Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne unsere erste volle Arbeitssitzung hier in Berlin und heiße Sie ganz herzlich willkommen. Ich hoffe, daß Sie, obwohl wir ja noch nicht Arbeitsfähigkeit hergestellt haben, mit den Bedingungen zurechtkommen.Ich möchte auf der Ehrentribüne den Präsidenten der Nationalversammlung der Republik Nicaragua, Herrn Alfredo Cesar Aguirre, mit seiner parlamentarischen Delegation ganz herzlich begrüßen.
Wir freuen uns, daß Sie uns hier in Berlin in der parlamentarischen Arbeit begleiten können. Sie unterstreichen mit Ihrer Anwesenheit die engen freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern und Völkern. Wir wünschen Ihnen einen guten Aufenthalt in Berlin und in Bonn.Ich habe noch einige amtliche Mitteilungen zur Verlesung:Meine Damen und Herren, der Herr Kollege Spilker feierte am 3. Mai seinen 70. Geburtstag. Ich gratuliere ihm nachträglich sehr herzlich im Namen des Hauses.
Der in der 21. Sitzung des Bundestages bereits überwiesene Entwurf zur Änderung des Bundesarchivgesetzes — Drucksache 12/288 — soll nachträglich dem Ausschuß für Frauen und Jugend zur Mitberatung überwiesen werden.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt.Vorlagen zu Tagesordnungspunkt 5:a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Weiterentwicklung des Grundgesetzes zur Verfassung für das geeinte Deutschland— Einsetzung eines Verfassungsrates — Drucksache 12/415 —b) Beratung des Antrags der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Vom Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verf as-sung— Einrichtung und Aufgaben eines Verfassungsrates — Drucksache 12/563 —c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl H. Fell, Dirk Fischer , Siegfried Hornung, weiterer Abgeordneter und der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Einsetzung eines Gemeinsamen Verfassungsausschusses — Drucksache 12/567 —1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zu Äußerungen des Bundeswirtschaftsministers zur Aufkündigung des Jahrhundertvertrages2. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Rehabilitierung der Opfer des SED-Unrechtsstaates — Drucksache 12/570 —3. Erste Beratung des von der Abgeordneten Dr. Barbara Höll und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes — Drucksache 12/483 —4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lage von Empfängerinnen und Empfängern von Vorruhestands- bzw. Altersübergangsgeld in den neuen Bundesländern — Drucksache 12/484 —Zugleich soll von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden, soweit dies bei einzelnen Punkten der Tagesordnung erforderlich ist. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf: Überweisung im vereinfachten Verfahren:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Dezember 1989 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Ungarn über den Luftverkehr— Drucksache 12/341 —Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehrb) Erste Beratung eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Oktober 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen— Drucksache 12/460 —
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1662 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthÜberweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft Auswärtiger Ausschußc) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht des Bundesministers für Post und Telekommunikation über die Erschließung des Zonenrandgebietes im Bereich des Post- und Fernmeldewesens für die Jahre 1988 und 1989— Drucksache 12/203 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Post und Telekommunikation
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie auch damit einverstanden? — Dann ist das so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:a) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen im Beitrittsgebiet sowie zur Änderung steuerrechtlicher und anderer Vorschriften
— Drucksachen 12/219, 12/402, 12/459 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 12/562 —Berichterstatter:AbgeordneteHansgeorg Hauser Joachim PoßHermann Rindbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/566 —Berichterstatter:Abgeordnete Helmut Wieczorek Adolf Roth (Gießen)Dr. Wolfgang Weng
b) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines befristeten Solidaritätszuschlags und zur Änderung von Verbrauchsteuer- und anderen Gesetzen
— Drucksachen 12/220, 12/403 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 12/561 —Berichterstatter:Abgeordnete Joachim Poß Hermann RindGunnar Uldallbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/565 —Berichterstatter:Abgeordnete Helmut Wieczorek Adolf Roth (Gießen)Dr. Wolfgang Weng
Dazu liegen mehrere Änderungsanträge sowie jeweils ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.Ich weise darauf hin, daß wir gegen 13.30 Uhr zwei namentliche Abstimmungen durchführen werden.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache dreieinhalb Stunden vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Abgeordnete Dr. Kurt Faltlhauser.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion ist gestern abend auf dem Tegeler See mit einem großen Boot gefahren, in ruhigen Gewässern, entsprechend der ruhigen politischen Situation, in der wir uns befinden. Beim Besteigen dieses Schiffes haben wir eine Berliner Abendzeitung überreicht bekommen.
— Hier gibt es keinen Ton.
— Es ist offenbar die Arbeitsgruppe Daniels, die hier sabotierend am Werk ist.
Ich darf fortfahren, Frau Präsidentin: Als wir in dieses Schiff eingestiegen sind, hat man uns eine Berliner Abendzeitung überreicht, in der ein Interview mit dem Berliner Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen stand. Ich zitiere daraus:Die großen Finanzsorgen Berlins, die hohe Arbeitslosigkeit, die zu geringe wirtschaftliche Wertschöpfung, alles sieht besser aus, wenn sich die Politik zu Berlin endlich und verbindlich bekennt.
Ich hätte dem Herrn Regierenden Bürgermeister hier heute gerne gesagt, daß sich der Finanzausschuß des Deutschen Bundestages zu Berlin verbindlich bekennt, allerdings nicht in der Hauptstadtfrage — da muß ich ihn enttäuschen —, sondern in der Förderungsfrage.Wir wissen um die Scharnierrolle Berlins zwischen Ost und West. Wir wissen, daß ein Abbruch der Mauer noch nicht die Gräben des Absatzes und der Beschaffung im Umland zugeschüttet hat. Wir wissen, daß Berlin nicht die Erschütterung eines abrupten Abbruchs der diversen Förderungen verkraften kann.Berlin braucht eine gewisse Berechenbarkeit und Stetigkeit in schwieriger Übergangszeit. Deshalb haben wir den stufenweisen Abbau der Berlin-Förderung, wie ihn die Bundesregierung im vorliegenden Steueränderungsgesetz vorsieht, noch einmal zugunsten Berlins sanfter und verträglicher gestaltet. Wir
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1663
Dr. Kurt Faltlhauserhaben uns dabei von dem Gedanken tragen lassen, daß lange Auslaufzeiten, über 1993 und 1994 hinaus, weder EG-verträglich noch ökonomisch sinnvoll sind. Berlin braucht jetzt, in diesem Jahr 1991, Hilfe, braucht jetzt, in der dramatischen, ja, chaotischen Umbruchzeit, mehr Luft. Deshalb haben wir das „Stauchungsmodell" erfunden, mit dem wir die Herstellerpräferenz erst ab dem 1. Januar 1992 abbauen wollen, den Einstieg in den Abbau also um ein halbes Jahr verschieben, und bei der Einkommenspräferenz eine Verschiebung der Einführung zum 1. Oktober 1991 vorsehen.Wir wollen jetzt entlasten, nicht in irgendwelchen späteren Jahren. Ich glaube, das müßte Berlin anerkennen. Das ist eine Art Gastgeschenk für Berlin für die zweite und dritte Lesung dieses Gesetzes. Es ist, wie ich meine, ein nicht ganz billiges Geschenk, wenn man die 800 Millionen DM in Betracht zieht, die es kostet.Der Finanzausschuß hat bei seinen Beratungen über das Steueränderungsgesetz 1991 und das Solidaritätsgesetz am letzten Mittwoch eine große Fülle von Detailarbeiten zum Abschluß gebracht. Es gab alleine 73 Änderungsanträge zu beiden Gesetzen. Das veranschaulicht das Ringen um Einzelformulierungen, um Kommaverschiebungen, um Verwaltungstechnik in einem kaum noch übersehbaren Netz der Steuergesetzgebung.Diese Millimeterarbeit widerzuspiegeln, ist nicht der Sinn der Aussprache im Plenum des Deutschen Bundestages. Hier haben wir vor allem die Aufgabe, der Bevölkerung deutlich zu machen, wo die Unterschiede zwischen den Positionen der Mehrheit und denen der Opposition liegen.Wenn ich mir entsprechend dieser Zielsetzung die Argumentationslinien der SPD heute und in den vergangenen Wochen ansehe, komme ich zu dem Ergebnis: Die SPD betreibt ein gigantisches steuerpolitisches Ablenkungs- und Ausweichmanöver.
Zum einen weist sie in ihrer steuerpolitischen Argumentation nur in die Vergangenheit, wenn sie immer wieder ihre sattsam bekannte Geschichte von „Vor der Wahl — nach der Wahl" erzählt.
Hier flieht die SPD aus der bleihaltigen Luft der sachlichen Auseinandersetzung auf die Ebene moralischer und künstlicher Empörung.
Das zweite Ausweichmanöver der Opposition lenkt in eine unbestimmte Zukunft, beschäftigt sich mit etwas, was in beiden heute zu beratenden Gesetzen nicht zur Entscheidung steht: mit der Vermögensteuer im gesamten Staatsgebiet. Also, die SPD weicht in Vergangenes oder in eine selbstgebastelte Zukunft aus.
Zur Gegenwart, zu den haushalts- und steuerpolitischen Problemen von heute, hat die Opposition keine Alternativen. Sicher hat sie Vorschläge gemacht. Doch das sind keine Alternativen; das sind bestenfalls Varianten.
Zuschlag zur Einkommensteuer: Die SPD sagt: Ja — aber bitte etwas anders, mit Einkommensgrenzen. Erhöhung der Mineralölsteuer: Die SPD sagt: Ja; aber bitte deutlich höher. Tabaksteueränderung: Die SPD sagt: Ja; aber bitte etwas anders.Das sind Varianten. Das sind keine Alternativen zur Steuerpolitik der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen.
