Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.Frau Kollegin Dr. Götte hat am 7. Juni 1991 auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als ihr Nachfolger hat Herr Abgeordenter Büchner , der dem Deutschen Bundestag bereits viele Jahre angehörte, am 10. Juni 1991 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.Herr Kollege Gerster hat ebenfalls am 3. Juni 1991 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Sein Nachfolger, Herr Kollege Walter (Cochem), hat am 10. Juni 1991 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.Ich begrüße die beiden Kollegen sehr herzlich.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:4. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die vorgezogenen Regelungen zur Herstellung der Rechtseinheit in der Renten- und Unfallversicherung — Drucksache 12/724 —5. Erste, zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines 14. Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes — Drucksache 12/730 —6. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Sicherung von Arbeitsverhältnissen für eine Übergangszeit in den neuen Ländern — Drucksache 12/725 —7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Arne Börnsen , Helmut Esters, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Aufgaben der Treuhandanstalt — Drucksache 12/726 —8. Erste Beratung des von den Abgeordneten Werner Schulz , Dr. Klaus-Dieter Feige, Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Sanierung und Reorganisation des Treuhandvermögens (Treuhandgesetz) — Drucksache 12/735 —9. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zu den Wünschen hinsichtlich einer Erhöhung der Rundfunkgebühren und der Erweiterung der Werbezeiten10. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP: Einsetzung eines EG-Ausschusses — Drucksache 12/739 —Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgesehen werden.Darüber hinaus besteht Einvernehmen, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP „Einsetzung eines EG-Ausschusses" auf Drucksache 12/739 bereits vor Tagesordnungspunkt 11 aufzurufen. Damit entfällt Tagesordnungspunkt 12. Sind Sie damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 und Zusatzpunkt 4 auf:4. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. Dezember 1988 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über die gegenseitige Hilfeleistung bei Katastrophen oder schweren Unglücksfällen— Drucksache 12/474 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Auswärtiger AusschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften— Drucksache 12/544 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß Rechtsausschußc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
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Vizepräsident Hans Kleinzes zur Durchführung der Zwölften Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts betreffend Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter— Drucksache 12/625 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaftd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom 21. Dezember 1989 über Gemeinschaftspatente und zu dem Protokoll vom 21. Dezember 1989 über eine etwaige Änderung der Bedingungen für das Inkrafttreten der Vereinbarung über Gemeinschaftspatente sowie zur Änderung patentrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 12/632 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Ausschuß für WirtschaftHaushaltsausschuß gem. § 96 GOe) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hermann Wimmer , Brigitte Adler, Horst Kubatschka, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Forstschäden-Ausgleichsgesetzes— Drucksache 12/422 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für WirtschaftZP4 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die vorgezogenen Regelungen zur Herstellung der Rechtseinheit in der Renten- und Unfallversicherung
— Drucksache 12/724 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung InnenausschußRechtsausschußHaushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GOInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Die Überweisungen sind so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Unterlagen desStaatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
— Drucksache 12/723 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und GeschäftsordnungRechtsausschußHaushaltsausschußb) Erste Beratung des von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Sicherung und Nutzung der Daten und Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik— Drucksache 12/692 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und GeschäftsordnungRechtsausschußHaushaltsausschußNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Damit besteht Einverständnis. Dies ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Johannes Gerster.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im April dieses Jahres haben wir einen Gesetzentwurf zur Überführung der SED-Akten und der Unterlagen der Massenorganisationen der ehemaligen DDR in das Bundesarchiv im Bundestag eingebracht. Dies war der erste Schritt in Richtung auf die dringend notwendige Aufarbeitung der SED-Vergangenheit. Mit der heutigen Vorlage eines Stasi-Unterlagen-Gesetzes folgt der zweite, ebenfalls sehr schwierige Schritt zur Beseitigung der Verwerfungen, die in mehr als 40 Jahren im Osten unseres Landes von der SED zu verantworten sind. Beiden Gesetzentwürfen ist gemeinsam, daß Schutz und Rehabilitierung der Opfer der Stasi ebenso wie die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit im Vordergrund stehen.Wir legen diesen Gesetzentwurf gemeinsam — CDU/CSU-, FDP- und SPD-Fraktion — vor. Ich darf den Kolleginnen und Kollegen — an ihrer Spitze Herr Kollege Dr. Hirsch und Herr Kollege Dr. Penner — sehr herzlich danken, daß wir diesen Entwurf in sehr kooperativer Weise gemeinsam erarbeitet haben. Herzlichen Dank.
Zu dem Gesetzentwurf möchte ich in sieben Punkten kurz Stellung nehmen. Erstens. Jedermann kann vom Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Auskunft verlangen, ob und inwieweit in den Unterlagen der Stasi Daten zu seiner Person enthalten sind. Daraus ergeben sich Ansprüche auf Auskunft, Einsicht oder Herausgabe der Akten. Die bespitzelten Opfer
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Johannes Gerster
des Staatssicherheitsdienstes erhalten ein uneingeschränktes Recht auf Auskunft und Einsicht. Eingeschränkt ist dieses Recht allerdings für Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes. Sie erhalten aus guten Gründen nur dann Einsicht in die von ihnen angefertigten Berichte, wenn dies für sie zur Rechtsverfolgung unbedingt nötig ist. Entgegenstehende schutzwürdige Interessen Betroffener oder Dritter dürfen nicht überwiegen.Zweitens. Alle Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes müssen für den Bundesbeauftragten verfügbar gemacht werden. Alle öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen — auch Privatpersonen — sind deshalb zur Anzeige und Herausgabe verpflichtet, wenn sich Stasi-Unterlagen bei ihnen befinden.
Auch auf die Unterlagen der SED und der Massenorganisationen der ehemaligen DDR soll der Bundesbeauftragte zugreifen können.
Wir erhoffen uns übrigens davon, daß wild in der Gegend herumschwirrende Akten — etwa auch bei Presseinstitutionen — endlich dem Stasi-Beauftragten zugeführt werden.
Drittens. Der Bundesbeauftragte wird durch den Deutschen Bundestag gewählt und erhält eine dem Bundesbeauftragen für den Datenschutz vergleichbare unabhängige Rechtsstellung; er untersteht keiner Fachaufsicht.Die neuen Länder wirken an der Verwaltung der Unterlagen durch ihre Mitgliedschaft in einem Beirat mit. Wir von der CDU/CSU wollen, daß die Vertreter der neuen Bundesländer in diesem Beirat eine Mehrheit bekommen. Dieser Beirat hat in allen grundsätzlichen Angelegenheiten ein Mitspracherecht. Jeder, der sich mit diesem Modell befaßt, kann erkennen, daß es wie keine andere Konstruktion den spezifischen, politischen und sachlichen Interessen der Beitrittsländer Rechnung trägt, die bei der Verwaltung und Verwendung der Stasi-Unterlagen verantwortlich mitbestimmen müssen.Bei zentraler Verantwortung und dezentraler Lagerung der Unterlagen schaffen wir darüber hinaus die notwendige Bürgernähe in der praktischen Arbeit der Behörde.Die Stasi war eine zentralistisch organisierte Institution der ehemaligen DDR. Eine an einheitlichen Maßstäben ausgerichtete Aufarbeitung muß diesem Umstand Rechnung tragen. Auch deshalb war es geboten, eine einheitliche Behörde zu schaffen, die dieses Gesetz nach einheitlichen Grundsätzen auslegt, was aber selbstverständlich sicherstellt, daß über die Außenstellen Bürgernähe erreicht wird und daß sich die Bürger vor Ort über das informieren können, was über sie gesammelt ist.
Ich muß darauf hinweisen, weil die Bürgerkomitees immer wieder an unserem Modell Kritik üben: Eine gemischte Aufgabenwahrnehmung durch den Bund und die neuen Bundesländer würde dieses Ziel gefährden. Stellen Sie sich vor, es gäbe eine unterschiedliche Rechtsprechung in den Ländern — vielleicht auch noch je nach politischer Zusammensetzung — : Das würde Willkür bedeuten und zu einer großen Verunsicherung führen. Im übrigen wäre dieses Mischmodell auch verfassungsrechtlich nicht zulässig.Viertens. Die leider Gottes auch nach vielen Beratungen vom Bündnis 90 nach wie vor vorgebrachte Unterstellung, Frau Köppe, es könnten Akten über Betroffene weitgehend zur Strafverfolgung verwendet werden, entspricht nicht den Vereinbarungen, die wir mit der FDP und der SPD geschlossen haben. Ich sage ganz ausdrücklich: Nur zur Verfolgung von Straftaten, die Stasi-Mitarbeiter im Zusammenhang mit der Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst begangen haben, oder bei ganz besonders schweren Straftaten wie Mord, Totschlag, Völkermord oder Geiselnahme dürfen personenbezogene Unterlagen ausnahmsweise verwendet werden; ausnahmsweise also nur bei Straftaten von Stasi-Mitarbeitern und bei ganz schweren Verbrechen.Lediglich Unterlagen, die keinerlei personenbezogene Daten Betroffener enthalten, dürfen für Zwecke der Strafverfolgung generell verwandt werden. Ich bitte, dies zu beachten und dies auch so zu lesen und zu interpretieren, wie wir es regeln wollen.Frau Köppe, würden die Vorstellungen Ihrer Gruppe Wirklichkeit — da frage ich mich wirklich, was Sie damit im Sinne haben und im Verstand mit sich tragen —, würden Ihre Vorstellungen Gesetz, dann würden durch weitergehende Einschränkungen Stasi-Mörder und andere Verbrecher von Staats wegen geschützt.
Dies können wir nicht zulassen. Die Nutzung von Akten zur Verfolgung schwerer Verbrechen vom Willen, von der Zustimmung der Opfer abhängig zu machen geht auch nicht. Mord, Totschlag und Völkermord müssen wie sonst auch von Amts wegen verfolgt werden.Wenn hier eine Vertreterin der PDS von Unverschämtheit redet: Die einzige Unverschämtheit ist, daß Sie als Nachfolgepartei der SED im Bundestag sitzen.
Ich empfehle Ihnen, bei diesem Thema ganz zurückhaltend zu sein.Fünftens. Nachrichtendienste haben auf Unterlagen über Betroffene keinen Zugriff. Unterlagen ohne personenbezogene Daten oder solche über Stasi-Mitarbeiter oder Begünstigte dürfen von Nachrichtendiensten nur dann verwendet werden, wenn sie Informationen enthalten, die die Spionage oder Spionageabwehr, den gewalttätigen Extremismus oder den Terrorismus betreffen.
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Johannes Gerster
Hier möchte ich ganz deutlich machen, daß sich weder Nachrichtendienste in der Behörde des Herrn Gauck herumtreiben — wie es immer noch behauptet wird — noch dort suchen werden, sondern daß sie nur auf einen entsprechenden Antrag hin Unterlagen bekommen können, allerdings keinerlei Unterlagen über Betroffene. Das ist so vereinbart und ist so gewollt. Ich bitte, das auch so zur Kenntnis zu nehmen.Sechstens. Es wird eine strikte Zweckbindung bei der Verwendung personenbezogener Daten eingeführt. Dies entspricht den Prinzipien unseres Datenschutzrechtes, das in ganz Europa als vorbildlich gilt. Zweckänderungen sind nur innerhalb der einzelnen, im Gesetz aufgeführten Zwecke zulässig. Das heißt, es müssen erstens die gesetzlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Zweckänderung vorliegen. Zweitens bedarf eine Zweckänderung zusätzlich der Zustimmung des Bundesbeauftragten. Es ist also nicht wahr — was auch immer wieder behauptet wird —, daß es keine Zweckbindung gebe. Sie ist in diesem Gesetzentwurf von uns gemeinsam vereinbart worden. Wir werden auch an ihr festhalten.Siebtens. Die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, die keine personenbezogenen Daten Betroffener oder Dritter enthalten, stehen der wissenschaftlichen Forschung, der wissenschaftlichen, historischen und juristischen Aufarbeitung offen. Damit ist auf der einen Seite eine staatsfreie Forschung gewährleistet. Darüber hinaus soll der Bundesbeauftragte die Unterlagen auswerten und die Öffentlichkeit über Struktur, Methoden und Wirkungsweise des Staatssicherheitsdienstes unterrichten.Ich möchte deutlich machen, daß wir für diesen Zweck die Behörde des Bundesbeauftragten ausweiten müssen, und melde hier schon an, daß wir auch qualifiziertes wissenschaftliches Personal zu diesem Zweck in dieser Behörde haben müssen. Sicherlich sind einige Personalanmeldungen notwendig. Darum werden wir kämpfen und das auch gemeinsam durchsetzen. Ich sage das in Richtung Finanzministerium und Bundesregierung.
Meine Damen, meine Herren, ich bin zuversichtlich, daß sich im Bundestag eine große Mehrheit für den heute vorliegenden Gesetzentwurf finden wird. Erst die Aufarbeitung der SED-Vergangenheit wird es uns ermöglichen, die innere Einheit Deutschlands zu vollenden. Dabei sind wir bereit, über den Gesetzentwurf mit jedem, der sich zu Wort meldet, ohne jeden Vorbehalt zu reden.Wir erwarten in der nun beginnenden intensiven parlamentarischen Diskussion und Beratung weitere Vorschläge und fordern alle auf, dabei mitzuwirken; denn natürlich kann dieser Gesetzentwurf noch weiter verbessert werden. Dabei erhoffen wir uns wertvolle Anregungen auch durch die Sachverständigenanhörung, die der Innenausschuß am 27. und 28. August zu beiden Gesetzen, zu dem Stasi-UnterlagenGesetz und zu dem SED-Parteiarchiv-Gesetz, durchführen wird. Ich glaube, wenn wir uns alle auf neue und auch bessere Vorschläge konzentrieren, nützen wir dem Anliegen mehr, als wenn sich einzelne Kritiker im Neinsagen und in Mäkeleien erschöpfen.Wir gehen mit dem SED-Unterlagen-Gesetz und dem Stasi-Unterlagen-Gesetz zwei wichtige Schritte zur Aufarbeitung der Ruinen und Trümmer des SEDStasi-Staates. Lassen Sie mich einen dritten wichtigen Schritt nennen, der unserer Meinung nach notwendig ist.Die Tätigkeit der SED- und Stasispitzen war auf die Unterdrückung von Menschen und auf das Begehen von Straftaten ausgerichtet. Diese Spitzenfunktionäre erfüllen nach Auffassung vieler Menschen in diesem Land — dies ist eine weit verbreitete Meinung — den Tatbestand einer verbrecherischen Organisation oder einer kriminellen Vereinigung. Wir wissen als Parlamentarier genau, daß das gerade in einem Rechtsstaat so einfach nicht geht und daß es da sehr kritische Nachfragen und Überprüfungen gibt. Dennoch fordern wir, gerade weil die Aufarbeitung der SED-Hinterlassenschaft durch die Gerichte, wie wir wissen, sehr schwerfällig läuft, das Bundesinnenministerium und das Bundesjustizministerium auf, eine verfassungsrechtlich einwandfreie Regelung zu erarbeiten, welche eine entsprechende Einordnung zumindest der Spitzen des SED-Staates und des MfS ermöglicht.Um es klar zu sagen: Uns geht es damit nicht um eine Verfolgung von kleinen Leuten, kleinen Mitarbeitern der SED und des Staatssicherheitsdienstes. Uns geht es nicht um Mitläufer und um Leute, die möglicherweise sehr geringe oder keine Schuld auf sich geladen haben. Nein, es geht um die Großen, die Hauptverantwortlichen des Unterdrückerstaates, die große Schuld auf sich geladen haben und die politische und persönliche Schuld für die Verbrechen gegen die Menschheit und die Menschlichkeit in der früheren DDR tragen.Diese Art von Genossen müssen vom öffentlichen Dienst ferngehalten werden. Ihr Schergendienst darf nicht — wir haben gestern einen ersten Schritt mit dem Rentenüberleitungsgesetz getan — zu einer höheren Altersversorgung als etwa bei Unterdrückten beitragen. Wir sind auch der Meinung, daß sich jeder Privatunternehmer dreimal fragen sollte, ob er solche Leute wirklich beschäftigen kann.
Dies rechtsstaatlich abzugrenzen und festzustellen dient im übrigen der Gerechtigkeit und damit auch dem Rechtsfrieden und ist deshalb Aufgabe des Rechtsstaates. Jedenfalls, glaube ich, müssen wir zu den beiden Gesetzen, die jetzt im Bundestag eingebracht sind, gemeinsam nach noch wirkungsvolleren Sperren suchen, die dafür sorgen, daß die Unterdrükker von gestern nicht die Hauptgewinner von morgen sein werden. In diesem Sinne wollen wir zu den zwei Schritten einen dritten versuchen. Auch dazu bitte ich um Ihre Unterstützung.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Rolf Schwanitz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der zur Beratung anstehende gemeinsame Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP war mehr als überfällig. Als im Herbst 1989 die Bürger der damaligen DDR auf die Straße gingen, um mit friedlichen Mitteln den Weg für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit freizumachen, war die Beseitigung der Strukturen des Ministeriums für Staatssicherheit und die Aufdeckung sowie Aufarbeitung dieser Tätigkeit eine der zentralen Forderungen der Bürger.
Wer sich gedanklich in die Jahre 1989 und 1990 zurückzuversetzen vermag, der weiß, wie beschwerlich, aber auch wie unbefriedigend und wie wenig frei von Irrtümern dieser Aufdeckungsprozeß, angefangen von der Tätigkeit der Bürgerkomitees, der Runden Tische über die Ausschüsse, die die Volkskammer zu diesem Zweck errichtet hatte, bis hin zur Tätigkeit des Sonderbeauftragten der Bundesregierung ab dem 3. Oktober 1990, vonstatten ging.
Aber gerade das, was mit dem Einigungsvertrag als geltendes Recht in den neuen Bundesländern festgeschrieben wurde, erfüllte die Wünsche und Hoffnungen hinsichtlich der Offenlegung der MfS-Strukturen nur im Ansatz. Wir wissen, daß die Aktenbestände nur in sehr eingeschränktem Umfang für die Betroffenen nutzbar gemacht wurden. Wir sehen, daß sich zwischenzeitlich alte und neue Seilschaften gebildet haben. Unsere Sprechstunden in den Wahlkreisen sind voll von derartigen Schilderungen.
Wir haben die Angebote von Stasi-Generalen zur Offenlegung ihres Wissens gegen Honorar vor lauf enden Fernsehkameras erdulden müssen, während auf der anderen Seite gleichzeitig Tausende von Arbeitnehmern ihren Arbeitsplatz verlieren und erstmals den bitteren Gang zum Sozialamt bestreiten müssen.
Das Angst- und Überwachungssyndrom ist immer noch nicht abgeschüttelt worden. Es entsteht zum Teil in neuen Erscheinungsformen.
All dies sind Gründe, die uns heute sagen lassen: Es ist höchste Zeit, mit der Aufarbeitung dieses StasiSystems zu beginnen. Dieser Prozeß duldet keinen Aufschub mehr.
Ich möchte es gleich vorweg sagen: Was uns nun als gemeinsamer, interfraktioneller Gesetzentwurf vorliegt, ist eine gute Grundlage für die Beratung in den Ausschüssen. Ich will nicht verheimlichen, daß für mich die Zusammenarbeit zwischen den Vertretern der CDU/CSU, der SPD- und FDP-Fraktion, aber auch der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE in der interfraktionellen Arbeitsgruppe eine höchst bemerkenswerte Tätigkeit war.
Ich kann den Mitgliedern nur meinen Respekt dafür aussprechen, wie offen, wie frei von versteckten Vorbehalten — konstruktiv, aber auch mit hoher Intensität — diese Gespräche geführt worden sind, auch wenn die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE diesen Gesetzentwurf heute nicht mit uns gemeinsam einbringt.
Herr Kollege Schwanitz, ich darf Sie eine Sekunde unterbrechen. Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Herr Kollege, sehen Sie eine Chance, daß wir mit dem Gesetz tiefer in die Machtstrukturen und die Befehlsstrukturen der Staatssicherheit einsteigen, um so die Machenschaften und die Tätigkeit des Abgeordneten Modrow näher zu durchleuchten und seine Tätigkeit im Rahmen der Staatssicherheit besser zu beurteilen?
Auch wenn das kein zentraler Punkt dieses Gesetzes ist — denn für mich persönlich stehen die Betroffenenrechte natürlich im Vordergrund — ,
so will ich in der Hinsicht zustimmen, daß gerade an dem Punkt, wo die Verzahnungen zwischen MfS und Parteistrukturen beginnen, auch mit diesem Gesetz, beispielsweise im Sinne der Zugangsrechte des Regierungsbeauftragten zu den Archiven, ein richtiger und ganz notwendiger Schritt gegangen wird.
Auch wenn die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE diesen Gesetzentwurf heute nicht mit uns gemeinsam einbringt und sich in der nun ebenfalls vorliegenden Drucksache wieder dem Gesetzentwurf der Bürgerkomitees Leipzig zuwendet, so will ich für meine Person äußern, daß gerade auch die Gruppe Bündnis 90/ GRÜNE in dieser interfraktionellen Zusammenkunft fair beteiligt worden ist. Hier hat nicht eine Mehrheit eine Minderheit über den Tisch gezogen. Dies war gerade für mich als Abgeordneter aus den neuen Bundesländern ein außergewöhnliches und wohltuendes Erlebnis.
Mit dem nun eingebrachten gemeinsamen Gesetzentwurf erhalten die Betroffenen, also jene Bürger, die durch das ehemalige Ministerium für Staatssicherheit unter Einsatz von Führungsoffizieren, unter Einsatz von Inoffiziellen Mitarbeitern, unter Heranziehung der — um im MfS-Jargon zu reden — „sonstigen gesellschaftlichen Kräfte des Zusammenwirkens", unter Anwendung modernster Lausch- und Überwachungstechnik bespitzelt wurden, Rechte in die Hand, welche eine völlig neue Qualität besitzen; eine neue Qualität sowohl gegenüber den Ansprüchen jener Bürger, welche nach 1945 hinsichtlich der NS-Verfolgung Betroffene waren, als auch hinsichtlich der Vorstellungen von Betroffenenrechten, die im Volkskammergesetz von 1990 ausgestaltet worden sind.
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2362 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Rolf SchwanitzJedem Bürger steht eine Auskunft darüber zu, ob und inwieweit das ehemalige Ministerium für Staatssicherheit zu seiner Person Informationen gesammelt und gespeichert hat. Der Betroffene hat das Recht, diese Unterlagen einzusehen. In kopierter Form können Materialien ausgehändigt werden. Im Bedarfsfalle besteht die Möglichkeit, auch darüber informiert zu werden, wer seitens des Ministeriums für Staatssicherheit maßgeblich für die seine Person betreffenden Überwachungs- und Repressionsvorgänge verantwortlich war.Gerade diese Stelle, wo wir sagen, man kann eben nicht nur den kleinen Inoffiziellen Mitarbeiter belangen, sondern man muß den Schritt in die Befehlsstruktur hinein machen, ist ganz bedeutsam in diesem Gesetzentwurf.Insbesondere durch das Auffüllen jener schmerzlichen weißen Flecken in den persönlichen Lebensläufen der Betroffenen, durch das Erklärbarmachen, warum persönliche Lebens- und Leidenswege so und nicht anders verlaufen sind und wer als Führungsoffizier, wer als Inoffizieller Mitarbeiter oder wer in schriftlicher Form als Denunziant dabei in Erscheinung getreten ist, werden maßgebliche Voraussetzungen für die persönliche Aufarbeitung jener erlittenen Schicksale geschaffen.Wir werden lernen müssen, mit diesen bedeutsamen Rechten sensibel und verantwortungsbewußt umzugehen. Wir werden dabei auch über spezielle Beratungsangebote nachdenken müssen; denn dort, wo es gewünscht wird, sollten sowohl die Opfer als auch die Täter bei diesem Aufarbeitungsprozeß Hilfestellung finden.Keine Zukunft darf hingegen der Handel mit und die kommerzielle Ausschlachtung von MfS-Material haben.
Deshalb sieht der gemeinsame Gesetzentwurf eine Anzeigepflicht öffentlicher und nichtöffentlicher Stellen sowie für Privatpersonen vor, soweit sie Materialien des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit besitzen. Dies ist gekoppelt mit einer Herausgabepflicht an den Regierungsbeauftragten. Diese Pflichtenlage ist ebenso notwendig wie eine schmerzliche Sanktionierung all jener Stellen, Institutionen und Personen, welche künftig mit dieser Pflichtenlage nicht so sensibel wie erforderlich umgehen werden.Ich bin überzeugt, nur durch diese Kombination von umfangreichen Offenlegungsrechten insbesondere der Betroffenen und Sanktionen bei widerrechtlichem Aktenverbleib in unbefugter Hand kann jener ungesunden Atmosphäre der Sensationshascherei der Boden entzogen werden.Damit ich nicht falsch verstanden werde: Dies ist kein Angriff gegen die Presse. Der freie Journalismus, auf den wir gerade im Osten so lange haben warten müssen, füllt zwangsläufig nur jene Lücken aus, die durch das Versagen der Politik eröffnet werden. Eine Aufarbeitung des Unterdrückungssystems darf einfach nicht der Cleverness einzelner Journalisten oder der Gnade von MfS-Generälen überlassen werden. Dafür ist dies gerade für die politische Entwicklung in den neuen Bundesländern viel zu wichtig.Aber Aufarbeitung von MfS-Vergangenheit hat nicht nur eine Opferkomponente. Die Menschen in den neuen Bundesländern erwarten sehr wohl, daß jene Rudimente des Ministeriums für Staatssicherheit, welche auch heute noch in ihrer Tätigkeit gegen die rechtsstaatliche Ordnung der Bundesrepublik gerichtet sind, von den zuständigen Stellen der Bundesrepublik beobachtet, überwacht und, soweit strafrechtlich relevante Dinge vorliegen, strafrechtlich verfolgt werden. Dabei soll sicher sein, daß widerrechtlich zusammengetragenes Bespitzelungsmaterial nicht zum Arbeitsgegenstand des Verfassungsschutzes wird und daß Strafverfolgungsbehörden aus Opfermaterial, also aus jenen Materialien, welche das MfS über Betroffene gesammelt hat, keine Strafverfolgung von Opfern betreiben können.Beides ist in den §§ 3 und 19 des Entwurfes festgeschrieben. Diese wichtigen Grundsätze können nicht intensiv genug hervorgehoben werden; nicht nur weil dies die Antwort auf einige Ängste und Befürchtungen der Bürgerkomitees an dieser Stelle ist, sondern weil dies auch ein Prüfstein für das Herangehen des Rechtsstaates an dieses widerrechtlich gesammelte Aktenmaterial ist.Natürlich möchte ich nicht, daß hier Irrtümer entstehen. Für uns ist dieser Gesetzentwurf auch nicht der Stein der Weisen. Auch wir sind an einigen Stellen — wie andere Fraktionen in diesem Hause sicherlich auch — mit der Diskussion noch nicht am Ende. Auch wir wollen gerade in den Ausschußberatungen und nicht zuletzt in der großen Anhörung vor dem Innenausschuß bzw. vor dem Unterausschuß verschiedene Details noch einmal von unterschiedlichen Seiten beleuchtet wissen. Hierzu wird meine Fraktionskollegin Barbe nachher einige Einzelheiten aufgreifen.Ich möchte für meine Fraktion hier unmißverständlich festhalten — ich weiß mich an dieser Stelle auch im Einverständnis mit dem Sonderbeauftragten der Bundesregierung, Herrn Gauck — , daß in diesen Gesetzentwurf wichtige Grundsätze Eingang gefunden haben, welche die Bürger in den neuen. Bundesländern erwarten und welche bei allen auftretenden Schwierigkeiten — die meiner Meinung nach sehr umfangreich sein werden — in eine praktikable und realisierbare Form gegossen worden sind.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Köppe?
Bitte schön.
Herr Schwanitz, wie bewerten Sie es, daß in Ihrem vorliegenden Gesetzentwurf Prinzipien des Volkskammergesetzes — ich nehme an, daß Sie diesem Gesetz zugestimmt haben — nun in ihr glattes Gegenteil verkehrt werden? Ich erinnere z. B. an die Dezentralisierung, aber auch an ein Verbot nachrichtendienstlicher Nutzung von Stasi-Unterlagen.
Frau Köppe, es ist richtig, daß es zwischen dem Gesetz der Volkskammer und dem hier in erster Lesung zur Beratung anstehenden Gesetzentwurf Widersprüche gibt. Aber ich sage auch:
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Rolf SchwanitzDas, was in der Volkskammer Gesetz geworden war und was sich in der Vergangenheit, seit Oktober, durch die Tätigkeit des Sonderbeauftragen als nicht praktikabel erwiesen hat, kann von mir hier nicht als Dogma aufrechterhalten werden.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Bitte schön.
Wollen Sie damit sagen, daß es sich als nicht praktikabel erwiesen hat, diese Stasi-Unterlagen für Geheimdienste zu sperren?
Frau Köppe, in einer Situation — ich bin davon überzeugt, daß Sie aus Ihrem Wahlkreis den gleichen Eindruck haben —, wo bei den Betroffenen erneut Ängste aufsteigen, wo Seilschaften in großem Ausmaß offenkundig werden und sicherlich auch durch Unsicherheiten zusätzlich an Bedeutung gewinnen, können wir nicht die Position vertreten, daß diese fortlebenden Strukturen keiner Strafverfolgung, aber auch, soweit es im Rahmen des Gesetzes über den Verfassungsschutz wichtig und paßfähig ist, keiner geheimdienstlichen Überwachung zu unterziehen sind.
Wer die Befragungen der Bevölkerung und entsprechende Meinungen aufmerksam verfolgt hat, wird feststellen, daß die Bürger gerade in den neuen Bundesländern aus dieser vierzigjährigen Vergangenheit die Erfahrung mitgenommen haben, daß man diesen Strukturen nicht tatenlos zuschauen kann. Hier muß eine wehrhafte Demokratie entstehen.
Vor Ihnen, Frau Köppe, hatte sich noch der Kollege Hirsch zu einer Zwischenfrage gemeldet. Herr Schwanitz, sind Sie zur Beantwortung bereit? — Bitte schön.
Herr Kollege, sind Sie mit uns der Auffassung, daß die Volkskammer, als sie unter großen politischen Bedrängungen vielfältiger Art dieses Gesetz verabschiedete, den Umfang und die ganzen Verflechtungen der Tätigkeiten des Staatssicherheitsdienstes noch nicht so übersehen konnte, wie wir es im Laufe der Beratungen dieses Gesetzes tun werden?
Dem kann ich natürlich nur zustimmen. Ich denke aber auch, daß wir selbst mit diesem Entwurf noch nicht am Ende sind. Ich verspreche mir gerade von der Anhörung im Unterausschuß sehr viel. Das ist ein Prozeß, in dem wir, so meine ich, noch über viele Jahre zu lernen haben werden.
Jetzt möchte Frau Köppe eine weitere Frage stellen. Deshalb will ich darauf hinweisen, meine Damen und Herren, daß bis zu zwei Zwischenfragen normal sind, daß aber ein Dialog, vor allem, wenn es sich beim Fragenden um einen der nächsten Redner handelt, nicht mehr so ganz normal ist. Aber bitte, Herr Kollege Schwanitz, wenn Sie zustimmen, ist die Zwischenfrage zugelassen.
Wenn das die letzte Zwischenfrage ist, lasse ich sie zu.
Sie sprachen von Strafverfolgung von ehemaligen Mitarbeitern des MfS. Ist Ihnen bekannt, daß der Verfassungsschutz, daß Nachrichtendienste keine Strafverfolgungsbehörden sind?
Ja, selbstverständlich ist mir das bekannt. Aber ich kann auch nicht die Augen davor verschließen, daß Rudimente und Tätigkeiten des MfS fortleben. Wer in die Behörde des Sonderbeauftragten geht und sich dort mit Herrn Gauck aufmerksam unterhält, wird für diese Befürchtungen dort viele Bestätigungen finden, die eben nicht nur strafverfolgungsseitig interessant sind, sondern auch die Tätigkeit des Verfassungsschutzes berühren. Ich kann doch diese Seite, auf der Betroffene nicht berührt sind — das ist der Punkt, um den es hier geht — nicht links liegen lassen, nur weil diese Arbeit mit der Tätigkeit zu Lasten von Betroffenen in einem Gebäudekomplex verbunden war.
Herr Kollege Schwanitz, Ihre Ausführungen sind offenbar so anregend, daß eine weitere Zwischenfrage gewünscht wird.
Entschuldigung, Herr Kollege, jetzt muß ich eine Bemerkung machen. Es ist für den amtierenden Präsidenten oft ein bißchen schwierig, die 662 Namen, unter denen sich eine Reihe von neuen Kollegen befinden, so rasch zu präparieren. Auch das Nachschlagen in den Handbüchern — leider ist ja das eigentliche Handbuch immer noch nicht da —
führt nicht so rasch zum Ziel. Deshalb wäre ich dankbar, wenn Sie, auch im Interesse des Protokolls, bei einer Zwischenfrage, wenn Sie vermuten, daß der Präsident Sie noch nicht kennt, liebenswürdigerweise Ihren Namen nennen würden. Ich bitte das nicht als Abwertung zu betrachten.
Röhl, FDP-Fraktion, BerlinKöpenick. Herr Vortragender — —
— Herr Schwanitz, stimmen Sie mit uns in der Auffassung überein, daß eine Dezentralisierung der Akten der Stasi eine wesentliche Zerstörung der Systematik der Stasi bedeuten würde und daß diese Zerstö-
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Dr. Klaus Röhlrung ein ordnungsgemäßes Aufarbeiten ungemein erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen würde?
Für meine Person meine ich, daß eine Dezentralisierung über selbständige Landesbeauftragte erhebliche Auswirkungen auf die Erreichung des Ziels hätte, welchem wir uns verschrieben haben, nämlich arbeitsfähige Strukturen bei dieser Behörde, beim Sonder- oder Regierungsbeauftragten, zu schaffen und möglichst schnell tätig zu werden, dies also nicht fünf, sechs Jahre hinauszuschieben. Aber ich sage auch: Hierzu müssen wir in der Anhörung noch unterschiedliche Meinungen hören. Wir müssen diese Sache auch noch von anderer Seite beleuchten lassen. Aber ich teile in diesem Punkt Ihre Meinung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der uns vorliegende Entwurf wird wortgleich durch die Bundesregierung in den Bundesrat eingebracht. Damit ist sichergestellt, daß zeitgleich zu den parlamentarischen Beratungen im Bundesrat die Interessen der Länder — da denke ich insbesondere an die neuen Bundesländer — in der Beratung im Bundesrat wahrgenommen werden können. Ich hebe das ausdrücklich hervor, weil es auch hier einige Irritationen gegeben hat.
Wir sind fest entschlossen, auf der jetzt vorliegenden Grundlage zügig, aber mit der erforderlichen Gründlichkeit voranzuschreiten. Für meine Fraktion will ich versichern, daß die vielen Interessen- und Initiativgruppen dabei nicht übergangen werden. Wer einen Blick auf die Einladungsliste zur großen Anhörung im Unterausschuß wirft, der kann dem sicherlich nur zustimmen.
Aber es müssen dabei Regelungen herauskommen, in denen sich die Bürger in den neuen Bundesländern wiederfinden können. Nur so werden wir den Interessen der Tausenden Überwachten, Bespitzelten und Verfolgten tatsächlich gerecht.
Danke schön.
Frau Abgeordnete Köppe, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir zunächst folgende Bemerkung. An den Drucksachennummern der beiden Gesetzentwürfe ist unschwer zu erkennen, daß unser Gesetzentwurf zeitlich vor dem der anderen Fraktionen eingebracht wurde. Ich meine, es entspricht nicht dem parlamentarischen Usus, daß unser Gesetzentwurf in der Tagesordnung als zweiter genannt wird und unsere Gruppe hier erst nach Vertretern der anderen Fraktionen zu Wort kommt.
Es liegen zwei Gesetzesvorhaben für ein Stasi-Unterlagen-Gesetz auf dem Tisch. Wir haben uns an den Verhandlungen zur Erarbeitung eines Gesetzes beteiligt und uns bemüht, einen Konsens zu erzielen. Wir haben dabei immer wieder auf die Vorgaben des Volkskammergesetzes, auf die Zusatzvereinbarungen zum Einigungsvertrag und nicht zuletzt auf den beachtenswerten Gesetzentwurf der Bürgerkomitees hingewiesen. Dieser liegt den Fraktionen des Bundestages bereits seit Februar dieses Jahres vor. Doch schließlich hat man es uns unmöglich gemacht, den nun vorliegenden Entwurf der Koalitionsfraktionen und der SPD mitzutragen.Bereits bei den sogenannten Grundsätzen oder Eckwerten, die — ich betone das hier noch einmal — mehrheitlich, also nicht einvernehmlich zustande kamen, haben wir deutlich Kritik geäußert und unsere Hoffnung zum Ausdruck gebracht, daß diese Kritikpunkte bei der Abfassung des Gesetzentwurfs berücksichtigt werden. Dies ist aber nicht geschehen. So sehen wir uns einerseits gezwungen, andererseits aber auch in der glücklichen Lage, Ihnen einen Alternativentwurf vorzulegen, der auf der Vorlage der Bürgerkomitees fußt.Lassen Sie mich deutlich machen, warum wir den Stasi-Unterlagen-Gesetzentwurf der Fraktionen nicht mittragen können, und die Dissenspunkte zwischen den beiden Gesetzentwürfen benennen.Wer nur einigermaßen mit den Erfahrungen und Empfindsamkeiten der Bevölkerung der ehemaligen DDR vertraut ist, kann sich vorstellen, welche Empörung es hervorruft, daß Unterlagen des Geheimdienstes Stasi nun erneut einem Geheimdienst wie dem Verfassungsschutz zur Nutzung überlassen werden sollen. Wir fordern — und das nicht erst seit heute, sondern schon seit Beginn der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit — , daß den Geheimdiensten keinerlei Zugriffsrecht auf Akten jeglicher Art des MfS zugebilligt wird.Der Gesetzentwurf der Fraktionen erlaubt aber neben der Nutzung von Stasi-Unterlagen sogar die ersatzlose Herausgabe von Stasi-Unterlagen an Geheimdienste, wenn dies der Innenminister entscheidet. Die aus dem Stasi-Aktenbestand ausgesonderten Materialien gingen für die von uns geforderte umfassende öffentliche Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit verloren. Die Geheimdienste würden mit der konspirativen Nutzung von widerrechtlich erstelltem Stasi-Material das Erbe der Stasi antreten.Ein weiterer Kritikpunkt ist die im Gesetzentwurf der Fraktionen vorgesehene zentrale Unterlagenverwaltung. Bürgerkomitees wie auch Politiker aus den neuen Ländern fordern eine föderale Verwaltung bei politischer Beteiligung der Betroffenen und einheitlichem Verfahren. Dafür sprechen insbesondere größere Bürgernähe, schnelle, sachgerechte Nutzung, Mitverantwortlichkeit der Länder unter Einbeziehung der Länderparlamente an der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe der Aufarbeitung und auch eine Reduzierung der Gefahr des Akten- und Datenmißbrauchs durch höhere Kontrolldichte und geringere Konzentration.Unser Vorschlag, eine weitestgehende Unabhängigkeit der Stasi-Akten-Behörde und eine Beteiligung
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Ingrid Köppeder Länder an der Organisation und Verwaltung der Behörde, etwa durch ein Bund-Länder-Modell, zu gewährleisten, wurde von den anderen Fraktionen verworfen. Den im Gesetzentwurf der Fraktionen vorgesehenen Beirat, in den auch die Länder Vertreter schicken können, der aber keinerlei Befugnisse hat, können wir nur als Feigenblatt ansehen.Lassen Sie mich etwas zur Nutzung der Unterlagen von Betroffenen sagen. Diese rechtswidrig erstellten Unterlagen müßten nach geltendem Recht eigentlich einem vollständigen Verwertungsverbot für Behörden unterliegen. Wir meinen, diese Unterlagen über Betroffene gehören nur den Betroffenen selbst. Unsere Forderung lautet deshalb, daß die Unterlagen der Betroffenen nur auf Antrag beziehungsweise mit Zustimmung der Betroffenen und nur in ihrem Interesse behördlich genutzt werden dürfen.Der Gesetzentwurf der Fraktionen eröffnet den Behörden die Möglichkeit, die Unterlagen von Betroffenen zu nutzen, wobei diese Unterlagen nicht zum Nachteil der Betroffenen verwendet werden sollen. Wir meinen, eine solche Regelung ist völlig unzureichend; denn schon die Tatsache, daß Behörden die Unterlagen über Betroffene ohne deren Zustimmung lesen, dürfte zum Nachteil der Betroffenen sein; Betroffene empfinden dies als Nachteil.Des weiteren gehen wir davon aus, daß nicht personenbezogene Unterlagen — Befehle, Richtlinien — jedem zugänglich gemacht werden und auch regionalen Forschungsprojekten offenstehen. Nur so kann eine wirkliche Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit geleistet werden. Statt dessen wird im Gesetzentwurf der Fraktionen dem Bundesbeauftragten eine amtliche Aufarbeitungszuständigkeit erteilt. Außerdem sollen Forschungs- und Bildungseinrichtungen Zugang zu Stasi-Unterlagen erhalten. Keines der bereits erschienenen Bücher über die Stasi hätte bei so restriktiver Regelung veröffentlicht werden können!Die im Gesetzentwurf der Fraktionen vorgesehenen umfangreichen Bußgeld- und Strafvorschriften für die unberechtigte Nutzung und Veröffentlichung von Informationen über die Stasi gehen, insbesondere was die Rechte der Medien anlangt, viel zu weit, sind undifferenziert und würden zu einer Kriminalisierung der Veröffentlichung von Informationen über die Stasi führen.Wir wollen, daß keine Bestrafung erfolgen soll, wenn die Veröffentlichung im überwiegenden Allgemeininteresse liegt. Dies, so meinen wir, ist anzunehmen, wenn es sich um Informationen über die Tätigkeit von Stasi-Mitarbeitern handelt, die nicht deren Privatsphäre betreffen. Damit wollen wir sicherstellen, daß die wirklich schützenswerten Daten nicht nur von Betroffenen geschützt bleiben, die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit aber nicht behindert wird.Der von den Fraktionen vorgelegte Entwurf verstößt eindeutig gegen Wortlaut und Intention des Einigungsvertrages, der dem Gesetzgeber auftrug, die Regelungen des Volkskammergesetzes vom 24. August 1990 umfassend zu berücksichtigen. Vielmehr werden Prinzipien des Volkskammergesetzes hier in ihr Gegenteil verkehrt.Heute, fast ein Jahr nachdem die Volkskammer mit überwältigender Mehrheit ein eigenes Stasi-Unterlagen-Gesetz beschlossen hatte, wird klar, warum sich Westpolitiker so vehement dagegen wehrten, dieses Gesetz als weitergeltendes Recht in den Einigungsvertrag zu übernehmen. Die Volkskammer hatte ein an den Interessen der Stasi-Opfer orientiertes Gesetz verabschiedet und sich dabei wenig um zweifelhafte Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik geschert.Vertreter der Bundestagsfraktionen beschwören jetzt immer wieder den Vorrang der Rechte der StasiOpfer und verweisen dabei besonders auf das Akteneinsichtsrecht für Betroffene. Dies ist aber nur ein Punkt in dem Gesetzentwurf. Das Ergebnis insgesamt ist ein Gesetzentwurf der Fraktionen, der die Sicherheit des Staates und seiner Geheimdienste über die Interessen der Opfer stellt.
Denn es ist z. B. kennzeichnend für diesen Gesetzentwurf der Fraktionen, daß einzig in Verbindung mit Geheimdiensten von einer ersatzlosen Herausgabe von Stasi-Unterlagen die Rede ist.
Geheimdienste dürfen den Stasi-Aktenbestand im Interesse des Staates plündern. Ehemals von der Stasi Bespitzelte dürfen zwar die von der Stasi über sie angelegten Akten einsehen, müssen aber fortan damit rechnen, daß ohne ihre Zustimmung, sogar ohne ihre Kenntnis auch Behörden jederzeit in diesen Akten lesen dürfen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gerster?
Ja.
Frau Kollegin Köppe, ist Ihnen wirklich entgangen, daß Nachrichtendienste allenfalls Auskunft über Akten aus dem Bereich der Spionage und der Spionageabwehr und in einem weiteren Fall über extremistische, gewalttätige Organisationen erhalten sollen, daß also dieser Bereich völlig getrennt von dem ist, über den Sie ständig reden, nämlich von den Akten über betroffene, bespitzelte oder andere Personen? Ist Ihnen wirklich entgangen, daß es sich hier um zwei völlig unterschiedliche Tatbestände handelt? Wenn ja, wären Sie bereit, sich wieder an den Beratungen zu beteiligen, damit Sie diesen Unterschied lernen?
Herr Kollege Gerster, ich kenne den Gesetzentwurf ganz genau. Ich kann Ihnen sagen, daß das, was Sie eben erwähnt haben, in § 19 Abs. 2 steht. Im Abs. 1 steht, daß Betroffenenunterlagen nicht verwendet werden sollen. Im Abs. 2 steht dann wiederum, daß Nachrichtendienste Zugang zu Stasi-Unterlagen über Mitarbeiter bzw. zu allgemeinen Unterlagen haben, soweit sie sich auf Spionage, Spionageabwehr, militanten Extremismus
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Ingrid Köppeund Terrorismus beziehen. Im Abs. 3 steht, daß Geheimdienste aus dem Stasi-Unterlagenbestand aussondern dürfen; dies entscheide der Innenminister.
— Lassen Sie mich noch ausreden?
Es ist mir vollkommen klar, daß Sie mit dieser Regelung einverstanden sind. Das hängt sicherlich auch mit Ihrer Haltung zu Geheimdiensten zusammen. Wir haben da eine ganz andere Auffassung. Wir gehen davon aus, daß Geheimdienste mit wirklicher Demokratie nichts zu tun haben; denn sie arbeiten nicht transparent, sondern konspirativ.
Wir wollen nicht, daß das widerrechtlich erstellte Material der Staatssicherheit, egal welche Themen es betrifft, jetzt erneut von Geheimdiensten genutzt wird.Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Es ist mir nicht entgangen.
Sind Sie bereit, eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Gerster zu beantworten?
Aber ja.
Frau Kollegin, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß im Gegensatz zum MfS in Ihrem früheren Heimatland die Nachrichtendienste bei uns nur auf Grund eines gesetzlichen Auftrages mit einer ganz klaren Zweckbindung arbeiten können,
d. h. daß sie nur auf Grund von Entscheidungen der frei gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages tätig werden können und daß vor diesem Hintergrund Ihre Behauptung, Geheimdienste hätten mit Demokratie nichts zu tun, schlechterdings falsch und nicht haltbar ist?
Es ist mir bekannt, daß es eine gesetzliche Grundlage gibt. Weder ich noch die Bürgerbewegungen der ehemaligen DDR haben diese Grundlage geschaffen; das waren Sie. Ich lehne diese gesetzliche Grundlage ab. Ich meine auf Grund der Erfahrungen, die wir gemacht haben, daß eine Demokratie wirklich auf Geheimdienste verzichten könnte. Zum anderen — das hat mein Kollege Konrad Weiß soeben angesprochen — zeigt sich deutlich, auch in der Bundesrepublik Deutschland, daß Geheimdienste nicht kontrollierbar sind. Geheimdienste lassen sich nicht kontrollieren, denn sonst wären sie keine Geheim-Dienste.
Frau Kollegin, zunächst gibt es den Wunsch nach einer Zwischenfrage des Kollegen Hirsch.
Aber gern.
Dann hat sich Herr Gerster noch einmal gemeldet. Es ist Ihre Entscheidung, ob Sie diese Zwischenfrage zulassen. Aber erlauben Sie mir dennoch die Bemerkung, daß es ein bißchen die Debatte verzerrt, wenn ein Kollege, der selber auf der Rednerliste steht, dazu noch zwei, drei und mehr Zwischenfragen zu stellen versucht.
Frau Köppe hat soeben Ihre Zwischenfrage zugelassen, Herr Hirsch. Bitte!
Frau Kollegin, ich möchte nur deswegen fragen, weil ich nicht sicher bin, ob Sie auch den Gesetzentwurf haben, über den wir hier beraten. Sind Sie bereit, einzuräumen, daß sich die Herausgabe von Unterlagen nach dem von Ihnen zitierten § 19 nur auf Unterlagen bezieht, die entweder keinerlei personenbezogene Daten oder nur Daten von Tätern enthalten, daß die Entscheidung beim Bundesminister des Innern persönlich — also nicht bei den Diensten — liegt
und daß sie nur zulässig ist, wenn das Wohl des Bundes oder eines Landes es erfordert, und daß außerdem vorgesehen ist, daß die Parlamentarische Kontrollkommission unterrichtet werden muß? Ist daß die Vorschrift, von der Sie sagen, sie erlaube die Plünderung des Aktenbestandes durch die Nachrichtendienste?
Das ist genau die Vorschrift, die ich soeben angesprochen habe; ich habe sie ja auch so zitiert; das ist mir bekannt. Ich meine, daß eine Herausgabe, eine Aussonderung aus dem Bestand der Stasi-Unterlagen immer bedeutet, daß die Dokumente, die ausgesondert werden, der Aufarbeitung verlorengehen. Diese Dokumente würden sich dann beim Verfassungsschutz oder bei anderen Geheimdiensten befinden; sie wären der Öffentlichkeit und erst recht der öffentlichen Aufarbeitung nicht mehr zugänglich.Sie sprachen des weiteren die parlamentarische Kontrolle an. Dazu muß ich Ihnen zunächst sagen: Wir wissen, daß diese parlamentarische Kontrolle sehr, sehr unzureichend ist.
— Das habe ich selbst von Vertretern Ihrer Fraktion gehört, auch von Vertretern der SPD. Zum anderen ist es, denke ich, keine demokratische Kontrolle. Das ist schon daran zu erkennen, daß nicht sämtliche Oppositionsgruppen an dieser Kontrolle beteiligt sind. Es ist
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Ingrid Köppeauch nur eine parlamentarische Kontrolle, eine doch sehr geheime Kontrolle, keine öffentliche Kontrolle.Natürlich lehnen wir ab, daß der Bundesinnenminister darüber entscheidet, ob ausgesondert werden soll oder nicht.
Der dritte Wunsch des Kollegen Gerster nach einer Zusatzfrage wird von Frau Köppe ebenfalls positiv beschieden.
Ja.
Es ist meine zweite Zwischenfrage, Herr Präsident. — Frau Kollegin Köppe, nachdem Sie ja eingeräumt haben, daß die Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden bei uns nur auf Grund gesetzlicher Ermächtigungen arbeiten können, und nachdem Sie deren Tätigkeit dennoch ablehnen, weil sie von uns beschlossen worden ist und Sie Nachrichtendienste an sich ablehnen, darf ich fragen, ob für Sie Produkte der Demokratie nur die Produkte sind, denen Sie zugestimmt haben? Habe ich Sie da richtig verstanden?
Die Frage ist mir zu albern, Herr Gerster. Es geht doch vielmehr um den Inhalt dieses Gesetzes. Ich meine, daß ein solches Gesetz deutlich die Unfähigkeit zur öffentlichen politischen Auseinandersetzung mit dem Staatsinteresse vielleicht entgegengesetzten politischen Auffassungen ausdrückt. Deswegen lehne ich dieses Gesetz ab.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Auf Grund unserer parlamentarischen Erfahrung haben wir wenig Hoffnung, daß die anderen Fraktionen unseren Gesetzentwurf unterstützen werden. Wir wissen, daß sich die Mehrheit hier durchsetzen wird.
— Ja. — Dennoch möchte ich Sie darauf hinweisen, daß der Gesetzentwurf, den wir eingebracht haben, auf Grundsätzen des Volkskammergesetzes basiert. Ich möchte vor allem an diejenigen ehemaligen Volkskammerabgeordneten, die heute noch hier unter uns sitzen, appellieren, sich mit unserem Gesetzentwurf deutlich auseinanderzusetzen und ihm zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jürgen Schmieder.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Stasi und kein Ende", so lautet der Titel eines gestern von Manfred Schell und Werner Kalinka präsentierten Buches. Ich möchte hier keine Werbung für dieses Buch machen, sondern nur in einem Satz das Gefühl beschreiben, das mich beim Lesen dieses Berichts bewegt.In dem Buch befinden sich beredte Beispiele für das Wirken der Stasi und das — wie die Stasi es nannte —„Bearbeiten" von Fällen. Es sind schlechthin Beispiele für die Schandtaten des Regimes und dessen schändlichster Ausgeburt, der Stasi.Beim Betrachten eines dort geschilderten Falles — die 23jährige Tochter eines Mannes, der wegen versuchter Landesflucht zu fünfzehn Monaten verurteilt worden war, erhielt 2 500 Mark Geldstrafe wegen Nichtanzeige von Verbrechen nach § 225 des Strafgesetzbuches der DDR, weil sie das Fluchtvorhaben des Vaters nicht gemeldet hatte — kommen in der Tat Assoziationen zu Gesinnungsschnüffeleien der Gestapo hoch. Die Begriffe und die Vorgehensweisen sind sogar unmittelbar vergleichbar. Damit ist eindeutig bewiesen: In totalitären Regimen ganz links und ganz rechts kann man nur mit Hilfe eines menschenverachtenden Sicherheitsapparates am Leben bleiben.
— Das war sehr links. — Normalerweise geben diese Herrschaften ihre Macht nicht freiwillig ab. Deshalb möchte ich an dieser Stelle noch einmal die Leistung gewürdigt wissen, die von Bürgerkomitees und Angehörigen des Neuen Forums mit der friedlichen Entwaffnung dieser ultralinken Kräfte in der DDR vollbracht worden ist.Wenn man liest, mit welchen Methoden dieser Unterdrückungsapparat gearbeitet hat, erscheint es als geradezu grandiose Leistung, daß dieser gigantische Machtmechanismus zum Stillhalten und Zuschauen verurteilt war. Vielleicht war er auch gerade durch seine in alle Bereiche des öffentlichen Lebens führenden Verleumdungen und Fallstricke selbst geknebelt und damit unfähig, den mit hoher Eigendynamik laufenden Wendeprozeß zu kontrollieren.
In dem schon erwähnten Buch finden sich Hinweise darauf, wie die Stasi in ihren Folterkellern gearbeitet hat. Norbert Fröhlich, Direktor des Psychiatrischen Krankenhauses im thüringischen Mühlhausen-Pfafferode, berichtet:Auch zu uns schickte die Stasi politisch aufmüpfige Bürger. Man erkannte sie sofort. Sie sahen verstört aus, denn sie wußten nicht, warum sie zu uns gebracht wurden. Wir mußten sie zumindest ein paar Tage zur Einschüchterung dabehalten. Wenn wir sie entließen, holte die Stasi sie ab. Was mit ihnen geschah, erfuhren wir nicht.Inzwischen weiß man es, zumindest was die Anstalt Waldheim angeht. Sie war Endstation für Geisteskranke, die als „besonders gewalttätig" eingestuft wurden. In der Anstalt Waldheim hatte der frühere Klinikchef Wilhelm Poppe, offenbar am Wissen der meisten Ärzte vorbei, einen Kooperationsvertrag mit der Stasi abgeschlossen. Er ließ bei gesunden Menschen Hirnoperationen und — in Leipzig oder Chem-
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Dr. Jürgen Schmiedernitz — Kastrationen mit Röntgenstrahlen vornehmen. Dafür lagen gefälschte Freiwilligkeitsbescheinigungen vor. Poppe sperrte Bewohner, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, tagelang nackt in eine dunkle Zelle ohne Waschbecken und Toilette. Schaumspray wurde ihnen in die Augen gesprüht. Mit Feuerzeugen sengte man ihre Fußsohlen an und drückte Zigaretten auf ihrer Haut aus. Man spritzte ihnen intramuskulär das Brechmittel Apomorphin, das einen Brechreiz auslöste, der eine Stunde anhielt.Die politischen Hintermänner für diese Greueltaten sind in der Führungsspitze der SED zu suchen. Meine Damen und Herren, sie gehören nicht als Mandatsträger in die Parlamente oder in die Führungsetagen der Betriebe, sondern neben ihre Werkzeuge auf die Anklagebank der Geschichte, der Moral und des Strafrechts.
Diese Feststellung gibt uns Anlaß, die 110 000 hauptamtlichen und die 500 000 inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi zu klassifizieren. Wenn wir hier die Machenschaften dieses Apparates anklagen, meinen wir nicht die Pförtner, die technischen Kräfte und auch nicht den Großteil des Wachregiments, sondern es geht ausschließlich um Führungsoffiziere und Offiziere im besonderen Einsatz und die politischen Hintermänner, die über die Parteihierarchie der SED direkt weisungsberechtigt waren und die als ein der Stasi übergeordnetes Gremium den sogenannten Nationalen Verteidigungsrat geschaffen hatten, der direkte Anweisungen zur Geißelung des Volkes und zur Verfolgung politisch Andersdenkender als Kriminelle, Terroristen oder Geisteskranke gegeben hat.
— Zum Beispiel.
Bei einer Betrachtung der Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit — das wird beim intensiven Studium der unrechtmäßig erstellten Unterlagen auch deutlich — wird die üble Vorgehensweise dieser im weitesten Sinne mit kriminellen Mitteln arbeitenden Vereinigung deutlich. Denn jeder Schritt, der von der Stasi unternommen wurde, bzw. jeder Schritt, den ein Führungsoffizier mit seinen inoffiziellen Mitarbeitern vorhatte, wurde als Vorschlag des Führungsoffiziers schriftlich niedergelegt und mußte von seinem Dienstvorgesetzten, d. h. vom Leiter der Kreisdienststelle z. B., abgesegnet werden. Daraus resultiert die Überlegung, daß man auch nicht alle Führungsoffiziere, die mit Diensteifer und Bauernschläue vorgegangen sind, verurteilen muß. Diese Leute waren im eigentlichen Sinne nur willfährige Werkzeuge. Hier liegen aus meiner Sicht auch die Grenzen des Gesetzentwurfes über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik.Wir gehen davon aus, daß dem Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes neben dem direkten Aktenmaterial der Stasi auch dieUnterlagen der Abteilung K 1, der Kriminalpolizei, des Nationalen Verteidigungsrates und des Militärischen Abschirmdienstes der DDR zur Verfügung stehen müssen. Darüber hinaus muß dem Sonderbeauftragten die Möglichkeit eingeräumt werden, daß er sich auch in dem Archiv der SED, der jetzigen PDS, im Archiv des Jugendverbandes der SED, der FDJ, und im Archiv des FDGB umsehen kann bzw. daß ihm Teile der Archive im recherchefähigen Zustand übergeben werden.
Äußerstes Augenmerk muß auf die sichere Verwahrung und Bewachung der Akten in den Außenstellen gelegt werden. Es ist dringend angeraten, darauf hinzuweisen, da sich gegenwärtig in der Nähe einiger Außenstellen bestimmte Machenschaften abspielen. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, daß aus meiner Sicht der Innenminister Sachsens wahrscheinlich nicht auf der Höhe seiner Aufgaben zu sein scheint.
Der vorliegende Gesetzentwurf sieht folgende, meines Erachtens richtige Verfahrensschritte vor: auf Antrag ein Auskunftsverfahren für Betroffene und Täter, auf Antrag ein zu ermöglichendes Einsichtsrecht, das selbstverständlich nur für Betroffene gilt. Es wäre den Betroffenen gegenüber unangemessen, wenn man gestattete, daß sich Stasi-Schergen noch einmal im nachhinein über den Umfang ihrer Sauereien informieren lassen könnten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön, Herr Skowron.
Herr Dr. Schmieder, ist Ihnen bekannt, daß sich ehemalige Führungsgrößen der Stasi heute noch konspirativ treffen? Was würden Sie sagen, was man mit diesen konspirativen Vereinigungen tun sollte?
Das ist mir sehr wohl bekannt. Es gibt aus verschiedenen Teilen unseres ehemaligen Landes, aus den jetzigen neuen Bundesländern, Hinweise darauf, daß sich diese Leute verstärkt treffen. Deshalb habe ich hier vorgetragen, daß man nicht alle über einen Kamm scheren soll, damit man diese Bande nicht geschlossen gegen sich hat, sondern man muß differenzieren und wirklich nur die politisch Verantwortlichen und jene anklagen, die im strafrechtlichen Sinne Schuld auf sich geladen haben.Weiterhin sind wir als FDP der Meinung, daß man bei Unterlagen mit personenbezogenem Gegenstand, in denen der Trivialitätsgehalt offensichtlich ist, auf Antrag und bei übereinstimmender Meinungsäußerung der Sonderbehörde Gauck eine Löschung vornehmen sollte.Ich teile hier nicht die Bedenken, die von seiten Bündnis 90/GRÜNE geäußert werden, daß dadurch die Aktenbestände auseinandergerissen oder etwas
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Dr. Jürgen Schmiederaus dem Gesamtzusammenhang gerissen würde, denn bei einer Einsicht in die Unterlagen wirkt die Sonderbehörde ständig als Filter.Hinsichtlich des Zugangs der Dienste und der Strafverfolgungsbehörden ist folgendes zu sagen: Die Dienste erhalten keinen Zugang zu Unterlagen mit personenbezogenen Daten — so steht es eindeutig drin, Frau Köppe. Ihr Zugriff ist vorrangig beschränkt auf Unterlagen der HVA und der Abteilung XXII sowie der Abteilung XII, die vorwiegend mit Aufklärung, Spionageabwehr und Terrorismusbekämpfung befaßt waren, wobei man durchaus beachten muß — und hier gebe ich Ihnen recht — , daß politisch Andersdenkende bei der Stasi beispielsweise als Terroristen geführt wurden. Deren Unterlagen sind natürlich für die Dienste zu sperren.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, Herr Kollege?
Sofort, ich will nur diesen Gedanken zu Ende bringen.
Nach einem von den Diensten gestellten Gesuch wird es trotzdem so sein, daß die Dienste nicht unmittelbar an Originalunterlagen herankommen, sondern daß der Sonderbeauftragte Gauck hier entsprechende Kopien zur Verfügung stellt. Ich glaube, Frau Köppe, der Vergleich zwischen Stasi und Verfassungsschutz, den Sie hier ständig bringen, ist ganz einfach unzulässig. Ich bin der Meinung, wenn man nicht alle Unterlagen, so wie ich sie vorhin klassifiziert habe, für Dienste zugängig macht, dann ist das der perfekteste Schutz für diese Stasi-Leute. — Bitte!
Herr Kollege Schmieder, sind Sie mit mir der Auffassung, daß Betroffene, wenn sie Akteneinsicht erhalten, nicht ausreichend damit bedient werden, wenn man ihnen gestattet nachzulesen, welcher Nachbar ihnen durchs Schlüsselloch gesehen hat oder welches ihrer Telefongespräche aufgezeichnet ist, sondern daß Betroffene natürlich auch die Zusammenhänge, in denen sie stehen, aufarbeiten müssen bzw. Bürgergruppen oder Bürgerkomitees — oder wer auch immer sich mit einer solchen Aufgabe beschäftigt —, so daß es unbedingt notwendig ist, diesem Personenkreis natürlich auch die Akten zur Verfügung zu stellen, die Aufschlüsse über die Strukturen, die Mechanismen und die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Hauptabteilungen usw. möglich machen?
Ich erwähne ausdrücklich noch einmal die Hauptabteilung XXII. Ich weiß, daß mehrere von uns auch dort geführt werden, außer in der Hauptabteilung XX und anderen. Würde, wenn die Geheimdienste z. B. aus diesem Umfeld Akten entfernen könnten, dadurch nicht ein Teil der Aufarbeitung auch für die Betroffenen unmöglich gemacht?
Was den ersten Teil Ihrer Frage betrifft, gebe ich Ihnen völlig recht. Wir haben ja im Gesetzentwurf vorgesehen, daß die persönliche Aufarbeitung möglich wird. Wir haben auch vorgesehen, daß eine historische Aufarbeitung möglich ist. Beides muß natürlich miteinander in Einklang stehen. Für mich ist das Einsichtsrecht des Betroffenen die Voraussetzung für die persönliche Aufarbeitung. Man kann dem Bürger nur mit einem klärenden Gespräch, das die Einsichtnahme begleitet, den Zugang im weitesten Sinne zu dem ermöglichen, was er gerade erfährt. Nur so kann man ihm helfen, mit den Erkenntnissen, die er auf diese Weise gewinnt, fertig zu werden.
Was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft, so muß ich sagen: Das ist eindeutig in die Möglichkeit der historischen Aufarbeitung eingearbeitet. Daß dabei die Bürgerkomitees und die Aktivisten der ersten Stunde, die sich um die Auflösung der Stasi verdient gemacht haben, nicht ausgeschlossen bleiben, ist klar. Wir wollen sogar soweit gehen, daß Jugendgruppen und Bürger im weitesten Sinne Zugang zu diesen Unterlagen haben, sie studieren und den Gang der Geschichte nachvollziehen können.
Da meine Redezeit bald abgelaufen ist, möchte ich jetzt in meinen Ausführungen fortfahren. — Ähnlich verhält es sich mit dem Verfahren im Hinblick auf Strafverfolgungsbehörden. Auch diese haben nur in bestimmten Fällen eine Zugriffsmöglichkeit.
Sicherlich wird die für den 27. August 1991 geplante Anhörung dazu beitragen, in diesen Fragen die Entscheidungen abzusichern. Zu dieser Anhörung werden Sachverständige aus mehreren Bereichen geladen: der Datenschutzbeauftragte, Vertreter der Gauck-Behörde, Vertreter der Gewerkschaften und der Dienste sowie Wissenschaftler — Politologen, Historiker, Juristen — und selbstverständlich eine größere Anzahl von Betroffenen.
Die Vorschläge für die Sachverständigen wurden an Hand des Verteilungsverfahrens nach Schepers eingebracht, so daß unter den Betroffenen Theologen, Vertreter des Bundes der Stalinistisch Verfolgten, der Stasi-Arbeitsgruppen in den neuen Bundesländern sowie Schriftsteller und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind.
Ziel dieser Anhörung ist nicht, vordergründig ein „Stasi-Schandtatenregister" aufzustellen, sondern es geht in erster Linie vielmehr darum, das künftige Gesetz auf seine Praktikabilität hin abzuklopfen. Damit wird deutlich, daß die vom Bündnis 90/GRÜNE u. a. auch kürzlich in der Presse geäußerten Bedenken, daß zu wenig Betroffene geladen worden sind, jeglicher Grundlage entbehren.
Aufbau und Struktur der Behörde des Sonderbeauftragten müssen unseres Erachtens zentralistisch sein, weil auch der Stasi zentralistisch geführt wurden. Andernfalls kämen wir in die Situation, den Stasi völlig neu aufbauen zu müssen, und das wollen wir uns doch wohl ersparen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß. Sie haben die Redezeit schon etwas überschritten.
Wir haben die der Fraktion insgesamt zur Verfügung stehende Redezeit so aufgeteilt, daß ich die Chance habe, ein klein wenig zu überziehen.
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2370 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Es wäre gut, wenn mir das vorher von seiten der Fraktion gemeldet würde.
Es würden auch — um den Faden noch einmal aufzunehmen — andere Probleme auftreten. Beispielsweise ist der Bezirk Cottbus nunmehr auf drei der neuen Bundesländer aufgeteilt. Ich frage Sie: In welchem Bundesland sollten die Unterlagen konzentriert werden? Es bleibt jedem Bundesland unbenommen, neben einem Datenschutzbeauftragten auch Länderbeauftragte zu schaffen, wie es jetzt schon Stasi-Unterausschüsse der Länder gibt. Der Einfluß der östlichen Bundesländer muß natürlich deutlich verstärkt werden, und zwar über den Beirat. Dessen Struktur ermöglicht das Mitwirken je eines Mitglieds der neuen Bundesländer. Unter den vom Bundestag zu benennenden Vertretern sind auch Abgeordnete aus den neuen Bundesländern. Damit ist die parlamentarische Kontrolle auf Bundes- und Landesebene aus meiner Sicht gesichert.
Herr Kollege, jetzt gibt es ein Zwischenfragebegehren der Kollegin Köppe. Das wird Ihnen — das muß ich dazusagen — auf Ihre Redezeit nicht angerechnet.
Ich bedanke mich ausdrücklich, Herr Präsident. — Bitte schön.
Sie erwähnten, daß in diesen Beirat auch Vertreter der neuen Länder geschickt werden könnten. Können Sie uns sagen, welche Kompetenzen dieser Beirat hat und ob die Vertreter der neuen Länder, wenn sie in diesem Beirat mitarbeiten, dort tatsächlich Mitwirkungsrechte oder nur eine beratende Funktion haben? Inwieweit könnten sie tatsächlich Entscheidungen treffen, Entscheidungen beeinflussen?
Ich bin Ihnen für diese Frage dankbar. Aber hätten Sie mich ausreden lassen, dann hätte ich das ohnehin noch ausgeführt. Ich gehe mit Ihnen völlig konform, daß wir die Möglichkeiten, die dieser Beirat hat, erweitern müssen. Das darf also nicht nur schlechtin eine Unterrichtung durch den Sonderbeauftragten werden. Vielmehr muß dieser Beirat echte Möglichkeiten der Mitgestaltung und der Mitarbeit bekommen.
Was die Vertreter aus den neuen Bundesländern betrifft, beispielsweise aus den jeweiligen Landesregierungen oder aus den Landesparlamenten, so kann ich jetzt nicht vorgreifen, wen die einzelnen Länder dorthin entsenden. Aber ich gehe davon aus, daß das kompetente Vertreter sind. Und man muß natürlich im Auge haben, daß dieser Beirat insgesamt arbeitsfähig bleibt. Das kann also nicht ein Riesengremium werden. Wenn wir das auf den Personenkreis beschränken, wie er jetzt vorgesehen ist, dann ist das aus meiner Sicht ausreichend.
— Ich weiß, aber wir müssen das tolerieren.
Bearbeitungswürdig — um wieder auf dieses Problem zu kommen — erscheint die Regelung der Befugnisse des Beirats. Es ist ein eigenes Antragsrecht des Beirats bzw. von Teilen des Beirats notwendig, um zufriedenstellende Kontrollformen zu gewährleisten. Darüber hinaus sollte der Bundesbeauftragte den Beirat nicht nur unterrichten, sondern es muß gewährleistet sein, daß der Beirat aktiv mitwirken kann.
Obwohl insgesamt deutlich geworden ist, daß noch einiges zu tun ist — die parlamentarischen Beratungen werden sicherlich das Ihre dazu beitragen — , sind wir auf dem richtigen Weg und hoffen auf eine Verabschiedung des Gesetzes unmittelbar nach der Sommerpause.
Danke.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Jelpke.
Meine Damen und Herren! Herr Gerster, Sie fordern von uns einerseits immer, daß wir die Geschichte mit aufarbeiten, andererseits tun Sie und Ihre Koalition alles, um uns daran zu hindern, indem man uns ausgrenzt.
Das nur vorweg.
Beginnen möchte ich mit einigen Zitaten. Sie stammen aus den Arbeitsmaterialien für das heute zur Diskussion stehende Gesetz. Dargestellt sind in diesem Papier vom 11. März 1991 die Positionen der bundesdeutschen Geheimdienste, des BKA, des Justizministeriums, des Bundesbeauftragten für den Datenschutz, des Sonderbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Alle melden ihre Ansprüche an.Behalten möchte der BND alleUnterlagen sowohl mit direktem als auch mittelbarem BND-Bezug, Unterlagen, die sich auf befreundete ausländische Partnerdienste des BND und hier insbesondere auf Dienste der NATO-Staaten beziehen, Vorgänge mit operativem Bezug, vornehmlich im Zusammenhang mit den Komplexen Gegenspionage, internationaler Terrorismus, illegaler Technologietransfer, Waffenhandel und Drogen, quellenschutzbedürftige Unterlagen.Das ist alles das, was der BND von der Stasi schon hat — man muß hier einmal deutlich sagen, daß er schon viele Akten hat — und was man dem Sonderbeauftragten nicht geben will.Die Polizei soll „auf die Unterlagen zur Abwehr einer erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit" zugreifen dürfen. An anderer Stelle wird sogar von „polizeipräventiven Aufgaben" gesprochen.Bundesamt für Verfassungsschutz, BND und MAD sprechen sich für eine Nutzung von Unterlagen aus, die sich erstens auf sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeit für eine fremde Macht, zweitens auf Bestrebungen, die darauf gerichtet sind, Gewalt anzuwenden oder Gewaltanwendung vorzubereiten, drittens auf rechtsextremistische Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung beziehen.
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Ulla JelpkeSchon diese winzige Sammlung macht die unglaublichen Ansprüche auf Zugang und Nutzung der Stasi-Akten deutlich.Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist das Ergebnis einer knallharten Anschlußpolitik im Bereich der sogenannten inneren Sicherheit.
— Hören Sie richtig zu, Herr Gerster, dann kriegen Sie es auch mit.In diesem Gesetzentwurf sind auch die letzten Erinnerungen an das Gesetz in der ehemaligen Volkskammer getilgt, und getilgt sind auch die wesentlichen Bestimmungen aus dem Einigungsvertrag.Der Entwurf und seine Entstehungsgeschichte sind ein geradezu klassisches Beispiel westdeutscher Sicherheitspolitik und Sicherheitspropaganda. Mit viel Floskeln über rechtsstaatliche Verwendung, wie wir sie heute hier hören konnten, über Datenschutz und die Anliegen der Betroffenen wurde der Weg vom Volkskammergesetz bis zum heutigen Entwurf begleitet. Damals hieß es bezüglich personenbezogener Daten schlicht: „Die Nutzung oder Überprüfung für nachrichtendienstliche Zwecke ist verboten. " Daraus wurde ein umfangreicher Nutzungskatalog für Polizei und Nachrichtendienste.Die westdeutschen Dienste haben sich nicht nur alle für sie interessanten Unterlagen aus den jahrzehntelangen Stasi-Aktivitäten gesichert, sie lassen sich darüber hinaus in dem Gesetz die aktive Weiterverwendung absichern. Während die Bürgerbewegung noch zügige Schaffung der Rechtsgrundlagen forderte, konnten die Dienste und das BKA in unbekanntem Ausmaß kistenweise Material, was ich vorhin schon sagte, wegschaffen.
Das Gesetz legalisiert das nur noch, Herr Gerster. Der Bürgerbewegung zugesicherte Rechtsstaatlichkeit und zurückhaltende Nutzung entpuppt sich in dem Gesetz als rein formale Beschränkung, mehr noch als seit langem anvisierte Ausdehnung westlicher präventiver Sicherheitskonzepte auf das Beitrittsgebiet. Schritt für Schritt wurden im Gefolge öffentlicher Kampagnen gegen Terrorismus, organisierte Kriminalität, wachsende Bereitschaft und drohende Krisensituationen, vor allem im Beitrittsgebiet, die Zugriffsrechte erweitert. Dies ist u. a. nachzulesen in § 18 unter der Überschrift „Verwendung von Unterlagen für Zwecke der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr". Mit den dort aufgeführten Straftaten nach § 129 a und § 138 Strafgesetzbuch wird die Tür weit aufgerissen zur heutigen und zukünftigen Verwendung der Unterlagen. Mit dem Absatz 2 des § 18 werden schließlich nahezu alle Unterlagen freigegeben, sofern sie insbesondere zur Verhütung von Straftaten gebraucht werden können, nicht Aufarbeitung der Geschichte des MfS, sondern voller Einsatz der Unterlagen gegen den heute schon beschworenen sozialen und politischen Protest, Jugendrevolten oder was immer die Bedrohungsanalysen, wie Sie das nennen, Lagebilder der Polizei an die Wand malen.
— Das sind Ihre Begriffe, nicht meine.Meine Damen und Herren, sollte dieser Entwurf Gesetz werden, so hätten MfS-Stasi in ihrer Niederlage einen Sieg errungen:
Modernisiert und auf den Standard eines der modernsten Sicherheitssysteme der Welt gehoben, würden gerade die traurigsten Kapitel ihrer Arbeit fortgesetzt.Ein weiteres wäre mit diesem Gesetz gelungen: Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Akten würde mit seiner ganzen Behörde selbst zu einem Teil des Apparates der inneren Sicherheit.Diese Gründe sind für uns entscheidend, diesen Mehrheitsentwurf abzulehnen. Unterstützen werden wir daher mit Änderungsanträgen den Entwurf des Bündnisses 90/DIE GRÜNEN. Dieser Entwurf versucht, sich an den Vorgaben des Volkskammergesetzes zu orientieren, wie es der Einigungsvertrag vorgesehen hatte. Vor allem gilt dies für den Zugriff der Nachrichtendienste auf personenbezogene Daten in den Stasi-Unterlagen.Enthalten sind in diesem Entwurf auch die Forderungen der Bürgerbewegung und des Volkskammergesetzes, übrigens nach dezentraler Aufarbeitung und Aufbewahrung der Unterlagen.Für besonders problematisch halten wir die §§ 15 und 2 des Gesetzentwurfes der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP, wo es um die Nutzungsrechte der Behörden und anderer Stellen geht. In § 2 werden Definition und Kategorisierung vorgenommen; für änderungsbedürftig halten wir die Definition der Betroffenen einerseits und die geforderte Gleichbehandlung verschiedener Kategorien von MfS-Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und Weisungsbefugten andererseits.Auch wenn in der Öffentlichkeit die Aufarbeitung der Vergangenheit noch im Vordergrund steht, entscheiden wir mit diesem Gesetz längst nicht mehr nur über diesen oder jenen Weg zur Überwindung der Stasi-Vergangenheit. Wir entscheiden mit diesem Gesetz darüber, ob die gesamtdeutschen Sicherheitsapparate materiell, juristisch und politisch für die Zukunft ausgerüstet werden.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Hartmut Büttner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
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2372 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Hartmut Büttner
Mit der Einbringung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes erfüllt der Deutsche Bundestag eine von den Menschen in den neuen Bundesländern bereits lange erwartete Aufgabe. Wir geben heute den Startschuß für die notwendige parlamentarische Debatte. Ich versichere Ihnen, daß der Innenausschuß und der Unterausschuß zur Bewältigung der Stasi-Vergangenheit dabei jeden Vorschlag kritisch würdigen werden, der uns bei der notwendigen Aufarbeitung dieses sensiblen Themas weiterbringt.Dazu zähle ich die Anregungen aus den Fraktionen der neuen Bundesländer genauso wie die Vorschläge, Frau Köppe, aus Bürgerkomitees, Parteien und Verbänden.Die Anregungen der PDS — wir haben soeben ein Beispiel bekommen — und ihrer heutigen und ehemaligen Gliederungen werden wir dabei als Stellungnahme des Stasi-Arbeitgebers werten.
Da dieses Gesetz, wie schon deutlich gesagt worden ist, noch den nötigen Feinschliff und die begleitende öffentliche Diskussion braucht, möchte ich an einigen Beispielen klarmachen, wo ich Handlungsbedarf sehe.So sollten wir mit besonderer Sorgfalt prüfen, ob die Namensnennung der in den Stasi-Akten aufgeführten MfS-Mitarbeiter und Denunzianten den Opfern gegenüber vorgenommen werden soll. Ich bekenne offen, daß ich in diesem Punkt meine persönliche Meinungsbildung noch nicht ganz abgeschlossen habe.Das berechtigte Interesse der jahrelang bespitzelten Opfer, endlich zu erfahren, wer sie ausgespäht hat, konkurriert mit der Furcht, daß die Täter und deren Familien zu Objekten eines ungezügelten Volkszorns werden könnten.Wenn wir die Namensnennung vorgesehen haben, dann in der Hoffnung, daß die betroffenen Bürger ein hohes Maß an Verantwortung aufbringen werden.
Ich hoffe, daß Herr Gauck recht hat, der in einem Interview mit der Magdeburger Volksstimme bemerkte:Ich glaube, daß das Bedürfnis nach Mord und Totschlag in der Bevölkerung der neuen Bundesländer nicht nennenswert verbreitet ist. Die Erfahrungen jedenfalls, die wir mit der revolutionären Umgestaltung gemacht haben, sprechen dagegen. Aber ich würde es für noch gefährlicher halten, wenn in einem Umfeld, in dem es soziale Ungleichheiten gibt, eine Geheimwissenschaft daraus gemacht würde, wer das MfS unterstützt hat und wer dort auch Verantwortung getragen hat.Wir sind in einer schwierigen Abwägung.Ein zweiter interessanter Diskussionspunkt ist die Organisationsform der Behörde Gauck. Die Vertreter der neuen Bundesländer sehen sich bei der bisherigen Regelung einer Bundesoberbehörde mit einer Zentralstelle in Berlin und Außenstellen in den östlichenBundesländern in ihren Mitwirkungsmöglichkeiten nicht ausreichend einbezogen.Dieser durchaus zu respektierende Wunsch muß sich aber an der Notwendigkeit messen lassen, durch eine gebündelte Verantwortung eine einheitliche Verfahrenspraxis zu gewährleisten. Es geht nicht an, daß ein Auskunftsuchender in Weimar oder Cottbus andere Zugangsvoraussetzungen zu seinen Akten erhält als der Bürger in Rostock oder in Stendal. Durch die dezentrale Lagerung und eine einheitliche Verwaltung wird dem berechtigten Wunsch nach bürgernaher Verwendung der Stasi-Unterlagen entsprochen.Die Sicherheit der Aktenbestände, die Gleichbehandlung der Bürger und ein Informationsverbund aller Aktenbestände müssen Vorrang vor Zuständigkeitsfragen haben.Die unabhängige Rechtsstellung des Sonderbeauftragten, seine Wahl durch das Parlament, die ständige Möglichkeit des Zugangs zum Deutschen Bundestag und der mehrheitlich mit Personen aus den neuen Bundesländern zu besetzende Beirat sind, denke ich, eine gute Basis für die schwere Arbeit der Behörde Gauck.An dieser Stelle sollte man dem Sonderbeauftragten und seinen Mitarbeitern ein Wort des Dankes sagen, besonders denen, die dabei sind, das in zigtausend Säcken enthaltene zerrissene Material in Puzzlemanier wieder zusammenzusetzen.
