikologische Problembeschreibungen erarbeiten und sie soll auch für die technische Eindämmung und Beseitigung von Schäden sorgen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203339900
Frau Kollegin Homburger, lassen Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Kübler zu?

Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1203340000
Wenn ich meinen Satz zu Ende geführt habe, darf er eine Zwischenfrage stellen.
Die Arbeitsgruppe — diesen Gedanken wollte ich nur zu Ende führen — muß wiederum Teil einer internationalen „task force" sein, die in UNEP, IMO und USAID eingebunden wird.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203340100
Bitte, Kollege Kübler.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1203340200
Frau Homburger, wird die FDP ihren Kollegen, den Außenminister Genscher, veranlassen, darauf zu drängen, daß die jetzigen internationalen Umweltvorschriften z. B. auch von den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich ratifiziert werden?

Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1203340300
Ich glaube, wir brauchen unseren Bundesaußenminister, Herrn Genscher, nicht dazu zu drängen, sich für die Ratifizierung solcher Konventionen einzusetzen. Er hat sich in den vergangenen Jahren immer sehr für diese Sache engagiert. Ich denke, es ist überflüssig, da erneut auf ihn Druck ausüben zu wollen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bei diesen Bemerkungen zum Antrag des Bündnisses 90/ GRÜNE möchte ich es eigentlich belassen. Ich denke, das sind die wichtigsten Punkte, die aus unserer Sicht anzumerken sind.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203340400
Meine Damen und Herren, wir haben die Tagesordnung umgestellt. Das bringt für mache Kolleginnen und Kollegen natürlich auch Probleme mit sich. Ich bitte deswegen um Ihr Einverständnis, daß die Rede unserer Kollegin Frau Jutta Braband zu Protokoll genommen wird. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. )
Jetzt hat Herr Staatssekretär Bernd Schmidbauer das Wort.

Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1203340500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Als Konsequenzen der ökologischen Auswirkungen des Golfkriegs macht der Ruf
') Anlage 7



Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer
nach Ächtung der Umweltkriegführung die Runde. Dem kann man im Ergebnis nur zustimmen. Allerdings muß man wissen, daß entsprechend dem Umweltkriegsübereinkommen von 1977 und den Zusatzprotokollen zu den Genfer Konventionen Umweltkriegshandlungen, wie Saddam Hussein sie begangen hat, bereits eindeutig dem Völkerrecht widersprechen. Beide Völkerrechtsinstrumente gehen davon aus, daß Kriegshandlungen untersagt sind, welche entweder umweltverändernde Technik einsetzen oder die zu einer weiträumigen, langandauernden und schwerwiegenden Auswirkung in der Umwelt führen.
Man hat uns berichtet, Herr Kollege Kübler, daß namhafte Experten, die anläßlich der öffentlichen Anhörung Ihrer Partei zu den völkerrechtlichen Fragen der Umweltkriegführung am 10. Juni angehört worden sind, die Meinung vertreten, daß die vorhandenen Völkerrechtstexte im wesentlichen ausreichend seien, aber es fehle die weltweite Geltung, die Ratifikation durch wichtige Staaten. Hier scheint mir einer der wichtigen Ansätze zu sein.
Es besteht, glaube ich, über alle Parteigrenzen in diesem Hause hinweg Einvernehmen darüber, daß dem Grundgedanken zur Vermeidung der Umweltkriegführung weltweite Geltung zu verschaffen ist. Die Bundesregierung wird die anstehende Umweltkonferenz 1992 in Brasilien zum Anlaß nehmen — der Umweltminister hat ja, wenn ich mich recht erinnere, auch im Ausschuß darauf hingewiesen —, daß wir mit dieser Zielrichtung andere Staaten auffordern, die genannten Völkerrechtsverträge zu ratifizieren. In einem weiteren Schritt muß geprüft werden, ob und wie die Rolle der Vereinten Nationen mit dieser Zielrichtung verstärkt werden kann. Dies scheint mir wichtig zu sein. Dies muß eine der wichtigen Konsequenzen aus dieser Situation, aus dieser Umweltzerstörung sein. Sie kennen auch unser Bemühen, in diesem Zusammenhang auf der Ebene der Vereinten Nationen ein Stück weit voranzukommen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203340600
Herr Staatssekretär, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kübler zu?

Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1203340700
Selbstverständlich, Herr Präsident.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203340800
Bitte, Herr Kollege Kübler.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1203340900
Ich bin für diese Äußerung sehr dankbar, und ich darf Sie deshalb fragen, ob ein Unterschied zwischen Ihrer Auffassung und der Auffassung der Kollegin Homburger von der FDP dahin gehend besteht, ob es nicht angezeigt ist, den Bundesaußenminister nicht doch weiterhin zu bitten, nachdrücklich darauf hinzuwirken — das ist ja nicht nur ein Vorwurf in bezug auf die Vergangenheit, sondern das ist ja auch ein Zukunftsaspekt — , daß diese Verträge nun wirklich ratifiziert werden?

Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1203341000
Es besteht zwischen mir und der Frau Kollegin Homburger hier überhaupt kein Dissens. Ich gehe wie sie davon aus, daß unser Außenminister dies ebenfalls zum Anlaß nimmt, entsprechend tätig zu werden. Äußerungen von ihm in den letzten Wochen belegen dies eindeutig. Ich glaube nicht, daß er hier Nachhilfe braucht oder daß er hier von uns noch besonders darauf hingewiesen werden muß. Frau Homburger sagte dies ja auch. Ich glaube auch, daß es Ihrem Anliegen entspricht, wenn so verfahren wird, wie ich es soeben zitiert habe. Wir brauchen dabei Unterstützung auf einer breiten Ebene, und zwar nicht nur im nationalen, sondern auch im europäischen Rahmen und auch im internationalen Bereich. Ich denke, daß wir in den Zielen, die wir hier verfolgen müssen, weitgehend übereinstimmen. Ich habe es soeben zum Ausdruck gebracht.

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Frau Homburger hat es gehört! — Birgit Homburger [FDP]: Ich habe es gehört!)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zum Antrag der Gruppe Bündnis 90/ GRÜNE will ich nur sagen, Herr Kollege Feige, daß der Antrag aus unserer Sicht natürlich teilweise verfehlt ist, teilweise auch überholt ist und in dem Zusammenhang teilweise natürlich auch sehr wichtige Probleme aufwirft, die wir allgemein diskutieren müssen. Das will ich hier klar und deutlich sagen.
Wenn Ihr Antrag aber das Ziel verfolgt, „jetzt den Ausstieg aus der Abhängigkeit unserer Wirtschaft vom Erdöl einzuleiten" , dann sage ich Ihnen: Wer diese Folgerungen aus dem schrecklichen Mißbrauch des Öls als Waffe durch Saddam Hussein zieht, verkennt die eigentliche umweltpolitische Problemlage des Kuwait-Krieges. Er verkennt auch die für wesentliche Wirtschaftszweige auf längere Sicht absolute Unentbehrlichkeit des Erdöls. Wir verkennen aber nicht, daß wir eine bestimmte Unabhängigkeit erreichen und daß wir diesen Weg weiterverfolgen müssen. Aber dem Ausstieg, so wie er hier gefordert wird, kann ich nicht folgen. Wer heute den Menschen einredet, wir könnten uns bereits jetzt mit dem Ausstieg aus der Abhängigkeit unserer Wirtschaft vom Erdöl befassen, der verharmlost das Problem, teilweie auch sehr irreführend.
Die Bundesregierung — das ist von ihr wiederholt betont worden — verurteilt den Umweltkrieg Saddam Husseins. Der völkerrechtswidrige, vorher für undenkbar gehaltene umweltverachtende Einsatz des Erdöls als Waffe wurde von der Bundesregierung von Anfang an schärfstens verurteilt.

(Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP])

Wer allerdings der Öffentlichkeit glauben machen will, wir hätten dies von vornherein verhindern können, oder gar, daß wir das in Zukunft tun könnten, verbreitet Legenden. Das war wohl auch nicht Ihre Absicht. Ich unterstelle Ihnen das gar nicht. Da jedenfalls geht dieser Antrag an der Wirklichkeit vorbei. Wir verwahren uns ausdrücklich gegen jeden Versuch, der Bundesregierung eine Art tatsächlicher oder moralischer Mitverantwortung an den Umweltauswirkungen des Golfkriegs zu unterschieben.

(Beifall bei der CDU/CSU)




Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer
Von den Umweltverbrechen Saddam Husseins darf nicht abgelenkt werden. Ich habe das auch zum Anlaß genommen, vor dem Verwaltungsrat der Vereinten Nationen noch einmal auf diesen Punkt hinzuweisen. Das militärisch sinnlose Sprengen und Anzünden von ungefährt 600 unter hohem Gasdruck stehenden Ölquellen ist und bleibt ein Umweltverbrechen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Kollege Kübler, ich sage es noch einmal. Ihre Aussage wird nicht richtiger, wenn Sie sie ständig wiederholen. Dem Ziel nach sind wir uns in vielem einig. Ich konzediere Ihnen auch Ihr Engagement in diesen Punkten. Aber eines will ich hier noch einmal feststellen: daß die Bundesregierung sehr rasch reagiert hat. Die Bundesregierung hat von Anfang an schnelle und großzügige Hilfe bei der Bekämpfung der Ölpest geleistet. Wir haben Experten und Ölwehrgerät zur vorsorglichen Entlastung der lebenswichtigen Meerwasserentsalzungsanlagen und ein leistungsfähiges Ölauffangschiff in den Golf geschickt. Das Gerät wurde bereits im Februar aus Gründen der Vorsorge dort stationiert, von wo die ersten klaren Hilfeersuchen vorlagen, nämlich in Katar und Bahrain.
Bereits eine Woche nach dem Waffenstillstand, Anfang März 1991, ist Bundesumweltminister Töpfer mit einer fachlich breit zusammengesetzten Expertengruppe in die Golfregion geflogen, um eine erste Bestandsaufnahme der Umweltschäden zu versuchen. Er hat bei dieser Gelegenheit die technische und wissenschaftliche Hilfe der Bundesrepublik Deutschland angeboten. Ich sage noch einmal sehr deutlich: Diese Hilfe ist von uns zu diesem Zeitpunkt, kurz nach Beendigung des Krieges, angeboten worden. Aus Sicherheitsgründen wurde kurzfristig die Landung in Kuwait verweigert, nicht weil Töpfer nicht nach Kuwait wollte, sondern weil es nicht möglich war, zu diesem Zeitpunkt dort zu landen.
In dem von der Ölpest stark betroffenen Saudi-Arabien konnte nach einer beispiellosen Aktion bester Zusammenarbeit zwischen den Bundesressorts in kürzester Frist ebenfalls wichtiges Ölwehrgerät zur Verfügung gestellt werden: sieben Großraumflugzeugladungen im Wert von annähernd 4 Millionen DM. Umweltminister Töpfer konnte anläßlich seiner Gespräche in Saudi-Arabien das dort dringend benötigte Ölwehrgerät bereits am 10. März — das war die erste Landung — übergeben. Ich bitte Sie, dann nicht ständig die Vorwürfe zu bringen: Fehlanzeige, Nullanzeige, zu spät und überhaupt nicht. Wir haben sehr rasch und sehr schnell, auch beispielhaft für andere Länder, gehandelt. Das wird auch von den Staaten der Golfregion anerkannt.
Inzwischen haben auf unsere Initiative hin — das darf ich noch sagen — eigene Luftmeßflüge stattgefunden, weil wir wegen der bedeutenden Umweltauswirkungen der Rauchwolken aus den Ölbränden auf verläßliche eigene Daten nicht verzichten wollten. Die Einzelauswertung wird in den nächsten Wochen erfolgen. Es kann aber schon jetzt bestätigt werden, daß die Rauchentwicklung das Regionalklima im Umkreis von einigen hundert bis höchstens ein- bis zweitausend Kilometern beeinträchtigen kann, keinesfalls aber das Weltklima. Auch das ist inzwischen unstrittig. Ebenfalls unstrittig ist die Ausbreitung der Rußpartikel.
Die beiden für Kuwait und Iran aus humanitären Gründen kostenlos bereitgestellten Meßfahrzeuge zur Messung der Luftverschmutzung in Kuwait City und im Iran stehen bereit. Sie können sofort per Luftfracht und in Begleitung der Experten in Marsch gesetzt werden, wenn die Gaststaaten die zur persönlichen Sicherheit der Begleitmannschaft unerläßlichen Vereinbarungen ausdrücklich anerkannt haben. Diese ausdrückliche Zustimmung der Gaststaaten zu den Vereinbarungen wird von uns nahezu täglich angemahnt. Wir halten es für unverantwortlich, die Luftmeßfahrzeuge nach der Hauruck-Methode und ohne schriftliche Zustimmung der Gastländer zu den Vereinbarungen in Kuwait City und im Iran zu stationieren, so wie manche uns das nahelegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203341100
Herr Staatssekretär, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Kübler?

Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1203341200
Wenn ich den nächsten Satz noch sagen darf.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203341300
Bitte.

Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1203341400
Unsere Regierung kann in Kuwait nur tätig werden, wenn wir dazu vom Gastland ausdrücklich aufgefordert sind. Kuwait ist ein souveräner Staat. Ausdrückliche Vereinbarungen zwischen Regierungen entsprechen dem zivilisierten Miteinander einer auf Völkerverständigung und Völkerrecht angewiesenen Staatengemeinschaft. Jede Eigenmächtigkeit wird von uns strikt abgelehnt.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203341500
Herr Kollege Kübler, bitte.

Dr. Klaus Kübler (SPD):
Rede ID: ID1203341600
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, finden Sie es nicht auffallend, daß praktisch alle Länder, von den USA bis zu den Niederlanden — ich beziehe mich da auf Ausführungen von Herrn Bundesminister Töpfer in der vorletzten Umweltausschußsitzung —, die unterschiedlichsten Hilfsmaßnahmen in Kuwait durchsetzen konnten — ich spreche immer über Kuwait — und daß das dieser Bundesregierung nicht gelungen ist? Ich frage: Hat sie da nicht genügend getan, ist sie so untalentiert, oder sind die Beziehungen so schlecht,

(Klaus Harries [CDU/CSU]: Das wird doch langsam penetrant, Herr Kübler!)

daß keine unserer Maßnahmen dort bis jetzt zum Einsatz gekommen ist? Dies ist doch eine grundsätzlich politische Frage. Ich frage Sie: Woran liegt dies?

Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1203341700
Herr Kollege Kübler, ich habe Ihnen das in



Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer
dieser besagten Umweltausschußsitzung ja in großer Offenheit vorgetragen.