Der Finanzausschuß hat im Rahmen der Beratungen der vorliegenden Gesetzentwürfe eine große Expertenanhörung durchgeführt. In einem zentralen Punkt waren sich alle Experten einig: Die Steuererhöhungen sind notwendig; sie sind die bessere Alternative gegenüber einer weiteren Nettoneuverschuldung. Dies war die Auffassung der Vertreter der Gewerkschaften ebenso wie die der Arbeitgeber, die Auffassung der Wissenschaftler ebenso wie die der Bundesbank.Die Bundesbank hat nachdrücklich darauf hingewiesen, daß im Interesse der Erhaltung der Stabilität der Preise und damit mittelfristig der wirtschaftlichen Gesundheit in unserem Land die Grenze der 70 Milliarden-Nettoneuverschuldung, die der Herr Bundesfinanzminister vorgegeben hat, nicht überschritten werden darf. Deshalb ist als Alternative die Steuererhöhung unumgänglich gewesen.Gleichwohl, vom Bund der Steuerzahler, von Vertretern der Medien und nicht zuletzt von vielen klugen Verbandsvertretern haben wir in den letzten Wochen immer wieder zu hören bekommen, daß es eigentlich einen Königsweg gibt, eine ganz andere Alternative zu Nettoneuverschuldung oder Steuererhöhung, nämlich den Subventionsabbau. Hurra! Bei diesem Begriff sind sie alle dabei: Subventionsabbau allüberall, aber, bitte schön, nur nicht im eigenen Bereich.Es konnte uns aber leider niemand sagen, wie man einen Finanzbedarf von 18 Milliarden in einem halben Jahr, noch in diesem Jahr 1991, kurzfristig durch Subventionsabbau realisieren soll. Selbst wenn dieser Bundestag über alle Fraktionsgrenzen hinweg in der Lage oder bereit wäre, einen entsprechend großen Einschnitt in die Subventionen zu tätigen, die rechtlichen Bindungen ließen in der kurzen Zeit einen Subventionsabbau in dieser Größenordnung von 18 Milliarden DM gar nicht zu.Gleichwohl arbeitet — das will ich hier sagen — innerhalb der Koalitionsfraktionen eine Arbeitsgruppe an dem Auftrag, 5 Milliarden an steuerlichen Begünstigungen abzubauen. Die Arbeitsgruppe ist in ihrer Arbeit weit fortgeschritten. Wir werden in Kürze ein Paket über 5 Milliarden vorlegen können.
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1664 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Dr. Kurt FaltlhauserWir hören, daß der Minister Möllemann weitere Arbeiten in Richtung 10 Milliarden DM tätigt. Ich könnte mir vorstellen, daß er da einige Schwierigkeiten haben wird. Wir meinen, daß wir von der Unionsfraktion und von der FDP-Fraktion dabei hilfreich zur Seite stehen sollten. Die Arbeitsgruppen sollten nach meiner Ansicht gemeinsam arbeiten, damit wir hier vorankommen.Ich will noch daran erinnern: Wir haben bei unseren Arbeiten die Verbände, die uns gute Ratschläge zum Subventionsabbau geben, konkret gefragt: Wo sind Ihre Vorschläge? Es kamen keine Vorschläge; es kam nichts.Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, daß Interessenvertreter die Arbeit der Politik nicht übernehmen können und wollen. Wenn das aber so ist, dann sollten dieselben Interessenvertreter sich verbal etwas mehr mit der platten und dümmlichen Wiederholung der Forderung nach massivem Subventionsabbau zurückhalten.Vor dem Hintergrund unserer Subventionsabbaubemühungen haben wir über einige Regelungen des vorliegenden Steueränderungsgesetzes mit gemischten Gefühlen debattiert, etwa über die Anhebung beim § 10e des Einkommensteuergesetzes oder die Anhebung von 750 auf 1 000 DM beim Baukindergeld. Die Anhörung im Finanzausschuß hat zu diesen Bereichen ergeben, daß die wohnungswirtschaftlichen Effekte der Maßnahmen wohl kaum erkennbar sein werden. Aus finanzpolitischer Sicht ist deshalb zu fragen, ob wir in diesem Gesetz nicht neue Subventionstatbestände zu einem Zeitpunkt schaffen, zu dem wir uns an anderer Stelle dringend und unter Schwierigkeiten bemühen, Subventionen abzubauen.Das gleiche gilt für den Tariffreibetrag, an dessen Sinn vielfach erhebliche Zweifel angemeldet wurden. In den neuen Bundesländern brauchen wir Investitionen und wollen nicht die Einkommenssituation vornehmlich derjenigen verbessern, die zwar dort ihren Hauptwohnsitz haben, aber in den alten Bundesländern für gutes Geld arbeiten. Diese Gruppe der „neuen Übersiedler" ist es vor allem, die von einem derartigen Tariffreibetrag profitieren werden. Mit großer Befriedigung stelle ich deshalb fest, daß wir uns im Finanzausschuß darauf geeinigt haben, den Tariffreibetrag bis Ende 1993 zu befristen.Lassen Sie mich im Zusammenhang mit dem Steueränderungsgesetz noch einige Anmerkungen zur Gewerbekapitalsteuer und zur Vermögensteuer machen. In der Koalitionsvereinbarung vom 16. Januar 1991 heißt es:Die Koalitionspartner sind sich darüber einig, in der kommenden Legislaturperiode die Steuerreform fortzuführen. In der ersten Stufe werden die Gewerbekapitalsteuer und die Vermögensteuer abgeschafft; im Beitrittsgebiet wird zur besonderen Förderung der Investitionen und der Arbeitsplätze auf die Erhebung der Gewerbekapitalsteuer und der Vermögensteuer bereits ab 1. Januar 1991 verzichtet.Entsprechend dieser Vorgabe sind im Steueränderungsgesetz die gesetzlichen Vorkehrungen dafür getroffen worden, daß im Beitrittsgebiet die Gewerbekapitalsteuer und die Vermögensteuer nicht erhoben werden. Im allgemeinen Teil der Begründung des Steueränderungsgesetzes heißt es entsprechend: „Mit dem Verzicht auf die Erhebung der Gewerbekapitalsteuer und der Vermögensteuer im Beitrittsgebiet wird ein erster Schritt zur Verringerung der ertragsunabhängigen Steuern für Unternehmen im gesamten Bundesgebiet getan. "Die Koalitionsfraktionen haben sich bei der Beratung auf folgende Klarstellung dieser Vorgaben aus der Koalitionsvereinbarung geeinigt: Wir sehen einerseits in dem Verzicht auf die Erhebung der Gewerbekapitalsteuer im Beitrittsgebiet einen ersten Schritt zur Verringerung der ertragsunabhängigen Steuern der Unternehmen im gesamten Bundesgebiet. Die Nichterhebung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern soll in eine Beseitigung dieser problematischen Steuer auch im gesamten Bundesgebiet einmünden. Daß dabei die Gemeinden den Ausfall in vollem Umfang ersetzt bekommen, ist Geschäftsgrundlage dieses Vorhabens.
Andererseits hat die Aussetzung der Vermögensteuer in den neuen Bundesländern keine Präjudizwirkung für eine Abschaffung der Vermögensteuer in der gesamten Bundesrepublik Deutschland. Es gibt also keinen Automatismus: Nichteinführung der Vermögensteuer im Beitrittsgebiet, Abschaffung dieser Steuer in den alten Bundesländern!Die auf die Jahre 1991 und 1992 befristete Aussetzung der Vermögensteuer im Beitrittsgebiet soll deshalb im gesamten Bundesgebiet von einer reformierten Vermögensteuer abgelöst werden. Ziele dieser Reform sollten zum einen Vereinfachungsgesichtspunkte, zum anderen eine Senkung der Belastung vor allem bei der betrieblichen Vermögensteuer sein.Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, Reform der Vermögensteuer, Reduzierung der Belastung im betrieblichen Teil der Vermögensteuer: das zusammengenommen ist schon ein wichtiger Baustein einer weiteren Stufe der Steuerreform, auf die wir im Hinblick auf den internationalen Standortwettbewerb nicht verzichten können und wollen.Gerade wegen des durch den unvorhersehbaren und außergewöhnlichen Haushaltsdruck entstandenen Zwangs zu Steuererhöhungen müssen und wollen wir die mittelfristige Kontinuität unserer Steuerpolitik aufrechterhalten. Diese mittelfristige Kontinuität heißt: Reduzierung der Steuerbelastung. Wir müssen und werden nach den besonderen Belastungen der deutschen Einheit wieder auf diesen Weg zurückkommen.
Meine Damen und Herren, das Bundesverfassungsgericht hat uns durch zwei Urteile des Ersten Senats aufgegeben, das Existenzminimum der Kinder von der Besteuerung freizuhalten. Dementsprechend sieht das Steueränderungsgesetz präzise das vor, was uns das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat. Die falsche Besteuerung der Jahre 1983 bis 1985 wird korrigiert, aber nur bei den nicht bestandskräftigen Bescheiden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1665
Dr. Kurt FaltlhauserDer Protest gegen diese Einschränkung ist verständlich. Der Querulant, der sich den staatlichen Finanzbehörden entgegengestellt hat, der sich einen Rechtsanwalt leisten kann, bekommt die Früchte seines Einspruchs wieder in die Kasse, und die Masse der braven Steuerzahler erhält nichts.Warum, so frage ich, haben wir dann nicht für alle den Kinderfreibetrag für das erste Kind von 432 auf 2 000 DM und für das zweite Kind um 1 400 DM angehoben? — Das war das Ergebnis eines Abwägungsprozesses. Alle Steuerzahler mit Kindern für die Zeit von 1983 bis 1985 rückwirkend zu berücksichtigen, hätte zwischen 15 und 17 Milliarden DM gekostet. Das wäre eine haushaltspolitische Belastung, meine Damen und Herren, die Deutschland im Jahre 1991 schlicht und einfach nicht noch zusätzlich verkraften kann. Hier müssen wir abwägen. Wir brauchen unsere knappen Mittel für die Gestaltung der Zukunft, nicht für die Herstellung von blütenreiner Gerechtigkeit in einer nunmehr doch schon ziemlich weit zurückliegenden Vergangenheit.Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber zwingen will, rückwirkend besonders großzügig zu sein, wenn es gleichzeitig sieht, daß dieser Bundestag entschlossen und in der Lage ist, für die Zukunft den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Familienbesteuerung voll Genüge zu tun. Dementsprechend werden wir ab 1. Januar 1992 auch den Kinderfreibetrag deutlich anheben.Meine Damen und Herren, ich habe nur einige Punkte aus den umfangreichen Gesetzen herausgegriffen. Steuergesetze sind üblicherweise kein Produkt des Gesetzgebers, das rundum Freude und Wohlgefallen verbreitet. Dafür sind sie im Detail zu unverständlich; sie schaffen erhöhten Verwaltungsaufwand, sind von der Asche des üblichen Steueralltags bedeckt.Dies gilt auch für die beiden hier zur Verabschiedung vorliegenden Gesetze. Den an diesem Gesetzgebungsverfahren mitwirkenden Finanzbeamten und Finanzpolitikern mag es jedoch zur Entschuldigung für dieses Paragraphenwerk gereichen, daß durch das Instrument der Steuergesetze verteilungspolitische, umweltpolitische, regionalpolitische, verkehrspolitische und wirtschaftspolitische Gesichtspunkte gleichzeitig aufeinanderprallen.