Diese Behörde steht vor einem Berg von Problemen. Das aufzuarbeitende Material in seiner Gesamtheit und Fülle umfaßt, wenn wir alles einschließlich der Außenstellen zusammennehmen, nahezu 200 km Akten. Täuschen wir uns nicht: Mit dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes werden sich die Normannenstraße in Berlin und auch die Außenstellen in den Ländern auf einen lawinenartigen Ansturm der betroffenen Bürger einrichten müssen. Das Interesse an der eigenen Akte dürfte riesengroß sein. Ich bitte bereits jetzt den Sonderbeauftragten und die Bundesregierung, Vorkehrungen zu treffen, um das zu erwartende Bürgerinteresse in vernünftiger Weise zu befriedigen.Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle aber noch einen weiteren Problempunkt ansprechen. Er betrifft den zur Glaubensfrage hochgeputschten Punkt eines Zugangs des Verfassungsschutzes zu Akten aus den Bereichen Terrrorismus und Spionageabwehr. Wir haben, für jeden lesbar, Frau Köppe, in das Gesetz geschrieben, daß dabei ein Zugriff auf personenbezogene Daten von Stasi-Opfern ausgeschlossen ist.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt nachdrücklich die Regelung im Gesetzentwurf. Nur der Bundesinnenminister selbst kann nach vorheriger parlamentarischer Kontrolle für die eng umgrenzten Bereiche Spionage, gewalttätiger Extremismus und Terrorismus eine Aktenherausgabe erwirken. Frau Köppe, wer den Nachrichtendiensten ein völliges Zugangsverbot auferlegen möchte, bewirkt im Ergebnis
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2373
Hartmut Büttner
den Schutz von Stasi-Tätern, von Terroristen und deren Helfern.
Die Kampagne gegen den Verfassungsschutz und seine Gleichsetzung mit Stasi und Gestapo ist eine infame Demagogie. Leider kommen entsprechende Akzente auch aus den Reihen des Bündnisses 90. Frau Köppe, Sie sollten sich mit uns gegen Meinungen wie die des Mitglieds des Berliner Abgeordnetenhauses, Hans Schwenke, wenden, der unterstellt — ich zitiere aus seinem Aufsatz „Die Akten und die Dienste" —, „... daß Mielkes Sicherheitskonzept sich trotz oder wegen seiner Entmachtung nun über ganz Deutschland ausbreitet". Er behauptet weiter, daß sich die Dienste außerhalb aller Gesetzlichkeit stellen wollen. Er sucht Parallelen zum Überfall der Gestapo auf den polnischen Sender Gleiwitz und erklärt, der BND habe Schüsse aus einer sowjetischen Kaserne provoziert.
— Wir müssen diese schlimmen Beiträge aufnehmen, Herr Vogel, und die Bürger in den neuen Bundesländern darüber aufklären, daß der Verfassungsschutz ausschließlich ein Selbstverteidigungsinstrument der Demokratie ist.
— Auch wenn Ihnen das nicht genehm ist: Der Verfassungsschutz wird parlamentarisch kontrolliert. Er hat keinerlei Exekutivvollmacht und nichts, aber auch gar nichts mit den unseligen Unterdrückungsapparaten totalitärer Staaten gemein, die Sie dauernd noch verteidigen.Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf der Koalitionsparteien und der Sozialdemokraten eröffnet nun die Voraussetzung für die persönliche Aufarbeitung der Vergangenheit der Menschen in der ehemaligen DDR. Die politischen Rahmenbedingungen müssen mit einer glaubwürdigen Arbeit der Staatsanwaltschaften einhergehen. Die Justiz arbeitet, wie es leider ihre Art ist, — es tut mir leid, Herr Penner, daß ich das einmal sagen muß — quälend langsam.
— Gut, wir nehmen das zuständigkeitshalber auf.Die Verhaftung des ehemaligen Ministerratsvorsitzenden Stoph und des ehemaligen Verteidigungsministers Keßler sind aber immerhin Signale dafür, daß der Rechtsstaat vor diesen Problemen nicht kapituliert. Diese Personen sind gemeinsam mit Honecker und den anderen ehemals Mächtigen des Politbüros und des Verteidigungsrates für Mauer, Schießbefehl und nahezu 200 ermordete Menschen verantwortlich. Ob es nun gelingen wird, die Auftraggeber der Stasi zu verurteilen, ist noch keinesfalls gewiß. Hier klafft eine Lücke zwischen moralischer und gerichtlich faßbarer Schuld.Dennoch — Herr Präsident, damit komme ich zum Schluß — muß alles versucht werden, um die Hauptverantwortlichen zu bestrafen. Das aber nicht, weil an ein paar alten Männern Rache geübt werden soll. Es geht vielmehr um das Vertrauen in unseren Rechtsstaat. Dieses Vertrauen können Politik und Justiz nur erhalten, wenn die Bürger in den neuen Bundesländern Gerechtigkeit auch erleben dürfen.Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Angelika Barbe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen." — Dieses Motto, diesen Satz von Milan Kundera, hat Joachim Gauck seinem Buch vorangestellt. Ich denke, dieser Satz ist auch das Motto, welches über der Einbringung dieses Gesetzentwurfes steht. Er hat schon zu heftigen Auseinandersetzungen geführt, auch in unserer Fraktion. Ich will das gar nicht verhehlen. Ich gehöre zu denen in der Fraktion, die auch Vorbehalte gegen einzelne Punkte dieses Gesetzentwurfs angemeldet haben, und zwar deshalb, weil ich mich an das Volkskammergesetz gebunden fühle. Ich gehöre zu den Mitgliedern der Volkskammer, die diesem Gesetz zugestimmt haben, und ich gehöre zu denen, die im letzten Herbst die Zentrale in der Normannenstraße besetzten, damit nämlich die Akten gesichert werden und sie nicht restlos verschwinden.
— Das war drei Wochen vor dem 3. Oktober.Ich hoffe darauf, daß wir nach Einbringung des Gesetzentwurfs die Vorbehalte, die ich im einzelnen noch ausführen werde, ausräumen können, und ich begebe mich in die Auseinandersetzung, weil ich für eine einvernehmliche Lösung eintrete.Warum ist für mich die öffentliche Aufarbeitung so wichtig — und nicht nur für mich, sondern für einen großen Teil der Bevölkerung in der ehemaligen DDR? Es geht darum, die Verselbständigungen eines Machtapparates aufzudecken. Es geht darum, sich schützen zu können gegen Verfahrensweisen, Methoden von Diktaturen. All dies muß aufgedeckt werden: Wie wurde dieses System aufgebaut? Wie funktionierte es? Wann ist der Punkt erreicht, wo unkontrollierte Macht entsteht? Bedingungen, die solches Verhalten hervorrufen, müssen erkannt werden, und die Schuldigen müssen auch benannt werden.Herr Büttner hat Vorbehalte angemeldet. Er hat gesagt: Namensnennungen könnten zu Problemen führen, eventuell zu Pogromen. Ich bin anderer Ansicht. Nur mit Namensnennung, nur mit öffentlicher Aufarbeitung kann man auch Denuziationen, die ja jetzt laufend vorkommen, vorbeugen.Ich möchte auch auf die Arbeitsweise des MfS hinweisen. Dort hat man ja nicht nur mit Repression, den Strafvollzug betreffend, gearbeitet, sondern auch da-
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2374 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Angelika Barbemit, Menschen zu verunsichern. Man hat damit gearbeitet, den beruflichen Mißerfolg zu organisieren. Man hat damit gearbeitet, bei Menschen über Jahre hinweg Selbstzweifel aufkommen zu lassen. Alle diese Dinge kommen in diesem öffentlichen Prozeß ja auch zur Aufdeckung.Ich will Wolf Biermann zitieren, der schreibt:Wo keine Schuld ist, braucht es nämlich keine Sühne. Wie sollen auch die kleinen Leute zum Bewußtsein ihrer bescheidenen Schande kommen, wenn sogar die großen Verbrecher sich als Menschenfreunde spreizen?„Ich war wie eine Mutter zu euch" , sagte Frau Ceausescu, bevor sie von den Soldaten getötet wurde. „Ich bin ein armer Mann" , sagte Honecker. Krenz wußte von nichts; er hatte nie etwas zu sagen. Er war jahrelang von Kopf bis Fuß verantwortlich für die bewaffneten Organe Polizei, Stasi, Armee und sonst gar nichts.Waffenhandel, Drogengeschäfte — Günther Mittag wußte nicht, was Alexander Schalck-Golodkowski trieb.Kopfgeld, Verkauf von Landeskindern — gewiß, aber nur gegen Naturalien. Menschenfleisch gegen Apfelsinen.Der zweite Punkt, über den, wie ich denke, diskutiert werden muß, betrifft die Behördenstruktur. Meine Erfahrungen in diesem Parlament sagen mir einfach, daß es ganz schwierig ist, als Parlamentarier die Exekutive zu kontrollieren. Deshalb ist mein Punkt auch der, zu sagen: Wir müssen eine Behördenstruktur für den Sonderbeauftragten schaffen, die eine Anbindung an das Parlament ermöglicht.Drittens. Der Zugriff der Nachrichtendienste ist ein ebenso umstrittener Punkt. Ich denke, da wird es auch Auseinandersetzungen geben.Der vierte Punkt ist: Der Zugang von Strafverfolgungsbehörden zu personenbezogenen Daten muß ganz genau und detailliert betrachtet werden.Zur Struktur der Behörde des Bundesbeauftragten: Ich denke, man könnte auch eine Struktur wie die des Wehrbeauftragten finden. Das hätte auch den Vorteil, daß die Einbeziehung der neuen Länder gewährleistet wäre. Die Länder sollten also nicht nur per Beirat beteiligt werden, wo sie einfach nur Beratungsrechte haben.Konkret zu einigen hätten wir uns auch z. B. über die Einstellung von ehemaligen hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Stasi in den öffentlichen Dienst. Ich denke, das darf es nicht geben. Die Möglichkeit sollte auch nicht im Gesetz festgeschrieben werden.Die Einsichtnahme von Mitarbeitern des MfS in die von ihnen erstellten Berichte ist abzulehnen, weil dadurch altes Wissen zum Nachteil von Betroffenen und Dritten aufgefrischt werden könnte. Ich denke, da muß auch etwas gestrichen werden.Jetzt kommen wir zu den personenbezogenen Daten Betroffener. Es müssen auch die Dritten berücksichtigt werden, die hier vollkommen herausgelassen sind. Hierzu gibt es in unserer Fraktion unterschiedliche Auffassungen. Ich denke aber, hier sollte vor allem die Formulierung „Straftaten im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes" konkreter gefaßt werden.Ferner muß in § 18 die Formulierung „Vorsorge zur künftigen Strafverfolgung" ganz genau durchdacht werden. Diese zum Mißbrauch verleitende Formulierung sollte konkretisiert werden. Es kann nicht außer Zweifel sein, daß ausschließlich beim Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten Strafverfolgungsbehörden Daten weiterverwenden dürfen. Ich frage: Welche Fälle sind gemeint? Vielleicht könnte man sich auf einen Kompromiß einigen, indem man sagt: Man benötigt nicht die Zustimmung des Betroffenen; aber der Betroffene muß auf jeden Fall Kenntnis über die Verwendung seiner Akten erhalten.Herausgabe von personenbezogenen Daten Betroffener ist nicht mehr vorgesehen. Das ist positiv. Allerdings muß die Möglichkeit der Nutzung personenbezogener Daten durch die Nachrichtendienste abgelehnt werden. Das steht im Widerspruch zum Volkskammergesetz. Ich denke an den gestern in der „FAZ" veröffentlichten Artikel, in dem darauf hingewiesen wurde, daß der Verfassungsschutz schon Zugang zu Akten von Terroristen hat. Ich denke da an den Fall Carlos.Des weiteren ist noch einmal auf die Parlamentarische Kontrollkommission hinzuweisen. Dies war schon vorhin in der Diskussion. Ich möchte darauf hinweisen, daß der Parlamentarischen Kontrollkommission kein östlicher Abgeordneter angehört. Ich denke, auch das ist zu überlegen, wenn es darum geht, welche Kontrollmöglichkeiten das Parlament überhaupt hat. Ich beziehe mich auf die Öffnungsklausel: Wenn es das Wohl des Bundes oder eines Landes erfordert, dann wird dem BMI ermöglicht, die ersatzlose Herausgabe der Unterlagen von Tätern nach eigenem Gutdünken anzuordnen. Diese Möglichkeit der Aussonderung muß im Interesse des Zusammenhaltes des Bestandes ausgeschlossen werden.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Es tut mir leid. Ich habe leider nur sieben Minuten Redezeit bekommen. Ich kann nur noch versuchen, einen letzten Satz anzufügen. Ich habe leider nicht alles sagen können.
Ich möchte nur noch darauf hinweisen, daß im Zusammenhang mit der Stasi auch analysiert werden muß, welche Funktion die SED als damalige staatstragende Partei hatte. Das ist nur möglich, wenn alle diesbezüglichen Unterlagen und Akten auch der politischen und historischen Aufarbeitung zugänglich sind.
Frau Kollegin, Sie können wirklich nicht weiterreden.
Ich bitte, den letzten Satz anfügen zu können.
Das war er schon.
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Ich bitte alle Parlamentarier, verantwortlich alle Kritikpunkte der Betroffenen gewissenhaft zu prüfen. Ich bitte auch darum, bevor lediglich das Prinzip Mehrheitsabstimmung gilt, daß ein Konsens gefunden wird.
Danke schön.
Ich darf Sie darauf hinweisen: Wenn Sie so viel überziehen, dann ärgern Sie nicht mich, sondern Sie nehmen dem nächsten Kollegen Ihrer Fraktion Redezeit weg. Sie haben das vorher intern ausgemacht.
— Ich habe bei allen Rednern gleichermaßen darauf geachtet. Sie haben überhaupt keinen Anlaß, solche Fragen zu stellen.
Als nächster hat das Wort der Abgeordnete Dr. Burkhard Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß gar nicht, ob es für den Redner wirklich gut ist, wenn er alles sagen könnte, was er wollte.
— Das gilt für alle, auch für mich.Während der Haushaltsdebatte hat der Justizminister, Herr Kinkel, eine bemerkenswerte Frage gestellt, die wir gemeinsam nicht beantwortet haben, nämlich die Frage, ob unser traditionelles Rechtssystem ausreicht, die Probleme zu lösen, die sich daraus ergeben, daß sich ein ganzes System aus unserem traditionellen Wertsystem herausgelöst hat. Man muß vielleicht neu die Frage stellen, wie eigentlich das Verhältnis von Verstrickung zu individueller Schuld ist, wobei wir den Gedanken der individuellen Schuld nicht auf geben dürfen, solange wir an die Willensfreiheit von Menschen glauben.Darum hat es mich etwas überrascht, Herr Kollege Weiß, daß Sie relativ leicht das Wort von der verbrecherischen Organisation in die Debatte geworfen haben. Das ist ein Gedanke, der ja in einem Spannungsverhältnis zu vielen traditionellen Werten unseres Rechtssystems steht, nämlich zur individuellen Verantwortung, zu dem Grundsatz, daß es keine Bestrafung nach einem Gesetz geben darf, das es zur Zeit der Tat nicht gegeben hat, und zu dem Grundsatz, daß der Staat das Verschulden des Bürgers nachzuweisen hat und nicht der Bürger seine Unschuld.Ich denke, sosehr wir auch dabei sind, hier gesetzgeberisches Neuland zu betreten, wir sollten uns soweit wie möglich an diesen traditionellen Grundsätzen unseres Rechtssystems orientieren, weil wir sonst den Boden unter den Füßen verlieren.Das papierene Erbe, das wir hier antreten und mit dem wir es zu tun haben, ist ein typischer Ausdruck dieser Regierungskriminalität: Material, das durch evident verfassungswidrige Weise zustande gekommen ist; Opfer, die — manchmal ohne es zu wissen — geschädigt und in ihrer Würde verletzt wurden; Täter, die wenige Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur ein neues, in der Struktur vergleichbares Machtsystem entwickelten, natürlich auch wieder unter Berufung auf eine angeblich historische Notwendigkeit, die klassische Ausrede von Diktatoren, und Täter, die sich einem solchen System andienen, mitmachen, mitlaufen.Ich habe mich immer gefragt, wie diese unglaubliche Effektivität des Stasi-Systems eigentlich zustande gekommen ist, diese Lust, Macht und Gewalt auszuüben, diese Vermischung mit perfektionistischem spießbürgerlichen Ordnungsdenken; das hat dieses System zu einer schrecklichen Perfektion gebracht. Es war gar nicht dämonisch, es war einfach spießig, albern.Es ist ein tröstlicher Gedanke, daß diese höchste Entfaltung von Vernichtung der Privatheit und von Rechten gleichzeitig dazu geführt hat, daß dieser Staat in einem höchsten Maße wehrlos und ohnmächtig wurde, Gott sei Dank. Das Gesetz löst nicht die Frage, was mit diesen Leuten, die sich zum Bestandteil des Systems gemacht haben, werden soll. Aber es schafft uns und den Opfern die Möglichkeit, diese Täter zu erkennen; schon oder noch haben viele Angst davor.Ich denke, daß wir in dieser Frage nicht kneifen dürfen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Staat sich hinstellt und sagt: Ich weiß zwar, wer euer Spitzel war, aber ich sage es euch nicht, weil ihr nicht die moralische Qualität habt, damit fertig zu werden. — Das wäre eine wohlmeinende Entmündigung des Bürgers, die wir uns nicht leisten sollten. Es ist sicher, daß das Schwierigkeiten macht und uns vor Herausforderungen stellt.Das Gesetz eröffnet uns die Möglichkeit und zwingt uns dazu, auch selber die Frage zu entscheiden, wie wir mit diesen Leuten umgehen sollten: Gehören sie in Parlamente? Ich bin der Überzeugung, daß jeder, der sich an diesem System und an der Unterdrückung seiner Mitmenschen beteiligt hat, im öffentlichen Leben nichts mehr zu suchen hat.Darum ist es notwendig aufzudecken, wer StasiMitarbeiter war. Die Trefferquoten, die wir in den Landtagen der fünf neuen Länder erfahren haben, sind doch ein Zeichen, über das wir nachdenken müssen. Ich bin der Überzeugung, daß das tiefe Mißtrauen in der Gesellschaft der fünf neuen Länder nicht ausgeräumt werden kann, wenn wir die Verdeckung fortsetzen. Hier wird man zu mehr Offenheit kommen müssen.Wenn wir gleichzeitig über das Schicksal von Menschen reden, müssen wir auch die Frage stellen, ob wir denn die Grundsätze beachten, die wir im Zusammenhang mit Straftaten aus unserem Rechtssystem kennen. Wie halten wir es mit dem Gedanken der Verjährung? Wollen wir weiterhin Akten bewegen, auch wenn sie 20 oder mehr Jahre geruht haben? Was ist mit dem uns doch geläufigen Gedanken, daß man Jugendsünden anders behandeln sollte als die vorsätzliche Handlung des erwachsenen Menschen? Das
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Dr. Burkhard Hirschsind Positionen bzw. Lücken in dem Entwurf, über die wir reden wollen.Schließlich werden wir uns mit der schwierigen Frage befassen müssen, die hier in einer, wie ich finde, unzulässig polemischen Weise aufgegriffen wurde, in welchem Umfang sich der Staat Opferakten bedienen darf, also der Unterlagen, die auf evident verfassungswidrige Weise zustande gekommen sind. Es ist selbstverständlich richtig, daß wir die Nutzung niemals zu Lasten der Opfer selber zulassen dürfen und daß wir sie auf die Fälle beschränken müssen, in denen es notwendig ist, um Täter nicht entkommen zu lassen. Ich denke, daß die Bürgerkomitees, auch das Bündnis 90 — bei aller Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse — kein Monopol der Betroffenheit haben, daß wir die gemeinsame Aufgabe haben, mit diesem Erbe im Anstand fertig zu werden.Deswegen wiederholen wir unseren Appell, die Verabschiedung dieses Gesetzes nicht nur zu beschleunigen, sondern ununterbrochen und unverdrossen nach Lösungen zu suchen, die von einer möglichst breiten parlamentarischen Mehrheit akzeptiert werden.
Es gab früher in diesem Hause einen berühmten Abgeordneten, der, weil er Diabetes hatte, gelegentlich kaute. Daß aber eine ganze Fraktion kaut, ist ein Novum.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Zeitlmann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, daß es nicht um das Kauen einer Fraktion, sondern mehr um das Lutschen einer Fraktion geht, wenn ich das richtig gesehen habe.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Union begrüßt den gemeinsamen Entwurf. Die Union ist auch der Auffassung, daß gerade die Säulen des Gesetzes bedeutsam sind, die da heißen: Betroffene erhalten uneingeschränktes Auskunfts- und Einsichtsrecht; die Aufarbeitung der schrecklichen Vergangenheit zur Rehabilitierung der Betroffenen wird möglich; Menschenrechtsverletzungen kommen ans Licht; die Herausgabepflicht aller vielleicht während der Umbruchmonate auf dunklen Kanälen zu neuen Eigentümern gewanderten Akten wird normiert.
Weiterhin werden wir ein Gesetz zu den SED-Akten machen müssen — das ist ja angelaufen — , damit nicht die kleineren Mitarbeiter, die unteren Chargen betroffen werden, aber die größeren, die oberen Chargen der SED, deren Akten bekanntlich in den Archiven der SED ruhen, womöglich frei herauskämen.
Ein ganz bemerkenswerter Punkt der Gesetze ist wohl die Gemeinsamkeit. Es wäre entsetzlich gewesen, wenn wir jetzt zu Beginn der Aufarbeitung der Staatsvergangenheit der SED nicht zu dieser Gemeinsamkeit gefunden hätten.
Frau Köppe, mich stört natürlich fürchterlich, daß Sie hier den Eindruck erwecken, als gäbe es eine Ähnlichkeit zwischen dem, was drüben Geheimdienst war, und dem, was wir unter Verfassungsschutz verstehen. Ich halte es auch nicht für gerechtfertigt, daß Sie auf Grund der Tatsache, daß eine Gruppe des Parlaments nicht in den Kontrollgremien sitzt, der Meinung sind, die Kontrolle sei nicht existent. Die großen Parteien dieses Hauses sind vertreten, und damit ist eine demokratische Kontrolle auch möglich.
Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, daß wir natürlich noch viele offene Fragen haben. Konsens in der Gemeinsamkeit heißt natürlich, daß noch manches offengeblieben ist. Wir hoffen aber, daß wir in der Anhörung noch einige Klärungen finden.
Das totale Verwendungsverbot des § 3 Abs. 1, Herr Dr. Hirsch, kann und sollte meines Erachtens nicht über das hinausgehen, was wir in der StPO und an anderer Stelle bezüglich der Verwendungsverbote geregelt haben. Zu § 19 Abs. 1 möchte ich im Zusammenhang mit den Nachrichtendiensten ausdrücklich festhalten, daß wir wegen der Mengenlage zwischen Opfer- und Täterakten immer getrennt haben und gesagt haben, es solle nicht „Akten" der Betroffenen, sondern „Unterlagen" heißen. Damit soll sichergestellt werden, daß die Akten, die Bemerkenswertes oder Entscheidendes für den Nachrichtendienst enthalten, für den Zugriff und für die Verwendung der Nachrichtendienste zur Verfügung stehen können.
Dann stört mich noch etwas, daß im § 8 der Zugriff der Gauck-Behörde auf die SED-Akten als Kann-Bestimmung formuliert ist. Das könnte den Verdacht nähren, daß irgendwelche Interessenlagen abzuwägen sind. Ich würde bei der Anhörung anregen, diese Vorschrift eher in die Richtung eines Muß oder einer zwingenderen Regelung umzuformulieren.
Ein weiterer Punkt, von dem ich glaube, daß wir ihn später noch behandeln müßten, ist § 21, die Bestimmung, daß die Behörde Gauck den Behörden, die Strafverfolgung betreiben, gelegentlich die Unterlagen zur Verfügung stellen kann. Es ist auch zu überlegen, ob man hier nicht zu einer etwas schärferen Regelung, zu einer Befugnis- und Ermittlungspflicht kommt.
Meine Damen und Herren, eines wollte ich noch an das Ende meiner Ausführungen setzen. Ich hoffe, daß sich in der Anhörung und in der nachfolgenden Beratung der Gesetze im Ausschuß die gleiche Gemeinsamkeit zeigen wird, wie sie jetzt bei der Einbringung besteht.
Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Abgeordneten Dieter Wiefelspütz das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben alle miteinander Grund, froh zu sein, daß wir heute diesen inter-
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Dieter Wiefelspützfraktionellen Gesetzentwurf in erster Lesung beraten können. Wir haben auch allen Grund, Genugtuung darüber zu äußern, daß es unter großem Einvernehmen, nach sehr intensiven, fairen und offenen Beratungen zu diesem Gesetzentwurf gekommen ist. Das ist für mich eigentlich auch ein Beispiel, dem in anderen Politikbereichen im Zusammenhang mit der Einheit gefolgt werden sollte. Wir sollten versuchen, die Dinge im Einvernehmen voranzubringen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, daß wir zu Recht daran gemessen werden, wie wir mit dem Erbe, vor allem aber mit der Erblast der DDR umgehen. Das Ministerium für Staatssicherheit gehört zu dieser besonderen Erblast. Es handelt sich beim MfS um einen gigantischen, monströsen Ausforschungs-, Überwachungs- und Repressionsapparat, dessen Opfer in erster Linie das eigene Volk war. Weil dies so war, müssen die Opfer des MfS im Mittelpunkt unseres gesetzgeberischen Handelns stehen. Ich denke, daß wir uns darüber alle einig waren und einig sind.Die Interessen der Opfer zu schützen und zu wahren ist der Kerngedanke des vorliegenden Gesetzentwurfs. Dabei mag die eine oder andere Verbesserung denkbar, notwendig, aber auch möglich sein. Dies wird sich im weiteren Verlauf der Beratungen ergeben. Wir sind an intensiven, aber auch zügigen Beratungen interessiert. Dabei kommt der öffentlichen Anhörung vor dem Innenausschuß besondere Bedeutung zu. Wir haben allen Grund, uns gerade mit diesem Gesetzentwurf der möglichst umfassenden öffentlichen Kritik zu stellen. Ich glaube, daß dies hilfreich ist, Vertrauen schafft und in den einzelnen Bereichen auch zu Verbesserungen des Gesetzestextes führen kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns alle bewußt sein — Herr Hirsch hat das Wort vorhin schon einmal erwähnt — , daß wir mit dem Stasi-UnterlagenGesetz gesetzgeberisches Neuland betreten. Ein vergleichbares bundesdeutsches Gesetz gibt es nicht. Es hätte es vielleicht nach dem Ende des nationalsozialistischen Unrechtsstaates geben sollen. Wir waren damals alle miteinander noch nicht soweit.Das eine oder andere, was bislang auch hier im Hause heute morgen an Kritik vorgetragen worden ist, ist bei näherer Prüfung vielleicht doch nicht ganz überzeugend. Ich denke beispielsweise, daß die Aussonderungsrechte, die im Gesetz stehen, längst nicht den Stellenwert haben, der ihnen hier heute morgen beigemessen wurde. Es handelt sich bestenfalls um nachrangige Einzelfälle. Wir werden im einzelnen noch einmal prüfen, ob diese nachrangigen Einzelfälle überhaupt die Ehre erhalten sollen, unbedingt in das Gesetz aufgenommen werden zu müssen. Darüber werden wir noch einmal nachdenken. Aber die Mutmaßung, es sei eine große Verschwörung im Gange, um unzählige Akten auszusondern und sie der Gauck-Behörde wegzunehmen, entbehrt, wie ich finde, jeder Grundlage.
Ich will auch noch ein Wort zur historischen Aufarbeitung sagen. Dies ist nicht unmittelbar Gegenstand dieses Gesetzes. Wir meinen aber, daß es nicht ausschließlich darum geht, Akten in der Gauck-Behörde zu sammeln und aufzuarbeiten. Wir brauchen vielmehr auch geeignete Forschungsinstitute. Wir haben mit dem Institut für Zeitgeschichte in München ein Beispiel dafür: Wir brauchen Forschungsinstitute, die auf faire, pluralistische, offene Art und Weise die Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik, vor allen Dingen die Geschichte der Menschen dort, neu schreiben, denn sie ist bis heute nicht geschrieben. Dazu muß einiges an Aufwand getrieben werden. Dafür brauchen wir Männer und Frauen, die in einem Institut zusammenarbeiten können. Dazu braucht es auch Geld. Ich denke, da muß der Bund gemeinsam mit den Ländern auch helfen, eine solche Einrichtung auf die Beine zu stellen.Es hat eine kurze heftige Diskussion gegeben, ob es nicht besser sei, die Stasi-Akten endgültig zu schließen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sie beiseite zu räumen, einen Strich zu machen, die Geschichte ruhen zu lassen. Die Gründe haben, so denke ich, nicht überzeugen können. Die Menschen haben einen Anspruch auf ihr ganzes Leben und auf ihre vollständige Geschichte. Deswegen ist das Stasi-Unterlagen-Gesetz so dringend nötig.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Herrn Eduard Lintner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Schluß dieser ersten Lesung für die Bundesregierung noch einige Bemerkungen machen. Zunächst einmal möchte ich mich bei den Beamten unseres Hauses und vor allem auch bei den Vertretern der Fraktionen ausdrücklich bedanken, die in intensiver und zugleich umsichtiger Weise diesen Gesetzentwurf beraten und erarbeitet haben. Ich möchte zugleich auch meiner Befriedigung darüber Ausdruck geben, daß der Geist an Gemeinsamkeit, der bei diesen Beratungen zum Ausdruck kam, mit einigen Ausnahmen auch hier in der Debatte wieder zum Ausdruck gekommen ist.
Meine Damen und Herren, die Größenordnung und Totalität der Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit hat uns doch überrascht. In den Außenstellen der Stasi und im Zentralarchiv in der Ostberliner Normannenstraße lagern etwa 6 Millionen Personendossiers, 4 Millionen betreffen ehemalige DDR-Bürger, 2 Millionen beziehen sich auf Bürger der alten Bundesrepublik. Der Aufwand, mit dem die Staatssicherheit ihren Zielpersonen nachstellte, ist schier unvorstellbar. Teilweise wurden bis zu 80 000 Informationen über eine einzige Person zusammengetragen, von Kontobewegungen bis zu ganzen Tagesabläufen. Ein wahres Netz von Spitzeln und Zuträgern wurde um die Opfer gelegt, eine Heerschar von hunderttausend hauptamtlichen Mitarbeitern, dazu meh-
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Parl. Staatssekretär Eduard Lintnerrere hunderttausend nebenamtliche Zuträger waren hierfür erforderlich. Nichts blieb gesichert, meine Damen und Herren, nichts blieb privat. Bis in die Intimsphäre hinein wurde alles aufgeschrieben, dokumentiert und heimlich weitergegeben, was den Spähern überhaupt nur erreichbar war. Die wahrhaft ekelerregenden Akten dieses Ministeriums geben davon Zeugnis.Ich gestehe, daß wir im Innenministerium angesichts dieser wahrhaft bedrückenden Hinterlassenschaft manchmal überlegt haben, ob man die Akten der Stasi nicht unbesehen einfach alle vernichten könnte. Ich bin mir auch sicher, daß viele Betroffene den Wunsch haben, daß die über sie gesammelten Unterlagen möglichst bald vernichtet werden. Es ist auch kein schönes Gefühl, zu wissen, daß da irgendwo Akten liegen, die einen in der einen oder in der anderen Weise kompromittieren könnten. Aber die Notwendigkeit der Rehabilitation und die Möglichkeit der Verteidigung gegen ungerechtfertigte Angriffe unter Berufung auf diese Akten haben dies im Interesse der Opfer selbst nicht ratsam erscheinen lassen.Wir sollten meines Erachtens aber in der Tat überlegen, ob wir die Aktenberge der Staatssicherheit unbefristet, ad infinitum aufheben sollen. Immerhin stellt dieser Aktenberg, auch bei noch so gewissenhafter Verwahrung, eine immense potentielle Gefährdung für die Persönlichkeitsrechte vieler unserer Bürger dar.Auf Wunsch der DDR, meine Damen und Herren, wurde am 18. September 1990 eine Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertrag abgeschlossen, mit der an den gesamtdeutschen Gesetzgeber die Erwartung gerichtet wurde, sich an den Grundsätzen des Volkskammergesetzes zu orientieren, nämlich die politische, historische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit der Stasi zu gewährleisten und den Betroffenen — übrigens unter Wahrung der schutzwürdigen Interessen Dritter — ein Auskunftsrecht einzuräumen. Der Sonderbeauftragte erhielt außerdem den Auftrag, eine Benutzerordnung zu erlassen.Der Gesetzentwurf, den wir hier heute behandeln, verfolgt vier Zwecke, die von den Vorrednern bereits ausführlich dargestellt worden sind. Deshalb kann ich aus Zeitgründen auf ein näheres Eingehen verzichten.Ich möchte aber eines herausheben: Den Strafverfolgungsbehörden und anderen Stellen sind die erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen, die sie zur Erfüllung ihrer rechtmäßigen Aufgaben benötigen. Nachrichtendienste haben keinen Zugang zu Unterlagen über Betroffene; aber ein totales Verbot für Nachrichtendienste, auf Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes zurückgreifen zu können, geht an den Erfordernissen unseres Rechts und an der Realität vorbei.Unterlagen, die Aufschluß über Spionage, gewalttätigen Extremismus sowie Terrorismus bieten, müssen den Nachrichtendiensten zur Verfügung stehen. Kein Mensch wird bestreiten, daß der Verfassungsschutz über derartige Zusammenhänge im Bilde sein muß.Die genannten Zwecke stehen natürlich untereinander in einem gewissen Spannungsverhältnis. So darf der Schutz der Betroffenen nicht dazu führen, daß die Verfolgung von Straftaten vereitelt wird. Der Nachweis mancher Straftaten ist nur durch die Verwendung dieser Unterlagen möglich, weil Tat und Folgen nur dort dokumentiert sind. Solche Fälle sind zumindest nicht von vornherein auszuschließen, insbesondere wenn es sich um Straftaten durch Angehörige des Staatssicherheitsdienstes handelt. Dann müssen auch diese Unterlagen herrangezogen werden können. Der Schutz von Betroffenen und Dritten wird dadurch sichergestellt, daß es verboten ist, Erkenntnisse aus diesen Unterlagen zum Nachteil dieses Personenkreises zu verwerten.Meine Damen und Herren, niemand wird auf die Idee kommen, daß diese Schnüffelakten immer nur die Wahrheit enthalten.
Niemand aber wird am Ende in der Lage sein, zwischen Wahrheit und Unwahrheit immer sauber zu entscheiden. Niemand wird die Gefahr übersehen dürfen, daß im Zweifel eben doch eher dem Akteninhalt geglaubt wird als dem Dementi eines durch die Akten Belasteten. Wir haben in dieser Richtung ja bereits Erfahrungen gemacht. Irgend etwas bleibt immer hängen nach dem Sprichwort: Wer sich zur Wehr setzt, weckt erst Verdacht und Mißtrauen, klagt sich sozusagen an. Auf diese Weise aber würden wir der Krake Staatssicherheitsdienst noch zu einem späten Triumph verhelfen.Eine unglaublich intensive Überwachung des Fernsprechverkehrs ist in diesen Akten aufgezeichnet. Der Staatssicherheitsdienst der DDR hat den Telefonverkehr, insbesondere auch im damaligen Bundesgebiet, in einem Umfang systematisch abgehört und mitgeschnitten, der alle Befürchtungen noch weit übertroffen hat. Tausende von Telefonanschlüssen wurden mit Hilfe technisch aufwendiger Computerautomaten rund um die Uhr überwacht. 6 000 Richtfunkspezialisten der Stasi-Hauptabteilung III waren damit beschäftigt, Autotelefone und Privatanschlüsse, Fern-schreib- und Funkverkehr im Westen systematisch anzuzapfen. Die Zahl der Aufzeichnungen und Dossiers über die belauschten Gespräche geht in die Hunderttausende.Von vielen dieser Abhörprotokolle gibt es Kopien in den Händen von Leuten, die Unheil anstiften oder sich schlicht bereichern wollen. Bereits in der ersten Jahreshälfte 1990 wurden dem Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst solche Kopien zugespielt. Der Bundesinnenminister entschied damals spontan, dieses Zeug zu vernichten. Um zu verhindern, daß Presseorgane und andere Schindluder mit gezielten Veröffentlichungen aus solchen Dossiers treiben, haben wir im letzten Jahr ein Gesetz verabschiedet, das die Publikation solcher rechtswidrig abgehörter Telefonate unter Strafe stellt.Der Gesetzentwurf, den wir hier beraten, sieht vor, daß jedermann, Behörden und Private, verpflichtet wird, den Besitz von Stasi-Unterlagen anzuzeigen und sie auf Anforderung dem Bundesbeauftragten herauszugeben. Die Medien sind von dieser Ver-
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Parlamentarischer Eduard Lintnerpflichtung selbstverständlich nicht ausgenommen. Verstöße gegen die Anzeigepflicht können als Straftat bzw. Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Wir wollen die Stasi-Akten aus den Händen unberechtigter Dritter zurückhaben. Wir müssen verhindern, daß sich mit der mißbräuchlichen Verwendung solcher Unterlagen noch auf unabsehbare Zeit weiter fortsetzt, was der Stasi den Menschen angetan hat.Der vorliegende Gesetzentwurf sieht meiner Ansicht nach einen gangbaren Weg vor, die sachlichen und rechtlichen Notwendigkeiten mit dem verständlichen Anliegen der neuen Länder, auf die Verwendung dieser Unterlagen Einfluß zu nehmen, in Einklang zu bringen. In dem vorgesehenen Beirat sollen die Mitglieder aus den neuen Ländern die Mehrheit bilden. Er erhält in allen wichtigen Angelegenheiten ein Mitspracherecht.Meine Damen und Herren, wir haben volles Verständnis für den Groll der Menschen in den neuen Ländern, deren Rechte von dem alten DDR-Regime mit Füßen getreten wurden, denen man Freiheit und Bürgerrechte vorenthielt, die man um ihre Lebenschancen gebracht hat. Ich verstehe auch das Bedürfnis, die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Ich verstehe ferner die Wut darüber, daß die Unterdrücker von einst scheinbar unangefochten noch heute in Positionen sitzen. Man kann aber nicht mit den Mitteln des Rechtsstaats versuchen, den Umsturz zu vollenden, die verbliebenen Köpfe sozusagen rollen zu lassen und Strafen zu verhängen, wo es eben keine Straftatbestände dafür gibt.Es hat noch zu jedem totalitären System gehört, mit den vielfältigen Methoden der Verstrickung eine Mitschuld aller zu erzeugen. Auf perfide Weise sind aus den Opfern Täter gemacht worden. Spitzel und Zuträger sind vielfach selbst nur durch Drohung und Erpressung zu diesen Spitzeldiensten genötigt worden. Wer den Mut aufbrachte, sich dagegen zu sträuben, mußte bleibende Benachteiligungen befürchten.Meine Damen und Herren, wir werden die Grenze ziehen müssen zwischen den Mitläufern und den Zuträgern auf der einen Seite und denen, die wirkliche Verbrechen begangen haben, die bestraft werden müssen, auf der anderen Seite. Wir haben uns immer wieder dafür ausgesprochen, uns auf die schweren Fälle von wirklicher Schuld zu konzentrieren, im übrigen aber eher großzügig als selbstgerecht vorzugehen.Ich gehe noch einen Schritt weiter: Auch diejenigen, die individuelle Schuld auf sich geladen haben, dürfen nicht auf Dauer ausgegrenzt werden. Auch sie müssen eine Chance erhalten, die Wiedereingliederung in Staat und Gesellschaft zu schaffen, wenn sie für ihr Unrecht zur Verantwortung gezogen worden sind. Wir werden also dafür sorgen müssen, daß auch die ehemaligen Stasi-Mitarbeiter, gegen die nichts vorliegt, was den Vorwurf der Strafbarkeit begründen könnte, wieder einen Platz in unserer Gesellschaft finden. Jeder muß die Chance erhalten, dazuzulernen.Um für unser Volk den inneren Frieden zu gewinnen, müssen wir auch die Kraft zur inneren Aussöhnung aufbringen — dies hat Bundeskanzler Kohl am 2. Oktober 1990 am Vorabend der deutschen Einheit in seiner Fernsehansprache erklärt. Wir können den inneren Frieden in unserem Land aber nicht finden, wenn sich ein Teil unserer Bürger nicht über die böse Erinnerung an die Unterdrückung vergangener Jahre erheben kann.Meine Damen und Herren, ich glaube, bei aller Notwendigkeit, die Vergangenheit aufzuarbeiten, müssen wir den weitaus größeren Teil unserer Kraft heute darauf verwenden, die Probleme der Gegenwart zu bewältigen und die Zukunft für unser Land zu gewinnen. Unsere gemeinsame Zukunft im vereinten Deutschland darf durch das Erbe der Staatssicherheit keinen Schaden erleiden.Ich danke Ihnen.
Damit ist die Aussprache geschlossen.Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/692 und 12/723 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf:a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteilter Personen— Drucksache 12/194 —Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/538 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer Dr. Hans de WithZweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Übereinkommens vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteilter Personen
— Drucksache 12/195 —Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/538 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer Dr. Hans de Withb) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
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Vizepräsidentin Renate SchmidtSammelübersicht 14 zu Petitionen— Drucksache 12/450 —c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 16 zu Petitionen— Drucksache 12/587 —d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 17 zu Petitionen— Drucksache 12/588 —Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen auf Drucksache 12/194. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/538, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.Ich rufe den Gesetzentwurf mit seinen Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Gesetzentwurf bei wenigen Stimmenthaltungen angenommmen.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ausführungsgesetzes zum Transferübereinkommen. Ich rufe die §§ 1 bis 15, Einleitung und Überschrift mit den vom Rechtsausschuß empfohlenen Änderungen auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind bei wenigen Stimmenthaltungen angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf auf den Drucksachen 12/195 und 12/538 zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Auch dieser Gesetzentwurf ist bei wenigen Stimmenthaltungen einstimmig angenommen.Des weiteren empfiehlt der Rechtsausschuß auf Drucksache 12/538 unter Buchstabe c die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist damit bei wenigen Stimmenthaltungen einstimmig angenommen.Wir kommen jetzt zur Beratung der Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/450, 12/587 und 12/588. Es handelt sich um die Sammelübersichten 14, 16 und 17 zu Petitionen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind bei wenigen Stimmenthaltungen angenommen.Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs einesSechsten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder"— Drucksache 12/22 —a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie und Senioren
— Drucksache 12/454 —Berichterstatter:Abgeordnete Christel Hanewinckel Herbert Werner
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/689 —Berichterstatterinnen:Abgeordnete Irmgard Karwatzki Dr. Sigrid HothDr. Konstanze Wegner
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Christel Hanewinckel.
Geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Herbst 1957 kam von der Firma Grünenthal GmbH das Arzneimittel Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid auf den Markt. Dieser Wirkstoff verursacht Mißbildungen, wenn er während der Frühschwangerschaft eingenommen wird. Zirka 7 000 Kinder sind in diesem Zeitraum mit entsprechenden Mißbildungen geboren worden. 4 000 dieser Kinder starben; 2 800 betroffene Kinder überlebten die Arzneimittelkatastrophe mit irreparablen Schäden.1961 wurde das Präparat aus dem Handel gezogen. 1968 wurde das Hauptverfahren gegen die Herstellerfirma eröffnet. Es wurde mit einem Vergleich 1970 beendet. Die Firma Grünenthal GmbH verpflichtete sich zu einer einmaligen Abfindung in Höhe von 100 Millionen DM. Die Verteilung sollte durch ein Treuhändergremium erfolgen, und zwar auf der Grundlage der Wertmaßstäbe für die Bemessung eines Schmerzensgeldes. Die Gewährung lebenslanger Renten war da nicht vorgesehen. Der Betrag von 100 Millionen DM hätte dazu auch nicht ausgereicht.Um die betroffenen Kinder insgesamt besserzustellen, hat die damalige Bundesregierung von sich aus weitere 50 Millionen DM zugunsten der Contergan-Opfer zur Verfügung gestellt. Die Einlage der Bundesregierung und die Mittel der Firma Grünenthal wurden in eine Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder" eingebracht, die der Bundesgesetzgeber mit einem Gesetz rechtlich absicherte. Das Gesetz bietet den Kindern bzw. heute den jungen Erwachsenen neben einer Kapitalentschädigung eine lebenslange Rente.
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Christel Hanewinckel1976 wurde das Stiftungsvermögen um weitere 50 Millionen DM aufgestockt, 1979 abermals um 170 Millionen DM, und zwar jeweils durch den Gesetzgeber. Der Bundestag verabschiedete dazu auch 1979 eine Entschließung, und zwar alle zwei Jahre zu überprüfen, ob die Renten den Lebenshaltungskosten angepaßt werden müssen. Auf dieser Grundlage wurden die Renten 1982, 1985 und 1988 von 6 bis 11 % linear angehoben.Entsprechend den vorangegangenen Anpassungen ist jetzt erneut eine Anhebung um 7,5 % wegen der gestiegenen Lebenshaltungskosten vorzunehmen. Die entstehenden Mehrkosten von etwa 1,62 Millionen DM werden vom Stiftungskapital bzw. von den Zinserträgen gedeckt.Ein Bericht über die momentane Ausbildungs-, Bildungs- und Arbeitssituation der jungen Erwachsenen lag dem Ausschuß für Familie und Senioren vor. Betroffene Kinder bzw. jetzt junge Erwachsene aus der DDR — sprich: jetzt aus den neuen Ländern — sind noch nicht bekannt. Bei entsprechender Meldung tritt die Stiftung auch für diesen Personenkreis ein.In der Ausschußberatung wurde der 6. Novelle einstimmig zugestimmt. Die SPD-Fraktion stimmt der 6. Novelle des Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder", Drucksache 12/22, zu.Danke schön.
Als nächster hat das Wort der Kollege Herbert Werner.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung und die Koalition haben es sich zum Inhalt ihrer Familien- und Sozialpolitik gemacht, die Situation der Behinderten zu verbessern. Wir haben heute in der zweiten und dritten Beratung über die Verbesserung der Renten aus dem Hilfswerk für behinderte Kinder — das sind Contergangeschädigte — zu befinden.Diese 1971 geschaffene Stiftung gewährt Renten, wie eben schon gesagt: zur Zeit 2 800, mit einem durchschnittlichen Wert von monatlich 615 DM im Jahre 1989. Daß daneben auch Kapitalentschädigungen bezahlt werden können und werden, sei hier nur am Rande im Hinblick auf die Situation in den neuen fünf Bundesländern angemerkt.Die Renten wurden das letzte Mal um 6 % , diesmal um 7,5 % angehoben. Von meiner Vorrednerin ist schon erwähnt worden, daß die Erhöhung mit 7,5 % höher liegt, als sich die reinen Nettolohnsummen erhöht haben. Das ist ebenfalls ein Beitrag zur Verbesserung der Lebenssituation dieser besonders benachteiligten Bürger.Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zu dem jüngst vom Bundesland Brandenburg gemachten Vorschlag sagen, das Hilfswerk generell in ein Hilfswerk für umweltgeschädigte Kinder umzuwidmen. Ich möchte schon hier deutlich machen, daß wir diesen Vorschlag mit großer Vorsicht behandeln müssen. Denn nicht nur widerspräche ein solches Verfahren dem Stiftungszweck, sondern es ergäben sich gegebenenfalls auch eine Fülle von Abgrenzungsschwierigkeiten im Hinblick auf die Leistungen der Krankenkassen und auch der öffentlichen Kassen, ganz abgesehen davon, daß es wohl keine durchschlagende Begründung dafür gibt, warum man dann nicht auch noch über den Bereich der umweltgeschädigten Behinderten hinaus andere Behinderte einbezieht. Deswegen ist dieser Vorschlag mit großer Vorsicht zu behandeln! Ich möchte heute kein definitives Urteil darüber abgeben, weil die Beratung noch ansteht. Aber ich möchte schon jetzt darauf hinweisen, daß wir sehr sorgfältig prüfen werden, wenn die Diskussion hierüber anhebt.Die Behinderten verdienen generell die Solidarität insbesondere der gesetzgeberisch Verantwortlichen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Wir wissen, daß Solidarität mit Behinderten nicht nur materielle, sondern auch immaterielle Hilfe und Zuwendungen beinhaltet. Ich meine — das möchte ich hier ganz bewußt sagen — , die Behinderten sind für uns alle eine Chance. Denn sie vermitteln uns immer wieder das Bewußtsein, unser Leben nicht ausschließlich unter den Wahn des Berechenbaren, des Nutzbringenden, des Perfekten zu stellen, sondern dieses Leben in der Tat so zu nehmen, wie es sich als Herausforderung einem jeden stellt. Deswegen ist das Leben mit Behinderten und der Umgang mit behinderten Menschen auch für unsere eigene Selbsterkenntnis und unser Selbstverständnis so wichtig. Ich möchte unterstreichen: Behinderten zu helfen und sie so weit wie möglich am Alltagsleben teilnehmen zu lassen sollte eine Selbstverständlichkeit sein und nicht des besonderen Lobes hervorragenden humanitären Verhaltens bedürfen.
Bezüglich der Contergan-geschädigten behinderten Mitbürger möchte ich darauf hinweisen, daß es auch für die fünf neuen Bundesländer die Möglichkeit geben wird, jetzt die betroffenen Mitbürger entsprechend zu erfassen und auch diese Mitbürger in den Genuß des Fonds des Hilfswerkes kommen zu lassen.Ich möchte aber noch zwei Komplexe, die mich bewegen, ganz kurz ansprechen: In der letzten Zeit sind mir wiederholt aus dem Bereich der Contergan-geschädigten Mitbürger Schwierigkeiten in Verbindung mit der Überprüfung der Minderung der Erwerbsfähigkeit vorgetragen worden, insbesondere dann, wenn sich gemäß dem Gesundheits-Reformgesetz eine Überprüfung der Minderung der Erwerbstätigkeit und in der Folge eine Neufestsetzung des Pflegegeldes ergab. Teilweise wurden Pflegegelder nach dem Bundessozialhilfegesetz — diese Leistungen sind ja, wie Sie wissen, gegenüber den Leistungen etwa der Krankenkassen und des Pflegegeldes nach dem GRG nachrangig — im Ergebnis herabgesetzt. Im Einzelfall vorzubeugen oder abzuhelfen, ist nicht die Aufgabe des Bundesgesetzgebers, sondern dies liegt in der Zuständigkeit der Länder, der Kreise, der Kommunen. Aber ich möchte ganz herzlich die betroffenen Behörden bitten, hier großzügig zu verfahren, damit es bei den Überprüfungen der MdE eben nicht zu
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Herbert Werner
unerwarteten Minderungen des Pflegegeldes auch nach dem Bundessozialhilfegesetz kommt.Das zweite Problem möchte ich ansprechen. Es ist ein Problem, das alle Behinderten berührt: die Schwierigkeit, einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden. Gerade Behinderte sind immer wieder in der besonderen Schwierigkeit, behindertengerechte Arbeitsplätze zu erhalten. Die Pflichtquoten werden beim Bund und werden beim Öffentlichen Dienst insgesamt eingehalten. Leider sind die privaten Arbeitgeber bisher nicht der sechsprozentigen Pflichtquote nahegekommen. Ich meine, insbesondere die Contergan-geschädigten und behinderten Mitbürger beweisen allüberall in den Betrieben und im Alltag, daß sie eine vollwertige Arbeitsleistung zu erbringen in der Lage sind. Ich möchte deswegen auch hier an dieser Stelle ganz herzlich an unsere Wirtschaft, an die Behörden und Verwaltungen appellieren, verstärkt die Behinderten einzustellen, denn wir brauchen sie, wir wollen sie in Betrieb und Alltag. Sie leisten eine wertvolle Arbeit für uns alle.
Das Wort hat der Kollege Norbert Eimer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute die sechste Änderung des Gesetzes über die Errichtung der Stiftung Hilfswerk für behinderte Kinder. Auch diese Änderung bedeutet wieder eine Erhöhung der Zahlungen für den betroffenen Personenkreis. Nach einem Beschluß des Bundestages von 1979 — das wurde von meinen Vorrednern schon gesagt — sollen alle zwei Jahre diese Zahlungen überprüft werden. Die Lebenshaltungskosten sind in den Jahren seit der letzten Erhöhung um 6,1 % gestiegen. Wir erhöhen um 7,5 %, also eine deutliche Verbesserung. Wir stimmen dem Gesetz zu.
Ich glaube, nach dem, was meine Vorredner gesagt haben, könnte ich eigentlich hier schon die Rede beenden, wenn nicht vom Land Brandenburg die siebte Änderung im Bundesrat auf den Tisch gelegt worden wäre.
So soll zukünftig auch Hilfe für umweltgeschädigte Kinder aus besonders belasteten Gebieten der neuen Länder gewährt werden. Meine Damen und Herren, das wird so wohl nicht gehen. Die Stiftung für behinderte Kinder hat ihren Anfang und ihre Ursache in einer Arzneimittelkatastrophe, und die betroffene Firma zahlte in diese Stiftung ein. Ich persönlich glaube nicht, daß eine Ausweitung so ohne weiteres möglich ist. Ich halte sie auch für falsch. Die genannten umweltbedingten gesundheitlichen Schäden werden durch unser soziales System bereits abgedeckt. Wenn Verbesserungen notwendig sind, sind wir bereit, das dort zu tun, wo es getan werden muß, in dem Umfang, wie es erforderlich ist, und so zügig, wie es möglich ist.
Der Finanzierungsvorschlag des Antrags aus Brandenburg deutet allerdings weniger auf Hilfen für umweltgeschädigte Kinder aus den besonders belasteten Gebieten der neuen Länder hin, sondern mehr auf eine parteipolitische Propagandaschau. Das Vermögen dieser Stiftung muß denen vorbehalten bleiben, für die es gedacht ist. Für andere Probleme müssen andere, neue Wege gegangen werden.
Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Barbara Höll.
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Abgeordnete! Wenn es darum geht, entsprechend dem Anstieg der Lebenshaltungskosten und der Nettoeinkommen die Renten jener Menschen anzuheben, deren Lebensqualität infolge Conterganschädigung zutiefst beeinträchtigt ist, dann ist diesem Anliegen grundsätzlich zuzustimmen.
Jedoch sollten wir uns anläßlich dieses Änderungsgesetzes über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder" in die Pflicht nehmen und die Frist für das Erheben eines Anspruchs auf eine solche Rente in den neuen Bundesländern nicht nur um weitere drei Jahre verlängern, sondern diese Anspruchsberechtigung vor allem dort öffentlich machen. Meiner Meinung nach ist damit zu rechnen, daß unter den Bedingungen der offenen Grenze bis 1961 und über vielfältige Kanäle auch danach dieses Medikament in die DDR gelangt ist und auch dort zu gesundheitlichen Schäden geführt hat.
Zweitens sollte es uns Anlaß sein zu prüfen, ob wir heute alle gesetzgeberischen Möglichkeiten für eine Wiederholung solchen Leids ausgeschlossen haben. Ich glaube: nein; denn immer öfter klagen Ärzte darüber, daß aus den Beschriftungen von Arzneimitteln nicht in jedem Fall deren qualitative und quantitative Zusammensetzung hervorgeht und sie nicht in der Lage sind, Dosis, Verträglichkeit und Nebenwirkung konkret und für den Patienten individuell abzuschätzen und festzulegen.
Drittens und nicht zuletzt sollte uns das zutiefst humanistische, parteiunabhängige Anliegen des Hilfswerks für behinderte Kinder bestärken, Menschen mit chronischen Krankheiten, mit physischen und psychischen Behinderungen bzw. Menschen in sozialen Notlagen mehr gesetzgeberische Aufmerksamkeit und Verantwortung entgegenzubringen. Die Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder" könnte dabei durchaus als Modellfall für weitere politische Lösungen dienen.
Ich danke Ihnen.
Als nächstes hat das Wort die Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie und Senioren, Frau Roswitha Verhülsdonk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, ich kann es mir nach den Ausführungen der Vertreter aller Fraktionen sparen, noch einmal darzustellen, was der Inhalt des Gesetzes ist. Ich möchte vor
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Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonkallem auf einige Bemerkungen eingehen, die im Verlauf der Debatte vorgetragen worden sind.Wichtig ist mir, noch einmal darzustellen, daß es sich um eine Anhebung der Conterganrenten um 7,5 %, und zwar rückwirkend zum 1. Januar, handelt, die wir heute hier beschließen wollen.Die Geschichte der Stiftung ist bereits dargestellt worden, nämlich daß die Firma Grünenthal 100 Millionen DM zum Ausgleich der Ansprüche zur Verfügung gestellt hat. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß das Bundesverfassungsgericht den Deutschen Bundestag in einem Urteil aus dem Jahre 1976 auf die Notwendigkeit der Anpassung dieser Leistungen hingewiesen hat. Dementsprechend erfolgten die Anpassungen, von denen hier eben die Rede war.Ich möchte noch darauf verweisen, weil das hier nicht gesagt worden ist, daß die durchschnittlichen Renten etwa 550 DM betragen. Ich möchte einem Irrtum, der in der Öffentlichkeit immer wieder auftaucht, entgegentreten: Es handelt sich bei dieser Rentenhöhe von 550 DM nicht um eine Rente, die den Lebensunterhalt sichern soll, sondern es handelt sich um eine Schadensrente; ich könnte auch sagen: Es handelt sich um etwas ähnliches wie das Schmerzensgeld. Diese Renten sind als Ausgleich für besondere Nachteile gedacht, die die Betroffenen durch die Conterganschäden erlitten haben, und zwar sowohl im psychischen als auch im physischen Bereich. Auch im Ausschuß ist die Frage diskutiert worden: Kann man davon leben? — Dafür sind diese Renten nicht gedacht.Es ist gesagt worden, daß von der Verbesserung, die jetzt eintreten soll, 2 800 Leistungsberechtigte profitieren werden. Ich möchte, weil diese Zahl nicht genannt wurde, hinzufügen, daß seit dem Bestehen der Stiftung immerhin 399 Millionen DM an Leistungen aufgebracht wurden, zuzüglich 120 Millionen DM, die als Zuschüsse zur Förderung von Behinderteneinrichtungen bewilligt wurden.
Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Seifert?
Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, Sie sprachen von Nachteilsausgleich im Zusammenhang mit der Rente, was ich sehr gut finde. Gibt es in Ihrem Ministerium Überlegungen, einen derartigen Nachteilsausgleich auch für Menschen mit anderen Behinderungen — denn die haben ja die gleichen Nachteile — möglichst bald einzuführen, zwar auf einer anderen Grundlage, aber zumindest mit der gleichen Wirkung für die Betroffenen?
In der Rechtsordnung der Bundesrepublik, Herr Kollege, gibt es eine ganze Reihe von Schadensrenten — zum Teil ist auch die Kriegsopferrente eine solche Leistung — für bestimmte Personengruppen. Darüber hinaus gibt es in der Bundesrepublik Deutschland fürBehinderte eine ausgedehnte Gesetzgebung, die zum Teil auch unterhaltssichernden Charakter hat.Ich möchte aber meine Ausführungen zu Ende bringen und darauf hinweisen, daß wir jetzt eine Fristverlängerung für die Mitbürger in den neuen Bundesländern vornehmen, die zum Teil vielleicht erst jetzt auf die Möglichkeit, aus der Stiftung eine Rente zu bekommen, aufmerksam gemacht werden. Wir wollen die Frist auf Ende 1993 festsetzen. Da das von Ihnen, Frau Dr. Höll, soeben angesprochen worden ist: Die Frau Ministerin hat persönlich alle Sozialminister der sechs neuen Länder angeschrieben und sie darum gebeten, eine entsprechende Information an die Ärzte und an die interessierten Stellen zu geben, damit das in den neuen Ländern bekannt wird.Aber ich möchte auch darauf hinweisen, daß es notwendig ist, nachzuweisen, daß es sich tatsächlich um einen Contergan-Geschädigten handelt. Das dürfte nach Ablauf so langer Zeit natürlich nicht so ohne weiteres möglich sein. So sind uns bisher auch nur fünf Fälle bekanntgeworden, in denen eine entsprechende Rente beantragt worden ist. — Es ist ja bekannt, daß immer wieder Medikamente von West nach Ost verbracht worden sind. — Diese Fälle sind hier inzwischen auch angemeldet worden.Ich möchte die Kollegen aus den neuen Ländern auch darauf hinweisen, daß sich die Höhe der Rente, die neuen Antragstellern gewährt wird, nach der Schwere des Körperschadens richtet und daß die Anerkenntnis der Schädigung durch die Fachärztekommission der Stiftung erfolgen muß. Das ist aber auch in dem Brief, der an die Sozialminister geschickt worden ist, alles mitgeteilt worden.Nachteile brauchen Antragsteller aus den fünf neuen Bundesländern nicht zu befürchten. Im Falle einer Anerkennung als Contergan-Geschädigter ist sichergestellt, daß die Leistungen vom Zeitpunkt der Antragstellung an und nicht erst vom Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag an gewährt werden. Das kann bei einer so schwierigen und so weit rückwärts reichenden Untersuchung eventuell längere Zeit dauern.Ich denke, wir sind in einer besonderen Verantwortung gegenüber diesen benachteiligten Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Alle Fraktionen haben ihre Zustimmung hier schon angedeutet.Ich möchte meinen letzten Gedanken darauf verwenden, zu sagen, daß der Antrag Brandenburg noch nicht zu einer Meinungsbildung in der Bundesregierung geführt hat. Aber die Einwendungen, die der Herr Kollege Eimer vorgetragen hat, scheinen mir doch recht beachtenswert zu sein.
Wenn man also etwa Parteivermögen einer Stiftung zuführt, dann darf es sicher nicht mit einem Stiftungsvermögen vermischt werden, das von einer Firma kommt. Allein deshalb schon würde sich anbieten, eine eigene Stiftung zu gründen, sofern man dem Gedanken überhaupt nähertritt.Dem Herrn Kollegen Werner will ich nur sagen: Wir wollen die Frage der Anrechnung des Pflegegeldes nach Möglichkeit gesetzlich regeln. Die Sozialmini-
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Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonkster aller 16 Länder sind angeschrieben und gebeten worden, zuzustimmen, daß wir dem Vorschlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge beitreten und 50 % des Pflegegeldes nicht auf die Sozialhilfe anrechnen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung. Der Ausschuß für Familie und Senioren empfiehlt, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich rufe die Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich ums Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit einstimmig so angenommen.
Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf auf Drucksachen 12/22 und 12/454 zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 und den Zusatzpunkt 5 auf:
8. Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Anneliese Augustin, Richard Bayha, Meinrad Belle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink, Dirk Hansen, Heinz-Dieter Hackel, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes
— Drucksachen 12/473, 12/497 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft
— Drucksache 12/707 —
Berichterstatter:
Abgeordnete
Alois Graf von Waldburg-Zeil Doris Odendahl
Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftordnung
— Drucksache 12/708 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Hinrich Kuessner Dr. Klaus-Dieter Uelhoff
Carl-Ludwig Thiele
ZP5 Erste, zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines 14. Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (14. BAföGÄndG)
— Drucksache 12/730 —
Interfraktionell ist vereinbart, den textgleichen Regierungsentwurf heute in erster, zweiter und dritter Beratung mitzubehandeln. Darf ich davon ausgehen, daß Sie mit diesem Verfahren einverstanden sind, das nach § 80 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung möglich ist? — Sie sind einverstanden. Dann ist das mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen.
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP liegen ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der SPD vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich sehe auch dazu keinen Widerspruch. — Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Graf Alois von Waldburg-Zeil.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei der ersten Lesung dieser kleinen, aber notwendigen Gesetzesveränderung in Berlin hatten die Redner aller Fraktionen ihre Ausführungen zu Protokoll gegeben.
— Gegen Mitternacht.Eigentlich hätte ich erwartet, daß die zweite und dritte Lesung ohne Aussprache erfolgen könne, denn schließlich geht es darum, so schnell wie möglich bei der Beantragung des BAföG in den neuen Ländern die Änderung der Einkommensverhältnisse im Berichterstattungszeitraum berücksichtigen zu können. Die Notwendigkeit dieser Maßnahme wird auch von niemandem bestritten.Der Grund, warum wir uns noch einmal in Redebeiträgen äußern, ist, daß gutem parlamentarischen und föderalistischen Brauch folgend, nun doch noch der Versuch gemacht wurde, einem ganz kleinen Gesetz eine etwas größere Wirkung zu verschaffen.Die SPD hat im Ausschuß vier Zusatzanträge gestellt. Der Bundesrat hat die Mehrheitsforderung seines Kulturausschusses, die dem Bundestagsausschuß bei seinen Beratungen bereits bekannt war, aufgegriffen. Wenn die Regierungskoalition diese Vorschläge, die von der SPD heute in geänderter Form wieder vorgelegt werden, nicht übernommen hat, dann sicher nicht, wiederum einem parlamentarischen Brauch folgend, damit daß das Spiel ohne Grenzen der Opposition mit dem Zaun des Haushalts versehen werden soll, sondern es geht tatsächlich um schwerwiegendere Bedenken, die ich gern an der Problematik an der Aktualisierung der Eltern- und Ehegatteneinkommen, rückwirkend ab 1. Januar 1991, wie vom Bundesrat und jetzt von der SPD im Ausschuß gefordert, im Bundestag wiederum darstellen möchte.
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Alois Graf von Waldburg-ZeilIn der „Thüringischen Landeszeitung" vom 28. Februar dieses Jahres stand ein Artikel mit der Oberschrift: „Schlangestehen für ein Stück vom BAföG-Kuchen". Der Untertitel lautete: „Das Studentenwerk Thüringen versinkt in einer Flut von Anträgen." Dann war dargestellt, wie ein Mathematiker, der nun zum BAföG-Helfer ausgebildet werden sollte, der zwei Wochen lang einen intensiven Kurs gemacht hat, dann zwei Wochen ins Saarland verschickt wurde, dann noch einmal zwei Wochen einen Berater an die Hand bekam.
Der hat aber in diesem Zeitungsartikel mit Recht darauf hingewiesen, daß sein Kollege in den alten Bundesländern drei Jahre Verwaltungshochschule gemacht hat, dann ein ganzes Jahr lang Einarbeitung mit jemandem, der etwas davon versteht. Für ihn ist es nun eine schwierige Angelegenheit, sich dieser Flut von Anträgen zu stellen.Ich glaube, an diesem Beispiel läßt sich deutlich machen, daß auf der einen Seite trotz dieser Schwierigkeiten — ich habe das in Berlin schon bei der ersten Lesung zu Protokoll gegeben — die Verwaltung es geschafft hat, bis jetzt mit den Anträgen fertigzuwerden. Wenn aber die jetzige Novelle zur Neuregelung bei den neuen Anträgen nochmals rückwirkende Antragstellung zuließe, d. h. eine Aufreißung, Änderung eines großen Teils der alten Bescheide mit einer neuen Maßgabe, an die die neuen Berater noch gar nicht gewöhnt sind, wäre diese junge Verwaltung vollständig überfordert.Deshalb war es sicher kein Zufall, daß der Antrag Brandenburgs im Kulturausschuß des Bundesrates zwar eine Mehrheit fand, aber keine Zustimmung von drei der betroffenen neuen Länder. Es gab also eine Mehrheit der alten Länder, die die Bedenken der neuen Länder überstimmt hat. Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt waren im Kulturausschuß dagegen.Ich führe dies deshalb so detailliert aus, weil hier wirklich zu entscheiden ist zwischen einem wirklich guten Anliegen, eine Aktualisierung noch aktueller und damit noch gerechter zu machen, und der Gefahr, durch die Perfektionierung dieser Regelung einen Antragsstau und damit letzten Endes mehr Schwierigkeiten für die Betroffenen heraufzubeschwören, als durch die realistisch gesehene Regelung gutgemacht werden könnte.Der andere Antrag betrifft die Anhebung der Bedarfssätze in den neuen Ländern. Hier muß man zwischen Wünschenswertem und Vertretbarem unterscheiden. Wenn das Tarif- und Gehaltsniveau ca. 60 desjenigen der alten Länder beträgt und wenn die Eckrenten ab dem 1. Juli 1991 50,8 % betragen, so kann man nicht eine Gruppe, nämlich die Studenten, herausgreifen und mit einem gewaltigen Ruck in Richtung 100 % gehen.Man könnte eine andere Begründung finden, nämlich sagen, die Lebenshaltungskosten seien gestiegen, und deshalb müsse man anpassen. Aber gerade bei einem Punkt, der für die Studenten von großer Bedeutung ist, nämlich der Fahrt zur Universität, zeigtsich z. B. die Möglichkeit, daß man mit der Reichsbahn für 20 Pf reisen kann, während man für die Fahrt mit der U-Bahn in West-Berlin 2,70 DM zahlen muß. Sie sehen also: Auch hier ist es noch gerechtfertigt, die Unterschiede beizubehalten.Schließlich hat die SPD im Ausschuß erneut mit der Beharrlichkeit des alten Cato die Wiedereinführung des Schüler-BAföG alter Form eingefordert. Darüber haben wir uns bei mehreren BAföG-Novellen unterhalten.Ich muß hierzu wie zum vorigen Punkt, der Bedarfsangleichung, sagen: Wir verhandeln hier nicht über die in regelmäßigen Abständen vorzunehmenden Erhöhungen der Bedarfssätze; dies wird Gegenstand der 15. BAföG-Novelle sein. Wir beschließen hier ausschließlich eine in den neuen Ländern notwendig gewordene Anpassung, wenn man von der Korrektur absieht, die im Zusammenhang mit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vorgenommen werden. mußte.Ich darf abschließend bitten, dem ja unumstrittenen Kern der kleinen Novelle zuzustimmen, damit die Begünstigten so rasch wie möglich in den Genuß der neuen Möglichkeiten kommen können.Allerdings hat die SPD nun den Punkt 4 ihrer im Ausschuß vorgelegten Anträge heute als Entschließungsantrag unterbreitet. In diesem Fall — Sie sehen, wir beschäftigen uns mit Ihren Anträgen intensiv — kann ich ankündigen, daß wir zustimmen werden.
Damit komme ich noch einmal zu dem Kern des Anliegens. Wir halten die Verwaltung des Ministeriums für durchaus in der Lage, diese Fragen, deren Beantwortung eingefordert wird, für uns zu dem verlangten Termin zusammenzustellen. In diesem Fall stimmen wir mit Ihnen.
Nur, wenn wir meinen, daß die neue Verwaltung überfordert ist, haben wir den anderen Weg gewählt.Herzlichen Dank.
Als nächste hat die Kollegin Doris Odendahl das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der langen Geschichte des BAföG gibt es, seit die jetzige Regierung Hand — ich sage nicht: Axt — an das Gesetz gelegt hat, einen immer gleichbleibenden Auftakt: Sie spitzen den Mund; alle warten gespannt auf das richtungsweisende Signal; heraus kommt leider meistens nur ein ganz kläglich Pfifflein oder gar, wie jetzt bei dieser 14. BAföG-Novelle — Verzeihung, Herr Minister —, nur heiße Luft.Allerdings gibt es diesmal eine ganz sonderbare Variante der Entstehungsgeschichte. Da legen die Abgeordneten der Regierungskoalition den Entwurf zur Änderung des BAföG vor und begrüßen darin einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der dem
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2386 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Doris OdendahlDeutschen Bundestag erst heute zur ersten Lesung vorliegt.
Ich kann ja ganz gut verstehen, daß man damit dem eigenen, aus Ost-Deutschland kommenden Bildungsminister ein wenig mit der Absicht auf die Sprünge helfen wollte — jetzt beziehe ich mich auf den Inhalt dieser 14. BAföG-Novelle — : Es kostet nichts, aber es beruhigt. Daß allerdings in der Drucksache 12/473 schon vermerkt ist: „Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen" , wurde zum Glück von der Wirklichkeit eingeholt.Der Bundesrat hat nämlich inzwischen Änderungsanträge eingebracht, die sich wiederum mit Anträgen decken, die die SPD-Bundestagsfraktion im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zur Abstimmung stellte und die Ihre Zustimmung leider nicht gefunden haben. Ich gehe darauf jetzt im einzelnen ein.Erstens: Einkommensermittlung. Die Bestimmungen des § 24 Abs. 1 a benachteiligen diejenigen Auszubildenden in den neuen Ländern, deren Eltern-bzw. Ehegatteneinkommen im Laufe des Jahres 1991 wesentlich niedriger als in den Monaten Oktober bis Dezember 1990 liegen. Zunehmende Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit in den neuen Ländern erfordern die rückwirkende Inkraftsetzung der Bestimmungen des § 24 Abs. 3, weil sonst die Ungleichbehandlung bei im Laufe des ersten Halbjahres 1991 aufgetretenen Ungerechtigkeiten bis zum 31. Juli und bei Bewilligungszeiträumen, die nach dem 31. Juli 1991 bzw. vor dem 1. Oktober 1991 beginnen, fortbestünden.Die Ausbildungsförderungsämter in den neuen Ländern sind — dafür braucht man nicht BAföGologie studiert zu haben — durchaus in der Lage — sie haben das ausdrücklich bestätigt — , die Anträge auf Berücksichtigung der tatsächlichen Einkommensverhältnisse von betroffenen Auszubildenden mitzubearbeiten. Es wäre rechts-, bildungs- und sozialpolitisch nicht zu vertreten, wenn bei der BAföG-Berechnung in den neuen Ländern Einkommensbestandteile angerechnet würden, die Auszubildenden, ihren arbeitslosen oder kurzarbeitenden Eltern oder Ehegatten überhaupt nicht mehr zur Verfügung stehen. Darum geht es doch.
Zweitens: Angleichung der Bedarfssätze. Wir hatten unsere Zustimmung zu der Angleichung der Bedarfssätze in den neuen Bundesländern von vornherein davon abhängig gemacht, daß sich die Lebenshaltungskosten so entwickeln, wie bei der ersten Festlegung vermutet wurde. Die Differenzen bei den Bedarfssätzen zwischen den alten und neuen Ländern sind durch den anhaltenden raschen Preisanstieg in den neuen Ländern nicht länger gerechtfertigt.Es ist deshalb jetzt erforderlich, zumindest die Grundbedarfssätze in den alten und neuen Ländern anzugleichen. Das gleiche gilt auch für die Studentenmieten. Denn inzwischen hat sich herausgestellt, daß die Studentenwerke, z. B. in Thüringen, angehalten wurden, die Mieten in den Wohnheimen ebenfalls anzugleichen, d. h. ganz drastisch zu erhöhen.Des weiteren ist zu berücksichtigen, daß die Studierenden in den ostdeutschen Ländern derzeit überhaupt keine Möglichkeiten haben, sich durch einen Job oder dergleichen ihre Existenzkosten mit zu sichern.Die Tatsache, daß das allgemeine Einkommensniveau in den neuen Ländern derzeit durchschnittlich 60 To des Niveaus in den alten Ländern beträgt — für Rentnerinnen und Rentner liegt es immer noch darunter —, spricht nicht gegen die Anhebung der Bedarfssätze. Dieser Vergleich sagt überhaupt nichts darüber aus, wie hoch der Bedarf von Auszubildenden anzusetzen ist. Dieser Vergleich belegt aber in einem weiteren Punkt, daß Studierende in den neuen Bundesländern durchaus kalkulierbare Hilfen, die in den alten Ländern üblich sind, z. B. durch Großeltern und andere Verwandte, überhaupt nicht zu erwarten haben.Drittens. Graf Waldburg, da haben wir Sie nicht überrascht: Wir fordern die Wiedereinführung des Schüler-BAföG,
wie sie auch der Beirat für Ausbildungsförderung als bildungs- und sozialpolitisch konsequenteste Lösung vorgeschlagen hat, um Chancengleichheit im Bildungswesen zu erreichen. Die Realisierung dieses Vorschlags zu diesem Zeitpunkt ist um so dringender geboten, als es in den neuen Ländern keine Regelungen mehr zur Schülerförderung gibt und in absehbarer Zeit — das wissen wir — auch nicht geben kann, auf die die Betroffenen verwiesen werden könnten.Die Wiederaufnahme der Schülerförderung durch den Bund ist auch deshalb geboten, damit die betroffenen Familien wegen der Finanzierung der Ausbildung ihrer Kinder nicht Sozialhilfe beantragen müssen und damit die Kommunen mit den Kosten und dem erheblichen zusätzlichen Verwaltungsaufwand nicht allein belastet werden. Ihnen hier wiederum neue Kosten aufzubürden konterkariert den von Ihnen selbst in Gang gesetzten Aufschwungplan Ost.
Wir stellen diese Änderungsanträge bei der zweiten Lesung des Koalitionsentwurfs wie schon im Ausschuß, so auch hier erneut zur Abstimmung. Sie sollten die Chance wahrnehmen, jetzt den auch vom Bundesrat für notwendig erachteten Änderungen zuzustimmen.Keine Sorge: Ich berufe mich dabei nicht nur auf die für Sie noch immer ungewohnten neuen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat, sondern berufe mich ausdrücklich auch auf Voten aus den neuen Ländern, die in der Beurteilung der Lage der Studierenden wohl etwas näher an den Realitäten sind, als das in Ihrem Gesetzentwurf zum Ausdruck kommt.Mit dem Finanzierungsargument, meine Damen und Herren, können Sie kaum anrücken. Der in der vergangenen Woche vom Bundesbildungsminister
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Doris Odendahlvorgelegte Haushalt weist aus, daß diese Mehrkosten im Rahmen des BAföG schon allein durch die ebenfalls ausgewiesenen Darlehensrückflüsse aufzubringen wären. Wenn allerdings Herr Minister Ortleb dadurch den Gesamtplafond des Bildungshimmels einstürzen sieht — das kann ich mir gut vorstellen — , ist das darauf zurückzuführen, daß auch Sie den BAföG-Topf zur allgemeinen Verwendung insbesondere für Ihre viel zu spät gestartete Lehrstellenhilfe freigegeben haben.
Angesichts der Situation der Studierenden ist das eine nicht länger zu verantwortende Praxis.Sollten Sie sich dieser Einsicht aber auch weiterhin verschließen, werden wir diesen jetzt von der Regierungskoalition vorgelegten Gesetzentwurf mit der Note „ungenügend" ablehnen. Auch für den auf dem Schleichweg von der Bundesregierung nun zur ersten, zweiten und dritten Lesung gleichzeitig eingebrachten
und dem Bundesrat noch gar nicht vorliegenden Gesetzentwurf trifft das zu. Die Bundesregierung hat sich durch dieses parlamentarisch unsaubere und verfassungspolitisch äußerst bedenkliche Verfahren um die Chance gebracht, ihren Gesetzentwurf doch noch zu korrigieren und somit den Erwartungen der Länder Rechnung zu tragen.
Zur dritten Lesung des heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurfs bringen wir einen Entschließungsantrag ein, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, dem Deutschen Bundestag bis zum 31. Dezember 1991 einen Bericht zu der Frage vorzulegen, welche Änderungen des BAföG sie im Hinblick auf die Schaffung des Europäischen Binnenmarktes ab 1. Januar 1993 für erforderlich hält. Wir erwarten, daß diesem Bericht eine Stellungnahme des BAföG-Beirats und der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung beigefügt wird.Bei dieser Problematik gehe ich davon aus, daß Sie heute, im Gegensatz zu Ihrer Abstimmung im Ausschuß — ich freue mich, Graf von Waldburg, daß Sie das schon signalisiert haben — , dem Antrag zustimmen. Damit wäre dann nämlich wenigstens sichergestellt, daß nicht schon wieder ein neuer Fleckerlteppich in der BAföG-Landschaft im Hinblick auf den Europäischen Binnenmarkt entsteht.Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Dietmar Keller.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Inzwischen beginnt in diesem Hause selbst bei einigen Regierungsmitgliedern die Erkenntnis um sich zu greifen, daß man in Ostdeutschland nicht dadurch gleiche Verhältnisse wie in Westdeutschland schafft, indem man alles wie in Westdeutschland regelt, sondern sich diesem Wunsch nur nähern kann, wenn man von den Verhältnissen ausgeht, wie sie nun mal sind.
Die Ausdehnung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes auf das sogenannte Beitrittsgebiet ist nur ein kleines Beispiel verfehlter und verfrühter Ausdehnungsakte auf wissenschafts- und bildungspolitischem Gebiet, welches allerdings auch besondere Feinheiten und auch Bosheiten hat. Dazu gehört die diskriminierende Einschränkung, daß die Berechnungsgrundlage ausgerechnet in Ostdeutschland nicht aktualisiert werden durfte, also die BAföG-Zahlungen nicht der für jedermann voraussehbaren ungünstigen Einkommensentwicklung angepaßt werden konnten. Der vorliegende Entwurf schreibt diese Diskriminierung sogar rückwirkend fest, indem er eine Aktualisierungsmöglichkeit nur für den kommenden Bewilligungszeitraum ab 1. August dieses Jahres vorsieht. Daß mit der BAföG-Ausdehnung nebenbei auch die Ausbildungsbeihilfen für Schüler ab Masse 11 wegfielen und die jungen Ostdeutschen mit aus der Luft gegriffenen Begründungen durch geringere BAföG-Sätze a priori schlechter gestellt werden als ihre westdeutschen Ausbildungsgefährten, vervollständigt nur das Bild.