(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ich kann nur noch einmal betonen, daß sich die Bundesregierung seit März 1991 auf den unterschiedlichsten Kanälen bei den kuwaitischen Dienststellen um eine entsprechende Aufforderung, um entsprechende Hilfe — wenn Sie so wollen — bemüht hat. Es entspricht aber der Praxis Kuwaits — ich will das auch einmal offen ansprechen — , an der Löschung der Ölbrände und dem Wiederaufbau des Landes auf kommerzieller Basis zunächst nur diejenigen Länder zu beteiligen, die sich an der Seite Kuwaits am GolfKrieg beteiligt hatten. Dies ist eben so. Von der kuwaitischen Regierung liegt bis heute keine eindeutige Aufforderung vor, daß sich die deutsche Industrie auf kommerzieller Basis an der Löschung der Ölbrände beteiligen möge.
Ich will Ihnen weiter sagen: Wir haben jetzt die Chance, mit diesen Experten auf einer anderen Basis zu beginnen — wenn Kuwait dies wünscht; dies scheint nun so zu sein —, d. h. uns aktiv an der Löschung dieser Ölbrände zu beteiligen.
Wir haben versucht, nachdem wir gesehen hatten, daß es Vorbehalte gegen bestimmte Staaten gab — Sie wissen, daß es Japan nicht anders ergangen ist als der Bundesrepublik Deutschland — , aus diesem Dilemma herauszukommen, indem Bundesumweltminister Töpfer auf der Tagung des EG-Umweltrates am 18. März 1991 intensiv für eine Aktion der Europäischen Gemeinschaft geworben hat. Wir wollten gemeinsam mit der Europäischen Gemeinschaft die Umweltkrise am Golf bewältigen.
Nach langem Zögern hat die kuwaitische Regierung den offiziellen Besuch einer deutschen Expertengruppe zu diesem Termin gebilligt. Auch dies ist Ihnen klar, und auch dies haben wir sehr offen betont.
Ich will Ihnen auch sagen — damit das noch einmal deutlich wird — : Gespräche von Vertretern des BMFT mit der kuwaitischen Ölindustrie in London waren bereits Anfang Mai 1991 vorausgegangen. Seit dieser Zeit finden im BMFT intensive Koordinierungsgespräche über die technischen Möglichkeiten der Ölbrandbekämpfung statt.
Wir gehen aber davon aus — dies besagt auch die Presseerklärung und dies hat auch Bundesumweltminister Töpfer dem Ausschuß mitgeteilt — , daß wir nach dieser Expertenreise noch einmal mit einem entsprechenden umfassenden Angebot an Kuwait herantreten. Wir gehen weiter davon aus, daß wir uns dann auf Bitten Kuwaits hin in diesem, wie ich finde — und das sagen auch Sie —, sehr wichtigen Bereich engagieren können. Dies muß — auch das will ich noch einmal betonen — auf kommerzieller Basis abgewikkelt werden. Wir meinen, daß auch der kuwaitischen Regierung inzwischen klar ist, daß zusätzliche technische Hilfe aus Europa zwecks schnellerer Beendigung der Ölbrände im Interesse Kuwaits und im Interesse des Gesundheits- und Umweltschutzes auch in den Nachbarstaaten notwendig ist.
Lassen Sie uns insofern an einem Strang ziehen. Lassen Sie uns bitte nicht ständig wiederholen, daß die Bundesregierung in diesem Zusammenhang zu langsam oder überhaupt nicht gehandelt habe. Auch längeres Herbeten dieser Vorwürfe macht diese Vorwürfe nicht richtig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: Ja, sicher, viel zu spät!)

Wir haben Ihnen detailliert ausgeführt, welche Bemühungen notwendig waren. Lassen Sie uns hoffen, daß das Angebot jetzt angenommen wird und daß wir mithelfen können, daß die Ölbrände wesentlich rascher gelöscht werden, als es in den vergangenen Wochen ausgesehen hat.
In meinem Gespräch mit dem Umweltminister Saudi-Arabiens hat sich eindeutig ergeben, daß wir gemeinsam an einem Strang ziehen müssen

(Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: Ja, aber schneller!)

und daß die Bundesrepublik Deutschland ein wichtiger Partner bei der Lösung dieser Umweltproblematik am Golf ist.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das war zuviel Rechtfertigung! Das macht nachdenklich!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203341800
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 11.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/779 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den vorhin zurückgestellten Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, Dietmar Schütz, Harald B. Schäfer (Offenburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Minderung der Ozon-Belastung — Maßnahmen zur Bekämpfung des Sommer-Smogs
— Drucksache 12/772 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Verkehr
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Liesel Hartenstein.

Dr. Liesel Hartenstein (SPD):
Rede ID: ID1203341900
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren ist der Sommersmog zur Geißel nicht nur unserer Innenstädte geworden, sondern auch zur Geißel vieler sogenann-



Dr. Liesel Hartenstein
ter Reinluftgebiete. Seit Jahren ist die Bundesregierung leider untätig geblieben. Sie hat nichts Entscheidendes unternommen, um dem Übelstand abzuhelfen. Dies muß sich endlich ändern.
Nun werden wir gleich von Regierungs- oder Koalitionsseite sicherlich auf die segensreichen Taten der Vergangenheit hingewiesen werden, z. B. auf die legendäre Großfeuerungsanlagen-Verordnung von 1983, die unbestritten die NOX-Emissionen reduziert hat. Aber dieser Rückgriff, so denke ich, ist insofern antiquiert, als er die Untätigkeit auf anderen Gebieten nicht wettmachen kann.
Der Sommer 1991 läßt sich viel Zeit; das ist wahr. Aber dennoch kann man unschwer die Prophezeiung wagen: Der nächste Ozonsmog kommt bestimmt. Hauptverursacher ist der motorisierte Straßenverkehr. Auf unseren Straßen tummeln sich mittlerweile rund 32 Millionen Kraftfahrzeuge, und ihre Zahl steigt ständig an. Sobald eine längere Schönwetterperiode eintritt, entsteht aus den Stickoxid- und Kohlenwasserstoffemissionen jene gefährliche Ozonmixtur, die Gesundheitsschäden hervorruft. Hustenreiz, Augenbrennen, Atembeschwerden, Kopfschmerzen — das sind nur einige der krankmachenden Phänomene. Risikogruppen, wie alte Menschen, Kinder und Schwangere sind besonders hart davon betroffen.
Seit langem sind diese Zusammenhänge bekannt. Seit langem werden wirksame Gegenmaßnahmen gefordert, aber die Schadstoffquellen sprudeln ungehemmt weiter. Bis heute gibt es eben leider keine verbindlichen Grenzwerte für Ozonsmog. Es gibt kein bundeseinheitliches Warnsystem. Es gibt vor allen Dingen keine Rechtsgrundlage für die Kommunen, um weiträumige Verkehrsbeschränkungen verhängen zu können.
Die Bundesregierung hat sich lediglich damit begnügt, Verhaltensempfehlungen auszusprechen: Man solle bitte schön ab einer Konzentration von 180 Mikrogramm/m3 keine körperlichen Anstrengungen unternehmen, z. B. kein Jogging machen, man solle Aufenthalte im Freien vermeiden, die Kinder ins Haus zurückholen. Im letzten Jahr wurde sogar der Rat gegeben, intensives Atmen zu unterlassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, soll das etwa heißen, das Atmen von Zeit zu Zeit einzustellen? Zynischer geht es nun wirklich nicht mehr. Hier wird das Verursacherprinzip auf den Kopf gestellt. Statt die Ursachen zu bekämpfen, werden den potentiell Geschädigten perfide Ratschläge erteilt. Es ist an der Zeit, endlich zu handeln und das jährliche Ritual bloßer Ankündigungen einzustellen.
Unser Antrag enthält ein Bündel konkreter Maßnahmen, die alle notwendig und auch alle realisierbar sind. Ich nenne nur die wichtigsten Forderungen. Erstens soll ein Ozongrenzwert von 120 Mikrogramm/ m3 als Luftqualitätsziel festgelegt werden, entsprechend der VDI-Richtlinie und den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation. Dieser Wert gilt in der Schweiz ab 1994 als verbindlicher Grenzwert; er darf höchstenfalls einmal pro Jahr überschritten werden.
Zweitens wird die Bundesregierung aufgefordert, bis Juli 1992 Maßnahmepläne aufzustellen, aus denen hervorgeht, wie dieses Luftqualitätsziel bis 1996 erreicht werden kann. Dazu gehören Konzepte zur Drosselung des Verkehrsvolumens. Dazu gehören auch der beschleunigte Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel, die Einführung einer Entfernungspauschale anstelle der bisherigen Kilometerpauschale und nicht zuletzt die Einführung eines Tempolimits von 120 km/h auf Autobahnen und 90 km/h auf den übrigen Außerortsstraßen. Allein damit könnten mindestens 130 000 t Stickoxide eingespart werden. Das sind immerhin 8 % der jährlichen Gesamtverkehrsemissionen.
Es ist höchst bemerkenswert, daß inzwischen sogar der Arbeitskreis Umwelt der CSU diesem Vorschlag beigetreten ist

(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sehr guter Kommentar!)

und im Juli auf dem kleinen Parteitag der CSU in München einen entsprechenden Antrag einbringen will. Man darf gespannt sein. Offensichtlich sollte man die Hoffnung nie aufgeben, daß sich ökologische Einsicht letztendlich doch durchsetzt, auch in Bayern.

(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wieso, Bayern ist doch Vorreiter!)

Meine Damen und Herren, der Verkehrsbereich nimmt eine Schlüsselstellung bei der Bekämpfung des Sommersmogs ein. Jährlich werden 2,8 Millionen t Stickoxidemissionen in die Luft gejagt. Davon gehen immerhin fast 69 % auf das Konto des Autoverkehrs.
Einer der Hauptgründe dafür ist neben der wachsenden Zahl der Kraftfahrzeuge die Tatsache, daß Jahr für Jahr schneller gefahren wird; oder um es deutlicher zu sagen: daß wieder gerast wird. Knapp die Hälfte aller Pkw fährt heute schneller als 130 km/h. Jeder siebte Pkw fährt sogar schneller als 150 km/h. Die mittlere Lkw-Geschwindigkeit liegt heute bereits bei 87,3 km/h, obwohl für Lastwagen bekanntlich ein Tempolimit von 80 km/h gilt. Ich denke, in diesem Zusammenhang sollte man doch daran denken, einen Geschwindigkeitsregler für Lkw einzuführen. Das wäre eine nützliche Angelegenheit.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und beim Bündnis 90/GRÜNE)

Auch die Unfallsituation hat sich auf den Autobahnen leider verschärft. Die Zahl der Verkehrstoten auf den Autobahnen ist im letzten Jahr um sage und schreibe 20,3 % angestiegen. Das ist eine traurige Bilanz; um so mehr, als die Zahl der Verkehrstoten auf den übrigen Straßen unseres Landes glücklicherweise zurückgegangen ist.
Als weitere Maßnahmen sind die Einführung von Höchstverbrauchswerten für alle Kraftfahrzeugtypen und eine Zielvorgabe, wonach bis zum Jahre 2000 der Durchschnittsverbrauch der gesamten neu verkauften Flotte höchstens fünf Liter pro 100 Kilometer betragen soll, noch zu nennen. Dies ist realistisch und wird auch von der Automobilindustrie als machbar bestätigt. Schließlich sollte die lange angekündigte, aber nie erlassene Verordnung zur Einführung des Gaspendelverfahrens endlich kommen. Die Schweiz hat dieses Systems bereits obligatorisch eingeführt, und auch in



Dr. Liesel Hartenstein
den USA ist es in einer Reihe von Bundesstaaten bereits verwirklicht.
Last but not least wird der Umweltminister aufgefordert, ein Defizit aufzufüllen, das er schon längst hätte beheben können — die Rede ist von der Rechtsverordnung nach § 40 Bundes-Immissionsschutzgesetz — , damit die Länder und die Kommunen endlich in die Lage versetzt werden, verkehrsbeschränkende Maßnahmen anordnen zu können. Nach Pressemeldungen fordert Umweltminister Töpfer selbst autofreie Innenstädte für die Sommermonate. Er verweigert aber bis jetzt den Ländern und den Gemeinden die rechtliche Handhabe dafür. Wie reimt sich das zusammen?

(Beifall bei der SPD — Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ach, der verweigert das doch nicht! — Klaus Harries [CDU/CSU]: Das ist doch heute schon möglich!)

— Nein, sie können es nicht. Sie können keine weiträumigen verkehrsbeschränkten Maßnahmen verfügen. Herr Harries, das stimmt nicht.

(Klaus Harries [CDU/CSU]: Aber es geht um die Innenstädte!)

— Nein, es geht um weiträumige Maßnahmen.

(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist ein Unterschied!)

Wir schlagen vor, daß Fahrbeschränkungen nur für diejenigen Pkw gelten sollen, die nicht mit einem geregelten Dreiwegekatalysator ausgestattet sind. Umweltfreundliche Fahrzeuge brauchen nicht am Straßenrand stehenzubleiben. Sie sollten Benutzervorteile genießen. Nur so, lieber Herr Kollege Klinkert, kann das Anreizsystem unserer Meinung nach funktionieren.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

Die Situation ist brisant. Im letzten Jahr wurde der Richtwert 120 Mikrogramm/m3 in vielen Städten um das Doppelte und um das Dreifache überschritten. Die Situation ist nicht zum Spaßen. Das gilt für Berlin, für Hamburg, für Stuttgart, für Hannover und für München. In manchen Regionen wurden sogar Spitzenwerte über 300 Mikrogramm/m3 gemessen. Das sind absolut unverantwortliche Zustände.
Warum — so muß man doch fragen — erfolgen nicht wenigstens rechtzeitige und offene Informationen über die tatsächlichen Verhältnisse? Es kann doch nicht angehen, daß regelmäßig Wasserstandsmeldungen über die Rundfunksender gehen und Pollenflugvorhersagen gemacht werden, und zwar mit akribischer Genauigkeit, und daß die Menschen nicht rechtzeitig, nicht regelmäßig und nicht offen über die tatsächlich vorhandene Ozonbelastung unterrichtet werden. Hier geht es doch um ihre Gesundheit. Man sollte nicht warten, bis die Krankenwagen laufend durch die Straßen tuten. Auch das Warten auf europaweit einheitliche Grenzwerte ist keine Lösung.
Der Ozonstau in Bodennähe ist nicht nur ein alltägliches Gift für die Gesundheit, er gehört auch zu den Hauptsündern beim Waldsterben. Er trägt mindestens 10 % zum Treibhauseffekt bei.
Alles in allem Gründe genug, um endlich etwas zu unternehmen. Die Ozonsaison 1991 steht mit Sicherheit vor der Tür. Deshalb ist jetzt Vorsorge geboten. Mit Abwarten, Augenverschließen und Atemanhalten kann man keine verantwortliche Umweltpolitik machen.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203342000
Meine sehr verehrten Damen und Herren, als nächster Redner hat jetzt das Wort der Abgeordnete Dr. Peter Paziorek.