Herr Abgeordneter Faltlhauser, Ihre Redezeit ist überschritten.
Ja. Bitte berücksichtigen Sie aber noch den Ausfall des Tons. Ich komme dann zu meinen letzten Sätzen.
Das Ergebnis kann dementsprechend nie — wie manche Theoretiker es erwarten — klar und gesetzestechnisch schön sein. Daß sich die fachkundigen Damen und Herren des Finanzministeriums gleichwohl auch hier wiederum außergewöhnlich bemüht haben, verdient unseren ausdrücklichen Dank. Der Finanzausschuß bittet Sie, Herr Bundesfinanzminister, diesen Dank an Ihr Haus weiterzugeben.
In gleicher Weise bedanke ich mich bei den Kollegen des Finanzausschusses dafür, daß sie die vielen
Sondersitzungen in Vorbereitungen der heutigen zweiten und dritten Lesung mitgetragen haben. Dies war nur unter der souveränen Leitung des Vorsitzenden Gattermann erträglich.
In diesem Sinne bitte ich das Haus um Zustimmung zu den vorliegenden Gesetzen mit den Änderungen des Finanzausschusses.
Ich frage noch einmal nach: War der letzte Teil der Rede besser zu hören?
— Da dies nicht der Fall ist, bitte ich die Techniker noch einmal, zu einer besseren Aussteuerung zu gelangen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ingrid Matthäus-Maier.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor wenigen Wochen hat die SPD in Rheinland-Pfalz ein hervorragendes Wahlergebnis errungen.
Die CDU hatte ein niederschmetterndes Wahlergebnis.Am heutigen Tage, an dem wir hier im Parlament das Steuererhöhungspaket der Bundesregierung diskutieren, kommt es mir bei diesem Wahlergebnis auf eines besonders an: Die Bürger haben nicht nur mit großer Mehrheit SPD gewählt; sie haben zugleich den Politikern der Steuerlüge eine herbe Quittung erteilt, und das ist gut so.
Vor der Wahl — wir erinnern uns — hieß es in einer großen Anzeige der CDU: „Keine Steuererhöhung für die deutsche Einheit. Diese Garantie kann Ihnen nur die Regierung Helmut Kohl geben."
„Wir" — so die CDU — „reden vor der Wahl nicht anders als nach der Wahl."Wer nach solch eindeutigen Wahlversprechungen vor der Wahl sein Wort nach der Wahl so schamlos bricht und das rabiateste Steuer- und Abgabenerhöhungspaket dieser Republik vorlegt, hat von den Wählern in Rheinland-Pfalz zu Recht die rote Karte erhalten, meine Damen und Herren.
Für Politiker wie uns Sozialdemokraten, die auch schon vor der Bundestagswahl ehrlich, wenn auch nicht sehr populär, darauf hingewiesen hatten, daß die deutsche Einheit angesichts der nackten Zahlen nicht ohne Steuererhöhungen würde finanziert werden können, ist das Wahlergebnis von Rheinland-
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Ingrid Matthäus-MaierPfalz eine Ermutigung für Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit in der Politik;
zeigt dieses Wahlergebnis doch: Steuerlüge lohnt sich nicht, denn Steuerlügner wählt man nicht, meine Damen und Herren.
Die Bürger sollten aber wachsam sein, denn das Tricksen und Täuschen hört bei dieser Bundesregierung nicht auf. Es durchzieht die Steuerpolitik dieser Bundesregierung wie ein roter Faden. Statt sich nach der Bundestagswahl zu entschuldigen, erklärte Finanzminister Waigel im März in der Haushaltsdebatte des Bundestages: „Wenn die Ausgaben für den Golfkrieg nicht auf uns zugekommen wären, hätten wir im Jahre 1991 die Steuern nicht erhöht. Das ist die Wahrheit."
„Noch eine Steuerlüge!"
Ich sage Ihnen: Wer angesichts von einmaligen 11,6 Milliarden DM Kosten für den Golfkrieg in diesem Jahr Steuer- und Abgabenerhöhungen in Höhe von 33 Milliarden DM in diesem Jahr und in den Folgejahren vorsieht,
will doch wohl die Wähler für dumm verkaufen, wenn er sich hinter dem Golfkrieg versteckt.
Meine Damen und Herren, die Wählertäuschungsversuche der CDU nehmen zum Teil groteske Formen an. So lieferte die Bundesregierung zwei Tage vor der Wahl in Rheinland-Pfalz folgende Schlagzeile in Sachen Telefongebühren: „Keine Gebührenerhöhung — aber telefonieren wird teurer. " Die Erklärung für dieses Rätsel gab der Postminister, nämlich: Die Telefongebühren werden nicht erhöht; man kann nur für dieselben Gebühren weniger telefonieren. Nach dieser Logik erwarte ich eigentlich von Ihnen heute morgen die Mitteilung, daß es Steuererhöhungen bei Mineralöl und Tabak gar nicht gibt, denn schließlich kann man für dasselbe Geld nur weniger tanken und rauchen!
Ich habe mich immer gefragt, warum die Politiker von CDU/CSU und FDP, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vor der Wahl so unverdrossen die Unwahrheit gesagt haben. Sie hätten sich geirrt, sagen Sie, Fehleinschätzung. Wenn das stimmt, meine Damen und Herren, müßten Sie eigentlich wegen wirtschafts- und finanzpolitischer Inkompetenz zurücktreten. Man kann sich doch nicht über zig Milliarden irren!
Nein, ich glaube nicht an Irrtum. Sie sagen die Unwahrheit, weil Sie die Auswirkungen Ihrer Steuerpolitik vor dem Bürger verstecken müssen. Die Markenzeichen Ihrer Steuerpolitik sind nämlich Ungerechtigkeit und Unehrlichkeit, und beides hängt miteinander zusammen. Weil Ihre Steuerpolitik sozial ungerecht ist, weil sie 'die kleinen Leute und den Durchschnittsverdiener immer sehr viel mehr als die Großen belasten und im Zweifel die Hochvermögenden sogar noch entlasten, müssen Sie dieses Ergebnis vor dem Bürger verstecken. Deswegen haben Sie Angst, den Bürgern vor der Wahl die Wahrheit zu sagen.
Das Strickmuster ist immer das gleiche. Es gibt eine politische Aufgabe, die gelöst werden muß, und es gibt bei den Bürgern eine Bereitschaft zur Solidarität. Diese Opferbereitschaft nutzt die Bundesregierung dann aber für eine unverblümte Politik der Umverteilung von unten nach oben aus. Nur zwei Beispiele: Unter dem Etikett der Schaffung von Arbeitsplätzen hat diese Bundesregierung seit 1983 den Spitzensteuersatz, den Körperschaftsteuersatz und die Vermögensteuer gesenkt und im Gegenzug die Mehrwertsteuer, die Mineralölsteuer, die Tabaksteuer, die Versicherungsteuer, die Kraftfahrzeugsteuer erhöht, die Erdgassteuer neu eingeführt sowie den Weihnachtsfreibetrag, den Arbeitnehmerfreibetrag, den Altersfreibetrag, den Essensfreibetrag und die Steuerfreiheit für Nachtarbeitszuschläge abgeschafft. Daß dies zugunsten der Großen und zu Lasten der Kleinen ging, das sieht ja jedermann.
Zweites Beispiel. Unter dem Etikett der Finanzierung der deutschen Einheit werden jetzt erneut die Lohn- und Einkommensteuer, die Mineralölsteuer, die Tabaksteuer, die Versicherungsteuer, die Kraftfahrzeugsteuer, die Mehrwertsteuer, die Arbeitslosenversicherungsbeiträge und die Telefongebühren angehoben. Damit werden erneut hauptsächlich die kleinen und mittleren Einkommen zur Kasse gebeten und die Großverdiener vergleichsweise geschont, und nicht nur das, Großverdiener sollen sogar noch entlastet werden.Meine Damen und Herren, wer sich diese lange Liste von Steuer- und Abgabenerhöhungen anschaut, der sieht: Das dauernde Gerede von Union und FDP, sie senkten die Steuern, und die SPD sei die Steuererhöhungspartei, ist Unsinn. Der Unterschied ist ein anderer. Bundeskanzler Kohl und seine Koalition erhöhen die Steuern sozial ungerecht und verschweigen ihre Pläne vor der Wahl. Wir Sozialdemokraten treten dagegen auch bei der Steuerpolitik für soziale Gerechtigkeit ein und sagen den Bürgern vor der Wahl die Wahrheit. Steuergerechtigkeit gegen Steuerungerechtigkeit, Steuerehrlichkeit gegen Steuerlüge, das sind die wahren Alternativen, vor denen die Bürger stehen.