Das komplizierte und über Jahrzehnte gewachsene bundesrepublikanische BAföG beruht auf einer einfachen und schlichten Grundvoraussetzung. Diese Voraussetzung ist eine begüterte Elternschaft. Da es diese begüterte Elternschaft in nennenswertem Maße in Ostdeutschland nicht gibt und auch in den nächsten Jahren nicht geben wird, ist die Ausdehnung des altbundesdeutschen BAföG auf Ostdeutschland letztlich einer der von der Bundesregierung und den ihr angehörenden Parteien zahlreich gewordenen Bumerangs, der in Gestalt eines riesigen und teuren Verwaltungsaufwands und von Unmut und Verdrossenheit der Betroffenen zurückschlägt.
Hätte man BAföG für einen Übergangszeitraum in Kenntnis der ostdeutschen Einkommensverhältnisse ganz ohne Antrag entsprechend der besuchten Schuloder der Ausbildungsart und in westdeutscher Höhe gewährt und wäre das BAföG parallel zur Entwicklung der Einkommensverhältnisse, schrittweise beginnend mit einer Antragspflicht bei höheren Einkommen, eingeführt worden, wäre das wahrscheinlich billiger gekommen als die krampfhaft hin- und hergewendete Ausdehnung.
Danke.
Das Wort hat der Kollege Dirk Hansen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich nehme, Frau Odendahl, Ihre Eingangsbemerkung durchaus als Kompliment für die Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf, daß wir mit dem Fraktionsentwurf, gewissermaßen
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2388 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Dirk Hansenden Ereignissen zeitgemäß entsprechend, hier eine Vorlage eingebracht haben, der Sie sich sachlichinhaltlich kaum entziehen können,
obwohl Sie gegen Ende Ihrer Rede eigentlich ein bißchen kontradiktorisch, erheblich die Stimme hebend, verfassungspolitische Bedenken anmeldeten, wenngleich Sie zu Anfang die Eilbedürftigkeit dieses Entwurfes durchaus anerkannt haben. Dieses Kompliment will ich gerne unterstreichen.
— Herr Kuhlwein, ich weiß nicht, ob diese Bemerkung der Sache wirklich hilfreich zur Seite tritt.
Auf Herrn Keller bezogen ist vielleicht doch grundsätzlich zu antworten, daß die Übertragung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes ab 1. Januar 1991 doch eigentlich ganz unumstritten ein Fortschritt, ein großer Schritt zur Erreichung vermehrter Chancen in bezug auf Gerechtigkeit für die Studenten im Osten ist. Dies darf hier nicht mit im Grunde doch sozialistischen Grundvorstellungen negiert werden. Es ist vielmehr das Positive herauszustreichen: Seit Beginn dieses Jahres gelten die BAföG-Bestimmungen auch in den fünf neuen Bundesländern.Da in den fünf neuen Bundesländern weit mehr Studenten als etwa in den alten Bundesländern auf das „BAföG-Einkommen" angewiesen sind,
erscheint es uns unabdingbar, daß der Vollzug in den zuständigen Ämtern verbessert werden muß und daß daneben — auch das leistet der heute eingebrachte Entwurf — die nach EG-Recht bevorrechtigten ausländischen Auszubildenden gefördert werden können und müssen.Das vielfache organisatorische Durcheinander in den vergangenen sechs Monaten, von dem wir doch alle erfahren haben und von dem Graf Waldburg hier gesprochen hat, muß dringend bereinigt werden. Es ist ja nicht nur die Frage der BAföGologie, sondern auch der Bürokratologie. Auch Herr Keller hat das als Grund seines Einwands hier dargestellt. Der bürokratische Aufwand würde um ein Erhebliches vermehrt werden, wenn wir Ihrem Begehren, verehrte Kollegen von der SPD, folgen würden.
Gerade deswegen muß der Bürokratisierung begegnet werden.Der jetzt eingebrachte Gesetzentwurf muß zum 1. August 1991 zum Tragen kommen. Er sieht vor, daß auf besonderen Antrag aktuelle Eltern- und Ehegatteneinkommen der Förderungsentscheidung zugrunde gelegt werden.
Herr Kollege Hansen, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?
Einen Augenblick, bitte. — Damit kann ein deutlicher sozialpolitischer Akzent gesetzt werden, indem die aktuellen Einkommensrückgänge — etwa bei Verlust des Arbeitsplatzes — berücksichtigt werden. Auch sollen — jedenfalls vorläufig bis zum Juli 1992 — Grundbesitz und Betriebsvermögen bei der Vermögensanrechnung noch nicht herangezogen werden, da die Bemessungszahlen noch nicht vorliegen können.
Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Könnten Sie bitte meine Überzeugung widerlegen, daß diese Regelungen jetzt auf dem Rücken der Studenten ausgetragen werden. Ich darf das kurz verdeutlichen: Unsere Studenten haben, unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern, ein Stipendium erhalten, von dem sie leben konnten. Wenn eine Studentin alleinstehend mit ihrem Kind lebt — das war auf Grund der Regelungen in der DDR durchaus möglich und weit verbreitet — , auf einmal wieder auf den Geldbeutel ihrer Eltern angewiesen ist, zudem Berechnungen rückwirkend erfolgen und die Eltern jetzt eventuell arbeitslos sind, was überhaupt nicht mehr zu Buche schlägt, ist sie tatsächlich gezwungen, das Studium aufzugeben.
Frau Kollegin, ich glaube, es ist wirklich ein grundsätzlicher Unterschied, der uns, wenn Sie diese Vorstellung aufrechterhalten, auch weiterhin voneinander trennen wird.Wir gehen vom Antragswesen aus. Berechtigt sind — und zwar im Sinne des Wortes — , einen Rechtsanspruch haben diejenigen, die materiell benachteiligt sind; es gilt nicht ein Gleichheitsgrundsatz. Es ist nicht so, daß derjenige, der jung ist, Schüler oder Student, grundsätzlich einen Rechtsanspruch hat, unabhängig davon, in welchen familiären — d. h. in diesem Zusammenhang dann materiellen — Verhältnissen er lebt, sondern derjenige hat ihn, der es braucht, der es nötig hat. Mit anderen Worten: Die größere Chancengerechtigkeit, einen Chancenausgleich innerhalb unserer Gesellschaft stellt unser Antragswesen her — im Gegensatz zu dem Grundsatz, von dem Sie ausgehen: alle gleich, Gießkanne über alle.
— Herr Kuhlwein, ich weiß nicht, ob Sie persönlich oder in Ihrer Fraktion in irgendeiner Weise Dienstmädchen anstellen. Es steht aber fest, daß die Zusammenarbeit im Haushalt, in der Fraktion oder in anderen gesellschaftlichen Gruppierungen immer notwendig ist und daß hier auch eine Differenzierung angezeigt ist.
Die von Ihnen, meine Damen und Herren der SPD, geforderte Angleichung der Bedarfssätze lehnen wir Freien Demokraten ab. Der vorliegende Gesetzentwurf sieht keine Änderung der nach dem Einigungsvertrag vorgenommenen Absenkung der Bedarfssätze in den neuen Ländern vor. Das Beibehalten der
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2389
Dirk HansenBedarfssätze ist unserer Meinung nach weiterhin notwendig, um den Unterschieden bei Ausbildungs-, Lebenshaltungs-, Mietkosten und ähnlichem sowie auch niedrigen Erwerbseinkommen Rechnung zu tragen. Dabei möchte ich ausdrücklich betonen, daß Anpassungen in Relation zu sonstigen Einkommenszahlen zu sehen sind.Mit den im Beitrittsgebiet geltenden BAföG-Gesetzen bis zu 615 DM oder weiteren 75 DM in Härtefällen können die Folgen der Arbeitslosigkeit und die Ausbildung der Kinder weiterhin finanziert werden. Eine schnelle, unverzügliche Aktualisierung der Berechnungsgrundlage ist notwendig, da über drei Viertel aller BAföG-Berechtigten auf diese Weise unterstützt werden.Es ist sehr zu wünschen, daß die 14. BAföG-Novelle zum 1. August dieses Jahres in Kraft treten kann. Dies ist ein insbesondere an Sie gerichteter Appell, meine Damen und Herren von der SPD; denn eine Verzögerung der Verabschiedung des Gesetzes durch den Bundesrat — man könnte fast vermuten, dies sei politisches Kalkül — nützt weder Ihnen noch den Betroffenen; überhaupt nicht. Das Gesetz sollte nicht, wie von Ihnen vorgeschlagen, rückwirkend in Kraft treten, denn die administrativen An- oder Überforderungen sind kaum noch zu übersehen.Ich komme zum Schluß: nicht Verwirrung stiften, sondern Klarheit, Bestimmtheit mit dem Blick nach vorn! Von den zusätzlichen Kosten ganz zu schweigen.Es muß betont werden, daß im Haushaltsausschuß und im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung des Bundestages der Gesetzentwurf bei Abwesenheit von Vertretern der PDS einstimmig angenommen worden ist, genauso im Finanzausschuß des Bundesrates. Auf die Bedenken im Kulturausschuß des Bundesrates ist Graf Waldburg schon eingegangen. Die Bedenken dort sind aber deutlich durch die Voten in den übrigen Ausschüssen gewichtet. Nicht Verzögerung oder Verhinderung der 14. Novelle ist angesagt, insbesondere im Hinblick darauf, daß die 15. Novelle ja gerade in Vorbereitung ist.
Kollege Hansen, kommen Sie jetzt bitte wirklich zum Schluß.
Die Entscheidung ist fällig, sie ist überlegt, abgewogen, aktuell und chancengerecht. Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Minister für Bildung und Wissenschaft, Herr Dr. Ortleb.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Entwurf des Änderungsgesetzes sollen vor allem bestimmte Regelungen der Einkommens- und Vermögensanrechnung den besonderen Verhältnissen in den neuen Bundesländern angepaßt werden. Ferner soll im Anschluß an ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom November 1990 ermöglicht werden, nach EG-Recht bevorrechtigte ausländische Auszubildende künftig auch für eine Ausbildung in ihrem Heimatland zu fördern. Schließlich sollen in der Rechtsprechung aufgetretene Zweifel über die Zuständigkeit der Ämter für Ausbildungsförderung ausgeräumt werden.
Bei der Beratung des von den Koalitionsfraktionen des Deutschen Bundestages eingebrachten Gesetzentwurfes, aber auch bei der Beratung über den wortgleichen Regierungsentwurf — ich betone: wortgleichen Regierungsentwurf —
eines 14. BAföG-Änderungsgesetzes im Bundesrat hat sich gezeigt, daß über die Regelungen des Gesetzentwurfs allgemeiner Konsens besteht.
Insbesondere wurde allgemein mit Zustimmung aufgenommen, daß die Möglichkeit geschaffen werden soll, künftig in den neuen Ländern auf besonderen Antrag das aktuelle Einkommen der Eltern und der Ehegatten der Auszubildenden der Förderungsentscheidung zugrundezulegen. Durch diese Neuregelung können dort Einkommensrückgänge berücksichtigt werden, wie sie z. B. durch den Verlust des Arbeitsplatzes aufgetreten sind.
Ich möchte an dieser Stelle betonen: Das war der Hauptsinn der eingebrachten Vorlage. Sie kritisierten den Zeitplan, Sie kritisierten das zweigleisige Verf ah-ren. Das alles waren legitime Möglichkeiten, die Beschlußfassung so schnell wie möglich voranzutreiben.
Ich habe im Februar in meinen ersten Posteingängen den dringenden Wunsch der Studenten aus dem Osten zur Kenntnis genommen, und ich glaubte mit meinen Erfahrungen aus der Volkskammer, wo wir Gesetze sehr schnell beschlossen haben, diesen Weg einschlagen zu müssen. Ich bitte Sie sehr herzlich, nicht wegen der Taube auf dem Dach den Spatz in der Hand auszuschlagen.
Der Bundesrat und die SPD-Fraktion im Bundestag haben sich dafür ausgesprochen, über den Gesetzentwurf hinausgehende und auch sehr kostenwirksame Gesetzesänderungen vorzusehen. Ich will dies näher erläutern.
Erstens. Bundesrat und SPD-Fraktion fordern, in das 14. BAföG-Änderungsgesetz eine Anhebung der abgesenkten Bedarfssätze in den neuen Ländern aufzunehmen. Ich will dazu noch eine Zahl nennen: Die Differenz beträgt beim Grundbedarf 40 DM.
— Das streite ich nicht ab.
Während der Bundesrat im Bereich der Schülerförderung nach § 12 eine völlige Angleichung der Bedarfssätze an das Westniveau vorschlägt, soll für den Förderungsbereich der Akademien, Hochschulen und Schulen nach § 13 allein eine Anhebung des Grundbedarfs ohne Mietanteil vorgesehen werden. Dies ist in sich widersprüchlich. Tatsächlich ist die Anhebung des Bedarfs für das Wohnen im Bereich der Schüler-
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Bundesminister Dr. Rainer Ortleb
förderung ebensowenig notwendig wie im Bereich der Studentenförderung. Der festgelegte Bedarf deckt vielmehr die durchschnittlichen Kosten derzeit noch ab
— derzeit noch ab!
Aber auch gegen eine Anhebung der Bedarfssätze für den Grundbedarf ohne Wohnzuschlag sprechen derzeit sowohl die Einkommensentwicklung als auch die Entwicklung der Lebenshaltungskosten in den neuen Ländern. — Meine Vorredner, insbesondere Graf Waldburg, haben bereits darauf hingewiesen; deswegen spare ich mir die eigene Passage.
Bitte bedenken Sie eines: Der Student hat in der Regel, verglichen mit dem alten Grundstipendium, das jedem in der alten DDR zustand, einen Einkommenszuwachs von fast 200 % , wenn er voll gefördert wird. Das, glaube ich, ist eine reale Grundlage. Da ich selber aus dem studentischen und Hochschullehrermilieu stamme, würde ich selbstverständlich jedem Studenten so viel zubilligen, wie der Staat ermöglichen kann. Ich glaube aber, als Regierungsmitglied einschätzen zu können, daß wir derzeit nicht mehr ermöglichen können. Deswegen wiederhole ich meine Bitte: Lassen Sie den Spatz in der Hand!
Zweitens. Bundesrat und Fraktion der SPD fordern übereinstimmend die Aktualisierung der Eltern- und Ehegatteneinkommen nicht — wie der Gesetzentwurf — für Bewilligungszeiträume ab 1. August 1991, sondern rückwirkend ab 1. Januar 1991 zuzulassen. Die Bundesregierung hat hiergegen erhebliche Bedenken. Ein Bedenken ist auch von Graf Waldburg bereits genannt worden: Wir sind froh, daß die BAföGVerwaltung zu arbeiten beginnt. Wir wollen keine neuen Erdbeben. Wir glauben, eine Stabilisierung der Verwaltung ist notwendig; die Argumente wurden bereits genannt. Zum anderen darf dabei eine nicht unerhebliche Mittelbelastung nicht außer acht gelassen werden.
Drittens. Schließlich setzt sich die Fraktion der SPD erneut für die Wiederaufnahme der Schülerförderung ein. Auch hierzu haben meine Vorredner argumentiert; das ist mehrfach Gegenstand der Debatte gewesen.
Ich fasse zusammen: Aus diesen Gründen bitte ich Sie, den Entwurf dieses Änderungsgesetzes in der vorliegenden Fassung zu verabschieden. Ich hoffe, daß dieses Gesetz noch am 1. August wirksam wird.
Aus zahlreichen Gesprächen mit Studentenvertretungen weiß ich, daß das von uns erwartet wird.
Danke schön.
Frau Kollegin Odendahl, war das eben eine Wortmeldung zu einer Kurzintervention?
— Dann ist die Aussprache geschlossen.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf auf den Drucksachen 12/473, 12/497, 12/707 und 12/730. Ich rufe auf die Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift.
Zu Art. 1 und 2 liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/740 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Wer den aufgerufenen Vorschriften des Gesetzentwurfs zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf auf den Drucksachen 12/473, 12/497, 12/707 und 12/730 zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Wir stimmen jetzt noch über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/734 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist damit angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 1991 — Drucksachel2/348 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Jork.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Qualität und Quantität der in den neuen Bundesländern verfügbaren Lehrstellen beeinflußt wesentlich die Zukunft der dortigen Industrie. Eine funktionierende Wirtschaft ist unverzichtbare Voraussetzung für die sozialen Komponenten christlich-demokratischer Politik. Der Berufsbildungsbericht der Bundesregierung betrachtet zu Recht vor allem die Arbeitsplatzsituation in den neuen Bundesländern und damit die Ausbildungssituation. Die Brisanz dieses Anliegens beschäftigt mich persönlich, war ich doch etwa 25 Jahre als in der Industrie tätiger Ingenieur nebenberuflich mit der Berufsbildung in der ehemaligen DDR befaßt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2391
Dr. Rainer JorkDie Ausbildungsplatzsituation ist kritisch, erfordert Unterstützung, vor allem auch zur Selbsthilfe. Situationsbeschreibung und Maßnahmendiskussion waren bereits Gegenstand der 25. Sitzung des Bundestages am 14. Mai in Berlin und können in den Protokollen nachgelesen werden.Die Probleme bei der Versorgung der Jugendlichen mit Ausbildungsplätzen ergeben sich, wie der Bericht richtig feststellt, aus der Verlängerung der Ausbildungszeiten bei der Einführung bundesdeutschen Berufsausbildungsrechts, durch Umstrukturierung von Betrieben bzw. Betriebsstillegungen und wirtschaftliche Schwierigkeiten in den Betrieben, die die Nachwuchsförderung durch Ausbildungsinvestitionen sekundär erscheinen lassen.Um die Qualifikation der Beschäftigten zu erhalten, zu steigern und neu zu orientieren, ist die Weiterbildung dringend zu fördern. An Motivation dazu fehlt es nicht. Was fehlt, ist angesichts unsicherer Arbeitsplätze oft die sichere Kenntnis einer sinnvollen Weiterbildungsrichtung, die entsprechende Weiterbildungsträgerstruktur und Weiterbildungsberatung. Dabei muß man wissen, daß in der ehemaligen DDR die Hauptverantwortung für die Weiterbildung bei den Betrieben und Kombinaten lag, die es jetzt in der Regel nicht mehr gibt. Hier helfen keine Appelle mehr; die neuen Betriebe und Kommunen sind gefordert.Die Berufsbildung funktioniert in der Sozialen Marktwirtschaft primär durch ein sinnvolles Zusammenarbeiten von Klein- und Mittelbetrieben bzw. der Industrie mit den Kommunen und Verbänden bzw. Kammern, etwa wie in einem sich selbst regulierenden System. Der Bedarf entsteht in den Betrieben durch den Zwang zu Wachstum und personeller Erneuerung. Das Angebot von Auszubildenden entsteht durch Absolventen bzw. Umzuschulende. Diese Partnerkette existiert wegen der genannten Probleme in den neuen Bundesländern nicht oder nur unzureichend. Staatliche Eingriffe und Verknüpfungen sind erforderlich, allerdings mit dem Ziel, daß die Kette selbst tragfähig wird, die Selbstregulierung zunehmend greift.Bereits am 24. April dieses Jahres beschloß das Kabinett der Bundesregierung Maßnahmen im Rahmen des Ausbildungsplatzförderungsprogramms Ost, die den erforderlichen Eingriffen entsprechen und weiter ergänzt wurden. Mit Freude konnte ich z. B. am 5. Juni bei einem Treffen mit Vertretern der Bauindustrie Sachsens in der Landesvertretung Sachsens hören, daß derzeit in über 18 überbetrieblichen Ausbildungszentren ca. 18 000 Lehrlinge betreut werden können und die Bauwirtschaft mit der Übernahme des Tarifvertrages über Berufsbildung für die neuen Bundesländer über ihre Sozialkassen eine Anschubfinanzierung von 180 Millionen DM bereitstellt.
Ich begrüße, daß das BMBW Projekte mit Modellcharakter zur qualitativen Verbesserung der beruflichen Weiterbildung fördern wird. Dazu ist eine enge Kooperation zwischen Vorhaben in den alten und neuen Ländern erforderlich. Ich empfehle der Bundesregierung, die Möglichkeiten der Fachschulen, besonders der Ingenieurschulen, der ehemaligen DDR bei der beruflichen Bildung zu berücksichtigen, da sich diese Bildungsstätten in vielen Fällen hervorragend für die Berufsbildung und Weiterbildung eignen. Dabei bin ich mir natürlich bewußt, daß die Länder ihre entsprechende Kompetenz wahrzunehmen haben.Den Handwerkskammern empfehle ich, die Eintragung der Meister der volkseigenen Industrie als Handwerksmeister in den neuen Bundesländern großzügig zu handhaben,
um damit die organisatorischen Voraussetzungen für Verselbständigung und Lehrlingsausbildung zu verbessern. Ich begrüße in diesem Sinne die bereits gezeigte flexible Anwendung der Ausnahmebestimmungen des § 8 der Handwerksordnung.Das Ansehen der beruflichen Bildung könnte deutlich gefördert werden, wenn die Meisterabschlüsse die Anschlußberechtigung für die Hochschulausbildung darstellten.
Ich halte dies im Sinne der Akzeptanz, Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit der beruflichen Bildung für wichtig.Mit der Sozialen Marktwirtschaft werden in den neuen Bundesländern Facharbeiter in Berufen dringend benötigt, die es dort bisher nicht gab. Das betrifft vor allem kaufmännische und Verwaltungsberufe, Berufe der Sozialversicherung, der Justiz und Anwaltsberufe. Dabei ist solidarisches Verhalten der alten Länder, Unterstützung der Bundesregierung und natürlich Eigeninitiative der neuen Bundesländer besonders gefragt.Die angeführten Maßnahmen der Bundesregierung, Länder, Kommunen, Kammern und Verbände lassen erkennen, daß hinsichtlich der erforderlichen Lehrstellenzahl sehr gut vorgesorgt ist. Bei dieser Aussage stehen Unsicherheiten beim Schätzen und Reserven in ausgewogener Relation. Es gilt, die Aus- und Weiterbildung bedarfs- und qualitätsgerecht zu sichern. Ich bin zuversichtlich, daß dies gemeinsam zu schaffen ist.Danke.
Das Wort hat der Kollege Stephan Hilsberg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit einiger Zeit reisen nun wieder einmal unser Bundeskanzler Helmut Kohl und in seinem Gefolge unser Bildungsminister, Herr Ortleb, in der Weltgeschichte herum und predigen landauf, landab, daß jeder Schulabgänger 1991 in den neuen Ländern eine Lehrstelle bekommt.
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2392 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Stephan Hilsberg— Hören Sie einmal zu! — Inzwischen dürfte in Deutschland aber jedem klar sein, daß die Aussagen des Bundeskanzlers die eine Seite sind, die Realität, wie wir gesehen haben, möglicherweise eine andere ist. Vorsicht ist deshalb angesagt. Aus der Erfahrung wird man klug. Nicht nur der Vorgänger von Herrn Ortleb und jetzige Wirtschaftsminister Möllemann befürchtet, daß nicht alle Schulabgänger in den Genuß einer Lehrstelle kommen, was er an dieser Stelle vor einer Woche gesagt hat. Und was das dann für eine Lehrstelle ist, ist eine zweite Frage. Zweifel und eine genaue Prüfung der Situation in den neuen Ländern sind also angebracht.Wir betrachten das Problem des Lehrstellenmangels nicht dann als behoben, wenn alle Schulabgänger eine Lehrstelle haben, sondern wenn alle Schulabgänger in den neuen Ländern sie haben. Alles andere ist Augenwischerei. Zweitens fordern wir, daß alle Schulabgänger die Möglichkeit einer qualifizierten Ausbildung erhalten, d. h. einen Beruf ihrer Wahl so erlernen können, daß sie damit im gesamten Bundesgebiet einen Arbeitsplatz finden.
Das Problem des Lehrstellenmangels darf nicht durch seine Verniedlichung, d. h. durch die mangelnde Qualität der Ausbildung gelöst werden.Will man eine Situation genau analysieren, muß man sich die Zahlen ansehen. Da haben wir 115 000 Schulabgänger sowie ca. 15 000 Schulabgänger aus dem letzten Jahr, d. h. schon aus einer Warteschleife. Hinzu kommen wahrscheinlich gegen 35 000 Konkurslehrlinge. Das macht zusammen 160 000 Lehrstellenbewerber. Dem stehen jetzt aber nur noch 37 000 vorhandene Ausbildungsplätze gegenüber.
Das waren noch vor zwei Monaten 45 000. Die Tendenz ist nämlich fallend. Dann haben wir 20 000 im öffentlichen Dienst und 30 000 über das AFG finanzierte. Es bleibt eine Differenz von über 60 000, wahrscheinlich gegen 70 000 Lehrlingen,
die zur Zeit von Vertretern der Koalition schöngeredet wird. — Wir können uns dazu am 1. September wiedersehen. —
Können Sie sich vorstellen, welche Diskussionen zur Zeit in den Familien geführt werden, wenn die Alternative heißt: entweder unsichere Situation zu Hause oder gut dotierter Lehrstellenplatz in den alten Bundesländern? Hier nützen eben keine Appelle; sie haben im übrigen nie genützt.In der Tat ist zur Zeit ein verstärkter Trend von Jugendlichen in die alten Bundesländer spürbar, mit allen Folgen, die dieser Trend hat. Es stellt sich beispielsweise die Frage, was für Probleme die Eingliederung mit sich bringt und — noch viel schlimmer — wie viele Lehrlinge nicht wieder zurückkehren.
Herr Kollege Hilsberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Odendahl?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Hilsberg, wie bewerten Sie die Tatsache, daß der für dieses Ressort zuständige Minister, der auch noch aus den Ländern kommt, in denen die Not offenkundig ist, nun den Plenarsaal verlassen hat?
Das ist fahrlässig.
Sieht man sich an, wo die Schwerpunkte bei den Ausbildungsverhältnissen in der ehemaligen DDR lagen, begreift man einen weiteren Aspekt der schweren Aufgaben, vor denen die neuen Länder jetzt stehen. 70 % der Lehrlinge wurden in Großbetrieben ausgebildet, nur 7 % im Handwerk. Zum Vergleich: In den alten Bundesländern ist im Handwerk und im Gewerbe eine Ausbildungsquote von 30 % vorhanden. Die Großbetriebe in den neuen Ländern existieren in dieser Form nicht mehr. Die betrieblichen Ausbildungsstätten wurden bereits abgestoßen. Welches Ausbildungsprofil soll man anstreben, wenn die künftige Wirtschaftsstruktur in den betreffenden Regionen nicht erkennbar ist? In den neuen Ländern müssen sich Handwerk und Gewerbe überhaupt erst wieder entwickeln. Wer aber Existenzsorgen, Probleme mit den Behörden und dem Vertrieb hat, wird sich wohl kaum zusätzliche Probleme überhelfen lassen wollen. Leider finden sich im Berufsbildungsbericht überhaupt keine Antworten auf diese drängenden Fragen.Der Weg von Minister Ortleb mit der 5 000-DMAnschubhilfe für kleinere Betriebe war vom Prinzip her richtig. Auch wir haben in unserem Antrag zum mittelfristigen Aktionsprogramm eine Unterstützung der betrieblichen Ausbildung gefordert. Sie unterscheidet sich aber hinsichtlich der Zuwendung der Bundesregierung an Handwerk und kleine Unternehmen.Bewirkt hat der Bundesbildungsminister wenig, zu wenig. Warum gibt es um Gottes willen diese Beschränkung auf kleinere Betriebe bis zu 20 Mitarbeiter?
Wir konnten uns gestern bei der Ausschußsitzung in Weimar davon überzeugen, daß das nicht hilft. Ausnahmslos alle Sachverständigen äußerten sich kritisch zum Ortlebschen Programm und bewerteten es als in der Sache zu kurz greifend.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2393
Stephan HilsbergDer kleinste Teil der Antragsteller wird tatsächlich eine neue Lehrstelle einrichten, der überwiegende Teil aber seine schon eingerichtete Lehrstelle mit diesem Programm nachfinanzieren. Das wird ihm vermutlich auch gelingen.Wir erneuern deshalb unsere Forderung, die Ausbildungsplatzbeihilfe auf alle Betriebe zu erweitern, deren Ausbildungsplatzquote 5 % übersteigt. Dies wäre tatsächlich ein wirksamer, das Ausbildungsplatzangebot steigernder Anreiz für alle selbständigen Betriebe, der nicht unterlaufen werden kann.Ein weiteres Problem besteht im Mangel an hochwertigen Maschinen und Einrichtungen für die Ausbildung. Wir brauchen gezielte Investitionen für Ausbildungsstätten. Dringend notwendig sind eine Qualifizierung der Ausbilder und zusätzliche Anstrengungen in der öffentlichen Verwaltung. Hierfür stellt die Bundesregierung zuwenig Mittel zur Verfügung. Unsere Forderung ist es, die Ausbildungsqualität in den neuen Ländern so rasch wie möglich an den Standard in den alten Ländern anzupassen.Übrigens ist die Verwaltung in den neuen Ländern nicht nur als Lehrstellenanbieterin unterentwickelt. Wissen Sie, was uns im Osten über die bundesdeutsche Bürokratie erzählt wurde, ist einfach hanebüchen. Da wird den Anbietern tatsächlich zugemutet, im Einzelfall bis zu 2,5 cm dicke Antragsunterlagen durchzuarbeiten. In der Zeit könnte man einen zusätzlichen Ausbildungsplatz schaffen.
Es gibt Klagen über Klagen über zu geringe Informationen oder Desinformationen über Förderungsmöglichkeiten. Die Fördermittel sind zuwenig oder gar nicht koordiniert. Der Weg zur Beantragung der Fördermittel ist zu lang und zu umständlich. Ist das die versprochene Vereinfachung in der Verwaltung?Deshalb auch mein Appell an die Regierung: Helfen Sie schneller in der Verwaltung! Dies wäre tatsächlich eine wirksame Hilfe zur Eindämmung der Binnenmigration. Es kann doch nicht sein, daß wegen des Amtsschimmels dringend benötigte Mittel nicht eingesetzt werden können und daß dann vielleicht später noch den Verantwortlichen in den neuen Ländern wegen angeblicher Unfähigkeit wieder der schwarze Peter zugeschoben wird; denn sie sind nicht so unfähig.Auf dem Gebiet der Ausbildung wird nämlich auch Neuland beschritten. Dabei meine ich die Ausbildungsringe und -verbünde. Wenn für meine Begriffe auch deren Möglichkeiten überschätzt werden und sie dies auch selber tun, sind sie doch insgesamt zu begrüßen, weil sie bei der Lösung des Lehrstellenmangels sehr hilfreich sein können.Ein solcher Ausbildungsring funktioniert als eingetragener Verein, der Ausbildungsverträge mit den Auszubildenden abschließt und die notwendigen Ausbildungsstätten samt Personal dann anmietet, und zwar in Betrieben mit stark reduzierter Mitarbeiterzahl, aber mit ehemals großen und jetzt brachliegenden Ausbildungskapazitäten. Diese Ringe sind kein Bestandteil des immer wieder beschworenen dualenSystems. Eher sind sie der verlängerte staatliche Arm.
— Das mag ja alles sein. Aber wer spricht denn immer in so schönen Worten vom dualen System, das man bloß auf die ehemalige DDR zu übertragen brauche, damit alles phantastisch funktioniere?
Die Folgen dieser Ringe sind sehr genau zu beobachten. Sie finanzieren sich nach dem § 40c des Arbeitsförderungsgesetzes, durch die Mittel der Bundesanstalt für Arbeit nach dem Benachteiligtenprogramm.Es besteht die Sorge, daß sich hier Bildungshaie auf Kosten der Jugendlichen und der Beitragszahler gesundstoßen können. Zusätzlich besteht die Gefahr einer Benachteiligung der Lehrlinge gegenüber einer betrieblichen Ausbildung. Wenn dies auch nicht die Hauptsorgen sind, denke ich, man muß sie im Auge behalten.Ferner drohen sich solche Einrichtungen zu verselbständigen. Hier werden vermutlich über 30 000 Ausbildungsplätze geschaffen. Damit wird ein erheblicher Druck auf die Fortsetzung ihrer Tätigkeit entstehen. Schon jetzt reichen die aus dem Benachteiligtenprogramm zur Verfügung gestellten Mittel in Höhe von 220 Millionen DM zu ihrer Finanzierung nicht aus. Sie werden in den nächsten Jahren wahrscheinlich auf über 2 Milliarden DM steigen müssen.Gestatten Sie mir einen kleinen Hinweis. Zur Finanzierung des Benachteiligtenprogramms in den alten Bundesländern stehen bei einem Überangebot von Lehrstellen 440 Millionen DM zur Verfügung. In den neuen Ländern sollen dann bei einem Unterangebot von Lehrstellen 220 Millionen DM reichen? Das kann doch wohl nicht angehen; hier muß schnellstens Abhilfe geschaffen werden.
Der letzte Punkt: Das duale System ist sicherlich ein gutes System der beruflichen Ausbildung. Es bedarf aber großer Anstrengungen, um dies in den neuen Ländern zu installieren. Das wird Jahre dauern.
Ohne bessere Anreize für Klein- und Mittelbetriebe, wirksame Verwaltungsvereinfachungen und effektive Strukturfördermaßnahmen werden wir das nicht schaffen. Wir sind zur konstruktiven Mitarbeit bereit und werden auch weiterhin unsere Vorschläge zur Lösung der Probleme unterbreiten.
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2394 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Stephan Hilsberg— Es ist ja nicht schlecht, wenn wenigstens eine Partei in diesem Bundestag realistische Perspektiven aufzeigt.
— Was nützt es denn den ganzen Lehrlingen, die auf Ihre Appelle hereinfallen und dann 1991 ohne Lehrstelle dastehen, weil Sie sich nicht genug Mühe gegeben haben?
Ein Schlußsatz, ein kleines Lob: Nach jahrelangem Drängen der SPD-Bundestagsfraktion wird der Bericht heute rechtzeitig vor Beginn des neuen Ausbildungsjahres diskutiert. Aber angesichts der neuen Verhältnisse ist er leider bereits wieder Makulatur, da die Entwicklung in den neuen Ländern von der Bundesregierung nicht richtig vorhergesagt wurde.Ich bedanke mich.
Das Wort hat Frau Kollegin Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink.
Frau Präsidentin! Meine Herren! Meine Damen! Der engagierten Berufsbildungspolitik und der positive Rahmen setzenden Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung haben wir es zu verdanken, daß die Ausbildungsplatzbilanz für die alten Bundesländer 1991 wieder ein Rekordergebnis aufweisen wird.
Diese positive Situation darf uns aber nicht über die noch unbefriedigende Lage in den neuen Ländern hinwegtäuschen. Die Ausbildungssituation in Deutschland ist uneinheitlich. In diesem Jahr wird das Lehrstellenangebot in den neuen Ländern sicher nicht ganz ausreichen — dazu gibt es unterschiedliche Einschätzungen; das haben wir gestern in Weimar gehört — , obwohl es schon 110 000 neue Handwerksbetriebe gibt. Dies liegt neben vielen anderen Gründen z. B. auch an der völlig anderen Ausbildungsstruktur in der ehemaligen DDR. Während bei uns 35 % aller Azubis in Handwerksbetrieben ausgebildet wurden und werden, waren es in der ehemaligen DDR nur 7 %. Kurzum, die besorgniserregende Lage auf dem Lehrstellenmarkt spiegelt die auf Grund der Anpassungsprozesse schwierige Situation in der Wirtschaft wider.
Ein wertvoller Schritt ist daher die breit angelegte Gemeinschaftsaktion des Bundesbildungsministers „Ausbildungskampagne Ost".
Es ist notwendig, alle Ausbildungskapazitäten in den neuen Ländern zu mobilisieren. Ein wichtiges Mittel hierfür ist die staatliche Finanzhilfe zur Einrichtung eines neuen Ausbildungsplatzes in Höhe von 5 000 DM bei Betrieben bis zu 20 Beschäftigten. Auch angesichts der Kritik — z. B. Mitnahmeeffekt — ist dieses Programm für 1991 — das ist das teuerste Ausbildungsplatzförderungsprogramm in der deutschen Geschichte — der richtige Schritt.
Mit gutem Beispiel gehen auch Ministerien, Behörden und Einrichtungen des Bundes voran, die in den neuen Ländern rund 10 000 Ausbildungsplätze schaffen wollen. Die Treuhand ist angehalten — mehr können wir leider nicht tun — , daß bei den in ihrer Obhut stehenden Unternehmen die geschlossenen Ausbildungsverträge nicht gelöst werden. Hoffentlich können wir am 1. September 1991 feststellen, daß zwar nicht jede/jeder ihren/seinen Wunschausbildungsplatz gefunden, aber jede/jeder überhaupt einen Ausbildungsplatz gefunden hat. Das wäre für 1991 ein wichtiges Ergebnis.
Meine sehr verehrten Herren und Damen, auch mit diesen Hilfen kann der befürchteten Ost-West-Wanderung der Jugendlichen vorgebeugt werden, denn für den Aufbau der Wirtschaft in den neuen Bundesländern ist es wichtig, daß der Großteil der Jugendlichen vor Ort ausgebildet wird. Aber das schließt ganz und gar nicht aus, Ausbildungsabschnitte in den westdeutschen Betrieben durchzuführen, z. B. Westpraktika bei Banken. Das gilt nicht nur für Betriebe aus Westdeutschland, die in den neuen Bundesländern ihr Standbein errichtet haben, sondern es muß auch bedacht werden, daß ostdeutschen Firmen über Partnerschaften mit westdeutschen Unternehmen die Gelegenheit gegeben wird, Ausbildungsabschnitte aufzuteilen, z. B. im Verhältnis von einem Jahr Ost zu einem Jahr West und einem Jahr Ost.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Odendahl?
Ich möchte bitte weiterreden, Frau Odendahl. Vielleicht gleich, am Schluß.Zweiter Punkt. Die Modernisierung der Bildungsstrukturen im Ostteil der Bundesrepublik, die gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse im Bereich der beruflichen Bildung, insgesamt also die Qualitätsverbesserung der beruflichen Bildung stellen nicht zu unterschätzende Aufgaben für die Zukunft dar. Zu Recht wird in dem vorliegenden Bericht die duale Berufsausbildung als Markenzeichen unseres erfolgreichen Berufsbildungssystems genannt.Doch wie steht es wirklich um die Gleichwertigkeit und Gleichbehandlung von Betriebsausbildung und beruflichen Schulen? Betrachtet man die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und die sehr unterschiedliche Finanzausstattung, so stehen die beruflichen Schulen in allen Bundesländern miserabel dar. Schon in der alten Bundesrepublik fehlt es an der
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Dr. Margret Funke-Schmitt-Rinkmateriellen und personellen Ausstattung der beruflichen Schulen,
um nicht nur auf dem Papier als gleichberechtigte Partner in der Berufsausbildung zu gelten. In den neuen Ländern ist durch die Abkoppelung der 720 Betriebsberufsschulen von den bisherigen Trägern und deren Verlagerung in kommunale Trägerschaft der Ausbildungserfolg massiv in Gefahr, auch wenn die Ausbilder-Eignungsverordnung, wie sie in der Bundesrepublik gilt, bisher teilweise außer Kraft gesetzt wurde.Im Berufsbildungsbericht wird dieses Problem richtig erkannt. Doch wissen wir alle, daß der Appell an die Länder, die hierfür zuständig sind, seit Jahren ungehört bleibt. Gerade die beruflichen Schulen in den neuen Bundesländern sind in jeder Hinsicht so hilfsbedürftig, daß der Bund innerhalb des Programms „Aufschwung Ost" eigentlich die Auflage machen müßte, daß die neuen Länder eine qualitativ hohe Berufsausbildung bereitstellen müßten, z. B. durch eine Verstärkung der überbetrieblichen Zentren oder— besser noch — durch eine verstärkte Unterstützung der beruflichen Schulen.
Frau Kollegin, gestatten Sie nun eine Zwischenfrage oder nicht?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, da ich weiß, daß Sie in dieser Frage — genauso wie ich — ganz besonders engagiert sind, möchte ich, z. B. basierend auf den Eindrücken, die wir gestern in Weimar gewinnen konnten, nur die Frage an Sie richten, ob Sie bereit sind, ihre Garantie, daß allen Jugendlichen ein Ausbildungsplatz bereitgestellt werden kann — mit gewissen Ausnahmen — , vor allem für die jungen Frauen und Mädchen hier auszusprechen.
Eine Garantie kann ich überhaupt nicht aussprechen; das kann niemand.
— Ich mache es aber auf jeden Fall nicht. — Ich kann— genau wie Sie, Frau Odendahl — nur hoffen, daß die jungen Mädchen und die jungen Männer ihren Ausbildungsplatz bekommen. Ich habe ja gesagt: Hoffentlich können wir es sagen. Da müssen wir die Betriebe mobilisieren.Dritter und wichtigster Punkt: Die berufliche Bildung muß vom Makel des minderwertigen Bildungsweges befreit werden. Das scheint mir das wichtigste Bildungsziel der nächsten Jahre zu sein. A und O sind dabei Beratung und Information über die Möglichkeiten des gesamten Berufsspektrums. Die sich verändernden Anforderungen im Beschäftigungssystem durch neue Technologien, ökologische Erfordernisse und die fortschreitende Internationalisierung der Wirtschaft erfordern eine kontinuierliche Weiterentwicklung der bewährten Konzepte. Berufsbilder müssen diese neuen Voraussetzungen berücksichtigen. Die Euro-Normen für die Berufsprofile im Jahre 2000 werden — plakativ ausgedrückt — so sein: weniger Berufe als heute, dafür aber breiter und differenzierter ausgestaltet und verstärkt mit social skills, also mit Schlüsselqualifikationen.Das bedeutet in allen Phasen der Berufsausbildung bessere finanzielle Ausstattung. Meine Herren, meine Damen, wie soll in den Köpfen vieler Bürgerinnen und Bürger das Urteil revidiert werden, das Abitur sei hochwertiger als ein guter Berufsabschluß,
wenn der Staat, nämlich hier die Länder, die berufliche Ausbildung so sehr vernachlässigt? Wissen Sie eigentlich, meine Herren und Damen, wieviel Prozent eines Schülerjahrgangs der 15/16- bis 19/20jährigen eine berufliche Schule, gleich welcher Art, Vollzeit oder Teilzeit, und wieviel Prozent die Sekundarstufe II einer allgemeinbildenden Schule in der alten Bundesrepublik besuchen? Ich sage es Ihnen. 70 % bis 75 % eines Jahrgangs besuchen eine berufliche Schule. Eine allgemeinbildende Schule besuchen nur 25 % bis 30 %. Deshalb begrüßen wir Liberalen ausdrücklich die Zielsetzung der Regierung, die berufliche Bildung als gleichwertigen Teil des Bildungswesens auszubauen.
Ich komme zum letzten Punkt, Frau Präsidentin. Im Sinne der Ausgestaltung der beruflichen Bildung zu einer attraktiven Alternative zum Hochschulstudium und im Sinne der Gleichwertigkeit von Berufs- und Allgemeinbildung muß die Fort- und Weiterbildung ausgebaut werden. Das bedeutet, daß die europäische Dimension entsprechende Qualifikationen der Aus- und Weiterbildung nötig macht. Die FDP wird sich dafür einsetzen, daß qualifizierten Fachkräften, die sich im Beruf bewährt haben, auch ohne eine schon in der Ausbildung erworbene formale Reifeprüfung der Zugang zur Hochschule eröffnet wird, siehe berufliches Begabtenförderungsprogramm.
— Dieses Programm haben Sie im Haushalt abgelehnt.
Fazit: Wenn die berufliche Aus- und Weiterbildung in Richtung auf eine Gleichwertigkeit zu anderen Bereichen des Bildungswesens Erfolg haben soll, muß der Bund mehr Kompetenzen bekommen, und zwar im Sinne der Koordinierung, vielleicht sogar im Sinne von Stichentscheid zwischen Ländern und Bund bei bestimmten Fragen der Ausbildung und der Abschlüsse.
Der europäische Binnenmarkt, meine Herren und Damen, wird eine solche Erweiterung der Kompetenzen schon erzwingen.
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2396 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Dr. Margret Funke-Schmitt-RinkVielen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Dietmar Keller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die als Politik ausgegebene Manie, in Ostdeutschland alles schnell und rigide wie in Westdeutschland zu machen, hat in Ostdeutschland eine eigenartige Dynamik der Entwicklung erzeugt. Ein besonders drastisches Beispiel für das Ausschütten des Kindes mit dem Bade wurde mit der Liquidation der Lehrlingsausbildung im Betrieb durch die Liquidation der Großbetriebe geschaffen. Wir sind uns bestimmt einig, daß jeder von uns wissen konnte, daß, anders als in der alten Bundesrepublik, etwa 70 % der DDR-Lehrlinge ausschließlich im Betrieb, und zwar im Großbetrieb, ausgebildet wurden und nur ein Viertel im bundesdeutschen Sinne dual. In der DDR war diese duale Ausbildung auf die Kombination von praktischer Ausbildung vorwiegend in Handwerks- oder sonstigen Kleinbetrieben und theoretischer Ausbildung in einer kommunalen Berufsschule beschränkt.
Unabhängig davon, Herr Kollege, wie man dieses System einschätzt, ob es gut oder schlecht gewesen ist, mußte jedem Verantwortlichen klar sein, daß mit der im Auftrag der Bundesregierung von der Treuhand betriebenen Politik der Privatisierung, d. h. der Zerstückelung und Liquidation von Großbetrieben, der Lehrlingsausbildung im Betrieb der Todesstoß versetzt wurde.
— Herr Kollege, Sie haben gestern die Zahlen gehört.
Ich glaube, daß diese Zahlen ziemlich eindeutig gewesen sind und daß sie sich auch bis morgen oder übermorgen nicht ändern werden.
Mitte April dieses Jahres versuchte die Bundesregierung, diese Tatsache mit geschönten Zahlen herunterzuspielen.
Dann wurden aus 67 000 fehlenden Ausbildungsplätzen über nacht etwa 120 000. Niemand vermag auf Grund der schwer zu ermittelnden Zahlen vorauszusagen, ob es dabei bleibt oder ob es weitere Konkurslehrlinge geben wird. Das gleiche gilt für so luftige Zahlen wie die angenommenen 10 000 nach Westdeutschland abwandernden Ausbildungsplatzsuchenden oder die 10 000, von denen vermutet wird, daß sie in der Schule bleiben werden.
— Mit Erblast soll man sich nicht schmücken, sondern das Erbe soll man dort, wo es kein gutes Erbe ist, im Interesse der Menschen verbessern. Wir lösen die Probleme nicht, indem wir uns gegenseitig vorwerfen, daß wir irgendein Erbe auf dem Rücken tragen.
Es ist vorauszusehen, daß die angestrebte Größenordnung von 50 000 zusätzlichen Ausbildungsplätzen in Betrieben mit bis zu 20 Beschäftigten nicht erreicht werden wird, da sich die Beschränkung auf 20 Beschäftigte jetzt schon als falsch erweist und der finanzielle Anreiz von 5 000 DM pro zusätzlichen Ausbildungsplatz und seine Beschränkung auf das erste Lehrjahr als zu gering.Statt dessen wird dank der kräftigen Anreize durch die Bundesanstalt für Arbeit die als Ersatz und als Notlösung anzusehende außerbetriebliche Ausbildung einen größeren Anteil als gewünscht einnehmen. Schon jetzt ist die Tendenz erkennbar, sich auch als kleinerer Betrieb einem außerbetrieblichen Ausbildungsring oder -verein anzuschließen, die Verantwortung für die Ausbildung an diesen Verein oder Ring abzugeben und sich auf diese Weise die Ausbildung durch die Bundesanstalt für Arbeit finanzieren zu lassen, anstatt in eigener Verantwortung in hoher Qualität und natürlich auf eigene Kosten bzw. unter Inanspruchnahme der 5 000 DM vom Ministerium auszubilden. Das wird wahrscheinlich dazu führen, daß viele talentierte Jugendliche einen Ausbildungsplatz in der Alt-Bundesrepublik annehmen werden.Insgesamt erweist sich also das Ortleb-Programm als ein Programm von Not- und Ersatzlösungen und als ein Programm zur Vertagung und Kumulierung der Probleme, da es tendenziell die außerbetriebliche und vollzeitschulische und weniger die duale Ausbildung fördert. Deshalb vermag es auch kaum zur Lösung der gravierenden strukturellen Unterschiede zwischen Ausbildung Ost und Ausbildung West beizutragen, z. B. was den Anteil des Handwerks und von Klein- und Mittelbetrieben an der Lehrlingsausbildung oder eine originäre kaufmännische Ausbildung betrifft.Das Ausbildungsprogramm Ost ist auch nicht geeignet, die Abwanderung gerade der fähigsten Jugendlichen zu verhindern. Im Osten Deutschlands kann es mit der jetzigen Berufsbildungspolitik der Bundesregierung bestenfalls gelingen, durch die Installation eines künstlichen Ausbildungssystems die fehlenden Lehrstellen notdürftig wegzurechnen.Da der Berufsbildungsbericht auf die gravierenden Probleme der Berufsausbildung in Ostdeutschland keine ausreichende Antwort gibt und auch keine optimalen Lösungen anbietet, kann ich ihm nicht zustimmen.
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Als nächste hat Frau Kollegin Maria Eichhorn das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdem jetzt sehr viel über die neuen Bundesländer gesprochen worden ist, möchte ich zunächst einmal wieder auf die Situation in den alten Bundesländern eingehen.In den alten Bundesländern ist 1990 die beste Ausbildungsplatzbilanz seit Bestehen der Bundesrepublik erreicht worden. Übertraf das Lehrstellenangebot bereits im Vorjahr die Nachfrage um 11 % , so waren 1990 um 18 % mehr Lehrstellen angeboten, als besetzt werden konnten.
Das heißt, im Durchschnitt blieb fast jeder fünfte angebotene Ausbildungsplatz unbesetzt. Offiziell sind es 114 000 Ausbildungsplätze, die nicht besetzt werden konnten. Die tatsächlichen Zahlen sind aber wesentlich höher. Welcher Handwerksmeister geht denn noch zum Arbeitsamt, wenn er weiß, daß er dort keinen Auszubildenden vermittelt bekommt.Große Probleme zeigen sich in der Bauwirtschaft, im Metallbereich, aber bereits auch in Teilen des Elektrobereichs. Auch das Nahrungsmittelhandwerk, der Einzelhandel und der Gaststättenbereich sind besonders betroffen. Der Fachkräftemangel wird sich in den nächsten Jahren damit drastisch zuspitzen, vor allem im süddeutschen Raum, wo die Arbeitslosenquote sehr niedrig ist.Die Vermittlungschancen der jungen Frauen haben sich weiter verbessert. Eine qualifizierte berufliche Ausbildung ist für junge Frauen heute so selbstverständlich wie für Männer. Leider konzentriert sich die Ausbildung von Frauen nach wie vor auf wenige Ausbildungsberufe.Junge Frauen schneiden sowohl in der Schule als auch bei den beruflichen Abschlüssen im Durchschnitt besser ab als ihre männlichen Kollegen. Trotzdem ist der Anteil von Frauen an zukunfts- und technikorientierten Ausbildungsberufen immer noch gering.Ich begrüße daher nachdrücklich die Aussage der Bundesregierung, Frauen und Männern in der Praxis gleiche Zugangs- und Aufstiegsmöglichkeiten zu allen Berufen zu eröffnen und durch gezielte Information Mädchen und Ausbilder für eine vermehrte Ausbildung von Frauen in technischen Berufen zu motivieren.
Herr Jork hat die Ausbildungssituation in den neuen Bundesländern bereits geschildert. Lassen Sie mich aber noch einige Bemerkungen hinzufügen.1990 ist es in den neuen Bundesländern gelungen, alle Lehrlinge unterzubringen. Auch 1991 muß dafür gesorgt werden, daß jeder Jugendliche, der dies wünscht, eine berufliche Ausbildung erhält.Um dies sicherzustellen, hat die Bundesregierung das „Ausbildungsplatzförderungsprogramm Ost" beschlossen und Hilfen von über 1 Milliarde DM zurVerfügung gestellt. Die Resonanz hierauf ist sehr positiv.Die Bereitschaft zur Hife ist auch in den alten Bundesländern groß. So hat die Handwerkskammer Oberfranken bereits im letzten Jahr die Initiative ergriffen, um als Treuhandkammer für die Handwerkskammern Gera, Chemnitz und Halle tätig zu werden. Dabei geht es vor allem auch um Investitionsmaßnahmen im Bereich der beruflichen Bildung. So wurde bereits im August letzten Jahres über die Handwerkskammer Oberfranken das Berufsbildungs- und Technologiezentrum in Halle mit einem Kostenaufwand von 12,8 Millionen DM errichtet. Im November letzten Jahres wurde eine weitere Einrichtung in Rudolstadt ihrer Bestimmung übergeben. In der Planung befinden sich Chemnitz und Gera; in Zeulenroda wird eine ehemalige Lehrwerkstätte zu diesem Zweck umgerüstet.In all diesen Orten finden bereits seit längerem Schulungen aller Art statt. Die dort tätigen Ausbilder wurden in Bayreuth vorbereitet und entsprechend qualifiziert.Auf Vermittlung der Handwerkskammer Oberfranken wurden inzwischen 1 200 Kontakte zwischen Betrieben aus Bayern und den neuen Bundesländern hergestellt — ein Beispiel für viele.Bei der Anhörung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft gestern in Weimar zeigte sich: Alle verantwortlichen Kräfte arbeiten konstruktiv zusammen. Es ist viel in Bewegung. Die Informationen werden täglich besser. Nach den Aussagen mehrerer Verantwortlicher in Weimar kann schon heute als gesichert gelten, daß jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz erhalten wird.In den nächsten Jahren wird das Problem des Nachwuchsmangels eine zentrale Rolle spielen. Dieser wird nicht abnehmen, wenn der Drang der Jugendlichen zu Gymnasium und Hochschule weiter anhält. In den neuen Bundesländern zeichnet sich bereits heute diese Entwicklung ab.Daher ist eine Aufwertung der beruflichen Bildung, wie sie im Berufsbildungsbericht angesprochen wird, dringend erforderlich.
Was spricht denn dagegen, einem qualifizierten Meister oder einer Meisterin den Zugang zur Hochschule zu eröffnen? Dies wäre sicher eine von mehreren Möglichkeiten, um die Gleichwertigkeit der beruflichen Bildung hervorzuheben.Die Politik kann dies allerdings nicht allein lösen. Die Wirtschaft muß über Einkommensanreize selbst zur Lösung beitragen.
— Ich bin schon am Ende meiner Redezeit. Ich möchte meine Ausführungen gern zu Ende führen; entschuldigen Sie bitte.Meine Damen und Herren, unser duales System hat sich in der Vergangenheit in hervorragender Weise bewährt. Es ist weltweit anerkannt. Es ist die Grund-
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Maria Eichhornlage unseres Erfolgs und die beste Grundlage für den Neubeginn in den neuen Bundesländern.Danke schön.
Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß es auch die Möglichkeit der Kurzintervention gibt, so daß man nicht alles über Zwischenfragen zu erledigen versuchen muß.
Das Wort hat der Kollege Günter Rixe.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der uns hier und heute zur parlamentarischen Beratung vorliegende erste gesamtdeutsche Berufsbildungsbericht wird den Anforderungen an die Berufsbildungsplanung und dem Auftrag aus dem Berufsbildungsgesetz nicht gerecht. Gerade nach der deutschen Einigung hätten von diesem Bericht Signale für die berufliche Bildung in den neuen und alten Ländern ausgehen können. Diese Chance wurde leider nicht genutzt.
So hätte man gerade für die neuen Länder die Erfahrungen, die wir in der alten Bundesrepublik in den 80er Jahren mit der Lehrstellennotlage gemacht haben, umsetzen müssen.
Aber nein, jetzt schreibt man hier in den Berufsbildungsbericht genau wieder die Appelle an die Wirtschaft hinein, die schon seit Wochen im leeren Raum verhallen. So kann man doch die Motivation bei den Auszubildenden nicht wecken, Herr Staatssekretär. — In meiner Rede steht noch „Herr Minister" ; aber der ist ja leider gegangen.
Dazu müssen konkrete Programme aufgeschrieben werden. Wir haben Ihnen mit unserem „Aktionsprogramm zur Sicherung der beruflichen Bildung" gezeigt, wie so etwas geht.
Die radikale Umstellung der Berufsbildung auf die Strukturen und Vorgaben nach dem Berufsbildungsgesetz zum 1. Januar 1990 hat die Zukunftschancen der jungen Menschen in den neuen Bundesländern gegenüber den Auszubildenden in den alten Ländern erheblich beeinträchtigt. Ich will auf diese Auswirkungen heute nicht weiter eingehen; dazu hat Ihnen Herr Hilsberg schon einiges gesagt.
Ich will in dieser ersten Debatte zum Berufsbildungsbericht 1991 auf andere wichtige Bereiche der beruflichen Bildung eingehen, weil ich denke, daß wir uns heute nicht nur über die Situation in den fünf neuen Ländern, sondern über die Berufsausbildung insgesamt unterhalten sollten.
Zum ersten, zur Situation im allgemeinen: Der Berufsbildungsbericht 1991 stellt die Ausbildungsplatzsituation in den alten Ländern in ein sehr positives Licht:
die beste Ausbildungsplatzbilanz seit Bestehen der Bundesrepublik sei erreicht worden
— ich zitiere nur den Berufsbildungsbericht —; um rund 18 % überträfen die Angebote an Ausbildungsplätzen die Nachfrage; die Zahl der noch nicht vermittelten Jugendlichen sei seit Einführung der Statistik noch nie so niedrig gewesen; die Vermittlungschancen junger Frauen seien jetzt so gut wie die der Männer. — Alles Zitate aus dem Berufsbildungsbericht.
Im ersten Moment hören sich diese Aussagen ganz gut an. Aber, Herr Staatssekretär: Was ist denn mit der Arbeitsamtsstatistik vom Mai 1991? In ihr sind 45 220 arbeitslose Jugendliche unter 20 Jahren in den alten Ländern registriert.
Oder, Herr Staatssekretär: Was ist mit den tatsächlichen Ausbildungs- und Beschäftigungsberufen der jungen Frauen? Sie sprechen von Vermittlungschancen. Es mag ja sein, daß junge Frauen annähernd die gleichen Chancen wie junge Männer haben, aber doch nur im statistischen Durchschnitt. In den konkreten Berufen sieht es in der Realität doch noch ganz anders aus.
Und wenn Sie den Rückgang der Bewerberzahlen so in den Vordergrund stellen und damit der Entspannung auf dem Arbeitsstellenmarkt allgemein das Wort reden: Haben Sie dabei auch bedacht, daß es in den elf alten Ländern zum Teil heute noch erhebliche regionale und sektorale Angebotsunterschiede gibt und immer gegeben hat?
— Natürlich, okay. Trotzdem müssen wir uns in diesem Punkt an die Jugendlichen wenden. In einigen Bereichen können sich die Jugendlichen eben nicht den Beruf aussuchen, den sie eigentlich erlernen möchten. Ich bin allerdings froh, daß Sie in Ihrem Bericht problematisieren, daß immer noch zu viele Jugendliche ohne Abschluß in einem anerkannten Ausbildungsberuf bleiben.
Herr Kollege Rixe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des lieben und verehrten Kollegen Grünbeck?
Ja, bitte, meinem Handwerkskollegen immer.
Herr Kollege, wenn Sie die positive Nuance des Berufsbildungsberichts anzweifeln: Würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß unsere künftigen europäischen Binnenmarktpartner im Vorfeld eben dieses Europäischen Binnenmarktes über arbeitslose Jugendliche unter 25 Jahren in der Größenordnung zwischen 20 und 30 % klagen, während wir bei dieser Gruppe von Jugendlichen unter 5 % lie-
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Josef Grünbeckgen, und würden Sie angesichts dessen nicht zugeben wollen, daß wir in der Bundesrepublik eine hervorragende Ausbildungssituation haben?
Herr Grünbeck, natürlich ist es richtig, wenn Sie sagen, daß die Situation in den anderen EG-Staaten noch schlimmer ist. Aber das bedeutet doch nicht, daß wir das befürworten. Ich bedaure das vielmehr. Die Statistik bei uns ist noch negativ, auch wenn sie besser als in allen anderen Ländern in Europa ist. Das reicht mir trotzdem nicht aus, weil es mir in dieser Frage um jeden einzelnen Jugendlichen geht und nicht darum, ob wir in Europa die Besten sind, immer nach dem Motto: Wir sind die Größten, und damit ist das erledigt. Nein, es geht hier um jeden einzelnen Jugendlichen!
Ich frage Sie weiter; Herr Staatssekretär: Was ist mit den schätzungsweise 1,5 Millionen jungen Menschen der Geburtsjahrgänge 1960 bis 1969, die in den letzten zehn Jahren nicht mit einer Ausbildung oder Qualifizierung bedient werden konnten? Nach den Prognosen der Bund-Länder-Kommission kommen bis zum Jahr 2000 noch einige hinzu. Diese Menschen haben doch auch ein Recht auf eine Erwerbsqualifikation. Darum müssen wir uns kümmern. Für diese Menschen brauchen wir umfangreiche Qualifizierungsprogramme. Damit diese Gruppe zahlenmäßig nicht noch weiter zunimmt, müssen für diese Personen begleitende pädagogische Hilfen sowie die Möglichkeit längerer Ausbildungszeiten geschaffen werden.Abzulehnen sind dagegen die Bestrebungen, wie sie auch im vorliegenden Bericht wiederzufinden sind: eine praxisorientierte Einfachausbildung einzuführen, bei der dann mit verkürzter Ausbildungszeit ein Abschluß unterhalb des bisherigen Facharbeiterniveaus vergeben würde. Auch wenn Sie dies bestreiten, dies hat nichts mit den möglichen Differenzierungen des dualen Systems zu tun. Die Ausbildung muß darauf abzielen, eine normale Berufsausbildung mit entsprechendem Abschluß zu ermöglichen, und für die eine oder andere Person muß hierfür dann ein erhöhter Aufwand betrieb en werden.Im übrigen, Herr Staatssekretär, hat es in Ihrem Hause eine Untersuchung zur Wirksamkeit des Benachteiligtenprogrammes nach dem § 40c des Arbeitsförderungsgesetzes gegeben, damit auch junge Leute mit schulischen oder sozialen Defiziten bei entsprechender Förderung und Unterstützung normale Berufsabschlüsse schaffen können. Warum nehmen Sie so etwas eigentlich nicht zur Kenntnis und stellen es nur in das Regal, womit es sich dann erledigt hat? Nein, dies sollten wir zur Kenntnis nehmen.Ich bin vielmehr der Auffassung, diese Programme sollten in der beruflichen Bildung zu einer breit und dauerhaft angewendeten Maßnahme werden. Anstatt daß Millionenbeträge für eine ungefähr gleichgewichtige Begabtenförderung ausgegeben werden, sollten die Gelder besser in zusätzliche Förderung von Benachteiligten hineinfließen.Einige Sätze zur Weiterbildung. Auch die Förderung der Weiterbildung bedarf einer angemessenen finanziellen Ausstattung. Das von Ihnen, Herr Staatssekretär, vorgelegte Konzept — das stammt natürlich vom Herrn Minister, der aber nicht da ist — im Berufsbildungsbericht beschränkt sich nur auf einige Beschäftigte und trägt ausschließlich dem Gedanken des Auslesens Rechnung.Für das geeinte Deutschland gilt im Hinblick auf das gemeinsame Europa, daß ständiges Weiterqualifizieren der Arbeitnehmer der bessere Beitrag zur Wettbewerbsposition der Wirtschaft ist als dauernd hohe Arbeitslosenzahlen.Deshalb muß die Weiterbildung endlich als vierte Säule im Bildungssystem anerkannt und so behandelt werden.
Handlungsmöglichkeiten des Bundes, um das notwendige Mindestmaß an Ordnung im Bereich der Weiterbildung herzustellen, müssen genutzt und ausgebaut werden. Berufliche Weiterbildung muß auch auf den Erhalt und die Erhöhung des allgemeinen Qualifikationsniveaus der Arbeitnehmer gerichtet sein und darf sich nicht nur an den kurzfristigen ökonomischen Interessen orientieren. Die Qualifizierung muß breit angelegt werden.Einige Sätze zur Herausforderung an Europa. Jetzt komme ich dazu; Herr Grünbeck ist weg. Die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes stellt auch die berufliche Bildung und die Qualifizierungspolitik in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft vor neue Herausforderungen. Unter dem Einfluß der Europäischen Gemeinschaft wird sich der technische, wirtschaftsstrukturelle und arbeitsorganisatorische Wandel noch beschleunigen.Das heißt dann für die berufliche Ausbildung und Qualifizierung, daß sich grundsätzliche Änderungen der berufsbildungspolitischen Leitlinie nicht ergeben. Darin stimmen wir mit der Bundesregierung überein, denn das deutsche duale Ausbildungssystem mit seiner praxisorientierten Ausbildung wird als ein erfolgreiches Modell auch in anderen Ländern angesehen.Das Zusammenwachsen Europas heißt aber, daß alle Berufsbildungssysteme voneinander lernen müssen. Man sollte also schauen, welche Vorteile das eine oder andere Bildungssystem für uns haben sollte. Es kann doch wohl niemand so arrogant sein, dem europäischen Nachbarn unser duales Ausbildungssystem aufdrücken zu wollen. Es gibt auch in anderen Ländern, z. B. in Frankreich, eine gute Ausbildung im Bereich der Werkzeugmacher, im Bereich des Handwerks, im Bereich der Architektur und allem, was damit zusammenhängt. Das Motto muß also heißen: Für Europa lernen heißt also auch, von Europa lernen. Dieses müßten Ziele im Berufsbildungsbericht sein.Jetzt zum Ende noch einige Punkte zu den Grundsätzen der Weiterentwicklung der beruflichen Bildung.Es gibt nur einen einzigen Satz im Berufsbildungsbericht, der sich auf die Empfehlungen der Enquete-
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Günter RixeKommission, „Zukünftige Bildungspolitik/Bildung 2000" vom September 1990 bezieht.Hier hätte durchaus mehr Substanz in den Bericht gehört. Zum Beispiel: Vor welcher konkreten Herausforderung die Berufsbildung bis zum Jahre 2000 steht oder welche Rolle der Lernort Berufsschule angesichts der künftigen Herausforderung an eine qualifizierte Berufsbildung einnehmen kann und welche zusätzlichen personellen und materiellen Ausstattungen dazu nötig sind oder worin der Wandel der Berufsinhalte besteht und wie das Verhältnis von beruflicher und allgemeiner Bildung einzuschätzen ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir jetzt diesen ersten gesamtdeutschen Berufsbildungsbericht in den Ausschüssen beraten, dann sollten wir auch darauf achten, daß die besseren schulischen Qualifikationen von Mädchen und jungen Frauen dazu führen, daß sie eine entsprechende Beteiligung an qualifizierten Ausbildungsberufen und Arbeitsplätzen erhalten. Hierzu sind Informationskampagnen nicht ausreichend, Herr Staatssekretär. Hierfür sind konkrete Frauenförderprogramme notwendig, und diese müssen dann in den Berufsbildungsbericht auch hineingeschrieben werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Engelbert Nelle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Vorredner, vor allem Dr. Jork und Frau Eichhorn von meiner Fraktion, der Fraktion der CDU/CSU, haben sich heute morgen im wesentlichen mit den quantitativen und qualitativen Problemen der beruflichen Aus- und Weiterbildung und deren Lösungen in den neuen Ländern beschäftigt. So wichtig unser Einsatz in diesem Bereich ist, dürfen wir, meine ich, uns dennoch nicht den Blick für die ungelösten Probleme verstellen, die es insgesamt in der Berufsbildung in der Bundesrepublik Deutschland gibt.
Herr Rixe, Sie haben auf einige Punkte abgehoben. Ich will das ebenfalls tun. Auch wenn wir hier und heute da und dort nicht zu einer Meinung gelangen, kommen wir uns vielleicht in der Ausschußberatung nahe.
Einer Umfrage zufolge sind fast 14 % der jungen Menschen eines Jahrgangs in den alten Ländern — wohlgemerkt: in den alten Ländern — ohne einen beruflichen Ausbildungsabschluß. Ich halte dies für besorgniserregend, zumal die Wirtschaft bereits seit geraumer Zeit über einen Fachkräftemangel klagt.Wenn das Ziel, eine Ausbildung für jeden Jugendlichen zu erreichen, erfüllt werden soll, muß die duale Ausbildung differenzierter gestaltet werden; da sind wir eben nicht einer Meinung. Die duale Ausbildung muß den unterschiedlichen Leistungsmöglichkeiten der Ausbildungsbewerber und der Auszubildenden gerecht werden, und die Ausbildungspraxis muß stärker differenzierte Ausbildungsmöglichkeiten anbieten. Daher unterstützen wir alle Maßnahmen und Entwicklungen, die auf eine sachgerechte Differenzierung zielen.Jugendliche, denen das Lernen schwerfällt, sollen so gefördert werden, daß auch sie möglichst eine anerkannte Berufsausbildung erfolgreich abschließen können.
Für Jugendliche, die dieses Ziel trotz intensiver Förderung nicht erreichen — jetzt wird es ganz konkret, Herr Rixe —, sollen im Rahmen des geltenden Berufsbildungsrechts und der Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt neue, gegebenenfalls stärker praktisch ausgerichtete Ausbildungsberufe geschaffen werden, wie es z. B. beim Metallwerker und der Verkäuferin der Fall ist.
— Darüber werden wir uns zu unterhalten haben.
Schließlich: Für Jugendliche, die mehr leisten können und wollen, als in den Anforderungsprofilen der anerkannten Ausbildungsberufe vorgesehen ist, sollen differenzierte Möglichkeiten zum Erwerb anspruchsvoller Zusatzqualifikationen eröffnet werden. Darum sind wir froh, daß unserer Förderung nach Schaffung einer Begabtenförderung endlich entsprochen wird.Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat ein Konzept für die Durchführung der Begabtenförderung entwickelt.
— Gewiß. — Wir haben für die universitäre Begabtenförderung im Haushalt 1991 etwa 107 Millionen DM vorgesehen, für die Begabtenförderung in der Berufsbildung nur 10 Millionen DM. Aber, Herr Staatssekretär, ich bin ganz sicher: Wir werden diesen Ansatz in den nächsten Jahren sicherlich erhöhen können.Im Zusammenhang mit der soeben behandelten Differenzierung will ich zweitens auf die für die Berufsanfänger wichtige Berufsberatung durch die Arbeitsämter eingehen, die nach meiner Ansicht weiter verbessert werden muß. Manche meiner Vorredner haben schon darauf hingewiesen; auch ich mache es an diesem Beispiel fest: Wir kennen 380 Ausbildungsberufe und wissen, daß für 350 auch Mädchen von ihrer Begabung her eine Chance hätten. Es ist ein Unding, daß sich das auf nur wenige Ausbildungsberufe für Mädchen verringert. Das hängt sicher mit einem Defizit in der Beratung zusammen.
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Engelbert NelleMeine Vorredner haben, glaube ich, schon Hinreichendes darüber gesagt, daß die Attraktivität der Berufsausbildung gesteigert werden muß. Wichtig ist, Eltern und Jugendlichen klarzumachen, daß durch die Berufsausbildung im dualen System Lebensperspektiven nicht verbaut, sondern geradezu geöffnet werden.Zum Europäischen Binnenmarkt haben Sie, lieber Herr Rixe, sich schon nachdrücklich geäußert. Ich kann nur unterstreichen, was Sie zum Europäischen Binnenmarkt gesagt haben. Die europäische Dimension muß verstärkt in die berufliche Aus- und Weiterbildung einbezogen werden. Ich will das darum jetzt nicht weiter kommentieren.Wenn aber in diesem Zusammenhang immer wieder — zu Recht — das Wort von der Weiterbildung gebraucht wird, dann sollten wir auch in den Beratungen daran denken, die Weiterbildung gerade auch für Ausbilder, für Meister, für Führungskräfte in der Wirtschaft schlechthin anzusprechen und, was die Ausbilder angeht, einmal darüber nachdenken, wie wir die AEVO, die Ausbilder-Eignungsverordnung verstärken können. Ich glaube, mit einer einmaligen Wäsche, wenn ich das so salopp sagen darf, ist das nicht getan.Ein Wunsch von mir zum Abschluß: Ich wünsche mir, daß wir endlich einmal wieder einen Berufsbildungsbericht mit einem einheitlichen Votum aller vier Gruppen vorgelegt bekommen, die im Hauptausschuß des BIBB vereint sind, was in den letzten Jahren leider nicht mehr gelungen ist; vielleicht gelingt uns das im nächsten Jahr, 1992.Genauso wünsche ich mir, daß unsere Beratungen wie in den letzten Jahren sympathisch und positiv sein werden und daß wir am Ende, wenn wir wieder ins Plenum kommen — etwa im Spätherbst; nach der Beratung im Ausschuß — , wie im letzten und vorletzten Jahr einen einheitlichen Entschließungsantrag vorlegen können. Ich glaube, die Berufsbildung verdient dies.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Kuhlwein das Wort.
Herr Kollege Nelle, bei Ihnen hat eben leider etwas gefehlt, was als roter Faden durch die Beiträge Ihrer Koalitionskollegen gegangen ist, nämlich das Bekenntnis zum Hochschulzugang ohne Abitur über die Berufsausbildung. Ich freue mich, daß wir über die Fraktionen hinweg in dieser Frage einig sind. In den Unions-regierten Ländern gibt es allerdings gesetzliche Regelungen in dieser Richtung bisher nicht. Dort, wo die Union in den Ländern in der Opposition ist, bekämpft sie entsprechende Gesetze der SPD-Landesregierungen als Teufelswerk.
Ich würde gerne von Herrn Wolfgramm, der gleich für die Bundesregierung spricht, etwas dazu hören, ob wir, Frau Funke-Schmitt-Rink, Kompetenzen, die der Bund zweifelsohne hat — die Regelung des Hochschulzugangs —, nutzen werden, indem wir im Hochschulrahmengesetz gemeinsam einen Paragraphen verankern, der den Hochschulzugang über die Berufsausbildung ohne Abitur prinzipiell möglich macht oder der, vielleicht sogar ein bißchen stringenter, den Ländern auferlegt, entsprechende Regelungen in ihre Hochschulgesetze zu schreiben. Dazu würde ich, wie gesagt, etwas von Herrn Wolfgramm hören. Hier muß gepfiffen werden, da darf nicht nur der Mund gespitzt werden.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Wolfgramm, das ist die Aufforderung, das Wort zu ergreifen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lieber Kollege Penner!
Wir dürfen mit einer gewissen Befriedigung feststellen, daß uns das Lob der Opposition, daß der Bericht rechtzeitig vorgelegt wird, natürlich erfreut. Es ist das gute Recht der Opposition, ernsthafte Kritik zu üben. Wir stehen natürlich auch nicht an, diese Kritik sehr ernst zu nehmen und sie sehr intensiv zu prüfen.Aber ich meine doch, daß dieser Bericht ein Erfolgsbericht ist. Er zeigt, daß wir die wichtigsten und gravierendsten aktuellen Probleme in den alten Ländern, aber auch die wichtigsten Probleme 1990 in den neuen Ländern in den Griff bekommen haben. 1991 hat — ich werde darauf noch eingehen — seine zusätzlichen Schwierigkeiten.Herr Kollege Kuhlwein hat eben die Frage der zusätzlichen Qualifizierung im Hinblick auf die Begabtenförderung im beruflichen Bildungsbereich angesprochen.Ich möchte ein paar kurze grundsätzliche Anmerkungen zum Bericht machen dürfen. Ich habe hier, Herr Kollege Nelle, eine etwas andere Zahl. Sie lautet: Jeder zehnte Jugendliche eines Jahrgangs ist ohne qualifizierten beruflichen Abschluß.
Ich kann, weil meine mathematischen Fähigkeiten seinerzeit nicht so ausgebildet worden sind, nicht sofort übersehen, ob die Zahlen identisch sind. Ein kleines Gerät, das mir das vielleicht erleichtern könnte, steht im Augenblick nicht zur Verfügung.
— Herr Kollege, wir können das dann ja einmal in einer Art Fortbildung betrachten.Ich finde, das ist ein sehr ernstes Problem. Wenn wir dazu wissen, daß die Hälfte davon in der Schule und
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Parl. Staatssekretär Torsten Wolfgrammauch später überhaupt nicht zu einer Ausbildung zu motivieren ist, dann müssen wir dieser Sache ein besonderes Augenmerk widmen. Das werden wir verstärkt tun. Wir müssen das auch tun; denn es ist bekannt, auf welchem Grund der Wohlstand Deutschlands aufgebaut ist: auf dem Wissen und Können der Facharbeiter und der Ingenieure, die eben ihre qualifizierten Fähigkeiten einbringen müssen. Jeder dritte Arbeitsplatz in diesem Land ist vom Export abhängig. Wir können nur bestehen, wenn wir draußen in der Welt konkurrenzfähig sind. Das sind wir nur, wenn wir gut ausgebildete, motivierte, qualifizierte Berufsbildungsabgänger haben.Wir werden das tun in der Art, die vorhin von dem Kollegen Nelle beschrieben worden ist. Wir werden hier stärker versuchen zu differenzieren. Wir werden versuchen, die Leistungsschwächeren — denn meistens handelt es sich dabei um Leistungsschwächere — mit einer einfacheren Qualifzierung an eine Ausbildung heranzuführen. Sie wissen, daß wir an einem Benachteiligtenprogramm arbeiten, Herr Kollege Rixe. Das nehmen wir sehr ernst. Wir möchten es natürlich dann auch sorgfältig vorstellen dürfen.Daß wir uns natürlich auch besonders für leistungsstärkere Jugendliche einsetzen, wird Sie nicht überraschen.Wir möchten deutlich machen, daß die berufliche Ausbildung eine gleichwertige Ausbildung ist gegenüber der schulischen Ausbildung, der allgemeinen Ausbildung, der Hochschulausbildung. Deswegen unterstützen wir das — ich komme jetzt auf die Interventionsfrage des Kollegen Kuhlwein — , was Frau Funke-Schmitt-Rink vorgetragen hat; daß wir die Durchlässigkeit zum Hochschulbereich schaffen müssen und daß es möglich sein muß, daß ein qualifizierter Meister seine Fähigkeiten weiterentwickeln kann, daß er sie weiter ausbauen kann und daß er nicht einen Umweg gehen muß und erst noch zusätzliche Qualifikationen erwerben muß.
Wir sind da, glaube ich, alle einer Meinung. Wir werden das dann wohl auch gemeinsam versuchen können.
Übrigens kann ich, um das Loblied der dualen Ausbildung noch einmal zu verstärken, nur sagen: Ich hatte vor kurzem Besuch des Kollegen Jackson aus Großbritannien. Er hat deutlich gemacht, daß er verstärkt versuchen wird, dieses System nun — mit einer gewissen unterschiedlichen Variante — in seinem Land einzuführen. Heute morgen hat sich immerhin auch der iranische Botschafter bei mir nach den Möglichkeiten erkundigt — weil es darüber Gespräche mit dem Auswärtigen Amt gegeben hat — , dieses System auch dort einzuführen. Es muß also schon einen großen Eindruck auf das Ausland machen.
Was wir brauchen, ist also eine begabungsgerechte Berufsausbildung für Schwache und für Starke und mehr Gleichwertigkeit der beruflichen gegenüber der allgemeinen Bildung.Nun darf ich kurz auf das zurückkommen, was ich vorhin positiv unterstrichen habe. Wir haben die erste große Herausforderung 1990 in den neuen Ländern bestanden. Ich glaube — ohne daß ich jetzt der Opposition den Kritikfaden abschneiden will — , daß es nützlich ist, wenn wir alle Mut machen.
Wir können von diesem Haus aus nichts anderes tun, als Appelle an Menschen und Organisationen zu richten und sie mit entsprechenden Programmen zu unterstützen.
Wir müssen all denen Mut machen, die drüben sagen: Eigentlich ist es notwendig, daß wir alle unsere Kraftanstrengungen darauf konzentrieren, daß wir in unserem soeben gegründeten Betrieb — es sind übrigens 300 000 Anmeldungen für Gewerbebetriebe vorgesehen — erst einmal Gewinne machen und Möglichkeiten für Investitionen schaffen. Wir kümmern uns jetzt nicht um Lehrlinge. Das ist im Augenblick nicht unser Bier.Die Frage, die Ihr Programm dazu aufwirft — ob man zusätzliche Anreize hätte geben sollen, wenn zusätzlich ausgebildet wird — , trifft meines Erachtens den Kern nicht. Denn wenn Betriebsgründer sagen, sie bilden gar nicht aus, weil sie die Kraft jetzt erst einmal für sich brauchen und weil sie im Augenblick nicht sosehr an die Zukunft denken, dann müssen wir ihnen den Anreiz auch für die erste Ausbildung geben. Dann müssen wir mit der Möglichkeit, 5 000 DM für einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen, einsteigen. Das tun wir ja auch; es ist eine große Summe ausgeworfen.Ich trage Ihnen einmal vor, was wir darüber hören. Ich habe im Augenblick nur von heute die Anmerkung von Frau Babatz, der Direktorin des Arbeitsamts Neubrandenburg: Zu dem Optimismus, den wir verbreitet hatten, können wir nach wie vor stehen.Hier leuchtet ein rotes Licht auf, das mir deutlich macht, daß auch die Möglichkeiten der Regierung zeitlich außerordentlich begrenzt sind.