Dr. Peter Paziorek (CDU):
Rede ID: ID1203342100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Hartenstein, ich habe ja Verständnis dafür, daß die Opposition immer wieder versucht, der Regierung Versäumnisse in ihrer Arbeit vorzuhalten. Das ist vielleicht auch die Aufgabe der Opposition. Ich glaube aber, daß die Opposition in ihrer politischen Arbeit überzeugender wäre, wenn sie erkennen würde, daß Untätigkeit nicht der Stil dieser Regierungskoalition ist, vor allen Dingen nicht im Bereich des Umweltschutzes. Das können wir für diese Koalition ganz selbstbewußt herausstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In der letzten Woche habe ich für meine Fraktion bei der Aussprache über die für 1992 geplante Umweltkonferenz eine grundlegende Umstrukturierung im Verkehrsbereich gefordert.

(Monika Ganseforth [SPD]: Dann mal zu!)

Durch diese Umstrukturierung soll ein wesentlicher Beitrag zur Verminderung der CO2-Emissionen in Deutschland geleistet werden. Diese Forderung hat ihre Berechtigung nicht nur in einer Vorsorgepolitik zum Schutz der Erdatmosphäre. Vielmehr macht sie einen Sinn, wenn die in den Sommermonaten auftretenden Ozon-Spitzenwerte umweltpolitisch und medizinisch bewertet werden.
Langjährige Messungen zeigen neben abnehmenden Immissionsbelastungen eine ansteigende Tendenz bei den Stickoxiden und vor allem für das Ozon.

(Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: So ist es!)

Dabei spielt das Ozon eine Sonderrolle, da es nicht als primärer Schadstoff emittiert wird, sondern sich in komplexen Reaktionsabläufen bildet.
Man kann es wie folgt auf den Punkt bringen: Ab etwa 20 °C und bei starker Sonneneinstrahlung entsteht u. a. aus den Autoabgasen Stickoxid und Kohlenwasserstoff der Sommersmog mit dem aggressiven Gas Ozon. Dieses Ozon beschleunigt das Sterben unserer Wälder und kann bei Menschen zu gefährlichen gesundheitlichen Folgen durch eine Abnahme der Lungenfunktion führen.
Drastischer und damit einprägsamer ist dies so zu beschreiben, daß die Ozonmoleküle mühelos in die menschliche Lunge eindringen und dabei das Lungengewebe zerstören können. Die Warnungen vor erhöhten O3-Konzentrationen beim Sommersmog ha-



Dr. Peter Paziorek
ben in den letzten Jahren somit zu Recht bei der interessierten Bevölkerung viele Fragen aufgeworfen.
Die Regierungskoalition kann dabei auf ein Bündel von Maßnahmen gegen Ozon und Sommersmog verweisen. So hat diese Bundesregierung durch eine konsequente Luftreinhaltepolitik in den letzten Jahren bereits entscheidende Fortschritte zur Reduzierung des NOx und der Kohlenwasserstoffe erreicht. Mit der — ich muß es erwähnen, Frau Hartenstein; Sie haben es sich fast schon gedacht — Großfeuerungsanlagen-Verordnung, der TA Luft sowie der Einführung des geregelten Dreiwegekat sind wirkungsvolle Regelungen durchgesetzt worden. Diese Maßnahmen haben schon zu geringeren Emissionen geführt und werden insgesamt — es war schade, daß Sie das nicht erwähnt haben — zu einer Verminderung der Emissionen an NO um mehr als 30 % bis Mitte der 90er Jahre führen. Bei den Kohlenwasserstoffen werden die angeführten Maßnahmen im Bereich der stationären Anlagen des Verkehrs und der Produkte bis zu diesem Zeitpunkt eine Reduzierung um rund 40 % erbringen.

(Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: 30 % bis 40 % von wieviel?)

Da jedoch der Verkehr auf Grund der gesamteuropäischen Entwicklung weiter zunehmen wird, Herr Kollege Böhme, reichen diese Maßnahmen nicht aus. Meine Fraktion setzt sich daher nachdrücklich für weitere Maßnahmen zur Reduzierung der Vorläufersubstanzen für Ozon und Sommersmog aus dem Verkehrsbereich ein. Wir setzen dabei auf folgende Schritte: auf eine weitere drastische Verschärfung der Abgasnormen für Benzinfahrzeuge und für Lastkraftwagen auch gegenüber den gerade vom EG-Umweltrat beschlossenen Grenzwerten, auf eine Verordnung zur Rückführung von Kohlenwasserstoffdämpfen beim Betanken, auf eine kontinuierliche Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene und auf die Erarbeitung umweltschonender Stadtverkehrskonzepte unter stärkerer Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs.

(Monika Ganseforth [SPD]: Und wo merkt man was davon?)

In diesem Zusammenhang begrüßt meine Fraktion die Absicht des Bundesumweltministers, den Entwurf einer Verordnung nach § 40 Abs. 2 BImSchG vorzulegen, die den zuständigen Länderbehörden kleinräumige Verkehrsbeschränkungen, z. B. im Innenstadtbereich, für den Fall ermöglichen soll, daß die in der Bundesverordnung zu regelnden Schadstoffkonzentrationen überschritten sind. Wir begrüßen es, daß der Umweltminister z. B. den Kommunen vor Ort mit einer solchen Verordnung Mut machen will. Denn die rechtlichen Möglichkeiten zu Verkehrsbeschränkungen gibt es z. B. in der Straßenverkehrsordnung schon seit 1980 und im Bundes-Immissionsschutzgesetz seit dem letzten Jahr; das nur noch einmal der Vollständigkeit halber, Frau Hartenstein.
Nur, eines sollten wir uns ganz deutlich vor Augen führen: Dem Ozonproblem kann durch diese kleinräumigen Maßnahmen allein nicht wirksam begegnet werden. Wir brauchen neben den von uns geforderten Maßnahmen — das ist auch ein Appell an die sozialdemokratischen Fraktionen in Bund und Ländern — auch ein Straßennetz, das trotz des Umsteuerns den drohenden Stop-and-go-Verkehr verhindert. Ebenso brauchen wir in den übrigen Wirtschaftsbereichen mit bedeutenden Emissionen von Stickoxiden und Kohlenwasserstoffen außerhalb des Verkehrsbereiches weitere Schritte zur Reduzierung der erhöhten Ozonkonzentration.
Nun ein Wort zum Tempolimit: Vor einigen Wochen forderte die SPD ein Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen. Nun fordert sie in ihrem Antrag 120 km/h. Mit dieser neuen Forderung zur Höchstgeschwindigkeit gibt die SPD selbst zu erkennen, daß einiges in diesem Bereich noch nicht geklärt ist. Die bisherigen Versuche haben gezeigt, daß ein Tempolimit vom Volumen her nur verhältnismäßig wenig zur Verringerung der Schadstoffemissionen beiträgt. Aus diesem Grunde habe ich auch überhaupt kein Verständnis dafür, daß die SPD in dieser Frage eine dogmatische Haltung einnimmt.

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das macht sie nicht! Es ist eine rein rationale Haltung!)

Aber ich sage auch ganz deutlich: Es kann auch nicht richtig sein, dogmatisch im umgekehrten Sinne gegen Tempolimit um jeden Preis aufzutreten. Hier gilt es, vorurteilsfrei abzuwägen, was ein Tempolimit an Umweltverbesserungen im Verhältnis zu nachteiligen Auswirkungen wie der eventuell stärkeren Benutzung von Bundesstraßen überhaupt erbringen kann. Dies sollte in Ruhe geprüft werden.

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Ja, schlimm diese Amerikaner und Franzosen! Alles Ideologen!)

Zum jetzigen Zeitpunkt ist es für uns sehr wichtig, die Bundesregierung in ihrem eingeschlagenen Kurs entschieden zu unterstützen, wirkungsvolle Regelungen gegen Ozon und Sommersmog durchzusetzen. Die Regierungskoalition ist hierbei auf dem richtigen Weg. Wir werden diesen Weg konsequent weitergehen. Deshalb, Frau Hartenstein, kann ich seitens der Regierungskoalition — ich will das vorsichtig formulieren — keine Unterstützung all Ihrer Punkte, die Sie angesprochen haben, in Aussicht stellen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203342200
Nächster Redner ist der Abgeordnete Dr. Jürgen Starnick.

Prof. Dr. Jürgen Starnick (FDP):
Rede ID: ID1203342300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir einige Anmerkungen zu dem Antrag und zu dem, was vorher gesagt worden ist. Ich will versuchen, es knapp zu machen, weil ich gerade belehrt worden bin, daß das hier keine Parlamentsveranstaltung, sondern eine Angelegenheit psychotherapeutischer Selbsterfahrung sei. Aber einige Anmerkungen kann ich mir nicht verkneifen.
Zum ersten: Eigentlich hat es sich die SPD mit diesem Antrag mitten im Juni gar nicht so schlecht ausgedacht. Letzte Sitzungswoche des Parlaments vor der Sommerpause, strahlender Sonnenschein, Verbreitung von Horrormeldungen über Ozonwerte im Radio, was dann der richtige Anlaß wäre, eine darauf



Dr. Jürgen Starnick
aufbauende verkehrspolitische Debatte zu führen. Denn wenn man den Antrag liest, kommt man natürlich schnell zu dem Ergebnis, daß nichts anderes damit gewollt ist.
Aber welch ein Pech. Das Wetter spielt nicht mit, der liebe Gott ist ungerecht. Aber vielleicht ist er, wie ich meine, nicht ungerecht, sondern weise, hebt er doch den Finger und macht uns darauf aufmerksam, liebe Frau Hartenstein: Nicht der Verkehr ist die Ursache für das Entstehen von Ozon, sondern der Sonnenschein.

(Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: Meinen Sie das, was Sie sagen, ernst? Unglaublich!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203342400
Herr Kollege Starnick, gestatten Sie eine Zwischenfrage unserer Kollegin Liesel Hartenstein?

Prof. Dr. Jürgen Starnick (FDP):
Rede ID: ID1203342500
Einen kleinen Moment noch.
Gleichwohl möchte ich natürlich nicht bestreiten, daß Luftschadstoffe, insbesondere Abgase aus dem Kraftfahrzeugverkehr, zur Entstehung erdnahen Ozons beitragen. Denn sie beschleunigen die Bildung von Ozon, sobald die Sonne scheint. Aber sie beschleunigen auch den Abbau des Ozons.
So mag es zwar verwunderlich sein — aber es ist letztlich erklärbar — , daß bei einer Sommersmogwetterlage in Ballungsräumen die niedrigsten Ozonwerte oft dort gemessen werden, wo in den Großstädten der stärkste Verkehr tobt.
Bitte, Frau Hartenstein.

Dr. Liesel Hartenstein (SPD):
Rede ID: ID1203342600
Herr Kollege Starnick, darf ich Sie fragen, ob Sie eine Schadstoffkonzentration, die so gravierende Gesundheitsschäden verursacht, nicht doch für ernsthaft genug halten, um sie auch ernsthaft zu behandeln? Und darf ich Sie an etwas erinnern — was Sie vielleicht gar nicht wissen können —, daß die SPD-Fraktion bereits 1989 eine ähnliche Initiative eingebracht hat, aber leider erfolglos geblieben ist? Sie hat sie eingebracht, weil wir die üble Situation verbessern wollen. Nur, die Frage ist, ob Sie wenigstens anerkennen, daß es uns um die Sache und die Verbesserung eines Übelstandes geht.

(Beifall bei der SPD)


Prof. Dr. Jürgen Starnick (FDP):
Rede ID: ID1203342700
Sehr verehrte Frau Hartenstein, ich erkenne das durchaus an. Wenn ich das jetzt etwas ironisch oder vielleicht auch launisch vortrage, dann tue ich das wegen eines Punktes, der meines Erachtens die große Schwäche dieses Antrags ist. Ich will etwas später darauf zu sprechen kommen.
Tatsache ist jedenfalls — das belegen Messungen im Berliner Luftgütemeßnetz, das nach meinem Kenntnisstand das dichteste Meßnetz überhaupt in dieser Republik ist —, daß dort, wo wir starke Emissionen aus dem Verkehr haben, während einer Smogwetterlage die Ozonwerte teilweise niedriger als in einem Reinluftgebiet sind. Es ist nun einmal gemessene Tatsache, daß wir dort in Deutschland, wo wir die
reinste Luft haben, nämlich auf der Zugspitze, die höchsten Ozonwerte messen.

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Woher kommt das?)

Ich nenne das immer — ich erlaube mir, das auch hier so zu nennen — das Ozon-Paradoxon, weil es nicht jedem im ersten Moment einsichtig ist. Man muß natürlich etwas genauer auf die Entstehungsgeschichte des erdnahen Ozons schauen.

(Monika Ganseforth [SPD]: In der Stratosphäre hätten wir sogar gern mehr!)

— Ja, natürlich hätten wir das dort ganz gern.

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das entschärft doch nicht die Ursache!)

— Richtig; das entschärft nicht die Ursache.

(Dr. Hartmut Soell [SPD]: Das läuft auf Philosophie hinaus!)

Ich sage das, meine sehr verehrten Kollegen von der SPD, weil das, was Sie jetzt beabsichtigen, etwas ist, womit Sie das umweltpolitische Pferd vom Schwanz aufzäumen. Denn wenn Sie einen Sekundärschadstoff, der sich — wenn man es so sagen will — letzten Endes wie ein Beelzebub verhält und bei dem es vom Wetter und von der Intensität des Sonnenscheins abhängt, ob er in einer hohen Konzentration auftritt, zu einer Leitgröße für die Beurteilung der Luftqualität machen wollen, dann setzen Sie schlicht auf den verkehrten Schadstoff.

(Monika Ganseforth [SPD]: Wir wollen das Problem lösen!)