Wir Sozialdemokraten sagen ein klares Ja zu kräftigen Finanzhilfen für den Aufbau der neuen Bundesländer. Wir haben einen umfassenden Aufbauplan für die neuen Bundesländer vorgelegt und zugleich mehrere Maßnahmen zur Finanzierung vorgeschlagen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1667
Ingrid Matthäus-MaierWir haben dabei einen Schwerpunkt auf Einsparmaßnahmen gelegt, denn ein Politiker darf den Bürgern nur dann höhere Steuern abverlangen, wenn er zuvor alle Einsparmöglichkeiten ausgeschöpft hat. Weil das aber alles nicht ausreicht, haben wir — wohlwissend, daß es unpopulär ist — vor der Wahl eine auf vier Jahre begrenzte Ergänzungsabgabe für Höherverdienende vorgeschlagen, weil wir der Ansicht sind, daß nach der Idee des Lastenausgleichs nach dem Zweiten Weltkrieg die Menschen mit den starken Schultern die Lasten leichter als die Menschen mit den schwachen Schultern tragen können. Bei Ihnen ist es genau umgekehrt, denn bei Ihnen wird ein durchschnittlich verdienender Arbeitnehmerhaushalt mit zwei Kindern mit zusätzlich 110 DM im Monat zur Kasse gebeten. Das sind rund 1 300 DM im Jahr. Der Masse der Arbeitnehmer wird mit einem Schlag all das wieder weggenommen, was Sie ihr durch die sogenannte Steuerreform gegeben haben. Und mit der für 1993 vorgesehenen Anhebung der Mehrwertsteuer werden auf die Bürger neue Belastungen hinzukommen. Deswegen, meine Damen und Herren, ist es auch ein Unrecht, daß Sie bereits im Jahr 1991 mit dem Abbau der Arbeitnehmerzulage in Berlin beginnen. Die Berliner Arbeitnehmer werden auf diese Weise doppelt zur Kasse gebeten. Wir hatten den Antrag gestellt, das in das nächste Jahr zu verschieben.
Auch bei Rentnern und Arbeitslosen sahnt die Bundesregierung kräftig ab. Die soziale Schlagseite wird insbesondere deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Ergänzungsabgabe nur für ein Jahr gelten soll, die Erhöhungen der indirekten Steuern aber unbegrenzt gelten sollen.Was bei der Steuerpolitik dieser Bundesregierung herauskommt, hat das renommierte Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung im Deutschen Bundestag in einer Anhörung festgestellt. Es stellt fest: Nachdem nun die ganze Steuerreform zurückgenommen wird, gibt es aber noch eine gewichtige Differenzierung. Es heißt wörtlich:Allerdings werden jetzt die privaten Haushalte anders belastet, als sie damals entlastet wurden. Während die untere Hälfte der Gesamtheit der Lohnsteuerpflichtigen mit bis zu 45 000 DM Jahreseinkommen im Saldo belastet wird, werden die oberen 15 °A° mit über 80 000 DM Jahreseinkommen kräftig entlastet.So das DIW. Es stellt seine Untersuchung unter die Überschrift „Umverteilung der Einkommen von unten nach oben".Diese Überschrift würde übrigens auch besser als die von Ihnen gewählte Überschrift zu Ihrem Steuererhöhungsgesetz passen.
Daß Sie Ihr ungerechtes Steuererhöhungsgesetz ausgerechnet Solidaritätsgesetz nennen,
zeigt, daß Sie die Bürger bis in die Überschrift hinein täuschen wollen.
Warum nennen Sie es eigentlich Solidaritätsgesetz, wenn Sie darauf beharren, daß das Geld nicht für die Solidarität mit den neuen Ländern, sondern für den Golfkrieg ausgegeben werden soll? Außerdem ist das Gegenteil von Solidarität in diesem Gesetz richtig: Ihr Steuergesetz ist zutiefst unsolidarisch, und zwar in dreifacher Weise: unsolidarisch gegenüber den kleinen und mittleren Einkommen, unsolidarisch gegenüber den Menschen in den neuen Bundesländern und unsolidarisch gegenüber Ländern und Gemeinden.Sie fordern Solidarität von den kleinen Leuten, von der breiten Masse der Bevölkerung; das gilt im Westen wie im Osten. Würden Sie unserem Vorschlag folgen und die Ergänzungsabgabe nur oberhalb einer Einkommensgrenze von 60 000 DM bei Ledigen bzw. 120 000 DM bei Verheirateten im Jahr erheben, dann würde der Durchschnittsverdiener von der Ergänzungsabgabe verschont. Ihr Gesetz hingegen trifft nicht nur die Millionen der kleinen Lohn- und Einkommensteuerzahler im Westen, sondern Ihre Ergänzungsabgabe muß ab Juli auch von 70 % der Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern gezahlt werden, deren Löhne der Lohnsteuer unterliegen, also von über 6 Millionen Arbeitnehmern allein im Osten.Das wird viele dieser Menschen hart und völlig unerwartet treffen; denn als der Bundespräsident im letzten Herbst gesagt hat, die Teilung müsse durch Teilen überwunden werden, da haben wir alle das doch nicht so verstanden, daß es die Bezieher kleiner Einkommen im Osten sein sollen, die Solidarität mit sich selber üben sollen.
Diese offensichtliche Ungerechtigkeit wollen Sie ein wenig mit Ihrem sogenannten Tariffreibetrag ausgleichen. Aber wie wollen Sie den Menschen in den neuen Bundesländern eigentlich erklären, daß Otto Normalverbraucher davon eine Entlastung von 9 DM im Monat erhält, während Frau Staatssekretärin Bergmann-Pohl oder Herr Minister Krause oder auch westliche Spitzenverdiener, die sich zeitweilig zur Arbeit im Osten aufhalten, das Dreifache erhalten?Wenn sich der finanzpolitische Sprecher der CDU/ CSU-Fraktion im „Handelsblatt" — so wörtlich — „über diesen komischen Tariffreibetrag" mokiert und meint, er müsse zurückgenommen werden, dann, Herr Faltlhauser, können wir Ihnen helfen: Wir schlagen Ihnen vor, lassen Sie uns diesen verkorksten Tariffreibetrag durch eine Anhebung des Grundfreibetrages um 600 DM für alle Bürger in Ost und West ersetzen.
Wir wissen, daß heute bereits das Existenzminimum aller Bürger in verfassungswidriger Weise der Lohn- und Einkommensteuer unterliegt. Auch Sie wissen das. Schon jetzt werden alle Steuerbescheide entweder angefochten oder vorläufig erlassen — ein unhaltbarer Zustand. Ein Bundesfinanzminister, der das so
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1668 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Ingrid Matthäus-Maierweiterlaufen läßt, wird seiner Verantwortung nicht gerecht.
Deswegen schlagen wir Ihnen heute in einem besonderen Antrag vor, den Tariffreibetrag durch eine Anhebung des Grundfreibetrages als ersten Schritt hin zur Steuergerechtigkeit zu ersetzen.Meine Damen und Herren, zu Ihrem Steuer- und Abgabenerhöhungspaket gehört auch eine massive Anhebung der Mineralölsteuer. Als wir Sozialdemokraten im Sommer 1988 eine ökologische Umschichtung des Steuersystems forderten, bei der durch eine Anhebung der Mineralölsteuer um 50 Pfennig auf der anderen Seite eine Abschaffung der Kraftfahrzeugsteuer, eine kräftige Verbesserung des Grundfreibetrags, die Einführung einer Fernpendler- und Entfernungspauschale, die Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs und von Fahrgemeinschaften, steuerliche Hilfen für das Energieeinsparen und soziale Ausgleichsmaßnahmen für Rentner, Behinderte und Arbeitslose finanziert werden sollten, hat diese Regierungskoalition gegen unser reines Umschichtungsmodell in nie dagewesener Weise polemisiert. „Schlag gegen den ländlichen Raum" waren noch Ihre freundlichsten Vokabeln.Aber, meine Damen und Herren, auch in dieser Frage haben Sie die Menschen getäuscht. Während Sie nämlich noch gegen unser reines Umschichtungsmodell wetterten, haben Sie von 1988 bis heute die Mineralölsteuer schrittweise um sage und schreibe 39 Pfennig angehoben. Trotzdem gibt es noch die Kraftfahrzeugsteuer; und der Grundfreibetrag ist immer noch verfassungswidrig. Eine Entfernungspauschale gibt es immer noch nicht, und Fahrgemeinschaften werden immer noch nicht gefördert, dem öffentlichen Personennahverkehr geht es schlechter denn je. An Ausgleichsmaßnahmen für Rentner, Behinderte und Arbeitslose denken Sie ohnehin nicht.
Nein, meine Damen und Herren, jeder deutsche Autofahrer kann sich leicht ausrechnen, daß er bei dem SPD-Umschichtungsmodell besser gefahren wäre. Ihre Mineralölsteueranhebung um 39 Pfennig ist ein reines Abkassiermodell, und dieses Abkassiermodell machen wir nicht mit.
Während Sie Millionen Normalverdienern das Geld aus der Tasche ziehen, schanzen Sie zugleich Spitzenverdienern neue Steuererleichterungen zu. Nicht nur, daß Spitzenverdiener mit zwei Kindern unter 10 Jahren die Möglichkeit haben, sich das Einstellen einer Haushaltshilfe zur Hälfte vom Staat bezahlen zu lassen, während der Otto Normalverbraucher nicht einmal den Kindergartenbeitrag von der Steuer absetzen kann und der Staat kein Geld hat, neue Kindergartenplätze zu schaffen. Nicht nur, daß jetzt auch das Schulgeld für den Besuch von Privatschulen steuerlich abgezogen werden kann, während auf der anderen Seite viele Schulstunden ausfallen und die Bundesländer kein Geld haben, um neue Lehrer einzustellen.Obendrein beschließen Sie in Ihrer Koalitionsvereinbarung, auch noch die Vermögensteuer und die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen. Sie haben das mit dem europäischen Binnenmarkt ab 1993 und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft begründet. Meine Damen und Herren, das ist doch an den Haaren herbeigezogen. Schon jetzt ist die deutsche Wirtschaft trotz der Vermögensteuer und trotz der Gewerbekapitalsteuer die leistungsfähigste Wirtschaft in der Europäischen Gemeinschaft. Das wird auch so bleiben.