So sagte gestern der Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer in Erfurt, Herr Wetzell: Es haben sich 9 873 Bewerber im Industrie- und Handelskammerbezirk gemeldet. 9 500 Ausbildungsplätze sind bereits vereinbart. Das sind ganz aktuelle Zahlen. Alle Verantwortlichen sind aufgerufen, ihre Anstrengungen konsequent fortzusetzen.
Herr Staatssekretär, erstens ich weiß, daß ich Ihnen auf Grund des Grundgesetzes das Wort nicht nehmen kann. Aber zweitens möchte ich Sie bitten, mich nicht in die Verlegenheit zu bringen, daß mir jemand unterstellt, ich würde Sie besser behandeln als andere. Das wäre mir außerordentlich unangenehm. Wenn Sie mir
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Vizepräsident Dieter-Julius Cronenbergbehilflich sein könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Herr Präsident, als langjähriger und auch ein wenig erfahrener Geschäftsführer in diesem Hause habe ich es mir immer angelegen sein lassen, das rote Licht nicht zu erleben. Ich habe immer gedacht: Erst wenn es aufhört zu blinken, muß man aufhören. Ich sehe aber die Sache jetzt anders, und deswegen bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer weiteren Kurzintervention Herr Rixe.
Herr Staatssekretär, wenn Sie gestern mit in Weimar gewesen wären, dann hätten Sie die Zahlen über Erfurt und Weimar hören können. Die Zahl 9 000 ist dort genannt worden. Es ist auch gesagt worden: 9 000 stehen am 1. September höchstwahrscheinlich zur Verfügung. Aber bis zum heutigen Tage waren es 1 800 ausgefüllte Ausbildungsverträge. Auf die anderen hofft man noch, und man setzt ganz stark auf die Förderung nach § 40 c des AFG.
In diesem Jahr stehen 220 Millionen DM für die Förderung nach § 40c des AFG für die neuen Länder zur Verfügung. Insgesamt sind 660 Millionen DM im Haushalt angesetzt. 440 Millionen DM brauchen wir für die alten und 220 Millionen DM für die neuen Länder. Das wird dieses Jahr reichen, weil wir vom 1. September bis zum 31. Dezember 1991 nur vier Monate haben.
Wenn aber die Zahlen stimmen, die wir gestern gehört haben, und 40 % der Ausbildungsplätze über das AFG gefördert werden sollen, dann bedeutet das bei 40 000 bis 50 000 Plätzen eine Summe von 700 Millionen DM für nächstes Jahr plus 440 Millionen DM für dieses Jahr. Das sind 1,15 Milliarden DM. Das kumuliert, weil wir die Förderung für dreieinhalb Jahre zusagen müssen. Das bedeutet 1993 2 Milliarden DM. Das bedeutet 1994 2,8 Milliarden DM. Das müssen Sie Herrn Blüm jetzt aber sagen, damit die Ausbildungsringe, die sich bilden, nachher nicht beschädigt werden, weil sie kein Geld erhalten. Das muß man jetzt einmal deutlich sagen.
Zu einer weiteren Kurzintervention der Abgeordnete Graf von Waldburg-Zeil.
Ich mache das Haus darauf aufmerksam: Weitere Kurzinterventionen lasse ich zu diesem Tagesordnungspunkt nicht zu.
Bitte sehr.
Nachdem der Herr Kollege Rixe den Herrn Staatssekretär etwas gefragt hat, was er nicht beantworten kann, weil er nicht in Weimar gewesen ist,
muß ich als einer, der dabeigewesen ist, sagen, daß Sie Ihre Zahlen offensichtlich nicht mitgebracht haben
und diese aus dem Gedächtnis heraus nicht ganz richtig zitiert worden sind.
Es waren 9 873 Stellen. Genau dies ist das Interessante: 5 713 waren bereits vorhanden; es war ganz anders, als im Trend geschildert. Wenn dies hochgerechnet auf alle neuen Länder angewendet werden könnte, würden sie wieder annähernd 100 000 Plätze zur Verfügung stellen, womit wir alle gar nicht rechnen.
Ich meine nur, wir sollten nicht künstlich in den Keller rechnen, wenn wir auch positive Ergebnisse haben.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, dem Wunsch des Ältestenrates zu folgen und die Vorlage auf der Drucksache 12/348 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Namensrechts von Ehe, Familie und Kindern
— Drucksache 12/617 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine halbe Stunde Debattenzeit vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall.
Dann kann ich die Debatte eröffnen. Das Wort hat Frau Dr. Dobberthien.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieder ist eine Bastion des Patriarchats gefallen. Am 5. März 1991 hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, daß die Vorschrift über den Ehenamen in § 1355 Abs. 2 Satz 2 BGB verfassungswidrig ist. Die Regelung, wonach der Mannesname quasi automatisch Ehename wird, wenn sich die Ehegatten nicht auf einen Ehenamen einigen, ist mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung unvereinbar.Das Urteil hat mich und viele andere Mitstreiterinnen für ein neues Namensrecht sehr gefreut. Es ist
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Dr. Marliese Dobberthienauch ein später Erfolg Elisabeth Selberts, der Mutter des Gleichberechtigungsgebots unserer Verfassung.
Der Gesetzgeber muß nun in die Puschen kommen, eine Neuregelung zu treffen. Hierzu liegt Ihnen ein sehr kluger Gesetzentwurf meiner Fraktion zur ersten Beratung vor.Der SPD-Fraktion war es ein leichtes, in so kurzer Zeit einen Entwurf vorzulegen; denn bereits in der 11. Legislaturperiode hatten wir einen Reformvorschlag zum Namensrecht eingebracht. Meine Kollegin Margit Conrad erklärte damals, anläßlich der ersten Beratung im letzten Jahr: „Wir wollen und müssen aber nicht warten, bis das Bundesverfassungsgericht dem Parlament die Aufgabe erteilt, ein Namensrecht zu schaffen, das wirklich dem Gleichheitsgrundsatz von Mann und Frau entspricht... "Die FDP-Fraktion begrüßte die SPD-Initiative und sagte eine faire und zügige Beratung im Ausschuß zu. Diese zügige Beratung erschöpfte sich dann aber im Verschwinden der Drucksache in den Ausschüssen, und die Namensrechtsreform ging mit der 11. Legislaturperiode vorerst unter.
Es sind also wieder einmal die Unionsparteien, die vom Bundesverfassungsgericht zur Verwirklichung des Gleichberechtigungsgebotes getragen werden müssen.
— Wir haben das eingebracht; Sie hätten gleich zustimmen können.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist eine schallende Ohrfeige für Sie.
Bei der damaligen parlamentarischen Beratung — hören Sie erst zu — bekannte sich der Abgeordnete Dr. Stark zwar — chauvihaft — zu „unseren Frauen, die wir ja lieben". Dann aber lehnte er es ab, am Namensrecht „herumzureformieren". Sein dürftiges Argument: Das Recht sei erst 1976 geändert worden. Nach zehn Jahren gebe es keinen Anlaß zur erneuten Änderung.Abgesehen davon, daß sich der Kollege ziemlich verrechnet hat — es waren nämlich bereits 14 Jahre vergangen — , wird deutlich, wie wenig Sensibilität für die Anliegen von Frauen bei Konservativen vorhanden ist.Für viele Männer ist eine Reform des Namensrechts genauso überflüssig wie für reiche Leute eine soziale Reform, bei der sie etwas abgeben müssen. Der Name wird zur Nebensächlichkeit degradiert. Ohne Gespür für die Bedeutung des Namens für einen Menschen kommentierte z. B. die „FAZ" : Wenn ein Gericht so wenig Arbeit hat, schafft es sich welche.Wie wichtig aber Männern der Name ist, zeigt die Wirklichkeit: 97 % der Männer behalten nach Heirat ihren Namen. Nach einer Erhebung des Bundesverbandes der Deutschen Standesbeamten wählen sogar nur 2 % der Ehepaare den Frauennamen zum gemeinsamen Namen. Der Deutsche Familiengerichtstag will sogar nur 1 % ermittelt haben.Wer einmal erlebt hat, wie sich selbstbewußte Frauen zähneknirschend dem Druck des künftigen Göttergatten beugen und seinen Namen als Familiennamen akzeptieren, erfährt auch, wie Menschen an ihrem Namen hängen.Bei der Namenswahl, so scheint es, gerät die Emanzipation ins Stocken. Der Mann sieht es als sein natürliches Vorrecht an, der Familie seinen Namen zu geben. „Das war schon immer so", lautet die lapidare Begründung von manch glücklichem Bräutigam. Aber er irrt.Weder ist die deutsche Namenspraxis anderswo so üblich noch stammt sie aus fernen Urzeiten. Ob in den kapitalistischen USA oder der kommunistischen Sowjetunion, ob im protestantischen Schweden oder im katholischen Spanien, in 107 Ländern dieser Erde können Ehepartner ihren Geburtsnamen beibehalten.In Deutschland besteht erst seit Ende des 18. Jahrhunderts für Eheleute der gesetzliche Zwang zu einem gemeinsamen Familiennamen. Ziel war damals die Verwaltungsvereinfachung und die vermögensrechtliche Vorherrschaft des Mannes. Im Allgemeinen Preußischen Landrecht wurde verfügt, daß bei der Heirat die Frau den Namen des Mannes annehmen muß. Die Frau verschwand im Haus und ihr Name aus der Öffentlichkeit.Das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 bekräftigte bis 1953 die Herrschaft des Mannes über Arbeitskraft, Körper und Namen der Frau. In den 50er Jahren zogen streitbare Frauen, die sich unter ihrem Geburtsnamen als Ärztinnen, Rechtsanwältinnen oder Wissenschaftlerinnen eine eigene berufliche Existenz aufgebaut hatten, vor die Gerichte. Sie bestanden darauf, ihren Namen weiter zu tragen.Immerhin war es dann von 1958 an der verheirateten Frau gestattet, ihren Geburtsnamen nunmehr dem Familiennamen anzuhängen. Im Telefonbuch war sie dadurch allerdings auch nicht auffindbar. Der Familiennamenszwang blieb erhalten, aber es war nur ein geliehener Name. Wurde nämlich die Frau „schuldig" geschieden, hatte der Mann selbstverständlich das Recht, seinen guten Namen zurückzufordern.In der Reformära der sozialliberalen Koalition wurde das veraltete Ehe- und Familienrecht kritisiert. Der damalige Justizminister Gerhard Jahn prangerte 1971 das Ehenamensrecht als „Bremsklotz für die Gleichberechtigung" an und brachte die Änderung auf den Weg.Gegen das staatliche Rütteln an einem patriarchalischen Vorrecht erhoben sich seinerzeit viele Widerstände. Der Deutsche Industrie- und Handelstag befürchtete damals, Gauner und Ganoven könnten sich
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2405
Dr. Marliese Dobberthienmit dem Namen der Frau in den Untergrund absetzen und sich allen Wechseln, Offenbarungseiden und Konkursen entziehen. Welch Mißtrauen gegen das eigene Geschlecht.Adelskreise sorgten sich um ihr blaues Blut und argwöhnten, daß ihre Komtessen und Freifräuleins nun häufiger wegen des begehrten „von und zu" geehelicht würden.
— Das war so; lesen Sie es einmal nach. — Andere fürchteten eine Bindestrichschwemme, die namens-ästhetische Grundsätze und phonetisch Gewohntes verletze.Trotz der 1976er Reform hat sich nicht viel verändert; denn die Tradition war — wie so oft — stärker als jedes Gesetz. Kein Argument war zu töricht, als daß es von Männern nicht verwendet wurde. „Man muß dann ja alle geschäftlichen Briefbögen und Stempel ändern", klagte ein Bräutigam. Ein anderer — ein Landesjustizminister, dessen Namen ich hier höflich verschweigen will — sorgte sich gar um die Genealogie. „Liebe Marliese", sagte er mir, „wenn du das Namensrecht änderst, dann kann man ja keine Ahnenforschung mehr betreiben."
— Ich hatte gesagt: höfliches Verschweigen.Erst die Klage eines Ehepaars aus Tübingen, das auf der Beibehaltung der jeweiligen Geburtsnamen bestand, führte über das Bundesverfassungsgericht zum Erfolg.Namen sind eben nicht Schall und Rauch, wie Faust in Marthens Garten meint. Das Etymologische Wörterbuch verweist unter dem Stichwort Name auf „namentlich" im Sinne von ausdrücklich, vornehmlich, besonders und „namhaft" im Sinne von berühmt, bekannt, bedeutend. Wer einen Namen hat, unterscheidet sich demnach von anderen, ist etwas Besonderes, ist bekannt. Der Name ist also Identität pur.
Ein Namenswechsel ist danach gleichbedeutend mit einem Wechsel der Identität, ein Vorgang, den wir sonst nur im kirchlichen Bereich wiederfinden, wo ein neuer Papst oder eine Ordensschwester einen anderen Namen erhalten.In einigen Sprachen wird die Geringschätzung der unverheirateten Frau durch die Verkleinerung „Fräulein" ausgedrückt, was unterstellt, eine Frau würde erst durch Heirat zur vollständigen Frau, wenn sie dann den Namen des Mannes übernimmt. Nach dieser Auffassung wechselt sie — nicht etwa der Mann — tatsächlich ihre Identität, was zusätzlich durch eine Namensänderung dokumentiert wird. Das „Fräulein" haben wir inzwischen weitgehend abgeschafft. Nun wollen wir auch den Zwang zum Namenswechsel beseitigen, und zwar für Frauen und Männer.1961 haben wir das Stichentscheidsrecht des Mannes bei Erziehungsstreitigkeiten abgeschafft. Nun muß das Stichentscheidsrecht des Mannes beim Ehenamen abgeschafft werden. Rechtfertigung war bisher, daß der Frau ein Namenswechsel eher zumutbar wäre, weil sie meist die jüngere sei, vor der Heirat weniger lange im Berufsleben stünde, zur Versorgung der Kinder später sowieso aus dem Beruf ausscheide und auch ansonsten seltener eine hohe Position innehabe.Erfrischend eindeutig äußert sich hierzu das Bundesverfassungsgericht:Allein die traditionelle Prägung eines Lebensverhältnisses reicht für eine Ungleichbehandlung jedoch nicht aus. Das verfassungsrechtliche Gebot verlöre seine Funktion, für die Zukunft die Gleichberechtigung der Geschlechter durchzusetzen, wenn die vorgefundene gesellschaftliche Wirklichkeit hingenommen werden müßte.Nach unserem Gesetzentwurf sollen im Regelfall beide Eheleute ihren Geburtsnamen beibehalten. Sie können jedoch auch den Geburtsnamen der Frau, den des Mannes oder einen Doppelnamen zum gemeinsamen Ehe- und Familiennamen bestimmen, oder ein Ehepartner kann seinen Namen dem gemeinsamen Ehenamen voranstellen. Ein Stichentscheid ist nicht mehr erforderlich.Ich will nicht verhehlen, daß ich noch mehr Sympathie für eine im skandinavischen Rechtskreis praktizierte Regelung habe, die bei Nichteinigung der Eltern dem Kind den Mutternamen gibt. Mehr Muttername für eheliche Kinder bedeutet weniger Diskriminierung für nichteheliche Kinder, die immer den Mutternamen tragen. Aber so weit sind wir noch nicht.Bei unserem Gesetzentwurf werden verheiratete Frauen nicht mehr nur als kostenpflichtiger Nebeneintrag im Telefonbuch identifizierbar, sondern bleiben stets unter ihrem eigenen Namen auffindbar. Auf die ungeliebten Doppel-, Mehrfach- und Endlosnamen kann ohne weiteres verzichtet werden. Sie fanden ohnehin kaum Platz auf Scheckkarten und Unterschriftsformularen, nicht wahr, Frau Funke-Schmitt-Rink?
Frau Abgeordnete Dr. Dobberthien, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie langsam zum Ende kämen, denn Sie haben die Zeit schon deutlich überschritten.
Ja, ich komme zum Schluß.
Wenn Frau Schulze den dreimal geschiedenen Herrn Maier ehelicht, braucht sie nach unserem Entwurf künftig nicht mehr Frau Maier Nummer vier zu werden, sondern darf stets Frau Schulze bleiben.
Wir wollen, daß nicht der Staat entscheidet, wer Vorrang hat, sondern wir wünschen ein Höchstmaß an Selbstbestimmung im Namensrecht für beide Geschlechter.
Das Wort hat der Abgeordnete Geis.
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2406 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin, wir wollen festhalten, daß das Verfassungsgericht eine Norm aufgehoben hat, die aus der Zeit der sozialliberalen Koalition stammt. Ich erwähne dies nur, weil Sie meinten, dafür ausschließlich die CDU/CSU verantwortlich machen zu müssen.
Die Verfassungswidrigkeit ist für ein Gesetz bestätigt worden, das jedenfalls nicht in der Regierungszeit der CDU/CSU entstanden ist.
— Das ist die Frage.Es geht hier eigentlich darum, ob wir beim Ehe-bzw. Familiennamen bleiben oder der Trennungsregelung den Vorzug geben wollen. Das ist im Grunde genommen die Kernfrage. Nun muß man wissen, daß der Familienname in unserer Rechtstradition tief verwurzelt ist. Es gibt ihn nicht erst seit 1794, seit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht, sondern schon seit dem 12. Jahrhundert werden die Familienmitglieder mit demselben Namen genannt. Das ist ein Umstand, den man jetzt nicht so ohne weiteres vergessen sollte.Das Bundesverfassungsgericht läßt ja auch einen Gestaltungsspielraum offen. Es schreibt nicht vor, wie wir uns zu verhalten haben. Es sagt nicht, daß wir den Familiennamen gänzlich aufzugeben haben oder daß wir uns für die Trennungsregelung zu entscheiden haben. Das Bundesverfassungsgericht sagt nur, daß dann, wenn ein Konflikt entsteht — der entsteht in ganz wenigen Fällen — , nicht mehr, wie jetzt geregelt, der Name des Mannes den Vorzug haben soll, weil dies gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt. Dann soll vielmehr durch Los entschieden werden, welcher Name als Familienname genommen wird. Das sagt das Bundesverfassungsgericht zwar nicht für den Ehenamen selbst, sondern für den Namen der Kinder, aber das könnte man daraus folgern. Also bleibt es offen, wie wir entscheiden, ob wir uns für den Familiennamen oder für die Trennungsregelung entscheiden.Es gibt viele Gründe, die für die Trennungsregelung sprechen; das will ich gar nicht hintanstellen. Es ist auch gar nicht so, daß dies eine Frage wäre, die uns emotional so stark treffen würde. Das ist keine Frage des Art. 6 des Grundgesetzes. Sie haben mit Recht erwähnt, daß im südeuropäischen Raum und gerade auch in traditionell katholischen Ländern die Möglichkeit besteht, daß der Mann und die Frau ihre früheren Namen beibehalten, so daß kein gemeinsamer Familienname entsteht. Trotzdem kann man nicht behaupten, daß in diesen Ländern der Familiensinn geringer wäre als bei uns. Deshalb ist dies nicht so sehr eine Frage des Art. 6 des Grundgesetzes, sondern mehr eine ordnungspolitische Frage, eine Frage der Praktikabilität und natürlich auch eine Frage der Tradition. Das sollte man — ich sage es noch einmal — bei der Entscheidung und den dazu erforderlichen Überlegungen nicht ganz außer Acht lassen.Ich habe schon erwähnt: Es gibt in unserem Rechtsraum und in den angelsächsischen Räumen eine große, lange Tradition für den Familiennamen. Natürlich muß man sich jetzt ernsthaft fragen: Wollen wir davon Abstand nehmen, oder wollen wir eine Regelung finden, mit der dieser Familienname beibehalten wird, und wollen wir mit einer Auffangregelung dafür sorgen, daß im Konfliktfall nun nicht der Name des Mannes den Vorzug haben soll? Sicherlich — da stimme ich mit Ihnen überein, und darüber brauchen wir auch gar nicht zu streiten — : Der Name ist Signum für den Menschen, der ihn trägt. Er unterscheidet ihn von anderen Menschen. Der Mensch selbst, die Person, identifiziert sich mit seinem Namen. Er ist Symbol für das Eigenverständnis der jeweiligen Person. Würde nun ein gemeinsamer Familienname gesetzlich geregelt werden, würde — auch das stimmt — diese gegebene Identität aufhören, denn der Name würde jedenfalls von einem Partner nicht mehr fortgeführt werden können. Aber der jeweils Betroffene würde ja nicht namenlos werden. Er würde den neuen Familiennamen bekommen. So wie er vorher einen Familiennamen hatte, würde er bei Beibehaltung des Prinzips „Familienname" einen neuen Namen bekommen, nämlich den der Familie. Er würde sich damit wohl auch schnell identifizieren können, und seine Person würde wohl auch von der Außenwelt schnell damit identifiziert werden. Dies kann also bei der Frage des Namens und der Bedeutung des Namens für den einzelnen, für seine Person und seine Identität eine so ausschlaggebende Rolle, wie Sie es hier dargestellt haben, nun auch wieder nicht spielen, wenn man es einmal ganz objektiv betrachtet.
Aber gut, wir sollten diesen Überlegungen in den Ausschußberatungen durchaus nähertreten. Wir sollten uns jetzt nicht auf die eine oder andere Regelung fixieren, sondern man sollte, weil das ein Problem ist, das die Menschen direkt angeht, versuchen, eine gemeinsame Lösung, eine Konsenslösung zu finden. Ich glaube, daß das auch durchaus möglich ist. Aber dann müssen Sie von der SPD davon Abstand nehmen, das Trennungsprinzip zum Regelprinzip zu erheben und den Familiennamen nur dann gelten zu lassen, wenn sich die Eheleute ausdrücklich dafür entscheiden. Wir neigen eher dazu — ich will Ihnen das ganz offen sagen — , am Familiennamen festzuhalten. Im Konfliktfall — das ist das Problem — könnte etwa das Los entscheiden, welcher Name gelten soll, aber man kann auch zu der, wie ich meine, besseren Lösung kommen, daß im Konfliktfall die Trennungsregelung gelten soll. Das heißt, die Eheleute sollen den Namen — den Mädchennamen oder den Namen des Mannes —
behalten, aber sie müssen sich dann spätestens bei den Kindern entscheiden, wie nun die Kinder heißen sollen. Ich kann mich aber nicht dazu verstehen, daß die Kinder vielleicht abwechselnd nach dem Namen des Mannes und nach dem Namen der Frau benannt werden, so wie das in Amerika teilweise gehandhabt wird. Das würde zu einer großen Verwirrung führen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2407
Norbert GeisVielmehr müssen hier dann wirklich endgültig ordnungspolitische Überlegungen eine Rolle spielen. Wir sollten uns wenigstens dazu durchringen, daß wir den Kindern einen gemeinsamen Namen geben, wobei man auch da wieder über Variationen nachdenken müßte, wie das geschehen soll. So sagt das Bundesverfassungsgericht, daß ein Doppelname gewählt werden kann, wobei die Reihenfolge durch das Los entschieden werden soll. Man muß dabei aber auch bedenken, wie wenig praktikabel solche Doppelnamen in der nächsten Generation sein können, wenn nämlich zwei Doppelnamen zusammenkommen.Ich meine, wir sollten gemeinsam Überlegungen anstellen und gemeinsam den Versuch unternehmen, eine Konsenslösung zu finden.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste begrüßt den von der SPD-Fraktion eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform des Namensrechts. Wir hoffen, daß dieses Gesetz das Haus zügig passiert; denn die vorgesehene Reform ist längst überfällig. Es ist peinlich genug, daß die Bundesrepublik zu den Ländern gehört, in denen auch in dieser Frage gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz verstoßen wird. Weltweit gibt es 106 Länder, in denen der Automatismus zugunsten des Männernamens bei der Eheschließung längst abgeschafft ist. Selbst im katholischen Irland, das keine Scheidung kennt, können die Frauen ihren Namen nach der Eheschließung behalten.
Peinlich ist es auch, daß es erst eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts bedurfte, um eine Neuregelung des Ehenamensrechts zu erzwingen und damit ein weiteres Relikt patriarchalischer Strukturen anzupacken.
In der Begründung zu seiner Entscheidung vom 5. März dieses Jahres geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, daß das verfassungsrechtliche Gebot seine Funktion, für die Zukunft die Gleichberechtigung der Geschlechter durchzusetzen, verlöre, wenn die vorgefundene gesellschaftliche Wirklichkeit hingenommen werden müßte.
Dieser Erkenntnis ist ein langer, zäher Kampf einzelner Betroffener durch alle Rechtsinstanzen vorausgegangen. Im Zuge der neuen Frauenbewegung und eines neugewonnenen Selbstbewußtseins konnten sich immer weniger Frauen damit abfinden, daß sie mit der Eheschließung zwangsweise ihren Geburtsnamen verloren bzw. einen Doppelnamen verpaßt bekamen.
Selbst das Bundesverfassungsgericht erkennt in seiner Urteilsbegründung an, daß der Geburtsname Ausdruck der Identität und Individualität eines Menschen ist. So ist die Aufgabe des eigenen Namens für viele Frauen Ausdruck der Selbstaufgabe und Unterwerfung. Natürlich konnte auch nach bisherigen bundesrepublikanischen Rechtsvorschriften theoretisch der Name der Frau zum gemeinsamen Ehenamen gewählt werden. Dies blieb allerdings in der Praxis die absolute Ausnahme. Nach den Statistiken der deutschen Standesämter passierte das in zwei von einhundert Fällen, und dies auch nur dann, wenn der Name des Mannes lächerlich war oder mit einer Latte von Vorstrafen verbunden war, so jedenfalls der Vorsitzende des Deutschen Familiengerichtstages, Siegfried Willutzki.
Das Bundesverfassungsgericht schlägt nun vor — dem folgt auch der vorliegende Gesetzentwurf —, den Ehegatten größtmögliche Freiheit bei der Ehenamensregelung zu geben. Frau oder Mann können danach den vor der Eheschließung geführten Namen weiterführen oder sich auf einen gemeinsamen Namen einigen. Das ist ein Fortschritt im Interesse der Gleichbehandlung der Frau.
Kritisch wird es gewiß beim Namen der Kinder, wenn sich die Eheleute nicht auf einen gemeinsamen Namen einigen können. Hier steht ein Knackpunkt des Patriarchats zur Debatte: der Stammhalter. Ich fände es am eindeutigsten, wenn diejenigen die Namen gäben, die die Kinder gebären. Das sind nun einmal unumstritten die Frauen.
Zum Schluß möchte ich noch einmal auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zurückkommen. Da heißt es in der Begründung: Der Gleichberechtigungsgrundsatz ist strikt einzuhalten. — Fürwahr ein Satz zum Einrahmen! Hoffentlich ist er bahnbrechend für alle weiteren Klagen gegen die Verletzung der Frauenrechte.
Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Leutheusser-Schnarrenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für meinen Namen reichte das bestehende Recht aus. Dazu bräuchten wir also keine Änderung des Namensrechts. Ich habe von den bestehenden Möglichkeiten ausreichend Gebrauch gemacht. Das einzige, was ich kritisch anmerken sollte, ist folgendes: Vielleicht kann man sich einmal über eine Begrenzung der Silben eines Doppelnamens Gedanken machen, um da gewisse Längen zu vermeiden.
— Dafür holen wir dann vielleicht ein Gutachten von einem Ästheten ein, der dann die richtige Möglichkeit herausfinden kann. Sie sehen, den Gestaltungsmöglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt.Mit seiner Entscheidung vom 5. März hat das Bundesverfassungsgericht der schon viele Jahre andauernden Diskussion über das Ehenamensrecht eine neue und, wie ich meine, auch zukunftsweisende Grundlage gegeben. In der letzten Debatte im Deutschen Bundestag im Februar 1990 wurde in den Rede-
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2408 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Sabine Leutheusser-Schnarrenbergerbeiträgen zu dem damaligen Gesetzentwurf der SPD noch über die Verfassungswidrigkeit der dem jetzigen Urteil zugrunde liegenden Norm gestritten. Nun haben wir Gewißheit: Mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung ist es nicht vereinbar, daß der Name des Mannes von Gesetzes wegen Ehename wird, wenn die Ehegatten keinen ihrer Geburtsnamen zum Ehenamen bestimmen.Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil ein Stück mehr Gleichberechtigung und eine größere Berücksichtigung des Gleichheitsgrundsatzes erreicht. Es hat auch ein Stück mehr partnerschaftliches Miteinander von Mann und Frau eingefordert.Das Führen eines Doppelnamens erscheint künftig nicht mehr als Ausdruck eines besonderen emanzipatorischen Sendungsbewußtseins der Frau oder als der zaghafte Versuch des Mannes, bürgerlichen Konventionen zu entfliehen, oder auch als Folge mangelnder Standfestigkeit des Mannes gegenüber dem Willen der Frau, ihren Geburtsnamen als Ehenamen zu führen. Das männliche Thronfolgeprinzip ist gestürzt.
Das weibliche zur Wiedergutmachung jahrzehntelanger Benachteiligung an seine Stelle zu setzen kann aus Überzeugung und aus richtigem Verständnis des Grundsatzes der Gleichberechtigung niemand fordern.Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet jetzt zu gesetzgeberischem Handeln. Der Gesetzentwurf der SPD greift eine alte Forderung der FDP-Frauenpolitikerinnen und auch eines Teils der männlichen FDP-Politiker auf.
— Wir hatten die Forderung schon in unseren Wahlprogrammen, und zwar nicht nur für die Bundestagswahl 1990, sondern auch für vorausgehende Wahlen. Sie lautete: Jeder Ehepartner soll, wenn er dies will, nach der Eheschließung seinen Namen behalten können. Der Familienname für die Kinder ist zu vereinbaren.
Diese Forderung ist — wir haben es auch heute schon gehört — keine neue Erfindung; es gibt vielmehr entsprechende Regelungen in vielen europäischen, aber auch außereuropäischen Staaten, z. B. auch in arabischen Ländern, etwa im Iran, also in Staaten, die nicht gerade als ausgesprochen emanzipatorisch gelten können.Daß jeder Ehepartner seinen Geburtsnamen bei einer Eheschließung behalten kann, ist eine Möglichkeit; ich möchte dies besonders betonen. Diese Bestimmung des Ehenamens sollte künftig bei der Eheschließung eintreten, wenn keine andere Erklärung zum Führen eines gemeinsamen Familiennamens abgegeben wird.Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts beinhaltet keine Verpflichtung zur Beibehaltung des einheitlichen Familiennamens; es schreibt aber auch nicht vor, ihn abzuschaffen. Es fordert eine geschlechtsneutrale Bestimmung des Ehenamens in Fällen, in denen sich die Ehegatten nicht über den Ehenamen einigen können. In diesen angesichts eines Straußes von Gestaltungsmöglichkeiten, den wir anbieten sollten, wahrscheinlich sehr wenigen Fälle führen die Ehepartner ihren Geburtsnamen weiter. Ob dies auch für einen in einer früheren Zeit durch Eheschließung angenommenen Namen, den dieser Ehegatte zur Zeit der Eheschließung führt, gelten soll, muß diskutiert werden.Ich darf vielleicht — deshalb nehme ich noch einen Moment Zeit in Anspruch — die Bandbreite der Meinungen zu diesem Thema in der FDP kundtun. Der amtierende Bundestagsvizepräsident vertritt dazu eine dezidiert andere Auffassung als viele Mitglieder unserer Fraktion. Er meint, wenn man sich bei der Eheschließung nicht auf einen Namen einigen kann, dann sollte man sich die Eheschließung noch einmal überlegen.
Mit diesen Argumenten müssen wir uns in der Diskussion auseinandersetzen.Der Geburtsname eines Menschen ist Ausdruck der Individualität und Identität und Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Der einzelne kann daher grundsätzlich verlangen, daß die Rechtsordnung seinen Namen respektiert und schützt. Dem Namen kommt auch eine gesellschaftliche Funktion zu. Er dient als wesentliches Zuordnungskriterium im Rechtsverkehr. Mit den Mitteln der modernen Datenverarbeitung dürfte dies künftig auch bei unterschiedlichen Namen der Ehepartner — als eine Ausnahme vom Grundsatz der Namenseinheit — kein Problem sein. Spätestens mit der Schaffung des europäischen Binnenmarktes 1993 werden der deutsche Rechtsverkehr und die deutsche Verwaltung sowieso verstärkt mit dem sehr viel freizügigeren Namensrecht anderer europäischer Staaten konfrontiert werden und sich darauf einstellen müssen.Ich darf zum Schluß vielleicht nur noch auf den heiklen Punkt zu sprechen kommen, wie sich dies auf die zweite Generation, auf die Generation der Kinder, auswirken soll. Ich bin der Auffassung, daß man auch hier ein Bündel von Gestaltungsmöglichkeiten für die Auswahl des Namens für den Fall, daß sich die Ehepartner nicht auf einen gemeinsamen Ehenamen einigen können, anbieten muß und daß damit schon die Anzahl der Fälle, für die es zu einer gesetzlichen Regelung kommen muß, äußerst gering bleiben wird.Die Problematik wird an den Gesetzentwürfen der SPD deutlich. In ihrem ersten Entwurf ging sie, was die Reihenfolge der Teile des Doppelnamens betrifft, vom Alphabet aus; jetzt hat sie das Los vorgesehen. Ein Zufallsmoment ist in beiden Alternativen enthalten. Ich meine, wir sollten uns mit diesem Thema unter einer rechtsvergleichenden Betrachtungsweise beschäftigen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2409
Sabine Leutheusser-SchnarrenbergerVielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte vorausschicken, daß ein Teil der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN dem von der SPD-Fraktion vorgelegten Gesetzentwurf große Sympathien entgegenbringt. Ein anderer Teil der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN meint jedoch, daß für den Fall der Verabschiedung derartig chaotische Verhältnisse entstehen würden, daß deswegen im Interesse aller, insbesondere im Interesse von Frauen und Kindern, zu hoffen sei, daß er nicht verabschiedet wird.
Ich habe mir schon überlegt, ob man zu diesem Thema eine Glosse oder eine Humoreske schreiben soll,
aber einerseits ist das Thema zu ernst, und andererseits ist meine Redezeit leider kurz, so daß das hier nicht erfolgen kann. Es ist auch wirklich ein ernstes Thema, denn hier geht es um die Rechte und Möglichkeiten der Frauen, die ihnen seit Urzeiten verwehrt werden und die sie auch nach einer eventuellen Verabschiedung dieses Entwurfs nicht bekommen.
Der Entwurf suggeriert Wahlfreiheit, indem er für das heiratswillige Paar — wenn es jeweils noch keinen Doppelnamen hat — fünf oder — für seine Kinder — vier verschiedene Namensmöglichkeiten offenläßt. Wenn Menschen mit Doppelnamen heiraten wollen, stehen ihnen sogar elf verschiedene Namensvarianten offen.
Das eigentliche Problem heute ist jedoch nicht, daß sich Heiratswillige nicht auf einen Namen einigen können, und auch nicht, daß bei Nichteinigung der Name des Mannes Familienname wird. Das eigentliche Problem ist, daß sie sich einigen, und zwar in 98 der Fälle auf den Namen des Mannes. Ich denke, das tun Frauen natürlich nicht deswegen, weil sie ihre eigenen Namen nicht mögen, sondern weil sie von Kind auf gelernt haben, ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten der Männer zurückzustellen, während Männer auf die Durchsetzung ihrer Bedürfnisse hin sozialisiert worden sind. Der Gesetzentwurf der SPD gibt leider keinen Impuls zur Veränderung dieser Verhältnisse.
Früher wußte die Frau: Wenn sie sich mit ihrem Mann nicht einigt, dann wird sein Name per Gesetz Familienname. Nach der Vorstellung der SPD soll es aber in Zukunft noch schlimmer werden: Wenn die Frau nicht bereit ist, den Namen des Mannes zu übernehmen, dann wird das Kind mit einem Doppelnamen bedacht oder belastet, je nachdem, wie man es sieht. Welche Frau möchte schon daran schuld sein?
Der Gesetzentwurf der SPD, der übrigens gänzlich in männlicher Redeform abgefaßt ist — dort ist vom Standesbeamten, vom Ehegatten usw. die Rede, obwohl auch Vertreter und Vertreterinnen Ihrer Partei in der vergangenen Legislaturperiode im Bundestag gegen den Sexismus in der Sprache Stellung bezogen haben — , ist weder sprachlich noch inhaltlich innovativ oder gar emanzipatorisch.
Wir werden in den nächsten Wochen einen Antrag einbringen, der nicht nur wesentlich einfacher ist, sondern der auch dem Interesse von Frauen wesentlich stärker entspricht. Unserer Auffassung nach soll jede Person grundsätzlich auch bei Eheschließung ihren Namen behalten. Die Kinder sollen den Namen der Mutter erhalten. Es gibt sehr, sehr viele Gründe für eine solche Regelung; ich will sie aus Zeitgründen hier nicht im einzelnen aufführen. Ein ganz wesentlicher Grund ist, daß nur so der schlichten Wahrheit Ausdruck verliehen werden kann, daß Frauen die Kinder austragen, gebären und sie in der Regel letztendlich auch vorrangig betreuen und damit eine überragende Leistung vollbringen. Das Recht der Frau auf Weitergabe des eigenen Namens sollte daher konstitutives Moment in einem zukünftigen Gesetz zur Regelung des Namensrechts sein.
Zum Schluß hat der Bundesjustizminister Kinkel das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über wenige Fragen des Familienrechts ist so viel geschrieben und engagiert diskutiert worden wie über das Namensrecht. Das verwundert auch nicht: Mit dem Namen verbinden sich Persönlichkeit und Lebensschicksal. Der Name wird auf Kinder tradiert. Er ist gleichsam das Verbindungsglied, das die Kette der Generationen zusammenhält. Der Name hat aber auch in unserem gesamten Rechtsgefüge eine Ordnungsfunktion: beim Handels-, Straf- und Melderegister. Er ist sozusagen der formale Anknüpfungspunkt für viele Rechtshandlungen und auch Gesetze.Es erstaunt auch nicht, daß sich gerade Frauen von diesem Thema besonders angesprochen fühlen, hat doch die Männerwelt in der Vergangenheit allzu selbstverständlich das Recht der Namenskontinuität für sich in Anspruch genommen. Von den Frauen wurde Verzicht erwartet, nicht nur auf Beruf und Karriere, sondern auch auf den angestammten Namen als ein Stück ihrer Identität. Mit ihrem Namen haben Frauen aber vielfach eine berufliche Stellung aufgebaut; mit ihm sind sie vor allem auch in ihrem sozialen Umfeld bekannt.Das Bundesverfassungsgericht hat nun — das wurde vorhin schon deutlich zum Ausdruck gebracht — unter solchen männlichen Egoismus einen vorläufigen Schlußstrich gezogen. Bislang konnten Ehegatten zwar wählen, ob sie den Geburtsnamen des Mannes oder den Geburtsnamen der Frau zum Ehenamen bestimmen wollen. Doch der Ausgang dieser Wahl war vom Gesetz weitgehend vorprogrammiert: Trafen die Ehegatten keine einheitliche Bestimmung, wurde der Mannesname kraft Gesetzes zum Ehenamen. Dieser Vorrang des Mannesnamens ist, so das Bundesverfassungsgericht, mit dem Gleich-
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2410 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Bundesminister Dr. Klaus Kinkelheitsgrundsatz unvereinbar. Das ist hier schon verschiedentlich betont worden.Für die künftige gesetzliche Regelung, die das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber aufgegeben hat und über die im einzelnen in der Koalition noch nachgedacht und beraten werden muß, steht ein weiter Gestaltungsspielraum zur Verfügung. Ich meine, wir sollten diesen Gestaltungsspielraum nutzen.Den Ehegatten sollten Wahlmöglichkeiten eröffnet werden, die einen Kampf um den Ehenamen von vornherein ausschließen und den Ehegatten Kompromisse nahelegen und auch erleichtern. Eine großzügige Gestaltungsmöglichkeit soll es der Mehrheit der Ehegatten erleichtern, sich auch künftig für einen Ehenamen, unter dem sie und ihre Kinder auch nach außen als Einheit erscheinen, zu entscheiden. Das wird nach aller Erfahrung und nach allen rechtstatsächlichen Untersuchungen wahrscheinlich immer noch die Regel bleiben.Ehegatten, die gleichwohl von diesem breiten Angebot keinen Gebrauch machen wollen, sollten die Möglichkeit erhalten, sich durch ein in gleicher Weise breit gefächertes Gestaltungsangebot über die Namen ihrer gemeinsamen Kinder zu einigen. Auf diese Weise wird Konfliktstoff von vornherein erfolgreich ausgeräumt und eine andere Regelung, u. a. die Inanspruchnahme des Standesbeamten, wie sie auch in der Auffangregelung des Bundesverfassungsgerichts vorgesehen ist, auf, wie ich hoffe, wenige Ausnahmefälle beschränkt.Der heute zur Beratung anstehende Entwurf der SPD-Fraktion ist ein Schritt in diese — ich meine: richtige — Richtung. Er deckt sich in vielen Punkten mit den Überlegungen, die ich im März als mögliche Konsequenzen aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorgestellt habe.Über Einzelheiten mag man streiten. Warum, so frage ich, sollen Ehegatten, die sich bei der Eheschließung noch nicht für einen gemeinsamen Ehenamen entscheiden können, den gewählten Namen nicht auch später, etwa bei der Geburt gemeinsamer Kinder, zugunsten eines gemeinsamen Ehenamens korrigieren dürfen? Unter dem geltenden Recht war die Bestimmung des Ehenamens zum Zeitpunkt der Eheschließung notwendig. In einem liberalen Namensrecht, wie ich es mir vorstelle, das den Ehegatten eine Namensverschiedenheit gestattet, sollte der Weg zum Ehenamen nach der Eheschließung nicht versperrt werden.Darüber nachgedacht werden sollte zweitens, ob Ehegatten bei der Bestimmung von Ehe- oder Kindesnamen auf ihre Geburtsnamen beschränkt bleiben sollen, also nicht auch einen erheirateten Namen zum Ehenamen bestimmen können. Daß dem SPD-Entwurf dieser Gedanke nicht fremd ist, beweist die namensverschiedenen Ehegatten eröffnete Möglichkeit, den Namen gemeinsamer Kinder nicht aus ihren Geburtsnamen, sondern aus ihren tatsächlich geführten Namen bestimmen zu können.Drittens. Großzügigkeit scheint mir auch bei den Übergangsregelungen angebracht. Ehegatten, die vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts geheiratet haben, sollten — anders als nach dem SPD-Entwurf — die Wahlmöglichkeiten des neuen Namensrechts eröffnet werden.Im Bundesministerium der Justiz liegt ein ausformulierter Gesetzentwurf vor, den ich nach Abstimmung in der Koalition vorlegen werde. Wichtig ist, daß wir gemeinsam eine Lösung finden, die im Ehenamensrecht Gleichberechtigung schafft, Streitigkeiten unter den Ehegatten über den Ehe- oder Kindesnamen möglichst bereits im Ansatz vermeidet und nicht zuletzt — was auf dem Gebiet des Ehenamensrechts aus meiner Sicht von ganz besonderer Bedeutung ist — in der Bevölkerung auf Akzeptanz stößt.Vielen Dank.
Damit sind wir am Ende der Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Ihnen die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/617 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Ich nehme an, das Haus ist damit einverstanden.
Wir kommen nun zu Punkt 2 der Tagesordnung: Fragestunde
— Drucksache 12/693 —
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Staatssekretär Tegtmeier zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 27 des Abgeordneten Ostertag auf :
In welcher Form plant die Bundesregierung Änderungen bei der Bedürftigkeitsprüfung bei der Arbeitslosenhilfe, insbesondere im Hinblick auf die Freibeträge der Angehörigen des Arbeitslosenhilfeempfängers und im Hinblick auf das Schonvermögen des Hilfeempfängers selbst?
Herr Präsident, ich bitte damit einverstanden zu sein, die Fragen 27 und 28 gemeinsam beantworten zu können
Einverstanden, Herr Abgeordneter? — Dann rufe ich auch die Frage 28 des Abgeordneten Ostertag auf:Ist geplant, daß alle Personen, die mit einem Arbeitslosenhilfeempfänger zusammenwohnen, für ihn quasi unterhaltspflichtig werden, und welche konkreten Auswirkungen hätte dies zum Beispiel für Wohngemeinschaften ?Bitte sehr, Herr Staatssekretär.Dr. Werner Tegtmeier, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung beabsichtigt, in dem für den Herbst diesen Jahres geplanten Änderungsgesetz zum Arbeitsförderungsgesetz auch Vorschläge zur Fortentwicklung der Bedürftigkeitsprüfung bei der Arbeitslosenhilfe vorzulegen. Wie bereits mein Kollege Horst Seehofer auf eine Frage des Abgeordneten Kraus dargelegt hat, wird die neue Regelung vor allem das Verhältnis der Arbeitslosenhilfe zum Unterhaltsrecht unter Berücksichtigung der entsprechenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts beinhalten. Da die Ressortsberatungen dieser auch finanzwirksamen Änderungen noch nicht abgeschlossen sind, bitte ich um Verständnis, daß ich zum Detail,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2411
Staatssekretär Dr. Werner Tegtmeierzu Inhalten, im gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine Auskunft zu geben vermag.
Herr Kollege, Sie möchten eine Zusatzfrage stellen? — Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, in der Koalitionsvereinbarung gibt es im Kapitel zur Sozialpolitik einen Hinweis darauf, daß in Ihrem Ministerium eine Arbeitsgruppe eingerichtet wird, die Vorschläge zu erarbeiten hat. Danach gibt es bereits ein Arbeitspapier. Von daher müßten Sie doch Vorschläge haben?
Dr. Werner Tegtmeier, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, es ist ganz selbstverständlich, daß eine ganze Reihe von Vorschlägen zu entwickeln sind. Nur, wenn es um die Fragen des Arbeitslosenhilferechts und des Unterhaltsrechts geht, ist dieses ein Vorgang, der insonderheit auch die Bundesländer berührt. Diese Gespräche sind noch nicht abgeschlossen.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Wie stellt sich die Bundesregierung zu den Forderungen von zahlreichen Arbeitsloseninitiativen, die die Bedürftigkeitsprüfung ganz wegfallen lassen möchten?
Dr. Werner Tegtmeier, Staatssekretär: Ich glaube, daß man diese Vorschläge so einfach nicht übernehmen kann. Das Kernproblem, vor das wir uns gestellt sehen, ist, eine Kongruenz zwischen den Regeln des Arbeitsförderungrechts und des Unterhaltsrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch zu finden. Von daher sind diese Fragen zu beantworten. Daß wir uns bemühen werden, dieses möglichst einfach zu gestalten, kann ich Ihnen an dieser Stelle schon zusagen. Aber wir kommen aus dem Kerndilemma nicht heraus, daß die Kernregelungen jedenfalls nach AFG und Unterhaltsrecht im bürgerlichen Recht unterschiedlich sind und daß hierzu ein Weg gefunden werden muß, der unter Berücksichtigung der finanziellen Konsequenzen noch vertretbar ist.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Es gibt einen Diskussionsentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 26. Januar 1990 mit einer Reihe von Verschlechterungen hinsichtlich der Bedürftigkeitsprüfungen. Gedenkt man das weiterzuschreiben?
Dr. Werner Tegtmeier, Staatssekretär: Dieses Konzept, aus dem Sie zitieren, ist nicht auf dem jüngsten Stand der gegenwärtigen Besprechungen.
Eine weitere Zusatzfrage ist nicht erwünscht.
Dann rufe ich die Frage 29 des Abgeordneten Schreiner auf:
Worauf führt die Bundesregierung die regional außerordentlich differierenden Mittelzuteilungen für ABM 1991 auf die Landesarbeitsämter im westlichen Bundesgebiet zurück, und was wird sie unternehmen, um 1991 eine vollständige Mittelverwendung zumindest in den strukturschwachen Gebieten zu erreichen?
Dr. Werner Tegtmeier, Staatssekretär: Herr Präsident, ich bitte, damit einverstanden zu sein, beide Fragen ebenfalls im Zusammenhang beantworten zu können.
Herr Abgeordneter? — Einverstanden.
Dann rufe ich auch die Frage 30 des Abgeordneten Schreiner auf:
Welchen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung, um der schrumpfenden Beteiligung von besonders betroffenen Regionen und Personenkreisen an ABM wirksam entgegenzuwirken?
Dr. Werner Tegtmeier, Staatssekretär: Der Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Abgeordneter Schreiner, hat im Februar 1991 die für das laufende Haushaltsjahr bereitgestellten ABM-Mittel ge- mäß dem von den Landesarbeitsämtern angemeldeten Bedarf auf die Landesarbeitsämter der alten Bundesländer verteilt. Insofern besteht aus unserer Sicht grundsätzlich kein Handlungsbedarf. Sofern sich im weiteren Jahresverlauf Mittelumschichtungen als notwendig erweisen, wird der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit dieses veranlassen.
Im übrigen sieht die Bundesregierung grundsätzlich keinen aktuellen zusätzlichen Handlungsbedarf für die ABM-Förderung in den alten Bundesländern. Sie wissen, daß wir eine ganze Reihe von Sonderprogrammen haben, die insbesondere den schwervermittelbaren Arbeitslosen zur Verfügung stehen und die von daher eine enge Korrespondenz zu der tatsächlichen Inanspruchnahme der ABM-Förderung beinhalten. Ich darf stichwortartig diese besonderen Hilfen nennen: zum Beispiel die Eingliederungsbeihilfe, die Förderung von ABM für ältere Langzeitarbeitslose sowie die Hilfen aus der Aktion „Beschäftigungshilfen für Langzeitarbeitslose". Sie wissen, daß sich die Förderungsmöglichkeiten gerade aus diesem letztgenannten Programm günstiger darstellen als im Rahmen der allgmeinen ABM-Förderung. Von daher ergibt sich eine gewisse Umschichtung in diese Bereiche hinein.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis möchte ich gern den Herrn Staatssekretär beglückwünschen, daß es ihm gelungen ist, den Kern meiner Frage geschickt zu umgehen, und ich wollte Sie, Herr Staatssekretär, fragen, wie sich die Bundesregierung denn den Sachverhalt erklärt, daß sich seit Inkrafttreten der Neunten Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes das Verhältnis der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den Regionen der alten Bundesrepublik zugunsten der Regionen, die über eine relativ niedrige Arbeitslosigkeit verfügen, und zu Lasten der Regionen mit relativ hoher Arbeitslosgigkeit verschoben hat, eine offenkundig paradoxe Situation.
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2412 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Dr. Werner Tegtmeier, Staatssekretär: Ich will überhaupt nicht verhehlen, daß eine solche Situation in einer Reihe von Fällen beschrieben werden kann. Herr Abgeordneter, die Situation stellt sich allerdings anders dar, wenn Sie zur gleichen Zeit die Inanspruchnahme des Sonderprogramms zur Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen in den Blick nehmen. Dann werden Sie feststellen, daß die Programmteile dort in aller Regel sehr viel stärker ausgeschöpft worden sind.Ihnen ist vielleicht aus den jüngsten Äußerungen bekanntgeworden, daß wir die ursprünglich anvisierte Zielgröße der Wiedereingliederung von etwa 60 000 bis 70 000 Personen inzwischen nahezu erreicht haben. Es gibt in diesem Bereich ein System kommunizierender Röhren.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich bitte nochmals um eine Erklärung: Auf welche Sachverhalte führt die Bundesregierung es zurück, daß die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit rückläufig sind und in den Regionen mit relativ erträglicher Arbeitslosigkeit im Verhältnis zu dem ersten Bereich relativ nach vorn gehen, und welche Maßnahmen will die Bundesregierung unternehmen, um dieser äußerst widersprüchlichen Situation entgegenzuwirken?
Dr. Werner Tegtmeier, Staatssekretär: Zunächst stimmen wir sicherlich in der Beurteilung überein, daß es an der Bereitstellung der finanziellen Mittel an dieser Stelle nicht hapert. Die Ursache für das, was Sie beschreiben, muß also woanders liegen. Sie liegt offensichtlich darin begründet, daß die Bereitstellung von Komplementärmitteln bzw. entsprechenden Förderungskonditionen in dem jeweiligen regionalen Bereich nicht als ausreichend angesehen werden. Ein Teil der Tatsache, daß, wie Sie es dargestellt haben, die Zahl der klassischen ABM-Teilnehmer sich nicht so entwickelt hat, hängt damit zusammen, daß andere Maßnahmen, die etwa aus dem Programm gegen die Langzeitarbeitslosigkeit bzw. aus dem 250-MillionenProgramm finanziert werden, eine Antwort auf die Situation darstellen.
Herr Abgeordneter, Sie haben noch zwei Zusatzfragen. Ich habe allerdings das Gefühl, daß die Wiederholung der Fragen und die Wiederholung der Antworten uns relativ wenig weiterbringen.
Herr Präsident, das hängt mit der Dürftigkeit der Antworten zusammen.
Das entzieht sich meiner Bewertung.
Herr Staatssekretär, kann es denn Ihrer Auffassung nach richtig sein, daß dieses eben dargestellte Mißverhältnis darauf zurückzuführen ist, daß die finanziellen Unterstützungen seitens des Bundes bzw. der Bundesanstalt für Arbeit im Gefolge der Neunten Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes so unzureichend geworden sind, daß die Träger von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ihrerseits nicht mehr in der Lage sind, die fehlenden finanziellen Mittel zu kompensieren?
Dr. Werner Tegtmeier, Staatssekretär: Ich kann dieses überhaupt nicht ausschließen, Herr Abgeordneter. Allerdings ist die Bundesanstalt nicht die alleinige Quelle der Finanzierung. Sie wissen, daß es zahlreiche Landesregierungen gibt, die Komplementärmittel beistellen. Es wäre sozusagen ein Gemeinschaftswerk, das dabei entstehen müßte. Wenn es an Mitteln hapert und die finanzielle Situation nach der Neunten Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes als unzureichend angesehen wird, ist kein Bundesland gehindert, entsprechende Komplementärmittel beizustellen.
Die letzte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung denn bekannt, daß die Landesregierungen in den Regionen mit überproportional hoher Arbeitslosigkeit — die Gründe dafür sind bekannt — im Regelfall über wesentlich engere finanzielle Spielräume verfügen als in den Regionen mit relativer Prosperität?
Dr. Werner Tegtmeier, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, ich kann dieses nur zur Kenntnis nehmen. Die Entscheidung des Gesetzgebers im Rahmen der Neunten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz hatte einen eindeutigen Hintergrund. Er bestand u. a. darin, daß die Umfinanzierung von annähernden Pflichtaufgaben in diesem Bereich durch eine Änderung der Förderungskonditionen zu beantworten war. Daß dieses Auswirkungen zeigt, liegt auf der Hand.
Danke schön.Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.Ich rufe die Frage 31 des Abgeordneten Schily auf:Sieht die Bundesregierung Veranlassung, ihre in der Fragestunde vom 14. Mai 1991 erteilten Auskünfte auf die Frage, mit wie vielen Arbeitslosen in den Ländern Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen in den Jahren 1991 und 1992 zu rechnen sei, in Hinblick auf die bevorstehenden Entlassungen in den Unternehmensbereichen der Treuhandanstalt zu korrigieren?Herr Staatssekretär.Dr. Werner Tegtmeier, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat keine Veranlassung, die Ihnen am 14. Mai 1991 erteilten Auskünfte zur Entwicklung des Arbeitsmarkts zu korrigieren. Das gilt auch im Hinblick auf die kürzlich veröffentlichten Angaben der Treuhandanstalt über den zu erwartenden Abbau der Zahl der Mitarbeiter in Treuhandunternehmen im Laufe dieses Jahres. Die Informationen über den Beschäftigungsabbau in diesen Bereichen, d. h. der Unternehmen der Treuhand, waren der Bundesregierung zum Zeitpunkt der Erarbeitung der Arbeitsmarktvorausschau für die neuen Bundesländer bekannt und wurden berücksichtigt. Sie wissen, daß wir in der damaligen Antwort keine auf die neuen Bundesländer spezifizierten Angaben ge-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2413
Staatssekretär Dr. Werner Tegtmeiermacht haben. Zwischenzeitlich hat der Gesetzgeber eine Reihe von zusätzlichen, den Arbeitsmarkt entlastenden Maßnahmen beschlossen, in der AFG-Novelle z. B. die Ermöglichung des Übergangs der von Arbeitslosigkeit Bedrohten ab Alter 55 in das sogenannte Altersübergangsgeld. Insofern wird ein zusätzlicher entlastender Potentialeffekt eintreten.Bei all dem, was wir damals gesagt haben, gilt heute fort, daß die Einschätzung der Arbeitsmarktlage gerade für die fünf neuen Bundesländer mit extremen Schätzrisiken behaftet ist.
Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, was sind denn Ihre neuesten Informationen aus der Treuhandanstalt darüber, in welchem Ausmaß aus dem Unternehmensbereich der Treuhandanstalt Arbeitskräfte in die Arbeitslosigkeit freigesetzt werden?
Dr. Werner Tegtmeier, Staatssekretär: Also, ich habe gestern noch mit Vertretern der Treuhand über diesen Sachverhalt gesprochen. Es sind allgemeine Informationen und Einschätzungen zu den genannten Zahlen. Man ist sich hinsichtlich des tatsächlichen Effekts völlig unsicher, was im Hinblick auf den 30. Juni 1991 oder die Folgezeit tatsächlich eintreten wird. Sie wissen, daß eine Reihe von aktiven Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik im Augenblick sehr stark aufwachsen. So finden etwa im Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen jetzt 30 000 Personen Berücksichtigung. Das wirkt entlastend. Und der Hinweis auf das Altersübergangsgeld, den ich Ihnen gegeben habe, berührt die tatsächlichen Dispositionen der Unternehmen natürlich auch.
Wenn es in der Arbeitsmarktlage insgesamt eine Unsicherheit gibt, dann würde ich hier zwei Elemente nennen. Das eine ist: Alle Beteiligten haben keine hinreichenden Informationen über den Personenkreis, der sich in der sogenannten Warteschleife befindet. Das andere ist: Die Angaben, die wir aus dem Bereich der Treuhand bekommen haben, betreffen Anzeigen der Unternehmen über beabsichtigte Maßnahmen. Allerdings kann im Augenblick niemand zutreffend beurteilen, ob sie tatsächlich so realisiert werden.
Weitere Zusatzfrage? — Bitte.
Herr Staatssekretär, ich möchte Ihnen gegenüber doch zum Ausdruck bringen: An Verschwommenheit sind Ihre Auskünfte kaum noch zu übertreffen. Ich habe eine Frage gestellt, die ich jetzt als zweite Zusatzfrage wiederhole, weil Sie die erste Zusatzfrage nun wirklich mehr als nebulös beantwortet haben. Ich habe die schlichte Frage gestellt: Was sind Ihre neuesten Informationen darüber, wieviel Arbeitskräfte aus dem Unternehmensbereich der Treuhandanstalt in die Arbeitslosigkeit entlassen werden?
Dr. Werner Tegtmeier, Staatssekretär: Ich kann Ihnen darauf keine exakte Antwort geben. Ich werde das aber gern an einem Beispiel belegen, das Ihnen erhellt, wie die tatsächlichen Dispositionen durch bestimmte Maßnahmen unmittelbar berührt werden können.
Ich bin Anfang dieser Woche im Lausitzer Bereich gewesen und habe dort grünes Licht für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Bereich der LAUBAG mit geben können; davon werden 3 400 Personen profitieren. Das heißt: Dieser Personenkreis mündet unmittelbar in eine Tätigkeit ein, ohne daß es zu Entlassungen an dieser Stelle kommen muß. Würden diese Maßnahmen nicht getroffen worden sein, würde dieser Personenkreis in Kurzarbeit null verbleiben bzw. freigesetzt werden.
So konkret stellt sich das dar, und so schnell verändert sich die Situation innerhalb von wenigen Monaten. Deswegen fühle ich mich jedenfalls nicht in der Lage, Ihnen die gewünschte exakte Zahl zu geben. Das kann im Augenblick niemand.
Herr Abgeordneter Schreiner hat eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich möchte Sie fragen, was die Bundesregierung bislang unternommen hat oder gegebenenfalls noch zu unternehmen gedenkt, um zu verhindern, daß die gesetzlich bereitgestellten Mittel, mit deren Hilfe Massenentlassungen möglichst vermieden werden sollen, nämlich erleichterter Zugang zu Kurzarbeitergeldregelungen, mindere Voraussetzungen für den Zugang zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, erleichterte Möglichkeiten, Beschäftigungsgesellschaften zu gründen, gerade dadurch unterlaufen werden, daß es jetzt im Bereich Metall zu den angekündigten Massenentlassungen kommen wird. Was hat die Bundesregierung bislang konkret getan, um sicherzustellen, daß die hier in diesem Parlament gemeinsam bereitgestellten Möglichkeiten Massenkündigungen in diesem unglaublichen Ausmaß verhindern?
Dr. Werner Tegtmeier, Staatssekretär: Sie wissen, daß der Punkt, den Sie angesprochen haben, ein Kerngegenstand des Gesprächs zwischen Wirtschaft und Sozialpartnern beim Bundeskanzler war und daß die Beteiligten dabei sind, im Bereich Arbeitsförderungsgesellschaften oder Strukturförderungsgesellschaften entsprechende Wege zu eröffnen. Die Instrumente dafür stehen zur Verfügung. Es ist jetzt sozusagen das Handeln der unmittelbar Beteiligten gefragt. Wenn ich für die Mitarbeiter des Bundesarbeitsministeriums sprechen würde, so könnte ich berichten, daß ein großer Teil von ihnen konkret unterwegs ist, um zu helfen, daß Trägerschaften organisiert werden, um etwa die Transformation von Kurzarbeit null in konkrete Maßnahmen der beruflichen Qualifizierung bzw. ABM zu ermöglichen.
Danke schön. Weitere Zusatzfragen sind nicht erwünscht. Herr Staatssekretär, dann bedanke ich mich bei Ihnen.Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Wimmer zur Verfügung.
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2414 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergWir beginnen mit der Frage 32 des Abgeordneten Schwanitz:Wie viele Fälle sind der Bundesregierung bekannt, bei denen seitens des ehemaligen Ministeriums für Abrüstung und Verteidigung der DDR bezüglich Liegenschaften Pacht- oder Nutzungsverträge, insbesondere mit ehemaligen NVA-Offizieren, abgeschlossen worden sind, obwohl im Falle der weiteren nichtmilitärischen Nutzung nach damals geltendem DDR-Recht eine Aussonderung der Liegenschaften und die Übergabe an die Treuhandanstalt hätte erfolgen müssen?
Herr Kollege Schwanitz, der Bundesregierung sind, Stand heute, 134 Fälle bekannt, bei denen das ehemalige Ministerium für Abrüstung und Verteidigung bzw. seine nachgeordneten Unterabteilungen Pacht- und Mietverträge über Liegenschaften der ehemaligen Nationalen Volksarmee geschlossen hat. Es handelt sich im einzelnen um 26 Verträge mit Privatpersonen, 61 Verträge mit juristischen Personen, 31 Verträge mit Körperschaften, 13 Verträge mit Kommunen und 3 Verträge mit Vereinen. Die Verträge lassen so keinen Rückschluß auf die Zugehörigkeit einzelner Vertragspartner zur ehemaligen NVA zu, da in den Verträgen lediglich der Name des Vertragspartners angegeben ist. Es ist jedoch nicht auszuschließen, daß im Einzelfall auch mit Angehörigen der ehemaligen NVA Miet- und Pachtverträge abgeschlossen worden sind.
In der zur Verfügung stehenden Zeit konnte auch ermittelt werden, welche Verträge für Objekte abgeschlossen worden sind, die nach dem Treuhandgesetz der Treuhandanstalt zustehen, und welche Verträge zwischenzeitlich gekündigt worden sind und wie viele dieser Verträge zur Zeit noch bestehen.
Ich bin aus Zeitgründen gern bereit, Ihnen die heute noch fehlenden Angaben unverzüglich schriftlich nachzureichen.
Eine Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Für letzteres, Herr Staatssekretär, wäre ich sehr dankbar.
Ich gehe richtig in der Annahme, daß diese Verträge nach damaligem DDR-Recht rechtswidrig waren. Wir stehen vor der Situation, daß diese Liegenschaften heute der Treuhand bzw. den Kommunen fehlen und dort bis zum jüngsten Tag entsprechende Gelder erwirtschaftet werden. Was gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen, derartige Pacht- und Mietverträge aus der heutigen Sicht anzugehen und dort für eine Klärung zu sorgen?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist ein sehr komplexes Vorgehen, das wir hier zu berücksichtigen haben. Sie haben in Ihrer Fragestellung nur auf Miet- und Pachtverträge abgehoben. Es gibt auch andere Vertragsarten, wo es zur Übertragung von Eigentum und ähnlichem gekommen ist. Wir haben bei uns im Hause die Abteilung ES, Ermittlung in Sondersachen, damit beauftragt, diesen ganzen Komplex sorgfältig zu untersuchen.
Der vielleicht spektakulärste Fall in diesem Zusammenhang ist die Übertragung der ehemaligen Offiziersschule der Marine in Stralsund, abgewickelt über ein Hamburger Notariat. Dieser Vertrag war so spektakulär, daß wir nicht anders konnten, als dagegen vorzugehen, mit dem Ergebnis, daß die Dinge, die vereinbart wurden, rückgängig gemacht werden mußten.
Wir widmen diesem ganzen Komplex unser Hauptaugenmerk, denn wir sind der Auffassung, es muß sich in diesem Lande, auch was Verpflichtungslagen der Bundesrepublik Deutschland gegenüber betrifft, um Dinge handeln, die nach Recht und Gesetz strikt abzuwickeln sind.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, befinden sich die Personen, die damals im Rahmen ihrer Funktion Angehörige des Ministeriums für Abrüstung und Verteidigung waren, heute noch im Geschäftsbereich des Bundesverteidigungsministeriums?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich kann das nicht in jedem Fall ausschließen, weil, wie ich eben in meiner Antwort vorgetragen habe, wir zunächst einmal nur über die Namen verfügen und die Zuordnung zum Bereich der ehemaligen NVA von uns nachgeliefert wird. Ich kann es nicht ausschließen, daß der eine oder andere heute zum Geschäftsbereich des BMVg zählt, aber ich bin gern bereit, unsere Antwort auf diesen Umstand zu erstrecken.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß die Verträge teilweise Revisionsklauseln hatten, und zwar einer Überprüfung durch das Bundesministerium der Finanzen, und sind auf Grund dieser Revisionsklauseln Verträge rückgängig gemacht worden?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Die einzelnen Vertragsgestaltungen entziehen sich meiner persönliche Kenntnis. Aber aus den Fällen, die mir bekannt geworden sind, ist es in einigen Bereichen dazu gekommen, daß wegen dieser Dinge die Verträge rückgängig gemacht worden sind bzw. das Vermögen, das übertragen wurde oder werden sollte, der Treuhandanstalt wieder zugeführt werden konnte. Wir sind also hier in der Tat mit großer Sorgfalt vorgegangen. Sie können ermessen, daß wir das sehr breit ansetzen.
Die Frage 33 des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner ist zurückgezogen.Daher kommen wir zu der Frage 34 des Abgeordneten Harries:Sind Planung, Einrichtung und Anlage einer Schießbahn 7 auf dem Truppenübungsplatz Munster-Nord im Lichte der beginnenden Abrüstung noch sinnvoll, und wenn ja, wieweit wird die dort lebende Bevölkerung davon betroffen?Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, der Ausbildungsauftrag der Kampftruppenschule 2 sowie der Panzerlehrbrigade 9 bleibt nach Reduzierung der Bundeswehr wie bisher bestehen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2415
Parl. Staatssekretär Willy WimmerDie Schießbahn 7 ist auf Grund ihrer schießtechnischen Nutzungsmöglichkeit als Gefechtsschießbahn für das Schießen einer Panzergrenadierkompanie mit ihren Begleitwaffensystemen — Panzerabwehrlenkraketen und Mörser — für diesen Ausbildungsauftrag auch in Zukunft besonders wichtig. Die Schießbahn 7 ist insofern von großer Bedeutung, als es bisher keine entsprechende Ausbildungseinrichtung gibt.Wie alle Randgemeinden von Truppenübungsplätzen werden auch die Anrainer der Schießbahn 7 vom Betrieb der Schießbahn betroffen.Mit den zuständigen Behörden ist mit Rücksicht auf die Bevölkerung, besonders der Ortschaften Wulfsode und Schatensen, vereinbart, daß Schießen mit Panzern mit Vollkalibermunition nicht vorzusehen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sehen Sie diese Einrichtung wirklich als vordringlich und unverzichtbar an? Ich frage, weil, wie Sie wissen, das Gelände zwar seit etlichen Jahren rein eigentumsmäßig in Anspruch genommen ist, aber faktisch eine Einrichtung und Benutzung der Schießbahn bisher nicht erfolgt ist. Wenn man seit Jahren wartet, darf man ja wohl fragen: Ist es noch nötig?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Nach den Formulierungen, die das Haus selber vorgeschlagen hat, ist es, wie Sie gesagt haben, unverzichtbar.
Aber ich habe ausdrücklich die Formulierung „besonders wichtig" gewählt. Ich glaube, wir müssen in der Tat davon ausgehen, daß das eine für uns wichtige Einrichtung ist. Dabei kann ich nicht ausschließen, daß in künftigen Jahren andere Überlegungen dazu angestellt werden. Wir bleiben hierüber, Herr Kollege, mit Ihnen gern in Kontakt.
Weitere Zusatzfrage. Bitte schön.
Ist die Sache wirklich 15 Jahre auf Wiedervorlage gelegt? Halten Sie es nicht für möglich, bereits in drei oder vier Jahren zu einer Überprüfung zu kommen?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn sich bei uns neue Erkenntnisse unter dem Gesichtspunkt ergeben, daß auf etwas verzichtet werden kann, brauchen wir keine drei Jahre zu warten.
Zusatzfrage des Abgeordneten Schily.
Herr Staatssekretär, wenn ich die Zusatzfrage von Herrn Harries richtig verstanden habe, scheint es so zu sein, daß es mindestens im Moment nicht wichtig ist, sondern vielleicht irgendwann einmal wichtig sein könnte. Wie sollen wir denn die Auskünfte verstehen, die Sie heute erteilt haben?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie wissen, daß wir im Zusammenhang mit allen Planungsfragen der Streitkräfte bei unseren Überlegungen immer auf einen langen Zeitraum angewiesen sind. Der normale Planungszeitraum im Bereich des Bundesministeriums der Verteidigung läuft „15 Jahre plus".
Daher stimmt das, was ich Ihnen gesagt habe, mit der gängigen Praxis der Streitkräfte seit ihrer Gründung überein.
Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mit mir überein, daß die Planung der Struktur und der dazu notwendigen Infrastruktur nicht 15 Jahre dauert, sondern in diesem Jahr abgeschlossen sein muß, weil die Umsetzung dieser Struktur und Infrastruktur bis 1994 durchgeführt sein muß, daß im Zusammenhang damit auch die Überprüfung der Schießbahn 7 erfolgen könnte und daß man vielleicht im Rahmen der Neugliederung der Streitkräfte und der notwendigen Übungseinrichtungen zu einer anderen Lösung kommen könnte?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Nach der Darstellung des Hauses: nein, Herr Kollege Jungmann.
Ich teile dem Haus mit, daß die Fragen 35 und 36 des Abgeordneten Dieter Schloten auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe die Frage 37 der Abgeordneten Frau Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink auf:Wie gedenkt die Bundesregierung sicherzustellen, daß im Rahmen des Gesamtkonzepts für den Abbau von Bundeswehrstandorten im ausreichenden Maße auch städtebauliche, raumordnungspolitische und wohnungspolitische Gesichtspunkte Berücksichtigung finden sowie die freiwerdenden Grundstücke und Liegenschaften möglichst schnell den Kommunen, beispielsweise für Zwecke des sozialen Wohnungsbaus zur Verfügung gestellt werden, und wie sehen die Planungen für Hessen und insbesondere für Ballungsräume wie Frankfurt und Wiesbaden aus?Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Verehrte Frau Kollegin! Am 24. Mai 1991 hat der Bundesminister der Verteidigung dem Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages das Gesamtkonzept für die geplante künftige Stationierung der Streitkräfte der Bundeswehr vorgestellt und erläutert.Das Gesamtkonzept ist den Ministerpräsidenten der Bundesländer mit der Bitte um Stellungnahme bis zum 4. Juli 1991 zugeleitet worden. Auch die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind entsprechend unterrichtet worden.Bei der Erarbeitung des Gesamtkonzeptes standen vier Ziele im Vordergrund, die die Berücksichtigung von städtebaulichen, raumordnungs- und wohnungspolitischen Gesichtspunkten sicherstellen. Erstens. Die Reduzierung der Streitkräfte soll so auf die Standorte und Liegenschaften umgesetzt werden, daß die Reduzierung so sozialverträglich wie möglich und unter Kostengesichtspunkten vertretbar erfolgen kann.Zweitens. Die Standorte der neu zu strukturierenden Bundeswehr waren so auf das vereinte Deutschland zu verteilen, daß alle Regionen ausgewogen abgedeckt werden. Damit werden nicht nur Belastungen
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2416 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Parl. Staatssekretär Willy Wimmerverteilt, sondern heimatnahe Einberufungen und Nachwuchswerbung sichergestellt.Drittens. Die neue Stationierung soll die Erfüllbarkeit der Streitkräfteaufgaben sowie der Bündnisverpflichtungen auch unter Berücksichtigung der Stationierungsräume der alliierten Streitkräfte gewährleisten.Viertens. Die Ballungsräume sollten von Truppen — gemeint sind damit vor allem Bataillone und Kompanien, nicht aber unbedingt Stäbe und Ämter — weitgehend geräumt werden, zugleich sollten aber die Kommunikationsbeziehungen zu den regionalen Ansprechpartnern in den Ländern beibehalten werden.Die Bundeshaushaltsordnung schreibt vor, daß freiwerdende Liegenschaften sofort in das allgemeine Grundvermögen des Bundes abzugeben sind. Die weitere Verwertung obliegt dann der dem Bundesminister der Finanzen unterstehenden örtlich zuständigen Bundesvermögensverwaltung. Dieses Verfahren gilt natürlich auch für Hessen und die von Ihnen angesprochenen Ballungsräume. Die Bundesvermögensverwaltungen werden sich, um eine zügige Verwertung sicherzustellen, insbesondere bei Liegenschaften, die sich für den sozialen Wohnungsbau eignen, mit den jeweiligen Kommunen und dem Land abstimmen.
Zusatzfrage, bitte schön, Frau Funke-Schmitt-Rink.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für möglich, daß die Bundeswehr z. B. aus Wiesbaden weggeht, sich aber für ein riesiges Gelände, das bis jetzt noch von den Amerikanern bewohnt wird, ein Vormerkrecht einräumen läßt, damit sie irgendwann im Rhein-Main-Gebiet oder in Wiesbaden wieder residieren kann?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß wir im Zusammenhang mit jedweder Form von Liegenschaften auch immer einen engen Dialog mit den alliierten Streitkräften praktizieren, weil man heute einfach vor eine neue Situation gestellt ist. Aber ich bin, weil in den Einzelfragen genau herausgefiltert werden müßte, was gegebenenfalls unter Rhein-Main-Gebiet zu verstehen ist, gerne bereit, diese Fragen mit Ihnen — über diese Fragestunde hinaus — zu erörtern, damit es nicht zu Unklarheiten kommt.
Weitere Zusatzfrage vom Abgeordneten Lowack.
Herzlichen Dank.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, die Frage ist zwar mehr mit Bezug auf Hessen gestellt worden, aber Sie hatten allgemeine Grundsätze angesprochen, die man vertreten kann. Wie lassen sich diese Grundsätze damit vereinbaren, daß beispielsweise in Bayern in einem der größten Ballungszentren der Republik, nämlich in München, immer noch ein Schwerpunkt der Bundeswehr bleibt, obwohl es große Schwierigkeiten gibt, dort geeignete Wohnungen und auch Menschen zu finden, die dort hinziehen wollen?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lowack, wir haben über diese Frage natürlich auch mit den Landesregierungen gesprochen. Wir wollten unter allen Umständen sicherstellen, daß hier die regionalen Bezüge aufrechterhalten werden können. Sie wissen, daß wir sehr intensiv gerade mit der Bayerischen Staatsregierung gesprochen haben und daß das Konzept, das wir für die Stationierung der Bundeswehr im Freistaat Bayern gefunden haben, offensichtlich auf die breiteste Zustimmung nicht nur des Bayerischen Ministerpräsidenten gestoßen ist.
Zusatzfrage des Abgeordneten Koppelin.
Herr Staatssekretär, sind Sie, nachdem Sie die Kriterien für die Truppenreduzierung genannt haben, bereit, noch einmal in das Konzept zu schauen, ob Sie wirklich in Ballungszentren reduziert haben?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Wir haben in der Tat in Ballungszentren reduziert.
Ich will aber in diesem Zusammenhang auch darauf aufmerksam machen, daß wir z. B. in Anbetracht der konzeptionellen Neugestaltung der Bundeswehr für den Standort Düsseldorf — auch ein Ballungszentrum — im Ergebnis gesehen haben, daß wir da auf Dauer einige hundert Soldaten mehr haben, als wir vor dem geänderten Konzept hatten. Der Grundsatz, den wir aufgestellt haben, ist, soweit es geht, in die Tat umgesetzt worden. Das schließt für den einzelnen Standort nicht aus, daß wir in Anbetracht der regionalen Besonderheiten natürlich einen anderen Weg gewählt haben. Beim Großraum Nordrhein-Westfalen haben wir bei der Wegnahme der siebten Panzerdivision aus Unna — das war das Konzept der Zusammenlegung der Wehrbereiche — erleben müssen, daß zwar Unna von der siebten Panzerdivision entlastet wurde, daß sich das Ganze aber in Düsseldorf konzentriert hat. Der Grundsatz, aus Ballungszentren herauszugehen, besteht also. Aber im Einzelfall ist es durchaus so, daß wir in Anbetracht einer regionalen Sondersituation auch einen anderen Weg eingeschlagen haben.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kolbow.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade noch einmal die Frist vom 4. Juli für die Rückäußerung der Länder und der betroffenen Kommunen zum Ressortkonzept zur Stationierung der Streitkräfte bestätigt. Sind Sie bereit, für die Bundesregierung und insbesondere für den Bundesminister der Verteidigung noch einmal über diese Frist nachzudenken und sie nach hinten zu verlegen, insbesondere auf Grund der geäußerten kritischen Einlassungen der betroffenen Gemeinden und Länder bis jetzt, insbesondere auch gesehen am Beispiel der hessischen Abrüstungskonferenz unter Vorsitz von Ministerpräsident Eichel am 7. Juni?Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kolbow, wir haben ja einen sehr langfristigen Prozeß des Dialogs mit den Bundesländern, der bei dem einen oder anderen Bundesland im bereits vergange-
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Parl. Staatssekretär Willy Wimmernen Herbst im Zusammenhang mit den Stationierungsüberlegungen der Alliierten anfing. Es gibt Bundesländer, die ich hier besonders ansprechen könnte, die sich bei den Absprachen mit den einzelnen Regionen und mit den einzelnen Gemeinden unheimliche Mühe gemacht haben. Aber es gibt auch Bundesländer, die das vielleicht etwas großzügiger gehandhabt haben. Ich kann aus meinem eigenen Bundesland sagen, daß das Land Nordrhein-Westfalen sehr sorgfältig mit den einzelnen Regionen und Gemeinden diskutiert hat und wir von daher eine sehr präzise Stellungnahme sehr frühzeitig bekommen haben. Das gilt auch für den Freistaat Bayern. Das gilt auch für das Land Baden-Württemberg. Aber es gibt eben andere Länder, die das anders gesehen haben. Ich will mir darüber kein Urteil anmaßen.Aber ich gehe davon aus, daß jedes Bundesland in seiner eigenen Verantwortung — denn das ist die eigene Verantwortung des Bundeslandes — das Notwendige getan hat, um in einer engen Abstimmung mit den Regionen und den Gemeinden dazu beizutragen, daß unserem Petitum Rechnung getragen werden kann, eine dezidierte Stellungnahme bis zu diesem Zeitpunkt vorzutragen. Sie wissen, daß das in diesem Jahr bereits der zweite Takt des Verfahrens mit den Bundesländern ist. Ich glaube, daß wir in Anbetracht der Einlassungen unseres Hauses immer wieder davon ausgehen können, daß wir ein sehr länderfreundliches Verhalten praktizieren.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mit mir überein, daß Ihr Grundsatz, aus Ballungszentren abzuziehen und wirtschaftlich schwache Regionen nicht so stark zu belasten, zwar ein Grundsatz gewesen ist, aber nicht in die Realität umgesetzt worden ist? In München ist es schon einmal nicht passiert. Düsseldorf hat sogar mehr als zuvor. Wenn wir die Ballungszentren der Bundesrepublik Deutschland von Süd nach Nord durchgehen, werden wir feststellen, daß zwar Stuttgart betroffen ist, daß zwar Koblenz betroffen ist, aber daß Hamburg ebenso wie München zum größten Teil das behält, was es gehabt hat, und daß die strukturschwachen Gebiete in Norddeutschland wie Niedersachsen oder auch bei uns in Schleswig-Holstein — Schleswig, Flensburg und Nordfriesland — überproportional betroffen sind.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jungmann, ich stimme Ihnen ja gerne dort zu, wo das möglich ist. Das wissen Sie. Aber im Zusammenhang mit Hamburg geht das deshalb nicht, weil wir im Zusammenhang mit Hamburg wirklich Entscheidungen getroffen haben, die das, was wir bisher in Hamburg hatten, auf Dauer dort nicht belassen. Aber Sie müssen natürlich bei der ganzen Stationierungsplanung für die Streitkräfte auch davon ausgehen, daß wir den Grundsatz haben, alle Länder adäquat in die Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland einzubeziehen und auch dafür Sorge zu tragen, daß die Wehrpflichtigen nach Möglichkeit heimatnah einberufen werden können. Sie wissen, daß ein zentraler Grundsatz für die Einberufung der Wehrpflichtigen aus
Nordrhein-Westfalen bisher gewesen ist, sie nach Niedersachsen und nach Schleswig-Holstein einzuberufen — mit einer Zahl und in einer Masse, die dem Wehrpflichtigenaufkommen aus anderen Bundesländern nicht entsprach. Wir mußten darauf Rücksicht nehmen und dem Rechnung tragen. Deswegen haben wir natürlich bei der Summe der Grundsätze, nach denen wir geplant haben, das eine so und das andere anders berücksichtigen können, aber dabei ein gutes Mittel für die Bundesrepublik Deutschland gefunden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schily.