— Sie setzen dabei aber auf den verkehrten Schadstoff.
Wenn Sie das machen wollen — was ich durchaus anerkenne — , dann müssen Sie konsequenterweise auf einen Primärschadstoff wie beispielsweise Stickoxid setzen. Dies ist ein Qualitätsmaßstab zur Beurteilung unserer Umweltsituation, nicht aber ein Schadstoff, der mit so vielen Zufälligkeiten behaftet ist, in welcher Konzentration er auftritt und wann er auftritt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich möchte ganz kurz auch noch auf den Wert eingehen, der angegeben worden ist, nämlich den Ozonemissionsgrenzwert von 120 Mikrogramm/m3. Wenn er für das, wofür er hier herangezogen werden soll, nicht geeignet ist, sollte man eigentlich gar nicht weiter darüber reden. Aber die Erfahrung ist ja, daß bei der Nennung solcher Werte schnell der Eindruck vermittelt wird, hiermit werde ein Grenzwert angegeben, dessen Überschreitung auf jeden Fall gesundheitliche Gefahren nach sich ziehe.
Leider fehlen noch immer Wirkungsforschungsstudien, aus denen für Ozon ein Grenzwert mit der gleichen Zuverlässigkeit wie etwa für Schwefeldioxid und Schwebstäube beim Wintersmog abgeleitet werden kann. Leider ist das so.
Das mag auch daran liegen, daß die Empfindlichkeit gegenüber Ozon individuell sehr unterschiedlich



Dr. Jürgen Starnick
ist. Eigenverantwortliches Handeln zur Abwehr gesundheitlicher Beeinträchtigungen

(Zuruf von der SPD: Luft anhalten!)

bei Sommer-Smog-Lagen ist deshalb geboten. So hat sich die Umweltministerkonferenz mit Recht im vorigen Jahr auf ein gemeinsames Vorgehen bei der Information der Bevölkerung geeinigt und 180 Mikrogramm Ozon pro Kubikmeter Luft als einen Wert festgelegt, bei dessen Überschreitung eine Ozonwarnung herausgegeben wird. Sie hat sich aber wohlweislich hierauf beschränkt.
Noch ein Satz: Ich will damit nun Ihre Intention nicht in Frage stellen. Ich stimme mit vielem, was Sie in diesem Antrag grundsätzlich gesagt haben, vollkommen überein. Aber ich meine, daß wir diese Ziele, die hier verfolgt werden, gemeinsam mit einer anderen Begründung darlegen sollten. Ich bin gemeinsam mit Ihnen der Auffassung, daß wir eine Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene erwirken müssen,

(Beifall bei der SPD)

weil ich will, daß unsere Städte lebenswert bleiben und nicht total mit Blech verstellt werden, und weil ich will, daß unsere Einträge aus der Luft in den Boden und die Seen — insbesondere auch die Stickstoffeinträge — deutlich reduziert werden. Aber das sind natürlich dann andere Gründe. Ich meine, das sind auch die langfristigen, wichtigen umweltpolitischen Ziele,

(Zuruf von der SPD: Sie sind an der Regierung. Machen Sie es!)

die sich so begründen lassen, so daß wir letzten Endes sicherlich wieder zu gemeinsamen Anliegen kommen, die wir auch gemeinsam vertreten können.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203342800
Meine Damen und Herren, die nächste Rednerin ist Frau Abgeordnete Jutta Braband.

Jutta Braband (PDS/LL):
Rede ID: ID1203342900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf Ihnen einen angenehmen Abend wünschen!

(Zuruf von der CDU/CSU: Danke sehr!)

Ich finde, daß die Atmosphäre hier sehr viel angenehmer ist als am Nachmittag — zumindest bis jetzt.

(Zuruf von der SPD: Jeder muß dazu beitragen!)

— Ja, das finde ich auch.
Sommerzeit also Ozonzeit? Und obwohl es nicht so heiß ist, geht das Problem mit dem Ozonloch nicht aus der Welt.
Pünktlich zur Urlaubszeit, der Zeit der langen Autoschlangen und der Staus auf den Autobahnen kommt auch wieder das altbewährte Sommerthema Ozon auf die Tagesordnung — nicht nur hier im Deutschen Bundestag. Wir können uns also wieder auf die Veröffentlichung von Meßwerten, die Warnungen an ältere Menschen, sich nicht zu sehr, und an alle Jogger und Joggerinnen, sich nicht zu überanstrengen, einstellen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das war in der DDR verboten!)

— Ach, bitte, hören Sie doch auf, mich immer mit der DDR zu strafen. Ich gehöre durchaus zu den Leuten, die in den letzten zwölf Jahren in der DDR bewiesen haben, daß sie sehr wohl handlungsfähig gegen Regierungen sind. Ich gedenke, damit hier nicht aufzuhören.
Doch nun zum vorliegenden Antrag: So sinnvoll ich es finde, auch in Detailfragen die ökologische Diskussion vorantreiben zu wollen, so erweist er sich doch als einigermaßen halbherzig. Grundsätzlich ist zu sagen, daß die Forderung nach Festsetzung von Grenzwerten — das hat die Diskussion nach dem AKW-Unfall von Tschernobyl gezeigt — politisch immer hilflos ist. Grenzwerte sind politische Festsetzungen; sie sagen in der Regel nichts über die tatsächliche Gesundheitsgefährdung oder Umweltschädigung aus.
Wenn mit der Forderung nach Festsetzung eines Grenzwertes ein ordnungspolitisches Signal gesetzt werden soll, so ist allerdings für mich die Frage, ob 120 Mikrogramm pro Kubikmeter ausreichend sind — der gültige Grenzwert liegt, wie Sie sicher wissen, bei 180 — oder ob darüber zu diskutieren sei, daß dieser Grenzwert noch weiter herabgesetzt werden soll.
Dies gilt auch für die Festsetzung der Abgaswerte, zumindest nach dem US-Standard, und die weiteren Forderungen, die sich auf technische Lösungen beschränken.
Ich will noch zum Abschluß sagen, daß ich grundsätzlich dem Antrag zustimme, ganz einfach deshalb, weil ich in der Tatsache, daß man sofort politische Maßnahmen ergreift, auch auf verkehrspolitischem Gebiet, eine Möglichkeit sehe, ein bestimmtes Bewußtsein für diese Sachen herzustellen. Grundsätzlich bin ich jedoch der Meinung, daß erst eine politische Neuorientierung auch auf dem Verkehrssektor nötig ist, und dann können wir uns über ordnungspolitische Maßnahmen unterhalten. Ich stimme aber dennoch diesem Antrag zu, weil ich denke, daß er einen gewissen Lerneffekt hervorruft.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203343000
Meine Damen und Herren, zum Schluß hat Herr Staatssekretär Bernd Schmidbauer das Wort.

Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1203343100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, daß bei allen Beteiligten hier Einvernehmen darüber besteht, daß weitere Schritte gegen die erhöhte Ozonkonzentration und den Sommer-Smog getan werden müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Ich will, weil ich die Kollegen Dr. Starnick und Paziorek nur unterstützen kann, einmal einige Zitate bringen. Das erste Zitat ist dem ersten Zwischenbericht



Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer
der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" entnommen:
Die Zunahme des Ozons in der Nordhemisphäre beträgt seit 1970 im Jahresmittel etwa 0,5 bis 1 Prozent pro Jahr und etwa 2 Prozent in stark schadstoffbelasteten Gebieten.

(Zuruf der Abg. Dr. Liesel Hartenstein [SPD])

— Frau Kollegin Hartenstein, das ist eben nur Ihr Problem: Sie denken, daß dem Problem der Bildung troposphärischen Ozons mit nationalen Maßnahmen Rechnung getragen werden könnte. Das ist etwas ganz anderes.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: Irgendwann muß man doch einmal anfangen!)

Nachdem wir alle wissen, Frau Kollegin Hartenstein, daß dies ein Problem der Nordhemisphäre ist, will ich Ihnen noch etwas dazusagen. Klar ist, daß Ozon in erheblichem Umfang in der Troposphäre bei der durch die Stickoxide NO und NO2 — was wir hier als NO, bezeichnen — katalysierten photochemischen Oxidation von Kohlenmonoxid, Methan und höheren Kohlenwasserstoffen gebildet wird. Ich will noch ein Zitat bringen, und zwar aus dem dritten Bericht der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" :
Dabei ist die Ozon-Produktionsrate in nichtlinearer Weise von den Konzentrationen der genannten Spurengase, aber auch von den Verhältnissen der Konzentrationen der einzelnen Gase untereinander abhängig.
Das ist ein höchst komplexer Zusammenhang. Wer hier Maßnahmen durchsetzen will, die sich auf lineare politische Argumente gründen, der wird am Ende überhaupt keine Veränderung der Konzentration des Ozons erreichen. Das ist die Problematik, die eben auch Dr. Starnick hier dargelegt hat.
Es ist überraschend, daß die hohe Konzentration genau dort, wo sie vermutet wird, nicht auftritt, daß überall dort, wo viel Verkehr herrscht — z. B. an den Autobahnen — der umgekehrte Prozeß, nämlich die Reduktion des 03 stattfindet, während dies, wie schon vorhin erwähnt, in Gebieten mit reiner Luft zu erwarten gewesen wäre.

(Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Aber Sie kennen doch die Gründe sehr genau, Herr Schmidbauer!)

Wenn wir uns im Ziel einig sind, müssen wir in der Tat dort ansetzen, wo dies möglich ist. Reden von 1989, die gegen die Politik der Bundesregierung gerichtet sind, Frau Kollegin Hartenstein, wirken — auch wenn Sie sie zweimal oder dreimal halten — im Hinblick auf die Ozonkonzentration kein Stück vermindernd.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Im übrigen sind die Länderminister da ein wesentliches Stück weiter; denn sie haben genau ausgeführt — entgegen Begründungen in Ihrem Antrag —, daß es mit diesen Konzentrationswerten überhaupt nichts auf sich hat, weil sie überhaupt keinen Parameter für
die Qualität unserer Luft darstellen. Hier wird ein anderer Ansatz nötig.
Im vergangenen Jahr hat sich die Umweltministerkonferenz mehrheitlich auf diesen Grenzwert von 180 Mikrogramm Ozon pro Kubikmeter Luft als Zweistundenmittelwert festgelegt. Aber dies ist natürlich ein Informationswert, der in den nächsten Jahren beliebig lange aufrecht erhalten werden kann, wenn es uns nicht gelingt, die Konzentration der Vorläufersubstanzen im richtigen Verhältnis zu reduzieren.

(Dr. Hartmut Soell [SPD]: Da setzen wir an!)

Das scheint mir hier auch einvernehmlich gesehen zu werden, mit den entsprechenden Konsequenzen. Dazu gehört, Frau Kollegin Hartenstein, daß wir in den letzten Jahren durch eine sehr konsequente Luftreinhaltepolitik, um die uns viele — auch unsere Nachbarn — sehr beneiden, und ihren entsprechenden Ergebnissen mit dazu beigetragen haben, daß es hier zu einer starken Reduzierung der Stickoxide und der Kohlenwasserstoffe gekommen ist.
Ich will nicht verhehlen, daß wir seit dem 3. Oktober eine etwas andere Situation haben. Statistisch gesehen haben wir gegenüber der Situation vor dem 3. Oktober eine Verdoppelung der Konzentration. Das mag mancher beklagen; ich sehe es als Aufgabe. Ich sehe, daß wir im Hinblick auf die Sanierung im Osten auf die Notwendigkeit der Fortentwicklung der Lebensqualität in den fünf neuen Ländern eben noch viel stärker Anstrengungen unternehmen müssen, um unsere Ziele zu erreichen. Immerhin hat das dazu geführt, daß wir bis heute 600 000 Tonnen Stickstoffoxide und 200 000 Tonnen Kohlenwasserstoffe weniger emittieren als ohne solche Luftreinhaltemaßnahmen: 97 % der neu zugelassenen Fahrzeuge haben Drei-Wege-Katalysatoren; 25 % des Bestandes sind mit Drei-Wege-Katalysatoren ausgerüstet. Die Nachrüstung geht weiter. Wir haben es durch unseren Druck immerhin geschafft, auch im Hinblick auf die Europäische Gemeinschaft die anderen davon zu überzeugen, daß die Werte für Gesamteuropa diesen Stand der Technik bei unseren Fahrzeugen notwendig machen.
Wir sagen aber genauso deutlich, daß diese Maßnahmen nicht ausreichen. Insbesondere das Anwachsen des Verkehrs macht uns Probleme. Der Ost-WestVerkehr, der Binnenmarkt, all das wird im Energiebereich einen starken Zuwachs bewirken. Dies bedeutet eben, daß wir uns nachdrücklich dafür einsetzen, daß im Bereich der EG weitere Reduzierungen stattfinden.
Ich will Ihnen unsere Zielvorstellung nennen. Wir gehen davon aus, daß es zu einer weiteren drastischen Verschärfung der Abgasnormen für Pkw durch eine weitere Halbierung der vom EG-Umweltrat am 13. Juni 1991 beschlossenen Grenzwerte für Kohlenwasserstoff- und Stickstoffoxidemissionen für Benzinfahrzeuge sowie zu einer deutlichen Herabsetzung des Stickstoffoxidwertes für Lkw kommt. Auch beim Lkw hat der EG-Umweltrat bereits am 18. März 1991 zu einem gemeinsamen Standpunkt gefunden, der eine Herabsetzung der Schadstoffgrenzwerte in zwei Schritten auf etwa die Hälfte des heutigen Niveaus



Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer
vorsieht. Wir gehen aber auch davon aus, daß jetzt noch Forschungs- und Entwicklungsprogramme für neue Treibstoffe notwendig werden. Dazu gehören weiter der Erlaß von Verordnungen zur Rückführung von Kohlenwasserstoffdämpfen, die Reduzierung des Benzolgehalts im Treibstoff, eine Begrenzung der CO2-Emissionen für Pkw, die etwa einer Verbrauchsminderung bis zum Jahr 2005 auf 51 pro 100 km gleichkommt. Dies sind ehrgeizige Ziele. Wir werden noch genügend Gelegenheit haben, hier an einem Strang zu ziehen.
Beim Schlagwort „Verlagerung von der Straße auf die Schiene" ist manches einzuklagen, wenn es um Maßnahmen geht, Schienenstrecken bei uns zu bauen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wer weiß, in welch geringen Prozentsätzen wir für diese Verlagerung noch Spielraum haben, der weiß, daß es darauf ankommt, neue Trassen zu realisieren. Oftmals sind es dieselben, die uns die Verlagerung ankündigen, mitgehen und dann bei der Neubautrasse an vorderster Stelle gegen diese Neubautrasse protestieren.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die Doppelstrategie der SPD!)

Wenn es um den Entwurf einer Verordnung nach § 40 Abs. 2 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes geht, so will ich einmal richtigstellen: Es geht darum, daß die Landesbehörden kleinräumige Verkehrsbeschränkungen ergreifen können. Es wird nicht darum gehen — ich sagte dies bereits —, als Parameter Ozongrenzwerte herzunehmen, sondern hier zählen allein Stickoxide und andere Parameter, die uns über die Qualität, über die Verschmutzung in solchen Hochbelastungsgebieten Auskunft geben.
Es gäbe eine Fülle von Maßnahmen, die wir dazu auf den Weg gebracht haben. Aber ich will hier schließen, indem ich auf einen Punkt hinweise. Wir müssen im internationalen Bereich vorankommen. Wir drängen darauf, noch in diesem Jahr im Bereich der Europäischen Wirtschaftskommission ein neues Protokoll abzuschließen, nämlich flüchtige Kohlenwasserstoffe um 30 % zu reduzieren. Dies führt natürlich zu der Entlastung, von der ich gesprochen habe. Die Schadstoffkonzentrationen müssen europaweit reduziert werden. Auch das ehrgeizige Ziel, die CO2-Emissionen in der Bundesrepublik Deutschland um 25 bis 30 % zu reduzieren, trägt dazu in nicht unerheblicher Weise bei. In der Abschätzung bedeutet dies, daß wir die Stickoxidemissionen noch einmal um 30 % reduzieren und, was wichtig ist, die Kohlenwasserstoffemissionen um 60 % zurückgehen werden.
In einem können wir sicher sein: Wir werden in unseren Immissionsschutzberichten an den Deutschen Bundestag, in den Daten zur Umwelt den Deutschen Bundestag auch über die Entwicklung des troposphärischen Ozons ausreichend informieren.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203343200
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 10.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf der Drucksache 12/772 an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ursula Fischer, Dr. Hans Modrow und der Gruppe der PDS/Linke Liste Erlassung der Schulden Nicaraguas gegenüber der DDR
— Drucksache 12/427 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Haushaltsausschuß
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine FünfMinuten-Runde vereinbart worden. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat unsere Kollegin Frau Dr. Ursula Fischer.