— Warum gucken Sie denn so pessimistisch in die Zukunft? Das bin ich gar nicht von Ihnen gewohnt, meine Damen und Herren.Jetzt sind Sie einen halben Schritt zurückgewichen. Sie beharren nicht mehr auf der Abschaffung der Vermögensteuer; Sie wollen sie nur noch halbieren. Das begrüße ich und betrachte es als Erfolg unserer hartnäckigen Kritik. Das beweist aber doch, daß Ihre bisherige Begründung, die Vermögensteuer müsse abgeschafft werden, damit das Steuerrecht vereinfacht würde, ein Vorwand war. Der Verwaltungsaufwand der Vermögensteuer ist nämlich bei einer halbierten Vermögensteuer genauso hoch wie bei der Vermögensteuer in jetziger Höhe. Deswegen ist das unehrlich, meine Damen und Herren. Nein, wir brauchen keine Halbierung der Vermögensteuer. Dies ist ungerecht und führt zu hohen Steuerausfällen.Jeder weiß, daß die zunehmende Vermögenskonzentration eine ganz zentrale Schwachstelle unserer Wirtschaftsordnung ist. Nun kann zwar die Vermögensteuer die Vermögenskonzentration nicht verhindern, aber eine solche Vermögenskonzentration durch Abschaffung der Vermögensteuer auch noch zu fördern, wird es mit den Sozialdemokraten nicht geben, meine Damen und Herren.
Wenn Sie uns schon nicht glauben, Herr Waigel, dann empfehle ich Ihnen einen Blick in Ihre eigene Steuerbroschüre „Steuern von A bis Z" vom letzten Jahr, in der eindeutig begründet wird, warum es eine Vermögensteuer geben soll. Das war vor der Bundestagswahl. Nach der Bundestagswahl behaupten Sie, die Vermögensteuer müsse abgeschafft werden. Was soll das eigentlich, wenn Sie das eine vor der Wahl sagen und das andere nach der Wahl tun? Das ist jedenfalls keine ehrliche Politik.
Falsch und eine bewußte Irreführung der Öffentlichkeit ist auch die Behauptung, die SPD fordere die Einführung der Vermögen- und Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern. Die Wahrheit ist, daß beide Steuern durch den Einigungsvertrag, dem wir ja ganz überwiegend zugestimmt haben, bereits zum 1. Januar 1991 in den neuen Bundesländern eingeführt sind. Dabei soll es auch bleiben. Bei verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten können bereits nach geltendem Recht Fristverlängerungen für die Abgabe von Steuererklärungen, vorläufige Steuerfestsetzun-
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Ingrid Matthäus-Maiergen oder sogenannte Veranlagungen unter Vorbehalt der Nachprüfung erfolgen.Nein, meine Damen und Herren, wir brauchen auch in den neuen Bundesländern keine Aussetzung der Vermögensteuer, denn dies würde nur zu neuem Unrecht führen. Wie schreibt die „Hannoversche Allgemeine Zeitung" am 8. Mai so treffend:Dies hätte aberwitzige Folgen. Wer konnte denn in der ehemaligen DDR Vermögen, die über die hohen Freibeträge hinausgehen, besitzen? Doch wohl ausschließlich Schieber, Spekulanten und SED-Bonzen, die sich auf irgendeinem Weg Millionen verschafft haben.
Und ausgerechnet die sollen von der Vermögensteuer befreit werden? Warum soll in den neuen Bundesländern eigentlich ein Vermögender nicht dieselben Steuern zahlen, denen im Westen ein Vermögender unterliegt?Ich finde, die „Hannoversche Allgemeine Zeitung" hat recht, meine Damen und Herren!
Mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern hat das schon gar nichts zu tun. Wenn Sie sich wirklich für neue Investitionen und Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern einsetzen wollen, dann sollten Sie unserem Vorschlag einer Anhebung der Investitionszulage von 12 auf 25 % zustimmen.
Frau Abgeordnete Matthäus-Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Faltlhauser?
Bitte.
Frau Kollegin, Sie erstaunen mich mit Ihrer Aussage. Sie waren bei der Beratung dieser Gesetze im Finanzausschuß kein einziges Mal anwesend.
Ist Ihnen vielleicht deshalb nicht aufgefallen, daß auch Ihre eigenen Kollegen eine Initiative mit dem Ziel initiiert haben, die Erhebung der Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern auf dem Verwaltungswege nicht durchzuführen? Deswegen frage ich Sie: Was soll das Beispiel, das Sie hier aus einer Zeitung zitieren?
Herr Faltlhauser, daß Sie in einer Zwischenfrage gleich zweimal die Unwahrheit sagen, ist schon ein starkes Stück.
Erstens war ich im Finanzausschuß anwesend, z. B., wie Sie wissen, bei dem großen Hearing, wo Ihnen die Verbände Ihre ungerechte Steuerpolitik um die Ohren geschlagen haben. Zweitens ist nicht wahr, daß die SPD einer Aussetzung zugestimmt hat. Sie hat — genauso wie ich hier heute morgen — gesagt: Bei verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten, die es in den neuen Bundesländern angesichts der großen Aufgaben natürlich gibt, reicht bereits das geltende Recht, um damit fertigzuwerden, z. B. durch — ich wiederhole — Fristverlängerungen bei der Abgabe der Steuererklärung — d. h. die Betriebe müssen nicht gleich übermorgen die Vermögensteuererklärung abgeben — oder durch vorläufige Festsetzungen durch die Finanzämter oder durch Veranlagung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Wir sind doch vernünftige Leute.
In den neuen Bundesländern hat doch keiner die Idee, sofort die Vermögensteuer zu erheben, Herr Faltlhauser.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Faltlhauser? — Bitte.
Ich entschuldige mich zunächst einmal. Ich wußte nicht, daß Sie bei der Anhörung mit dabei waren.
— Das war aber die einzige Sitzung.
Ich wollte das gleiche nachfragen, was ich auch im Finanzausschuß bei Ihren Kollegen nachgefragt habe: Bedeutet das gemäß Ihrem Beispiel, daß auch SED-Bonzen oder irgendwelche Schieber in den nächsten zwei Jahren in der Praxis durch entsprechende Verwaltungsvorgänge die Vermögensteuer nicht zu entrichten brauchen?
Herr Faltlhauser, wenn die Finanzämter es nicht schaffen, dann könnte das sein. Aber was ist denn Ihre Alternative? Bei unserem Vorschlag würde es vielleicht ein, zwei Jahre dauern. Bei Ihrem Vorschlag werden die Schieber und Bonzen auf Dauer befreit, Herr Faltlhauser.
Meine Damen und Herren, die Anhebung der Investitionszulage ist für ostdeutsche Unternehmen wichtig, da sie bisher überwiegend keine Gewinne machen. Nur deswegen haben sie etwas von der Investitionszulage. Ich appelliere insbesondere an die ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen in der CDU/ CSU und FDP, einen echten Investitionsanreiz für die neuen Länder mitzutragen. Sie haben gleich in einer namentlichen Abstimmung die Möglichkeit dazu.Meine Damen und Herren, zum 1. Januar 1993 will die Bundesregierung die Mehrwertsteuer anheben. Auch hier wird wieder getäuscht und getrickst. Zuerst hieß es, die Mehrwertsteuererhöhung sei wegen der Steuerharmonisierung in Europa erforderlich. Nichts davon ist wahr. Der deutsche Mehrwertsteuersatz liegt innerhalb der Bandbreite von 14 % bis 20 % , die die Europäische Kommission vorgeschlagen hat. Jetzt wollen Sie offensichtlich, Herr Waigel, die Europäer dazu bringen, den Mindestsatz in ganz Europa auf
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Ingrid Matthäus-Maier16 % anzuheben, damit Sie sich mit Ihrer Mehrwertsteueranhebung dann hinter einer solchen neuen Festsetzung verstecken können.
Wo waren Sie eigentlich, Herr Finanzminister, am Wochenende, als es in Brüssel galt, einen Mehrwertsteuersatz von 14 % zu verteidigen? Indem Sie das den Luxemburgern, den Spaniern und den Engländern, die mit Nein gestimmt haben, überlassen haben, haben Sie eindeutig die Interessen der deutschen Steuerzahler verletzt, Herr Waigel. Das ist ein schlimmer Fehler.
Der nächste Bruch eines Wahlversprechens steht bereits heute morgen hier zur Abstimmung. Sie haben im Bundestagswahlkampf landauf, landab versprochen, daß die Familien, denen man in den Jahren von 1983 bis 1985 zuviel Steuern abgenommen hat, alle etwas zurückbekommen, und nicht nur die, die Einspruch eingelegt haben. Wenn die Bundesregierung mit dem heutigen Gesetz nur den Familien etwas zurückgeben will, die gegen ihren Steuerbescheid Einspruch eingelegt haben, und die große Mehrzahl der Familien, die pünktlich gezahlt und nicht Einspruch eingelegt haben, weil sie auf die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns vertrauen, leer ausgehen soll, dann ist das für die Familien mit Kindern empörend.Wir Sozialdemokraten stellen heute den Antrag, daß rückwirkend alle Familien, auch die, die nicht Einspruch eingelegt haben, bei der Rückzahlung zu berücksichtigen sind, unabhängig davon, ob sie sich gegen ihren Steuerbescheid gewehrt haben oder nicht. Sie werden heute in namentlicher Abstimmung, meine Damen und Herren von Union und FDP, Farbe bekennen müssen, ob Sie zwar Milliarden für die Senkung der Vermögensteuer und die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer lockermachen können, nicht aber für die Wiedergutmachung des Unrechts an den Familien.
Noch zu den Familien. Die Bundesregierung hält daran fest, daß die Familien noch das ganze Jahr 1991 nach den Maßstäben des Verfassungsgerichtes verfassungswidrig zuviel Steuern zahlen. Erst 1992 will die Bundesregierung dies ändern. Das kommt zu spät und ist zuwenig. Außerdem legen Sie den Schwerpunkt wieder auf die ungerechten Kinderfreibeträge und verschärfen damit die Ungleichheit zwischen den kleinen Leuten und den reichen Leuten.
Schon heute bekommt ein Spitzenverdiener für jedes Kind durch den Kinderfreibetrag 86 DM im Monat mehr auf die Hand als ein Niedrigverdiener. Nach Ihren Plänen soll ein Spitzenverdiener ab 1992 sogar 114 DM mehr im Monat für sein Kind erhalten als ein Niedrigverdiener.