Ist die Bundesregierung bereit, angesichts der besonderen Belastungen des Ballungsraums München und Umgebung ihre Planungen — auch unter Berücksichtigung der besonders sachverständigen Äußerung aus der Landeshauptstadt München — noch einmal zu überprüfen?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe soeben deutlich gemacht, daß wir die Rückäußerungen der Landesregierungen und im Prinzip derjenigen, die sich an diesem Prozeß beteiligen, für Anfang Juli erwarten. In Anbetracht der inneren Einstellung unseres Hauses sind wir immer jedem guten Argument gegenüber aufgeschlossen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Weng.
Herr Staatssekretär, ich bin mir dessen bewußt, daß Sie hier nicht jede Einzelmaßnahme darlegen können. Aber auf Grund Ihrer Äußerungen, daß das Konzept in enger Zusammenarbeit mit den Landesregierungen erstellt worden ist, habe ich die Frage: Ist Ihnen bewußt, daß die Landesregierung Baden-Württemberg die Aufrechterhaltung eines bestimmten Flugplatzes für unabdingbar hielt — ich glaube, Neuhausen heißt der Ort — , daß der Flugplatz offensichtlich auch in den ganzen Konzepten des Verteidigungsministeriums für lange Zeit als unabdingbar angesehen wurde, daß er aber in der Konsequenz jetzt geschlossen werden soll und dafür ein Flugplatz verbleiben soll, der in Schleswig-Holstein liegt? Ist Ihnen bekannt, daß von den Betroffenen in Neuhausen unterstellt wird, daß dies im Zusammenhang mit hochrangigen politischen Persönlichkeiten stehen könnte und nicht militärisch unabdingbar ist?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Soweit mir bekannt ist, Herr Kollege, haben auch höchstrangige politische Persönlichkeiten auf derartige Entscheidungen nicht den Einfluß genommen, den Sie unterstellen.
Sie haben keine zweite Zusatzfrage.Im übrigen erlaube ich mir, darauf aufmerksam zu machen, daß Sie bei den Zusatzfragen ein bißchen mehr darauf achten müssen, daß der Zusammenhang mit der ursprünglichen Frage gegeben ist. Es handelte sich zwar um das Gesamtkonzept — deswegen konnte ich nicht eingreifen — , aber nach den Planungen für
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2418 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergHessen und für die Ballungsräume Frankfurt und Wiesbaden war gefragt, nicht aber nach weiteren Planungen. Der Staatssekretär hat sich aber nicht daran hindern lassen, zu antworten.Nun rufe ich die Frage 38 des Abgeordneten Erler auf:In welchem Umfang und an welchen Orten wird die Bundesluftwaffe Tiefflugübungen In den neuen Bundesländern aufnehmen?Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Erler, im Zuge der Normalisierung der Verhältnisse im vereinten Deutschland soll auch der militärische Flugbetrieb in der Bundesrepublik Deutschland Schritt für Schritt einheitlich gestaltet werden. Über den Zeitpunkt der Aufnahme des militärischen Flugbetriebes und weiterer Details ist noch nicht entschieden.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wenn diese Vereinheitlichung des militärischen Flugbetriebes für die neuen Bundesländer geplant ist, wird es dann die gleichen Rücksichten bei der Festlegung von TiefflugAreas geben, wie dies in der alten Bundesrepublik der Fall war?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe bereits eben in meiner Antwort deutlich gemacht, daß wir über diese Dinge noch nicht entschieden haben. Wenn wir darüber entscheiden, werden wir dem Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages und dem Deutschen Bundestag ganz allgemein diese Planungen vorstellen. Ich kann Ihnen heute noch nicht sagen, worauf sich das im einzelnen erstrecken wird. Aber Sie wissen, daß wir im Zusammenhang mit den Verteidigungsanstrengungen in diesem Lande das tun, was jeder, der unvoreingenommen an diese Dinge herangeht, als fair und gerecht beurteilen wird.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, schließt Ihre Zusage ein, daß der Deutsche Bundestag und hier im besonderen der Verteidigungsausschuß rechtzeitig vor Aufnahme von Tiefflügen in dem Beitrittsgebiet unterrichtet wird und daß auch eine Karte vorgelegt wird, in welchen Areas und in welchen Trassen Tiefflug geübt werden soll?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Erler, Sie wissen, daß gerade das Bundesministerium der Verteidigung dem zugeordneten Verteidigungsausschuß gegenüber in größtmöglicher Weise immer Offenheit praktiziert. Das wird sich natürlich umfassend und exakt auf das erstrecken, was Sie gewünscht haben.
Zusatzfrage des Abgeordneten Oostergetelo.
Herr Staatssekretär, sind bei dem Wollen der Bundesregierung, die Tiefflugübungen zu vereinheitlichen, auch die Belastungen gemeint, die z. B. durch Schießplätze anstehen, die ja nicht direkt zu Tiefflugübungen gehören? Aber ich würde auch dazu gerne von Ihnen etwas hören.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, jetzt bin ich in der Schwierigkeit, die Sie eben angesprochen haben. Ich würde die Frage sehr gerne beantworten, wenn ich das mit Ihrer freundlichen Genehmigung beantworten dürfte. Denn dies ist eine Frage, die sich nicht aus der Frage des Kollegen Erler ergab. Ich würde die Frage des Kollegen dennoch gerne beantworten.
Wir sind hier ein wenig in Schwierigkeiten. Wenn wir all diese Fragen so ausführlich, wie das von den Fragestellern gewünscht wird, beantworten, besteht das große Risiko, daß wir zum Schluß die beantragte oder erwartete Aktuelle Stunde nicht bekommen. Deswegen müssen die Abgeordneten abwägen, was von Interesse ist oder nicht.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, ich komme dem gerne entgegen.
Herr Kollege Oostergetelo, ich biete Ihnen an, daß wir uns anschließend zusammensetzen und ich Ihnen dann das sage, was ich Ihnen sagen kann.
Das ist eine ordentliche Lösung.
Wir kommen jetzt zu Frage 39:
Wie lautet die militärische Begründung für Tiefflugübungen der Bundesluftwaffe über den neuen Bundesländern, bzw. welchen erzieherischen Auftrag verfolgt der Bundesminister der Verteidigung mit diesen Tiefflugübungen?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Erler, im Sinne einer gleichmäßigeren Verteilung des militärischen Flugbetriebes ist es erforderlich, auch das Gebiet der neuen Länder schrittweise in den Flugbetrieb einzubeziehen. Die entsprechenden Überlegungen stellen wir an.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß hier auch erzieherische Absichten mit im Spiel sind, wie das ein bekanntes deutsches Magazin kürzlich behauptet hat?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich lese nicht alle bekannten deutschen Magazine, aber ich kann davon ausgehen, daß wir im Zusammenhang mit militärischen Planungen und dem, was wir durchführen, nur das machen, was sich aus dem Sinn der Arbeit selber ergibt.
Weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, würden Sie bestätigen, daß es sich hier um einen Vorgang handelt, den man so beschreiben könnte, daß, nachdem die Herstellung von Gerechtigkeit in bezug auf die Segnungen unseres Staatswesens in den ostdeutschen Ländern etwas langsamer vorangeht, man doch wenigstens zur Herstellung der Gerechtigkeit bei den Belastungen schreiten kann?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2419
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie wissen, daß wir im Zusammenhang mit der Gestaltung des militärischen Übungsbetriebes in den fünf neuen Bundesländern an verschiedene Eckpunkte gebunden sind. Wir werden natürlich auch berücksichtigen müssen, daß auf dem Territorium der fünf neuen Bundesländer auch noch die sowjetischen Streitkräfte üben. Von daher werden wir bei dem, was wir zu berücksichtigen haben, alles bedenken, was darauf abzielt, daß wir, so schnell es geht, einen normalen Übungsbetrieb bekommen, der sich nach den Kriterien richtet, die für das ganze Gebiet der Bundesrepublik Deutschland maßgebend sind. Wir werden keine Sondersituation im Negativen für die fünf neuen Bundesländer schaffen.
Meine Damen und Herren, die Fragen 40 und 41 des Abgeordneten Horst Jungmann , die Fragen 42 und 43 der Abgeordneten Uta Zapf, die Fragen 44 und 45 des Abgeordneten Karsten Voigt (Frankfurt), die Frage 46 des Abgeordneten Dr. Herrmann Scheer und die Fragen 47 und 48 des Abgeordneten Walter Kolbow sind zurückgezogen worden.
Bei Frage 49 des Abgeordneten Siegmar Mosdorf ist um schriftliche Beantwortung gebeten worden. Auch der Abgeordnete Harald B. Schäfer hat gebeten, die Fragen 50 und 51 schriftlich zu beantworten. Ebenso bittet die Abgeordnete Jutta Müller (Völklingen) um schriftliche Beantwortung der Frage 52. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Herr Staatssekretär, damit sind Sie — für heute — entlassen. Wir bedanken uns bei Ihnen.
Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit. Zur Beantwortung steht uns die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl zur Verfügung.
Die Abgeordnete Frau Uta Würfel hat gebeten, die Fragen 53 und 54 schriftlich zu beantworten. Um gleiches hat der Abgeordnete Klaus Kirschner für die Fragen 55 und 56 gebeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe nun die Frage 57 des Abgeordneten Knaape auf:
Sieht die Bundesregierung in dem umfassenden medizinischen Betreuungskonzept der Polikliniken in der ehemaligen DDR — das in sich die gesamte Palette fachärztlicher Betreuung mit moderner Gerätetechnik in Kombination mit therapeutischen, fürsorgerischen und sozialen Dienstleistungen für akut und chronisch kranke Patienten vereinigen sollte — eine unterstützungswürdige effektive Alternative zum Arzt in freier Niederlassung bei uneingeschränkten Entfaltungsmöglichkeiten unter eigenwirtschaftlicher Betriebsführung?
Frau Staatssekretär.
Herr Kollege Knaape, der Einigungsvertrag hat die Polikliniken in den neuen Bundesländern für fünf Jahre zur ambulanten medizinischen Versorgung zugelassen, wenn sie wirtschaftlich arbeiten. Eine Bestandsgarantie ist damit allerdings nicht verbunden.
Eine generelle Alternative zu niedergelassenen Ärzten, zu Praxisgemeinschaften und Gemeinschaftspraxen sieht die Bundesregierung in den Polikliniken nicht.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter. Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, in der gestrigen Anhörung im Gesundheitsausschuß kam nach meinem Dafürhalten von seiten der Kollegen aus der ehemaligen DDR sehr stark zum Ausdruck, daß Bedürfnis und Notwendigkeit in bezug auf die Institution Poliklinik bestehen, insbesondere daß der fürsorgerische Teil, der diesen Polikliniken angegliedert war, auch in der Prophylaxe bei Aidserkrankungen zum Tragen kommt. Sehen Sie das ebenso, oder sind Sie anderer Meinung?
Herr Kollege Knaape, diese Form der Prophylaxe und die anderen Betreuungen laufen nicht unter der Finanzierung der Krankenkassen. Sie können in den Polikliniken untergebracht werden, müssen aber über die Kommunen finanziert werden.
Herr Abgeordneter Knaape, Sie können noch eine Zusatzfrage stellen. — Wenn Sie das nicht wünschen, dann hat jetzt Herr Professor Pfaff das Wort.
Frau Staatssekretärin, in welchen anderen Einrichtungen sehen Sie eigentlich die Bedingungen für eine ganzheitliche, eine flächenübergreifende Behandlung gegeben — sowohl in den neuen Ländern als auch in den alten — , wenn nicht in einer Weiterentwicklung der Polikliniken?
Herr Kollege Professor Pfaff, die Polikliniken können sich in wirtschaftlich arbeitende Ärztehäuser umwandeln. In diesen Häusern können zusätzlich noch andere Einrichtungen untergebracht werden. Das ist in einzelnen Kommunen zum Teil auch schon erfolgt.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Steen.
Frau Staatssekretärin, wie sieht die Bundesregierung die im Rahmen der Daseinsvorsorge meiner Ansicht nach nötigen gesundheitlichen Beratungsdienste, z. B. Schwangerenberatung oder Gesundheitsaufklärung, gesichert, wenn Polikliniken aufgelöst werden und neue Träger für diese Aufgaben aus finanziellen Gründen nicht zur Verfügung stehen?
Die von Ihnen angesprochenen Leistungen in den neuen Bundesländern gehören überwiegend nicht zu den Leistungen, die von den Krankenkassen finanziert werden; das hatte ich bereits ausgeführt. Das heißt, es obliegt den Kommunen und Gemeinden, für die finanzielle Sicherstellung zu sorgen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Hoffacker.
Frau Staatssekretärin, können Sie bestätigen — weil gerade die Frage der Schwangerenberatung angesprochen worden ist —, daß bereits im Jahre 1990 Beratungsstellen in
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2420 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Dr. Paul Hoffackerden neuen Bundesländern aufgebaut worden sind? Können Sie vielleicht auch die Zahl nennen?
Herr Kollege Hoffacker, es stimmt, was Sie sagen. Es sind neue Beratungsstellen eingerichtet worden. Eine genaue Zahl kann ich Ihnen jetzt nicht sagen; ich werde sie Ihnen aber gerne schriftlich liefern.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Frau Staatssekretärin, wie soll denn durch die Bildung von Ärztehäusern durch Integration Qualität entstehen? Die vorhandenen poliklinischen Einrichtungen haben in vielen Fällen einen integrativen Charakter, weil über verschiedene Fachbereiche hinweg zusammengewirkt wird. In Ärztehäusern ist das ein rein additives Modell, d. h. man ist unter einem Dach untergebracht. Wie soll hier Qualität entstehen?
Herr Kollege, Sie wissen, daß im Rahmen von Überweisungen zu Fachärzten — in den Polikliniken waren verschiedene Fachärzte unter einem Dach untergebracht — eine übergreifende Betreuung möglich ist.
Zusatzfrage des Abgeordneten Peter .
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Frau Staatssekretärin, halten Sie die Aufrechterhaltung und Sicherstellung der nicht durch die Krankenversicherung finanziell abgedeckten Leistungen für erforderlich. Haben Sie denn eine Übersicht, wieviel Prozent dieser Leistungen in der Tat jetzt noch aufrechterhalten werden, oder muß man vielmehr davon ausgehen, daß hier schon im erheblichen Umfang Personal entlassen worden ist?
Die von Ihnen angesprochene Frage ist in der letzten Konferenz mit den Gesundheitsministern in den fünf neuen Ländern diskutiert worden. Es wurde uns dort nicht gesagt, daß in den neuen Ländern ein Defizit bei den Betreuungsmaßnahmen vorliegt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Thomae.
In welchem Umfange, Frau Staatssekretärin, werden die Leistungen der Polikliniken heute noch in Anspruch genommen werden?
Herr Abgeordneter Dr. Thomae, würden Sie die Antwort bitte in der gebührenden Form entgegennehmen.
Herr Kollege Thomae, durchschnittlich 30 % der Leistungen werden noch durch die Polikliniken erbracht.
Wir kommen nunmehr zur Beantwortung der Frage 58 des Abgeordneten Dr. Knaape:
Welche Position vertritt die Bundesregierung in bezug auf die Polikliniken der ehemaligen DDR, die in 40 Jahren historisch gewachsen sind, die Bestandteil der praktischen Aus- und Weiterbildung der Ärzte waren und die von den Kranken akzeptiert und angenommen wurden, gegenüber den Ärzten und gegenüber den Bürgern der ehemaligen DDR, um die Infragestellung und Auflösung eines bewährten Versorgungssystems emotional und sachlich zu erklären und zu rechtfertigen?
Bitte sehr.
Herr Kollege Knaape, die medizinische Versorgung im Beitrittsgebiet litt unter erheblichen Defiziten. Um diese Defizite zu beseitigen, wird im Beitrittsgebiet das bewährte bundesdeutsche System der gesundheitlichen Versorgung eingeführt. In den neuen Bundesländern haben sich bereits über 10 000 Ärzte in freier Praxis niedergelassen. Dies entspricht der Hälfte der in der ambulanten Versorgung der neuen Bundesländer tätigen Ärzte, so daß eine flächendekkende medizinische Betreuung durch niedergelassene Ärzte schneller als erwartet erreicht sein wird. Demzufolge führt die Schließung poliklinischer Einrichtungen nicht zu Versorgungsdefiziten. Die Bundesregierung begrüßt diese im Einigungsvertrag angelegte Entwicklung. Sie sieht keine Veranlassung, von ihr abzuweichen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Knaape.
Frau Staatssekretärin, ich möchte Sie fragen, ob der Eindruck trügt, daß unter den Ärztekollegen aus der ehemaligen DDR der Eindruck entstanden ist, daß nach der Einigung Deutschlands ein moralischer Druck ausgeübt wurde, sich in die freie Niederlassung zu begeben, daß also seitens der Bundesregierung nicht genügend getan worden ist, darauf hinzuweisen, daß die Polikliniken, wenn sie sich wirtschaftlich eigenständig organisieren können, auch weiterhin Bestand haben.
Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Knaape, Sie wissen, daß wir bereits im Herbst auf diese Möglichkeit der weiteren ambulanten Betreuung durch die Polikliniken hingewiesen haben und in Gesprächen mit der KBV und den Krankenkassen dafür gesorgt haben, daß auch die Finanzierung sichergestellt wird. Es ist kein Arzt in die Niederlassung getrieben worden, wie das oft behauptet wird. Wir hatten gestern ein Gespräch mit einer Ärztin aus dem Raum Leipzig, die stellvertretende Vorsitzende eines Ärzteverbandes ist, und sie hat uns bestätigt, daß dies nicht der Fall war. Es ist uns auch von den dort tätigen Gesundheitsministern nicht so gesagt worden.
Zusatzfrage, bitte.
Frau Staatssekretärin, wenn die Kassenärztliche Bundesvereinigung so sicher ist, daß ihr Modell des frei niedergelassenen Kassenarztes das allein selig machende ist, warum trägt sie dann nicht einen Versuch mit Gelassenheit, Polikliniken in der ehemaligen DDR weiter zu betrei-
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Dr. Hans-Hinrich Knaapeben und unter wissenschaftlicher Begleitung abzuwarten, wie sie nach fünf Jahren aussehen?Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretär: Herr Knaape, Sie wissen, daß die KBV ein Modell erarbeitet hat, wie die Polikliniken sich in wirtschaftlich arbeitende Häuser umwandeln können. Sie hat alles dafür getan, daß hier den Ärzten, die sich nicht mehr niederlassen wollen, eine Möglichkeit der Weiterbeschäftigung gegeben wird.
Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Schmidt-Zadel.
Frau Staatssekretärin, halten Sie es für gut, daß Ärzten, aber vor allem älteren Ärztinnen empfohlen wird, Angestellte bei Ärzten zu werden, die eine Praxis eröffnet haben?
Frau Kollegin, dieses Modell muß noch diskutiert werden.
Zusätzlich möchte ich Sie davon in Kenntnis setzen, daß sich auch eine Vielzahl von Ärzten jenseits des 50. Lebensjahres in die freie Niederlassung begeben hat.
Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, den Zusammenhang mit der ursprünglichen Frage nicht völlig zu verlieren.
Herr Dr. Janzen.
Frau Staatssekretärin, ich habe aus Ihren bisherigen Bemerkungen nicht klar erkennen können, worin der Mangel der ehemaligen Polikliniken lag. Da Sie selbst als Ärztin in diesem System tätig waren, würde mich interessieren, ob es der medizinische, der organisatorische oder der ökonomische Mangel war. Könnten Sie mir das einmal erklären?
Herr Kollege, die Polikliniken waren ein Konglomerat von Ärzten, die unter einem Dach gearbeitet haben. Wir haben nicht gesagt, daß es dort einen Mangel gab. Es war aber schon in der früheren DDR ein offenes Geheimnis, daß es an Hausärzten in Wohnnähe der Patienten fehlt. Der Einigungsvertrag hat — übrigens mit Zustimmung der SPD — festgelegt, daß die freie Niederlassung zu fördern ist.
Der Abgeordnete Peter hat noch eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, ist Ihnen wie mir Kritik bekanntgeworden, daß durch das System der Niederlassung Lücken in der ärztlichen Versorgung und in der Qualitätssicherung der ärztlichen Versorgung aufgetreten sind?
Herr Kollege, das ist mir nicht bekannt. Auch von den Gesundheitsministern in den fünf neuen Ländern sind solche Defizite nicht benannt worden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Hoffacker.
Frau Staatssekretärin, halten Sie es für hilfreich, daß die KBV Vorschläge unterbreitet, um gerade dieses chaotische, durch die SED verursachte Gesundheitswesenregime so abzufedern, daß auch diejenigen noch eine Arbeit finden, die sich vielleicht nicht frei niederlassen können?
Ich habe diesen Ansatz als sehr positiv empfunden, Herr Kollege Hoffacker, und bin der Meinung, daß es ein durchaus diskussionswürdiger Vorschlag ist.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Altherr.
Frau Staatssekretärin, sind Sie mit mir der Meinung, daß die bisherigen Polikliniken überwiegend nur administrativintegrierend funktioniert haben und daß im ärztlichfunktionalen Bereich nur, wenn überhaupt, additive Funktionen vorlagen?
Ich bestätige das.
Herr Abgeordneter Schmidbauer.
Frau Staatssekretärin, im Einigungsvertrag ist von der Chancengleichheit, also der Gleichrangigkeit beider Einrichtungen gesprochen worden, sicherlich mit der Maßgabe, den niedergelassenen Bereich zu fördern. Aber die Frage stellt sich: Was tun Sie von der Bundesregierung, um diese Chancengleichheit gewissermaßen beim Aufbau zu gewährleisten?
Die Bundesregierung hat eine Vielzahl von Maßnahmen gefördert, einmal Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost. Zum anderen hat die Bundesregierung Beratungshilfen bereitgestellt, um die Umstrukturierung von Polikliniken in wirtschaftlich arbeitende Ärztehäuser vor Ort zu erleichtern.
Ich rufe die Frage 59 des Abgeordneten Professor Dr. Pfaff auf:
Erfolgt durch die im Einigungsvertrag für niedergelassene Ärzte in den neuen Ländern festgelegte Einzelleistungsvergütung — bzw. durch die für die Polikliniken festgelegte Pauschalhonorierung — eine abrechnungstechnische Benachteiligung der Polikliniken insofern, als niedergelassene Ärzte sowohl die Zahl der erbrachten Leistungen wie auch der Überweisungen an andere Kassenärzte selbst mitbestimmen können, und drückt sich dies bereits in der Entwicklung der Leistungsmengen und -strukturen aus?
Herr Präsident und Herr Kollege Professor Pfaff, wenn Sie einverstanden sind, würde ich die Fragen 59 und 60 gern gemeinsam beantworten.
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Die werden Sie deswegen nicht verlieren, aber möglicherweise dadurch, daß wir nur noch zweieinhalb Minuten Zeit haben.
Dann rufe ich auch noch Frage 60 des Abgeordneten Dr. Martin Pfaff auf:
Wie gedenkt die Bundesregierung den Einigungsvertrag zu erfüllen, damit Polikliniken und Ambulatorien im Falle fehlender Chancengleichheit der Polikliniken gegenüber den niedergelassenen Ärzten weiterhin zur Sicherung der kassenärztlichen Versorgung beitragen können?
Herr Professor Pfaff, nach Auffassung der Bundesregierung enthält die vereinbarte Pauschalhonorierung für die Polikliniken keine abrechnungstechnische Benachteiligung. Grundsätzlich liegt eine pauschale Honorierung der in Polikliniken erbrachten Leistungen in deren eigenem Interesse.
Die Höhe der gegenwärtig vereinbarten Pauschalen errechnet sich nach den vergleichbaren Werten für niedergelassene Ärzte in den alten Bundesländern. Eine Benachteiligung der Polikliniken hinsichtlich der Überweisungen ist ausgeschlossen. Auch für die niedergelassenen Ärzte besteht die Möglichkeit der Überweisung nicht unbeschränkt. Zulässig ist eine Überweisung nur zu einem Facharzt. Die zulässigen Überweisungen sind in den Poliklinikpauschalen berücksichtigt. Von einer fehlenden Chancengleichheit kann daher keine Rede sein.
Die Entwicklung der Leistungsmengen und -strukturen läßt sich gegenwärtig noch nicht übersehen, weil die Abrechnung für das erste Quartal 1991 noch nicht abgeschlossen ist.
Zusatzfrage, bitte schön.
Frau Staatssekretärin, angesichts der Anhörung, der wir beide beigewohnt haben: Woher nehmen Sie die empirische Grundlage für die Aussage, daß eine systematische Benachteiligung gerade durch die Einführung der Fallpauschalen, die quartalsweise eigentlich Kopfpauschalen sind, wenn man es genau nimmt, denn jeder Versicherte bringt 52 DM pro Quartal, nicht gegeben ist? Auf welcher Grundlage haben Sie diese Antwort formuliert?
Die Antwort ist nach Rücksprache mit den Ärzten, die in den Polikliniken tätig sind, formuliert worden. Wir können hier eine Benachteiligung bisher nicht feststellen. Ich habe bereits ausgeführt, daß eine endgültige Abrechnung noch nicht vorliegt.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Wären Sie bereit, sich auch dafür einzusetzen, daß die bestehenden und die im Umstrukturierungsprozeß befindlichen Polikliniken alternativ zur Pauschalhonorierung nach der Einzelleistungsvergütung oder vielleicht nach abteilungsspezifischen Fachpauschalen honoriert werden können, denn dann würde sich sehr schnell herausstellen, ob wirkliche Chancengleichheit besteht?
Das müßten wir nach der ersten Abrechnung, nach dem ersten Quartal diskutieren.
Eine Frage lasse ich noch zu.
Ist Ihnen die Aussage des Herrn Dr. Hess von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bekannt, daß es eine Datenbasis sehr wohl gibt, auf deren Grundlage man auch schon vor dem Vorliegen der von Ihnen angesprochenen Daten zumindest für Teilmengen ermitteln könnte, ob eine Chancengleichheit wirklich besteht oder die von allen Poliklinikvertretern behauptete Chancengleichheit im Endeffekt doch nicht besteht?
Mir ist diese Aussage nicht bekannt, aber ich werde mich gerne sachkundig machen.
Damit sind wir am Ende der vorgesehen Zeit für die Fragestunde * ).
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Franz Müntefering das Wort.
Herr Präsident! Die SPD-Fraktion ist mit den Antworten der Bundesregierung zu den Fragen 57 ff. nicht einverstanden. Wir halten das Thema für dringend weiter diskussionsbedürftig. Ich beantrage deshalb auf der Grundlage unserer Geschäftsordnung, Anlage 5 Nr. I 1 b, daß sich jetzt eine Aktuelle Stunde anschließt zum Thema: Ambulante Gesundheitsversorgung insbesondere in den Polikliniken.
Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion hat überraschenderweise eine Aktuelle Stunde beantragt.
Das entspricht, wie hier richtigerweise festgestellt worden ist, unserer Geschäftsordnung.
Damit kommen wir zu dieser: Aktuelle Stunde
Ambulante Gesundheitsversorgung insbesondere in den Polikliniken
Als erste Wortmeldung liegt mir die des Herrn Abgeordneten Haack vor. Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der vorausgegangenen Fragestunde des Deutschen Bundestages hat die SPD die Bundesregierung mehrfach gebeten, über den derzeitigen Stand der ambulanten medizinischen Versorgung in den neuen Bundesländern zu berichten. Sowohl der Ausschuß für Gesundheit als auch Teile der Fraktionen haben in den letzten*) Die Fragen 93, 94 der Abgeordneten Katrin Fuchs , 95 des Abgeordneten Manfred Opel, 96 des Abgeordneten Dr. Hermann Scheer sind zurückgezogen worden. Die übrigen nicht erledigten Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten sind als Anlagen abgedruckt.
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Karl Hermann Haack
Monaten medizinische Einrichtungen in den neuen Bundesländern besucht. Ziel dieser Besuche war es, sich über den derzeitigen Stand der Umstrukturierung in der ambulanten Versorgung des Gesundheitswesens zu informieren.Des weiteren hat der Ausschuß für Gesundheit am 17. April dieses Jahres im Reichstag eine Anhörung zum gleichen Thema durchgeführt. Sowohl die Besuche in den neuen Bundesländern als auch die Anhörung haben gezeigt, daß vor dem Hintergrund des Einigungsvertrages erneut über das Thema „Weiterführung von Polikliniken" gesprochen werden muß.Für meine Fraktion steht fest: Es gibt ein berechtigtes Interesse sowohl in der Bevölkerung der neuen Bundesländer als auch bei den Beschäftigten selbst, das bisherige System der Polikliniken fortzuführen, wenn auch nicht im alten Stil.Wir sind jedoch der Auffassung, daß dieses System der fachübergreifenden medizinischen ambulanten Versorgung neu organisiert werden kann und muß, um den Polikliniken für die Zeit nach dem Stichtag 31. Dezember 1995 eine Überlebenschance zu geben.Ich erlaube mir, aus der Anlage I zum Einigungsvertrag zu zitieren, und zwar aus dem § 311 mit der Überschrift „Beziehungen der Krankenkassen zu den Leistungserbringern". In Absatz 2 heißt es:Zur Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung werden bei Anwendung des § 72 die in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet bestehenden ärztlich geleiteten kommunalen, staatlichen und freigemeinnützigen Gesundheitseinrichtungen einschließlich der Einrichtungen des Betriebsgesundheitswesens kraft Gesetzes bis zum 31. Dezember 1995 zur ambulanten Versorgung zugelassen. Der Zulassungsausschuß kann die Zulassung nach Satz 1 widerrufen, wenn eine ordnungsgemäße und wirtschaftliche ambulante Versorgung durch die Einrichtung nicht möglich ist. Der Zulassungsausschuß entscheidet über eine Verlängerung der Zulassung nach Satz 1 im Benehmen mit der Landesbehörde, insbesondere unter Berücksichtigung des Anteils der in freier Praxis niedergelassenen Ärzte.Soweit der Text aus der Anlage I zum Einigungsvertrag.Über die Interpretation dieser von mir vorgelesenen Zeilen gibt es nun eine kontroverse Debatte, sowohl im Bereich des Gesundheitswesens in den neuen Bundesländern als auch zwischen den politischen Parteien in diesem Hause. Ich will Sie daran erinnern, daß sich bei den Beratungen zum Einigungsvertrag alle hier im Hause vertretenen Parteien darüber einig waren, mit dem Beitritt nicht einen Kahlschlag im Gesundheitswesen der ehemaligen DDR herbeizuführen. Vielmehr sollte versucht werden, unter Hilfestellung ein Gesundheitswesen in den neuen Bundesländern aufzubauen, welches den Grundsätzen der fachlichen Kompetenz und der Wirtschaftlichkeit entspricht. Es ist akzeptiert worden, daß dabei eine entscheidende Hilfe durch die kassenärztliche Bundes-vereinigung und durch die gesetzlichen Krankenversicherungen gegeben werden sollte.Ziel war nicht — zumindest nicht aus der Sicht der SPD — , die gesamten poliklinischen Einrichtungen, Ambulatorien usw. bis zum 31. Dezember 1995 lediglich abzuwickeln — wie vieles andere mehr, was vielleicht erhaltenswert gewesen wäre. Ich will mir erlauben, es sehr scharf zu sagen: Was derzeit stattfindet, ist ein Verdrängungswettbewerb ausschließlich zugunsten der freien Niederlassung.
Das Anhörungsverfahren im April dieses Jahres hat unter anderem gezeigt, daß die Art der Auflösung der Polikliniken mehr oder weniger Züge einer kolonialen Besitznahme trägt.
Dieser Eindruck muß nicht nur bei denjenigen entstehen, die durch diesen Umbildungsprozeß direkt betroffen sind, weil sie zum Beispiel von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Für uns sollte dies Anlaß genug sein, unsere Positionen im Hause noch einmal grundsätzlich zu überdenken.Blicken wir dazu in das Protokoll der 130. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 11. Juni 1990. Dort ist nachzulesen, daß es sehr wohl schon im letzten Jahr unterschiedliche Auffassungen darüber gegeben hat, wie die diesbezügliche Stelle des Einigungsvertrages interpretiert werden kann.Es ist dort über zwei mögliche Pfade debattiert worden. Der eine Pfad sieht vor, eine Abwicklung bis zum 31. Dezember 1995 vorzunehmen. Der andere Pfad fordert, in vorsichtiger Umstrukturierung den Erhalt von Polikliniken, die sich bis dahin bewährt haben, über das Jahr 1995 hinaus entsprechend zu sichern.Es ist für uns als Fraktion eine Frage des politischen Stils, ob wir als Bevölkerung insgesamt dazu bereit sind, einen solidarischen Beitrag zu leisten, um die Probleme des Gesundheitswesens in den neuen Bundesländern zu lösen. Insofern haben wir als Bundestagsfraktion die Initiativen des Landes Brandenburg begrüßt. Wir unterstützen ein solches Modell.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Altherr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Im Einigungsvertrag wurde die weitestgehende Übernahme des bundesdeutschen Rechts für die neuen Länder mit zeitlich befristeten Sonderregelungen übernommen. Dies erfolgte nicht ohne gute Gründe; verfügt doch die BRD über ein allenthalben anerkanntes, modernes und leistungsfähiges Gesundheitssystem, in dem der ambulanten Behandlung durch niedergelassene Ärzte eine zentrale Stellung zukommt. Dieses System ermöglicht dem Patienten im Gegensatz zu dem früheren System in der DDR eine freie Arztwahl. Sie wissen, wir hatten früher in der DDR die Zuordnung kraft Wohnort. Das heißt, der
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Dr. Walter Franz AltherrPatient wurde auf Grund seines Wohnortes einer Einrichtung zugeordnet.
Ein dauerhaftes Arzt-Patienten-Verhältnis konnte wegen der vorgegebenen Strukturen dadurch nur in wenigen Fällen entstehen, wiewohl sich viele Ärztinnen und Ärzte um ein solches bemüht haben.Einzel-, Gruppen- oder auch Gemeinschaftspraxen bieten weitaus bessere Voraussetzungen zur Entwicklung eines dauerhaften persönlichen Arzt-PatientenVerhältnisses, was nicht zuletzt auch im Hinblick auf eine ganzheitliche Behandlung der Krankheit sehr wichtig erscheint.Nicht umsonst hat auch der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in seinem Jahresgutachten 1991 die Empfehlung ausgesprochen, die Niederlassung von Ärzten zu fördern.Herr Kollege Haack, wenn ich auf Ihren Beitrag eingehen darf: Sie haben zwar § 311 Abs. 2 des Sozialgesetzbuches V zitiert, aber vergessen, daß in Abschnitt 10 steht, daß die in Abs. 2 genannten Einrichtungen zurückzuführen sind. Das nur noch zur Ergänzung.
Die von der konzertierten Aktion ausgesprochene Empfehlung fand und findet eine hohe Akzeptanz, wie folgende Zahlen belegen: Während im Jahre 1989 im Bereich der damaligen DDR lediglich 341 Ärztinnen und Ärzte in freier Praxis tätig waren, liegt die Zahl derzeit bei 10 533. Das heißt, meine sehr verehrten Damen und Herren, mehr als 50 % der vormals in ambulanten Einrichtungen tätigen Ärztinnen und Ärzte sind mittlerweile in der freien Praxis.
Vorhin ist davon gesprochen worden, daß dies auf gewissen Druck hin erfolgt sei. Ich muß aber eher anders herum argumentieren: Man sieht hier die entscheidene Sogwirkung, die die Freiheit der Niederlassung für die einzelnen Ärzte mit sich gebracht hat.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen also, daß die ambulante medizinische Versorgung flächendeckend nach und nach von niedergelassenen Ärzten sichergestellt wird.Wir haben vorhin gehört, daß im Einigungsvertrag, wohl um Friktionen beim Übergang zu vermeiden, vorgesehen wurde, effiziente, wirtschaftlich und medizinisch leistungsfähige Polikliniken bis zum 31. Dezember 1995 am Versorgungssystem zu beteiligen. Dies ist jedoch keine Bestandsgarantie, wie sie von Ihrer Seite immer wieder gefordert wird.Parallel zur Zunahme der freien Praxen kam es naturgemäß zu einer Abnahme der Zahl der Polikliniken, und zwar bevorzugt und glücklicherweise der nicht sehr leistungsfähigen Polikliniken. Sie wissen, daß sich mittlerweile 70 % der vormaligen Einrichtungen dieser Art in Umstrukturierung bzw. in Auflösung befinden bzw. bereits aufgelöst worden sind. Wenn einige politische Parteien oder Gruppierungen dieses Hohen Hauses auch heute immer noch behaupten, das erklärte Ziel der Einigung sei es gewesen, die vorhandenen Polikliniken zu zerschlagen, so ist dies eine bewußte Unterstellung und ignoriert völlig die Realitäten. Selbst Herr Schröter, der Sprecher des brandenburgischen Sozialministeriums, sagte schon vor einiger Zeit, daß er nur für 42 seiner 87 Polikliniken eine realistische Chance sehe.
Weiterhin sagte Herr Schröter, daß die medizinische Versorgung nicht gefährdet sei und daß ein Flächenstaat wie Brandenburg eine große Anzahl niedergelassener Ärzte benötige. So Herr Schröter, der, soweit ich informiert bin, sicherlich nicht meiner Partei angehört.
Für meine Partei war es nie eine ideologische Frage, leistungsfähige Strukturen in der ambulanten medizinischen Versorgung umzustrukturieren und damit zu erhalten, wobei wir auch die psychosozialen Probleme von älteren bzw. nicht niederlassungswilligen Ärztinnen und Ärzten sehr wohl bedacht haben. Mittlerweile wurden ja bekanntermaßen viele Möglichkeiten der Umstrukturierung vorgelegt. Die CDU/CSU sieht in dem Modell der KBV eine allen Teilen gerecht werdende Lösungsmöglichkeit.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der von vielen Seiten noch bis vor kurzem heraufbeschworene Zusammenbruch der medizinischen Versorgung in den fünf neuen Ländern ist dank der weitsichtigen Politik der Koalitionsparteien nicht eingetreten. Vielmehr wurde durch die hohe Akzeptanz der Niederlassungsmöglichkeit der Grundstock für eine leistungsfähige individuelle wohnortnahe ambulante medizinische Versorgung gelegt.Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt-Zadel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Umstrukturierung des Gesundheitswesens in den neuen Ländern zeichnet sich ab — in vielen Bereichen wird es heute sogar schon praktiziert —, daß das westdeutsche Modell der ambulanten Versorgung hauptsächlich durch Kassenärzte in freier Niederlassung auch auf Ostdeutschland übertragen oder — ich will es nicht noch schärfer formulieren — übergestülpt werden soll. Dabei nimmt man nicht nur die Übernahme der Mängel dieses Modells in Kauf, wie sie sowohl vom Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen als auch von der Enquete-Kommission „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung" festgestellt wurden, auch die berufliche und soziale Zukunft der Beschäftigten, vor allem der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im sogenannten mittleren medizinischen Dienst mit den die ambulante Versorgung in den neuen Ländern bisher prägenden Polikliniken und Ambulatorien,
wird leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Zahlen aus derletzten Zeit belegen, daß die Auflösung der Poliklini-
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Regina Schmidt-Zadelken zugunsten freier Kassenpraxen für viele im sogenannten Mittelbau der im Gesundheitswesen Beschäftigten, aber auch für viele ältere Ärztinnen und Ärzte in die vorprogrammierte Arbeitslosigkeit führt
und damit das Heer derjenigen vergrößert, die für ihre Zukunft leider, muß ich sagen, kaum mehr eine Perspektive sehen.Zu den vom Sachverständigenrat und der Enquete-Kommission angemerkten Mängeln des westdeutschen Modells der ambulanten Versorgung, das jetzt auch in die neuen Länder implantiert werden soll, gehören damit nicht nur die fehlende fachübergreifende Zusammenarbeit im Gesundheitswesen, die mangelnde ganzheitliche Patientenversorgung und die unzureichende Verzahnung von stationärer und ambulanter Versorgung. Nun wird auch noch der zur Zeit größte Mangel unseres Gesundheitswesens auf das Beitrittsgebiet übertragen, nämlich der eklatante Personalmangel bei medizinischen Fachkräften, denn Pflegenotstand, meine Damen und Herren, ist bei uns leider die bittere Realität.
Es erscheint geradezu kurzsichtig, heute diejenigen zu entlassen, die man vielleicht schon morgen wieder händeringend suchen wird.
Erfahrungen aus den alten Ländern haben gezeigt, daß Beschäftigte, die aus dem Gesundheitswesen in andere Bereiche des Arbeitsmarktes wechseln, nur sehr schwer zurückzugewinnen sind. Statt alles zu unternehmen, um die Beschäftigten in den neuen Ländern zu halten, die in den alten Ländern — ich habe darauf hingewiesen — händeringend gesucht werden, treibt man sie durch eine Politik, die sich in erster Linie an den standesrechtlichen Belangen der Ärzteschaft und deren materieller Zukunft orientiert, in die Massenarbeitslosigkeit.
— Das stimmt! Das ist kein Klassenhaß, das ist Realität.
— Das ist auch kein Klassenkampf, das ist bittere Realität.
Es gab und gibt immer mehr Kündigungen von ärztlichem und nichtärztlichem Personal. Es sind häufig die Menschen, die zur Gruppe derjenigen gehören, die in ihrem Leben keine Perspektive mehr sehen. Da es sich meist um Ältere und vor allen Dingen um Frauen handelt, werden sie oft in die bittere Realität des Selbstmordes, des Suizids, getrieben.
— Das ist so. Sie können sich aufregen. Das ist mir in Gesprächen in diesen Kliniken von vielen Ärztinnengesagt worden. Ich nehme Sie gerne mit und stelle Sie denen gegenüber.
— Lassen Sie mich bitte weiterreden! Meine Zeit läuft.Wenig tröstlich erscheinen in diesem Zusammenhang die Erfolgsmeldungen, etwa von Ihnen, Frau Dr. Bergmann-Pohl, die auf die stolze Zahl von 6 600 privaten Niederlassungen und den vermuteten Anstieg bis zum Jahresende auf 12 000 hinweisen. Auch die Angebote von Frau Ministerin Hasselfeldt, die nichtärztlichen Mitarbeiter und die Ärzte in Ausbildung könnten möglicherweise an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen teilnehmen, läßt die Beschäftigten in eine ungewisse Zukunft blicken. Es stellt sich daher die Frage, warum die Chancen für Verbesserungen, die sich bei der notwendigen Umstrukturierung des Gesundheitswesens bieten, nicht genutzt werden. Die Mängel in der bisher bei uns praktizierten ambulanten Versorgung wurden in den letzten Jahren von Experten doch hinreichend aufgezeigt.
Frau Abgeordnete, ich bin in der Aktuellen Stunde gezwungen, sehr auf die Zeit zu achten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zum Ende kämen.
Ich komme zum Schluß. Vielen Dank.
Klar ist auch uns, meine Damen und Herren, daß nicht alle Polikliniken überlebensfähig sind. Wir wollen aber den Kliniken, bei denen es sinnvoll erscheint, eine faire Chance geben. Das ist sowohl im Interesse der Patienten als auch im Interesse der dort Beschäftigten dringend erforderlich. Ob das Modell des Dauerassistenten als Angestellter beim freiberuflich tätigen Arzt, wie es die KBV vorsieht, der Weisheit letzter Schluß ist? Hier machen wir mehrere Fragezeichen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Menzel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Daß wir uns heute erneut mit der Frage des Fortbestands der Polikliniken in den fünf neuen Bundesländern auseinandersetzen, hat sicherlich nicht zuletzt seine Ursache darin, daß im Einigungsvertrag festgelegte Regelungen Anlaß zu unterschiedlicher Interpretation geben.
— Vielleicht hören Sie, was ich weiter zu sagen habe.Jene, die möglichst schnell die vollständige Auflösung der Polikliniken wünschen, verweisen auf die begrenzte Bestandsgarantie mit dem Ziel, Poliklini-
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2426 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Dr. Bruno Menzelken als Auslaufmodell der ärztlichen Versorgung zu charakterisieren. Diejenigen, die einem staatlichen dirigistischen Gesundheitswesen Sympathie entgegenbringen, interpretieren diese Festlegung im Einigungsvertrag als Bestandsgarantie für Polikliniken. Tatsache ist jedoch, meine Damen und Herren, daß beide extreme Standpunkte letzten Endes die sinnvolle Integration bestehender ärztlicher Versorgungsstrukturen in ein freiheitliches, demokratisches und pluralistisches Gesundheitssystem lediglich erschweren.Um allen Mißverständnissen hier im Hause vorzubeugen, sei nochmals nachdrücklich darauf hingewiesen, daß sich die FDP stets für ein solches freiheitliches Gesundheitswesen eingesetzt hat und einsetzt, das von dem Grundsatz der freien Arztwahl, der Therapiefreiheit des Arztes und der freien ärztlichen Berufsausübung getragen wird. Es besteht auch kein Zweifel daran, daß der Auftrag zur Sicherstellung der ambulanten Versorgung durch frei niedergelassene Ärzte zu gewährleisten ist.
Solch ein grundsätzliches Bekenntnis beinhaltet aber nicht a priori, daß das nur in einer einzigen Niederlassungsform erfolgen kann. Auch hier gilt für die FDP der Grundsatz, daß jedes Modell denkbar ist, das sich — sowohl gemessen an den Bedürfnissen der Patienten als auch an seiner Wirtschaftlichkeit — am Markt behauptet.
Geht man von wirtschaftlichen Erwägungen aus, meine Damen und Herren, dann ist es sicherlich völlig unbestritten, daß die Polikliniken ihrer jetzigen Organisationsform den Erfordernissen nicht gerecht werden. Aus der Sicht der medizinischen Betreuung aber — das möchte ich hier ganz besonders betonen — bieten Polikliniken Voraussetzungen für ein Angebot an vernetzten Dienstleistungen, die insbesondere chronisch Kranken, Behinderten, Pflegebedürftigen zugute kommen, aber auch vielen anderen Patientengruppen deutliche Vorteile bringen, bis hin zu hochspezialisierter Betreuung und Dispensaireleistungen. Ich kann dem absolut nicht zustimmen, daß in Polikliniken lediglich eine additive Zusammenfassung von Ärzten gegeben gewesen ist
ohne jede sinnvolle Zusammenarbeit. Ich kann das ganz besonders dann nicht verstehen, wenn solche Standpunkte vorgetragen werden von Kollegen, die selbst in solchen Einrichtungen — ich unterstelle — hervorragende Arbeit geleistet haben.
Voraussetzung dafür ist jedoch nach meiner Überzeugung die Umstrukturierung dieser Einrichtungen in wirtschaftlich rentabel arbeitende Ärztegemeinschaften, in denen freiberufliche Ärzte in Gemeinsamkeit zum Vorteil der Patienten praktizieren. Wäre man diesen Überlegungen von Anbeginn an gefolgt, dann hätte man bruchartige Umstrukturierungen, Unsicherheit bei Personal und Patienten, überstürzte Auflösungen von Polikliniken und Defizite in bestehenden Dispensaire-Betreuungen vermeiden können,
denn sehr wohl — das gebieten einfach die Gerechtigkeit und die Wahrheit — bestehen derzeit Defizite in bestimmten Bereichen. Wen sollte das wundern? Warum sollte sich gerade im Gesundheitswesen etwas anderes vollziehen als in anderen wirtschaftlichen Bereichen, wo wir auch mit der Umstrukturierung große Schwierigkeiten haben? Das wissen wir, und wir bemühen uns, diese so gut wie möglich zu überbrücken. Da wiederum, meine Damen und Herren, werden sie nur deshalb überbrückt — deshalb können die Gesundheitsminister der Länder hier so gute Zahlen berichten — , weil noch bestehende Polikliniken und den Häusern angeschlossene ambulante Behandlungsstellen das überbrücken, was sonst defizitär für die Bevölkerung zum Tragen kommen würde. Auch das muß einmal deutlich gesagt werden. Das gebietet einfach die Wahrheitsliebe. Und das gebietet auch die Gerechtigkeit gegenüber denjenigen Kollegen, die diese Arbeit tagtäglich leisten und 40 Jahre geleistet haben.
Sie haben noch einen Moment Redezeit. Aber Sie können auch beim zweiten Mal fortsetzen.
Ich darf dann in der zweiten Runde noch zu weiteren Fragen Stellung nehmen.
Schönen Dank.
Ich erteile der Abgeordneten Frau Dr. Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zum Thema ambulantes Gesundheitswesen in den neuen Bundesländern haben wir uns hier schon mehrfach verständigt. Manchmal habe ich einfach den Eindruck, manche reden als Blinde von Farben. Die haben nie, glaube ich, in einer Poliklinik gearbeitet.
Ich hoffe, daß ich mit meinem Beitrag noch ein paar Aspekte hinzufügen kann zu dem, was hier bereits deutlich wurde, besonders von Herrn Menzel.Es ist ja inzwischen weitgehend unstrittig, daß die Vorteile poliklinischer Strukturen den Erhalt dieser Einrichtungen nicht nur für Patienten, für Ärzte und Schwestern, sondern letztendlich auch hinsichtlich der Kostenerstattung durch die Krankenkassen begründen.
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Dr. Ursula FischerMancherorts wird immer noch diskutiert, daß Polikliniken eine Erfindung des Sozialismus seien. Mal ganz abgesehen davon, daß dem deutschen Arzt Ernst-Ludwig Heim, der bis 1834 lebte, die Idee dazu zugeschrieben wird, haben sich in den USA und auch in nordischen Ländern diesen poliklinischen Strukturen ähnliche Gesundheitseinrichtungen mittlerweile bewährt.
Interessanterweise bewähren sich solche Strukturen im Ausland, leider nicht in Deutschland, obwohl sie nach allen Erkenntnissen kostengünstiger sind und die ambulante Versorgung der Patienten viel besser gewährleisten.
— Damit können Sie mich überhaupt nicht treffen.Denkt man nur einmal an den Kostendruck im Gesundheitswesen, dann ist für mich völlig klar, daß in der Perspektive der Entwicklung des Gesundheitswesens in Deutschland es sich als notwendig erweisen wird, daß poliklinische Strukturen nicht nur erhalten, sondern wieder neu aufgebaut werden müssen. Deshalb ist es für mich unverständlich, warum diese Strukturen in den neuen Bundesländern erst größtenteils zerschlagen werden mußten, um sie dann später, wenn sich erwiesen hat, daß sie billiger und effizienter sind, mit einem größeren Aufwand und kostenintensiver wieder aufzubauen.
Für die niedergelassenen Ärzte, jetzt auch in den neuen Bundesländern, tritt ein spürbarer Kostendruck auf die einzelne Ortspraxis auf. Das wird keiner bestreiten. In den Altbundesländern hatte dieser Druck ja zur Entwicklung von Organisationsmodellen geführt, die durch die gemeinschaftliche Nutzung von Flächen, medizinisch-technischen Geräten und einem gemeinsamen Verwaltungsmanagement — das wäre ja denkbar — höhere medizinische und wirtschaftliche Effizienz gewährleisten. Solche Einrichtungen werden ja zur Zeit in wenigen Städten der Altbundesrepublik betrieben. An vielen Standorten geplant, werden sie sich in den nächsten Jahren auf Grund der für die Patienten bereitgehaltenen Vorteile — ich möchte sie hier nicht alle aufzählen — als Gesundheitszentren oder medizinische Zentren vervielfältigen. Davon bin ich überzeugt; Herr Hirschmann vom Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands e. V. aus München übrigens auch.
In dieser Richtung befördernd wirkte ja auch die Empfehlung des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen aus dem Jahre 1989 zur Errichtung gebietsärztlicher Versorgungszentren. Diese Versorgungseinrichtungen haben sehr große Ähnlichkeit mit poliklinischen Strukturen.
Sie unterscheiden sich ja im wesentlichen nur dadurch, daß Polikliniken mit angestellten Ärzten betrieben werden, während in medizinischen Zentren der westlichen Bundesländer die Ärzte als selbständige niedergelassene Ärzte Kassenleistungen erbringen.Ich hätte zu diesem Thema noch eine ganze Menge zu sagen, weil ich die Situation bei uns kenne. Als Thüringer kann ich nur soviel dazu sagen: Bei uns ist das hervorragend gelöst worden, denn alle poliklinischen Strukturen sind fast vollständig zerstört worden, und zwar mit einer Effizienz, die selbst der Gesundheitsminister von Thüringen im Prinzip beklagt hat.
— Ich kann Ihnen sagen, wie das gelaufen ist. Man hat den Ärzten keinen anderen Ausweg als diesen gezeigt. Die Bünde sind bei uns eingefallen und haben nur diese Möglichkeit vorgestellt. Ich war zu einem Treffen mit niedergelassenen Ärzten in Erfurt. Die haben praktisch alle aufgestöhnt, als Herr Hirschmann gesagt hat: Die Einzelpraxen haben keine Zukunft.Das kann ich mir auch vorstellen. In der Volkskammer sind Modelle erarbeitet worden. Das liegt alles vor; auch daß sie effizienter arbeiten. Es ist das unkritische Überstülpen eines Systems. Es wäre sehr viel leichter, wenn man mit Ruhe und Sachlichkeit darüber redete, welche Vorteile dieses System im psychosozialen Bereich, in der Schwangerenberatung und überall bietet, auch die Dispensairebetreuung.
Ich meine, darüber muß man in Zukunft reden, denn die Zahl der psychosozialen Probleme nimmt bei uns ungeheuer zu. Das ist Ihnen auch bekannt.Zur Situation der Psychotherapie in der ehemaligen DDR, die mir bekannt ist, möchte ich mich jetzt auch nicht weiter auslassen. Auch über die Situation der Psychologen hätte man reden können. Ich denke, ich habe genug gesagt, um zu verdeutlichen, daß das Brandenburger Modell zu favorisieren ist.Danke.
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Bergmann-Pohl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es besteht ein wenig Aufklärungsbedarf bezüglich der Frage additive oder fachübergreifende Leistung. Es
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2428 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohlgab beides. Es gab beispielsweise in den Polikliniken eine Vielzahl von Allgemeinärzten.
— Lassen Sie mich ausreden. Da hat es sich selbstverständlich um additive Leistungen gehandelt. Aber es gab auch Polikliniken, bei denen verschiedene Fachärzte unter einem Dach gearbeitet haben. Dabei handelte es sich natürlich um eine fachübergreifende Arbeit.Das eine oder das andere war nicht ausgeschlossen. Das ist natürlich auch möglich, wenn sich Ärzte in einem gemeinsamen Ärztehaus niederlassen.
Meine Damen und Herren, anders als Sie, sehr geehrte Frau Schmidt-Zadel, möchte ich, wie es sich gerade auch für eine Aktuelle Stunde gehört, mit den aktuellen Tatsachen beginnen. Tatsache ist z. B., daß von Januar bis April 1991 die Zahl der niedergelassenen Ärzte — Sie haben es schon gehört — von 6 000 auf ca. 11 000 angestiegen ist. Die Entwicklung hat sich schneller vollzogen, als ich das damals vorausgesehen habe. Hinzu kommen gegenwärtig rund 7 000 Kassenzahnärzte. Das wird übrigens von den Patienten sehr positiv angenommen. Die gegenwärtige Entwicklung der ambulanten Versorgung der Versicherten in den neuen Bundesländern ist also davon gekennzeichnet, daß sich Ärzte und Zahnärzte in einem nicht erwarteten Tempo niederlassen.Entgegen Ihren permanenten Versuchen, das Gegenteil herbeizureden, steht als zweite Tatsache fest, daß die schnell fortschreitenden Umstrukturierungen auch keineswegs zu Versorgungsmängeln führen.
Ich darf zitieren: „Die ambulante medizinische Versorgung der Bevölkerung ist weiterhin gesichert" ; so Sozialminister Schreiber am 6. Juni 1991. Ich zitiere: „In Mecklenburg-Vorpommern gab es bei den Umstrukturierungen im Gesundheitswesen keine Einbrüche, weder im ambulanten noch im stationären Bereich" ; so Sozialminister Gollert am 7. Juni 1991. Ich zitiere: „Im Interesse der Patienten hat sich der Umstrukturierungsprozeß im Gesundheitswesen des Freistaates Sachsen seit Beginn des Jahres erstaunlich gut vollzogen" ; so Herr Dr. Geisler am 5. Juni 1991.
Sogar Ihre Kollegin, Frau Ministerin Hildebrandt, behauptet nicht, daß die ambulante oder stationäre Versorgung der Bevölkerung der neuen Länder gefährdet wäre. Und darauf kommt es aus meiner Sicht doch wohl entscheidend an.Die beschriebene Entwicklung und die Zitate zeigen, daß sich die Ärzte und Patienten für unser bewährtes System der ambulanten gesundheitlichen Versorgung entschieden haben. Sie haben damit einem System eine Absage erteilt, das abgewirtschaftet hatte.Ich kann daher nuf wiederholen: Eine generelle Alternative zu niedergelassenen Ärzten — die Formen sind genannt worden: es kann in Praxisgemeinschaften, es kann in Gemeinschaftspraxen sein — sieht die Bundesregierung nicht. Übrigens steht im Einigungsvertrag — Ihr Kollege Haack hat ihn zitiert — nicht nur, daß die Polikliniken bis zum Jahre 1995 zugelassen sind, sondern auch — das hat die SPD so mit verabschiedet — , daß die freie Niederlassung zu fördern ist.Der strukturelle Wandel der ambulanten Versorgung in den neuen Bundesländern führt jedoch nicht dazu, daß die Polikliniken aus der ambulanten Versorgung der Versicherten ausscheiden. Die Formulierungen des Einigungsvertrages sind Ihnen ja vorgetragen worden.Es dürfte Ihnen auch bekannt sein, daß die Zuständigkeit für die wirtschaftliche und organisatorische Umstrukturierung des Gesundheitswesens bei den Ländern und Gemeinden liegt. Von seiten des Bundes werden den Beteiligten dafür im Rahmen des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost Mittel zur Verfügung gestellt.Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung — das habe ich in der Fragestunde alles schon ausgeführt — hat hierzu einige interessante Vorschläge gemacht.Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, das Problem ist, daß es sich hier nur um Empfehlungen handelt, die von den Beteiligten umgesetzt werden können oder müssen. Hier kann doch nichts hoheitlich aufgezwungen werden. Hier ist z. B. auch, Frau Fischer, Solidarität der Ärzte untereinander gefordert, die man nicht anordnen kann. Sie wissen genau, daß viele Poliklinken oder Ambulatorien zugrunde gegangen sind, weil sich die Ärzte untereinander nicht einig waren.
— Herr Präsident, ich kann die Frage nur beantworten, wenn ich — —
Zwischenfragen sind in der Aktuellen Stunde nicht zulässig.
Gut.Ein wichtiger Bestandteil der Umstrukturierung ist die Umgestaltung der sozialen und gesundheitlichen Dienste, die von den Polikliniken erbracht wurden, die aber nicht oder nur teilweise von den Krankenkassen finanziert werden. Ich denke insbesondere an die weiterhin sinnvolle Dispensairebetreuung für Krebs-, Diabetes-, Rheumakranke sowie die Familienberatungsdienste und den öffentlichen Gesundheitsdienst. — Bitte, hören Sie von der SPD zu; Sie wollten das vorhin von mir wissen. — Aber auch hier sind zuerst die Gemeinden und Länder gefordert. Auch hier sind Sie mit Ihrer ständigen Nörgelei an der falschen Adresse.
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Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-PohlDie Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Spitzenverbände der Krankenkassen haben bereits erkennen lassen, daß sie insbesondere für die Betreuung chronisch Kranker geeignete Versorgungsformen für erforderlich halten. Sie haben daher zusammen mit den kommunalen Spitzenverbänden in einer gemeinsamen Empfehlung weitere Umstrukturierungshilfen vereinbart. Die Bundesregierung ist bereit, zur Entwicklung der nötigen Finanzierungsstrukturen für diese sozialen Dienste auch finanzielle Beratungshilfen zu leisten. Zusätzlich stellt die Bundesregierung den neuen Ländern die Mittel für je zwei Berater ab dem 1. Juli 1991 zur Verfügung.Tatsache ist schließlich, daß wir durch unser Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost auch in diesem Bereich die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, daß der notwendige Umstrukturierungsprozeß sozialverträglich ausgestaltet wird.Insbesondere für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bestehen gegenwärtig noch beträchtliche finanzielle Reserven. So wurden im Mai 1991 113 600 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen von der Bundesanstalt für Arbeit finanziert.
Es stehen aber finanzielle Mittel für 278 000 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu Verfügung. Es besteht hier also noch ein weiteres erhebliches Unterstützungspotential. Es liegt somit auch an den Trägern der Polikliniken, entsprechende Maßnahmen einzuleiten und die vorhanden Möglichkeiten auszuschöpfen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt Frau Kollegin Antje-Marie Steen.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Erst einmal, Frau Dr. Bergmann-Pohl, möchte ich für die Fraktion der SPD Ihre Worte zurückweisen, daß wir hier stehen und nörgeln. Wir stehen hier, weil wir von der Idee der Polikliniken überzeugt sind und weil wir hier einen engagierten Beitrag abliefern wollen.
In der vorigen Woche haben wir von dieser Stelle sehr viel vom ersten gesamtdeutschen gemeinsamen Haushalt und davon gehört, daß die Angleichung der Lebensverhältnisse Ost an West im Vordergrund steht. Vielleicht wäre es auch einmal sinnvoll gewesen, darüber nachzudenken, ob nicht auch Teile der Lebensbereiche von Ost nach West hätten übernommen werden können.
Ich nenne hier den Bereich der Polikliniken, die für westdeutsche Verhältnisse durchaus auch Sinn machen, bieten sie doch eine Form der Daseinsvorsorge, die ein vernetztes Angebot an ärztlicher, pflegerischer und sozialer Dienstleistungen für Bürgerinnen und Bürger in einer Einheit darstellt.Hier danke ich Ihnen, Herr Dr. Menzel, daß Sie auch aus der Sicht eines Ostdeutschen das so dargestellt haben.
Lassen Sie mich einen Mann zitieren, der der sozialistischen Ideologie bestimmt nicht verdächtigt werden kann, nämlich Herrn Eberhard Diepgen. Er bescheinigt in der „FAZ" am 23. Mai 1991 zumindest einem Teil der Polikliniken auch eine Aufgabenstellung in der Zukunft; und daran arbeiten wir.Uns kommt es sehr darauf an, daß ein wichtiger Versorgungsbereich die Chance erhält, nämlich der der Beratungsdienste und Dispensaires. Gerade für chronisch kranke Patienten ist das Angebot der Dispensaires ein bewährtes Versorgungssystem, für das ich mir in der alten Bundesrepublik ähnliche Einrichtungen wünschte. Es stellt eine aktive medizinische Betreuungsform dar, die integrativ Prävention, Therapie und Rehabilitation für Patienten mit gleichen Krankheitsbildern anbietet.In Berlin, so auch Herr Diepgen, werde man an diesem System der Dispensaires festhalten, besonders bei Rheuma- und Diabetespatienten.Darüber hinaus sind die Beratungsdienste und die ambulanten Hilfen eine wichtige vernetzte Dienstleistung. Die Möglichkeit, ärztliche Versorgung, Beratung, ambulante Betreuung unter einem Dach zu fördern, entspricht dem Wunsch vieler Patienten, enthält es doch ein Angebot der kurzen Wege.Nun gelingt es den wenigsten der Beteiligten, sich in dem Maße wieder mit ihren Diensten anzubieten. Ich meine z. B. die Hebammen, die Psychologen, die Physiotherapeuten, die Berater und Beraterinnen, die so wichtige Bereiche in der Vor- und Nachsorge wahrnehmen. Es fehlen vielfach die persönlichen und finanziellen Voraussetzungen. Mangel an entsprechenden Räumen in Praxen sowie an Infrastruktur bis hin zum Telefonanschluß behindert eine eigene Niederlassung.Den daraus resultierenden Mangel an ambulanten Versorgungen bekommen ganz besonders die Menschen in den ländlichen Räumen zu spüren.Besonders zu bedauern ist in diesem Zusammenhang auch der Zusammenbruch der sehr weit gefächerten kinderärztlichen Vorsorge und Versorgung durch die Mütterberatung, die in der Qualität und im Umfang mit unseren Vorsorgemaßnahmen durchaus vergleichbar sind. Zweifellos ist eine Umstrukturierung der Polikliniken notwendig, aber nicht ihre Zerschlagung. Entscheidend ist die Kooperation zwischen ärztlicher und nichtärztlicher Dienstleistung, wobei eine genaue Trennung der Kostenträger und Kostenerstattung Voraussetzung ist. So lassen sich Beratungsdienste, die jetzt ganz besonders nötig sind, gerade unter dem Dach der Polikliniken in enger Verzahnung einrichten, z. B. Beratung in Schwangerschaftskonflikten — auch hier besteht ein großer Mangel — , gesundheitliche Aufklärung, Ernährungsberatung und Gesundheitserziehung.Im Hinblick auf die sich sehr rasch verändernde soziale Lage der Menschen in der neuen Bundesrepublik ist dieser Mangel an Beratungsstellen auch für
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2430 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Antje-Marie SteenFrauen ganz besonders gravierend. Ich nenne hier nur die Konfliktsituation beim § 218.Wen erschrecken die hohen Suizidraten in den neuen Bundesländern nicht?
— Es stimmt. Diese signalisieren neben einer wirtschaftlichen auch eine seelische Notlage.Deshalb fordern wir gerade auf dem Sektor der psychosozialen Dienste eine Verstärkung im personellen wie im institutionellen Bereich. Wir fragen die Bundesregierung, wie sie ihre Verantwortung sieht, wenn Polikliniken aufgelöst werden, aber neue Träger für diese Aufgabe aus finanziellen Gründen nicht zur Verfügung stehen. Wohin sollen sich Rat- und Hilfesuchende wenden, wenn mit der Wegrationalisierung, z. B. bei der Psychotherapie, alles ein Ende findet?
Frau Kollegin Steen, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ja. Ich bin sofort fertig. Lassen Sie mich bitte diesen Gedanken zu Ende führen. — Welche Alternativen im Rahmen der Daseinsvorsorge unter der umfassenden medizinischen und sozialen Versorgung steht den Bürgern und Bürgerinnen der neuen Bundesländer zur Verfügung, wenn Polikliniken geschlossen und damit bestehende ArztPatienten-Beziehungen unnötig gefährdet werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Geben Sie den Polikliniken eine Chance, sich strukturell über 1995 hinaus zu verbessern und als integrative Versorgungseinheit zur Verfügung zu stehen!
Ich bedanke mich.
Der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Hans-Joachim Sopart.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da hört man immer wieder von der ganz linksaußen sitzenden Gruppe dieses Hauses und auch von Frau Schmidt-Zadel, daß den Bewohnern der neuen Bundesländer das westliche System „übergestülpt" wird. Dies wird eigentümlicherweise auch auf die Situation der Ärzte und Zahnärzte in den neuen Ländern bezogen.Frau Kollegin Fischer, wir haben doch zumindest im Fachlichen dieselbe Ausbildung hinter uns. Ist dies nicht eine groteske Verdrehung der Tatsachen?
— Gut; dann haben Sie das berühmte Fach Sozialhygiene in der DDR nicht richtig studiert. — Tatsache ist doch, daß 1949 der freien deutschen Ärzteschaft das Korsett eines kommunistischen staatlich reglementierten Gesundheitswesens angelegt und seitdem immer enger geschnürt wurde.
Was heute in den neuen Ländern passiert, ist ein Akt der Befreiung unserer Kollegen dort von diesen Zwängen.
Insofern ist es doch logisch und konsequent, daß nach dem Einigungsvertrag die Niederlassung in freier Praxis so gefördert werden soll, daß der freiberuflich tätige Arzt zum maßgeblichen Träger der ambulanten Versorgung wird.Der Anteil der genannten poliklinischen Einrichtungen — darauf weise ich noch einmal hin, weil darüber Unklarheit bestand — ist entsprechend zu verringern; d. h. diesen Einrichtungen ist, wenn sie wirtschaftlich arbeiten, die Möglichkeit eröffnet worden, bis zum 31. Dezember 1995 „zur Sicherung der kassenärztlichen Versorgung beizutragen".Diese Regelung beinhaltet aber keine „Bestandsgarantie" für poliklinische Einrichtungen für die Dauer von fünf Jahren; sie beinhaltet mit dem Hinweis auf die Wirtschaftlichkeit auch keine staatliche „Anschubfinanzierung", wie sie im „Brandenburger Modell" vorgesehen ist. Soweit die gesetzlichen Vorgaben.Tatsächlich aber — auch darauf wurde hingewiesen — ist diese Regelung flächendeckend in weiten Bereichen der neuen Länder von der Realität bereits überholt worden.In meinem Wahlkreis mit fünf Landkreisen und sieben Polikliniken existiert keine einzige mehr. Alle Polikliniken sind in Ärztehäuser bzw. Gemeinschaftspraxen umgewandelt worden.
Damit ist das im Einigungsvertrag präjudizierte Ziel realisiert worden. Diese Tendenz zeigt sich in Sachsen-Anhalt landesweit, so daß heute schon mit mehr als zwei Dritteln aller ambulant tätigen Ärzte die Hauptlast der ambulanten medizinischen Versorgung von Kassenärzten getragen wird.Probleme der Gründung solcher Praxisgemeinschaften ergeben sich zweifellos — da gehe ich mit Ihnen konform — in den sehr großen Polikliniken in städtischen Ballungszentren. Hier zeigt das von der kassenärztlichen Bundesvereinigung vorgeschlagene Modell der Gründung einer Verwaltungs-GmbH für die Organisation und Betriebsführung der von Kassenärzten in Praxisgemeinschaft genutzten Räume und Einrichtungen einen guten Weg, den dort tätigen Kollegen in freier Niederlassung eine Zukunft über das Jahr 1995 hinaus zu bieten.Damit wird unter Berücksichtigung des gesetzlichen Auftrags ein Höchstmaß an Wirtschaftlichkeit
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2431
Dr. Hans-Joachim Sopartbei einem konzentrierten Angebot verschiedenster Ärzte an einem Standort angeboten.
Poliklinikfachärzte, die aus Altersgründen, familiären oder gesundheitlichen Gründen eine kassenärztliche Zulassung nicht anstreben, können als angestellte Ärzte in die Kassenpraxen integriert werden.
Um noch auf einen Kritikpunkt einzugehen: In solchen Verwaltungs-GmbHs könnten auch Dispensairemaßnahmen, Sozialstationen und physiotherapeutische Abteilungen angegliedert werden.Insofern sehe ich im Gegensatz zu Ihnen keinen zusätzlichen Handlungsbedarf dieses Parlaments oder der Bundesregierung. Das Problem der Polikliniken hat sich entsprechend dem Einigungsvertrag zum größten Teil geklärt und ist in seinen Residuen unter Beachtung des Subsidiaritätprinzips wie geschildert zu lösen.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Bruno Menzel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe heute den Vorzug, zweimal an diesem Pult stehen zu dürfen; aber es ist ja auch dasselbe Thema.Das, was in der Vergangenheit gewesen ist, haben wir jetzt behandelt und besprochen. Man soll nach vorne schauen und soll sehen: Was können wir aus dem, was ist, tatsächlich machen? Wenn man sich das einmal recht überlegt, kann man im Nachgang feststellen, daß im Einigungsvertrag natürlich auch eine große Chance gelegen hat, nämlich die Chance, daß wir fünf Jahre lang die Gelegenheit haben, uns zu überlegen, was wir — ich will das Wort „Polikliniken" nicht erwähnen — mit diesen Strukturen und Einrichtungen machen können, die darin enthalten sind.Meine Damen und Herren, es geht überhaupt nicht um den Streit um das eine oder andere. Es geht einzig und allein um die Frage: Sind es Strukturen, die dazu angetan sind, eine adäquate, hochwertige medizinische Versorgung unserer Menschen zu gewährleisten: ja oder nein?
Das ist die entscheidende Frage, und nichts anderes!
Da muß man Unterschiede machen. Herr Kollege Sopart, ich gebe Ihnen vollkommen Recht: Es wäre absolut widersinnig, wenn wir auf dem Lande dafür plädierten, dort Polikliniken zu etablieren. Eine Poliklinik hat ihr Bestandsrecht im wesentlichen in großen Städten und Ballungsgebieten, wo sie ein entsprechendes Angebot und ein entsprechendes Personengut hat.Wenn wir uns darüber einig werden könnten, müssen wir uns jetzt überlegen, was zu tun ist. Ich möchte vielleicht noch feststellen, daß es bisher an zugeschnittenen, praktikablen Konzepten gefehlt hat, die der neuen Rechtssituation angepaßt sind. In der Zwischenzeit sind Konzepte sowohl von der Bundesregierung als auch von der Ärzteschaft vorgelegt worden, unter welchen Voraussetzungen Umstrukturierungen der Polikliniken vorgenommen werden können.Wir Liberalen begrüßen es sehr, daß die Ärzteschaft mittlerweile auch hier selber Konzepte entwickelt hat, daß Polikliniken dort, wo sie wirtschaftlich und bedarfsgerecht arbeiten, auch in der Zukunft in Form einer Praxisgemeinschaft zugelassener Kassenärzte weiterbestehen. Jenen Poliklinikfachärzten, die keine Kassenzulassung anstreben, sollte es ermöglicht werden, als angestellte Ärzte in Kassenpraxen integriert zu werden; das ist eine Möglichkeit, wo sie vollständig eigenverantwortlich, selbständig, arbeiten können, ohne daß sie ein Risiko eingehen, das man ihnen nach so vielen Dienstjahren nicht mehr zumuten kann.
Wer jedoch, wie z. B. die Gesundheitsministerin von Brandenburg, Frau Hildebrandt, um die Weiterexistenz von Polikliniken mit angestellten Ärzten kämpft, schadet einem differenzierten Umstrukturierungsprozeß, weil dies nicht nur zu einer Verunsicherung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Einrichtungen, sondern auch der Patienten führt.
Meine Damen und Herren, wenn wir von Anbeginn an ein klares Konzept gehabt hätten, was denn mit diesen Polikliniken werden soll unter der Voraussetzung, daß dort vorhandene Strukturen zur Behandlung erhalten bleiben sollen, dann wären auch viele Ärzte viel eher bereit gewesen, in dieser Form ärztlich tätig zu werden. Das ist ein gewisser Vorwurf, der uns gemacht wird, daß natürlich durch diese Unsicherheit, daß man nicht genau wußte, wo es hingeht, viele Ärzte auch überstürzt aus diesen Einrichtungen herausgegangen sind.
— Das kann ich nicht beurteilen. Ich kenne seinen Lebensweg nicht.Niemand wird derzeit bestreiten können, daß die Polikliniken zur Zeit jedenfalls unverzichtbar sind, um die Versorgung bei dem allgemeinen Umstrukturierungsprozeß mit zu gewährleisten. Wer den in diesen Einrichtungen tätigen Ärzten und Mitarbeitern eine Perspektive geben will, der sollte an der Umwandlung von Einrichtungen in Gemeinschaftspraxen oder Praxisgemeinschaften mitwirken — so, wie wir es hier versucht haben darzulegen.Hier, meine Damen und Herren, sind aber auch die Kommunen und Kreise gefordert. Leider ist nämlich
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Dr. Bruno Menzelimmer noch festzustellen, daß die Eröffnung einer Praxis oder die Überführung einer Poliklinik in ein Ärztehaus nur deshalb scheitert, weil Mieten gefordert werden, die in westlichen Ländern nicht einmal in Spitzenlagen verlangt werden. Ohne daß die kommunalen Gebietskörperschaften bereit sind, niederlassungswilligen Ärzten für eine Übergangszeit Praxisräume und auch Geräte möglichst kostengünstig zur Verfügung zu stellen, wird die Umwandlung blok-kiert, und zwar vor allen Dingen zu Lasten der in der Einrichtung tätigen Mitarbeiter.
Herr Kollege Menzel, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident. Ein letzter Satz.
Wir müssen insbesondere die vor Ort Tätigen ermutigen, die notwendigen Schritte und Initiativen zu ergreifen. Wenn uns das gelingt, werden wir die noch bestehenden Schwierigkeiten auf diesem Wege mit Sicherheit überwinden.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist Frau Kollegin Editha Limbach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich war sehr überrascht, als ich Ihre Ausführungen gehört habe, Frau Schmidt-Zadel. Sie sind wie ich aus dem Westen unseres Landes, aus Nordrhein-Westfalen, haben also persönlich keine Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen in der damaligen DDR machen müssen. Sie stellen sich hier hin und erwecken den Eindruck, als wäre das dort herrschende Gesundheitswesen das ideale gewesen und daß es besser gewesen wäre, statt dort Freiheit zu erkämpfen, dieses System hierher zu bringen. Ich fand das erstaunlich.
Frau Schmidt-Zadel, Sie waren auch nicht Mitglied der Enquete-Kommission. Das konnten Sie auch nicht sein, weil Sie noch nicht im Bundestag waren. Aber wie Sie hier die Enquete-Kommission zitiert haben — das kann ich als ständiges Mitglied dieser Kommission beurteilen — , ist zumindest unzulässig. Dort sind in der Tat Mängel auch in unserem Gesundheitswesen aufgezeigt worden. Aber das wissen wir ja alle, daß es immer, wo Menschen tätig sind und egal, in welcher Form sie tätig sind, auch Mängel gibt und daß man diese Mängel abstellen muß und es Verbesserungen geben kann. Aber so, wie Sie es hier dargestellt haben, muß ja der unbefangene Zuhörer, der möglicherweise keine Zeit und Gelegenheit hatte, den Bericht der Enquete-Kommission zu lesen, zu dem Ergebnis kommen, daß das Gesundheitswesen dort total zu verurteilen sei und als wäre dies alles eine Katastrophe gewesen, was mit freiberuflich Tätigen in der Medizin und mit der freien Arztwahl des Patienten nichts zu tun hatte.Ich habe mich schon in der letzten Legislaturperiode außerordentlich gewundert, daß es uns weder als Mitgliedern der Enquete-Kommission zur Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung noch als Mitgliedern des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung je gelungen ist, den geplanten und beabsichtigten Besuch bei Gesundheitseinrichtungen in der damaligen DDR zu realisieren, doch wohl offenbar, weil es nichts Geeignetes gab, was man uns hätte so vorführen können, wie Sie es hier dargestellt haben.Nichtsdestotrotz habe ich mich natürlich bemüht, mich nicht nur bei der Bereisung, die der Gesundheitsausschuß gemacht hat — da waren Sie doch dabei —, sondern auch bei Gesprächen und Bereisungen, die unsere Arbeitsgruppe in der Fraktion organisiert hat, aber auch privat zu erkundigen. Ich stelle fest, es gibt sehr viele, die wie ich das ganze Gesundheitswesen nur als Patientin beurteilen können, die mir z. B. sagen, daß es insbesondere in den großen Städten eigentlich ein Fortschritt ist, wenn man in dem niedergelassenen Arzt immer denselben Arzt seines Vertrauens wiederfindet, sei es wenn man selbst oder mit den Kindern zur Behandlung bzw. zur Diagnose gehen muß.Ich weiß selbstverständlich, daß es Unterschiede gegeben hat. Ich weiß vor allem, daß der Einsatz des medizinischen oder nichtmedizinischen Personals in diesen Einrichtungen möglicherweise gelegentlich dem einen oder anderen bei uns als Vorbild gelten dürfte. Auch das ist mir allerdings klargeworden, weil dort Leistungen unter Bedingungen erbracht wurden, die ungleich härter, schwieriger und komplizierter waren, als wir sie im allgemeinen dem Personal und auch den Patienten zu bieten in der Lage sind.