Dr. Ursula Fischer (PDS/LL):
Rede ID: ID1203343300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste im Deutschen Bundestag stellt den Antrag, Nicaragua die gegenüber der ehemaligen DDR bestehenden Schulden zu erlassen.
Eine generelle Feststellung vorab, um nicht eines ungerechtfertigten Subjektivismus bezichtigt zu werden: Die PDS/Linke Liste vertritt die Ansicht, daß zur wirklichen Lösung der internationalen Verschuldungskrise erstens ein genereller Schuldenerlaß und zweitens eine umfassende Demokratisierung der internationalen Verhältnisse unumgänglich sind. Das betrifft vor allem die internationalen Verteilungs- und Austauschverhältnisse, die in ihrer jetztigen Konstellation Unterentwicklung unüberwindbar machen.
Daß ein genereller Schuldenerlaß ein moralisches Muß darstellt, ist ein weiterer Aspekt in unserer Argumentation. Sollten eines Tages alle Völker der sogenannten Dritten Welt mit der berechtigten Forderung nach Reparationsleistungen für fünfhundert Jahre erlittene Ausbeutung und Zerstörung materiellen und ideellen Reichtums an den entwickelten Norden herantreten, müßte Europa ohnehin seine Zahlungsunfähigkeit anmelden. Derweilen hält der Netto-Ressourcen-Rückfluß von Süd nach Nord an, wird noch am Elend der Zweidrittelwelt verdient, und Entwicklungshilfe ist so lohnend, daß sogar die Privatwirtschaft einsteigt, was ich nicht immer für negativ halte. Aus dieser Perspektive ist die notorische Zahlungs-
bzw. Schuldenerlaßunwilligkeit des Nordens doppelt verwerflich.
Aber zurück zu Nicaragua! Warum gerade Nicaragua? In den entwicklungspolitischen Konzeptionen der Bundesrepublik spielt die Erfüllung von Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle. Ich will an dieser Stelle nicht über Sinn und Objektivität derartiger Bedingungen und ihre Auslegung polemisieren, sondern auf die konkrete Situation hinweisen, die sich in Nica-



Dr. Ursula Fischer
ragua wie folgt darstellt: Seit den Wahlen im März 1990 bemüht sich die Regierung Chamorro darum, die wirtschaftliche und politische Krise des Landes zu bewältigen. Ohne Hilfe von außen wird dieses Land, das durch Krieg, Wirtschaftsblockade, ökonomische Fehlentscheidungen und Naturkatastrophen total am Boden ist, den eingeschlagenen Weg der Demokratisierung und friedlichen Veränderung nicht weitergehen können.
Um aber diese internationale Hilfe zu erlangen, akzeptiert die Regierung die Auflagen internationaler Geldgeber, ohne deren verheerende Wirkung für die breite Masse der Bevölkerung auffangen zu können. Alle sich jetzt abzeichnenden Tendenzen deuten auf eine absolute Verschlechterung der Lage hin.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203343400
Frau Dr. Fischer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer?

Dr. Ursula Fischer (PDS/LL):
Rede ID: ID1203343500
Bitte.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203343600
Bitte, Herr Kollege Irmer.

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1203343700
Frau Kollegin, vielen Dank dafür, daß Sie die Zwischenfrage zulassen. Würden Sie einräumen, daß Ihre geistigen Vorväter, nämlich die Regierung der DDR, ihrerseits in gewaltigem Maße dazu beigetragen haben, diese von Ihnen zutreffend beschriebene Misere Nicaraguas herbeizuführen?

(Zuruf von der PDS/Linke Liste)


Dr. Ursula Fischer (PDS/LL):
Rede ID: ID1203343800
Ich möchte darauf etwas ausführlicher antworten. Ich bin durchaus der Meinung, daß die ganze Anlage der Entwicklungspolitik, sowohl in Ost als auch in West, unter der damaligen Konstellation zu dieser Lage beigetragen hat. Auch das ist für mich ein Grund, in der Aufarbeitung der Geschichte diesen Antrag zu stellen, weil ich die Lage in Nicaragua erstens am besten kenne und zweitens für sehr gravierend halte. Deshalb tue ich das auch. Die Entwicklungspolitik sowohl in Ost als auch in West war ideologisiert; sie ist es nach wie vor. Ich weiß nicht, ob Sie anderer Meinung sind. Darüber könnten wir uns bei Gelegenheit ja einmal unterhalten.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Ist denn jemand in der Lage, sich vorzustellen, was zum Beispiel eine Arbeitslosenrate von 46 % bedeutet, von der die Regierung immerhin 30 % zugibt, wenn dazu noch unter den neuen Bedingungen Gesundheitsbetreuung und Bildung jetzt wieder bezahlt werden müssen, wenn auch mit geringen Beträgen, aber doch für die arme Bevölkerung unerschwinglich?
Der Vizepräsident der nicaraguanischen Nationalversammlung traf während seines Aufenthalts in der Bundesrepublik eine treffende, wenn auch niederschmetternde Feststellung. Er sagte sinngemäß: „Wenn all diese Reformen irgendwann greifen, wohlgemerkt, wenn sie greifen, werden fünf bis zehn Jahre vergangen sein. Diese fünf bis zehn Jahre werden Tausende Menschen, vor allem Kinder, das Leben kosten, weil Mittel für Gesundheit und Bildung nicht da sind und nicht da sein werden. Investitionen in Bildung und Gesundheit sind nun mal weder für nationales noch für internationales Kapital lohnend. "
Weil Mittel für diese Bereiche nicht zur Verfügung stehen, wächst in Nicaragua bereits heute wieder eine Generation von Kindern heran, die weder lesen noch schreiben können. Eltern müssen ihre Kinder zu Hause sterben lassen, weil sie das Geld für Medikamente nicht aufbringen und die staatlichen Einrichtungen die medizinische Versorgung nicht mehr sichern können.
Statt dessen werden von der Regierung bekannterweise selbstzerstörerische Auflagen des IWF und der Weltbank erfüllt, und der Schuldendienst macht nach wie vor den angeblich helfenden Norden noch reicher. Im Land wachsen die sozialen Spannungen. Der mühsam errungene Frieden ist zunehmend gefährdet, und dieser Krieg ging nicht nur von Nicaragua aus. Das Projekt Demokratisierung droht an diesen Auseinandersetzungen zu scheitern.
Einer zu erwartenden Ausweitung der Choleraepidemie auf Mittelamerika hat die gesamte Region wenig entgegenzusetzen. In den Armenvierteln Managuas ist bei dem derzeitig desolaten Zustand von medizinischer Versorgung und Infrastruktur und der sich zunehmend verschlechternden Ernährungslage der Bevölkerung die Katastrophe vorprogrammiert.
Angesichts dieser Konstellation ist die Vorstellung unerträglich, daß auch die 570 Millionen US-Dollar, die Nicaragua aus der Zusammenarbeit mit der ehemaligen DDR belasten, von einer Regierung eingefordert werden sollen, die erstens in den vergangenen Jahren verschwindend wenig für die nicaraguanischen Menschen getan hat und die zweitens mit ihrer Entwicklungspolitik einen wesentlichen Beitrag zur Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten beabsichtigt.
Ein umfassender Schuldenerlaß gegenüber Nicaragua wäre hingegen zumindest ein Hinweis darauf, daß die Bundesregierung bereit ist, die aufgestellten Richtlinien ihrer Entwicklungspolitik mit Leben zu erfüllen. Das wäre für mich ein Schritt in die richtige Richtung.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203343900
Meine Damen und Herren, nunmehr hat unser Kollege Dr. Uwe Holtz das Wort.

Prof. Dr. Uwe Holtz (SPD):
Rede ID: ID1203344000
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Behandlung des Nicaragua-Antrags im Plenum, wenn auch nicht vor vollem Hause, macht deutlich: Wir vergessen Nicaragua nicht. Das zentralamerikanische Land befindet sich in einer katastrophalen wirtschaftlichen Situation. Sie ist auf die negativen internationalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, auf den jahrelang von außen mit angeheizten Bürgerkrieg, aber auch auf eine in vielen Bereichen falsche Wirtschaftspolitik des Landes und auch auf die von der Bundesrepublik mit betriebene Sanktionspolitik zurückzuführen. In jüngster Zeit wurde diese katastrophale Situation



Dr. Uwe Holtz
noch durch ausbleibende Hilfen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern verschärft.
Bei ihren Besuchen in der Bundesrepublik haben sowohl der ehemalige Präsident Daniel Ortega als auch die neue Präsidentin Chamorro die Bundesrepublik um finanzielle und technische Zusammenarbeit sowie um Schuldenerleichterungen gebeten.
Wir müssen in der Entschuldungsfrage in der Tat weiterkommen. Dabei sind wir Sozialdemokraten jedoch nicht für eine pauschale Streichung der Schulden gegenüber allen Ländern, weil wir nicht wollen, daß etwa Diktatoren davon dann noch profitieren können.

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Im Februar dieses Jahres hatte Hans-Jochen Vogel der Präsidentin zugesagt, daß die SPD deutsche Hilfsleistungen an Nicaragua unterstützen werde. Er verwies auch darauf, daß wir wiederholt die Wiederaufnahme der vollen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit gefordert haben; außerdem müsse es in einer Zeit, in der für den Golfkrieg Milliarden innerhalb kürzester Zeit bereitgestellt würden, auch möglich sein, für die Festigung der Demokratie und die Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Nicaragua einen maßgeblichen Beitrag zu leisten.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Die Verschuldung Nicaraguas hat, wie in ähnlich gelagerten Fällen in anderen Entwicklungsländern, nicht nur wirtschaftliche und finanzielle Bedeutung, sondern auch eine politische Dimension: Sie gefährdet die politische Stabilität und die demokratische Entwicklung und blockiert den sozialen Fortschritt. Deshalb kommt der Entschuldung eine hohe Bedeutung zu. Wir vertreten zu dem vor uns liegenden Antrag folgende Auffassung:
Erstens. Die Regierung des vereinten Deutschlands kann sich ihrer Verantwortung gegenüber Nicaragua nicht entziehen. Dies gilt auch für den Bereich der Entschuldung.
Zweitens. Wir halten es für falsch, bei der Frage der Verschuldung und dementsprechenden Lösungen nur von den Schulden auszugehen, die Nicaragua gegenüber der ehemaligen DDR hat. Hier muß es zu einer Regelung für die Gesamtschulden kommen.

(Beifall bei der SPD, der FDP, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Drittens. Wir erwarten, daß die Bundesregierung einen mutigen Schritt nach vorne wagt. Dabei muß sie wissen: Schulden teilweise oder gar vollständig zu erlassen ist nicht nur ein Gebot der Solidarität, sondern oft auch ein Akt der Vernunft.
Eine neue Qualität der Entschuldungsregelungen ist kürzlich im Falle Polens und Ägyptens gefunden worden, bei zwei Ländern, die, wie Nicaragua, der mittleren Einkommensgruppe zuzurechnen sind. Ausdrücklich haben die Industrieländer — auch die Bundesrepublik — bei dieser Regelung von politischen Gründen gesprochen. Leider besteht bei der Bundesregierung nicht — noch nicht? — die Absicht, diese Regelung auf andere Länder auszudehnen. Wir
meinen jedoch: Die Beispiele Polens und Ägyptens sollten in vergleichbaren Fällen Schule machen. Es gibt gute politische Gründe, die für eine dementsprechende Entschuldung auch Nicaraguas sprechen.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Viertens. Die notwendige Entschuldung Nicaraguas sollte mit der Erwartung verbunden werden, daß Nicaragua zukünftig eine Entwicklungsstrategie verfolgt, bei der das Kapital produktiver verwandt wird, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt werden und ein sich selbst tragender, menschenwürdiger, sozialer und ökologisch verträglicher Entwicklungsprozeß in Gang gesetzt wird.

(Beifall bei der SPD)

In jedem Fall muß die Bevölkerung Nicaraguas vor einem Rückfall in die Zeiten des Somoza-Regimes geschützt werden. Die Landreform sollte nicht rückgängig gemacht werden, und die Alphabetisierung ist voranzutreiben.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Dementsprechende Strukturanpassungsprogramme von Internationalem Währungsfonds und Weltbank dürfen nicht eine wirtschaftliche und monetaristische Schlagseite haben. Sie müssen die soziale, die menschliche und die ökologische Dimension mitsehen.
Ich komme zum Schluß.
Fünftens. Wir warnen davor, Herr Präsident, isoliert nur Nicaragua als Entschuldungsfall zu sehen, und fordern die Bundesregierung auf, endlich allgemeine Regeln für ein innovatives Konzept von Schuldenlösungen für hochverschuldete Entwicklungsländer vorzulegen, das dann von Fall zu Fall angewendet wird.
Besten Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203344100
Meine Damen und Herren, jetzt hat das Wort unser Kollege Werner Zywietz.

Werner Zywietz (FDP):
Rede ID: ID1203344200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir scheint außer Zweifel zu sein, daß Nicaragua nach den demokratischen Wahlen des letzten Jahres die Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland und anderer Staaten braucht, damit keimende Demokratie und keimende ökonomische Entwicklung in diesen zwischen Nord- und Südamerika gelegenen sieben Brückenstaaten für die friedliche Entwicklung positive Auswirkungen haben. Ich glaube, insoweit — das könnte ich mir jedenfalls denken — kann hier im Hause zwischen den wesentlichen Fraktionen Übereinstimmung bestehen.

(Beifall bei der FDP — Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste])

— Zu Ihnen komme ich noch; denn ich muß sagen: Ich
habe mir ein paar Mal Ihren Antrag nachdenklich
angeschaut. Einer doch sehr heuchlerischen und dop-



Werner Zywietz
pelgesichtigen Aufmachung kann man sich nicht entziehen.
Natürlich verdient Nicaragua Hilfe, wie ich sagte. Sie, Kollegin Fischer, sprechen hier aus persönlicher Betroffenheit. Ich habe nachgelesen, daß Sie in diesem Land einige Zeit gearbeitet haben. Aber der Ex-Ministerpräsident der früheren DDR, Dr. Hans Modrow, der diesen Antrag mitunterzeichnet hat, ist nicht hier, obwohl er während seiner verantwortlichen Regierungszeit genau das hätte tun können, was Sie hier einfordern. Sie tun dies in einer seltsamen Penetranz, als hätte eine Wiedervereinigung gar nicht stattgefunden. Sie sprechen hier nur von den „Schulden Nicaraguas gegenüber der DDR", das in einem Antrag vom 25. April 1991. Das macht mir deutlich, daß bei Ihnen im Kopf eine Wiedervereinigung eigentlich noch gar nicht stattgefunden hat und daß Sie — das ist eigentlich das Peinliche an diesem Antrag — als die Brandstifter der Vergangenheit hier auftreten und in die Rolle der Biedermänner schlüpfen, als hätte Ihnen das Schicksal Nicaraguas schon immer besonders am Herzen gelegen.