Dann soll nämlich der Spitzenverdiener 178 DM erhalten, aber der Niedrigverdiener nur 64 DM.
Dies würde bedeuten, daß die Bevorzugung der Spitzenverdiener noch größer wird, als es heute schon der Fall ist.Wenn man Sie auf diese Ungerechtigkeit Ihrer Familienpolitik hinweist, dann sprechen Sie immer von Neid. Ich sage Ihnen: Umgekehrt wird ein Schuh daraus. was ist es denn anderes als Neid auf Ihrer Seite, wenn Sie den kleinen und mittleren Einkommen nicht gönnen, daß sie genausoviel Kindergeld bekommen wie Spitzenverdiener?
Sie neiden es den kleinen Leuten, daß nach unserem Konzept die Kinder von Otto Normalverbraucher dem Staat genausoviel wert sein sollen wie die Kinder reicher Leute. Da wir diesen Neidkomplex nicht haben, wie er bei Ihnen existiert,
bleibt es bei unserer Forderung: mindestens 200 DMKindergeld vom ersten Kind an, für alle gleich hoch.
Frau Abgeordnete Matthäus-Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Eimer?
Ja.
Frau Kollegin, nachdem Sie wiederholtermaßen derart merkwürdige Rechnungen machen, frage ich Sie einmal andersherum: Wieviel muß jemand brutto verdienen, wenn er 100 DM netto für seine Kinder ausgeben will, und zwar einmal, wenn er ein sehr niedriges Einkommen mit Steuersatz Null hat und einmal ein sehr hohes Einkommen mit einem Steuersatz von 50 % hat?
Sehr geehrter Herr Eimer, selbstverständlich muß ein Spitzenverdiener mehr verdienen, weil er progressiv besteuert wird.
Ich unterstelle, daß Sie das wissen, meine Damen und Herren.
— Selbstverständlich muß er mehr verdienen. Aber ist das denn ein Grund dafür, warum die Kinder von Spitzenverdienern, die es im Leben sowieso viel einfacher als die Kinder kleiner Leute haben, so massiv gefördert werden, wie das bei Ihnen der Fall ist, Herr Eimer?
Wenn Sie, Herr Eimer, das Bundesverfassungsgericht zitieren, so darf ich auf folgendes hinweisen
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Ingrid Matthäus-Maier— das ist ein alter Streit zwischen uns — : das Bundesverfassungsgericht läßt ausdrücklich offen, ob man die Steuerfreiheit der Unterhaltsaufwendungen für Kinder über einen Kinderfreibetrag oder über das Kindergeld oder über ein Mischsystem löst. Verwischen Sie deshalb die Debatte nicht mit unzutreffenden Hinweisen auf das Bundesverfassungsgericht! Gehen Sie vor den Bürger, und zeigen Sie ihm die Alternative! Bei Ihnen kriegen die Reichen immer etwas drauf, und wir sind der Ansicht, dem Staat muß jedes Kind gleich lieb und gleich wert sein.
Sagen Sie dem Bürger auch endlich einmal ehrlich, daß — wie in der Familienpolitik mit den Kinderfreibeträgen — auch in der Wohnungsbauförderung mit dem § 10e des Einkommensteuergesetzes Ihr Grundprinzip lautet: Wer hat dem wird vergeben — gegeben
— vergeben nicht. Vergeben wollen wir den Reichen und den Armen, aber wir wollen den Reichen nicht mehr geben.
Wir sind der Ansicht, daß Ihre Wohnungsbauförderung ungerecht ist.Da Sie uns das nicht glauben, zitiere ich den Familienbund der Deutschen Katholiken. Er sagt zu Ihrem Gesetz:Bezieher von Höchsteinkommen erfahren nach der Erhöhung des § 10e eine Entlastung von 8 745 DM jährlich. Bezieher von geringen Einkommen erfahren eine Entlastung von 3 135 DM. Diejenigen 20 % der Einkommensbezieher mit den höchsten Einkommen erhalten derzeit 45 der Eigentumsförderungsmittel. Diejenigen 20 der Einkommensbezieher mit den niedrigsten Einkommen erhalten dementgegen nur 5 %.Wir Sozialdemokraten sind mit dem Familienverband der deutschen Katholiken, mit der deutschen Bauwirtschaft und mit den Bausparkassen der Ansicht, daß dieses ungerechte System durch einen gleich hohen Zuschuß für alle Menschen ersetzt werden muß.
Meine Damen und Herren, hören Sie endlich auf mit Ihrer Politik der Unwahrhaftigkeit und der Ungerechtigkeit. Machen Sie eine Politik im Interesse der Menschen. Dann können Sie auch vor die Bürger treten und ihnen die Wahrheit sagen.Unsere sozial gerechte Alternative fasse ich in zwölf kurzen Forderungen zusammen:Erstens. Sparen Sie endlich; dann brauchen Sie nicht so rabiate Steuererhöhungen.Zweitens. Befreien Sie die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen von der Ergänzungsabgabe durch die Einführung einer Einkommensgrenze.Drittens. Ersetzen Sie die ungerechte Beitragserhöhung bei der Arbeitslosenversicherung durch eine Arbeitsmarktabgabe für alle, in die auch Selbständige,Beamte, Minister, Staatssekretäre und endlich auch Abgeordnete einbezogen werden.
Viertens. Passen Sie die Mineralölsteuer in das Gesamtkonzept einer ökologischen Umschichtung des Steuersystems ein, und kassieren Sie nicht einfach bei den Menschen ab.Fünftens. Stellen Sie endlich das Existenzminimum steuerfrei. Wandeln Sie in einem ersten Schritt den vorgesehenen Tariffreibetrag in eine Verbesserung des Grundfreibetrages für alle Steuerzahler in Ost und West um.Sechstens. Verzichten Sie auf die geplante Senkung der Vermögensteuer und auf die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer.
Siebtens. Fördern Sie den Aufbau der neuen Länder durch eine wirksame Investitionszulage von 25 % für betriebliche Investitionen. Das kommt besonders den Unternehmen in den neuen Bundesländern zugute.Achtens. Verzichten Sie auf die für 1993 geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer. Wenn Sie die Ergänzungsabgabe für Höherverdienende auf vier Jahre befristen und auf die Senkung der Vermögensteuer und die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer verzichten, dann hat der Staat genausoviel Geld zur Verfügung wie bei der von Ihnen geplanten Anhebung der Mehrwertsteuer.Neuntens. Speisen Sie die Familien mit Kindern nicht länger mit schönen Worten ab. Erhöhen Sie das einheitliche Kindergeld auf mindestens 200 DM vom ersten Kind an für alle Kinder.
Zehntens. Lösen Sie Ihr Versprechen ein, daß alle Familien mit Kindern für die in den letzten Jahren zuviel gezahlten Steuern einen Ausgleich bekommen, und nicht nur diejenigen, die Einspruch eingelegt haben.Elftens. Stellen Sie die Förderung des Eigenheimbaus auf einen einheitlichen Förderbetrag für alle um, statt die bestehende Ungerechtigkeit zugunsten von Spitzenverdienern noch zu vergrößern, und erhöhen Sie das Baukindergeld auf 1 200 DM.Zwölftens. Meine Damen und Herren, üben Sie endlich auch Solidarität mit den Ländern und Gemeinden. Die westdeutschen Bundesländer haben sich solidarisch an der Finanzierung der deutschen Einheit beteiligt.
Die Mehreinnahmen durch die Steuererhöhungen, die jetzt vorgenommen werden, fließen aber fast ausschließlich in die Kassen des Bundes. Das ist unsolidarisch. Wir Sozialdemokraten unterstützen die Forderungen der Länder, ihnen angesichts wachsender Ausgaben durch eine Neuverteilung des bestehenden Steueraufkommens einen größeren Anteil am Steueraufkommen zu verschaffen.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Steuern sind ein notwendiges Übel. Der Staat braucht sie, um seine Aufgaben zu erfüllen. Die Menschen1672 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, cien 14. Mai 1991Ingrid Matthäus-Maierwerden aber nur dann bereit sein, dem Staat ihre meist mühsam erarbeiteten Steuergelder anzuvertrauen, wenn sie erstens das Vertrauen haben, daß die Politik ihnen nicht mehr Steuern abverlangt, als bei strenger Sparsamkeit nötig ist, wenn sie zweitens das Vertrauen haben, in Sachen Steuern vor der Wahl nicht belogen zu werden, und wenn sie drittens das Vertrauen haben können, daß die Steuerpolitik sozial gerecht ist und die Kleinen nicht für die Großen zahlen.Sie, Herr Bundeskanzler und Herr Finanzminister, haben das Vertrauen der Menschen in diese Grundsätze der Steuerpolitik schwer erschüttert. Durch das heute vorliegende Steuer- und Abgabenerhöhungspaket wird dieser Vertrauensverlust noch verschärft.Deshalb lehnen wir Sozialdemokraten es ab. Unsere konstruktiven Alternativen liegen auf dem Tisch.Ich danke Ihnen.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Abgeordneten Norbert Eimer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Unmutsäußerung von der SPD läßt bei dieser Debatte einiges befürchten.
Ich weiß nicht, ob ein solches Verhalten der angemessene demokratische Stil ist.
Meine lieben Kollegen, ich bin kein Freund von Freibeträgen. Das ist hier bekannt; ich habe das oft genug gesagt. Aber ich kann es nicht hinnehmen, in welcher Art Freibeträge hier behandelt werden und wie die Öffentlichkeit — ich sage es bewußt — hinters Licht geführt wird.
Wie wirken denn Freibeträge? — Da Frau Matthäus-Maier bei der Antwort auf meine Zwischenfrage „herumgeeiert" ist,
will ich Ihnen das einmal kurz vorrechnen.
Wenn jemand 100 DM für sein Kind ausgeben will, muß er, wenn er keine Steuern zahlt, 100 DM brutto verdienen, damit er 100 DM ausgeben kann. Wenn jemand einem Durchschnittssteuersatz unterliegt, also 20 % Steuern zahlt, muß er 125 DM verdienen, damit er 100 DM für sein Kind ausgeben kann. Wenn jemand 50 % Steuern zahlt, also Großverdiener ist, muß er 200 DM verdienen, damit er 100 DM für seine Kinder ausgeben kann.