Aber die Auffassung, Frau Fischer, die Polikliniken könnten, wie Sie gesagt haben, billiger und effizienter arbeiten, muß erst noch bewiesen werden. Sie behaupten das einfach. Wenn das so ist, können sie dies unter dem Rahmen des Einigungsvertrages doch tun; denn die einzige Einschränkung, die ihnen gegeben ist, ist, daß sie wirtschaftlich arbeiten müssen. Daß man auch im Gesundheitswesen wirtschaftlich arbeiten muß, dürfte jedem klar sein, der Beiträge und Arztrechnungen bezahlen und sich an diesen Kosten beteiligen muß.
Meine Damen und Herren, ich habe soeben ausdrücklich darauf hingewiesen, daß ich das Gesundheitswesen auch bei uns konkret nur aus der Sicht einer Patientin oder als Mutter von Patienten kenne. Deshalb wage ich hier zu sagen: Sie betreiben im Grunde Ideologie.
Das, was bei der Gesundheitsreform gescheitert ist, nämlich die Gesundheitszentren, die geplante Medizin und die geplante Krankenversorgung, und das, was sich offenbar, jedenfalls in der vorhandenen Form, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR jetzt, wo die Luft der Freiheit weht, nicht mehr bewähren kann, wollen Sie einführen, indem Sie etwas glorifizieren, was nicht zu glorifizieren ist. Entscheidend ist in der Gesundheitsversorgung die ordentliche, angemes-
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Editha Limbachsene Versorgung der Patientinnen und Patienten und nicht Ideologie.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Kollege Horst Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die Debatte heute verfolgt hat, kann man feststellen, daß die Bundesregierung mit der Vereinigung allem Anschein nach ihren Reformwillen zu den Akten gelegt hat, zumindest was die ambulante Versorgung im Gesundheitswesen anbelangt.
Ich darf daran erinnern, weil anscheinend einige Kolleginnen und Kollegen Schwierigkeiten haben: Nicht umsonst hat der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen dringend empfohlen, nicht mehr ausschließlich auf den Kleinbetrieb freie Praxis zu bauen. Ich sage: Wir brauchen deshalb Gesundheitszentren, die eine Weiterentwicklung, eine Umstrukturierung der Polikliniken darstellen, um damit die Zukunft zu meistern, und nicht ersatzweise Ärztehäuser, Frau Staatssekretärin, wie Sie das heute eingebracht haben.
Ich möchte ganz deutlich machen: Wir brauchen deshalb ein duales System bei der ambulanten Versorgung, in dem niedergelassene Ärzte auf der einen Seite und Gesundheitszentren auf der anderen Seite nebeneinander für die Versorgung tätig sind. Wir brauchen vor allem Gesundheitszentren, die patientenorientiert und wirtschaftlich arbeiten. Ich sage, damit keine Mißverständnisse aufkommen, gleich vorbeugend: Wir wollen deshalb keinen Naturschutzpark für Polikliniken errichten.
Denn dies widerspräche dem, was wir in der Gesundheitspolitik anstreben und was wir insgesamt wollen: mehr Wirtschaftlichkeit, mehr Pluralität, aber auch Wettbewerb.
Wir brauchen deshalb kein bloßes Überstülpen unseres westdeutschen Gesundheitswesens — ich sage das heute zum drittenmal, weil man es gar nicht oft genug sagen kann — , weil das den Nachteil hat, daß die strukturellen Nachteile West auf ein System Ost übertragen werden.
Ich bin davon überzeugt: Wir brauchen einen geordneten Wandel der leistungsfähigen Polikliniken zu Gesundheitszentren. Wir brauchen vor allem für den Übergang und für den Neubeginn eine eingehende und dauerhafte Beratungsunterstützung der Gesundheitszentren.
Wir sind alle miteinander aufgerufen, die Chancengleichheit bei der Entwicklung der Polikliniken im Osten zu ermöglichen. Wir brauchen im Interesse der Menschen Modelle von Gesundheitszentren, mit denen die Versorgungsqualität verbessert wird. Ich sage: Lassen Sie doch die Menschen darüber abstimmen, welche Gesundheitsversorgung sie haben wollen!
Entscheidend für eine solche Verbesserung der ambulanten Versorgung durch Gesundheitszentren ist deren kooperative Struktur, durch die die unterschiedlichen medizinischen Leistungen wie die Vorsorge, die Diagnose, die Therapie, die Beratung, die Rehabilitation und schließlich die Nachsorge integriert werden — alles unter einem Dach.
Jetzt gilt es, meine Damen und Herren, Entwicklungsmodelle und nicht Auslaufmodelle zu erstellen; denn die Entwicklungs- und die Erneuerungsbereitschaft ist bei unseren Menschen im Osten vorhanden.
Ich sage: Aufbruch verpflichtet, aber Aufbruch bedeutet, die integrativen Ansätze in der Gesundheitsversorgung aufzugreifen, die im Osten vorhanden sind, die vorhandenen Chancen für eine ganzheitliche Gesundheitspolitik zu nutzen, sie mit den Empfehlungen des Sachverständigenrates bei der konzertierten Aktion im Gesundheitswesen zu verbinden und dabei die Erfahrungen anderer Länder — auch das kann man nicht oft genug sagen — nutzen, die mit den verschiedenen Formen von ärztlicher Kooperation und gesellschaftlichen Zusammenschlüssen die strikte Trennung zwischen ambulanter und stationärer medizinischer Versorgung bereits überwunden haben.
Wir können feststellen: An Ideen mangelt es nicht. Die Vorstellungen reichen vom ausgereiften Brandenburger Modell über das der Berliner Ärztekammer bis hin zur fachverbindenden Gemeinschaftspraxis des Verbandes der niedergelassenen Ärzte. Dabei können auch bei einem ganzheitlichen Ansatz Ambulanz und Komplementäreinrichtungen durchaus unterschiedliche Träger haben. Wir sind in dieser Frage für Pluralität.
Aber, meine Damen und Herren, ich glaube, ganz entscheidend kommt es darauf an, daß wir bei der Entwicklung von Modellen vor allem eines nachträglich fördern: Wir sollten für eine wissenschaftliche Begleituntersuchung eintreten. Damit kann man dem Gerede von der angeblich mangelnden wirtschaftlichen Effektivität wissenschaftlich gesicherte Fakten gegenüberstellen. Dann hat man Fakten und muß nicht mit Annahmen und Ideologiebegriffen operieren.
Ein solcher Großversuch, wie wir als Sozialdemokraten ihn uns vorstellen, wird eine Signalwirkung für die ambulante Versorgung in Gesamtdeutschland haben. Nur jetzt, solange noch eine große Zahl von Polikliniken besteht, kann ein Reformansatz in den neuen Ländern quasi zum Nulltarif entwickelt und erprobt werden. Ich sage: Greifen wir doch zu!
Herr Kollege Schmidbauer, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
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2434 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
An die Patienten, die eine ganzheitliche ambulante medizinische Betreuung zuallererst spüren und davon einen großen Nutzen haben, müssen wir denken. Ich denke, wir alle können davon profitieren: Ärzte, Patienten, Krankenkassen und damit die Gesellschaft insgesamt.
Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß wir die fünf Minuten in der Aktuellen Stunde nicht überschreiten können.
Ich bitte um Nachsicht, Herr Präsident. Ich sage meinen letzten Satz.
Wer die Wahlfreiheit bei der ambulanten Versorgung sichern will, muß jetzt positive Signale setzen.
Vielen Dank.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Wolfgang Zöller.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Beim Verlauf dieser Diskussion ist mir die Pfingstpredigt wieder in den Kopf gekommen. Da hat unser Pfarrer nämlich gesagt: Ich habe langsam den Sinn erkannt, warum sich die Menschen so schlecht verstehen. Es muß wohl daran liegen, daß jeder seinen eigenen Vogel für den Heiligen Geist hält. So kommt mir das auch heute vor.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, anders als Sie von der Opposition möchte ich jedoch betonen, daß das von Ihnen gepriesene Modell Brandenburg nicht der Weisheit letzter Schluß ist. Ich möchte es kurz begründen.
Auf der Grundlage des Einigungsvertrages bestehen eben nicht nur für die Einzelpraxis, sondern auch für die Gesundheitspraxis, die Gemeinschaftspraxis, die Praxisgemeinschaft und die Zusammenarbeit mit Angehörigen anderer Berufe vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat soeben in Abstimmung mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen Entscheidungshilfen zur Umstrukturierung poliklinischer Einrichtungen in den fünf neuen Bundesländern und Ost-Berlin vorgelegt. Durch die ins einzelne gehenden Hinweise werden den Polikliniken die notwendigen Umstrukturierungsmaßnahmen erläutert und erleichtert. Die genannten Entscheidungshilfen zeigen überdies Möglichkeiten auf, wie Ärzte, die sich aus persönlichen Gründen nicht niederlassen wollen oder können, in den Umstrukturierungsprozeß integriert werden können. Zu denken ist hier ganz besonders an ältere Ärztinnen und Ärzte, die das für die Praxisgründung erforderliche Investitionsrisiko einfach nicht mehr eingehen möchten.
Für diese Ärzte wird eine Fortsetzung der Angestelltentätigkeit in abgewandelter Form vorgesehen.
So können z. B. Poliklinik-Fachärzte als angestellte Ärzte in den neu gebildeten Kassenpraxen aufgenommen werden.
Zur Vermeidung einer persönlichen Abhängigkeit vom zugelassenen Kassenarzt wird der Anstellungsvertrag mit einer Verwaltungsgesellschaft ab geschlossen. Die Gehälter der angestellten Ärzte werden dann aus den Einnahmen der Kassenärzte aus ihrer freiberuflichen Tätigkeit finanziert. Die Abrechnung erfolgt auf der Grundlage des einheitlichen Bewertungsmaßstabes und des vereinbarten Punktwertes.
Zugelassene Kassenärzte, die angestellte Ärzte nach diesem Modell beschäftigen, erhalten aus einem Sicherstellungsfonds Zuschüsse, um ihnen die Bereitschaft zur Mitwirkung an dieser Lösung zu erleichtern.
Ich bin davon überzeugt, daß dieses Konzept erhebliche Vorzüge gegenüber dem Modell des Landes Brandenburg hat. Dies gilt insbesondere für die Vergütung der ärztlichen Leistungen. Die beim Modell Brandenburg vorgesehenen Zahlungen von Leistungszulagen auf der Grundlage eines Basisgehalts und einer Erfassung der vom einzelnen Arzt erbrachten Leistungen nach dem einheitlichen Bewertungsmaßstab schließen die Weiterzahlung von BAT-Gehältern grundsätzlich aus; denn BAT-Gehälter gelten immer den vollen Einsatz der Arbeitskraft des Arztes ab. Dadurch werden schwerwiegende tarifvertragliche Probleme entstehen. Dies gilt ganz besonders für Gesundheitszentren in kommunaler Trägerschaft.
Schließlich, die im Haushalt des Landes Brandenburg vorgesehenen Zuschüsse für die Polikliniken verzerren gerade den Wettbewerb, weil sie auch die Startchancen verzerren. Hier wird nämlich nur die Poliklinik gefördert.
Deshalb lassen Sie mich abschließend feststellen: Die Maßnahmen der Umstrukturierung haben sich bewährt. Jetzt wird es entscheidend darauf ankommen, welcher Form der medizinischen Betreuung die Versicherten den Vorzug geben.
Eine Bitte noch an die Opposition: Eine ständige Wiederholung von Negativmeldungen führt nur dazu, daß viele junge Ärzte verunsichert werden und damit eine Niederlassung nur zögerlich angehen. Ermutigen wir doch endlich die Bürger in den neuen Bundesländern, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will Sie noch einmal auf etwas aufmerksam machen: In der Aktuellen Stunde sind weder Zwischenfragen noch Interventionen gestattet. Frau Dr. Fischer und Herr Menzel, ich konnte Ihnen leider nicht das Wort erteilen.
Als letzter Redner hat jetzt unser Kollege Dr. Paul Hoffacker das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2435
Dr. Paul HoffackerKollegen! Jeder hat seinen eigenen Vogel, Herr Vogel. Vielen Dank, daß Sie mich darauf hinweisen.
— Ich bedanke mich für dieses Kompliment. Ich hoffe, ich kann das beweisen.Meine Damen und Herren, diese Aktuelle Stunde verstehe ich als eine Art Zwischenbilanz in einem Prozeß der Ablösung von den Polikliniken in eine neue Struktur. Dabei meine ich, klarstellen zu sollen, daß wir nicht Menschen in ihrer Leistung in der Vergangenheit in irgendeiner Form kritisieren, daß wir also weder den Ärzten noch den Pflegern noch den Krankenschwestern, Herr Dr. Menzel, zu nahetreten wollen. Aber hier steht nicht diese Leistung zur Debatte, sondern es steht die Struktur zur Debatte, die Struktur des Gesundheitswesens — so heißt diese Aktuelle Stunde ja auch wohl — mit der Versorgung im ambulanten Bereich für die Menschen in den neuen Bundesländern. Hier, meine ich, muß man sich fragen: Was geschieht denn in der Wirklichkeit?Als erstes Ergebnis können wir feststellen, daß sich die Menschen in den neuen Bundesländern gegen ein staatlich reglementiertes Gesundheitswesen ausgesprochen haben und daß sie die Freiheit gewählt haben. Wir sollten, so meine ich, jetzt nicht zurückschauen auf sogenannte Errungenschaften der SED, sondern wir sollten den Mut, den die Bürger der ehemaligen DDR bei der Entscheidung für die Umstellung bewiesen haben, wahrnehmen und unterstützen. Herr Knaape, ich kann nicht feststellen, daß bei dieser Umstrukturierung ein irgendwie gearteter moralischer Druck ausgeübt worden ist. Vielmehr haben sich die Menschen entschieden. Die Ärzte haben sich innerhalb eines halben Jahres mit 70 % dafür entschieden, die freie Niederlassung zu wählen. Jetzt haben wir zu fragen, was mit den verbleibenden 30 geschieht. Es muß gefragt werden, ob die Struktur zu erhalten ist, ob sie auszubauen oder weiter zu überführen ist. Da meine ich, daß bereits nach einem halben Jahr festgestellt werden kann, daß sich im großen und ganzen die Chance für die Weiterführung nicht als besonders rosig erweist. Wir müssen also unterscheiden zwischen den ärztlichen Leistungen und den Leistungen, die bisher auch von Poliklinken erbracht worden sind, aber nicht untergehen dürfen. Hier haben wir das, was durch die Dispensairebetreuung geleistet wurde, zu beachten. Wir müssen die Beratungen berücksichtigen. Wir müssen natürlich beachten, daß das, was bei uns in der Beratung durch die Gesundheitsämter, Sozialstationen und freien Träger geleistet wird, ebenfalls dort eingeführt wird.
Hier muß die Chancengleichheit gewährleistet sein. Herr Kollege Schmidbauer, Sie sprechen das ja häufig an. Das Land Brandenburg verhält sich hier nicht nach dem Prinzip der Chancengleichheit, denn — Herr Afheldt hat es ja deutlich bewiesen — dort wird die Umwidmung der Polikliniken mit 117 Millionen DM aus Landesmitteln unterstützt, während die Niederlassung der Ärzte und die damit verbundene mögliche Freiheit keinen adäquaten Beitrag erfährt. Das halte ich nicht für gut.Als weiteres Ergebnis müssen wir feststellen, daß die Qualitätsentwicklung und die Qualitätssicherung nicht dadurch gelitten haben, daß sich jetzt die Entwicklung der freien Niederlassungspraxen in einem solchen Tempo und in einer solchen Stabilität fortsetzt.Um auf Ihre Widersprüche, Frau Schmidt-Zadel, zu kommen: Dies sieht, so meine ich, etwas anders aus. Einerseits wird beklagt, daß heute Menschen entlassen werden, nach denen man morgen händeringend sucht. Andererseits werde ich aus ihren Reihen dauernd darauf angesprochen, was ich denn dafür tun könne, daß die Stellen für Krankenschwestern und Ärzten in den neuen Bundesländern nicht ausgeschrieben werden, damit die Leute dort blieben, um ihrer Arbeit nachzukommen.Ich darf Ihnen noch ein zweites Beispiel des Widerspruchs nennen: Einerseits kritisieren Sie das KBVModell, andererseits sprechen Sie hier von Suizid, von der Perspektivlosigkeit der Ärzte. Was Sie hier betreiben, ist doch, gelinde gesagt, Agitation.
Allein an diesem Widerspruchsverhältnis wird das ganz deutlich. Wenn man einerseits davon spricht, daß Menschen in Suizidgefahr geraten, weil sie keine Anstellungsmöglichkeiten haben, dann dürfen Sie doch nicht andererseits dieses KBV-Modell kritisieren.Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, daß wir viele Aufgaben vor uns haben: die Kassenreform, das Krankenhaus. Ich bitte Sie von der Opposition, nicht an der Klagemauer stehenzubleiben,
sondern mutig mit uns gemeinsam auf die Zukunft gerichtet in den neuen Bundesländern mitzuarbeiten.Vielen Dank.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.Ich rufe den Zusatzpunkt 10 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDPEinsetzung eines EG-Ausschusses — Drucksache 12/739 —Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
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2436 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Vizepräsident Helmuth BeckerIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat unsere Kollegin Frau Dr. Rita Süssmuth. Frau Präsidentin, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf den heutigen Tag haben viele von uns dringlichst und sehnlichst gewartet. Es ist soweit. Im Dezember letzten Jahres haben die Regierungskonferenzen über die Wirtschafts- und Währungsunion und die Politische Union begonnen. Es wird eine Reform des EG-Vertragswerks angestrebt, die in ihren Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten die letzte große Reform, die Einheitliche Europäische Akte von 1986, übertreffen soll.
Bei all dem hat man sich für dieses ehrgeizige Ziel einem erheblichen Zeitdruck ausgesetzt, denn bis Ende 1992 sollen die Weichen für die künftige europäische Union gestellt werden. Wir Parlamentarier müssen uns entscheiden, ob wir uns aus der Debatte über die notwendigen Kompetenzübertragungen und den dazugehörenden Zeitplan ausklinken oder uns in die EG-Reform einbeziehen und sie mitgestalten wollen.
Wir sind an diesem Prozeß als nationale Parlamente interessiert, und wir sind in bezug auf das Europäische Parlament interessiert. Wir wollen die Regierungskonferenzen kontinuierlich begleiten und nicht am Ende nur den Vertrag ratifizieren. Wenn wir uns mit dieser Zuschauerrolle nicht zufrieden geben wollen, müssen wir die Regierungskonferenzen und den europäischen Einigungsprozeß aktiv begleiten.
Ich bin sehr froh darüber, daß es jetzt gelungen ist oder, so sage ich vorsichtiger: gelingen wird, diesen Ausschuß zu begründen, und daß er damit auf einer breiten parlamentarischen Basis steht.
Wir beschließen damit, was alle Mitgliedstaaten der EG mit Ausnahme Luxemburgs bereits beschlossen haben. Sie haben Europa-Ausschüsse eingerichtet.
Der Unterausschuß des Auswärtigen Ausschusses, der im Rahmen seiner Befugnisse gute Arbeit geleistet hat, konnte für die Begleitung des europäischen Reformprozesses nicht länger der richtige Ansatz sein. Das entscheidende Handikap für die Tätigkeit des Unterausschusses lag in seinem parlamentarisch unselbständigen Status, der seine Wirkungsmöglichkeiten innerhalb des Bundestages stark einschränkte, seine Stellung gegenüber der Bundesregierung entsprechend schwach beließ und ihn in den Beziehungen zu den EG-Ausschüssen anderer nationaler Parlamente und zum Europäischen Parlament nicht als vollwertigen Partner erscheinen ließ. Wir sind in der letzten Zeit mit Mühe noch zu den Fachorgankonferenzen eingeladen worden. Die Einrichtung eines selbständigen EG-Ausschusses ist deshalb folgerichtig.
In der Debatte der letzten Woche wurden Bedenken laut, ein solcher Europa-Ausschuß könnte sich zu einer Art Überausschuß entwickeln, der die Fachausschüsse in ihren Zuständigkeiten beschneidet. Diese Bedenken nehmen wir ernst, und im Verfahren wird diesem Problem bei der Zuweisung zu den federführenden Ausschüssen jeweils Rechnung getragen. Aber entscheidend ist: Es geht um die Zusammenarbeit des Europa-Ausschusses mit dem Europäischen Parlament — hier hat er eine wichtige Brückenfunktion, auch was die Zusammensetzung des Ausschusses betrifft — und mit den EG-Ausschüssen der nationalen Parlamente. Sie haben nun endlich einen gleichwertigen Ansprechpartner beim Deutschen Bundestag.
Schließlich könnte sich ein solcher Ausschuß besser als jeder andere Fachausschuß für ein Ziel einsetzen, das uns Parlamentariern allen am Herzen liegt: die Überwindung des Demokratiedefizits in der Gemeinschaft und insbesondere die Stärkung des Europäischen Parlaments.
Die Demokratisierung der EG ist und bleibt ein zentraler Punkt unserer parlamentarischen Arbeit. Das Gewicht eines Europa-Ausschusses kann hier gar nicht hoch genug angesetzt werden; denn wir wissen, daß es bei den meisten unserer Nachbarn keine Zustimmung für die deutschen Vorschläge gibt. Ihnen liegt weit mehr an der Stärkung der nationalen Parlamente als an der Stärkung des Europäischen Parlaments. Deswegen ist ganz entscheidend, daß wir die das EG-Parlament betreffenden Forderungen auch durchsetzen.
Wir brauchen einen Europa-Ausschuß, und wir brauchen ihn jetzt, denn der Zug in Richtung europäische Union ist mit der Einsetzung der beiden Regierungskonferenzen in schnellere Fahrt gekommen. Wenn wir noch aufspringen und politischen Einfluß auf die Ausgestaltung der Europapolitik nehmen wollen, müssen wir uns beeilen. Die Einsetzung eines Europa-Ausschusses ist der richtige Einstieg.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Dr. Fritz Gautier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als erstes möchte ich sagen, daß ich die Ausführungen unserer Präsidentin und Kollegin Frau Dr. Süssmuth voll unterstütze. Daher brauche ich in dieser Hinsicht nichts mehr zu ergänzen.Wenn man sich die Debatten der letzten Monate hier im Deutschen Bundestag und in der deutschen Öffentlichkeit ansieht, dann stellt man fest, daß sie im wesentlichen geprägt waren durch die Probleme der deutschen Einheit oder auch die Frage Bonn oder Berlin oder was auch immer die Seele der Menschen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2437
Dr. Fritz Gautierbewegt. Wir haben offensichtlich etwas vergessen, nämlich daß der Prozeß der Integration innerhalb der Europäischen Gemeinschaft trotzdem mit einer Riesengeschwindigkeit weitergeht und wir dieses parlamentarisch-politisch einfach nicht vernünftig begleitet haben.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat schon in der letzten Legislaturperiode beantragt, einen Europa-Ausschuß einzusetzen. Dies ist uns bedauerlicherweise nicht gelungen, weil die Koalitionsfraktionen nicht mitgemacht haben und wir bekanntlich nicht in der Mehrheit waren.Die Erfahrungen aus der Arbeit des Unterausschusses des Auswärtigen Ausschusses zeigen — da kann ich Ihnen, Frau Kollegin Dr. Süssmuth, nur zustimmen — , daß dieses eine nicht ausreichende Betätigung gewesen ist. Wir haben dort zwar eine sehr nette Atmosphäre gehabt, aber nicht das politische Machtinstrumentarium, um auch einmal zu sagen, wie wir als Deutscher Bundestag eigentlich die Frage der weiteren Integration der Europäischen Gemeinschaften sehen.Wir Sozialdemokraten haben in dieser Legislaturperiode von Beginn an erneut gesagt: Wir wollen einen Europa-Ausschuß. Wir haben jetzt sechs Monate über diese Frage mühsam verhandelt und gesprochen. Es ist teilweise wirklich schon peinlich gewesen,
mit welchen Argumenten einige Gruppierungen und Kreise dieses Hauses die Meinung vertreten haben, man bräuchte keinen Europa-Ausschuß, man könnte das alles so erledigen.
Dabei wissen wir, daß es so dringlich ist wie nie zuvor. Der Prozeß der Integration allein im Hinblick auf den Binnenmarkt 1992 geht dynamisch und schnell weiter.Ich bin Europabeauftragter meiner Fraktion im Wirtschaftsausschuß. Ich kriege — wie auch mein Kollege Kittelmann und andere — jede Woche einen großen Berg an Richtlinien und Verordnungen zur weiteren Vollendung des Binnenmarktes.
— Im Gegensatz zu Ihnen lese ich das auch noch! Es gibt ein paar Leute, die können so etwas auch noch lesen.Wir haben des weiteren die Situation, daß die Verhandlungen in den Regierungskonferenzen über die politische Union und die Wirtschafts- und Währungsunion so weit fortgeschritten sind, daß der Herr Außenminister erklärt hat: Auf dem nächsten Gipfel in Luxemburg werden wir die Struktur der Verträge festlegen, und auf dem Den Haager Gipfel werden wir das alles verabschieden. — Der Deutsche Bundestag ist da völlig außen vor.
Wir haben in den ganzen Verhandlungen über die Verträge — ich will nur ein paar Beispiele sagen — jede Menge Kapitel, die wir hier überhaupt nicht behandeln. Ich habe vorgestern auf meinen Schreibtisch ein Papier bekommen — das läuft alles immer streng vertraulich und ist in französisch oder englisch, wie auch immer — über die Einfügung eines neuen Energiekapitels in das Vertragswerk der Europäischen Gemeinschaft. Niemand hier diskutiert darüber, ob wir als Bundesrepublik Deutschland noch in der Lage sind, eigene Energiewirtschaftspolitik in diesem Bereich zu betreiben oder nicht.
— Wir könnten es beantragen. Sie kriegen die Papiere doch gar nicht offiziell. Das läuft über verschiedenste Kanäle.
— Herr Bohl, Sie müssen einmal die Strukturen hier im Bundestag sehen. Das alles kriegen Sie gar nicht offiziell zugeleitet. Das kriegen Sie nur über dritte Kanäle, um überhaupt zu wissen, was in den Regierungskonferenzen verhandelt wird.
Dasselbe gilt für die zukünftige Sozialpolitik der Europäischen Gemeinschaft. Wollen wir neue Sozialvorschriften dort in den Verträgen haben? Welche Rolle sollen die Sozialpartner auf europäischer Ebene spielen? Das alles wird hier nicht diskutiert, auch nicht die Rechtspolitik. Da will ich nur an zwei Bereiche erinnern. Was machen wir eigentlich in Zukunft mit einer europäischen Asylpolitik oder Immigrationspolitik. Dort stehen wir vor riesigen Problemen. All dieses wird parlamentarisch nicht begleitet, auch nicht das, was unsere Präsidentin gerade angesprochen hat, nämlich: Welches ist die Rolle der Region in der Europäischen Gemeinschaft in den nächsten Jahren? Wollen wir eigentlich eine Regionalkammer? Welche Rolle soll der Bundesrat spielen? Welche Rollen sollen die Regionen auf europäischer Ebene spielen usw. usf.?Wir haben dieses auch deshalb nicht vernünftig parlamentarisch beraten können, weil die Probleme zu komplex sind. Wenn wir z. B. sagen, wir wollen die Frage der Wirtschafts- und Währungsunion mit Fragen der politischen Union verknüpfen, dann ist festzustellen, daß bei uns im Bundestag im Augenblick mindestens vier oder fünf Ausschüsse damit befaßt sind. Allein in bezug auf die Wirtschafts- und Währungsunion ist der Finanzausschuß mit der Frage befaßt: Wie soll das Zentralbankensystem aussehen? Der Wirtschaftsausschuß ist mit der Frage befaßt: Wie soll die makroökonomische Koordinierung in diesem Bereich aussehen? Irgendwelche anderen Ausschüsse sind mit der Frage befaßt, ob wir dort eine parlamen-
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2438 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Dr. Fritz Gautiertarische Kontrolle haben oder nicht. Das heißt, es ist bei uns in mehreren Ausschüssen alles völlig zersplittert. Das Ergebnis der gesamten Veranstaltungen in den letzten Jahren war doch, daß wir eigentlich überhaupt keine Stellungnahme dazu gehabt haben.
Deswegen haben wir gesagt: Wir wollen die Zerstükkelung dort überwinden.Hinzu kommt, daß die Europäische Gemeinschaft eine neue Verantwortung in der Welt wahrnimmt. Wer diskutiert denn im Augenblick eigentlich mit den Polen, mit den Ungarn und mit der Tschechoslowakei die Fragen einer möglichen Assoziierung und einer politischen Kooperation? Wer diskutiert denn die Frage der Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft um die EFTA-Staaten usw.?
Wer diskutiert die Frage des europäischen Wirtschaftsraumes? Das macht im Augenblick alles die Regierung. Wir sagen ganz deutlich: Dies kann keine Ein-Mann-Veranstaltung von Bundesaußenminister Genscher sein,
so nett wir ihn auch finden mögen. Es geht darum, wie wir es selber politisch-parlamentarisch dort behandeln.
Nun kommen wir zu dem Antrag selber. Da die FDP in dieser Frage meint, daß sie es bei einer Ein-MannVeranstaltung belassen sollte, und da sich dies auch noch in den Veranstaltungen oder in den Erklärungen des Fraktionsvorsitzenden Solms niederschlägt, der sagt, jetzt bekämen wir zwar einen Europa-Ausschuß, aber dieser solle nichts zu sagen haben, erkläre ich hier für die SPD verbindlich: Wir sehen dies anders.
Wir sind der Meinung, daß der Europa-Ausschuß natürlich etwas zu sagen haben soll. Wir sind uns in dem Antrag, der interfraktionell hier vorgelegt worden ist, einig. Aber in bezug auf die Interpretation des Einsetzungsbeschlusses sage ich sehr deutlich, daß wir als Sozialdemokraten es schon so sehen, daß der Europa-Ausschuß in entscheidenden Fragen der europäischen Integration die Federführung für die Arbeit übernehmen muß
und daß diese nicht irgendwo anders liegen darf, sondern daß sie sich in der Verantwortung des Europa-Ausschusses befinden muß.Wenn wir also heute den Einsetzungsbeschluß hier fassen, den wir interfraktionell vorschlagen, dann vollziehen wir etwas, was die anderen Länder der Europäischen Gemeinschaft schon längst gemacht haben und was auch der Bundesrat schon lange gemacht hat, nämlich mit einer eigenen Europakammer und einem eigenen Europa-Ausschuß. Ich denke, daß wir als Sozialdemokraten dies aus vollem Herzen unterstützen. Denn wir wollen die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, jedoch wirklich nur dann, wenn entweder wir oder andere diese Gemeinschaft auch politisch-parlamentarisch kontrollieren können und wenn dies nicht eine Veranstaltung ist, bei der hinter verschlossenen Türen irgendwo in Verhandlungen von Regierungskonferenzen oder wo auch immer Politik betrieben und exekutiert wird, die anschließend für die Mitgliedsstaaten verbindlich ist und umgesetzt werden muß und auf die wir in diesem parlamentarischen Prozeß niemals haben Einfluß nehmen können. Deswegen unterstützen wir den Antrag, so wie er heute vorliegt.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Kollege Olaf Feldmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege, wenn Sie die EinMann-Veranstaltung so verstehen, daß die FDP wie ein Mann hinter ihrem Außenminister Genscher steht, dann stimmen wir dem voll zu.
— Herr Kollege, unser Außenminister Genscher— das ist für jeden ersichtlich — ist ein Mann und steht für seine Sache wie ein Mann, und die FDP steht wie ein Mann voll hinter ihm.
Herr Kollege Gautier, es besteht überhaupt keine Veranlassung zur Aufregung. Eigentlich müßte doch jetzt in diesem Hause eitel Freude und Sonnenschein herrschen, weil wir das gemeinsam geschafft haben. Wir können eben sagen: Gut Ding will Weile haben. Das ist ja auch eine vernünftige Lösung.
— Nein, das stimmt nicht. Der Kollege Irmer hat bei der letzten Aussprache angekündigt, daß wir zu einer interfraktionellen, gemeinsamen Lösung kommen werden. Wir sind, wie Sie wissen, gemeinsam zu einer vernünftigen Lösung gekommen. Die FDP ist immer zu guten Kompromissen bereit, auch in diesem Fall.
Die FDP wird sich von niemandem bei der europäischen Integration überbieten lassen. Wir Parlamentarier brauchen uns auch nicht vorwerfen zu lassen, daß wir uns aus der Debatte über die europäische Integration ausgeklinkt hätten. Wir haben auch keine Zuschauerrolle gespielt.Herr Gautier, die Fachausschüsse haben sich intensiv mit den Fragen der Europäischen Gemeinschaft befaßt. Auch der Unterausschuß hat seine Arbeit ordentlich erledigt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2439
Dr. Olaf FeldmannDie Frau Präsidentin hat ja gerade bestätigt, daß der Unterausschuß gute Arbeit geleistet hat, oder wollen Sie dem eventuell widersprechen? Sie werden doch nicht der Frau Präsidentin widersprechen. Ich stimme der Frau Präsidentin in diesem Punkt ausdrücklich zu. Ich schließe mich den Ausführungen der Frau Präsidentin, die sie zu diesem Punkt gemacht hat, voll an.Die FDP hat gegen diesen Europa-Ausschuß in der Form, wie wir ihn hier heute beschließen wollen, keine Bedenken. Entscheidend ist — das können Sie aus dem vorgelegten Antrag „Einsetzung eines EGAusschusses" ersehen — , daß der EG-Ausschuß zuständig ist, soweit die Zuständigkeit nicht von anderen Fachausschüssen wahrzunehmen ist.Es heißt dort weiterhin — ich darf das hier in Erinnerung rufen und auf den Anfang meiner Rede zurückkommen — :Der Deutsche Bundestag geht davon aus, daß das korrespondierende Ministerium des EG-Ausschusses das Auswärtige Amt ist.Damit ist alles klar.Ich möchte damit schließen. Die FDP wünscht unserem gemeinsamen EG-Ausschuß viel Erfolg.
Das Wort hat jetzt Herr Kollege Dr. Hans Modrow.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bevorstehenden Entscheidungen über die Vollendung des EG-Binnenmarktes und in den Beratungen über eine Wirtschafts- und Währungsunion sowie eine Politische Union bestimmen das Gewicht des vorgeschlagenen EuropaAusschusses. Wenn die Koalition nun nicht die Frau Abgeordnete, sondern in diesem Falle, wie ja noch einmal betont wurde, die Präsidentin vorgeschickt hat, damit es keinen Widerspruch oder Gegensatz dazu gibt, unterstreicht das noch einmal die Bedeutung dieses Schrittes.
Die PDS/Linke Liste bekräftigt ihren Standpunkt, daß der Ausschuß dazu beitragen kann, im europäischen Integrationsprozeß parlamentarische Kontrolle und demokratische Mitgestaltung zu befördern, eine unverzichtbare gesamtkontinentale Perspektive zu sichern und der Gefahr einer weiteren Verschärfung der Ost-West-Kluft und der Nord-Süd-Konflikte entgegenzuwirken.
Vor allem muß der Ausschuß die bittere Lehre der überstürzten Ausdehnung der EG auf die neuen Bundesländer im Auge haben. Noch im April des Vorjahres hatte die Kommission der Europäischen Gemeinschaften anläßlich einer Sondersitzung des Rates erklärt, daß die Eingliederung der DDR in die Gemeinschaft Probleme schafft, die mit denen vergleichbar sind, die in anderen Fällen einer Erweiterung der EG aufgetreten sind. Daraus hatte sie das Erfordernis von Übergangsphasen und -maßnahmen abgeleitet. Doch wider besseres Wissen hat die Bundesregierung in ihrer selbstgefälligen Großmachtposition
auch hier alle Warnungen in den Wind geschlagen und weitgehend auf dringend gebotene Übergangs- und Schutzregelungen verzichtet, die jedem anderen Land gewährt wurden
und die den neuen östlichen Ländern nun weitgehend nicht gegeben sind. Der alleinige Bezug auf 40 Jahre Geschichte kann Fehler und Irrtümer der Bundesregierung nicht einfach aus der Welt schaffen. Das Ergebnis ist bekannt: Im Osten Deutschlands müssen Millionen Menschen die Tatsache, daß Sie diese Verantwortung nicht zu tragen bereit sind — genau wie die 40 Jahre dabei zählen — , mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes und sozialen Ängsten bezahlen.
Im Westen werden gerade die lohnabhängig Beschäftigten immer stärker zur Kasse gebeten.
Der Ausschuß muß dazu beitragen, aus Schaden endlich klug zu werden, den eingetretenen Schaden wenigstens zu begrenzen und neuen abzuwenden. Viele dieser Probleme stehen in den osteuropäischen Staaten auch an. Hier gilt es gleichermaßen, mitzuhelfen, Schaden zu begrenzen.
Darin sehen wir die vorrangige Aufgabe dieses Ausschusses.
Nächster Redner ist unser Kollege Peter Kittelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Modrow, nach Ihrem Beitrag könnte einem beinahe angst werden, was Sie in diesen Europa-Ausschuß alles hineinlegen wollen. Aber ich nehme an, wir werden selten Gelegenheit haben, Sie dabei persönlich zu erleben.Dei CDU/CSU-Bundestagsfraktion ringt, wie richtig bemerkt worden ist, seit langem um den Europa-Ausschuß. Wir sind froh, daß wir ihn gemeinsam mit unserem Koalitionspartner und den Sozialdemokraten heute einsetzen können.
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2440 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Peter KittelmannKein Blick zurück, aber herzlichen Dank an alle, die in den letzten Wochen daran beteiligt waren.
— Ich habe keine Einzelnennung vorgenommen.Es braucht nicht mehr betont zu werden, daß sich anstehende wirtschaftliche und politische Probleme nur noch im europäischen Kontext lösen lassen und daß das Denken ausschließlich in nationalen Kategorien und Strukturen endgültig der Vergangenheit angehört. Das heißt, wer sich nicht umstellt, hat eigenen Schaden. Die europäische Kategorie bestimmt unser politisches Denken, und sie ist auch eine positive große Herausforderung für uns alle. Tatsächlich hinken wir in bestimmten Bereichen manchen unserer europäischen Nachbarstaaten hinterher. Auch aus diesem Grund muß der Europa-Ausschuß ein deutliches Signal für unser europapolitisches Engagement sein.Bundeskanzler Kohl hat in seiner Regierungserklärung vom 30. Januar dieses Jahres gesagt: Wir wollen in einem vereinten Europa in Frieden und Freiheit dienen: Solidarität und Verantwortung in der Staatengemeinschaft ist unser Ziel. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, bedarf der Bundestag besonderer Handlungsstrukturen. Dem Bundestag kommt — das wissen wir seit langem — im Gestaltungsprozeß eines gemeinsamen Europas eine nicht zu unterschätzende und bisher teilweise ignorierte Rolle zu.In diesem Sinne wird es auch Aufgabe des Ausschusses sein, die Ereignisse auf dem europäischen Feld aufmerksam zu beobachten. Ich bin mir mit einigen Vorrednern darüber einig, daß das vor allen Dingen die Vollendung des Binnenmarktes, die Konferenzen zur Wirtschafts- und Währungsunion, zur Politischen Union und die Entwicklung eines Europas der Bürger sein werden. Das bedeutet nicht zuletzt, daß wir mit dem Ausschuß ein Gremium erhalten, das dafür sorgen muß, daß Entwicklungen in Brüssel nicht länger an uns vorübergehen. Zumindest werden wir uns darum bemühen.Eine Einbindung des Parlaments in den Prozeß der Meinungsbildung und der Entscheidung ist von höchster Dringlichkeit. Das Parlament darf sich nicht von seinen Wählern vorwerfen lassen, es habe die Interessen der Bürger und Regionen nicht überzeugend und nicht rechtzeitig einbringen können.Aus diesem Grunde geht es nicht nur um eine fachliche Koordinierung, sondern auch um eine zeitliche. Bei der fast rasend fortschreitenden europäischen Integration, die sich in zahlreichen Vorlagen der Kommission niederschlägt, ist das ein ganz wesentlicher Faktor. Dabei darf ich hier für die CDU/CSU ausdrücklich sagen, daß wir nicht daran denken, die fachliche Kompetenz der zahlreichen Ausschüsse einzuschränken; wir sind vielmehr darauf angewiesen, daß in den Fachausschüssen EG-Vorlagen und vieles andere beraten und daß dort weiterhin gemeinsam gearbeitet wird.
Die Europa-Euphorie könnte in dem Moment nachlassen, da die Bürger feststellen, daß die Umsetzung von EG-Recht in nationales Recht Kompetenzen der Nation zu sehr beschneidet und über ihren Kopf hinweggeht. Einer solchen Europarezession ist darum unbedingt entgegenzuwirken. Die europäische Aufbruchstimmung der letzten Jahre muß anhalten und sich sogar steigern.
Herr Kollege Kittelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wieczorek-Zeul?
Bitte, Herr Präsident.
Herr Kollege Kittelmann, stimmen Sie mit mir überein, daß die anderen Ausschüsse nach wie vor ihre Arbeit leisten müssen, daß aber insbesondere die beiden Regierungskonferenzen das zentrale Thema des Europa-Ausschusses sein werden?
Frau Kollegin, ich hatte das schon angedeutet. Wenn Sie meine Rede zu Ende gehört hätten, hätten wir uns gemeinsam Zeit gespart. Ich sage gleich noch etwas dazu.
Ich stimme mit Ihnen darin überein, daß es im Interesse aller ist, wenn der Europa-Ausschuß keine hohle Form ist, sondern mit Inhalt gefüllt wird.
Das wird er vor allen Dingen dann, wenn er sich mit den Problemen beschäftigt, die uns jeden Tag gemeinsam berühren.Meine Damen und Herren, der Ausschuß wird sich deshalb neben den koordinierenden Aufgaben mit den Verträgen und institutionellen Angelegenheiten der Europäischen Gemeinschaft befassen, eng mit dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten der Gemeinschaft zusammenarbeiten, den Kontakt mit der Kommission der Europäischen Gemeinschaft intensivieren und anstehende EG-Vorlagen beraten, entweder mitberatend oder federführend, je nachdem, wie er sie überwiesen bekommen hat.
Damit wird der Ausschuß fruchtbare Anstöße für die europapolitische Diskussion im Bundestag geben können und die erforderliche Sensibilität für Europabelange, die eben auch immer nationale Belange sind, verstärken. In zahlreichen Gesprächen, die wir in den letzten Wochen sowohl im europäischen Parlament als auch in der EG-Kommission geführt haben — die Arbeitsgruppe der CDU/CSU war einen Tag in Brüssel und hat sich dort mit europapolitischen Fragen befaßt — , zeigte sich, daß dieses Engagement immer wieder angemahnt wird und daß wir hier einen Nachholbedarf haben.Herr Gautier — um dieses klarzustellen, weil ich diesen Streit und die Interpretation müßig fand, sie geht aus dem Antrag hervor —, die jeweils federfüh-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2441
Peter Kittelmannrende Zuständigkeit des Europa-Ausschusses oder anderer Ausschüsse wird wie bislang in allen anderen Fragen auf Vorschlag des Ältestenrates im Plenum bestimmt.
Damit, meine Damen und Herren, wird es uns hoffentlich gelingen, mehr Zeit zu finden, um vor allen Dingen unmittelbarer und mit mehr Konzentration Europafragen zu behandeln. Die Einrichtung eines EGAusschusses ist ein notwendiges Zeichen für glaubwürdiges Europa-Engagement der Bundesrepublik Deutschland, der Bereitschaft verantwortungsvoll an der Gestaltung des gemeinsamen Europas mitzuwirken.Wir übernehmen uns mit der Einrichtung dieses Ausschusses nicht, weil wir wissen, daß auch dieser Ausschuß in Erledigung seiner Aufgaben begrenzt sein wird. Aber ich bin sicher, im Sinne unserer eigenen Interessen und der Interessen einer friedlichen Europäischen Gemeinschaft leistet der Deutsche Bundestag, wenn auch sehr spät, heute einen wesentlichen Beitrag.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, nun hat das Wort unser Kollege Gerd Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was ist Europa? Eine solche Frage mag Ihnen auf den ersten Blick banal erscheinen. Aber sie ist berechtigt, wenn man sich die politische Anwendung dieses geographischen Begriffes in Westeuropa, auch im Westen Deutschlands, ansieht. Eine Reihe von Politikern, ein großer Teil der Medien und der Öffentlichkeit benutzen das Wort Europa nach wie vor ganz selbstverständlich nur oder in erster Linie für den westlichen Teil dieses Kontinents, oftmals sogar nur für den Teil davon, der zur Europäischen Gemeinschaft gehört. Dies geschieht meist unbewußt und durchaus nicht mit der Absicht, die andere Hälfte Europas auszuklammern.
Vielleicht erinnern sich einige Mitglieder dieses Hauses noch an das erste Zusammentreffen von Abgeordneten der CDU/CSU mit DDR-Oppositionellen im Jahre 1987 in Ost-Berlin. Ein erheblicher Teil unseres Gesprächs bezog sich auf das hier genannte Problem. Damals hatte die Begrenzung des eigenen Horizonts noch auf Grund der politischen Realitäten des geteilten Europa einen gewissen praktischen Bezug. Aber auch vor 1989 war der östliche Teil Europas inklusive der ehemaligen DDR von Westen her durchaus zugänglich, und aufmerksamen Beobachtern war auch damals schon klar, daß die Chancen für die Vereinigung Europas nicht in der Sicherung des Status quo oder gar in der finanziellen Stützung totalitärer Regims lagen, sondern in der Demokratisierung und der damit eng zusammenhängenden wirtschaftlichen Entwicklung des Ostens.
Inzwischen sind Grenzen verschwunden bzw. durchlässiger geworden, trennende Ideologien weitgehend abgebaut. Die Länder jenseits des früheren Eisernen Vorhangs melden deutlich und unüberhörbar ihren Anspruch auf Zugehörigkeit zu Europa an. Das Interesse nicht mehr nur der bisher entmündigten Völker, sondern auch ihrer mittlerweile demokratisch gewählten Regierungen, richtet sich auf die europäische Zusammenarbeit, auf Kontakte jeder Art und größter Intensität.
Wer heute von Europa spricht, sollte auch das ganze Europa meinen. Die Einsetzung des beantragten EG-Ausschusses wird verdeutlichen, daß der Deutsche Bundestag die veränderten Realitäten in Europa und die berechtigten Wünsche der so lange benachteiligten europäischen Völker anerkennt. Wir begrüßen es ausdrücklich, daß durch Bildung dieses Ausschusses eine verbesserte parlamentarische Kontrolle der EGVerhandlungen mit den beitrittswilligen Staaten möglich wird. Mit der Betonung der gesamteuropäischen Integrationsaufgabe der EG und des EG-Ausschusses will ich natürlich nicht die anderen Motive unterschätzen, die zum vorliegenden Antrag geführt haben. Sicher bedarf die EG-Politik der Regierungen einer direkten und unmittelbaren parlamentarischen Kontrolle, selbst wenn sie sich nur auf die derzeitige Zusammensetzung der Europäischen Gemeinschaft bezöge.
Unsere ausdrückliche Unterstützung verdient der Antrag vor allem auch in seiner Forderung, mit beratender Stimme Mitglieder bzw. Beobachter des Europaparlaments in den Ausschuß aufzunehmen. Für das Parlament eines wirtschaftlich und politisch so bedeutenden Staates an der Nahtstelle zwischen Ost und West, wie die Bundesrepublik einer ist, sollte es selbstverständlich sein, den Ausbau der Europäischen Gemeinschaft zu einer Gemeinschaft aller europäischen Völker engagiert und aktiv zu begleiten.
Dazu kann der Ausschuß beitragen. Deshalb stimmen wir seiner schnellstmöglichen Einsetzung zu.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 12/739? — Wer stimmt dagegen? — Eine Gegenstimme. Stimmenthaltungen? — Bei einer Gegenstimme ist dieser Antrag angenommen.
— Herr Dr. Wittmann. Darf ich Sie fragen, Herr Dr. Wittmann: Sie haben dagegen gestimmt?
— Ja. Bei einer Gegenstimme ist diesem Antrag entsprochen. Ich glaube, insgesamt war das ein erfreuliches Ergebnis.
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Vizepräsident Helmuth BeckerIch rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ingrid Becker-Inglau, Hanna Wolf, Dr. Rose Götte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDSituation der Kindergärten, Krippen und Horte in den neuen Bundesländern— Drucksachen 12/167, 12/661 —Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste hat unsere Kollegin Christel Hanewinckel das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In der DDR entsprach die Zahl der Krippen-, Kindergarten- und Hortplätze dem tatsächlichen Bedarf, d. h. jedes Elternpaar oder jeder alleinstehende Vater oder jede alleinstehende Mutter hatte die Möglichkeit, sein bzw. ihr Kind altersgemäß unterzubringen. Im letzten Jahr gab es sogar Überkapazitäten, die abzubauen sinnvoll war.Zur Zeit aber bewegen wir uns in einem Trend, der, wenn er nicht gebremst wird, bald dahin führen wird, daß nur noch eine privilegierte Gruppe, nämlich diejenigen, die Arbeit und genügend Geld haben, um sich eine Kinderbetreuung zu leisten, ihre Kinder in eine Kinderkrippe, in den Kindergarten oder in den Hort bringen können.Frau Dr. Merkel schreibt in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage zur Situation der Kindergärten, Krippen und Horte in den neuen Bundesländern:Für den abnehmenden Bedarf werden vor allem folgende Gründe genannt: Rückgang der Geburtenzahlen, Arbeitslosigkeit von Frauen und Männern und Wegzug von Familien.Soweit, so schlecht. Aber es reicht nicht aus, hier lapidar die augenblickliche Situation zu beschreiben. Bei dieser Situation wollen wir es alle doch wohl nicht belassen. Oder setzen Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, weiter auf abnehmende Geburtenraten? Schon jetzt ist die Schwangerschaftsrate in den neuen Ländern um 40 zurückgegangen.
— Und § 218.Es kann nicht angehen, daß, nachdem das flächendeckende Netz der Schwangerenberatungsstellen in den neuen Ländern abgewickelt ist, weil nicht übergangsfinanziert, obwohl dies Einrichtungen der Polikliniken waren, nun die Kinderbetreuungseinrichtungen an der Reihe sind.Ich habe den Eindruck, daß die Strukturen, die in diesem Bereich in der DDR zum Teil besser waren als in den alten Ländern der Bundesrepublik
— es ist doch so —,
nur deshalb nicht bleiben dürfen, weil es Strukturen der DDR waren und Sie nicht bereit sind, genau hinzuschauen, was eigentlich dahintersteckt und was zu übernehmen sinnvoll und nötig wäre. Im Blick auf die Schwangerenberatungsstellen und die Kinderbetreuungseinrichtungen ist das weder familienfördernd noch kinderfreundlich und schon gar nicht christlich oder liberal.
Vielleicht setzen Sie auch auf eine weitere Erhöhung der Arbeitslosenzahlen, setzen Sie auf den Weggang von Familien aus den neuen Bundesländern in die alten. Ich will Ihnen all das nicht unterstellen, aber dann müssen Sie auch Ihre Politik ändern und daran ausrichten, daß die Geburtenzahlen steigen, daß Arbeitslosigkeit geringer wird
und daß gerade junge Familien, die zuhauf in die alten Bundesländer gehen, in den neuen Bundesländern bleiben.
— Ich sage gar nicht nur das Negative.
Ich denke, Sie brauchen nur gut hinzuhören und hinzugucken, um zu erfahren, wie die Lage wirklich ist.
Ihre Politik der Abwicklung hat nun auch die Krippen, Horte und Kindergärten erfaßt. Denn mittlerweile geht es doch nicht mehr um den Abbau von Überkapazitäten. Mittlerweile zerstören Sie Strukturen, die für unsere Kinder benötigt werden, die dazu benötigt werden, langfristig zu verhindern, daß Mütter in den neuen Bundesländern arbeitslos werden. Damit wird Ihre Politik auch zu einer Politik der Ausgrenzung der Frauen aus dem Arbeitsleben.
— Wozu soll ich das Negative hier ansprechen?
Das ist, denke ich, in der Anfrage mit beantwortetworden. Sie können Ihre Kolleginnen und Kollegen
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Christel Hanewinckelaus der Fraktion danach befragen. Hier geht es darum, nach vorn zu gucken. Das fordern Sie ja immer wieder und werfen uns vor, daß wir das nicht täten.
Nötig sind Kindergartenplätze aus zwei Gründen:Erstens. Das Erleben, Lernen, Spielen im Kindergarten ist für die Sozialisation der Kinder heute ein gutes, notwendiges und, wie Ihre Ministerin, Frau Merkel, sagt, „familienergänzendes Angebot".
Die moderne Kleinfamilie bietet Kindern, oft Einzelkindern, weniger Sozialisationsmöglichkeiten, die sie für ihre optimale Entwicklung brauchen. — Ich denke, an der Stelle sind wir uns einig. —
Wie entwicklungspsychologische Studien belegen, sind Kinder z. B. zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr in einem Alter, in dem sie ihren Radius über die Wohnung und die Eltern hinaus ausdehnen müssen. Die Kinderbetreuungseinrichtungen und die Wohngegend — und die gibt es nur bei einem flächendeckenden Netz an Kinderbetreuungseinrichtungen — sind ein wesentliches Betätigungs- und Spielfeld für Kinder. Sie brauchen diesen Raum, und sie brauchen unterschiedliche Altersgruppen, andere Kinder zum Spielen, zum Lernen, zum gemeinsamen Gestalten usw. Die zu Hause erziehende und betreuende Mutter kann das beim besten Willen nicht leisten, genausowenig wie selbst die beste Betreuungseinrichtung die Eltern nicht ersetzen kann.
— Ja, da sind wir uns einig.
Zweitens. Ein flächendeckendes, qualitätsvolles und für die Benutzer kostengünstiges Netz von Kinderbetreuungseinrichtungen gibt Mutter und Vater gleiche Chancen zur Berufsausübung und die Möglichkeit, Familie und Beruf miteinander zu verbinden. Dies wird ja, meine Damen und Herren von der Regierung, spätestens seit der Frauenministerin Süssmuth, offiziell auch von Ihnen, von der Union, gefordert.Ein flächendeckendes Angebot von Kinderbetreuungseinrichtungen ist eine der entscheidenden Voraussetzungen, um Paaren die Entscheidung für ein Kind zu erleichtern und sie auch anschließend nicht allein zu lassen, sondern zu unterstützen. Werden die Plätze weiter reduziert, d. h., dem angeblich tatsächlichen Bedarf angepaßt, werden weitere Mütter und Alleinerziehende in die Arbeitslosigkeit entlassen. Und, was mittelfristig noch katastrophaler ist: Sie werden in der Arbeitslosigkeit festgehalten. Schon jetzt liegt die Arbeitslosigkeit der Frauen in den neuen Ländern bei 56,1 %. Diese Zahl wird sich noch erhöhen und langfristig festgeschrieben. Und warum? Weil Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, einen Teufelskreis konstruiert haben, dem die Frauen nicht entrinnen können: Nehmen Eltern und Alleinerziehende ihr Kind wegen Arbeitslosigkeit und Geldmangels aus der Einrichtung, wird ein reduzierter Bedarf angenommen; der Platz wird gestrichen. Hat die Frau bzw. Mutter dann keine andere Möglichkeit mehr, ihr Kind unterzubringen, steht sie dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung. Das hat dann auch noch den Verlust des Arbeitslosengeldes zur Folge. Sie hat dann keine Chance mehr zur Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen, solange das Kind Betreuung braucht. Diese Frauen werden vom Aufschwung Ost, so er denn kommt, wie wir das alle hoffen, ausgegrenzt.Deshalb begrüße ich ausdrücklich die Aufforderung von Frau Merkel an arbeitslose Frauen und Eltern, ihre Kinder aus dem wohlverstandenen Interesse der Kinder und Frauen in den Krippen, Kindergärten und Horten zu belassen. Das Problem ist nur, wie immer, es kostet Geld. Zwar schreibt die Koalition großzügig den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung fest, sie entzieht sich aber der daraus entstehenden materiellen Verpflichtung. Die Situation in den neuen Ländern ist komplex, und dem muß auch entsprochen werden. Der Bund muß deshalb über den 30. Juni 1991 hinaus für die Finanzierung der Kinderbetreuungseinrichtungen einstehen.
Ich habe auch einen Finanzierungsvorschlag, nur hat die Fraktion der SPD dieses Geld schon ausgegeben; ich bin hier erst neu. Mein Vorschlag wäre nämlich gewesen, das Geld für das Fahrwerk des Jägers 90 z. B. dafür auszugeben. Aber das wird nun wohl nicht mehr funktionieren, wie mir gesagt wurde.Ich denke, trotzdem ist es nötig, sich mit den Verteidigungshaushältern zusammenzusetzen und genau zu gucken, an welcher Stelle zugunsten von Familienpolitik Einsparungen in der Verteidigung oder in der Rüstung vorgenommen werden müssen.
§ 31 Abs. 3 des Einigungsvertrages ist an dieser Stelle wie an so mancher anderen nachbesserungsbedürftig. Die Elternbeiträge dürfen auf keinen Fall erhöht werden, denn das hätte wieder eine Reduzierung der Plätze — da weniger Bedarf — zur Folge. Der oben beschriebene Teufelskreis bliebe geschlossen.
— Dann gucken Sie auch mal in die anderen alten Bundesländer, was dort los ist, und zitieren immer nur Nordrhein-Westfalen!Die Finanzlast kann aber auch nicht den Kommunen aufgehalst werden. Unserer Meinung nach ist und bleibt die Finanzierung der flächendeckenden Kinderbetreuung in den neuen Ländern in der Verantwortung des Bundes, zumindest so lange, bis Länder, Kommunen und freie Träger in die Lage versetzt werden, diese Aufgaben tatsächlich zu übernehmen. Die DDR hat quantitativ ein dichtes Netz an Krippen, Kindergärten und Horten hinterlassen. An uns ist es jetzt, zur Quantität die Qualität dazuzugeben. Qualität wird maßgeblich durch die Ausbildung und Motivation der Frauen und Männer bestimmt, die in den Kinderbetreuungseinrichtungen arbeiten. Ich denke, wir brauchen keine Kindergärtnerin in die Arbeitslosigkeit zu entlassen, sondern Qualifizierung ist ange-
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Christel Hanewinckelsagt. Es ist außerdem nicht teurer als Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe.
Außerdem möchte ich Sie bitten, Mittel aus dem Informationsprogramm „Zukunft der Familie", Haushaltstitel 685 56, Einzelplan 18, des Ministeriums für Familie und Senioren, wo es bisher um Plakate und Broschüren für die Familie ging, bereitzustellen. Für dieses Geld sollten Sie junge Männer gewinnen, die Kindergärtner werden. Damit könnte Kindern in der Kleinkind-, Vorschul- und Grundschulphase die ebenfalls benötigte männliche Identifikationsperson geboten werden. Das wäre eine bessere Qualität der Kinderbetreuungseinrichtungen.
Wenn die notwendige Quantität erhalten bleibt und die Qualität verbessert wird, böten die neuen Länder ein Modell auch für die alten, in denen allein das quantitative Angebot der Kinderbetreuungseinrichtungen häufig genug schon katastrophal ist.Das alles sind Punkte, die Paare ermuntern und nicht davon abhalten, sich für Kinder zu entscheiden. Ein Ja zum Kind kann ich nicht nur von den Eltern fordern, der Staat, die Gesellschaft hat das Ihre dazu zu tun.Ich will nicht schließen, ohne Ihnen, sehr verehrte Frau Minsterin Merkel, für Ihr offensichtliches Engagement zu danken. Nur muß Ihr Engagement auch politisch wirksam werden.Wir von der Opposition können nur auf richtige Wege hinweisen, Mitarbeit anbieten. Sie sind dafür gewählt worden, daß Sie handeln, und nicht dafür, daß Sie alles einem scheinbar urwüchsigen Prozeß überlassen, einem Prozeß, der zu Lasten von Frauen, Familien und Kindern abläuft. Unseren Respekt werden Sie sich erwerben, wenn Sie dafür sorgen, daß der im Einigungsvertrag festgeschriebene Rechtsanspruch auf Kinderbetreuungseinrichtungen mehr wird als die Taube auf dem Dach.
Sie können mit unserer Unterstützung rechnen, wenn Sie sich dafür einsetzen, aber eine Abwicklung der Kinderbetreuungseinrichtung, wie sie sich heute abzeichnet, ist nur gegen uns durchzusetzen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Claudia Nolte.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht um ein Gebiet von 16 Millionen Einwohnern, in dem ca. 150 000 Kindergartenplätze fehlen. Vielerorts finden die Dreijährigen gar keine Plätze mehr, werden nur Härtefälle aufgenommen oder Plätze doppelt belegt. In 45 Jugendamtsbereichen gibt es überhaupt keine Kinderbetreuungseinrichtungen für Kinder bis 15 Jahre. Die Versorgungsquote an Kindergartenplätzen beträgt nur 77,8 %. Betreuungseinrichtungen fallen einfach der Rotstiftpolitik zum Opfer.Ich beschreibe, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, nicht die Situation in den fünf neuen Bundesländern — in denen das bestehende Angebot bedarfsgerecht erhalten und qualitativ verbessert werden soll und wird — , sondern ich weise auf den Status quo in Nordrhein-Westfalen hin.
— Ich empfehle Ihnen, meine Herren, die Lektüre des CDU-Landesvorstandes zu familienergänzenden Kinderbetreuungsangeboten in Nordrhein-Westfalen.Sie fordern die Bundesregierung auf, mindestens ein Drittel an den Gesamtkosten der Kinderbetreuungseinrichtungen in den fünf neuen Bundesländern zu tragen, während Sie in Nordrhein-Westfalen die Investitionskostenzuschüsse des Landes reduzieren, die Lasten auf Kommunen und Träger abwälzen und die Betriebskostenförderung bei 27 % festschreiben. Ist das Ihre neue Glaubwürdigkeit?
Wir begrüßen, daß sich die SPD unsere Forderung nach einem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz zu eigen macht.
Nur brauchen wir dafür keinen Entschließungsantrag; das steht schon in den Koalitionsvereinbarungen.
Werben Sie bei den von Ihnen gestellten Landesregierungen dafür, diesen Rechtsanspruch zu verwirklichen und mehr Mittel für Kindergärten zur Verfügung zu stellen.Das wäre eine Forderung an Ihren neuen Parteivorsitzenden, Herrn Engholm, den derzeitigen Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, dessen Bundesland mit einer Versorgungsquote von 56,3 % an Kindergartenplätzen bundesrepublikanisches Schlußlicht ist.
Zum Vergleich: Baden-Württemberg hat eine Versorgungsquote von 105,4 %.Die überwiegend CDU-regierten Länder Ostdeutschlands bemühen sich nach Kräften, das dichte Netz an Kinderbetreuungseinrichtungen zu erhalten. Zum Beispiel sind im thüringischen Landeshaushalt für das zweite Halbjahr 133 Millionen DM zugunsten von Krippen und Kindergärten vorgesehen.
Das ist derselbe Betrag wie der, den der Bund im ersten Halbjahr mitfinanziert hat.Die bisher erhobenen Elternbeiträge pro Kindergartenplatz liegen in Thüringen ohne Essensgeld bei
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Claudia Noltedurchschnittlich 50 DM. Einzelne Orte staffeln nach Nettoeinkommen der Erziehungsberechtigten.Ganz besonders begrüße ich, daß auch 66 Betriebskindergärten und 45 Betriebskinderkrippen in Thüringen durch kommunale bzw. freie Träger übernommen wurden.Die Situation der Kindergärten, Krippen und Horte in den neuen Bundesländern ist eben nicht so schlecht, wie Sie möglicherweise gedacht haben, und es bestehen gute Chancen für die Erhaltung und Verbesserung der bestehenden Einrichtungen.Ich kann die Antworten der Bundesregierung durch eigene Erfahrungen in meinem Wahlkreis bestätigen. Auch dort gibt es nur wenige Schließungen von Betreuungseinrichtungen und vertretbare Entlassungen des Personals.
Ursache war ganz überwiegend die rückläufige Kinderzahl und der notwendig gewordene Abbau von Überkapazitäten. Finanzprobleme wurden von den befragten neuen Bundesländern nicht als der maßgebliche Anlaß für die Schließung von Kinderbetreuungseinrichtungen gewertet.
Der Abbau vorhandener Überkapazitäten bei Krippen und Kindergärten darf nicht dramatisiert werden. Für unsere Fraktion bleibt wichtig — da haben Sie natürlich recht — , daß das bestehende Angebot bedarfsgerecht erhalten und qualitativ verbessert wird. Dabei haben wir zu berücksichtigen, daß bei sich bessernder Wirtschaftslage und wieder zunehmender Erwerbstätigkeit der Bedarf an Tageseinrichtungen schnell wieder steigen kann.In den alten Bundesländern müssen zusätzliche Betreuungs- und Bildungsmöglichkeiten in Tageseinrichtungen für Kinder noch geschaffen werden. Es wäre kurzsichtig, die Einrichtungen in den neuen Ländern erst zu schließen, um sie dann zu viel höheren Kosten wieder aufzubauen.
Wir sind der Bundesregierung dankbar, daß sie in der schwierigen Übergangszeit die neuen Länder und Kommunen bei der Finanzierung der Tageseinrichtungen mit 1 Milliarde DM bis zum Ende dieses Monats unterstützt. Darüber hinaus haben der Bund und die westlichen Bundesländer eine weitere Verbesserung der Finanzausstattung der neuen Länder und ihrer Gemeinden in Höhe von 44,5 Milliarden DM beschlossen. Das sind Gelder, die auch für die Erhaltung von Kindergärten, Krippen und Horten genutzt werden sollten.Lassen Sie mich, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, auch an die Erzieherinnen und Erzieher denken, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben und deren Abschluß in Gesamtdeutschland immer noch nicht anerkannt wird. Bis jetzt hat sich die Kultusministerkonferenz noch nicht auf eine Gleichstellungsregelung geeinigt, was an der Haltung der westlichenBundesländer liegt. Ich schlage den Kultusministern der Länder vor, die Gleichstellungsregelung des Landes Berlin zu übernehmen.Grundlage muß sein, daß Absolventen mit DDR-Ausbildung — sei es als Krippenerzieherinnen oder Kindergärtnerinnen — für ihren Tätigkeitsbereich ohne zusätzliche Nachqualifizierung den staatlich anerkannten Erziehern gleichgestellt werden. Die Kindergärtnerinnen und Krippenerzieherinnen aus den fünf neuen Bundesländern erwarten mit Recht, daß in der Frage der Gleichstellung ihrer Berufsabschlüsse Klarheit geschaffen wird.
Nach der tariflichen Gleichstellung muß nun auch die gemeinsame Anerkennung und Gleichstellung der Berufsabschlüsse kommen.Für viele Frauen ist die Berufstätigkeit heute zur Selbstverständlichkeit geworden. Wir wollen deshalb berufstätigen Müttern durch Betreuungsangebote helfen, damit die Entscheidung für den Beruf nicht die Entscheidung für Kinder ausschließt und umgekehrt. Es geht uns um echte Wahlfreiheit.Bei Kinderkrippen streben wir eine bedarfsorientierte Versorgung an. Kinderkrippen sind sinnvolle Ergänzungen und Hilfen für Eltern und Alleinerziehende, die den Erziehungsurlaub aus den verschiedensten Gründen nicht beanspruchen wollen oder können.Die Betreuungsangebote im Osten Deutschlands zu erhalten und im Westen Deutschlands auszubauen erfordert das Engagement von Bund, Ländern und Gemeinden. Die finanziellen Anstrengungen hierfür erfordern das Zusammenwirken aller, auch eine angemessene Eigenbeteiligung der Eltern.Elterngebühren für Kinderkrippen, Kindergärten oder Horte sind sinnvoll, wo dies durch ein gutes Familieneinkommen gerechtfertigt ist. Nichts soll der öffentlichen Hand angelastet werden, was auch privat verkraftet werden kann. Die Beträge sind dabei aber sozial zu staffeln.Ich freue mich — das zum Abschluß — , daß wir heute in dieser Breite über Kinderbetreuungseinrichtungen debattieren. Die Interessen von Kindern sind zu selten Thema in diesem Hohen Hause. Das sollte sich ändern, wenn wir wollen, daß unser Land kinderfreundlicher wird. Dazu bedarf es weit mehr als bedarfsgerechter Betreuungseinrichtungen.Danke.
Die Abgeordnete Frau Renate Schmidt bittet um eine Kurzintervention.
Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich möchte versuchen, den Wissensstand der Frau Kollegin Nolte etwas auf den Stand bringen, der tatsächlich gegeben ist. Das ist kein Vorwurf. Frau Nolte kennt vielleicht die Fakten der alten Bundesländer noch nicht so genau.
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Renate Schmidt
In den alten Bundesländern ist Bayern das Bundesland mit der schlechtesten Versorgung mit Kindergartenplätzen, weit hinter Nordrhein-Westfalen. Insofern kritisiere ich auch, daß es in Nordrhein-Westfalen nach wie vor zu wenige Kinderbetreuungsplätze gibt. Aber wir sollten versuchen, einigermaßen ordentlich zu vergleichen.Zum zweiten hat Frau Nolte das Land Schleswig-Holstein erwähnt. Schleswig-Holstein hat — übrigens ebenso wie Niedersachsen — eine schlechte Versorgung mit Kindergartenplätzen. Dort haben unsere Regierungen die Erblast der Vorgängerregierungen Stoltenberg respektive Barschel und Albrecht übernommen.
— Wir verbessern es laufend. Nur, man kann nicht in nicht einmal vier Jahren das nachholen, was vorher in 30 Jahren und mehr versäumt worden ist, lieber Kollege Reddemann; das ist ausgeschlossen.
Zum dritten, Frau Kollegin Nolte: Die damalige Ministerin für Jugend, Familie und Gesundheit hat das erste Mal versucht, den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz durchzusetzen. Sie ist damals an der Bundesratsmehrheit gescheitert, die damals eine CDU-Mehrheit gewesen ist.Das zweite Mal hat eine CDU-Ministerin, nämlich die Vorgängerin von Frau Merkel, Frau Lehr, versucht, das durchzusetzen. Sie ist gescheitert am Bundesrat. Wenn es so weitergeht, wird die Bundesministerin auch ein drittes Mal scheitern, wenn nicht der Bund endlich bereit ist, über den Bund-Länder-Finanzausgleich dafür Mittel zur Verfügung zu stellen.
Letzter Punkt: Dies ist etwas, was ich an Informationen aus den fünf neuen Bundesländern vorliegen habe, nämlich ein Brief des Sozialministers aus Sachsen. Er sagt, im ersten Halbjahr ist es mit Mühe und Not gelungen, die Kindergartenplätze zu sichern, daß dies darüber hinaus nicht mehr möglich ist und daß die Kommunen reihenweise sagen, daß Kindergartenplätze geschlossen werden müssen. Dies muß geändert werden. Darüber sollten wir uns endlich einig sein.
Als nächste hat das Wort Frau Schenk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 600 000 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren haben im Westen der BRD keinen Kindergartenplatz. Über die Zahl der fehlenden Plätze für Kinder unter drei Jahren wollte sich die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Anfrage der SPD gar nicht erst auslassen. Sie sei erheblich, heißt es dazu lakonisch und vielsagend zugleich in dieser Antwort.Bei den ca. 1,6 Millionen Kindergartenplätzen, die es im Westen gibt, handelt es sich zudem nur zu einem geringen Teil um Ganztagsplätze. Die Öffnungszeiten dieser Kindergärten sind so konzipiert, daß Frauen nicht die Möglichkeit haben, voll erwerbstätig zu sein. Das läßt nur den Schluß zu, daß die Erwerbstätigkeit von Frauen und ihre ökonomische Unabhängigkeit hierzulande nicht gewünscht wird.
In der BRD — jetzt sowohl im Osten als auch im Westen — wird auf allen Ebenen und in fast allen Bereichen eine Politik gegen Frauen gemacht, und zwar auf konzertierte Art und Weise. Auf der einen Seite werden Frauen Kinderbetreuungseinrichtungen verwehrt, die Bedingung für ihre Erwerbstätigkeit sind, und auf der anderen Seite werden ihnen mit der Begründung, sie seien wegen der Kinder unabkömmlich, existenzsichernde Arbeitsplätze verweigert.Die Mehrzahl der erwerbstätigen Frauen in den Westländern ist nur geringfügig beschäftigt oder hat auch bei Vollerwerbstätigkeit kein existenzsicherndes Einkommen. Aus Hessen liegen mir hierzu erschreckende Zahlen vor. 52 % der dort erwerbstätigen Frauen hatten 1988 ein Nettoeinkommen unter 1 400 DM. Bei den sogenannten selbständig tätigen Frauen hatte ein Drittel nicht einmal 1 000 DM eigenes Geld im Monat zur Verfügung. Von den Frauen, die in der Woche 40 Stunden oder mehr Erwerbsarbeit leisten, erzielten 43 To höchstens 1 400 DM Gesamtnettoeinkommen. Das heißt, auch viele Vollzeitarbeitsverhältnisse der Frauen sind im Grunde ungeschützte, weil nicht existenzsichernde Arbeitsverhältnisse. Die Zahlen stammen im übrigen aus einer Studie, die im Auftrag der Hessischen Landesregierung erstellt wurde.Die offizielle Begründung für diese miese Situation für Frauen im Erwerbsleben sind immer die Kinder und deren mangelnde Versorgung. Frauen, die sich beim Arbeitsamt um Erwerbstätigkeit bemühen, müssen Auskunft darüber erteilen, ob ihre Kinder gut untergebracht sind. Männer müssen dies im übrigen nie. Falls Frauen die Unterbringung ihrer Kinder nicht nachweisen können, gelten sie als dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehend und bekommen weder Arbeit noch Arbeitslosenhilfe. Dahinter steckt Ideologie. Dahinter steckt das Interesse von Männern, Frauen in grundsätzlicher Abhängigkeit zu belassen und ihnen die Freiheiten vorzuenthalten, die für Männer in dieser Gesellschaft selbstverständlich sind.Wer über den Mangel an Kindertagesstätten hier und über die Zerstörung der noch 'bestehenden diesbezüglichen Infrastruktur in der ehemaligen DDR redet, muß, wenn er begreifen will, worin die Gründe dafür liegen, auch über das Patriarchat reden, über patriarchalische Strukturen und patriarchalische Denkmuster. Denn die Frage ist doch, warum es in der reichen Alt-BRD in 40 Jahren nicht gelungen ist, ein vernünftiges System der Kinderbetreuung aufzubauen.In der Vorbemerkung zu der Antwort auf die Große Anfrage der SPD behauptet die Bundesregierung, mit dem flächendeckenden Netz der Kindertagesstätten habe die DDR-Regierung das Ziel verfolgt, den Ein-
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Christina Schenkfluß der Familie bei der Erziehung zu schwächen und Kinder bewußt dem staatlichen Einfluß auszusetzen. Diese Behauptung ist so lächerlich wie unbegründet.
Frau Schenk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hüppe?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, Sie haben bis jetzt nicht einmal die Kinder genannt. Interessieren sie Sie gar nicht? Sehen Sie eigentlich nicht auch, daß wir etwas für die Kinder tun müssen und daß es nicht nur allein um Frauen geht?
Natürlich müssen wir etwas für die Kinder tun. Inwiefern ist das ein Widerspruch?
Weil Sie bisher noch nicht einmal auf die Kinder eingegangen sind.
Ich verstehe den Sinn Ihrer Frage dennoch nicht.
Ich wiederhole: Die zitierte Behauptung ist so lächerlich wie unbegründet. Ich frage, welchen Einflüssen Kinder ausgesetzt sind, wenn sie allein zu Hause Kokken, anstatt mit anderen zusammen betreut zu werden. Die ideologische Beeinflussung kann kein generelles Kriterium für eine Bewertung abgeben. Ideologische Beeinflussung gab es in der DDR, und sie gibt es als konstitutives Moment der Erziehung auch in den kirchlichen Kindergärten hierzulande. Es gibt keinen ideologiefreien Raum.
Die weltanschauliche Wahlfreiheit bezüglich des Kindergartens haben die meisten Eltern hierzulande ebenso wenig wie das in der DDR der Fall war. In einem alternativen Kinderladen aufzuwachsen ist ein Privileg, das nur wenigen Kindern zuteil wird.
Ich fordere die Bundesregierung auf, sich mit Kritik am Kinderbetreuungssystem der ehemaligen DDR so lange zurückzuhalten, bis es ihr gelungen ist, etwas wenigstens annähernd Gleichwertiges hierzulande aufzubauen. Vorerst steht die Koalitionsvereinbarung zu dem Recht auf einen Kindergartenplatz nur auf dem Papier, und frau darf neugierig darauf sein, wie und wann sie in die Realität umgesetzt wird.
Das Gebiet der ehemaligen DDR befindet sich in der Gefahr, im Bereich der Kinderbetreuung auf den Stand Westdeutschlands herunternivelliert zu werden. 10 % aller Krippenplätze, 20 % aller Hortplätze und 10 % aller Kindergartenplätze sind bereits reduziert worden. Dafür steigen dann die Preise.
Während ein Kindergartenplatz in der DDR früher ca. 13 Mark im Monat und ein Platz in den Kindergärten der westlichen Länder ca. 35 DM kostete, soll die Unterbringung in einem Kindergarten im Osten nach
Auskunft der Bundesregierung in Zukunft im Durchschnitt ca. 75 DM kosten. Das sind 100 % mehr als im Westen, und das bei einer Verschärfung der wirtschaftlichen Lage und bei steigender Arbeitslosigkeit.
Kinderfeindlich war die Alt-BRD schon immer. Mit der Einverleibung der DDR hat nicht nur der Kapitalismus, sondern auch das Patriarchat einen großen Sieg errungen. Frauen in der Ex-DDR registrieren das. Sie reagieren auch darauf, und zwar mit einem drastischen Geburtenrückgang.
Der Wendeknick in der Geburtenstatistik ist einer von vielen Indikatoren für die Qualität, für die Güte der deutschen Einheit, jedenfalls aus der Sicht von DDRFrauen.
Als nächste hat das Wort die Abgeordnete Dr. Eva Pohl.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich begrüße die Große Anfrage der Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion insoweit, als sie uns allen Anlaß gibt, die Situation der Tageseinrichtungen für Kinder in den neuen Bundesländern kritisch zu beleuchten. Mir ist dies auch ein persönliches Anliegen, da ich als ehemalige Jugendärztin des Kreises Pößneck in Thüringen mit den Problemen der Kinderbetreuung besonders vertraut bin. Indes bin ich nicht der Meinung — das geht an die Damen und Herren in der Opposition — , daß man alle vorhandenen Kindertageseinrichtungen in den neuen Bundesländern erhalten sollte.Der Bund hat sich im Einigungsvertrag verpflichtet, die Weiterführung der Einrichtungen zur Tagesbetreuung von Kindern im Beitrittsgebiet zu gewährleisten. In Erfüllung dieser Verpflichtung sind für eine Übergangszeit bis zum 30. Juni 1991 bisher 750 Millionen DM an die neuen Bundesländer gezahlt worden. Weitere 250 Millionen DM werden unverzüglich nach Abschluß der endgültigen Verwaltungsvereinbarung zu diesem Termin überwiesen.Für eine über diesen Zeitpunkt hinausgehende Bezuschussung durch den Bund besteht hingegen, unabhängig von der finanziellen Situation im zuständigen Etat, auch nach Ansicht meiner Fraktion keine Notwendigkeit. Zum einen ist der Bedarf an Kindertageseinrichtungsplätzen in den neuen Bundesländern auf Grund des Geburtenrückganges, des Wegzugs gerade vieler junger Familien in die alten Bundesländer seit dem 9. November 1989 und der Herstellung der deutschen Einheit sowie der hohen Arbeitslosigkeit von Männern und Frauen als Ergebnis der sozialistischen Plan- und Mißwirtschaft des SED-Regimes
rapide gesunken, was zur Schließung von Einrichtungen führte.
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Dr. Eva PohlSchließungen von Kindertageseinrichtungen — das muß ausdrücklich betont werden — sind nicht auf finanzielle Engpässe zurückzuführen, sondern beruhen vielmehr darauf, daß einerseits Überkapazitäten entstanden, andererseits aber auch katastrophale bauliche Substanz und nicht zu verantwortende gesundheitliche Bedingungen in einzelnen Kindereinrichtungen dazu zwangen.
Lassen Sie mich das an einem Beispiel aus meiner Heimatstadt verdeutlichen: Ein Kindergarten, der direkt an einer stark frequentierten Bundesstraße lag, mußte geschlossen werden, weil die Kinder dort in gesundheitsgefährdender Weise einem unerträglichen Lärmpegel und erheblicher Luftverschmutzung ausgesetzt waren.
Fachgutachten existierten lange vor der Wende. Sie durften aber weder den Eltern noch der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht werden.
Ein Umzug dieser Kinder wurde erst durch die Einheit Deutschlands möglich.Zum anderen aber hat der Bund unabhängig davon, daß die Finanzierung dieser Einrichtung als Aufgabe im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung den Ländern, Kreisen und Gemeinden obliegt, weitere Vorkehrungen getroffen, um für die Zukunft, also nach Ablauf der Übergangszeit zum Ende dieses Monats, eine bedarfsgerechte Kinderbetreuung in den neuen Bundesländern zu sichern. So wurde in der Konferenz des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten der Länder der Verzicht des Bundes auf seinen 15 %-Anteil am Fonds „Deutsche Einheit" und die volle Einbeziehung der neuen Bundesländer in die Verteilung des Länderanteils an der Umsatzsteuer ab 1991 beschlossen.Darüber hinaus hat der Bund im Rahmen unseres Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost im Jahre 1991 Direkthilfen in Höhe von fünf Milliarden DM für notwendige Investitionen, die auch für bauliche Verbesserungen dieser Kindereinrichtungen verwendet werden können, an die ostdeutschen Bundesländer ausgezahlt.Vergessen wir in diesem Zusammenhang auch nicht, daß über die verstärkte Ausweitung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern auch die für die Träger anfallenden Personalkosten in nicht unbeträchtlichem Maße gesenkt werden können.