(Beifall bei der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203344300
Herr Kollege Zywietz, es gibt zwei Bitten um Zwischenfragen. Gestatten Sie diese?

Werner Zywietz (FDP):
Rede ID: ID1203344400
Ja, gerne. Sehr gerne sogar.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203344500
Herr Kollege Weiß, Sie hatten sich zuerst gemeldet. Bitte sehr.

Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1203344600
Herr Kollege, ich habe eine Nachfrage, die sich auf etwas bezieht, was schon etwas zurückliegt.
Sie befleißigten sich, das Hohe Haus in wesentliche und unwesentliche Fraktionen zu unterteilen. Könnten Sie mir vielleicht einmal deutlich machen, nach welchen Gesichtspunkten Sie diese Unterscheidung vorgenommen haben

(Ulrich Irmer [FDP]: Das ist selbsterklärend! Das bedarf keiner Erläuterung!)

und aus welchem Wählerverhalten Sie das schließen würden?

Werner Zywietz (FDP):
Rede ID: ID1203344700
Das will ich gerne tun, Herr Kollege.
Wenn in diesem Hause ein Antrag mit dem Datum 25. April 1991 eingebracht wird, dann kann es sich nur um Schulden der Bundesrepublik Deutschland handeln und nicht um Schulden der DDR; denn in der Rechtsfolge gemäß Einigungsvertrag und dem, was zwischenzeitlich stattgefunden hat, sind das übernommene Schulden. Das ist die Rechtslage. Wer hier auftritt und so tut, als gehe es hier um spezielle Schulden der DDR, der hat ergo die letzten Monate geschichtlich verpaßt.
Ich vermisse die Gesamtverantwortung. Hier wird nur eine Teilbetrachtung des Problems vorgenommen. Da, meine ich schon, ist zwischen wesentlichen und unwesentlichen Fraktionen zu unterscheiden, und zwar zwischen denen, die Gesamtverantwortung
wahrnehmen oder sie wahrzunehmen sich bemühen, und denen, die das nicht tun.
Da schaue ich zu der linken Seite des Hauses und erwarte gern die folgende Frage.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203344800
Frau Kollegin Fischer, bitte.

Dr. Ursula Fischer (PDS/LL):
Rede ID: ID1203344900
Es ist an dieser Stelle von einem Redner einmal über die Wirkung von Worten gesprochen worden. Ich möchte Sie bitten, darüber einmal nachzudenken.
Meine Frage: Ist Ihnen bekannt, daß von dem Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit der Volkskammer, von Minister Ebeling damals ein genereller Schuldenerlaß gegenüber der DDR gefordert worden ist und daß das von Theodor Waigel nicht anerkannt worden ist?

Werner Zywietz (FDP):
Rede ID: ID1203345000
Das machen Sie jetzt auch. Sie wollen sich jetzt sozusagen in die BiedermannRolle begeben und andere die Verantwortung übernehmen lassen. Sie hätten das alles früher tun können. Sie haben in der früheren DDR aber nur Umschuldung vorgenommen; so habe ich es gelesen. Die Zahlungen sollten eigentlich erst 1994 beginnen — ich habe mich in die Sache schon eingearbeitet —; nur, davon ist hier nicht die Rede.
Sie haben an Nicaragua Waffen geliefert; Sie haben mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet.

(Widerspruch bei der PDS/Linke Liste — Konrad Weiß [Berlin] [Bündnis 90/ GRÜNE]: Das ist doch unfair gegenüber der Kollegin Fischer!)

— Das alles ist doch authentisch.

(Beifall bei der FDP)

Das kann ich zu Protokoll geben; ich kann es auch zitieren, wenn Sie es wollen.

(Konrad Weiß [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE]: Die Kollegin Fischer hat in Nicaragua humanitäre Hilfe geleistet!)

Das ist authentisch: ,,... beklagt sich öffentlich über Vertragsbrüche der DDR wegen der Einstellung der Zusammenarbeit zwischen beider Staatssicherheitsdiensten. " — Diese Passage habe ich aus den Unterlagen entnommen.
Also leugnen Sie nicht die vielleicht nicht in allen, aber in wesentlichen Teilen schlimme Verantwortlichkeit, die Sie dort für zehn Jahre zu übernehmen haben. Sie sprechen lieber von den letzten 500 Jahren und der großen Geschichte im allgemeinen, um Ihre Verantwortung für die letzten fünf oder zehn Jahre vergessen zu machen. So kommen Sie hier nicht durch die Maschen der geschichtlichen Betrachtung.

(Beifall bei der FDP — Dr. Ursula Fischer [PDS/Linke Liste]: Sie auch nicht!)

Hier wird das Gesamte verantwortet.

(Zuruf von der SPD: Wie war das denn mit der LDP; hat die da nicht zugestimmt?)




Werner Zywietz
— Langsam, immer eins nach dem anderen, so wie im Emsland die Klöße gegessen werden; nicht alles miteinander vermischen!

(Abg. Dr. Ursula Fischer [PDS/Linke Liste] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203345100
Herr Kollege Zywietz, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Werner Zywietz (FDP):
Rede ID: ID1203345200
In den zwei Minuten, die ich noch habe, stelle ich nur fest, daß Ihre Vergangenheit

(Dr. Ursula Fischer [PDS/Linke Liste]: Meine ist sauber! Prüfen Sie einmal die von Ihren Abgeordneten!)

mit der Verantwortung, die Sie da tragen, nicht die rühmlichste ist. Das ist in zwei Minuten hier leider nicht auszuführen. Aber ich stehe zu der Behauptung, die ich an anderer Stelle gerne belege.

(Dr. Ursula Fischer [PDS/Linke Liste]: Das wird Ihnen aber schwerfallen!)

Aber das wird für Sie nicht sehr gemütlich sein.
Ich sage hier: Wir wissen, daß Nicaragua für ein wirtschaftlich und demokratisch prosperierendes Mittelamerika eine große Bedeutung hat. Wir werden unsere Kräfte und Bemühungen zusammennehmen, um bilateral und aktiv dieses Land zu unterstützen. Davon ist in Ihrem Antrag überhaupt keine Rede. Sie konzentrieren sich nur auf Ihre eigenen Altschulden. Alles andere scheint Ihnen egal zu sein. Wir setzen finanzielle Hilfe ein, wir setzen bilaterale technische Hilfe ein, und wir werden auch über Schuldenerleichterungen und Schuldenerlasse im Zusammenhang mit den Gläubigerstaaten zu reden haben.
Die Welt ist gerade im Bereich der Entwicklungshilfe nun einmal sehr multinational. Sie können nicht gegenüber Gläubigern so auftreten, als gebe es allein gegenüber der Ex-DDR oder gegenüber der Bundesrepublik Schulden. Auch gegenüber England, Frankreich und Oststaaten bestehen Schulden. Das muß im Paket behandelt werden und darf nicht in einer so isolierten und einseitigen Weise gesehen werden, die Ihre vergangene Verantwortung total außer acht läßt, wie es aus diesem Antrag hervorgeht.
Deswegen, sage ich Ihnen, bekennen wir uns zu unserer stützenden und aufbauenden Rolle, die das neue Nicaragua verdient. Wir sagen auch ganz deutlich, daß Sie etwas mehr in sich kehren sollten und sich Ihre Vergangenheit einmal etwas distanzierter und, wie ich meine, etwas ehrlicher gegenüber diesem Land und vor allem seiner Bevölkerung vor Augen führen sollten. Die Beziehung zwischen der DDR und Nicaragua war kein Ruhmesblatt. Sie haben einen sozialistischen Staat sozusagen in den Bankrott getrieben und haben einen zweiten fast noch mit hereingezogen.
Daß Sie sich dann hier in dieser belehrenden pädagogischen Art hinstellen und solche Anträge stellen, ist von einer besonderen Frivolität.
Ich sage: Wir werden helfen; aber Sie als Ratgeber in dieser Form brauchen wir nicht.

(Beifall bei der FDP)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203345300
Meine Damen und Herren, als nächster Redner hat jetzt unser Kollege Konrad Weiß das Wort.

Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1203345400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Zywietz, ich bedauere, daß die Diskussion über das wichtige Anliegen, das hier verhandelt werden sollte, so in persönliche Angriffe gegen die Kollegin Fischer, die in Nicaragua ehrlich als Ärztin gearbeitet hat, ausgeartet ist.

(Ulrich Irmer [FDP]: Das ist doch ein Mißverständnis; das war doch kein Anwurf! — Werner Zywietz [FDP]: Das war es auch nicht! — Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Das war sehr eindeutig! Ich habe es so verstanden!)

Ich bin der Auffassung, daß dieser Antrag der PDS — Sie werden mich sicher nicht der Freundschaft mit der PDS bezichtigen — eine Forderung beinhaltet, die zu begrüßen ist. Es geht wirklich darum, nicht global Schulden zu erlassen, sondern für ein konkretes Land Schulden zu erlassen, die auf Leistungen der DDR beruhen.
Wir wissen, Nicaragua steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise, die von Koordinationsminister Antonio Lacayo mittels einschneidender Spar- und Sanierungsmaßnahmen bekämpft wird. Derartige wirtschaftliche Roßkuren sind erfahrungsgemäß mit hohen sozialen Kosten und Risiken verbunden und leisten der politischen Polarisierung im Lande weiteren Vorschub. Auch für 1991 kann die Regierung in Managua nicht mit einem Wirtschaftswachstum rechnen, sondern allenfalls mit einem Ende des langjährigen und gefährlichen wirtschaftlichen Schrumpfungsprozesses.
Kurzfristige Überbrückungsdarlehen, wie sie dem Land zugesagt sind, gewähren Nicaragua wieder Zugang zu den Entwicklungskrediten im Sinne von Bretton Woods und von anderen internationalen Institutionen. Doch Maßnahmen der Umschuldung und Neuverschuldung verzögern das Problem nur, lösen es aber nicht. Neue Kapitalströme, die aus multilateralen Quellen nach Nicaragua fließen könnten, müßten zum Teil wieder zur Rückzahlung der soeben vereinbarten dreimonatigen Überbrückungskredite verwendet werden.
Die Verschuldung Nicaraguas aus von der DDR gewährten Krediten beträgt gegenwärtig rund 570 Millionen US-Dollar. Nach mehrfacher Umschuldung sind 450 Millionen US-Dollar am 1. Januar 1994 fällig. Im Zeitraum von 1990 bis zum Jahr 2000 sind rund 120 Millionen US-Dollar zu begleichen. Davon sind allein aus dem Jahre 1990 rund 27,2 Millionen US-Dollar überfällig. 1991 hätte Nicaragua 13 Millionen US-Dollar zu zahlen. All das sind Belastungen für dieses Land, die unerträglich sind.
Nach der Beurteilung der Bundesregierung, die bei ihrer Bewertung die Richtlinien des DAC zugrunde legt, sind alle Leistungen der ehemaligen DDR im



Konrad Weiß
Rahmen der gewährten Kredite nicht als Entwicklungshilfe einstufbar. Ich teile diese Einschätzung ausdrücklich nicht.
Dennoch wird der Aufbau Nicaraguas durch Kredite belastet, die nicht alle der Entwicklung des Landes dienten und die nicht von der demokratischen Regierung unter Präsidentin Chamorro zu verantworten sind. In meinen Augen ist es daher nicht nur politisch fragwürdig, sondern auch aus ethischen und humanistischen Erwägungen heraus unerträglich, wenn Deutschland heute von Aktivitäten der ehemaligen DDR profitiert, die mit der Wert- und Rechtsordnung des Grundgesetzes vielfach nicht im Einklang standen. Auch aus diesem Grunde habe ich der Präsidentin Nicaraguas unlängst bei ihrem Besuch in Deutschland versprochen, mich für eine Streichung dieser Schulden einzusetzen.
Ich bitte das Hohe Haus, der Bundesregierung die Streichung dieser Schulden aufzutragen. Dies wäre ein wirksamer Beitrag Deutschlands zur Unterstützung einer jungen demokratischen Regierung und ein wirklicher Erweis der Solidarität mit dem Volk von Nicaragua.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld zu später Stunde.

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, der SPD und der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203345500
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Unser Kollege Klaus-Jürgen Hedrich möchte seine Rede zu Protokoll geben. Ich denke an das, was wir im Laufe des Abends vereinbart haben, und bitte um Ihre Zustimmung. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.*) Damit ist die Aussprache beendet.
Nunmehr hat gemäß § 30 der Geschäftsordnung unsere Kollegin Frau Ursula Fischer das Wort.

Dr. Ursula Fischer (PDS/LL):
Rede ID: ID1203345600
Ich möchte an dieser Stelle eine persönliche Erklärung abgeben, weil ich es auch zur Verbesserung der Kultur dieses Hauses und der Art und Weise, wie hier miteinander umgegangen wird, für nötig halte. Diese bestürzen mich doch immer wieder sehr.
Ich bin ganz persönlich von Ihnen angesprochen worden. Sie haben „Sie" gesagt; Sie haben das nicht im übertragenen Sinne gemeint. Sie sollten sich vielleicht Leute einmal besser ansehen. Ich finde es um so bedauerlicher, daß gerade in diesem Bereich derart polemisiert wird.
Ich weiß nicht, ob Ihnen die ganzen Dinge, die ich vorgetragen habe, bekannt sind, unter anderem, daß der entsprechende Ausschuß in der damaligen DDR beschlossen hatte, die Schulden zu streichen. Das ist nicht genehmigt worden. Das scheint Ihnen offensichtlich nicht bekannt gewesen zu sein.
Ich habe aber noch etwas anderes dazu zu sagen. Es ging mir — das habe ich am Anfang gesagt — nicht allein um Nicaragua. Es ging vielmehr um einen An-
*) Anlage 8
fang, und einen solchen wollte ich an dieser Stelle machen.
Ich möchte Sie jedoch auch fragen, ob Ihnen bekannt ist, wer die Häfen in Nicaragua damals vermint hat und was die Contras gemacht haben. Ich hatte z. B. Kinder in der Sprechstunde, die nicht mehr gesprochen haben, weil die Mutter in Anwesenheit der fünf Kinder von den Contras auf eine Mine gesetzt worden ist. Solche Sachen habe ich erlebt. Ich möchte wissen, wie Sie das bewerten. Es liegt nicht immer nur an einer Seite.
Ich möchte noch eines sagen: Wenn sich jeder Bürger der BRD dafür verantworten müßte, was meinetwegen jetzt im Golfkrieg mit Giftgasfabriken usw. passiert ist, dann ist hier, wenn das eines Tages aufgerollt wird, auch jeder dafür verantwortlich. Auch ich bin jetzt dafür verantwortlich, weil ich jetzt im vereinigten Deutschland lebe.
Sie haben gesagt, ich hätte die Vereinigung noch nicht im Kopf. Ich frage mich angesichts der Situation im Osten, wie ich das vollkommen verarbeiten kann. Ich habe überhaupt keine Idee, wie Sie mit der Mentalität, mit der anderen Entwicklung, die wir nun einmal 40 Jahre lang durchgemacht haben, umgehen. Auch Sie hätten 1952 auf dem Gebiet der DDR geboren worden sein können. Ich weiß nicht, wie Sie sich entwickelt hätten. Von dem Standpunkt aus sollten Sie das auch einmal betrachten, und zwar in aller Ruhe.
Ich halte es für unerträglich, wie hier mit Worten umgegangen wird. Ich bitte Sie, in Zukunft solche Anwürfe zu unterlassen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der SPD — Ulrich Irmer [FDP]: Das ist ja ein Skandal! — Abg. Werner Zywietz [FDP] meldet sich zu Wort)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203345700
Herr Kollege Zywietz, was möchten Sie?