Das Verfassungsgericht sagt nun: Bis zum Existenzminimum muß dem Staat jedes Kind gleich viel wert sein. Das heißt, daß der Reiche für sein Kind genausoviel verdienen muß wie der Arme.
Nichts anderes bewirken die Freibeträge. Frau Matthäus-Maier, wenn Sie mehr wollen, dann hat das mit der ursprünglichen Forderung des Verfassungsgerichts nichts zu tun.
Zur Erwiderung bittet Frau Matthäus-Maier um das Wort.
Sehr verehrter Herr Eimer! Ihre schönsten Berechnungen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein Niedrigverdiener durch den Kinderfreibetrag, den Sie eingeführt haben, für sein Kind im Monat 48 DM
— ich bitte um Entschuldigung, das ist doch völlig unstreitig; fragen Sie einmal Herrn Faltlhauser —, ein Spitzenverdiener für sein Kind im Monat 134 DM erhält. Das sind 86 DM mehr, als der Niedrigverdiener bekommt.
— Mein lieber Herr Eimer, daß Sie sich so eifrig bemühen, dieses häßliche Ergebnis durch dauernde Zwischenfragen, Interventionen und Diskussionen zu verstecken,
liegt offensichtlich daran, daß Sie Mühe haben, dieses ungerechte Ergebnis zu ertragen.
Dieses häßliche Ergebnis war der Grund, warum die FDP 1974, als sie zusammen mit der SPD in der sozialliberalen Koalition war — und auch die CDU und die CSU haben daran mitgewirkt — , die bis dahin bestehenden Kinderfreibeträge abgeschafft und durch das einheitliche Kindergeld ersetzt hat. Damals waren Sie unserer Ansicht, heute driften Sie wieder ab zur Umverteilung von unten nach oben, meine Damen und Herren.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir gehören zu denjenigen, die schon sehr frühzeitig erhebliche, größere finanzielle Mittel zur Herstellung der deutschen Einheit gefordert haben. Ich kann es der Bundesregierung nicht ersparen, sie an ihre Verlautbarungen von gestern und vorgestern zu erinnern. Zunächst hieß es, die im Fonds „Deutsche Einheit" bereitgestellten Mittel würden ausreichen, um die finan-
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Werner Schulz
ziehen Lasten der Vereinigung aufzubringen. Als sich das als Irrtum herausstellte, verbreitete die Regierung noch Wochen nach den Wahlen ihre als Steuerillusion bekanntgewordene Behauptung, sie werde die deutsche Einheit ohne Steuererhöhungen finanzieren.Ja, ich meine in der Tat Steuerillusion. Es ist ja viel darüber gerätselt worden, ob es nun eine Steuerlüge oder eine Steuerillusion war, ob die Regierung wissentlich die Unwahrheit gesagt oder im guten Glauben offenkundig unhaltbare Versprechungen gemacht hat. Beides ist gleichermaßen wenig schmeichelhaft. Ist unsere Regierung nun unehrlich oder ist sie inkompetent? Ich persönlich setze eher auf Ehrlichkeit und muß daher wohl Leichtfertigkeit vermuten. Deswegen sage ich Steuerillusion.Wie dem auch sei, an Glaubwürdigkeit hat die Koalition im Laufe dieser Steuerdebatte schon einiges eingebüßt, und sie ist dabei, weiteren Vertrauenskredit zu verspielen.Es ist schon einmalig, wie es die Regierung immer wieder fertigbringt, für ein und dieselbe Sache gleich zweimal Prügel einzustecken: das erste Mal, wenn sie einen Fehler macht, und das zweite Mal, wenn sie ihn halbherzig korrigiert. Dabei wäre das alles überhaupt nicht nötig gewesen. Schließlich hat kaum jemand außer Ihnen selbst geglaubt, es würde ohne Steuererhöhungen abgehen. Auch die Bevölkerung hat dies nicht getan; denn offenbar haben eine ganze Reihe von Leuten diese Regierung wiedergewählt, obwohl sie Ihren Steuerversprechungen kaum Glauben geschenkt haben.Die Opposition in diesem Haus hat ebenfalls Steuererhöhungen nie rundweg abgelehnt. Bitte korrigieren Sie mich, wenn ich mich hier irre, meine Damen und Herren von der Opposition.Sie könnten für Ihr Steuerpaket vermutlich eine breite Mehrheit in diesem Hause bekommen, wenn es nur in etwa dem Namen entsprechen würde, den Sie ihm aufgedrückt haben. In der Tat wäre ein wirkliches Solidaritätsgesetz notwendig. Aber Sie haben uns nur ein Mittelbeschaffungsgesetz vorgelegt. Indem Sie es Solidaritätsgesetz nennen, beschädigen Sie schon wieder Ihre ohnehin lädierte Glaubwürdigkeit.Es mag unabweislich sein, bestimmte politische Härten an den Anfang einer Legislaturperiode zu legen. Aber es ist absolut inakzeptabel, die Opfer dieser Härten obendrein noch zu verhöhnen. Nichts anderes tun Sie, wenn Sie dieses Gesetz Solidaritätsgesetz nennen. Ich verstehe unter Solidarität etwas anderes, daß nämlich diejenigen, die haben, denen geben, die nichts oder nur wenig haben.In Ihrem Steuerpaket dagegen steht die Solidarität Kopf. Da finanzieren nicht die Reichen aus dem Westen ihre armen Brüder und Schwestern im Osten, nein, es ist genau umgekehrt: Arbeitslose, Kurzarbeiter, Arbeitnehmer im vorzeitigen Ruhestand ebenso wie die in der Warteschleife, Familien in den ostdeutschen Bundesländern mit knapper und knappster Kasse finanzieren über die erhöhten Verbrauchsteuern auf Tabak, Versicherung, Mineralöl
ab sofort Steuersenkungen für die Wohlhabenden, und zwar im Osten wie im Westen.Das einzige, was an diesem Steuerpaket mit Einschränkung das Attribut „solidarisch" verdient, ist die Ergänzungsabgabe. Allerdings hat sie zwei entscheidende Schönheitsfehler: Erstens wird die Ergänzungsabgabe auch auf niedrige Einkommen, soweit steuerpflichtig, erhoben, wenn auch entsprechend der Steuerprogression gestaffelt. Aber die Ergänzungsabgabe steht ja nicht alleine da, und ob der Steuereinkommenstarif in sich sozial ist, sei dahin gestellt.Zudem steht zu befürchten, daß gerade die Ostdeutschen nicht alle Steuertricks beherrschen, um auf legalem Wege ihre Steuerschuld zu mindern, und deshalb aus Steuerunerfahrenheit eine höhere Ergänzungsabgabe zahlen müssen als vergleichbare westdeutsche Haushalte. Im übrigen trifft der Steuerzuschlag für den Aufbau im Osten etwa 70 % der Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern, die so zur Solidarität mit sich selbst herangezogen werden.Zweitens soll die Ergänzungsabgabe bekanntlich auf zwei halbe Jahre befristet werden. Das ist unverständlich und schlecht, weil damit ausgerechnet die einzige halbwegs soziale Komponente des Pakets bereits in einem guten Jahr wieder abgeschafft wird. Das benachteiligt zusätzlich diejenigen, denen nicht das steuerliche Gestaltungsprivileg Möglichkeiten zur Umgehung der Ergänzungsabgabe einräumt. Das ist noch schlechter, wenn man bedenkt, daß auf die Ergänzungsabgab e eine Erhöhung der Mehrwertsteuer folgen soll, was den unsozialen Charakter des Pakets noch deutlicher betont.Bitte erzählen Sie uns nicht die Mär von der angeblichen Notwendigkeit der Mehrwertsteuererhöhung wegen der EG-Steuerharmonisierung. Da machen Sie sich doch kleiner, als Sie sind. Die jetzigen Mehrwertsteuersätze liegen innerhalb der von der EG angepeilten Bandbreite. Es gibt keinen Grund, die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Neue Steuerrichtlinien der EG bedürfen nach wie vor der Einstimmigkeit im Ministerrat. Ohne Zustimmung der Bundesrepublik wird es also keine Angleichung auf höherem Niveau geben.Nun gibt es aber noch die Haushaltsfreibeträge von 600 bzw. 1200 DM für Verheiratete als soziale Komponente. Im Prinzip sehr schön, aber die Entlastungswirkung ist wohl eher im banal Psychologischen zu suchen. Die Familie, die wegen 10 DM Steuerersparnis pro Monat die Abwanderung in den Westen noch einmal überdenkt, müssen Sie uns zeigen. Das reicht ja gerade, um die erhöhte Tabaksteuer zu bezahlen. Dagegen sind die Abschaffung von Gewerbekapital- und die Aussetzung der Vermögensteuer durchaus nicht nur symbolischer Natur. Wie Sie das als verteilungspolitisch auch nur irgendwie vertretbar hinstellen wollen, bleibt völlig fragwürdig.Ich fasse zusammen: Das Steuer- und Abgabenpaket ist in seiner Verteilungswirkung ausgesprochen unsozial. Dies wird sich noch verschärfen, wenn in der zweiten Stufe die Mehrwertsteuererhöhung an die Stelle der Ergänzungsabgabe tritt. Aber nicht nur das; wir sind auch keineswegs davon überzeugt, daß die hier zur Debatte stehenden Gesetze den wirtschaftlichen Aufschwung in Ostdeutschland durchgreifend
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Werner Schulz