Meine Damen und Herren, ich stimme der Bundesregierung zu: Bei der Erhaltung der Kindertageseinrichtungen in den neuen Bundesländern muß die Qualität Vorrang vor der Quantität haben.
Nicht unvergessen darf jedoch beim Abbau von Überkapazitäten unsere begründete Hoffnung bleiben, daß proportional zum wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Bundesländern erziehendeMütter und Väter wieder voll in das Berufsleben zurückkehren.Dennoch gilt es, die kollektive Kinderbetreuung, wie sie in der ehemaligen DDR praktiziert wurde, jetzt behutsam abzubauen, um qualitativ wertvolle, bedarfsgerechte und damit finanzierbare Kindertageseinrichtungen zu erhalten. Auch neue, in jeder Weise tragbare Modelle sind gefragt. Nur so ist zu gewährleisten, daß kein Kind aus den neuen Bundesländern vom Besuch einer Tageseinrichtung ausgeschlossen wird, weil das Geld fehlt.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächste hat die Abgeordnete Dr. Ursula Fischer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Nolte — Ihren Wahlkreis kenne ich ziemlich gut; ich habe ihn auch schon besucht — und Frau Pohl, wir alle sind Thüringer. Ich muß sagen, es gibt auch bei uns Probleme, die zum Teil ganz schön gewaltig sind. Es kann nicht so stehen bleiben, als wäre in Thüringen alles in Ordnung.In der ehemaligen DDR bestand ein nahezu flächendeckendes Angebot an Plätzen in Tageseinrichtungen für Kinder ... Das ihnen— den Familien —zur Verfügung stehende gut ausgebaute Betreuungsangebot erleichterte damit die Entscheidung für ein Kind ... Nach dem 3. Oktober 1990 zeigte sich deutlich, daß Eltern keinen generellen Abbau des Betreuungsangebotes wünschen, sondern auf eine qualitative Verbesserung und die Wahl zwischen verschiedenen Formen der Betreuung hoffen.Dieser Feststellung in den Vorbemerkungen der Antwort der Bundesregierung kann ich ohne jeden Vorbehalt zustimmen. Leider ist der Rest der 22 Seiten umfassenden Antwort mehr als enttäuschend und wirft mehr Fragen auf, als sie tatsächlich beantwortet.Einer einerseits detaillierten Aufschlüsselung über Kindereinrichtungen und Plätze im Dezember 1989 und September 1990 — warum eigentlich September; gefordert war schließlich Dezember — stehen andererseits absolut dürftige Angaben über die erfolgte Schließung von Kindereinrichtungen und über die finanzielle Ausstattung gegenüber.Wenn man sich die Zahlen anschaut, kann man zweifelsfrei ermessen, warum in so vielen Spalten „k. A." , also keine Angaben, steht, weisen doch die wenigen Zahlen aus, daß in fünf der sechs Bundesländer bisher 725 Kindertagesstätten bereits geschlossen wurden. Wohlweislich sind nicht die wegrationalisierten, dem angeblichen Überangebot zum Opfer gefallenen Plätze angegeben — bis auf Brandenburg. Dort werden die Dimensionen für den einzelnen faßbarer: Dort waren 6 046 Krippenplätze und 13 332 Kindergartenplätze übrig.Was heißt eigentlich übrig, und was ist bedarfsgerechte Versorgung? Was spricht eigentlich dagegen, jedem Kind der Bundesrepublik Deutschland ein
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2449
Dr. Ursula FischerRecht auf einen erreichbaren und durch seine Eltern auch bezahlbaren Platz in einer Kindertagesstätte zu garantieren, also jedem Kind, sofern die Eltern das wünschen, die Betreuung in einer Krippe, einem Kindergarten, einem Kinderhort oder auch einer Kindertagesstätte zu ermöglichen? Oder unterstützt die Bundesregierung durch ihre Politik auch weiterhin, daß der Bedarf an Kindereinrichtungen auch in den neuen Ländern zunehmend durch den schrumpfenden familiären Geldbeutel bestimmt und damit weiterhin drastisch verringert wird?Jetzt zur entscheidenden Frage — auch wenn es mir weh tut; in diesem Fall ganz besonders, weil es um Politik für Kinder geht — : Was soll ein Kindertagesstättenplatz kosten, und wer soll und kann ihn bezahlen? Der Antwort der Bundesregierung ist zu entnehmen, daß die Betriebskosten, also die Personal- und Sachkosten, pro Krippenplatz 8 172 DM und pro Kindergartenplatz 4 428 DM im Jahr betragen. An anderer Stelle wird ausgeführt, daß z. B. in Brandenburg von den Eltern in Kürze ein Drittel, in Sachsen und Thüringen 20 % der Kosten getragen werden sollen. Das heißt z. B. für einen Krippenplatz, daß die Elternbeiträge zwischen 133 und 220 DM liegen, für Kindergärten zwischen 75 und 120 DM.Sicher, das wäre für Eltern in den alten Bundesländern ein einmaliges Sonderangebot. Aber man muß diese Elternbeiträge — zum Teil werden sie schon erhoben, sehr unterschiedlich und überall anders — den drastisch gewachsenen Ausgaben für Familien im Osten und der bereits bei über 9 % liegenden Arbeitslosenrate einerseits und den nur geringfügig gewachsenen realen Einkünften andererseits gegenüberstellen.Ich frage mich bange, wie viele Familien in einigen Monaten überhaupt noch das Geld für einen Platz in einer Kindereinrichtung aufbringen können oder dann auch wollen. Hinzu kommt, daß bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit den Frauen eingeredet werden soll, daß sie nur am Kochtopf gute Mütter sein können.
— Das erzählen Sie irgendwann vielleicht in abgewandelter Form auch. — Diese Auffassung hat doch wohl das Leben längst widerlegt.
— Meine Redezeit ist sehr kurz; ich möchte das jetzt zu Ende bringen. Wir können uns gleich oder sonst irgendwann weiter darüber unterhalten.Wir sind dafür, daß jede Mutter und auch jeder Vater selbst entscheiden kann, wie ihr Kind betreut wird. Wir gehen davon aus, daß Kindertagesstätten vielfältige Kommunikationsmöglichkeiten bieten und damit eine Grundlage dafür sein können, daß Kinder in sozialem Miteinander ihre Umwelt und sich selbst kennenlernen können. Ich fordere deswegen auch die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, daß solche Einrichtungen auch finanzierbar bleiben.Frau Pohl, ganz kurz sei mir ein Wort zu Ihnen gestattet. Sie sind Jugendarzt, ich bin Kinderarzt. Ich frage mich an dieser Stelle: Was haben Sie vorher getan? Auch Sie haben vorher doch gewußt, welche Schwierigkeiten dem Betreuungssystem innewohnen. Haben Sie aktiv etwas getan, oder haben Sie nur inneren Widerstand geleistet?
— Darüber können wir uns unterhalten, aber ganz deutlich. Das wissen Sie doch nicht. Ich bin z. B. in Kinderkrippen aufgetreten und habe gesagt: Diese Überbelegung ist großer Quatsch; das geht so nicht weiter. Ich bin dafür angegriffen worden. Ich habe das Punktsystem angegriffen. Wenn auch Sie das getan haben,
dann, bitte schön, müssen Sie das beweisen.
Wir fahren in der Debatte fort. Ich erteile das Wort der Frau Bundesministerin für Frauen und Jugend, Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider ist die Abgeordnete Renate Schmidt schon gegangen.
— Ich wollte nur darauf antworten, daß es eigentlich nicht redlich war, zu behaupten, in Bayern sei die Lage bei den Kindergartenplätzen am schlechtesten in der ganzen Bundesrepublik. Das ist nicht wahr.
— Sie ist nicht am schlechtesten. Daß sie nicht gut ist, ist klar — darüber brauchen wir nicht zu sprechen —, aber Bayern ist hinsichtlich der Versorgung mit Kindergartenplätzen eines der führenden Länder. Niedersachsen und Schleswig-Holstein haben eine schlechtere Position.
— Über die Öffnungszeiten zu sprechen, ist eine ganz andere Sache.
Es war einfach nicht redlich, hier mit falschen Tatsachen Belehrungen zu versuchen.
Meine Damen und Herren, die Situation der Kinderbetreuungseinrichtungen liegt mir wie Ihnen am Herzen.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Schmidt?
Ja. Dann muß ich aber beginnen.
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2450 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Bitte.
Frau Ministerin, sind Sie denn auch bereit, Ihre Kollegin Nolte so zu belehren, wie Sie es eben mit der Kollegin Schmidt getan haben? Frau Nolte hat nämlich in ganz anderer Weise Zahlen in den Raum gestellt, die überhaupt nicht stimmen.Dr. Angela Merkel, Bundesminsterin für Frauen und Jugend: Ich vermute, daß sich die Kollegin Nolte gut darüber informiert hat, was im nordrhein-westfälischen Parlament gesprochen wird. Genau das hat sie hier vorgeführt. Weil Nordrhein-Westfalen die gleiche Einwohnerzahl hat wie die ehemalige DDR, fand ich diesen Vergleich ausgesprochen spannend und nett.
— Wir haben ja nun wirklich einschlägige Erfahrungen. Insofern kann ich nur sagen: Schleswig-Holstein und Niedersachsen sind viel schlechter gestellt.
Ich kenne die Situation in den neuen Bundesländern, und ich weiß auch, wie wichtig der Erhalt der Kindergartenplätze in den neuen Bundesländern ist. Da sich die Bundesregierung sehr wohl bewußt ist, welche Rolle diese Kinderbetreuungsmöglichkeiten in der ehemaligen DDR gespielt haben und heute in den neuen Bundesländern spielen, hat sie sich im Einigungsvertrag verpflichtet, sich in der schwierigen Übergangszeit, solange es in den neuen Bundesländern noch keine Haushaltspläne gibt, an der Finanzierung dieser Kinderbetreuungseinrichtungen zu beteiligen, und sie hat dafür eine Milliarde Mark bereitgestellt.Die Verantwortung für die Kinderbetreuung liegt — das wissen Sie besser als wir aus den neuen Bundesländern — nach den Grundsätzen der Verfassung bei den Ländern. Ich finde es nicht redlich, wenn Sie in den neuen Bundesländern so argumentieren — das können Sie, weil dort die Zusammenhänge nicht in jedem Fall bekannt sind — , als läge es allein in der Verantwortung des Bundes, den Erhalt der Kindergartenplätze zu gewährleisten.
Diese Argumentation ist nicht redlich.
— Es ist nicht redlich, bei der Argumentation gegenüber den Bürgern der neuen Bundesländer so zu tun, als wäre es allein die Aufgabe des Bundes.
Ich freue mich, daß die ostdeutschen Länder die Wichtigkeit des Erhalts der Kinderbetreuungseinrichtungen sehr wohl erkannt haben. Alle von ihnen planen die Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz und sind damit vielen der altenBundesländer voraus. Diese Länder werden sich auch in einem erheblichen Umfang an den Kosten der Kindertageseinrichtungen beteiligen. Sachsen-Anhalt z. B. wird 60 % der Personalkosten tragen. Das halte ich für einen ausgesprochen guten Schritt.Die größten Belastungen kommen momentan auf die Kommunen zu. Die Kommunen haben zur Zeit eine Vielzahl von Problemen zu lösen. Insofern sehe ich auch hier die Probleme sehr deutlich.Die Bundesregierung hat bislang nicht nur auf ihre Nichtzuständigkeit verwiesen, sondern hat auch, abgesehen von der einen Milliarde Mark, dafür Sorge getragen, daß die Länder und Gemeinden ihre Zuständigkeiten in Zukunft besser wahrnehmen können. Hier ist über das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost gesprochen worden. Ich denke auch, daß in einer Übergangszeit bei Trägerwechsel Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ein Ausweg aus einer finanziell schwierigen Situation sein können.
Im Februar haben wir Verhandlungen über den Verzicht des Bundes auf seinen 15 %igen Anteil am Fonds Deutsche Einheit geführt. Wir haben Gespräche mit den Ländern geführt, und die haben klar und deutlich gesagt, daß sie wie die alten Bundesländer eine Grundfinanzausstattung haben möchten und anschließend politisch selbständig entscheiden möchten, wofür sie dieses Geld ausgeben. Aus der Sicht der Kinderbetreuungseinrichtungen haben sie dieses Geld sehr wohl politisch vernünftig ausgegeben. Auch das sucht in den alten Bundesländern seinesgleichen.
Es geht jetzt vor allen Dingen um die organisatorische Umsetzung. Hier gibt es sehr viele Probleme. Das weiß ich. Der Bund hat deshalb auch zusammen mit den Ländern, den Wohlfahrtsverbänden und den kommunalen Spitzenverbänden Arbeitsgruppen eingesetzt, die genau diese Probleme besprechen.Die ABM-Problematik z. B. hat in den letzten Wochen und Monaten zu relativ vielen organisatorischen Schwierigkeiten geführt. Wir haben in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsminister jetzt Klärungen herbeigeführt, so daß die Arbeitsämter jetzt auch in den neuen Ländern klare Anweisungen haben werden, für welche Varianten ABM-Einsatz möglich ist.In den östlichen Ländern gibt es das flächendekkende Angebot an Kindertageseinrichtungen heute noch, und ich gehe davon aus, daß es es auch weiter geben wird. Daß die Frauen zu einem hohen Teil arbeitslos sind, ist nicht die Schuld dieser Bundesregierung, sondern die Schuld einer verfehlten Strukturpolitik in der ehemaligen DDR.
Wir tun uns alle keinen großen Gefallen, wenn wir die Existenz der Kindertageseinrichtungsplätze hier heute zerreden. Vielmehr müssen wir uns gemeinsam bemühen, auch den neuen Schwierigkeiten entgegenzutreten.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2451
Bundesminsterin Dr. Angela Merkel— Ich habe mich nur ein bißchen erbittert darüber gezeigt, daß Sie mit falschen Zahlen zu argumentieren versuchen.
In der DDR waren rund 90 % der Frauen erwerbstätig. Sie waren auf eine Tagesbetreuung der Kinder angewiesen, und die meisten Frauen wollen auch in Zukunft einem Beruf nachgehen. Um den Frauen die Wahlfreiheit zwischen Berufsausübung und Familienarbeit zu erhalten, ist, das wissen wir, das Weiterbestehen der Kindergärten und Kinderkrippen sehr wichtig.Es ist leider so, daß heute zahlreiche Kinder al beitsloser Frauen aus den Kindergärten und Krippen genommen werden, und die Mütter kümmern sich jetzt selbst um ihre Kinder. Hier kommen wir an einen besonderen Punkt. Viele Frauen in der ehemaligen DDR hatten wenig Zeit für ihre Kinder, und sie haben jetzt manchmal natürlich auch die Sehnsucht, diese Kinderbetreuung wahrzunehmen, wenn sie schon arbeitslos sind. Wir müssen gemeinsam versuchen, sie eben wegen einer zukünftigen Berufstätigkeit dazu zu ermutigen, daß sie die Kinder stundenweise in diese Kindergärten und Krippen bringen. Ich glaube, in diesem Zusammenhang sind wir uns auch einig, und das freut mich.Wir müssen die Frauen auch ermutigen, gegenüber ihren Bürgermeistern und Kommunalpolitikern mutig dafür einzutreten, daß ihnen diese Kindereinrichtungen wichtig sind. Auch das ist ein Produkt der ehemaligen DDR: daß die Menschen es eben noch nicht gelernt haben, Dinge, die ihnen wichtig sind, auch wirklich vorzubringen und durchzusetzen. Gerade im Falle der Kinderbetreuungseinrichtungen sehe ich, daß sich die Frauen sehr wohl für ihre Belange einsetzen, und dabei sollten wir sie auch unterstützen.
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage unserer Kollegin Frau Wolf?
Ja.
Frau Ministerin, jetzt hätte ich doch gern einmal eine Erklärung. Hier wird immer betont, daß die Frauen, die jetzt arbeitslos sind, nun glücklich darüber sind, daß sie sich um die Kinder kümmern können, daß sie also sozusagen eine positive Ergänzung haben.
Können Sie mir einmal sagen, ob Sie schon irgendwo gehört haben, daß ein arbeitsloser Mann jetzt glücklich darüber war, daß er sich endlich um seine Kinder kümmern konnte, und daß man diese Einrichtungen deswegen gar nicht brauchte?
Die Frage ist an sich recht gut, und wir könnten uns, wenn wir einmal über Mann und Frau und die Aufteilung der Familienarbeit sprechen, auch darüber unterhalten.
Ich glaube aber, der Punkt ist ein ganz anderer. Ich habe viele Mütter in der ehemaligen DDR gekannt. Die haben ihre Kinder früh um sechs in der Kinderkrippe abgeliefert, und abends um sechs haben sie sie wieder abgeholt. Vielleicht haben Mütter in vielen Fällen ein weicheres Herz als Väter. Es hat ihnen im Grunde an vielen Stellen weh getan. Eine Frau, die das vielleicht zehn Jahre erlebt hat, ist, wenn sie jetzt arbeitslos ist, möglicherweise ganz froh, wenn sie ein halbes Jahr lang mittags zu Hause ist. Ich glaube, darüber brauchen wir uns jetzt nicht zu zerstreiten. Das ist einfach so. Es gab dort Zustände, die ich so nicht weitergeführt haben möchte.
Frau Minister, gestatten Sie noch eine Zusatzfrage der Frau Wolf?
Ja, sicherlich.
Wissen Sie denn auch, wenn Sie jetzt einmal die alten Bundesländer betrachten, daß dieses weiche Herz den Müttern auch noch sozusagen heimgezahlt wurde, indem sie dann, wenn sie wieder in den Beruf gehen wollten, keinen Einstieg hatten? Können Sie nicht endlich einmal anerkennen, daß diese Frauen, die das jetzt vielleicht vorübergehend tun, es eines Tages ganz bitter bezahlen, weil sie aus der Weiterbildung und damit aus dem Anschluß an den Beruf heraus sind?
Frau Wolf, ich glaube, wir müssen uns da nicht streiten. Ich habe mit einem Nebensatz erwähnt, daß ich psychologisch die Frauen verstehen kann, die jetzt denken: Ich muß mich um meine Zukunft nicht weiter sorgen; früher gab es einen Kindergartenplatz, es wird in drei Jahren einen geben, jetzt lasse ich das Kind zu Hause. — Weiter habe ich nichts gesagt. Ich habe gesagt: Wir müssen diese Frauen ermuntern, daß sie auch weiterhin ihre Kinder stundenweise in die Kindereinrichtungen bringen und nachmittags mit ihnen vielleicht etwas unternehmen. — Ansonsten können wir dasselbe auch für die Männer tun. Wir können auch die Männer ermuntern, ihre Kinder wegzubringen. Das hat mit Frau und Mann jetzt überhaupt nichts zu tun. Es sind meistens die Mütter, und deshalb habe ich es so gesagt.
Wenn wir Frauen zu etwas ermuntern wollen, dann müssen wir erst einmal verstehen, warum sie jetzt so handeln. Sie handeln nicht deshalb so, weil sie das nicht bezahlen können; denn die Preise in den Kindereinrichtungen sind zur Zeit sozial gestaffelt und werden es auch bleiben. Vielmehr handeln sie aus anderen Gründen so; das wollte ich sagen.Hier wurde über Preise gesprochen und gesagt, daß der mittlere Platz in einem Kindergarten in den neuen Bundesländern jetzt 70 oder 75 DM kostet. Ich bitte
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2452 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Bundesministerin Dr. Angela Merkeldabei zu berücksichtigen, daß sich die 35 DM in den alten Bundesländern auf Halbtagsplätze beziehen und die 70 DM auf Ganztagsplätze. Ganztagsplätze in den alten Bundesländern sind erheblich teurer. Auch das gehört zu einer redlichen Argumentation.
Betriebliche Betreuungsplätze sind in hohem Maße weggefallen; das ist richtig. Es sind hierdurch aber keine Bedarfslücken entstanden. Entweder wurden die Betriebskindergärten übernommen, oder aber sie konnten durch nichtbelegte Kindergartenplätze oder Krippenplätze in den Kommunen ersetzt werden. Der Anteil der Betriebskindergärten betrug im übrigen — ich sage es noch einmal — nur 12 %. Das wurde immer überschätzt.Wir alle wissen — auch das haben wir schon besprochen —, daß die Kindergärten in Zukunft nicht mehr zu 90 % oder zu mehr als 90 % in kommunaler Trägerschaft sein können, sondern daß wir uns darum bemühen müssen, freie Träger für diese Kindereinrichtungen zu finden. Auch hier versucht die Bundesregierung, diese Bemühungen so gut wie möglich zu unterstützen; deshalb auch die Zusammenarbeit mit den freien Wohlfahrtsverbänden, die Ermunterung zum Trägerwechsel und die Unterstützung der neuen Träger bei den Personalkosten durch ABM.Der ökonomische und gesellschaftliche Strukturwandel darf nicht zu Lasten der Mütter und Kinder gehen; darin sind wir uns einig. Deshalb appelliere ich an dieser Stelle noch einmal an die Länder und Kommunen, ihre Prioritäten richtig zu setzen. Natürlich ist es für die Arbeits- und Sozialminister, die für die Jugend verantwortlich sind, oft schwierig, sich gegenüber ihren Wirtschaftsministern und Finanzministern durchzusetzen. Wir sollten an dieser Stelle auch nicht müde werden zu sagen, daß ein Kindergartenplatz in vielen Fällen genauso wichtig ist wie eine gute Straßenverbindung.Es geht nicht nur um den Erhalt der Kindereinrichtungen, sondern natürlich auch um die Verbesserung der Qualität der Kindergartenplätze. Die Kinder in der ehemaligen DDR waren in ihrer gesundheitlichen und emotionalen Entwicklung oft erheblichen Belastungen ausgesetzt.
Das war vor allem deshalb so, weil es — zu dieser Beurteilung stehe ich — Politik der DDR-Regierung war, die Kinder von der Familie möglichst fernzuhalten und sie möglichst vielen staatlichen Erziehungseinflüssen auszusetzen.
Das kann man wahrscheinlich noch in internen Papieren der SED nachlesen. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel, Frau Schenk.
— Ich sage das auch nicht zu Ihnen!Es kann aber, wie schon gesagt, nicht unser Ziel sein, Kinder mehr als zehn Stunden in Kindereinrichtungen zu lassen. Vor allem müssen wir natürlich — darüber wurde heute noch nicht gesprochen — die Situation der Erzieherinnen verbessern. Im Jahre 1989 waren im Krippenbereich 52 000 und im Kindergartenbereich 70 000 Fach- und Hilfskräfte beschäftigt. Wir müssen diese Fach- und Hilfskräfte in Zukunft natürlich besser qualifizieren, an die neuen Erziehungsmethoden anpassen und auch schulen.Ich denke, im Interesse der Kinder und im Interesse ihrer Eltern ist es großer Anstrengungen wert, sich für den Erhalt und eine qualitative Verbesserung der Kinderbetreuungseinrichtungen einzusetzen. Ich bitte zum Abschluß alle im Bund, in den Ländern und in den Kommunen, tatkräftig mitzuhelfen, damit möglichst bald ein gutes und bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesstätten in den alten Bundesländern existiert und damit dieses Angebot in den neuen Bundesländern erhalten bleibt. Ich bitte auch die freien Träger gerade in den neuen Bundesländern, die bisher schon sehr viel geleistet haben, in ihren Bemühungen nicht nachzulassen.
Es geht jetzt nicht darum, schwarzzumalen. Ich denke, zur Zeit ist es so, daß für alle Eltern, die eine Betreuung wünschen, Kindergartenplätze zur Verfügung stehen. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, daß diese Angebote erhalten bleiben und auch qualitativ verbessert werden.Ihrem Antrag kann ich natürlich deshalb nicht zustimmen, weil Sie davon ausgehen, daß der Bund für die Unterstützung der Kindereinrichtungen finanziell verantwortlich ist.
Sie wissen aus den Unterhaltungen mit Ihren Landespolitikern sehr wohl, daß natürlich die alten Bundesländer noch ein ganz anderes Recht darin sehen, vom Bund etwas zu bekommen. Sie wissen auch von den Kultusministern in den Ländern sehr wohl, daß sie sehr stolz sind und daß sie alle Aufgaben, die mit Erziehung und Jugendarbeit zu tun haben, sehr gerne selbst ausfüllen und die Verantwortlichkeit dafür keineswegs an den Bund geben wollen.
Wenn wir über die Aufteilung der Finanzmittel sprechen, dann ist das ein völlig anderes Kapitel.
Sie haben einen Antrag formuliert, in dem es um eine zweckgebundene Zuweisung des Bundes im Rahmen der Jugend- und Erziehungspolitik geht. Das wird von den Ländern so überhaupt nicht akzeptiert.
Frau Minister, gestatten Sie noch eine Frage des Abgeordneten Schmidt? — Bitte.
Frau Ministerin, würden Sie mir zustimmen, daß es dann aber doch sehr schwierig ist, Ihr eigenes Ziel, die Festlegung eines Anspruchs auf einen Kindergartenplatz, umzu-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2453
Wilhelm Schmidt
setzen, wenn Sie so argumentieren, wie Sie es eben getan haben?
Herr Schmidt, ich sage immer, daß es mir, wenn ich durch die Kommunen in den alten Bundesländern fahre und sehe, daß es so viele schöne Festhallen, so viele schöne Schwimmhallen und so viele schöne Fußgängerzonen gibt, wirklich schwer klarzumachen ist, daß diese Kommunen es nicht geschafft haben, ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesstättenplätzen zu erreichen.
Es ist so; jedenfalls erscheint es mir so. Das gilt für alle Kommunen. Ich kann nur sagen: Wenn es vor zehn, vor 15 oder vor 20 Jahren politisch wichtig gewesen wäre, dann wäre es auch machbar gewesen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, als nächster Rednerin erteile ich der Frau Abgeordneten Inge Wettig-Danielmeier das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Verlauf der Debatte und die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage geben uns einen Vorgeschmack davon, wie denn der Schutz des werdenden Lebens durch soziale Leistungen aussehen soll und aussehen wird. Veränderungen: ja, aber bitte ohne Kosten. Recht auf Kindergartenplatz: ja, solange andere ihn zahlen. Über einen Finanzausgleich müssen wir reden, aber bitte später! Kindergärten in den neuen Ländern sollen sich erst einmal gesundschrumpfen; vielleicht kommen wir dann doch noch einmal mit den alten Rollenvorstellungen davon, statt mit handfesten Veränderungen für Frauen und Kinder.Das wird nicht laufen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU. Ihnen werden dann auch noch die letzten jungen Wählerinnen den Rücken kehren.
Ich denke, daß selbst die Caritas nicht umsonst vor dem gewarnt hat, was gegenwärtig in den neuen Ländern passiert.
Auch Ihnen von der FDP wird niemand den guten Willen zur Gleichstellung der Frau weiter abnehmen, wenn Sie hier kneifen!Die Erhaltung der Kinderkrippen und Kindergärten in den neuen Ländern ist der Testfall dafür, wie Sie es im Zusammenhang mit dem § 218 mit dem Umbau dieser Gesellschaft zu einer frauen- und kinderfreundlichen Gesellschaft wirklich halten.
1 000 DM Geburtsprämie verändern die Lebenswirklichkeit der Schwangeren kaum, wohl aber Kinderkrippen, Kindergärten und Ganztagsschulen, auf die sie sicher zählen kann.Wie es damit in der alten Bundesrepublik aussieht, wissen wir. Für 9 % der 3- bis 5jährigen gibt es einen Ganztagskindergartenplatz und für zwei Drittel der Kinder ein irgendwie geartetes Kindergartenangebot von drei, vier oder, mit viel Glück, auch fünf Stunden.An den neuen Ländern können Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, demonstrieren, ob Sie es mit der Neuverteilung der Lasten für Kindertagesstätten zwischen Bund, Ländern und Kommunen ernst meinen. In den neuen Ländern finden die Kinder jetzt noch so viele Einrichtungen, wie wir sie hier ebenfalls bräuchten.Ich streite mich nicht über den Abbau eines tatsächlich vorhandenen Überangebots. Aber dieses Überangebot ist inzwischen längst kaputtgegangen.
Wenn jetzt weiterhin Kindertagesstätten geschlossen werden, bringt das die ehemalige DDR auf das Niveau der alten Bundesrepublik.
Das ist nicht das Niveau eines sich nach Angebot und Nachfrage regelnden Bedarfs einer freiheitlichen Demokratie.
Das ist das Niveau einer konservativen Bevormundungsgesellschaft, die in langer Tradition seit Adenauer die Frauen im Haus halten will,
heute nicht mehr mit vollmundigen Reden wie weiland Wuermeling als Familienminister, sondern mit der Macht des faktischen Rotstifts.In den Demokratien der Europäischen Gemeinschaft sieht die Förderung der Kinder ganz anders aus: 95 % Ganztageskindergartenplätze für die dreibis fünfjährigen Franzosen und Französinnen; 90 % in Italien; ich könnte so fortfahren.
Nur in Irland und Portugal sieht es schlechter aus als bei uns.Auch Krippenplätze werden in erheblichem Umfang angeboten und genutzt. Jedenfalls liegt der Bedarf in einer Demokratie eher bei 50 % als bei den von uns angebotenen 1,6 %. Auch in der alten Bundesrepublik hat ein Drittel der unter dreijährigen Kinder Eltern oder einen alleinerziehenden Elternteil, die berufstätig sind. Einem Drittel steht ein Versorgungsgrad von 1,6 % gegenüber! Das läßt Tausende von Kleinkindern durch den Rost fallen, wenn wir davon ausgehen, daß die übrigen in der „heilen Familie" gut versorgt sind; aber diese Familie gibt es schon lange nicht mehr.
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2454 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Inge Wettig-DanielmeierDie Straße, der Platz, das Wohnviertel stehen seit 30 Jahren nicht mehr als Erfahrungsspielraum für Kinder zur Verfügung. Spielgefährten und Nachbarn sind unausweichlich verloren und müssen anders organisiert werden. Es ist denn auch nicht verwunderlich, daß die Krippenkinder, die Kinder aus Krabbelstuben und Tagesmüttergruppen den „reinen" Familienkindern in Intelligenz, Entwicklung und sozialem Verhalten überlegen sind.
Sie müssen dennoch die Bindung an ihre Mütter und Väter nicht verlieren, wenn sie in vernünftigen, pädagogisch gut konzipierten Kindergruppen betreut werden. Die Fehler durch die Fremdbetreuung in der Krippe sind in der Regel geringer als die Erziehungsfehler durch die eigenen Eltern.
Und noch etwas ist interessant: Während die CSU noch den politisch unverantwortlichen Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen als Abwehr einer verwerflichen Krippenideologie kaschiert,
schicken die wohlhabenden Konservativen — hören Sie gut zu! — ihre Kinder selbstverständlich in Krippen, Krabbelstuben oder organisieren privaten Ersatz. Sie wollen schließlich eine optimale Erziehung ihrer Kinder, um sie für den Konkurrenzkampf zu rüsten.
In den wenigen Einrichtungen für Kleinkinder tummeln sich die Kinder der Besserverdienenden.
Die Krippenplätze sind schließlich teuer. Die Arbeiterin arrangiert sich mit der Oma oder der Schwägerin oder gibt ihren Beruf auf.Auch beim Besuch der Kindergärten liegen die Kinder Besserverdienender vorn.
Erst im letzten Jahr vor der Grundschule ziehen die Arbeiterkinder nach. — Sie können die Statistiken nachprüfen.
Über den künstlich geschaffenen Mangel an Kinderkrippen und Kindergärten schafft diese Gesellschaft das, was die sich demokratisierende Schule offensichtlich vermasselt: Ungleichheiten werden nämlich erhalten.
Gerade die Kinder arbeitsloser Eltern werden auch in Zukunft dringender als alle anderen der Förderung in Kinderkrippen und Kindergärten bedürfen.
Jahrzehntelang hat es kaum seriöse Forschungen über die Auswirkungen und Möglichkeiten der Erziehung von Kleinkindern in der alten Bundesrepublik gegeben.
Ergebnisse aus dem Ausland wurden von der Politik aus politischen Gründen bagatellisiert.
Es geht nicht nur um die Frage der Betreuung von Kindern berufstätiger Eltern, sondern auch um eine optimale Förderung unserer Kinder.
Gemeinsame Erfahrungen in Gruppen vom ersten Lebensjahr des Kindes an gehören genauso dazu wie die individuelle Zuwendung der Eltern. Nicht jede Einrichtung in den alten und in den neuen Ländern entspricht unseren pädagogischen Idealen, aber auch nicht alle Eltern und auch nicht alle Großeltern entsprechen unseren pädagogischen Idealen.
Deshalb wollen wir von der SPD, daß die Einrichtungen in den neuen Ländern erhalten und im Sinne des Jugendhilfegesetzes fortentwickelt werden.
Was erst zerstört ist, läßt sich nur mühsam neu aufbauen.
Mit der Quantität wird in den neuen Ländern auch Qualität zerstört.
Die Länder und Kommunen brauchen die Unterstützung des Bundes. Das wird aus vielen Hilferufen deutlich,
die uns aus den Ländern, auch aus solchen mit CDURegierungen, erreichen. Ich erinnere nur an den Brandbrief des Sozialministers aus Sachsen, der dringend um zusätzliche Mittel über den Juni hinaus bittet, weil er sonst die Einrichtungen nicht aufrechter-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2455
Inge Wettig-Danielmeierhalten kann. Sie lügen sich doch etwas in die Tasche, wenn Sie hier solche Sprüche machen.
Daß auch das Recht auf einen Kindergartenplatz in den alten Bundesländern nur mit einem finanziellen Beitrag des Bundes zu schaffen ist, ist zumindest dem Koalitionspartner FDP bewußt, wie eindeutig in dem Gesetzentwurf zur Reform des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs ausgewiesen ist. Das heißt, wir brauchen eine andere Finanzverteilung.
Insofern kann ich Sie nur auffordern, Ihren eigenen proklamierten Zielen zu folgen und unserem Entschließungsantrag zuzustimmen, damit wir das Recht auf Kindergartenplätze nicht auch noch in den neuen Ländern verspielen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Josef Hollerith.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin Claudia Nolte hatte eben am Beispiel Nordrhein-Westfalen eindrucksvoll festgestellt,
wie weit bei der SPD Wort und Tat, Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen.
Diese schlechte Politik auf Kosten der Familie finden wir leider in weiteren SPD-regierten Ländern.
Im Jahre 1990 scheiterte die CDU-Opposition im Saarbrücker Landtag mit einem Gesetzentwurf, der den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab dem dritten Lebensjahr festschreiben sollte.
Die SPD-Regierung im Saarland will diese Frage angeblich noch in diesem Jahr mit einem Kinderbetreuungsgesetz regeln. Wir werden sehen, ob das gelingt.In Schleswig-Holstein ist, wie wir gehört haben, die Kindergartenversorgung die schlechteste in der Republik. Die SPD hatte dort, Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
nach dem Machtwechsel die Gelegenheit, die Verhältnisse zu ändern.
Sie war offensichtlich bis heute dazu nicht in der Lage.
Ich habe mit Interesse gelesen, daß es einen Regierungsentwurf der SPD in Schleswig-Holstein gibt. Allerdings ist in diesem Entwurf von einem Rechtsanspruch für drei- bis sechsjährige Kinder auf einen Kindergartenplatz nicht die Rede, angeblich aus finanziellen Gründen.
Fazit: Die SPD im Bund spricht sich zwar für einen Rechtsanspruch aus; aber sieht es in den von ihr regierten Ländern so aus, daß dieser Rechtsanspruch umgesetzt würde?
Meine Damen und Herren, hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit meilenweit auseinander.Für Bayern kann ich Ihnen mitteilen, daß Ministerpräsident Streibl in seiner Regierungserklärung vom Dezember 1990 hervorhob, daß „jedes Kind, dessen Eltern die Aufnahme in den Kindergarten wünschen, auch einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz" hat.
Frau Kollegin Renate Schmidt hat den Saal leider bereits verlassen.
Ich wünsche ihr nicht, daß ihre häufige Abwesenheit aus Bayern dazu führt, daß sie die Realitäten in Bayern nicht mehr erkennt.
Meine Damen und Herren, die Wirklichkeit in Bayern sieht so aus, daß zum 1. Januar 1991 die Kindergartenbesuchsquote bei den drei- bis fünfjährigen Kindem bei 84,6 % liegt. Dies ist eine Quote, die mit an der Spitze der Quoten in den Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland liegt. Und wenn es denn Defizite in der Kindergartenversorgung in Bayern gibt, dann lassen sich diese Defizite interessanterweise gerade in den SPD-regierten Städten nachweisen.
Meine Damen und Herren von der SPD, leider ist dieses so.Unsere Ministerien arbeiten intensivst an einer umfassenden Umsetzung dieses Versprechens, um die
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2456 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Josef HollerithKinderbetreuung für die Drei- bis Sechsjährigen zu sichern.
In diesem Zusammenhang gebe ich aber zu bedenken, ob die Förderung einer Kinderbetreuung von staatlicher Seite für Unterdreijährige, wie sie die SPD mit ihrem Entschließungsantrag vom 12. Juni 1991 von der Bundesregierung fordert, überhaupt wünschenswert ist. Einer Entwicklung des Kindes in der Familie würde damit kein Raum mehr bleiben.
Ich halte die SPD-Forderung nach einer entsprechenden Änderung beim Bund-Länder-Finanzausgleich zur Förderung der Betreuungseinrichtungen für Unterdreijährige daher für wenig zweckmäßig. Wir sollten vielmehr für die Sicherung der Betreuungseinrichtungen für Drei- bis Sechsjährige in der gesamten Bundesrepublik sorgen.Meine Damen und Herren, die Union steht für die Glaubwürdigkeit in der Familienpolitik.
Ich bitte Sie deshalb, dem Entschließungsantrag der SPD nicht zuzustimmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist unsere Kollegin Frau Monika Brudlewsky.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seitdem in der ehemaligen DDR im Frühjahr 1990 ein Sieg der CDU zu befürchten war, begann eine gezielte Kampagne des politischen Gegners mit der Aussage, daß die CDU frauenfeindlich sei.
Die CDU, so wurde orakelt, wird Kindergartenplätze und Krippen abschaffen. Die Frauen müssen wieder hinter den Kochtopf und können wegen der fehlenden Kindergartenplätze nicht mehr arbeiten. Ich habe die glühenden Wahlreden noch gut im Ohr, mit denen man unsere Wählerinnen beeindrucken wollte. Zu gerne möchte man jetzt dem vierfachen Wahlsieger CDU einen Fehler nach dem anderen vorhalten. Es ist ja wahr: Wer arbeitet, macht auch Fehler. Aber langsam sollte man mit diesem Spiel zu Ende kommen; denn die Fehler derer, die nicht verantwortlich scheinen, nur lachend zuschauen, wie der andere hinfällt und wieder aufsteht, sind weitaus schwerwiegender.
Wie die Kollegin Schmidt vorhin richtig sagte: Es kann nicht in einigen Jahren behoben werden, was in dreißig Jahren falschgemacht wurde. Das beziehen wir natürlich auf uns. Es kann in dieser kurzen Zeit nichtalles geschafft werden, was in vierzig Jahren verludert wurde.
Nun ist es ja zur Trauer unserer politischen Gegner in den fünf neuen Bundesländern gar nicht so schlimm gekommen, wie man es gern gesehen hätte, prophezeit hatte.
In meinem Wahlkreis weiß ich nur von ganz wenigen Schließungen. Viele Kindergärten wurden in freie Trägerschaft übernommen. Einige ausgesprochene Entlassungen konnten nach vielen Gesprächen wieder rückgängig gemacht werden.
— Ich werde das wohl wissen. Ich wohne da.
— Sie wohnen in Westdeutschland.
Statistiken, die z. B. aus Thüringen vorliegen, sagen dies ganz klar aus. Es würde jetzt allerdings den Rahmen sprengen, alle diese Zahlen herunterzulesen. Wir haben soeben auch gehört, daß in reichen, SPD-regierten Ländern die Versorgung mit Kindergärten sehr zu wünschen übrig läßt. Das hatte ich bisher gar nicht geahnt.Die CDU-Regierung in Rheinland-Pfalz hat z. B. den Rechtsanspruch auf Kindergartenplätze bereits durchgesetzt. Das müssen Sie sich einmal vor Augen führen.In Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg wird anhaltend um jede Einrichtung gerungen, die erhaltenswert ist; schon um die Arbeitsplätze der Kindergärtnerinnen zu sichern. Man hat sogar Probleme, die Plätze zu belegen. Aber man versucht ebenso kontinuierlich, von Quantität auf Qualität umzurüsten; denn daran hat es in der DDR oft gefehlt. Ich meine damit nicht die Kindergärtnerinnen. Die Menschen konnten nichts dafür. Aber es begann schon mit der Ausbildung der Kindergärtnerinnen, die mehr Stunden Russisch und Staatsbürgerkunde hatten als Basteln.
Ich weiß, wovon ich rede. Meine Tochter ist Kindergärtnerin.Eines darf man aber bei der ganzen Diskussion um Kindereinrichtungen nicht vergesssen: Die Kindereinrichtungen sollten wirklich ein Angebot für Frauen sein und bleiben, die berufstätig sein wollen, nicht müssen.
Bei uns sind jetzt leider zahlreiche Frauen ungewollt arbeitslos. Aber bei Gesprächen mit Betroffenen ist mir immer wieder versichert worden, daß ein hoher Prozentsatz der Frauen gern bis zu drei Jahren für ihre
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Monika BrudlewskyKinder zu Hause bleiben möchte; vorausgesetzt natürlich, daß die finanzielle Absicherung stimmt. Die finanzielle Absicherung wollen wir ja bald erreichen.
Nie wieder sollen Kindereinrichtungen zur ganztägigen Aufbewahrungsanstalt werden.
Von „Unterbringung" sprach die SPD-Kollegin vorhin zu Recht. Die über Jahrzehnte hindurch erlittene gesellschaftliche Fehlentwicklung der „sozialen Errungenschaft" Kinderkrippe muß jetzt aufgearbeitet werden. Psychologen werden sich noch lange mit den Schäden vieler ehemaliger Krippenkinder auseinandersetzen müssen.
Abschließend möchte ich Ihnen aus der UN-Erklärung der Rechte des Kindes zitieren:Das Kind braucht zur vollen und harmonischen Entfaltung seiner Persönlichkeit Liebe und Verständnis. Es wächst, soweit irgend möglich, unter der Obhut und unter der Verantwortung seiner Eltern ... auf. Ein Kleinkind darf — außer bei außergewöhnlichen Umständen — nicht von seiner Mutter getrennt werden.Dem möchte ich nichts mehr hinzufügen. Ich danke Ihnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/733. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag der SPD ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der FDP abgelehnt. Der Kollege Weiß vom Bündnis 90/ GRÜNE hat sich der Stimme enthalten.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ingomar Hauchler, Dr. Norbert Wieczorek, Freimut Duve, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Weltwirtschaftsgipfel
Deutsche Initiativen zur Verbesserung globaler Zusammenarbeit
— Drucksache 12/675 —
Interfraktionell ist vereinbart, diesen Tagesordnungspunkt um die Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP zum Weltwirtschaftsgipfel — Drucksache 12/741 — zu erweitern. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich rufe also auch auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP
Weltwirtschaftsgipfel
Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit
— Drucksache 12/741 —
Zum Antrag der Fraktion der SPD liegt ein Änderungsantrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe auch da keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Peter Kittelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Außerhalb meiner jetzigen Rede darf ich sagen: Es hat im Rahmen zweier Redebeiträge zu einem Thema, dem wir alle gelauscht haben, wohl selten einen solchen Unterschied gegeben wie den zwischen jemandem, der „drüben" groß geworden ist, dort seine Erfahrungen gemacht hat und selber beurteilen kann, was los ist, und einer Politologin aus Göttingen. Das sollte uns alle gemeinsam nachdenklich stimmen.
Der vor uns stehende Weltwirtschaftsgipfel ruft zu großer Verantwortung auf. Selbst Wolfgang Roth, der versucht, Zwischenbemerkungen zu machen, ist mit mir bestimmt einer Meinung, daß die große Verantwortung den Erwartungen vieler Menschen entspricht.
— Jurist.Die CDU/CSU wünscht der Bundesregierung, dem Bundeskanzler und dem Bundesaußenminister sehr viel Erfolg auf dem Gipfel.Der von der SPD hier eingebrachte und zur Debatte stehende Antrag fordert die Bundesregierung auf, zur Lösung anstehender weltwirtschaftlicher Probleme im Sinne einer verbesserten globalen Zusammenarbeit aktiv zu werden. Meine Damen und Herren der Opposition, dieser Ermahnung bedarf es nicht. Denn die Bundesrepublik setzt hier nicht nur Zeichen, sondern zeigt sich auf unterschiedlichsten Ebenen außerordentlich engagiert. Deshalb hätte an Stelle der Aufforderungen zu mehr Engagement auch die Anerkennung durch die Opposition stehen können. Wir jedenfalls danken der Bundesregierung für ihren Einsatz. Wir hoffen, daß auch von diesem Weltwirtschaftsgipfel positive Impulse ausgehen. An Engagement von deutscher Seite soll es jedenfalls nicht fehlen.
Durch die zeitlich begrenzte Teilnahme des sowjetischen Präsidenten steht der Londoner Wirtschaftsgipfel ganz im Lichte der neuen Qualität der Ost-West-Beziehungen. Das Zusammentreffen der G-7Nationen und Gorbatschows dokumentiert deutlich, wie sehr alle Beteiligten daran interessiert sind, die
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2458 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Peter Kittelmannwirtschaftliche und gesellschaftliche Lage in der Sowjetunion zu entkrampfen und zu reformieren. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß das Chaos der gescheiterten Zentralverwaltungswirtschaft der Sowjetunion in eine tatsächliche und unmittelbare Krise geführt hat.Hier ist unsere weltwirtschaftliche und weltpolitische Verantwortung gefordert. Die Bundesrepublik hat bereits Zeichen gesetzt. Die deutsch-sowjetische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Industrie, der Wissenschaft und Technik ist mit dem deutsch-sowjetischen Vertrag besiegelt worden — und dies im Sinne einer friedenssichernden Maßnahme für ganz Europa.Meine Damen und Herren, wenn die Sozialdemokraten in ihrem Antrag von Zusammenarbeit sprechen, können wir, was diesen Punkt betrifft, noch einen Schritt weitergehen. Wir haben wirkliche Partnerschaft bewiesen. Die Gespräche über eine Restrukturierung der sowjetischen Auslandsschulden, gezielte Investitionskredite für Projekte im Energiesektor oder im Infrastrukturbereich sind glaubhafte Zeichen für das Engagement für eine wirtschaftliche Ost-West-Integration und somit — das darf nicht vergessen werden — für eine langfristige friedenssichernde Kooperation.Die Assoziierung der Sowjetunion an die Finanzinstitutionen IWF und Weltbank erscheint darum besonders hilfreich. Ich freue mich auch, daß die Vereinigten Staaten offenbar dabei sind, ihre Bedenken in dieser Frage aufzugeben.Gleichwohl, meine Damen und Herren: Der Presse war zu entnehmen, daß Moskau keinesfalls einfach zu den „sieben reichen Onkeln" reisen wird, um Finanzhilfe zu erbitten. Zu einer bedingungslosen Finanzspritze werden diese wohl auch nicht bereit sein — und dies zu Recht. Die Regierung der Sowjetunion muß verbindliche Zusagen machen. Auch das ist mit globaler Zusammenarbeit gemeint, nämlich Gegenseitigkeit und vertrauensbildende Maßnahmen beider Seiten.Die Sowjetunion ist darum auf dem Weltwirtschaftsgipfel gefordert, Aussagen zu machen, sich nämlich glaubhaft für die Schaffung marktwirtschaftlicher Strukturen zu verbürgen, die eingeleiteten Reformprozesse nicht zu blockieren oder gar zurückzunehmen und die angebotene Unterstützung selbstverständlich an ökonomischen, ökologischen und gesundheitlichen Standards auszurichten. Die Ankündigung des sowjetischen Außenministers, ein entsprechendes Paket mit nach London zu bringen, läßt auf ermutigende Reaktionen und die Bereitschaft, auf demokratische und marktwirtschaftliche Verpflichtungen einzugehen, hoffen. Daß aus einem Makromonopol durch den Zerfall in Republiken ähnlich zentralistische Mikromonopole entstehen, reicht natürlich nicht aus. Darum ist im Zusammenhang da noch weiteres zu beachten.Angesichts einer sehr herausfordernden finanzpolitischen Lage muß die Öffentlichkeit auch davon überzeugt werden, daß hier nicht Geld in schwarze Löcher fällt und nicht die Gefahr einer uneffektiven, also verschwenderischen Unterstützung stattfindet. Aus diesem Grunde werden gerade die betreffenden europäischen Staaten dazu aufgefordert, bei der Wirtschaftskonferenz, dem Spitzentreffen der G 7, mit einer Sprache zu sprechen, denn nur geschlossenes Handeln kann faktisch glaubwürdig sein und Vertrauen schaffen.Meine Damen und Herren, es ist weiterhin wichtig, daß auf diesem Weltwirtschaftsgipfel nicht nur das Ost-West-Problem im Vordergrund steht, sondern die Fortführung der Uruguay-Runde ein wesentliches Thema ist. Das Scheitern der GATT-Runde hätte vor allen Dingen für das exportstarke Deutschland fatale Folgen. Der Gipfel der G 7 muß darum die Voraussetzungen dafür schaffen, daß der durch den GATTGeneraldirektor Dunkel anvisierte Endspurt tatsächlich eingelegt werden kann. Der neue Konferenzplan und die positive Aufnahme der jüngsten Agrarpreisbeschlüsse der EG durch die amerikanische Handelsbeauftragte sollte Ansporn sein. Noch strittige Fragen — ich nenne nur wenige — auf dem Agrarsektor, im Bereich des Marktzugangs, des Dienstleistungssektors und der Schutz des geistigen Eigentums bedürfen einer konsensfähigen Vorabklärung. Die Europäische Gemeinschaft ist hier aufgefordert, aber auch die Vereinigten Staaten sind in die Pflicht genommen.Funktionierende liberale und multilaterale Handelsstrukturen sind unabdingbar für den Erfolg von Welthandel und Weltwirtschaft. Darüber müssen sich die Verhandlungspartner am Tisch der UruguayRunde klar sein. Wir erinnern uns, daß jeder G-7Weltwirtschaftsgipfel bisher damit endete, daß man sich einig war, etwas gegen Protektionismus unternehmen zu müssen. Es wird endlich Zeit, daß nicht nur die Aussage, sondern das Handeln die tägliche Arbeit bestimmen.Ich darf auch noch kurz auf die Waffenexportkontrolle eingehen. Auch hier sind die Sozialdemokraten dabei, kluge Ratschläge zu geben. Es geht auf das Konto der Sozialdemokraten, daß wir, die Bundesrepublik, in der Rüstungsexportkontrolle dabei sind, unser Initiativrecht zu verlieren. Die Opposition übt zwar vehemente Kritik an der Exportpolitik der Regierung, sieht sich aber gleichzeitig außerstande, politische Handlungsfähigkeit zu beweisen. Eine wirklich wirksame Rüstungsexportpolitik kann verhindert werden, aber es muß Ihnen zugeschrieben werden, daß Sie durch die Ablehnung des Antrages der CDU/CSU und FDP wesentlich dazu beigetragen haben, daß wir international wieder fragwürdig dastehen.Was unseren eigenen Beitrag betrifft, so sind weiter zu nennen die Geldpolitik, Preisniveaustabilität, eine auf nationale Ersparnis bedachte Wirtschaftspolitik, und alles dies in eine internationale Koordination eingebunden. Dazu wird mein Kollege Pinger noch weiteres sagen.Wir werden auch aufpassen müssen, daß unsere vorübergehende Aufgabe einer wirtschaftlichen Spitzenposition im Export, die im wesentlichen im Handel innerhalb Deutschlands durch Entwicklungen in den neuen Bundesländern begründet ist, wieder aufgeholt werden kann.Lassen Sie mich am Schluß eine Bemerkung zur Frage der anstehenden wirtschaftlichen und politi-
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Peter Kittelmannschen Probleme im Verbund der großen Nationen über Grenzen hinweg machen. Wir erwarten von der G-7-Konferenz, daß sie sich mit den gewaltigen ökologischen Herausforderungen befaßt. Die Konferenz über Umwelt und Entwicklung 1992 in Brasilien darf auf keinen Fall scheitern, für die Waffenexportkontrolle, für die Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten in die Weltwirtschaft, die Kooperation mit der Sowjetunion und vor allen Dingen die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern und ihren gewaltigen Problemen.Meine Damen und Herren, ich bin sicher, daß der Weltwirtschaftsgipfel nicht daran scheitern wird, daß die deutsche Politik dort nicht konstruktive Vorschläge macht. Ich bin allerdings auch skeptisch, inwieweit es möglich sein wird, auf diesem Weltwirtschaftsgipfel nicht nur Zeichen zu setzen, sondern sich im Rahmen einer tatsächlichen Umsetzung zu bessern.Ich danke Ihnen herzlich.
Der nächste Redner ist unser Kollege Ingomar Hauchler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mitte Juli wird in London das nächste Treffen der Staats- und Regierungschefs der sieben größten Industrieländer stattfinden. Die Konferenz tagt in einer Situation, in der weltwirtschaftliche Ungleichgewichte, Umwälzungen in Osteuropa und in der Sowjetunion, Armut und wachsende Spannungen in der Dritten Welt sowie ökologische Bedrohungen die internationale Gemeinschaft in nie gekanntem Maß herausfordern. Zu den drängenden Fragen gehören die internationale Verschuldung und wachsende Flüchtlingsströme.In dem Antrag, den wir zu dieser Debatte eingebracht haben, fordern wir Sozialdemokraten die Bundesregierung auf, sich stärker als bisher zu engagieren, damit endlich Fortschritte zur Lösung dieser Probleme, die ich skizziert habe, erzielt werden. Wenn nicht auch London, wie schon manche Gipfeltreffen, in Pomp und Rhetorik vertan werden soll, müssen die Staats- und Regierungschefs ihre Hausaufgaben besser und schneller machen.
Es ist in letzter Zeit viel von der wachsenden internationalen Verantwortung der Deutschen die Rede. Was bedeutet das? Es darf nicht bedeuten, daß wir Deutsche dabei mitmachen, internationale Probleme in erster Linie militärisch lösen zu wollen und neue Optionen für Krieg, nun nicht mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen Nord und Süd, zu öffnen.
Gerade wir Deutsche sollten wissen, daß Krieg kein Problem je wirklich gelöst hat, sondern im Gegenteil neue Probleme zeitigt. Der Hydra wachsen so immer neue Köpfe.Sollten wir das aber aus der eigenen Geschichte immer noch nicht gelernt haben, so sollte uns dasErgebnis des Golf-Kriegs belehren. Am Golf ist zwar das Prnzip der Souveränität gewahrt worden — und das war nicht unwichtig. Zwei menschenverachtende Regimes sitzen aber wieder im Sattel: im Irak und auch in Kuwait. Der Frieden und der wirtschaftliche Ausgleich in der Region sind weiter entfernt als je zuvor. Die Umwelt ist auf lange Zeit verheert. Und das größte Industrieland der Welt feiert in New York mit Paraden und Posen den totalen Sieg über den Diktator eines Entwicklungslandes. Amerika, diese große demokratische Nation, hat diese Peinlichkeit und Geschmacklosigkeit wahrlich nicht verdient.
Wachsende Verantwortung der Deutschen heißt also nicht, daß wir, wie jüngst der Bundesverteididungsminister, uns bei Eingreiftruppen der NATO in die vorderen Reihen drängen und die mögliche Friedensdividende aus der Entspannung zwischen Ost und West für neues militärisches Gerät verspielen und Säbelrasseln jetzt gegenüber dem Süden praktizieren. Wir Sozialdemokraten werden hier nicht mitmachen.
— Es ist doch richtig, daß der Bundesverteidigungsminister auf der letzten NATO-Tagung solchen Plänen zugestimmt hat. Das ist doch die Wahrheit!
Die internationale Verantwortung der Deutschen liegt vielmehr genau dort, wo die konservativen Regierungen der USA und Japans versagen.
— Sehr richtig! Und wo versagen die konservativen Regierungen der USA und Japans? Im Konzept von Frieden und Sicherheit durch Entwicklung und konstruktive Zusammenarbeit.Hier, in der politischen Mischung von wirtschaftlicher Effizienz, sozialem Ausgleich und ökologischer Vernunft liegt das, was die Deutschen zusammen mit ihren Nachbarn als die — ich sage es ruhig — europäische Mission der Zukunft aktiv verfolgen müssen.Auch ein anderes darf die gewachsene internationale Verantwortung nicht bedeuten, nämlich daß wir uns weniger mit eigenen politischen Vorstellungen als vor allem als die Zahlmeister Europas und der Welt profilieren. Die Bundesregierung, der Bundeskanzler, der Außenminister haben seit Beginn des Einigungsprozesses leider zu völlig übertriebenen Erwartungen an die Zahlungsfähigkeit der Deutschen beigetragen.
Die deutsche Einheit ist zu einem guten Teil mit vielGeld gekauft worden. Und ich sage: Das war in diesem Fall nicht das Allerschlechteste. Aber auch das
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Dr. Ingomar Hauchlerpolitische Abtauchen in der Golfkrise ist mit riesigen Schecks bezahlt worden,
was schlimm in der Sache und politisch sehr peinlich für uns Deutsche war. Die Dritte Welt ist mit Versprechungen, die deutsche Hilfe würde weiter steigen, ruhiggestellt worden, was sich hoffentlich nicht schon bald als zweifelhaft und unwahr erweisen wird.Die Bundesregierung hat in sträflicher Weise die Vorstellung genährt, die Deutschen seien, wenn schon manchmal international als politische Zwerge verkannt, so doch finanziell Riesen. Gleichzeitig hat sie mit ihrer Steuerlüge den Menschen im eigenen Lande verschwiegen, wie schwer die steigenden internationalen Verpflichtungen in einer Zeit drücken werden, in der für die Deutsche Einheit schon bisher unvorstellbare Summen aufgebracht werden müssen.
Sind das nicht unvorstellbare Summen, die jetzt, von Ihnen in riesigem Ausmaß kreditfinanziert aufzubringen sind?
— So sieht das aus.Wir fordern deshalb die Bundesregierung nicht nur zum Kassensturz bei der deutschen Einheit auf, sondern auch zur Bilanzierung ihrer internationalen Verpflichtungen: Auch dies ist überfällig. Den Bürgerinnen und Bürgern muß endlich auch hier die Wahrheit darüber gesagt werden, was noch auf sie zukommt.Wenn wir Sozialdemokraten in unserem Antrag fordern, die Bundesregierung möge auf dem Londoner Gipfel mit finanziell soliden politischen Initiativen, die möglichst europäisch abgestimmt sein sollten, auftreten, statt ihre politische Abstinenz hinter noch ungedeckten Schecks zu verstecken, dann meinen wir vor allem folgendes.Erstens. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Industriestaaten, aber auch zwischen Ost und West, Nord und Süd, muß entschieden gestärkt werden. Mit niedrigeren Realzinsen, Preisstabilität, marktwirtschaftlicher Effizienz und einem Ausbau produktiv, sozial, ökologisch abgestimmter Infrastruktur müssen bessere Voraussetzungen für erhöhte Investitionsbereitschaft und für die Schaffung von Arbeitsplätzen geschaffen werden. Das erfordert natürlich mehr als liberale Ideologie bei sozialer und ökologischer Abstinenz. Das verlangt mehr Mut und Kraft zu eigener politischer Konzeption in einem gewandelten internationalen Umfeld, als die konservativ-liberale Koalition zur Zeit aufbringt.Zweitens. Die westlichen Industrieländer müssen den Reformländern Osteuropas eine umfassendere Zusammenarbeit anbieten, als dies bisher geschehen ist. Das muß mehr sein als das, was sich aus den Schriftsätzen des Internationalen Währungsfonds ergibt. Neben öffentlichen Hilfen muß vor allem privates Kapital und Know-how mobilisiert werden, um politische und wirtschaftliche Reformen zu unterstützen. Nur so kann die Grundlage für einen gemeinsamen Wirtschaftsraum in ganz Europa gelegt werden.Damit dies — das ist besonders wichtig — auch für die Sowjetunion gelingt, müssen wir Deutsche in London noch entschiedener unterstreichen, daß hier der ganze Westen, auch Japan, gefordert ist. Osteuropa und die Sowjetunion sind kein deutsches Problem und dürfen es auch nicht sein und werden. Osteuropa und die Sowjetunion sind eine umfassende europäische und transatlantische Aufgabe. Vor allem hier könnte sich der Bundeskanzler in London profilieren.Ein breites und offenes Angebot zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit muß sich auch darin ausdrükken, den sowjetischen Präsidenten zu den Beratungen der Sieben einzuladen — ihn aber nicht an den Katzentisch zu verweisen. Dies wäre ein neues, unerträgliches Signal westlich-konservativer Arroganz, die glaubt, anderen die Auflagen machen zu können, die sie selbst nicht einhält.
Denn was soll man davon halten, wenn gerade jenes westliche Land, das sich als unfähig erwiesen hat, bei sich gewaltige öffentliche Defizite einzuschränken — ich spreche nicht von der Bundesrepublik — , von einem anderen Land, das 70 Jahre lang in einer politisch-ökonomischen Zwangsjacke steckte, verlangt, sich innerhalb weniger Jahre wirtschaftlich, sozial und politisch völlig zu häuten? Wer dies verlangt, verkennt entweder die Herkulesaufgabe, vor der Europa und die Sowjetunion — auch Länder des Südens — stehen, oder er sucht einen Vorwand, um Hilfe zu verweigern und sich aus der Verantwortung zu stehlen.Drittens. Der Londoner Gipfel muß endlich die Barrieren aus dem Weg räumen, die einem Erfolg der Uruguay-Runde im Wege stehen. Der Skandal immer höherer europäischer Agrarüberschüsse und auch Agrarsubventionen bei gleichzeitiger Stagnation der bäuerlichen Einkommen, bei überhöhten Verbraucherpreisen sowie verheerenden Auswirkungen auf die Agrarproduktion und den Agrarexport in vielen Entwicklungsländern muß endlich beseitigt werden.
Wenn Sie dabei mithelfen, Herr Kittelmann, dann werden wir auch die Bundesregierung dafür loben. Oder sind die sieben Chefs wirklich nur fähig, schnell und effizient Kriege zu organisieren und Kriege zu bezahlen? Das hat doch schnell geklappt. Sind sie wirklich nur dazu schnell und effizient fähig, aber unfähig, die für die Weltwirtschaft schädlichen Sonderinteressen im internationalen Handel einzugrenzen?Der Protektionismus kostet die Weltwirtschaft enorme Summen. Der Dritten Welt allein — so eine
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Dr. Ingomar HauchlerWeltbankstudie — entgehen dadurch mehr Devisen, als sie über Entwicklungstransfers erhält.Die Liberalisierung auf allen Sektoren des Handels muß natürlich verbunden werden mit zeitlich befristeten strukturellen und sozialen Anpassungsmaßnahmen auch in den Industrieländern und abgestuften Präferenzen für die Länder in Osteuropa und im Süden. Eine Ausnahme vom Prinzip genereller Liberalisierung muß natürlich für den Transfer von Waffen und militärischer Technologie gelten. Wir fordern die Bundesregierung unbeschadet ihrer weitergehenden Verpflichtungen für eine restriktive Rüstungsexportpolitik auf, in London die Initiative des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Repräsentantenhaus der USA aufzugreifen und in die Verhandlungen einzuführen, wonach alle Waffenlieferungen in den Nahen Osten sofort gestoppt werden sollen, um den Friedensprozeß im Nahen Osten zu unterstützen.
Eine konzertierte Aktion der Sieben zur Verhinderung von Rüstungsexporten außerhalb der NATO ist überfällig. London bietet die Gelegenheit, das Geschäft mit dem Tod endlich gemeinsam zu ächten.Viertens. Der internationalen Verschuldungskrise muß endlich durch substantielle Fortschritte zur Senkung des Schuldendienstes begegnet werden. Denn die Verschuldung ist für viele Länder des Südens und Osteuropas zur Entwicklungsfalle geworden. Wir fordern die Bundesregierung auf, den sogenannten Trinidad-Vorschlag des britischen Premiers zu unterstützen, der vorsieht, daß den ärmsten Ländern zwei Drittel ihrer öffentlichen Schulden erlassen werden. In jedem Fall muß aber der Schuldenerlaß, der Polen und Ägypten gewährt wurde, auf alle vergleichbaren Länder Osteuropas und der Dritten Welt ausgedehnt werden.
Internationale Finanzpolitik, meine Damen und Herren, sollte sich ja nach allgemein verbindlichen Regeln und ökonomischer Vernunft richten und nicht nach kurzsichtigem politischen Opportunismus, wie Sie und Ihre Koalition ihn in der letzten Zeit reichlich vorgeführt haben. Außerdem müssen die internationalen Geschäftsbanken veranlaßt werden, sich stärker als bisher an einer strukturellen Lösung der Schuldenkrise zu beteiligen — durch Zinsstabilisierung auf niedrigem Niveau und gezieltem Forderungsverzicht nach international abgestimmten Regeln, die von Fall zu Fall anzuwenden wären. Gemeinsame gesetzgeberische Maßnahmen der Gläubigerländer, insbesondere auf dem Gebiet der internationalen Insolvenzregelungen und im Steuerrecht, könnten dies erleichtern.Fünftens. London bietet auch die Gelegenheit, die herrschende Strategie der Strukturanpassung einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Sie war bisher weder in den ärmsten Ländern noch in den Schwellenländern wirklich erfolgreich. Auch Studien der Weltbank selbst belegen dies. Dadurch ist weder die Verschuldung gesenkt noch die Leistungs- und Transferfähigkeit der betroffenen Länder nennenswert gesteigert worden. Im Gegenteil oft: Die bisherige Strategie hat in vielen Fällen zu schweren politischen Konflikten, zur Verschärfung der Not der Ärmsten, zur Erosion binnenwirtschaftlicher Potentiale und zur Umweltzerstörung nicht zuletzt des Regenwaldes kräftig beigetragen.Anpassung und Kriterien für Entschuldung und Ressourcentransfers müssen sein — übrigens auch bei uns! Sie müssen aber sozial verträglich, ökologisch vernünftig, auch politisch und administrativ durchsetzbar, also realistisch sein. Daran hat es oft gefehlt.Anpassungsmaßnahmen dürfen sich nicht nur auf ökonomische Parameter richten, so wichtig solche sind. Sie müssen auch eine Reform der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns zum Ziel haben. Dazu gehören: Beschränkung der Rüstungsausgaben, Demokratisierung, Respektierung der Menschenrechte, ein effizienter interner Kapitalmarkt, ein wirksames und gerechtes Steuersystem, die Minderung des exzessiven Abflusses von internem Kapital aus Entwicklungsländern in reiche Gläubigerländer, auch Reformen hinsichtlich der Land-, Vermögens- und Einkommensverteilung.Sechstens. Die Bundesregierung muß dafür eintreten, daß der Londoner Gipfel nicht vertan wird, um einen Durchbruch auch zur Verminderung globaler Umweltzerstörung zu erzielen. Wenn die westlichen Industrieländer hier nicht eine Vorreiterrolle übernehmen, um etwa die klimarelevanten Emissionen drastisch zu reduzieren, werden wir von den Ländern des Südens und Osteuropas nicht erwarten dürfen, daß sie ihr Verkehrssystem und ihre Produktion umweltverträglich gestalten. Das kostet ja auch mehr Geld. Das können wir von ihnen ohne die genannte Voraussetzung nicht verlangen. Wir können von ihnen auch nicht, wenn wir nicht selbst mit gutem Beispiel vorangehen, verlangen, daß sie den Kahlschlag im Regenwald stoppen.Die für 1992 geplante UN-Konferenz Umwelt und Entwicklung wird nur zum Erfolg führen, wenn die Industrieländer im Vorfeld substantielle Zusagen machen. Wir haben nicht mehr viel Zeit, meine Damen und Herren, auch global Ökonomie und Ökologie auf einen Nenner zu bringen. In den nächsten 50 oder 100 Jahren heißt dieser Nenner mit Sicherheit nicht ewiges materielles Wachstum. Dieser Nenner wird eines Tages Überleben heißen.Siebtens und letztens. Die Bundesrepublik muß die französische Forderung unterstützen, eine globale Gipfelkonferenz einzuberufen, an der neben den bisherigen Teilnehmern des sogenannten Weltwirtschaftsgipfels auch die Sowjetunion, auch Länder wie China und Indien und ferner eine begrenzte Zahl weiterer Staaten aus Asien, Afrika und Lateinamerika teilnehmen. Spätestens für 1992 muß ein solcher wirklich repräsentativer Weltgipfel vorbereitet werden. Wir Sozialdemokraten fordern den Bundeskanzler auf, sich in London hierfür persönlich zu engagieren.Ein Weltgipfel muß natürlich arbeitsfähig sein und sollte deshalb nicht mehr als 15 Länder umfassen. Er muß sich auf Durchbrüche in wenigen, aber zentralen
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2462 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Dr. Ingomar HauchlerMenschheitsfragen konzentrieren und sich dafür die angemessene Zeit nehmen. Eine solche Initiative ist — 10 Jahre nach dem Nord-Süd-Gipfel in Cancun — überfällig. Die Fortführung des Siebenergipfels der westlichen Industriestaaten oder anderer regionaler Gipfelkonferenzen würde dadurch in keiner Weise tangiert. Doch die politischen Einsichten und Ziele könnten sich vernetzen, die regionalen Initiativen verbinden und die globale Durchsetzung gemeinsamer Interessen verstärken.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung muß nachsitzen, um ihre deutschen Hausaufgaben ordentlicher zu machen. Sie darf darüber jedoch die internationalen Aufgaben nicht vergessen. Das gilt aber auch für alle Fraktionen und auch für meine eigene Partei. Wir enttäuschen sonst hohe Erwartungen, die an uns Deutsche gerichtet werden, gerade wenn es um Frieden und Sicherheit durch Entwicklung statt durch militärische Intervention geht. Die Verstärkung der globalen Zusammenarbeit für Entwicklung und Sicherheit liegt auch im eigenen, ureigensten Interesse der Deutschen; denn gerade wir brauchen wirtschaftlich, politisch und ökologisch das Einverständnis und die Zusammenarbeit in ganz Europa und in der Welt.Der Londoner Gipfel bietet die erste Nagelprobe nach der deutschen Einigung, ob wir uns zeitweilig aus der Weltgeschichte abmelden und uns nur mit uns selbst beschäftigen oder ob wir weltoffen in der internationalen Gemeinschaft stehen und solidarisch mitwirken, die Probleme einer zunehmend bedrohten Erde wirklich zu lösen.
Die nächste Rednerin ist Frau Kollegin Ingrid Walz.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Lieber Herr Kollege Hauchler, ich hätte Ihnen so gerne zugestimmt. Aber nachdem Sie die Bundesregierung so schnöde angegriffen haben, habe ich es mir verkneifen müssen.
— Ja, wenn es nur immer um die Sache ginge, wäre es mir auch recht.In der Weltpolitik und in der Weltwirtschaft stehen die Zeichen auf Veränderung. Wir erleben immer noch historische Prozesse gesellschaftlicher und ökonomischer Umgestaltung. Wir sehen jedoch auch neue Spannungen entstehen und die Zunahme von Hunger und Not. Wir erleben den Tod von Hunderttausenden von Menschen. Wir erleben gewaltige Flüchtlingsströme, die uns in unserem Tun hoffentlich nicht unberührt lassen.Nun zu unserer eigenen Befindlichkeit: Die Überwindung des Ost-West-Konfliktes erlaubt uns jetzt den Blick in die Welt. Wir sind dabei, unsere Rolle in Europa, aber auch in der Welt zu suchen. Daß dies kein einfacher Prozeß ist, haben wir an den Reaktionen der Menschen auf den Golfkrieg erlebt. Doch unser vereintes Land mit seinem Gewicht und seiner Bedeutung muß mehr Verantwortung übernehmen. In diesem Sinne müssen wir mitgestaltend und mithandelnd die Bühne der Welt neu betreten. Wir müssen in der Tat eine neue Rolle in der Welt übernehmen, auch wenn ich es nicht so sagen möchte, wie Sie es beschrieben haben: ein wirtschaftspolitischer Riese, aber ein politischer Zwerg.Der Grundsatz unseres Handelns ist doch eigentlich die gemeinsame weltweite Erkenntnis, daß nur Demokratie und eine ökologisch orientierte und — so füge ich jetzt hinzu — Soziale Marktwirtschaft Perspektiven für Wohlstand in der ganzen Welt bieten.
Dies muß der Weg sein, der zur Verwirklichung eines neuen Konzepts internationaler Zusammenarbeit führt. Die Philosophie einer solchen internationalen Zusammenarbeit muß sich gründen auf Eigenverantwortung der Menschen und der Länder, auf die Solidarität innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft. Sie muß vor allen Dingen von Partnerschaft getragen sein, die an die Stelle gutgemeinter, aber — das sage ich als Entwicklungspolitikerin — oft auch bevormundender Hilfen tritt.Meine Damen und Herren, das bipolare Denken in Nord-Süd-Kategorien und unser leider immer noch europazentriertes Denken taugen immer weniger dazu, die Welt zu verstehen und uns dazu zu verhelfen, daß wir gemeinsam überleben. Wir müssen erkennen, daß wir längst auf dem Weg zu einer multi-. polaren Welt sind, zu einer Welt, die neue Schwerpunkte, eine neue Art weltwirtschaftlicher Beziehungen und internationaler Zusammenarbeit erfordert. In einer solchen Welt steigen auch die Anforderungen an die Wirtschaftspolitik. Ein sachgerechtes Management der Weltwirtschaft stößt jedoch auf das grundlegende Dilemma, daß die Interdependenz ständig zunimmt — wir merken es täglich — , die wirtschaftspolitischen Entscheidungen jedoch immer noch in nationalstaatlichen Denkschemen verharren und in der nationalstaatlichen Souveränität verblieben sind.Diese Tatsachen fordern geradezu die Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit und Koordinierung heraus. Der Weltwirtschaftsgipfel muß dazu entscheidende Beiträge leisten. Der Weltwirtschaftsgipfel muß Tendenzen und Strömungen aufnehmen, die von weltweit wirkenden Veränderungen ausgelöst werden. Jetzt spreche ich wieder als Entwicklungspolitikerin: Die Formel von einer Welt ist nicht mehr nur der Refrain von uns bemühten Entwicklungspolitikern, sondern er ist inzwischen Gott sei Dank auch Leitsatz weitsichtiger Ökonomen und Ökologen auch bei uns geworden.Meine Damen und Herren, ich will dazu kurz einige Punkte beschreiben; sie sind in Teilen schon von den Kollegen angesprochen worden. Uns geht es um die Beseitigung destabilisierender makroökonomischer Gleichgewichte, wie das so schön heißt, und um die Stärkung eines multilateralen Welthandelssystems. Der Weltwirtschaftsgipfel muß dazu einen starken Impuls liefern. Er muß die Fortsetzung der Verhandlun-
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Ingrid Walzgen der Uruguay-Runde des GATT auslösen. Mit einem erfolgreichen Abschluß der GATT-Verhandlungen ist auch die stärkere Einbindung der Staaten Mittel- und Osteuropas, aber auch der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft erforderlich. Dies liegt nicht nur in unserem ureigensten Interesse; denn wir brauchen auch in Zukunft Märkte für unsere Produkte. Das sollten wir nie vergessen. Wir leben von diesem freien Handel mit der ganzen Welt.
Einen weiteren gewichtigen Komplex des Weltwirtschaftsgipfels stellt die Gestaltung der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und den Staaten Mittel- und Osteuropas dar. Was dazu nötig ist, wurde gesagt. Herr Kollege Hauchler, ich hoffe, daß Gorbatschow wirklich nicht am Katzentisch Platz nimmt.
Sein Temperament wird verhindern, daß die Sowjetunion als wirtschaftspolitischer Zwerg dastehen wird. Ich glaube eher, Gorbatschow wird dafür sorgen, daß wir ihn mit all seinen Problemen zur Kenntnis nehmen.Eine Stabilitätspartnerschaft, von der wir in Zukunft ausgehen sollten, darf allerdings nicht nur im Verhältnis Ost-West gelten, sondern muß auch für das Verhältnis Nord-Süd bestimmend sein. Wenn um uns die Welt verarmt und in Wohlstandsinseln und Armutskontinente zerfällt, dann werden wir den Prinzipien einer solchen Verantwortungsgemeinschaft nicht gerecht.Ich warne allerdings davor, daß wir die Entwicklungsländer als eine homogene Gruppe betrachten. Die Volkswirtschaften der Entwicklungsländer unterscheiden sich nämlich in ihren Strukturen inzwischen erheblich. Ich glaube aber, in folgendem sind wir uns einig: Voraussetzung für die nachhaltige Entwicklung in den meisten Ländern des Südens ist es, daß die Bevölkerungszunahme und das wirtschaftliche Wachstum in Einklang gebracht werden.Aber auch die Verschuldung — darin gibt es ebenfalls Übereinstimmung — stellt in einer Reihe von Entwicklungsländern das allergrößte Entwicklungshindernis dar. Die Bemühungen zur Lösung der Verschuldungsprobleme müssen wir verstärkt fortsetzen. Wir haben uns dieser Tage im AWZ darüber unterhalten.Das auf vielen Konferenzen — ich brauche sie jetzt nicht alle aufzuführen — beschlossene Instrumentarium zur Erleichterung der Schuldenlast einschließlich der Möglichkeiten der einzelfallgerechten Schuldenstrategie muß zügig umgesetzt werden. Wir waren uns auch einig, daß wir über neue Möglichkeiten nachdenken. Dabei hat uns der Schuldenerlaß, den wir Polen und Ägypten gewährt haben, nachdenklich gemacht.Noch ein Satz zur weltweiten Verantwortungsgemeinschaft in bezug auf den globalen Umweltschutz. Auch wir hoffen, daß der Weltwirtschaftsgipfel die UN-Konferenz, die im nächsten Jahr in Brasilien stattfinden wird, zu einem Erfolg machen wird. Am Ende muß nämlich eine Klimakonvention stehen, zu der die unlängst auf deutsche Initiative hin bei der Weltbank eingerichtete globale Umweltfazilität ein erster Schritt ist.Ich hoffe, die Bundesrepublik wird weiterhin der Vorreiter sein; denn die ökologischen Katastrophen der jüngsten Zeit zeigen, daß allergrößte Eile geboten ist. Der Tod von Hunderttausenden von Menschen darf nicht resignierend hingenommen werden oder zur Verhärtung unseres Mitgefühls führen.
Humanitäre Hilfen — so wichtig sie sind — reichen allein nicht aus. Wir müssen mehr tun. Wir müssen die Länder in eine gute und vernünftige Entwicklung einbeziehen, an der wir alle teilhaben.In diesem Sinne wünschen wir wahrscheinlich alle dem Wirtschaftsgipfel einen vollen Erfolg.
Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist Frau Dr. Ursula Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der Fraktion der SPD stellt unserer Meinung nach eine positive Initiative im Vorfeld des Weltwirtschaftsgipfels dar, da einige drängende Probleme des internationalen Zusammenlebens angesprochen werden, deren Lösung für unser aller Überleben notwendig ist.Doch die aktuellen Entwicklungen deuten nicht darauf hin, daß diese Erkenntnis auch dort angekommen ist, wo die entsprechenden Entscheidungen getroffen werden, z. B. in Gremien wie der Weltbank, dem IWF oder auch in den Regierungen der sogenannten entwickelten Länder des Nordens.Richtig ist deshalb im vorliegenden Antrag der gedankliche Ansatz, daß viele der globalen Probleme nicht lösbar sind, ohne daß die Initiative dazu von den Ländern ausgeht, die sie originär verursacht haben.Ich bin ganz einfach der Meinung: Wenn Europa und auch Amerika z. B. Reparationen für das zahlen müßten, was sie in den Entwicklungsländern verursacht haben, dann wären wir ohnehin bankrott. Wir sollten also tunlichst etwas dagegen tun. Das betrifft sowohl die Umweltproblematik als auch die Verschuldungskrise, aber auch alle anderen aus der Unterentwicklung resultierenden Spannungen und Konflikte. Denn bei aller zum Teil berechtigten Kritik an wirtschaftlichen und politischen Fehlentscheidungen der Regierenden in den betroffenen Ländern gilt: Gerade diese regierenden Eliten sind nichts anderes als ein regional modifiziertes Spiegelbild einer Kultur, die ihre Lebens- und Produktionsweise und ihre Vorstellung von Entwicklung für die einzig denkbare und akzeptable hält. Es ist deshalb absurd, Entwicklungsländer wegen umweltschädigender Produktionsweisen zu verdammen und womöglich zu beauflagen, die in der Regel erstens nicht gewachsen sind, sondern importiert wurden — meist noch mit erheblichem Gewinn für den Entwicklungsbringer aus dem Norden — und zweitens ohne gravierende Verschlechterung der
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Dr. Ursula FischerLage des Landes aus eigener Kraft nicht zu beheben sind.Analog lassen sich übrigens auch viele andere Erscheinungen in der „Zweidrittelwelt" bewerten, die heute von der zivilisierten Welt als Menschenrechtsverletzungen und Verstoß gegen Völkerrecht gebrandmarkt werden.Zu einem anderen Problem: Der Antrag spricht von der Notwendigkeit, Strukturanpassungsmaßnahmen sozial und ökologisch verträglich zu gestalten. Meiner Ansicht nach sind die bisherigen Folgen — von Ergebnissen will ich besser nicht sprechen — der vom IWF und von der Weltbank verordneten Programme hinreichend negativ, um dieses Instrument der sogenannten Entwicklungshilfe einer gründlichen Analyse zu unterziehen.Strukturanpassungen dienen — in freier Auslegung dieses, Wortes — der Anpassung der Wirtschaften der Entwicklungsländer an Strukturen — oder besser gesagt: ihrer Einpassung in Strukturen, nämlich in Verwertungsstrukturen des internationalen Kapitals. Das hat Frau Walz eigentlich auch sehr gut zum Ausdruck gebracht.Würden die aktuellen Strukturanpassungsprogramme so modifiziert, daß sie soziale und ökologische Folgen über den Rahmen der Schadensbegrenzung und Kollapsverhütung hinaus auffangen, kämen sie ihrer Funktion als abhängigkeitserhaltendes und ausbeutungsoptimierendes Instrumentarium nicht mehr nach.