(Werner Zywietz [FDP]: Ich möchte ebenfalls eine persönliche Erklärung abgeben!)

— Bitte sehr.

Werner Zywietz (FDP):
Rede ID: ID1203345800
Herr Präsident! Ich möchte nur feststellen, daß ich in meinem Redebeitrag bis auf die Erwähnung der Berufstätigkeit der Kollegin in Nicaragua keine persönlichen Anwürfe gemacht habe, sondern mich ausschließlich mit der politischen, parteilichen Wertung dieser Thematik beschäftigt habe. Ich habe mich in keinster Weise persönlich eingelassen.

(Dr. Ursula Fischer [PDS/Linke Liste]: Lesen Sie es im Protokoll noch einmal nach!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1203345900
Ich nehme an, Herr Kollege Zywietz, daß das, was Sie jetzt erklärt haben, auch so zu verstehen ist, wie Sie es jetzt gesagt haben, daß, selbst wenn etwas vorgekommen ist, dies keine Absicht war.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Aussprache über diesen Tagesordnungspunkt.



Vizepräsident Helmuth Becker
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Vorlage in Abweichung von dem in der Tagesordnung auf geführten Überweisungsvorschlag wie folgt zu überweisen: zur federführenden Beratung an den Finanzausschuß, zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß, an den Auswärtigen Ausschuß sowie an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Kann ich Ihr Einverständnis dazu feststellen? — Das ist der Fall.
Ich rufe nun Punkt 13 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ Linke Liste
Aufnahme des grünen Pfeils in die Straßenverkehrsordnung
— Drucksache 12/728 —
Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr
Im Ältestenrat ist eine Aussprache mit Fünfminutenbeiträgen für jede Fraktion vereinbart worden. In der Zwischenzeit haben aber alle Redner ihre Reden zu Protokoll gegeben. Da wir von der Geschäftsordnung abweichen, bitte ich auch hier um Ihre Zustimmung. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. *)
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/728 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuß vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Punkt 14 des Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1991

(Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 1991 — BBVAnpG 91)

— Drucksache 12/732 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend)

Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich stelle fest, daß interfraktionell vorgeschlagen worden ist, auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ich muß aber Ihre Zustimmung dazu erbitten, weil wir wiederum von der Geschäftsordnung abweichen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. **)
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/732 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit
*) Anlage 9
**) Anlage 10
einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun Zusatzpunkt 10 der Tagesordnung auf :
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Walter Franz Altherr, Hans-Dirk Bierling, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Uwe Holtz, Norbert Gansel, Rudolf Binding, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Fraktion der FDP und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN
Westsahara-Friedensplan der Vereinten Nationen
— Drucksache 12/798 —
Auch hier ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Wer wünscht das Wort? — Das Wort wünscht der Abgeordnete Dr. Uwe Holtz, und ich erteile es ihm. Bitte sehr.

Prof. Dr. Uwe Holtz (SPD):
Rede ID: ID1203346000
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, daß es interfraktionell gelungen ist, das Thema Westsahara noch in dieser letzten, für uns alle so bedeutsamen Sitzungswoche vor der Sommerpause auf die Tagesordnung zu setzen und zu wichtigen Punkten eine gemeinsame Position zu entwickeln.
Daß es jetzt mit Zustimmung der beiden Konfliktparteien, dem Königreich Marokko und der Frente Polisario, zu einem Selbstbestimmungsreferendum in der Westsahara kommen wird, ist vor allem der UNO und ihrem Generalsekretär Perez de Cuellar zu verdanken. Der Deutsche Bundestag würdigt ausdrücklich diese positive Arbeit und stellt sich hinter den Westsahara-Friedensplan. Mit seiner Verwirklichung kann endlich der seit 1975 andauernde und von der Weltöffentlichkeit weitgehend vergessene Krieg in dieser Region beendet und ein weiteres Kapitel der Dekolonisierung Afrikas abgeschlossen werden.
Deshalb wird mit diesem Antrag die Bundesregierung aufgefordert, sowohl von sich aus als auch auf EG-Ebene auf eine rasche und vollständige Verwirklichung des Friedensplans für die Westsahara zu drängen und sich sowohl finanziell an der vorgesehenen UNO-Mission zu beteiligen als auch qualifiziertes Personal für deren zivile Aktivitäten zur Organisation und Durchführung des Referendums zur Verfügung zu stellen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um sicherzustellen, daß das Referendum wirklich frei und fair stattfindet. Die Sahraouis haben über die Frage zu entscheiden, ob sie die Unabhängigkeit oder die Eingliederung in das Königreich Marokko wünschen.

(V o r sitz : Vizepräsidentin Renate Schmidt)

Die Bundesregierung sollte sich z. B. eindeutig dagegen wenden, daß von marokkanischer Seite bereits
jetzt entgegen den Bestimmungen des UNO-Frie-



Dr. Uwe Holtz
densplanes mit Wahlkampfaktivitäten begonnen worden ist. Außerdem sollte sie den deutschen Botschafter in Marokko zur Ordnung rufen, der kürzlich vor der Presse in Marokko zugunsten eines positiven Ausgangs des Referendums für Marokko Stellung bezog und damit, wie ich meine, die diplomatisch gebotene Zurückhaltung vermissen ließ.
Außerdem fordern wir in dem interfraktionellen Antrag die Bundesregierung auf, ihre Beziehungen zur marokkanischen Regierung dahin gehend zu nutzen, daß diese mit der UNO-Mission in der Westsahara kooperiert und wie die Frente Polisario förmlich erklärt, jedes mögliche Resultat des Referendums akzeptieren zu wollen. Wir begrüßen die Erklärungen hochrangiger Vertreter der Frente Polisario, daß diese für ein offenes, demokratisches und politisch rechenschaftspflichtiges System steht und sich den universell akzeptierten Prinzipien der Menschenrechte verpflichtet weiß.
Wir Sozialdemokraten bedauern, daß es nicht möglich war, in diesem gemeinsamen interfraktionellen Antrag folgende zwei klare Aussagen aufzunehmen, nämlich die, daß jede Ausstattungs- bzw. Ausrüstungshilfe an Marokko zumindest so lange einzustellen ist, bis der UNO-Friedensprozeß in der Westsahara zum Abschluß gekommen ist, und daß sich die Bundesregierung nicht länger offiziellen Kontakten mit der Frente Polisario verschließt. Es ist mit der von der Bundesregierung immer wieder dargestellten Neutralität in diesem Konflikt unvereinbar, wenn sie die marokkanische Seite mit Ausrüstungs- oder gar Militärhilfe unterstützen würde.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Wir können nur hoffen, daß sie hier internationales Verantwortungsgefühl an den Tag legt und die Finger davon läßt.
Nach den 15 Jahren Krieg braucht das geschundene Land nicht nur Frieden, sondern auch eine Zukunftsperspektive. Dazu gehört, daß sich die internationale Gemeinschaft wie auch die Bundesrepublik Deutschland an dem Wiederaufbau beteiligt.
Wir Abgeordneten sollten selbst versuchen, einen Beitrag zu leisten, um sicherzustellen, daß durch offizielle Beobachterdelegationen sowohl auf Bundestags- als auch der Ebene der Parteien, die in die Westsahara entstandt werden, dazu beigetragen wird, daß das freie und faire Referendum dann wirklich auch so ablaufen kann.
Ich bitte alle hier im Saal um Zustimmung zu dem Antrag.
Besten Dank.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1203346100
Als nächster hat das Wort Herr Dr. Köhler.

Dr. Volkmar Köhler (CDU):
Rede ID: ID1203346200
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir sprechen über ein Gebiet, dessen Besiedlung noch etwas dünner ist als die Anwesenheit im
Deutschen Bundestag an diesem Abend bei der Behandlung dieses Gegenstandes.

(Beifall des Abg. Ulrich Irmer [FDP])

Wir sprechen über einen Antrag, dem auch meine Fraktion zustimmt, obwohl, verehrter Kollege Holtz — das wird Sie nach den vielen Jahren, in denen wir dieses Thema miteinander traktiert haben, nicht verwundern —, ich mindestens in einigen Nuancen nicht dem folgen kann, was Sie hier im einzelnen gesagt haben. Trotzdem glaube ich, daß die Intention überwiegend so ist, daß wir die Sache gemeinsam tragen können.
Der Friedensplan der Vereinten Nationen vom 29. April 1991 hat in der Tat allseitige Zustimmung gefunden. Er soll und muß durchgeführt werden. Dazu gehört auch ein freies und faires Referendum.
Ich möchte das Augenmerk noch darauf lenken, daß eine der entscheidenden Fragen dabei ist, von welcher Bevölkerungszählung, also von welcher Zahl der Stimmberechtigten, man ausgeht. Dafür sollte sich auch die Bundesregierung noch speziell interessieren.

(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Vom spanischen Zensus 1974! Das hat die UNO so vorgeschlagen! Ist akzeptiert!)

— Ja.
Dieser Krieg verzehrt seit 16 Jahren eine Fülle von Kräften — seit dem grünen Marsch 1975 ist das so —, die dringend für wirklich andere Aufgaben genutzt werden müßten — im gesamte Raum des Maghreb. Auch wenn die Bundesregierung — das gilt für alle Bundesregierungen — stets eine formale Neutralität in dieser Angelegenheit betont hat, meine ich doch, daß jetzt alles durch uns und die Europäische Gemeinschaft getan werden sollte, um diese unerträgliche Belastung der Situation des Maghreb endlich zu beseitigen. Deswegen teile ich auch ausdrücklich die Forderung nach einer aktiven Unterstützung des Referendums und der Mission der Vereinten Nationen, die ich wie Sie begrüße; denn es wird dringend Zeit, daß ein größerer Maghreb aufgebaut wird und die Störfaktoren fallen. Der Ballast dieses Sahara-Krieges ist in höchstem Maße überflüssig und anachronistisch und muß fallen.

(Beifall des Abg. Ulrich Irmer [FDP])

Wir haben es in Wahrheit mit Ländern und Völkern zu tun, in denen über 50 % der Menschen jünger sind als 20 Jahre. Für sie ist entscheidend, wie sie Behausung bekommen, Ausbildung bekommen, wie sie Arbeit bekommen. Darauf haben sich alle Anstrengungen zu konzentrieren. Das hat auch uns zu interessieren; denn die Wanderungsbewegung von dort führt nicht nur an unsere Pforten in Europa, sondern sie ist schon in Spanien, Frankreich, Italien spürbar. Deswegen geht uns das eine ganze Menge an. Es geht nicht nur um das soziale Problem dieser jungen Generation, sondern auch um die Frage unseres Zusammenlebens an beiden Küsten des Mittelmeeres. Wir werden reagieren müssen und dürfen uns dem nicht länger entziehen.
Marokko, so fordert dieser Antrag, soll voll und ganz kooperieren. Die Polisario habe dies zugesagt.



Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg)

Ja. Trotzdem ist das für mich ein Anlaß, noch einmal ganz kurz die Interessenlage aller Beteiligten zu beleuchten: Marokko — Sie werfen vor, daß man dort schon Wahlkampf mache; anzunehmen, daß das nicht geschehe, wäre vielleicht doch ein bißchen weltfremd —

(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Widerspricht den UNO-Vereinbarungen!)

ist immerhin dabei, seine Truppen nach dem UNO-Plan zu kantonieren, erfüllt also in dieser Hinsicht den UNO-Plan bereits jetzt. Ich halte es für begrüßenswert, daß am Ende des Ramadan König Hassan II. eine Amnestie ausgerufen hat. Ich meine, es sind noch mehr Wunden zu heilen. Ich würde hier gern in aller Form darum bitten — wenn es denn den König Marokkos erreichen mag — , den Festtag des 9. Juli zu einer weiteren und weiterreichenden Amnestie zu nutzen, um die Wunden weiter heilen zu helfen. Ich verkenne nicht, daß die innenpolitischen Spielräume für die marokkanische Regierung und für den König durchaus limitiert sind. Es sind in Marokko verschiedene Kräfte, auch bis zu ganz linken Parteigruppierungen hin,

(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Bis zu den Kommunisten! )

die in der Sahara-Frage nach wie vor eine unversöhnliche Haltung einnehmen. Der König ist hier nicht völlig unabhängig, und die sozialen Unruhen im Lande verschärfen dieses Klima für ihn noch. Wenn wir hier Politik mit der Hoffnung auf Zielerreichung treiben wollen, müssen wir auch diese realen Fakten sehen.
Auch die Handlungsmöglichkeiten Algeriens als eines zweiten entscheidenden Faktors in diesem Spiel sind durch die inneren Wirren des Landes begrenzt. Algerien hat die Bewegungsfreiheit der Polisario durch verschiedene Maßnahmen ein Stück vermindert. Die Benzinlieferungen Algeriens an die Polisario reichen nicht mehr aus, um das schwere Gerät zu bewegen; aber andererseits ist die Polisario auch kein passives Objekt in diesem Spiel algerischer Politik. Es gibt inzwischen Pressemeldungen, von denen ich hoffe, daß sie nicht zutreffen, daß die Polisario angefangen hat, islamistische Kampfgruppen in Algerien auszubilden. Dies wäre, wenn es stimmte, schlimm.
Es gibt vor diesem Hintergrund neben dem Prozeß, den die Vereinten Nationen eingeleitet haben, Bemühungen um Vorabsprachen, wobei wir nicht genau wissen, was alles vor drei Wochen in Oran zwischen Marokko und Algerien verhandelt worden ist. Ich neige zu der Vermutung, daß die begrenzte Handlungsfähigkeit Algeriens im Moment solche Absprachen durchaus begrenzt hat. Aber man kann zuweilen den Eindruck haben, daß Algerien und Marokko, weil sie ein intensives Auftreten der Vereinten Nationen in ihrem Gebiet als ihrem Prestige abträglich und vor ihren Völkern als Fremdbestimmung betrachten müßten, beide bemüht sind, das Problem schon so weit vorab zu regeln, daß das Referendum eigentlich nur noch eine Formaletüde und eine Art formaler Schlußpunkt sein könnte.
Ich möchte hier in aller Freundschaft sagen, daß ich glaube, daß es für ein solches Spiel zu spät ist. Die Angelegenheit hängt vor der Öffentlichkeit der Weltorganisation der Vereinten Nationen an, und so, wie wir an anderer Stelle nicht dulden können und dulden werden, daß die Vereinten Nationen geschwächt werden, so können wir es auch hier nicht. Wir müssen auch unseren Freunden raten: Für eine dauerhafte Lösung des Problems vor der Weltöffentlichkeit ist ein Unterlaufen der Vereinten Nationen und ihres Friedensplanes unerträglich.
Wenn ich auf den gesamten Maghreb schaue, so stelle ich doch einige positive und mich ermutigende Anzeichen fest. Niemand ist zu sehen, der nun nicht endlich zu einem Ausgleich strebt. Allerdings muß ich auch sagen, daß ich kaum einen Staat erkenne, der die Gründung eines neuen Teilstaates in dieser Ära ernstlich will. Wir wollen, daß am Ende ein dauerhafter Frieden steht, und dazu, verehrter Kollege Holtz, geht mir der Text hinter dem letzten Spiegelstrich des Antrags, wie wir ihn jetzt vorliegen haben, der den Wiederaufbau der Westsahara fordert — sprachlich ein etwas zu hinterfragender Satz — , nicht weit genug.
Ich meine, der Gedanke muß weiterreichen. Was wird aus denen, die bei dem Referendum unterliegen werden? Nehmen wir einmal an, was ja nicht sicher ist, daß nicht die Polisario, sondern die Marokko-Befürworter die Mehrheit bekommen. Wie werden dann die, die nicht für Marokko votiert haben, sich gegenüber Algerien einstellen, das sie nach ihrer Meinung im Stich gelassen hat? Anders werden Sie es kaum werten können.
Wird es für solche Gruppen zu einem Exodus nach Mauretanien kommen? Kann dieses Land, das gerade nur mühsam ein bißchen aufkeimende Stabilität gewinnt, so etwas tragen, ohne destabilisiert zu werden?
Wir müssen weitere Dinge ins Auge fassen, und dazu gehört, daß wir es nicht geringachten und einfach verwerfen können, daß die überragende Mehrheit der Stammesführer in der Westsahara erst jüngst wieder König Hassan II. gehuldigt hat. Darunter waren zwar auch die Führer vieler kleiner Stämme, aber man muß auch erkennen, daß diese kleinen Stämme mit Sorge und einer gewissen Angst auf das Geschehen bei der Polisario schauen, die zu einem wesentlichen Teil einen Großstamm repräsentiert, mit dem die anderen Schwierigkeiten des Zusammenlebens haben.
Das zeigt gerade das Problem. Es gibt auch eine Furcht der kleinen Stämme vor dem, was da kommt. Einfach nur vom Volk der Westsahara zu sprechen wird den Tatsachen und Spannungsverhältnissen nicht voll gerecht.

(Zustimmung des Abg. Ulrich Irmer [FDP])

Um wirklich Frieden zu stifen, wird man über Modelle der Regionalisierung sprechen müssen, vielleicht sogar über föderative Konstruktionen. Hier sind neue Formen der Ansässigkeit und des Zusammenlebens zu schaffen. Ich finde es bemerkenswert, daß es, ausgelöst von König Hassan, seit zwei Jahren eine Diskussion in Marokko über die Frage des Föderalismus — mit deutlichem Blick auf den Föderalismus der Bundesrepublik — gibt. Das ist eine Herausforderung, in dieser Diskussion dienlich zu sein und weiter solche Gedankengänge zu unterstützen.



Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg)

Meines Erachtens geht unser Interesse und unsere Verpflichtung über die formale Einhaltung des UN-Friedensplanes und die Abhaltung des Referendums ein gutes Stück hinaus. Wir sollten auch hier versuchen, nicht nur den Krieg zu beenden, sondern den Frieden zu gewinnen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1203346300
Als letzter Redner des heutigen Tages hat der Kollege Ulrich Irmer das Wort.

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1203346400
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Nachdem der Kollege Köhler hier in sehr profunder und sorgfältiger Weise die Situation in der Westsahara geschildert hat, kann ich mich auf wenige Bemerkungen beschränken.
Erstens. Ich freue mich darüber, daß wir hier erneut einen Fall haben, in dem die Vereinten Nationen ihrer Rolle gerecht werden, nämlich da, wo es Ärger gibt, da, wo es Krieg gibt, da, wo es Schwierigkeiten gibt, vermittelnd einzugreifen und einen Plan vorzulegen, auf den sich dann alle Streitparteien verständigen können und der wirklich zur Befriedung der Lage beitragen möge.
Zweitens. Wir kennen Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Marokko. Marokko hat nicht den besten „record" in Menschenrechtsfragen. Ich nehme diese Gelegenheit gerne wahr, anzumahnen, daß das Königreich Marokko sich bitte stärker der Wahrung der Menschenrechte verpflichten möge und auch Appellen von uns aufgeschlossener gegenübertreten möge. Wir bekommen ja die Berichte von amnesty international. Ich meine wirklich, daß Marokko ein wichtiger Partner ist, daß es aber eben aus dieser Partnerschaft auch Verpflichtungen gibt, sich in der Zukunft gerade in Menschenrechtsfragen besser zu verhalten, als es in der Vergangenheit leider der Fall war.
Drittens. Die Polisario ist eine Organisation, die in den ideologischen Meinungsstreit geraten ist. Es hat in der Vergangenheit — speziell zu den Zeiten, als der Ost-West-Konflikt noch in vollem Schwange war — —

(Abg. Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU] geht grüßend am Rednerpult vorbei)

— Herr Kollege, guten Abend. (Heiterkeit)

— Ich freue mich einfach, diesen Kollegen zu sehen, weil ich mit ihm eine Wette abgeschlossen habe. Ich weiß nur nicht, wie ich das Wort, um das es dabei geht, ausgerechnet in dieser Debatte unterbringe. Ich könnte jedoch sagen, daß der Süßfleischhund nicht zu den Leckerbissen in der Sahara, sondern in anderen Weltregionen gehört. — Jetzt habe ich es gesagt, und es wird im Protokoll vermerkt.

(Abg. Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1203346500
Lieber Kollege Irmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fuchtel? Es wird Ihnen selbstverständlich nicht auf Ihre Redezeit angerechnet.

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1203346600
Ich gestatte selbstverständlich mit großem Vergnügen eine Zwischenfrage. Aber das ist nicht verabredet! Ich lege Wert darauf, daß das jetzt keine Inszenierung ist.

Hans-Joachim Fuchtel (CDU):
Rede ID: ID1203346700
Herr Kollege, geben Sie mir recht, daß Ihre Rede hier in etwa die Qualität hat, die mit der Zähigkeit vergleichbar ist, die ein chinesischer Süßfleischhund an den Tag zu legen pflegt, kurz bevor er geschlachtet wird?

(Heiterkeit)


Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1203346800
Herr Kollege, um diese Tageszeit dürfen wohl alle Reden nur so gewertet werden, als ob der Redner demnächst geschlachtet würde, weil nämlich die Geduld der Kollegen überstrapaziert ist. Ansonsten lege ich Wert auf die Feststellung, daß ich weder süße Reden noch Hundereden noch Fleischreden halte, sondern einfach Reden, die Hand und Fuß haben. Deshalb möchte ich jetzt auch wieder zur Sache zurückkehren.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1203346900
Würden Sie dennoch eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Soell gestatten?

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1203347000
Aber selbstverständlich.

Dr. Hartmut Soell (SPD):
Rede ID: ID1203347100
Herr Kollege Irmer, können Sie mir sagen, was die Frage der Abstimmung über die Westsahara und deren künftiges Schicksal mit dem Kampf der Viererbande im Unter(hosen)grund von Pjöngjang zu tun hat?

(Heiterkeit)


Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1203347200
Ich habe das rein akustisch schlecht verstanden. Sie sprachen vom Kampf der Viererbande — —

(Dr. Hartmut Soell [SPD]: — — im Unter In Pjöngjang? — Herr Kollege, ich weiß nicht, ob Sie sich mit Ihrer Frage jetzt nicht ganz buchstäblich und textilisch unter der Gürtellinie befinden, aber wenn ich die Frage richtig verstanden habe, so haben Sie einen Zusammenhang zwischen der Viererbande und der Westsahara hergestellt. (Dr. Harmut Soell [SPD]: Meine Frage war, ob überhaupt ein Zusammenhang besteht! — Dr. Uwe Holtz [SPD]: Nein!)


(Heiterkeit)

— Herr Kollege Soell, ich schätze Sie so sehr, daß ich zugeben muß, daß, wenn Sie einen derartigen Zusammenhang auch nur ahnen, ein solcher bestehen muß;

(Heiterkeit)

denn andernfalls müßte ich Ihnen ja die Seriosität
Ihrer Fragestellung absprechen, und das wäre mir nun
doch angesichts dér tiefen Wertschätzung, die ich



Ulrich Irmer
Ihnen gegenüber immer gehegt habe und auch weiter hegen werde, außerordentlich zuwider.

(Zuruf von der SPD: Wer hat denn angefangen!)


Dr. Hartmut Soell (SPD):
Rede ID: ID1203347300
Es war eine rein informatorische Frage.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1203347400
Herr Kollege Irmer, es besteht der Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage. Ich würde es aber ab jetzt auf die Redezeit anrechnen.

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1203347500
Frau Präsidentin, ich habe eine Bitte; Fraktionsmäßig gesehen ist jetzt der Kollege Köhler mit einer Zwischenfrage eigentlich an der Reihe. Können wir das nicht noch außerhalb der Anrechnung passieren lassen? Das wäre dann die letzte Zwischenfrage.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1203347600
Also gut, die letzte.

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1203347700
Ich muß nämlich noch etwas Ernsthaftes sagen; nicht, daß das hier mißverstanden wird.

Dr. Volkmar Köhler (CDU):
Rede ID: ID1203347800
Herr Kollege Irmer, können Sie bestätigen, daß in jüngster Zeit in der Westsahara Kamele gesichtet worden sein sollen, die mit Ultrakurzwellenempfängern ausgestattet worden sind, so daß sich der vom Kollegen Professor Soell unterstellte Informationsstand dort inzwischen tatsächlich ausgebreitet hat?

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1203347900
Herr Kollege Köhler, ich habe darüber Recherchen angestellt. Ich habe in der Tat Informationen darüber, daß es sich dabei um die Kamele handeln muß, die auf der Camel-Reklame plötzlich fehlen. Mir ist nämlich aufgefallen, daß es dort einen erstaunlichen Mangel an derartigen Tieren gibt.

(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Ich bitte, jetzt mit dem gebotenen Ernst zum Thema zurückzukehren!)

— Frau Präsidentin, ich muß darum bitten, das Haus zur Ordnung zu rufen.

(Heiterkeit)

Ich möchte jetzt nämlich wirklich noch etwas Ernsthaftes sagen. Man traut mir das jetzt vielleicht nicht mehr zu, aber ich möchte wirklich noch etwas zum Thema sagen.
Ich möchte ganz ernsthaft sagen, daß sich die Frente Polisario in den letzten 15 Jahren der internationalen Öffentlichkeit gegenüber als eine Widerstandsbewegung dargestellt hat, die dort für die Befreiung eines ganzen Volkes kämpft. Ich muß ehrlich sagen, daß ich hier gewisse Zweifel habe. Die Frente Polisario ist natürlich auch von interessierten Kräften instrumentalisiert worden. Das waren damals noch Algerien und die Sowjetunion, die dahinterstand. Es war das alte Konzept, daß man in Nordafrika eine Art Cordon schaffen wollte. Dort hat der Ostblock den Versuch gemacht, seine Interessen zu verankern und sie dort
vom Osten bis an die Küsten des Atlantik — wir wissen um die Rohstoffvorkommen dort — festzuzurren.

(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Das trifft so nicht zu! Die Westsahara ist von 73 Staaten anerkannt worden, aber von keinem Ostblockland!)

— Einen Augenblick! Ich sage, daß ich ein kleines Fragezeichen hinter die Eigenschaft der Frente Polisario als einer Befreiungsbewegung und hinter die Klassifizierung des blutigen Kriegs, der dort seit 16 Jahren tobt, als eines Befreiungskrieges setze.
Herr Kollege Köhler hat eindrucksvoll dargestellt, daß die Verhältnisse in der Region nicht so sind, wie es hier vielleicht allgemein angenommen werden kann, und daß sie auch nicht nach solchen Maßstäben zu messen sind. Wo ist denn die Berechtigung einer Volksgruppe, verschiedener Volksstämme, nun zu sagen, daß sie als eigener Staat anerkannt werden wollen, der auch ökonomisch überhaupt nicht lebensfähig wäre?
Es ist ganz klar: Es müssen dort die Menschenrechte gewahrt werden, es muß das Selbstbestimmungsrecht gewahrt werden. Das kann möglicherweise über Autonomieregelungen verschiedener Art geschehen. Wir hoffen darauf, daß der Friedensplan der Vereinten Nationen, der dort jetzt in die Tat umgesetzt wird, zu einer für alle Seiten befriedigenden Lösung führt. Wir hoffen, daß die ganze Auseinandersetzung aus dem ideologischen Streit herausgeholt werden kann.

(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Es war nie ein OstWest-Konflikt!)

— Lieber Uwe Holtz, ich habe nicht gesagt, daß es ein Teil des Ost-West-Konflikts war. Ich habe gesagt: Es ist von interessierten Seiten als Teil des Ost-WestKonflikts instrumentalisiert worden, und das hat die Sache so problematisch gemacht.
Es ist richtig: Ein blutiger Krieg hat dort getobt. Es ist unser Anliegen, jeden Krieg zu beenden, überall in der Welt dafür zu sorgen, daß die Menschen friedlich miteinander leben und friedlich miteinander umgehen können. Wenn die Vereinten Nationen jetzt diesen Plan vorgelegt haben, wenn die Polisario ihn akzeptiert hat und wenn, wie ich höre, Marokko bereit ist, diesen Plan zu akzeptieren, dann ist es unser aller Aufgabe, alles dafür zu tun, daß dieser Plan nun auch in die Wirklichkeit umgesetzt werden kann, daß er realisiert wird, daß, das Referendum stattfindet, daß wir nachher, wie immer es ausgeht, das Ergebnis respektieren und daß wir dann das Unsere dazu beitragen, daß diese Region, leidgeprüft, von Krieg überzogen, wieder aufgebaut werden kann, damit auch sie in Zukunft in Frieden leben kann.
Danke schön.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1203348000
Wir sind damit am Ende der Aussprache. *)
*) Zu Protokoll gegebene Rede Anlage 11



Vizepräsidentin Renate Schmidt
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der CDU/CSU, SPD und FDP sowie der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache 12/798?
— Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen?
— Damit ist dieser Antrag bei überproportionaler Beteiligung von FDP und SPD

(Heiterkeit) einstimmig angenommen.

Wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 20. Juni 1991, 10 Uhr ein.
Ich wünsche eine gute Nacht, fröhliche Feste und auch sonst alles, was Sie sich wünschen.
Die Sitzung ist geschlossen.