— Das haben Sie gesagt, nicht ich.Ähnlich verhält es sich mit der unter Punkt 6 erwähnten Bekämpfung des Protektionismus. Während Entwicklungspolitiker in aller Welt die entsprechenden Schritte für absolut notwendig erachten, kommen die GATT-Verhandlungen nicht voran. Auch deutsche Politiker sind eher bereit, der weit entfernten Dritten Welt Rechte vorzuenthalten, als sich womöglich im eigenen Land massivem Mißfallen auszusetzen.Ich wiederhole das von mir eingangs Gesagte: Der vorliegende Antrag der SPD greift wichtige Punkte auf; die zur Lösung der angesprochenen Probleme notwendige Konsequenz ist aus unserer Sicht nicht gegeben. Ich glaube, daß sie auch nicht gegeben sein wird. Die PDS/Linke Liste strebt z. B. über den Rahmen einer an sich begrüßenswerten globalen Gipfelkonferenz hinaus eine generelle Demokratisierung der internationalen Austausch- und Verteilungsverhältnisse und eine generelle Entschuldung an. Statt Strukturanpassung „made by IWF" sollen Hilfestellungen jeder Art gemeinsam von Nord und Süd erarbeitet werden, also Bedingungen für Entwicklung eröffnet werden und nicht Entwicklung exportiert werden. Sie müssen mir schon zugestehen, daß meine Zweifel berechtigt sind, wenn ich daran denke, was bei dem seit zehn Jahren laufenden Sonderprogramm der UNO für die LDC-Staaten herausgekommen ist. Mit diesen Anträgen kann ich immer nicht sehr viel anfangen, weil sie alle sehr, sehr wachsweich sind und im Prinzip sehr wenig Aussicht auf Erfolg haben, solange die Strukturen so sind, wie sie sind.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, als nächster hat Herr Staatsminister Dr. Lutz Stavenhagen das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Hauchler, der Antrag, der an erster Stelle Ihren Namen trägt und Sie somit vermutlich als Autoren ausweist, gibt wesentlich mehr Anlaß zu kritischer Auseinandersetzung und Diskussion, als Ihre Rede das geboten hat. Ich weiß nicht, warum Sie die Wirkung Ihrer Rede, die ja auch durchaus Nachdenkenswertes enthielt, mit einer Reihe von vulgären Rundumschlägen mindern mußten. Die Suche der NATO nach Antwort auf die veränderten Bedrohungen des friedlichen Zusammenlebens der Völker als „Säbelrasseln" zu diffamieren, geht angesichts der friedensstiftenden Wirkung von über 40 Jahren NATO wirklich an der Sache vorbei.
Wenn Sie sagen, die deutsche Einheit sei gekauft, diffamieren Sie damit die Menschen in der damaligen DDR. Ich muß Ihnen das wirklich sagen.
Wenn Sie sagen, daß die Sieben bei der Organisierung von Kriegen schnell und effizient seien, dann ist das eine Diffamierung der Vereinten Nationen. Das muß ich Ihnen auch einmal sagen. Zum erstenmal sind die Vereinten Nationen und die Ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats der Herausforderung an das internationale Recht in eindrucksvoller Weise gemeinsam entgegengetreten. Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie meinen, hier in dieser Weise um sich schlagen zu sollen.
Ich will auch etwas zu Pomp und Rhetorik sagen. Der Bundeskanzler war es, der auf den letzten Weltwirtschaftsgipfeln in Toronto, Montreal und dann in Houston die Klimafrage ganz nach vorn geschoben hat und wirklich erfolgreich daran gearbeitet hat, daß diese zentralen globalen Themen auch in der Zukunft die internationale Völkergemeinschaft stärker beschäftigen.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schily? — Bitte, Herr Schily.
Herr Stavenhagen, ist es nicht eine schlichte Beschreibung der Tatsachen, daß die militärischen Operationen am Golf schnell und effizient organisiert worden sind?
Herr Kollege, vergessen Sie nicht die Tatsache, daß dem monatelange Bemühungen um eine diplomatische und friedliche Lösung vorausgingen,
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Staatsminister Dr. Lutz G. Stavenhagenund vergessen Sie nicht die Ursache der Aktion am Golf?
— Gut, dann sind wir uns einig.
— Es geht um ganz andere Dinge; das wissen Sie auch, Herr Schily.
Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja, gerne.
Bitte, Herr Kollege Pinger.
Herr Minister, stimmen Sie mit mir überein, daß es unerträglich ist, wenn die Aktionen der Vereinten Nationen zur Verteidigung eines Mitglieds der Vereinten Nationen gleichgestellt werden mit aggressiven Akten und Durchsetzung von Politik mit militärischen Mitteln, wie sie etwa durch das Hitler-Deutschland oder sonstwie geschehen sind?
Dies ist in der Tat unerträglich.
Der diesjährige Wirtschaftsgipfel steht im Zeichen tiefgreifender Veränderungen politischer und wirtschaftlicher Art. Die alten Gegensätze zwischen Ost und West sind überwunden. Nichts kennzeichnet die veränderte weltpolitische Lage deutlicher als das gemeinsame Eintreten der Völkergemeinschaft gegen das vom Irak begangene Unrecht. Aber auch die Anwesenheit Präsident Gorbatschows in London hätte man sich vor wenigen Jahren und sogar vor wenigen Monaten nicht vorstellen können.Mehr noch: Überall sind Freiheit und Demokratie auf dem Vormarsch. Allerdings werden die jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa und auch die Demokratisierungsbestrebungen in Ländern der Dritten Welt nur Bestand haben, wenn die westlichen Industrieländer ihnen hilfreich zur Seite stehen. Das heißt, wir haben alle gemeinsam Verantwortung zu tragen, ich sage: mehr Verantwortung zu tragen. Dabei geht es um drei Bereiche.Erstens. Die Industrieländer müssen gemeinsam und jedes für sich für eine ausreichende Ersparnisbildung als Voraussetzung für Investitionen und Wachstum sorgen, Wachstum, an dem alle Länder teilhaben können und müssen.Zweitens. Wir müssen das System des freien Welthandels stärken, unsere Märkte für die Dritte Welt öffnen. Dies gilt gerade auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft.Drittens. Alle Industrieländer müssen zur Unterstützung der Reformanstrengungen in den Staaten Mittel- und Osteuropas sowie in der Sowjetunion den ihnen angemessenen Beitrag leisten.Wir, die Bundesrepublik, erbringen erhebliche Leistungen, die sich im internationalen Vergleich sehen lassen können. Diese Leistungen gehen weit über unsere eigenen Interessen hinaus und nutzen dem gesamten Westen. Der Bundeskanzler hat in der Haushaltsdebatte darauf hingewiesen, daß er diesen Aspekt, den Aspekt der internationalen Solidarität und Verantwortung, in London deutlich herausstellen will.Die wirtschaftliche Kooperation zwischen den großen Industrieländern ist erfolgreich. Es gibt eine Reihe von Impulsen über den engeren wirtschaftlichen Bereich hinaus zur Bewältigung der globalen Umweltprobleme, der Verschuldungskrise der Länder der Dritten Welt oder bei der internationalen Drogenbekämpfung. Man darf die Möglichkeiten des Wirtschaftsgipfels allerdings auch nicht überschätzen. Der Gipfel ist kein Beschlußgremium. Er trifft auf eine veränderte wirtschaftliche Lage. Die Weltkonjunktur insgesamt hat sich verschlechtert, allerdings sehr differenziert. Es gibt unterschiedliche Entwicklungen. Den rezessiven Tendenzen in Nordamerika und England stehen anhaltend hohes Wachstum in Deutschland und Japan gegenüber. Es gibt aber positive Anzeichen für die wirtschaftliche Entwicklung in den USA schon im zweiten Halbjahr dieses Jahres. Daher kann man annehmen, daß die Zinsthematik nicht mehr den gleichen Stellenwert wie bei der IWF-Frühjahrstagung haben wird. Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses wird natürlich die Anwesenheit von Präsident Gorbatschow in London stehen. Der Bundeskanzler hat sich klar für eine Beteiligung von Präsident Gorbatschow am Gipfel ausgesprochen. Er soll dort die Möglichkeit haben, zur politischen und wirtschaftlichen Lage in der Sowjetunion sowie zu seinem Reformkonzept zu berichten. Ein solch konkretes Reformprogramm ist Voraussetzung für eine parallele Unterstützung der Sowjetunion durch den Westen. Wir verstehen diese Unterstützung als Hilfe zur Selbsthilfe, die die Sowjetunion in Zusammenarbeit mit den internationalen Institutionen vereinbaren muß.Darüber hinaus bleibt die politische und wirtschaftliche Stabilisierung der Reformstaaten Mittel- und Osteuropas wichtiges Anliegen. Wir erwarten vom Londoner Gipfel erneut deutliche Signale für eine noch engere Zusammenarbeit. Das gilt insbesondere für die Fortsetzung der Unterstützungsmaßnahmen im Rahmen der Gruppe der 24.Der Gipfel wird sich auch erneut mit der UruguayRunde des GATT befassen. Wir treten mit Nachdruck für den baldigen erfolgreichen Abschluß ein. Es muß ein ausgewogenes Gesamtergebnis sein, das in dem schwierigen Bereich der Agrarpolitik den deutschen und den europäischen Bauern eine Zukunftsperspektive eröffnet. Aber das ist ja nicht das einzige Thema; es gibt auch andere Themen. Hier ist es notwendig, zu einem ausgewogenen Gesamtergebnis zu kommen.Als eine der großen Handelsnationen müssen wir ein besonderes Interesse an offenen Weltmärkten ha-
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Staatsminister Dr. Lutz G. Stavenhagenben. Wir haben damit eine besondere Verantwortung für die Stärkung und Weiterentwicklung des multilateralen Welthandelssystems. Dieser Verantwortung müssen wir gerade gegenüber den schwächeren Partnern wie den Entwicklungsländern und den Ländern Mittel- und Osteuropas gerecht werden. Für beide Gruppen gilt: Handel ist die beste Hilfe. Das heißt, wir müssen auch unsere Tore öffnen. Wir sind bereit, mit den Entwicklungsländern weiterhin partnerschaftlich zusammenzuarbeiten. Trotz der großen Herausforderungen in Mittel- und Osteuropa werden wir die Entwicklungsländer nicht vergessen.
Die Stärkung der Wachstumsgrundlagen und die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Entwicklungsländern sind in weltweitem Interesse. Hier haben viele Entwicklungsländer durch eigene Anstrengungen und in Zusammenarbeit mit IWF und Weltbank eindrucksvolle Fortschritte erzielt, die andere Länder ermutigen sollten.Eine wichtige Aufgabe ist auch, die internationale Schuldenstrategie weiterzuentwickeln. Nach dem Schuldenerlaß für die Sonderfälle Polen und Ägypten im Pariser Club, an dem die Bundesregierung nachdrücklich mitgearbeitet hat, werden die Maßnahmen zur Schuldenverringerung für die ärmsten und am höchsten verschuldeten Länder erneut zur Diskussion stehen.Nach dem Irakkonflikt und der aus unkontrollierter Aufrüstung resultierenden ernsthaften Gefahr für den Frieden werden sich die G-7-Staats- und Regierungschefs auch mit der Frage der Rüstungsexportkontrollen befassen. Nationale Maßnahmen reichen hier nicht aus. Die Bundesregierung ist mit anderen Gipfelteilnehmern initiativ geworden. Wir erwarten vom Gipfel einen politischen Impuls hierzu, damit wir zu einem gemeinsamen internationalen Verhaltenskodex kommen.Ein wichtiger Punkt für den Bundeskanzler sind die globalen Umweltprobleme. Wirksame Maßnahmen gegen den Abbau der Ozonschicht, gegen die weitere Zunahme des Treibhauseffektes, gegen die Zerstörung der Wälder, insbesondere der Tropenwälder, sind jetzt zu treffen. Auf Initiative des Bundeskanzlers haben sich die Teilnehmer des Wirtschaftsgipfels von Houston im vergangenen Jahr bereit erklärt, mit der brasilianischen Regierung unter Beteiligung der Weltbank und der EG-Kommission an einem umfassenden Pilotprogramm zum Schutz des Tropenwaldes zusammenzuarbeiten.
Wir erwarten vom diesjährigen Wirtschaftsgipfel in dieser Frage weitere Fortschritte.Mit dem Beschluß der Bundesregierung, bis zum Jahre 1995 auf die ozonschichtzerstörenden FCKW und Halone zu verzichten, hat die Bundesregierung international eine Vorreiterrolle übernommen.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Roth?
Ja!
Bitte sehr, Herr Kollege Roth!
Eigentlich darf ich eine Zwischenfrage nicht mit einer Bewertung beginnen. Ich will trotzdem sagen: Ich finde Ihre Ausführungen bemerkenswert. Können Sie mir erklären, warum von den vier betroffenen Ressorts in der Vorbereitung des Wirtschaftsgipfels nur eines durch einen Staatssekretär bei dieser Debatte anwesend ist?
Herr Kollege, das will ich Ihnen sagen: Federführend für den Weltwirtschaftsgipfel ist das Bundeskanzleramt, und der Bundeskanzler wird auch dort sein. Deswegen führe ich diese Debatte hier.
Herr Minister, gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage? — Bitte, Herr Kollege Roth.
Trifft es zu, daß die Bundesregierung die Zahl der Staatssekretäre im letzten Jahr außerordentlich vergrößert hat, und ist es dann richtig, daß bei einer Debatte über ein derart wichtiges und auch wirklich richtungsweisendes Ereignis wie den Weltwirtschaftsgipfel im nächsten Monat nicht einmal die betroffenen Ressorts die Argumente der Abgeordneten anhören?
Herr Bundeskanzler, — —
— Lieber Herr Roth, ich bin meiner Zeit etwa 50 Jahre voraus.
Herr Roth, es ist zutreffend, daß die Zahl der Parlamentarischen Staatssekretäre vergrößert wurde; die Aufgaben sind umfangreicher geworden, wie Sie wissen. Richtig ist auch, daß die Parlamentarischen Staatssekretäre inner- und außerhalb des Parlaments vielfältige Aufgaben wahrzunehmen haben. Im übrigen würde ich mir für diese Debatte ganz generell, nicht nur auf der Regierungsbank, sondern auch im Plenum, eine größere Präsenz wünschen.
Bei den anderen klimabedrohenden Stoffen, insbesondere bei Kohlendioxidemissionen, streben wir ebenfalls völkerrechtliche Verpflichtungen zu einer wirkungsvollen Begrenzung an. Auch das wird ein Verhandlungspunkt auf der UN-Konferenz Umwelt und Entwicklung 1992 sein. Unser Ziel ist es, daß vom Gipfel in London ein deutliches und kräftiges Signal
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Staatsminister Dr. Lutz G. Stavenhagenzum wirksameren Schutz von Mensch und Umwelt ausgehen wird.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Konrad Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir begrüßen den Antrag der SPD, weil er Mängel unserer Wirtschaftsordnung erkennbar macht. Unser aller Zukunft liegt in einer Welt und nicht in zwei, drei oder sogar vier Welten. Die multilaterale Abstimmung der Weltwirtschaft ist zwingend erforderlich. Die bestehenden und wachsenden Probleme können nur in internationaler Gemeinsamkeit gelöst werden.
Ich gehe noch weiter und sage: Wenn wir uns weiterhin den Luxus einer Weltmarktwirtschaft ohne Attribute leisten, schaufeln wir unser eigenes Grab. Überleben können wir alle nur gemeinsam und nur in einer Weltmarktwirtschaft, die gerecht, solidarisch und sozial ist und die unsere Mitwelt schützt und bewahrt.
Die Antworten, die die zur Debatte stehenden Anträge der SPD und der Koalition versuchen, genügen nicht. Im Mittelpunkt dieser Anträge steht noch immer die wirtschaftliche Zusammenarbeit, garniert mit sozialen und ökologischen Empfehlungen, die nicht ausreichend sind. Auf die globale ökologische Bedrohung, die wachsende Armut und Spannung in der Dritten Welt und in Osteuropa reagieren sie nur unzulänglich. Die Realität zeigt, daß die einseitige Ausrichtung auf wirtschaftliches Wachstum hin hohe soziale und ökologische Kosten verursacht, deren Konsequenzen wir jetzt und in Zukunft zu tragen haben. Langfristig kann ökonomisches Wachstum nur ein Ziel einer Entwicklung sein, die im Dienst von Frieden, Ökologie und Menschenrechten steht. Es sind längst nicht mehr nur unsere christlichen und humanistischen Ideale, um die es geht; es ist eine Sache der nackten Vernunft; es ist die Ultima ratio unseres Überlebens. Wenn wir heute nicht für eine gerechte Weltmarktwirtschaft sorgen, werden unsere Kinder morgen verteidigen müssen, was wir für sie zusammengerafft haben.
Wir haben einen Änderungsantrag zum Antrag der SPD vorgelegt. Ich will nicht versäumen, Sie darauf hinzuweisen, daß die meisten unserer Ergänzungen bereits im vergangenen Jahr von Vertretern der Fraktionen der CDU/CSU, der FDP und der SPD im zweiten Bericht der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre " als Handlungsempfehlungen mitgetragen wurden. Warum diese einmütigen Empfehlungen nicht als Forderungen in die vorliegenden Anträge aufgenommen wurden, ist mir unverständlich.
Ich glaube nicht, daß sich die Situation seither verbessert hat; eher ist das Gegenteil der Fall. Nach wie vor gibt es dringenden Handlungsbedarf für ein internationales Handelsverbot für Giftmüll, Atomtechnologie, Rüstungsgüter sowie für bei uns verbotene Pestizide und Medikamente. Nach wie vor ist die internationale Verschuldungskrise ungelöst und nur partiell entspannt. Dringend muß bei der Bereitstellung von neuem Kapital Vorsorge getroffen werden, daß es nicht zur Neuverschuldung kommt. Finanzhilfen an LLDCs sollten ausschließlich als Zuschüsse vergeben werden.
Nach wie vor mangelt es an weltweit verbindlichen Verhaltenskodizes für transnationale Konzerne. Gerade derartige kontrollierbare und kontrollierte Kodizes könnten ein wichtiges Instrument auf dem Wege zu einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung sein.
Die Bundesregierung sollte auf eine radikale Veränderung der Weltwirtschaftspolitik hinwirken und ihre Initiativen so gestalten, daß sie vom nachsorgenden Krisenmanagement mit geringer Investitionstiefe und lähmenden Handlungstabus hinkommt zu einer Politik, die alle ihre bestehenden und neu zu schaffenden Instrumente in den Dienst von Frieden und Gerechtigkeit, von Menschenrecht und Ökologie überall in der Welt stellt. Dafür und nicht für den Fetisch eines hemmungslosen Wachstums sollten wir die Innovationskraft unseres Landes nutzen.
Ich bitte Sie, die von uns zu Ihrer Erinnerung eingebrachten Punkte zu unterstützen. Sie bieten sinnvolle Alternativen an und könnten zur langfristigen Lösung der Probleme beitragen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Winfried Pinger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Beginn der 90er Jahre ist geprägt durch die Chance des wirtschaftlichen und politischen Neuanfangs in den Staaten Mittel- und Osteuropas und auch in der Dritten Welt. Diese Chance gilt es beherzt wahrzunehmen. Die Herausforderungen in finanzieller Hinsicht sind allerdings derart groß, daß wir die Lösung der weltweiten Probleme nur Schritt für Schritt herbeiführen können. Dabei dürfen wir die Entwicklungsländer nicht zu kurz kommen lassen.Wer aber alles auf einmal will, der muß scheitern. Die notleidenden Staaten der Dritten Welt machen uns die Arbeit nicht immer leicht. Im Gegenteil: Welche gewaltigen Mittel hätten die Industrie- und Entwicklungsländer eingespart, wenn nicht ein eiskaltberechnender Diktator den Golfkrieg heraufbeschworen hätte?
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Dr. Winfried PingerIch füge hinzu: Welche Kriege dieser Art würden demnächst noch stattfinden, wenn die Vereinten Nationen nicht zur Verteidigung eingegriffen hätten.
Welche Kräfte stünden für Entwicklungsaufgaben bereit, wenn in den Entwicklungsländern nicht immer neue Bürgerkriege und brutale Unterdrückung der Menschen die vorhandenen Ressourcen in größtem Umfang vernichten würden?
Welche Wachstumsprozesse könnten schon eingeleitet sein, wenn die herrschenden Eliten in vielen Ländern nicht erfolgreich alle politischen und wirtschaftlichen Reformen unterdrückt und verhindert hätten?Auf diese Faktoren, also auf die eigentlichen Krisenursachen, finden wir in dem SPD-Antrag keine aktuelle und angemessene Antwort. Der Antrag reduziert sich vor allem auf die Forderung nach mehr Geld.
Ich zähle elf Forderungen, die einen massiven Mehrbedarf an Finanzmitteln erfordern. Sie wollen mehr Geld für die Entschuldung.
Sie wollen große finanzielle Mittel für den Umweltschutz.
Sie wollen umfangreiche staatliche Mittel für die Unterstützung des Reformprozesses in den Ländern Osteuropas und der Sowjetunion. Gleichzeitig fordern Sie unter Ziffer 1 Ihres Antrags eine Senkung der Realzinsen und eine dauerhafte Preisstabilität. Diesen Widerspruch müssen Sie erklären.
Natürlich müssen die Maßnahmen zur Bewältigung der Schuldenkrise in der Dritten Welt weitergehen. Auch zusätzliche Mittel sind erforderlich. Es darf jedoch nicht die Illusion erweckt werden, als könne nun alles auf einmal bewältigt werden.
Herr Kollege Dr. Pinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Roth?
Aber gerne. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte.
Ich hätte zu diesem Thema seit Monaten einen Deckungsvorschlag gehabt. Nehmen Sie zur Kenntnis, daß die SPD vorgeschlagen hat, den USA nicht pauschal 17 Milliarden DM für den Golfkrieg zu überweisen.
Sondern? Wolfgang Roth : Das ist es.
Da unterscheiden wir uns in der Tat.
Ich kann nachfassen. Sind Sie wirklich der Meinung, daß ein Entwicklungsetat von 7,8 Milliarden DM richtig ist, während im selben Jahr 17 Milliarden DM an die Amerikaner für den Golfkrieg überwiesen werden? Ist das die richtige Gewichtung im Nord-Süd-Verhältnis?
Herr Kollege, ich habe Ihre Frage jetzt verstanden. Sie meinen also, wir Deutschen hätten uns noch nicht einmal in Form von Geldleistungen an der internationalen Aktion zur Eindämmung dieser Aggression Saddam Husseins beteiligen sollen? Ich meine, wenn wir das abgelehnt hätten und in Zukunft ablehnen würden, würden wir unserer internationalen Verantwortung nicht gerecht.
Ich komme nun zu der aus meiner Sicht entscheidenden Schwäche des Antrags der SPD betreffend die Verschuldung. Ihr Entschuldungsprogramm krankt an einer völligen Einseitigkeit des Lösungsansatzes. Schuldenerlaß und Schuldenreduzierung sind nur zu verantworten, wenn gleichzeitig die Ursachen für die Verschuldung beseitigt werden. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Schuldnerländer muß radikal geändert werden. Das ist die notwendige Kehrseite der Medaille der Schuldenreduzierung. Wer diese Konditionalität nicht aufzeigt, der verlangt, riesige Mittel in ein bodenloses Faß zu schütten.Genau um diese Aussage drücken Sie sich in Ihrem Antrag. Gewiß, Sie verlangen eine Strategie der Strukturanpassung in den Entwicklungsländern. Wenn es aber um die Entschuldung geht, vermeiden Sie die unerläßliche Verknüpfung. Offensichtlich — so sehe ich das — wollen Sie auf gewisse Kreise in unserer Bevölkerung Rücksicht nehmen.Die 'Bundesregierung braucht weder hinsichtlich der Verschuldungsproblematik noch hinsichtlich des Umweltschutzes, und zwar national wie international, Ermahnungen der Opposition. Sie hat in der Vergangenheit ihre Beiträge geleistet und wird das auch in Zukunft tun: im Rahmen der Weltbank und des IWF, aber auch in bilateralen Vereinbarungen. Vorbildlich hat die Bundesregierung die Schulden gegenüber allen ärmsten Ländern erlassen. 35 Entwicklungsländer wurden von Schulden in Höhe von 9 Milliarden DM befreit — eine im internationalen Vergleich respektable Leistung.Jetzt gilt es, neben unserem Beitrag zur Lösung der Probleme in der Dritten Welt immer wieder darauf hinzuweisen, daß Unterentwicklung, Not und Elend fast immer die Folge einer verfehlten Politik in den Entwicklungsländern sind. Diktatorische Regime, die einen Demokratisierungsprozeß durch Unterdrükkung verhindern und damit den notwendigen Wettbewerb der politischen Ideen vereiteln, aber auch Machteliten in den Entwicklungsländern, die immer noch auf Staatswirtschaft und Dirigismus setzen und damit auf die Innovations- und Wachstumspotentiale eines dynamischen Leistungswettbewerbs verzichten, sie müssen in Zukunft wissen, daß sie in eine
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Dr. Winfried Pingerinternationale Isolierung geraten, jedenfalls mit deutscher Hilfe in Zukunft nicht mehr rechnen können.
CDU/CSU und FDP wollen mit ihrem Antrag die Bundesregierung darin bestärken, auf dem Weltwirtschaftsgipfel diesen Standpunkt zu vertreten, um dann zu einem abgestimmten Verhalten der Mitglieder des Gipfels im Interesse der Länder der Dritten Welt zu gelangen. Dann besteht die begründete Hoffnung, daß die 90er Jahre zu einer Dekade des Aufbruchs, des Fortschritts und zum Beginn einer anhaltenden dynamischen Entwicklung in der Dritten Welt werden. In diesem Sinne kann und wird die Bundesregierung ihren Beitrag leisten.Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, zu einer Zwischenbemerkung gemäß § 27 der Geschäftsordnung erteile ich unserem Kollegen Hans-Peter Repnik das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um Nachsicht, daß ich jetzt noch einige Anmerkungen mache. Aber ich glaube, nach den Ausführungen des Kollegen Hauchler ist es wichtig, daß man nicht alles so im Raum stehenläßt. Leider haben wir jetzt, Kollege Hauchler, keine Zeit, Ihre Rede auszudiskutieren.
Ich halte es — und dies ist meine erste Anmerkung — angesichts der Brutalität der Aggression von Saddam Hussein für unangemessen, daß Sie in Ihrem Beitrag zwar die Vereinigten Staaten von Amerika hier geißeln, aber keinen Satz sagen zu den unterdrückten Kurden und zu den unterdrückten Schiiten. Dies wäre angemessen gewesen, und dies, glaube ich, muß hier herausgearbeitet werden.
Kollege Hauchler, ich möchte eine zweite Anmerkung machen. Ich gestehe Ihnen offen ein — wir haben im Ausschuß oft miteinander diskutiert — , daß ich etwas enttäuscht bin. Sie haben vorhin gesagt, wir würden angesichts der Situation hier in Deutschland — Vereinigung, Osteuropa — die Dritte Welt ruhigstellen. Ich glaube, daß es nicht angezeigt ist, daß wir heute in Kassandra machen, sondern ich möchte den Bundeskanzler zitieren, der gesagt hat: Die Entwicklungshilfe wird nicht als Steinbruch dienen für die Finanzierung der deutschen Einheit und der Reformen in Osteuropa. Wir haben dem Taten folgen lassen. 7,9 % reales Wachstum im Haushalt 1991 ist ein Wort. Wir sollten unsere Partner draußen nicht verunsichern, sondern wir sollten sie beruhigen, daß wir zu unseren Solidaritätserklärungen stehen.
Der dritte und letzte Punkt: Sie haben gesagt, Strukturanpassung gehe nicht, und haben auch diesen Ansatz als Fehler gebrandmarkt. Sie wissen, daß wir für eine sozial abgefederte Strukturanpassung sind. Aber wir wissen auch, daß es zu Strukturanpassungen in den Entwicklungsländern dort, wo Fehlstrukturen vorhanden sind, keine Alternativen gibt. Ich möchte doch daran erinnern, daß Strukturanpassung natürlich auch bedeutet: Eingriffe in bestehende Machtstrukturen,
Eingriff in Strukturen von Eliten, die in aller Regel für ihre persönlichen Interessen eintreten und nicht für die Interessen der Ärmsten.
Deshalb brauchen wir Strukturanpassungen in diesen Ländern.
Ich möchte, Herr Kollege Hauchler, einen Mann zitieren, der Ihnen, den Sozialdemokraten, insbesondere ihrem Ehrenvorsitzenden Willy Brandt, nahesteht. Julius Nyerere hat hier in Bonn in Anwesenheit von Willy Brandt sinngemäß folgendes gesagt — ich habe es mir jetzt aus dem Gedächtnis aufgeschrieben — : Eine sozial ausgewogene wirtschaftliche Entwicklung ist ohne eine freiheitliche politische Ordnung, die Wettbewerb nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Politik ermöglicht und die universalen Menschenrechte achtet, nicht zu haben.
Herr Kollege Hauchler, Julius Nyerere ist weiter als Sie in Ihrem Beitrag.
Deshalb muß es Veränderungen geben. Deshalb bitte ich Sie: Entmutigen Sie nicht die Reformer in diesen Ländern, sondern unterstützen Sie sie zum Wohle der Ärmsten der Armen! Das geht nicht, indem wir die elitären Strukturen weiterhin stärken.
Meine Damen und Herren, als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat zu einer Zwischenbemerkung gemäß § 27 nun unser Kollege Ingomar Hauchler das Wort.
Sehr verehrter Herr Staatssekretär, ich muß doch noch auf das erwidern, was Sie jetzt angemerkt haben. Sie haben gesagt, daß ich kein Wort zu den Kurden und den Schiiten gesagt hätte. Wir haben das laufend getan. Das war aber nicht Thema der heutigen Debatte.
Um was es heute ging, war die Vorbereitung des Weltwirtschaftsgipfels. Ich habe gesagt — und ich wiederhole das — : Gewachsene deutsche Verantwortung kann nicht heißen, daß wir vornehmlich über Eingreiftruppen
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Dr. Ingomar Hauchlerund internationale militärische Interventionen nachdenken, sondern daß wir uns viel mehr politisch und auch finanziell für Frieden und Sicherheit durch Entwicklung engagieren.Zum Golfkrieg. Sehen Sie: Nicht die Vereinten Nationen haben diesen Krieg geführt, sondern die Alliierten; ermöglicht durch Beschlüsse der UNO. Das ist ein Riesenunterschied.Ich habe gesagt: Man hat es in kürzester Zeit geschafft, finanziell das Doppelte dessen — als Teilfinanzierung dieses Krieges am Golf — zu organisieren, was der Entwicklungsminister jährlich zur Verfügung hat. Hinsichtlich unserer Ausgaben für militärische Aktionen und für Entwicklungszusammenarbeit herrscht ein Mißverhältnis.Nun sage ich Ihnen noch folgendes — und da kommt die Frage der Kurden und Schiiten ins Spiel — : Die Verfolgungen hätten in dieser Weise gar nicht stattgefunden, wenn es diesen Golfkrieg nicht gegeben hätte.
— Ja, insofern fallen die Hunderttausende von Toten bei den Kurden und bei den Schiiten auch mit in Ihren Verantwortungsbereich.
— Ja, sehen Sie, das regt Sie nun auf. Die Verfolgung, der Tod und die Fluchtbewegungen im Irak waren mit eine Folge dieses schrecklichen Krieges.Das zweite sind die Strukturanpassungsmaßnahmen.
— Herr Präsident, stellen Sie bitte die Ordnung wieder her!
Herr Kollege Hauchler,
für eine Zwischenintervention sind höchstens zwei Minuten vorgesehen. Ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.
Ich komme zum Schluß und sage — ich muß das richtigstellen — : Ich habe ausgeführt — und das ist die Position der SPD —, daß wir selbstverständlich für Strukturanpassungsmaßnahmen in der Dritten Welt sind. Wir sind dort für eine andere Wirtschaftspolitik. Wir verlangen aber auch Strukturanpassung in der Weltwirtschaft, d. h. faire Rahmenbedingungen für die Dritte Welt und
Strukturanpassungsmaßnahmen bei uns selber, beispielsweise einen Subventionsabbau, den Sie nicht schaffen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Bevor wir zur Abstimmung kommen, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß parallel zu dieser Sitzung eine Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion stattfindet, ohne daß die SPD ihr Recht in Anspruch genommen hätte, diese Sitzung zu unterbrechen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/675. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache 12/743 vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Dann ist der Änderungsantrag, der auf Drucksache 12/743 ausgedruckt ist, abgelehnt.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/675. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Wir stimmen jetzt über den vorhin aufgesetzten Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 12/741 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist angenommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir kommen jetzt zu einer Abstimmung, die gestern schon angekündigt worden ist. Es handelt sich um den Zusatztagesordnungspunkt 3 der gestrigen Tagesordnung:Antrag der Fraktion der SPD:Deutsche Hilfe bei der Ölbrandbekämpfung in Kuwait— Drucksache 12/727 —Wer stimmt für den Antrag der Fraktion der SPD? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Gerhard Riege und der Gruppe der PDS/ Linke ListeAufhebung von Abwicklungen nach dem Einigungsvertrag— Drucksache 12/555 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
RechtsausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnung
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2471
Vizepräsident Helmuth BeckerIm Altestenrat ist für die Aussprache eine FünfMinuten-Runde vereinbart worden. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.Meine Damen und Herren, ich will die Aussprache eröffnen.Meine Damen und Herren, ich glaube wir können jetzt fortfahren. Ich wiederhole: Es geht um die Aufhebung von Abwicklungen nach dem Einigungsvertrag. Der Antrag kommt von der Gruppe PDS/Linke Liste.Das Wort hat unser Kollege Dr. Gerhard Riege.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat gesprochen, nachdem viele betroffene Bürger und Kollegen aus den neuen Bundesländern Anträge gestellt haben. Das Bundesverfassungsgericht hat eine differenzierte Aussage zu dem getroffen, was unter dem Begriff „Abwicklung" verstanden und unter diesem Begriff auch praktiziert wird.
Es hat zunächst die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Abwicklungen bejaht und das mit der Aussage verbunden, bei verfassungskonformer Auslegung seien Abwicklungen mit dem Grundgesetz vereinbar. Es hat die Abwicklungen charakterisiert; das war auch nötig. Denn zahlreiche Einrichtungen sind abgewickelt worden bzw. befinden sich in einem Prozeß der Abwicklung, obwohl deren Aufgaben tatsächlich weiter wahrgenommen werden.
Der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts entnehme ich wichtige Aussagen, z. B. die: Die Abwicklung einer Einrichtung setzt ihre Auflösung voraus. Und: Die Auflösung führt jedenfalls dazu, daß die Einrichtung als organisatorische Einrichtung nicht mehr fortbesteht. — So kann etwa eine Überleitung auf einen anderen Hoheitsträger nicht als Auflösung verstanden werden, wenn die Einrichtung tatsächlich erhalten bleibt. Abgewickelt werden — auch so das Bundesverfassungsgericht — nicht mehr benötigte Einrichtungen.
Die Praxis ist anders, jedenfalls in einem beträchtlichen Maße. Unzweifelhaft benötigte Einrichtungen werden als abgewickelt oder abzuwickeln erklärt. Das betrifft z. B. eine ganze Reihe von Fakultäten an allen Universitäten und Hochschulen in den neuen Bundesländern. Das betrifft überhaupt nicht nur Sektionen für Marxismus-Leninismus, die es gab.
Warum ist diese Praxis so? — Nicht etwa, weil man sich von den Einrichtungen trennen will. Kein Mensch stellt in Frage, daß z. B. die rechtswissenschaftlichen Fakultäten natürlich gebraucht werden und ihre Arbeit ununterbrochen fortführen oder daß das für die Sektionen für Philosophie, für Geschichte und andere Sektionen bzw. Fakultäten zutrifft. Das geschieht, weil man sich von Mitarbeitern trennen will. Gewollt ist die Entfernung großer Gruppen von Mitarbeitern aus eindeutig politischen Gründen. Und das soll unter Ausschluß des Arbeitsrechts geschehen, d. h. des Kündigungsschutzes und auch weiterer Rechtsmittel.
In einer großen Veranstaltung an der Jenaer Universität, an der ich teilgenommen habe, wurde von verantwortlicher Seite ganz offen erklärt, individuelle
Entscheidungen würden das gewollte Ergebnis nur erschweren; deshalb müsse man diesen Weg vermeiden.
Ich finde, hier haben wir es mit einem Mißbrauch des Einigungsvertrags zu tun. Das Oberlandesgericht Berlin hat jetzt, wie ich vernommen habe, in zweiter Instanz darüber befunden, daß Abwicklung nur zulässig ist, wenn die betreffenden Bereiche wirklich aufgelöst und nicht bloß umstrukturiert werden.
Ich muß auch zum Ausdruck bringen, daß das Ganze von Ausgrenzungspraktiken nach Kriterien flankiert ist, die rechtsstaatlicher Überprüfung meines Erachtens und nach meiner Überzeugung nicht standhalten, und zwar auch in nicht abgewickelten Institutionen.
Wir sind in dieser Hinsicht weit von dem entfernt, was ich als europäische Normalität bezeichnen würde. Viele Entscheidungen sind in der Verantwortung der Länder gefällt worden. Mir sind keine Beispiele bekannt, daß auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in diesem Bereich reagiert wurde. Ich habe auch den Eindruck, daß durch Zeitablauf Tatsachen geschaffen werden sollen, die kaum noch reparabel sind; denn ein wichtiger Stichtag ist der 31. August dieses Jahres.
Ich will abschließend noch zum Ausdruck bringen, daß es sich hier nicht allein um Probleme von Personen handelt — das ist gewichtig genug — , sondern auch um Gesichtspunkte der Leistungsfähigkeit von Potentialen, die auf wichtigen Gebieten an den Universitäten und Hochschulen echt in Frage gestellt sind, und es wird lange Zeit dauern, sie neu aufzubauen.
Danke.
Das Wort hat nun Frau Kollegin Erika Steinbach-Hermann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag greift die PDS erneut, nämlich zum drittenmal, das Verfassungsgerichtsurteil vom 24. April 1991 auf und begründet damit ihre Forderungen. Jedesmal wird es aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet.Der Bundesregierung wurde in diesem Urteil bescheinigt, daß der Einigungsvertrag in den angesprochenen Punkten verfassungsgemäß ist. Einzig die Kündigung in der Phase, in der eine Arbeitnehmerin unter den Mutterschutz fällt, wurde trotz der Sondersituation der Wiedervereinigung als nicht Rechtens angesehen. Besondere Hilfestellungen wurden für Behinderte, für ältere Arbeitnehmer und Alleinerziehende anempfohlen. Die von Ihnen angesprochenen Abwicklungen sind verfassungsgemäß — Sie können das gar nicht wegwischen —; das hat das Bundesverfassungsgericht ganz eindeutig erklärt.Dem Hinweis des Verfassungsgerichts kommt die Bundesregierung in allen Punkten nach, bzw. sie ist diesen Hinweisen bereits nachgekommen. Mit Ihren Forderungen sind Sie auf dem Holzweg; die treffen so nicht zu. Der Sachverhalt ließe sich noch detailliert
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2472 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Erika Steinbach-Hermannvertiefen. Ich muß Ihnen allerdings sagen: Ich habe nicht die Absicht, ein drittes Mal mit Ihnen, meine Damen und Herren von der PDS, mit den zwei letzten Verbliebenen hier im Saal, dieses Thema zu diskutieren. Ihr Herz für Menschen und für das Staatswesen, für die Menschen in einem Staat, haben Sie doch überhaupt erst seit der Wiedervereinigung entdeckt. Davor haben Sie Hand in Hand mit Ihrem Stasi-Apparat als SED die Menschen unterdrückt, Sie haben die Menschen erniedrigt, Sie haben sie eingesperrt, und Sie haben sie ausgebeutet. Sie sind für mich in solchen Fragen kein Gesprächspartner.
Der nächste Redner ist unser Kollege Fritz Rudolf Körper.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Antrag bezieht sich in der Tat auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Ich sage einmal: Unabhängig davon, liebe Kollegen, wer diesen Antrag gestellt hat, sollte man sich trotz allem sachlich damit auseinandersetzen. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß, insbesondere was die Mutterschaftsrechte anbelangt, das Bundesverfassungsgericht eindeutig gesagt hat, daß es sich hier nicht um einen verfassungskonformen Gegenstand handelt. Ich denke, wir haben die Aufgabe, dies zu regeln.
Was die besondere Lage von Schwerbehinderten, älteren Arbeitnehmern, Alleinerziehenden und anderen in ähnlicher Weise Betroffenen angeht, muß bei der Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst berücksichtigt werden. Auch das ist eine Empfehlung, die das Bundesverfassungsgericht gegeben hat. Ich denke, es ist weitgehend versucht worden, sie in die Praxis umzusetzen.
Wir müssen immer wieder auch beachten, daß sich der Bundesgesetzgeber über die extremen Belastungen der öffentlichen Haushalte und die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Umstrukturierung der öffentlichen Verwaltung in den neuen Bundesländern nicht hinwegsetzen kann. Das ist ein ganz wichtiges Argument des Bundesverfassungsgerichts. Es bezieht sich allerdings weitgehend auf die Regelungen des Mutterschaftsrechts.
Weitere Verstöße gegen das Grundgesetz — auch das muß ich Ihnen sagen — gibt es nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht.
Es wird noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die angegriffenen Regelungen der Abwehr von Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut dienen. Nach dem Beitritt der neuen Bundesländer muß dort möglichst rasch eine moderne, effiziente und nach rechtsstaatlichen Maßstäben arbeitende Verwaltung aufgebaut werden. Diesen Maßnahmen müssen alle künftigen Entscheidungen verpflichtet sein.
Ich will ganz kurz auf die Frage der organisatorischen Einheit eingehen, die in dem zweiten Absatz dieses Antrags aufgegriffen wurde. Diese Regelung wird vom Bundesverfassungsgericht nicht als verfassungsrechtlich zu beanstanden gewertet. Es kommt zu dem Ergebnis, daß der Einigungsvertrag — ich denke, das sollte ich wiederholen — mit hinreichender Bestimmtheit erkennen läßt, wann eine Einrichtung abgewickelt werden darf. Der Einigungsvertrag erwähnt zwar die Auflösung nicht als notwendige Vorstufe der Abwicklung ; das Bundesverfassungsgericht ist jedoch der Auffassung, daß hier die Auflösung nach rechtlichem Sprachgebrauch für die Abwicklung erforderlich ist.
Auflösung bedeutet, daß die Einrichtung als organisatorische Einheit nicht mehr voll besteht. Die bloße Überleitung einer Einrichtung auf einen anderen Hoheitsträger ist kein Auflösungsgrund. — So viel dazu.
Ich denke, es ist dringend notwendig, einiges dazu zu sagen, wie wir unsere öffentliche Verwaltung in den neuen Bundesländern und den kommunalen Gebietskörperschaften weiterentwickeln können. Dazu weise ich auf die Vorschläge der SPD hin.
Wir stimmen einer Ausschußüberweisung zu, um die notwendige gründliche Beratung und Prüfung der Alternativen auf Grund eines Berichts der Bundesregierung zu ermöglichen und vorzunehmen.
Herzlichen Dank.
Der nächste Redner ist der Kollege Burkhard Zurheide.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser etwas kompliziert formulierte Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste ist mehrmals Gegenstand von Beratungen des Plenums gewesen.
Es wird der Eindruck erweckt, das Bundesverfassungsgericht hätte zahlreiche Entscheidungen der Bundesregierung als verfassungsrechtlich zweifelhaft oder gar unzulässig gewertet. Dies ist ganz eindeutig nicht der Fall.
Es geht im Grund um drei Bereiche.
Das Bundesverfassungsgericht hat auf der Grundlage des Einigungsvertrags die Voraussetzungen präzisiert, die für Abwicklungen erforderlich sind. Mir ist keine Abwicklung bekannt, die den Erfordernissen des Bundesverfassungsgerichts nicht entspricht und unzulässig war.
Zweitens geht es um die Entscheidung, daß der Mutterschutz durch die Warteschleifenregelungen nicht berührt werden darf. Daraus hat der Bundesinnenminister mit einem Schnellbrief vom 22. Mai 1991 die erforderlichen Konsequenzen gezogen.
Herr Kollege Zurheide, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Riege?
Bitte. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr.
Ich knüpfe an Ihre Aussage an, daß Ihnen kein Beispiel bekannt ist, wo das nicht zutrifft. Was sagen Sie zu einer Situation, in der der Lehrbetrieb an einer Fakultät über einen Stichtag, sagen wir: 31. Dezember, hinaus unverändert fortgeführt worden ist, in der die Studenten die-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2473
Dr. Gerhard Riegeselben geblieben sind, in der sich gewisse Änderungen im Personal vollzogen haben
durch Weggang und durch Einbeziehung von Kollegen aus den alten Bundesländern, wo also überhaupt nicht die Frage nach der Fortführung des wissenschaftlichen, akademischen Prozesses aufgetaucht ist? Ist das Auflösung oder ist das Fortführung?
Um diese Fälle geht es. So ist der Antrag formuliert.
Herr Kollege, der Eindruck, den dieser Antrag auf uns gemacht hat — das will ich Ihnen ganz deutlich sagen —, ist, daß Sie nun zum drittenmal versuchen, mit diesem Antrag, wenn er umgesetzt wird, genau die alten Seilschaften der SED wieder zu installieren und zu schützen.
Das, was Sie jetzt berichten, ist im Grund ein Beispiel dafür.
In der Tat sind die vom Bundesverfassungsgericht festgelegten Erfordernisse bei Abwicklungen, soweit sie mir bekanntgeworden sind, bisher eingehalten worden.
Ich möchte zu einem weiteren Punkt kommen: Das Bundesverfassungsgericht fordert für Schwerbehinderte ältere Arbeitnehmer, Alleinerziehende und in ähnlicher Weise Betroffene besondere Betrachtungsweisen. Die Vorbereitungen zur Verwirklichung dieser Rechtsauffassung, die die Bundesregierung bindet, sind weitgehend abgeschlossen. Wir haben keinerlei Veranlassung, die Bundesregierung in dieser Beziehung in irgendeiner Weise zu rügen oder zu neuen Entscheidungen aufzufordern.
Es gibt weder Handlungs- noch Entscheidungsbedarf. Zu längeren Erörterungen im Plenum sehen wir in der Tat keine Veranlassung mehr.
Ich schaue gerade auf meine Uhr. Herr Präsident, vielleicht haben Sie die Möglichkeit, mir den Rest meiner Redezeit gutzuschreiben, wenn ich zu einem Thema reden darf, bei dem es sich wirklich lohnt.
Herr Kollege, die Gutschrift kann natürlich leider nicht erfolgen.
Zum Schluß dieser Debatte erteile ich nun dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Innenminister, Herrn Dr. Horst Waffenschmidt, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenige Bemerkungen: Der Antrag der PDS, Nachfolgeorganisation der SED, geht völlig ins Leere. Denn einmal mehr versuchen Sie sich als Anwälte der Menschen aufzuspielen, gegen deren Interessen Sie jahrzehntelang gearbeitet haben. Das muß hier ganz offen ausgesprochen werden.
Wie sind die Fakten? — Um es noch einmal klar zu sagen: Wir haben im Bundesbereich — nur der kann hier anstehen — rund 90 % der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Einrichtungen, die auf uns zugekommen sind, eine weitere Beschäftigungsmöglichkeit gegeben. Ich will noch einmal sagen, daß inzwischen 4 183 Einrichtungen im Bundesbereich in den neuen Bundesländern bestehen. Nur knapp 10 % von ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sind im Wartestand. Das muß man für den Bundesbereich eindeutig klarstellen.
Wenn hier dauernd von Hochschulen und von schulischen und kulturellen Einrichtungen geredet wird, dann müssen Sie endlich einmal lernen: Wir sind nicht mehr in einem zentralistischen Staatswesen; wir haben Länder. Falls etwas zu diskutieren ist, muß das in den Landesparlamenten zur Diskussion gestellt werden. Sie können nicht dauernd den Bundestag für Dinge in Anspruch nehmen, für die der Bund überhaupt nicht zuständig ist.
Ihr Verfassungsverständnis ist noch Ihr altes zentralistisches Verständnis. Dem schließen wir uns nicht an.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Riege?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Ja, gerne.
Herr Staatssekretär, haben Sie bei der Lektüre dieses Antrags zur Kenntnis genommen, daß zwischen der Zuständigkeit des Bundes und der der Länder differenziert worden ist?Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Sie haben in Ihrem Vortrag dauernd von Einrichtungen der Hochschulen und Universitäten gesprochen. Die gehören eindeutig zum Zuständigkeitsbereich der Bundesländer.Ich muß Ihnen sagen: Wir haben auf der Bundesebene nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gehandelt, was hier schon angesprochen worden ist. Von Mißbräuchen bei Abwicklungsentscheidungen kann überhaupt nicht die Rede sein; hier ist nichts bekannt.Auch die Auflagen, die im Hinblick auf mutterschutzrechtliche Konsequenzen und im Hinblick auf die Behinderten gemacht wurden, sind zum Anlaß genommen worden, von seiten des Bundes noch einmal tätig zu werden, um allen in der notwendigen Weise gerecht zu werden.Lassen Sie mich zum Abschluß sagen: Ich möchte Sie wirklich auffordern, nicht immer wieder Möglichkeiten im Deutschen Bundestag wahrzunehmen, um sich in einer Weise aufzuspielen, wofür Sie auf Grund all dessen, was in Ihrem Bereich mitzuverantworten
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2474 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidtist, nicht die Legitimation haben. Ich möchte für die Mehrheit des Hauses ganz eindeutig in Anspruch nehmen, daß wir uns um die Menschen bemühen, daß wir sie nicht ausgrenzen. Das lehrt der große Aufwand, der nicht nur im finanziellen, sondern auch im persönlichen Engagement vorgenommen wird. Ich erinnere allein an die großen Möglichkeiten zur Qualifizierung. Ich erinnere daran, was an AB-Maßnahmen und an zusätzlichen Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten ansteht.Ich will zusammengefaßt sagen: Die Bundesregierung bemüht sich, den Interessen der Mitbürgerinnen und Mitbürger in den neuen Bundesländern in einer Weise gerecht zu werden, wie das jahrelang —40 Jahre! — unter Ihrer Verantwortlichkeit leider versäumt worden ist.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/555 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. — Ich höre und sehe keinen Widerspurch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Als letzten rufe ich Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Köppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vollständige Überprüfung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung auf mögliche Stasi-Kontakte
— Drucksache 12/586 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Fünfminutenrunde vereinbart worden. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat unsere Kollegin Ingrid Köppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesen Tagen muß im öffentlichen Dienst eine große Zahl von Bewerberinnen und Beschäftigten hochnotpeinliche Fragebögen über ihr Vorleben ausfüllen. Gleichzeitig dürfen ehemalige Mitarbeiter der Stasi unentdeckt bzw. ohne Überprüfung im Deutschen Bundestag und in der Bundesregierung sitzen. Sie dürfen über Gesetze, die die Bevölkerung unmittelbar betreffen, und über die Politik dieses Staates entscheiden.
Wir meinen: Ehemalige Mitarbeiter der Stasi müssen ihren Platz im Berufsleben und in der Gesellschaft finden. Diese Debatte muß dringend intensiviert werden, wie wir bereits hier beantragt haben. Aber ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit sollen nicht an Schulen und Hochschulen, als Richter oder Staatsanwälte tätig werden, nicht in führenden Positionen von
Wirtschaft und Verwaltung und auch nicht — das müßte doch selbstverständlich sein — in Regierungen und Parlamenten.
Aber, Tatsache ist: Ehemalige Stasi-Mitarbeiter sitzen auch als Vertreter des Volkes in den Regierungen und Parlamenten. Sie waren unverschämt genug, sich tatsächlich als Kandidaten aufstellen und wählen zu lassen. Sie genießen Ansehen und Privilegien. Sie verharren auf ihren Posten, als wäre nichts geschehen. Daß Menschen mit einem solchen Vorleben tatsächlich zu einer derartigen Ungeheuerlichkeit fähig sind, mag manchen kaum faßbar erscheinen. Wir können es aber nicht leugnen oder verdrängen. Es ist so, und es sind keine skurrilen Einzelfälle.
Die bisherigen Ermittlungen und Überprüfungen in den Parlamenten Ostdeutschlands haben ergeben: In der Volkskammer war die Stasi mit über 14 % aller Abgeordneten vertreten. In den ostdeutschen Landtagen ist sie heute stets mit etwa 10 % dabei. Mal etwas weniger, meist aber sogar mehr.
Es ist, glaube ich, keine unzulässige Spekulation, wenn ich hiernach vermute: auch hier im Bundestag befinden sich ehemalige Stasi-Mitarbeiter. Wenn wir dies weiterhin schweigend hinnehmen, meine Damen und Herren, wenn wir dazu nicht hier und jetzt energisch nein sagen, wenn wir dies nach und nach als parlamentarische Normalität akzeptieren, dann ist auch dieses Haus reif zur sofortigen Abwicklung.
Frau Kollegin Köppe, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Frau Kollegin Köppe, da Sie nun eine Vermutung — Spekulation wie Sie es sagen — in den Saal hineinschleudern, unter uns säßen, möglicherweise auch in der Bundesregierung, ehemalige Mitarbeiter der Stasi, frage ich Sie: Haben Sie Anhaltspunkte, um diese Vermutung zu konkretisieren? Wenn ja, würden Sie dies diesem Haus gegenüber tun?
Ich habe bei meinen Aussagen die Wahrscheinlichkeitsrechnung zugrunde gelegt. Ich habe Ihnen vorher Zahlen genannt, 10 % durchschnittlich in den ostdeutschen Landtagen, und ich habe gesagt, daß ich es daraufhin vermute. Ich habe also keine Behauptung aufgestellt.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Aber ja.
Nur eine kurze Nachfrage. Ich gehe also recht in der Annahme, daß diese Vermutung von Ihnen nicht weiter konkretisiert werden kann?
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Nein, das kann ich nicht. Dazu müßte eine Überprüfung stattfinden. Darüber sprechen wir gerade.
Ich meine, daß den Bürgerinnen und Bürgern draußen im Land immer wieder gesagt wird: Marode Betriebe haben keine Existenzberechtigung; die müssen weg.
Daß die zur Zeit in diesem Haus geltende Überprüfungsregelung, die bekanntlich die Zustimmung der Betroffenen voraussetzt, Makulatur ist, wissen wir alle. Meines Wissens ist hiernach noch kein einziges Verfahren zustande gekommen. Eine Zustimmung wurde nie erteilt. Sie kann auch folgenlos verweigert werden. Und selbst auf eigenen Antrag hin passiert nicht unbedingt etwas. Wie Ihnen bekannt ist, hat das Präsidium im Fall der gegen mich erhobenen Vorwürfe nichts unternommen.
Doch ich frage Sie: Wie lange und worauf wollen wir noch warten mit der überfälligen Überprüfung aller Bundestags- und Regierungsmitglieder? Ich sage: aller Mitglieder, gleich, ob Ost- oder Westdeutschland. Denn wir können doch nicht so tun, als hätte die Stasi in den Parteien und Regierungen im Westen keine Mitarbeiter gehabt. Ich erinnere beispielhaft an den Hamburger Bürgerschaftsabgeordneten Löffler, dem die kürzlich vorgelegte Anklageschrift 16 Jahre Stasi-Mitarbeit parallel zu seinem Mandat vorwirft.
Ich frage: Worauf warten wir noch? Etwa darauf, daß uns Medien in Fortsetzungsberichten die StasiVergangenheit bestimmter Abgeordneter Stück für Stück vorhalten? Wie stünde es dann mit dem Ansehen des Bundestages? Denn egal, ob die Stasi-Leute in diesem oder in einem anderen Parlament, in dieser oder in einer anderen Regierung sitzen, eines können diese Menschen doch nicht ernstlich glauben, nämlich unerkannt davonzukommen und daß sie einer Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit ausweichen könnten.
Deshalb ist jetzt bei weiteren Beratungen Beeilung angesagt. Dabei haben wir uns auch intensiv über die Ausgestaltung von Überprüfungsverfahren und möglichen Konsequenzen bei positivem Prüfungsergebnis zu unterhalten. In unserem Antrag haben wir dies bewußt noch offengelassen, um in dieser ernsten Angelegenheit unsere Offenheit für Vorschläge und Bemühen um Konsensfindung deutlich zu machen.
Über eines sollten wir uns schon heute einig sein: Wenn wir dieses Parlament und diese Regierung selbst ernst nehmen wollen und uns daran gelegen ist, dem ständigen Vertrauensverlust in der Bevölkerung entgegenzuwirken, dann müssen wir hier eine Überprüfung beschließen und sodann öffentlich bekennen, ob und welche Abgeordneten und Regierungsmitglieder früher für die Staatssicherheit gearbeitet haben.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Dr. Jürgen Rüttgers.
Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, an einem Punkt kann man Frau Kollegin Köppe recht geben: Es gibt eine große Hypothek aus der Vergangenheit, die uns alle belastet. Ich finde auch, daß der Gedanke, daß es Stasi-Täter im Parlament gibt, ein unerträglicher Gedanke ist. Ich meine, daß vor allem für Bürger und Abgeordnete, die persönlich Opfer dieser verbrecherischen Organisation wurden, ein solcher Gedanke völlig unerträglich ist.Aber ebenso bedrückend ist ein Klima von Verdächtigungen und Mutmaßungen, denen manche oft nur deshalb ausgesetzt sind, weil sie im Machtbereich der SED und der Stasi gelebt haben.Der Antrag der Gruppe Bündnis 90 ist sicher ein Versuch, dieses Klima der Angst und Unsicherheit einzugrenzen. Danach sollen alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages und alle Mitglieder der Bundesregierung überprüft werden. Nun mag es ja verlockend erscheinen, mit einem Befreiungsschlag Klarheit zu schaffen und Mißtrauen zu beseitigen. Aber ich habe Zweifel, ob dieser Weg zum Ziel führt.Wir alle haben in den vergangenen Wochen und Monaten erlebt, daß Stasi-Akten vernichtet und gefleddert, aber auch gefälscht und ergänzt wurden. Wir wissen, daß bisher nur ein Teil der Akten zugänglich ist und daß diese Akten in vielen Fällen weder eindeutig belasten noch eindeutig entlasten können. Ich frage mich also: Würde diese generelle Untersuchung nicht mehr Zwielicht als Klarheit zur Folge haben? Es hat doch einen guten Grund, daß bis heute in keinem Bereich die Regelanfrage bei der Behörde des Sonderbeauftragten eingeführt worden ist, auch nicht für das Parlament.Nun gebe ich Ihnen zu, Frau Kollegin Köppe, daß es klare Fälle gibt, auch klare Fälle hier im Parlament, wie etwa die Fälle von Stasi-Vorgesetzten, die heute hier Mitglieder des Bundestages sind. Das sind nicht kleine Befehlsempfänger, sondern sogar mächtige Befehlshaber der Stasi, und sie sind trotzdem Abgeordnete. Da gibt es keine Vermischung von Täter und Opfer. Ich kenne viele, denen diese Situation unerträglich ist.Wir haben im Deutschen Bundestag im Dezember 1990 eine Regelung beschlossen, die seitdem in Kraft ist, wonach ermittelt, wonach der Sonderbeauftragte beteiligt werden kann. Auch ich weiß, daß diese Regelung nicht voll befriedigt. Aber, ich glaube, das gilt auch für den Antrag, der heute hier zur Debatte steht.Es gibt eine dritte Lösung in dem gemeinsamen Entwurf der drei Fraktionen dieses Hauses und vom Bündnis 90 für ein Stasi-Unterlagen-Gesetz. Danach können Abgeordnete nur mit ihrer Kenntnis, aber ohne ihre Zustimmung und ohne besonderen Anlaß überprüft werden. Es gehört nach meinem Verständnis zur demokratischen Kultur, wenn gerade Abgeordnete besonders redlich und sorgfältig mit der eigenen Vergangenheit umgehen. Aber wenn diese per-
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Dr. Jürgen Rüttgerssönliche Verantwortung und das individuelle Gewissen versagen, dann gibt es, glaube ich, keine Patentrezepte für die Überprüfung.Jedoch gibt es Orientierungspunkte. Dazu gehört, daß Abgeordnete eine besondere Verantwortung tragen, aber auch kein Freiwild sind. Es wäre ein später Sieg des Stasi-Apparates, wenn die Akten dieser Organisation als politisches oder persönliches Munitionsdepot benutzt würden und wenn unter dem Anspruch der Wahrheitssuche Schlammschlachten geführt würden.Dazu gehört, daß wir selbst im Stasi-Zusammenhang die Beweislast nicht faktisch umkehren können.Schließlich glaube ich, daß das Parlament diese Frage nicht an eine Behörde oder ein Gremium delegieren kann, sondern in eigener Verantwortung bewältigen muß. Dabei dürfen keine neuen Gräben aufgerissen werden. Deshalb darf es, gleich zu welcher Lösung wir kommen, keine Unterscheidung zwischen sogenannten unbelasteten Abgeordneten aus dem Westen und grundsätzlich verdächtigen Abgeordneten aus dem Osten Deutschlands geben.
Herr Kollege Dr. Rüttgers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Poppe?
Gern.
Herr Kollege, meinen Sie nicht, daß es eher ein später Sieg für die Stasi wäre, wenn hier unerkannt Mitarbeiter des ehemaligen Stasi-Apparates im Bundestag säßen?
Herr Kollege Poppe, ich glaube, Sie konnten meinen Ausführungen entnehmen, daß ich versuche, sehr behutsam an die Sache heranzugehen, und gerne bereit bin, mit Ihnen auch eine nachdenkliche Diskussion in den Ausschüssen darüber zu führen, welcher Weg der richtige ist. Aber dann kann es nicht richtig sein, daß Sie mit dem Weg, den Sie aufzeigen, nun von Anfang an den Anspruch erheben, daß dies der einzige richtige, saubere Weg ist.
Die anderen Argumente muß man genauso ernsthaft prüfen und gemeinsam genauso ernsthaft bedenken. Dazu lade ich Sie herzlich ein. Wir werden dann eine Lösung finden, genauso wie wir sie beim Stasi-Unterlagen-Gesetz gefunden haben.
Mir geht es darum, daß wir in dieser Frage nicht dazu kommen, daß die Hälfte des Volkes zum Ankläger und die andere Hälfte des Volkes zu Beschuldigten gemacht wird. Deshalb, meine ich, sollten wir in den Beratungen aufeinander zugehen.
Vielen Dank.
Als nächste hat Frau Kollegin Ulla Jelpke das Wort.
Meine Damen und Herren! Grundsätzlich stimmt die PDS/Linke Liste einer Überprüfung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu. Die Abgeordneten der PDS/Linke Liste sind der Auffassung, daß es im Ausschuß Gelegenheit geben wird, sich mit den Kriterien auseinanderzusetzen und zu verständigen. Nötig erscheint die weitergehende Berücksichtigung des durch die Volkskammer der DDR verabschiedeten Gesetzes zur Überprüfung auf Mitarbeit beim Stasi.
Frau Kollegin Jelpke, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Köppe zu?
Ja.
Wenn die PDS unserem Antrag so grundsätzlich zustimmt, würde mich sehr interessieren, warum der Kollege Modrow bis zum heutigen Tag nicht sein Einverständnis zur Überprüfung auf ehemalige Stasi-Verbindung gegeben hat.
Soweit ich weiß, hat er seine Zustimmung gegeben.
— Soweit ich weiß, ist es aber so, daß er vom Präsidium gegenwärtig überprüft wird.
— Doch, es ist so. Ich weiß definitiv, daß zwei Mitglieder unserer Gruppe überprüft werden und daß sie auf einen Bescheid warten. Das hat übrigens Herr Waffenschmidt — ich glaube, er war es — neulich hier einmal berichtet,
als es in einer Fragestunde darum ging, wie der Stand sei. Meine Information ist jedenfalls die, daß er zugestimmt hat.
Wir können das noch einmal nachprüfen. Aber meiner Meinung nach ist es so.
Gestatten Sie, Frau Kollegin Jelpke, eine Frage des Abgeordneten Dr. Waffenschmidt?
Frau Kollegin, sind Sie bereit, zuzugeben, daß ich in jener Fragestunde, die Sie erwähnen, darauf verwiesen habe,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2477
Dr. Horst Waffenschmidtdaß sich das Präsidium in seiner Souveränität mit dieser Sache befaßt und daß das keine Aufgabe der Bundesregierung ist?
Ja, aber das war keine Frage.
— Ich erinnere mich nur, daß Herr Waffenschmidt damals auf diese Frage hier geantwortet hat.
Ich habe nur erwähnt, daß er hier diese Frage beantwortet hat. Damit ist keineswegs gesagt, daß sich die Bundesregierung damit beschäftigt. Ich habe vorher selbst gesagt, das Präsidium habe sich damit beschäftigt, und ich wüßte das.
Ich fahre mit meinem Beitrag fort. — Nötig erscheint die Berücksichtigung des Volkskammer-Gesetzes deshalb, weil die letzten Monate gezeigt haben, daß auch hier im Hause ein undifferenzierter Umgang deutlich wird und daß wir immer wieder damit konfrontiert sind, obwohl gegen uns keinerlei Verdächtigungen vorliegen. Auch wird immer wieder versucht, unsere Leute aus dem Westen, als Stasi-Leute zu denunzieren. Die Abgeordneten der Volkskammer — ich nenne sie als Vertreterin derjenigen, die der Repression durch die Stasi ausgesetzt waren — waren bereit, eine weitaus größere Differenzierung vorzunehmen, als hier im Antrag vom Bündnis 90/GRÜNE zu spüren ist.
Darüber hinaus würden wir im Ausschuß gerne darüber beraten, daß unserer Meinung nach mit diesem Antrag die Chance verspielt wird, den Einfluß westlicher und östlicher Geheimdienste auf die Parlamentsarbeit zu ermitteln. Wie nötig das wäre, zeigt das Beispiel des Berliner Abgeordnetenhauses. Innensenator Pätzold gab eine Untersuchung in Auftrag, die ergab, daß das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz im Zeitraum von neun Jahren 65 Agenten gegen die Alternative Liste eingesetzt hatte. Die Mitgliedsbeiträge wurden vom Verfassungsschutz gezahlt.
Frau Kollegin Jelpke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?
Ja.
Bitte, Herr Kollege Weiß.
Frau Kollegin, sind Sie nicht der Meinung, daß es angesichts der Tatsache, daß es auch nach ihrem jüngsten außerordentlichen Parteitag in führenden Gremien ihrer Partei Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes gibt, angemessener wäre, wenn Sie heute auf einen Redebeitrag verzichtet hätten?
Herr Kollege, ich muß Ihnen ganz generell zu diesem Punkt einmal folgendes sagen: In jeder Bundestagssitzung kommt mindestens zehnmal ein solch dummer — sage ich einmal — , wirklich dummer Beitrag vor.
— Sie von der CDU haben sich da bisher besonders dumm verhalten, finde ich. Das habe ich Ihnen heute morgen schon einmal gesagt. Man kann nicht auf der einen Seite verlangen, daß man sich daran beteiligt, daß die Geschichte aufgearbeitet wird, und auf der anderen Seite permanent ausgrenzen. Das ist im übrigen zum größten Teil auch die Politik des Bündnisses 90/GRÜNE — leider muß ich sagen; denn ich glaube nicht, daß dadurch irgend etwas verändert wird, ganz im Gegenteil. Ich sehe jedenfalls nicht, daß man sich hier wirklich um eine Auseinandersetzung bemüht. — Solche Fragen — das möchte ich im übrigen als Empfehlung geben — sollten Sie in Zukunft unterlassen. Ich finde es jedenfalls ziemlich daneben.
— Den Zwischenruf habe ich nun gar nicht verstanden. Aber ich denke, ich fahre in meiner Rede fort, weil es hier offenbar keinen Bedarf nach einer wirklichen Auseinandersetzung gibt; sonst würde das Ganze etwas qualifizierter und vor allen Dingen auch sachlicher vonstatten gehen.Als zweiten Punkt würden wir im Ausschuß folgendes noch gerne beraten: Wir verstehen nicht ganz, warum ein früherer Ansatz der Bürgerbewegung im Antrag des Bündnis 90/GRÜNE nicht angewendet werden soll. Im Rahmen von Sicherheitsüberprüfungen sollten damals offizielle und inoffizielle Tätigkeiten für das MfS, AfNS oder für andere Nachrichtendienste festgestellt werden. Dieses Ziel würde die tatsächlichen engen Grenzen einer vollständigen Aufklärung ganz klar machen. Eine vollständige Aufklärung gäbe es nämlich allein schon deshalb nicht, weil die Koordinierungsstelle der Geheimdienste selbst in der Regierung sitzt.Der nächste Punkt wäre: Die vollständige Überprüfung findet dort ihre Grenzen, wo sie der BND und VS gezogen haben. Ich habe heute morgen schon darauf hingewiesen, daß die Unterlagen, die die Ostarbeit und die Stasi-Kontakte westdeutscher Dienste betreffen, von den Diensten selber aus dem Verkehr gezogen worden sind. Diese Daten stehen einer Überprüfung nicht zur Verfügung, es sei denn, sie werden gezielt im Eigeninteresse lanciert. Der Wahrheit dient das jedenfalls nicht.
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2478 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991
Ulla JelpkeIch danke.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ging hier um die Frage, nach welchen Kriterien wir in diesem Hause bisher untersuchen. Ich will nur daran erinnern — Herr Kollege Rüttgers und andere haben schon darauf aufmerksam gemacht — , wir haben im Dezember des letzten Jahres einen Beschluß gefaßt, was das Präsidium nach den Verhaltensregeln tun soll. So wird im Moment verfahren; es wird nicht mehr und nicht weniger getan. Etwas anderes können wir nur durch Änderungen erreichen. Die Regeln, nach denen wir hier verfahren, haben wir uns selber gegeben. Nach unseren Verhaltensregeln ist auch nichts mit Selbstanzeigen zu machen.
Nun hat als nächster unser Kollege Manfred Richter das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will den inhaltlichen Beratungen in den Ausschüssen nicht im Detail vorgreifen, sondern nur einige grundsätzliche Anmerkungen machen. Sie haben es eben selbst erwähnt, Herr Präsident: Soweit dies in den Verhaltensregeln vorgesehen ist, muß der Bundestag ermitteln, wenn Vorwürfe erhoben oder Behauptungen aufgestellt werden, die geeignet sind, das Ansehen eines Mitgliedes des Deutschen Bundestages zu beeinträchtigen oder das Ansehen des Bundestages insgesamt zu beschädigen. Strafrechtlich relevante Belange sind Angelegenheit der Gerichte.
Die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit darf allerdings vor den Toren des Bundestages nicht haltmachen. Aber eines muß klar sein: Ermittlungen sind grundsätzlich kein politisches Instrument. Auch für den betroffenen Parlamentarier muß das Gebot des fairen Verfahrens gelten. Ermittlungen müssen sich auf die maßgebenden äußeren und inneren Tatsachen und Vorgänge beschränken. Die Öffentlichkeit und der Betroffene haben einen Anspruch auf bestmögliche und auf objektive Aufklärung des Sachverhalts.
Mit der Regelung, die wir jetzt finden wollen, müssen die bestehenden Unsicherheiten beseitigt werden und in einem transparenten rechtsstaatlichen Verfahren alle Fakten ohne Wertung und ohne Vorverurteilung offengelegt werden. Mit voreiligen Verdächtigungen ist weder dem Parlament noch der Öffentlichkeit gedient.
Es liegt auf der Hand, daß wir in den Ausschüssen auch die Frage der Zuständigkeit eindeutig werden klären müssen. Fest steht, daß es ein parlamentarisches Gremium sein muß, das einerseits die notwendige Transparenz sicherstellt und andererseits den Beschuldigten vor Bloßstellungen und Diffamierungen schützt, und daß der Abgeordnete auch nicht in der freien Ausübung seines Mandats behindert werden darf.
Heute morgen haben wir in erster Lesung den Entwurf eines Stasi-Unterlagen-Gesetzes beraten. Damit sollen die Voraussetzungen für eine juristische, persönliche und historische Aufarbeitung und vor allem die Voraussetzungen geschaffen werden, um Hinweisen des Sonderbeauftragten der Bundesregierung nachgehen zu können. Das heißt, auch der Deutsche Bundestag kann jetzt damit rechnen, fundierte Hinweise, sofern welche vorliegen, zu erhalten. Die Notwendigkeit, daß über die im Dezember des vergangenen Jahres beschlossene Regelung hinaus weitergehende Regelungen getroffen werden müssen, wird von niemandem bestritten. Die Überprüfungsmechanismen haben nicht so gegriffen, wie es eigentlich notwendig wäre.
Bei der Herstellung der notwendigen Klarheit geht es aber nicht nur um den unmittelbar persönlichen Bereich des beschuldigten Abgeordneten, sondern das Parlament in seiner Gesamtheit ist betroffen. Es muß auch dem berechtigten Informationsinteresse der Öffentlichkeit Rechnung getragen werden, und zugleich müssen diese Regelungen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerecht werden. Es geht also um das Austarieren teilweise gegenläufiger, aber jeweils für sich berechtigter Anliegen — wahrlich keine leichte Aufgabe.
Eines kann aber keinesfalls möglich sein: Es darf nicht auf eine Unterscheidung zwischen Abgeordneten aus den neuen Bundesländern und Abgeordneten aus den alten Bundesländern hinauslaufen.
Denn wir sind nicht nur ein Volk, sondern wir sind auch ein Parlament mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten für alle Abgeordneten.
Eigentlich, meine Damen und Herren, müßte jeder Parlamentarier ein eigenes Interesse daran haben, sich bei der Überprüfung auf mögliche Stasi-Kontakte allen Fragen zu stellen.
— Sie haben recht. — Daß das aber keineswegs der Fall ist, sieht man an einigen Beispielen aus den Landtagen der östlichen Bundesländer.
Um so größer ist die Verantwortung, die wir bei den Ausschußberatungen des Deutschen Bundestages tragen. Ich meine, wir alle sollten uns ihr ernsthaft stellen.
Meine Damen und Herren, als letzter Redner hat der Kollege Dieter Wiefelspütz das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Mögliche Verbindungen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Juni 1991 2479
Dieter Wiefelspützvon Mitgliedern des Bundestages zum Ministerium für Staatssicherheit der DDR empfinden eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen als ein ganz drängendes Problem. Das Präsidium dieses Hauses beschäftigt sich mit diesem Thema. Der Geschäftsordnungsausschuß hat bereits in seiner zweiten Sitzung am 21. Februar 1991 mit der Diskussion dieser Problematik begonnen. Einzelne Kolleginnen und Kollegen haben ihre Gedanken dazu bereits vorgetragen, zuletzt in der Haushaltsdebatte Kollege Rüttgers mit einem bedenkenswerten Beitrag.Der vorliegende Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN wird die Diskussion ebenfalls voranbringen. Vor allem aber die Erfahrungen in den Parlamenten der neuen Bundesländer werden sich für uns als besonders hilfreich erweisen. In diesen Parlamenten liegen erste Zwischenergebnisse vor. Sie wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß eine beträchtliche Anzahl von Landtagsabgeordneten inzwischen auf ihr Mandat verzichtet hat; weitere dürften folgen. Heute ging eine Tickermeldung über unsere Tische, wonach Herr Gauck der Auffassung ist, daß bis zum Sommer dieses Jahres alle Überprüfungen der Kolleginnen und Kollegen in den neuen Landtagen abgeschlossen sein werden.Nun sind Vorverurteilungen strikt unzulässig. Aber würde es jemanden überraschen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn zehn, fünfzehn oder gar zwanzig Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses, des Deutschen Bundestages, so eng mit dem Repressionsapparat der DDR, insbesondere der Stasi, verbunden waren, daß den Betroffenen ein Verzicht auf das Mandat nahegelegt werden müßte? Erwarten die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes nicht geeignete Maßnahmen, um diejenigen zu enttarnen, deren Taten mit dem Amt eines Abgeordneten nicht vereinbar sind? Gelten für Beamte, Angestellte, Arbeiter und Landtagsabgeordnete in den neuen Ländern andere Maßstäbe als für uns, für die Mitglieder des Bundestages?Die letzte Frage so zu stellen heißt, sie praktisch zu verneinen. Allein es sei der Hinweis erlaubt, daß über die Eignung einer Person zum Abgeordneten kein parlamentarisches Gremium, schon gar nicht ein administratives Gremium, sondern ausschließlich unser Souverän, die Wählerinnen und Wähler, entscheidet. Die zentrale Vorschrift des Art. 38 des Grundgesetzes garantiert die Unabhängigkeit des Abgeordneten. Art. 38 schützt den Abgeordneten nicht nur vor Eingriffen in die ausschließlich seiner Gewissensentscheidung unterworfenen Teilnahme am parlamentarischen Willensbildungsprozeß. Sie sichert auch den Bestand des Mandats gegen einen unfreiwilligen Verlust und schließt grundsätzlich Maßnahmen zur Herbeiführung eines Mandatsverlusts aus. Es gilt also, überzeugende Antworten zu finden, und zwar möglichst bald, Antworten, die vor der Verfassung Bestand haben, aber auch dem Gebot der Selbstreinigung unseres Parlaments Folge leisten.Meine Fraktion hat noch keine abschließende Meinung. Nachdem ich aber die Diskussionsbeiträge heute in der ersten Runde von Ihnen, Frau Köppe, als Vertreterin des Antragsstellers, von Herrn Rüttgers, von Herrn Richter gehört habe, habe ich den Eindruck, daß wir uns im Verlaufe der kommenden Monate werden einigen können. Wenn ich einmal versuche, zu skizzieren, wie sich unsere Willensbildung in der SPD-Fraktion entwickeln wird, dann will ich mit aller Vorsicht einmal folgendes sagen: Bei uns zeichnet sich ab, daß wir den bereits erwähnten vorläufigen Beschluß des Bundestages vom 20. Dezember 1990, der praktisch unsere Verhaltensregeln ergänzt, dauerhaft nicht für tragbar halten. Die Diskussion in meiner Fraktion tendiert gegen eine Zwangsüberprüfung aller Mitglieder des Bundestages. Es gibt aber zunehmend Stimmen in unserer Fraktion, die sich für eine Überprüfung auf freiwilliger Basis aussprechen, also auch in den Fällen, in denen keine konkreten Verdachtsmomente vorliegen. Das sind beispielsweise solche Fälle wie der von Ihnen, Frau Köppe. Sie haben einen Antrag gestellt, und das Präsidium kann auf der Grundlage der geltenden Verhaltensregeln keine Überprüfung vornehmen lassen, weil es in Ihrem Fall bislang keine konkreten Verdachtsmomente gibt.
— Gut. — Wir würden dies allerdings auch in Ihrem Sinne zufriedenstellend erledigen können, wenn der bloße Antrag des Abgeordneten ausreicht, um eine Überprüfung vornehmen zu lassen. In den Fällen, in denen hinreichend konkrete Verdachtsmomente vorliegen, sollte eine Überprüfung auch gegen den Willen des betroffenen Abgeordneten möglich sein. So viele Stimmen inzwischen in der SPD-Bundestagsfraktion. Allerdings müssen es hinreichend konkrete Verdachtsmomente sein. Ein Abgeordneter wird nicht dadurch zum Schuft, daß er in den Deutschen Bundestag gewählt worden ist. Einen generellen Vorbehalt halte ich also nicht für angemessen.Allgemeine Meinung in meiner Fraktion ist, daß ausschließlich ein parlamentarisches Gremium, also ein Gremium des Bundestages, die Überprüfung verantworten muß.Ich bin gerade auch nach der Debatte heute abend sehr zuversichtlich, daß wir noch in diesem Jahr eine Regelung finden werden, die mit breiter Mehrheit in diesem Hause verabschiedet werden kann.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich beende die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/586 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. Juni, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.