fördern werden. Zwei Dinge sind in dieser Hinsicht zu erreichen:Erstens müssen neue arbeitsplatzschaffende Investitionen wirksam gefördert werden.Zweitens müssen bestehende Arbeitsplätze, wo immer dies wirtschaftlich vertretbar ist, gesichert werden.Dabei sind gleichzeitig die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufbau zu verbessern.Um das erste Ziel zu erreichen, sind die Investitionszulagen sicher ein geeignetes Mittel. Sie zu verbessern und auszubauen erscheint uns daher sinnvoll.Anders ist es mit den Sonderabschreibungen. Diese sind im wesentlichen für solche Unternehmen attraktiv, die mit Gewinn arbeiten und infolgedessen die Steuerentlastungen auch tatsächlich realisieren können. Bei kumulativer Anwendung von Investitionszulagen und Sonderabschreibungen haben Sie damit immer eine klare Bevorzugung der mit Gewinn operierenden Unternehmen. Das sind in der Regel die westdeutschen Unternehmen. Was das für die Entwicklungschancen einer eigenständigen Wirtschaft in Ostdeutschland bedeutet, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erläutern.Wir stimmen deshalb im wesentlichen mit den von den Sozialdemokraten geäußerten Vorstellungen überein, die Unternehmen sollten die Wahl haben, entweder die verbesserte Investitionszulage ohne Sonderabschreibungen oder eine geringere Investitionszulage zuzüglich der Sonderabschreibungen wahrzunehmen.Im Hinblick auf die Förderung von Investitionen bringen dagegen die allgemeinen Steuergeschenke an Wohlhabende und Unternehmer — ich nenne hier nur das Stichwort Vermögensteuer — wenig bis gar nichts.Hinsichtlich des zweiten Ziels, der Erhaltung gefährdeter Arbeitsplätze, können dagegen neben der Investitionszulage auch allgemeine Entlastungen der Kostenstruktur hilfreich sein. In dieser Diskussion hat sich nun erfreulicherweise einiges bewegt. Der Verzicht auf die Erhebung der Vermögensteuer soll jetzt nicht mehr der Einstieg in den Ausstieg, sondern der Einstieg in die Vermögensteuerreform sein. Was Herr Waigel da jüngst vorgestellt hat, findet zwar auch nicht unsere Zustimmung, aber ein kleiner Fortschritt ist es wohl.Wenn Sie in die Debatte um die beiden Steuern mit der Zielrichtung einer befristeten Kostenentlastung ausschließlich der in Ostdeutschland ansässigen Unternehmen gegangen wären, wäre das ein diskutabler Vorschlag gewesen, wenn gleichzeitig eine angemessene Kompensation für Länder und Gemeinden für diese Zeit hätte gefunden werden können.Damit komme ich zum dritten Aspekt: Die politischen Bedingungen müssen stimmen. Sie können nicht auf der einen Seite den wirtschaftlichen Aufschwung fördern wollen und auf der anderen Seite Ländern und Gemeinden die finanzielle Substanz nach und nach entziehen. Sie brauchen sich doch garnicht zu wundern, wenn sie bei Landtags- und Kommunalwahlen überall Verluste einstecken.Ich zitiere hier mal einige Passagen aus der Stellungnahme des Deutschen Städtetages zu den Steuerplänen der Koalition:Die Beseitigung der Gewerbekapitalsteuer würde die Schäden noch verstärken, die der Gewerbesteuer schon in der Vergangenheit durch den Bundesgesetzgeber zugefügt worden sind. Gerade die gewinnunabhängigen Bestandteile machen die Gewerbesteuer zu einer guten Gemeindesteuer. Die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer wäre vor allem ein erneuter Schlag gegen die strukturschwachen Städte.Das sind doch keine ideologisch fixierten Regierungskritiker, die so denken. Viele Ihrer Parteifreunde sehen das doch ganz genauso. Finanzschwache Länder und Gemeinden, die ihre Aufgaben nicht in der notwendigen Weise wahrnehmen können, sind ein Investitionshindernis ersten Ranges. Ihr Steuerpaket enthält im Hinblick auf die Förderung des wirtschaftlichen Aufschwungs in Ostdeutschland nur zum Teil sinnvolle, zu anderen Teilen aber wettbewerbsverzerrende, widersprüchliche und auch kontraproduktive Elemente.Die Deutsche Bundesbank hat das Gesetzespaket in ihrer Stellungnahme als „Übel" bezeichnet, wenn auch als „geringeres Übel". Die momentane Finanzpolitik scheint dem Bundesbankpräsidenten ohnehin übel zuzusetzen.Bevor Sie nach neuen Einnahmequellen suchen, sollten Sie, so möchte ich anregen, erst einmal Einsparungsmöglichkeiten im Haushalt nutzen. Ich ergänze: Sie sollten zunächst auch bestehende, aber nicht genutzte Einnahmemöglichkeiten wie die Besteuerung der Zinseinkünfte realisieren. Da Sie nun mit dem Verzicht auf Einnahmen im Osten schon in die Unternehmenssteuerreform eingestiegen sind, stellt sich die Frage, warum dann nicht auch im Westen, nämlich mit der Streichung von Steuerprivilegien, Abschreibungsmöglichkeiten und Subventionen? Wir werden heute abend Gelegenheit haben, dieses Thema ausführlicher zu diskutieren.Lassen Sie mich noch auf einige spezielle Punkte eingehen. Was die Förderung des Erwerbs von Wohneigentum angeht, so kann man sich zum einen fragen, ob zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht eine Konzentration der Mittel auf die ostdeutschen Länder sinnvoll, und zum anderen, ob eine Förderung im Wege des Abzugs von der Steuerschuld nicht wirkungsvoller gewesen wäre. Die Entgegnung, das sei nicht finanzierbar, bestätigt nur das Argument. Das heißt doch im Klartext: Eine Wohneigentumsförderung für die Besserverdienenden können wir uns gerade noch leisten. Das gehört wohl auch zu den systembedingten Asymmetrien der Sozialen Marktwirtschaft.Sie haben in Ihrem Finanzierungspaket die Erhöhung der Mineralölsteuer und zur Kompensation eine Anhebung der Kilometerpauschalen vorgesehen. Oft wird beiläufig kommentiert, dies habe im übrigen auch umweltpolitisch erwünschte Auswirkungen. Genausowenig wie die scheibchenweise Anhebung der
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1675
Werner Schulz
Tabaksteuer nennenswerte positive gesundheitspolitische Auswirkungen hat, führt diese Anhebung der Mineralölsteuer zu einer spürbaren Umweltentlastung. Im Gegenteil: In der Diskussion der vergangenen Monate wurde geradezu darauf spekuliert, daß die Einführung der Steuer von vermuteten Ölpreissenkungen nach dem Golfkrieg begleitet und dadurch für die Verbraucher weniger belastend sein würde.Zu einem Verkehrsgeld oder einer Entfernungspauschale konnten Sie sich nicht durchringen. Mit der Erhöhung der Kilometerpauschale tun Sie nun ein übriges, um erwünschte Nebenwirkungen dieser Steuererhöhung auszuschließen.Ärgerlich ist bei der ganzen Sache vor allem eins: Mit jedem rein fiskalisch motivierten Griff in die Tasche der Autofahrer verschlechtern sich die Möglichkeiten für die Einführung wirklicher Umweltabgaben, deren Aufkommen konzentriert zur verkehrspolitischen Umlenkung eingesetzt werden könnte.
Der Weg der fiskalisch motivierten Besteuerung des Autoverkehrs wird sich als Holzweg erweisen, den wir erst Schritt für Schritt zurückgehen müssen, ehe ein wirkliches Umweltsteuerkonzept — und dies ist dringend nötig — Platz greifen kann.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Hermann Otto Solms.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Finanzpolitik der Koalition war die innenpolitische Erfolgsstory der 80er Jahre.
Das Ergebnis dieser Finanzpolitik kann sich sehen lassen: neun Jahre Aufschwung, stabile Preise, nahezu zwei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze in den westlichen Bundesländern, ausreichende Ausbildungsplätze und, und, und.
Ich wüßte nicht, warum wir von diesem Kurs abweichen sollten. Ich bin auch nicht pessimistisch, was Sie uns unterstellen zu müssen glauben, Frau MatthäusMaier, sondern ich bin voller Zuversicht, daß wir 1994 den Bürgern in ganz Deutschland eine erfolgreiche Bilanz vorlegen können, wenn wir diesen Kurs finanzpolitischer Solidität durchhalten.
Die erfolgreiche Finanzpolitik der 80er Jahre muß also fortgesetzt werden. Die Finanzpolitik muß weiterhin davon bestimmt sein, den Staatshaushalt auf das Wesentliche zu konzentrieren und den Staatsanteil am Bruttosozialprodukt zurückzudrängen.Was in den 80er Jahren richtig war, kann jetzt nicht falsch sein.
Die Steuersenkungspolitik der Koalition hat sich bewährt. Sie wird fortgesetzt.
Um diesen Weg nicht zu verlassen und um die notwendige Ausgabendisziplin zu wahren, hatten wir versucht, den gesamtdeutschen Prozeß ohne Steuererhöhungen zu meistern. Diesen Weg müssen wir vorübergehend verlassen. Ich gebe zu: Wir müssen unsere Aussage korrigieren, aber nicht, weil wir irgend jemanden täuschen wollen, sondern weil wir wegen besserer Erkenntnisse nun wissen: Um das Notwendige zu leisten, müssen wir flexibel genug sein, von Zusagen Abstand zu nehmen. Dies ist im Interesse des Gesamtwohls und nicht aus parteitaktischen Gründen geschehen.Jedoch verlassen wir den Pfad der finanzpolitischen Tugend nur vorübergehend. Vorübergehende Steuererhöhungen sind notwendig geworden. Ein anderer Weg, der einer weiteren Verschuldung, ist nicht zu verantworten. Eine Erhöhung der Nettokreditaufnahme wäre im Hinblick auf die Zinsentwicklung und die Geldwertstabilität die schlechteste Finanzierungsalternative gewesen.
Sie hätte die Stabilität der D-Mark, die eigentliche Basis unseres Wohlstands, erschüttert. Das Vertrauen in eine solide Währung und die Geldwertstabilität haben allererste Priorität.
Es ist ein bewährter finanzpolitischer Grundsatz, daß der Druck zur Ausgabeneinsparung Vorrang vor Steuererhöhungen haben muß. Deshalb hat die FDP in den Koalitionsverhandlungen so großen Wert auf den Abbau von Subventionen gelegt und andere Sparmaßnahmen gefordert. Ohne die energische Durchsetzung wäre es nicht zu dem Beschluß gekommen, weitere 10 Milliarden an Subventionen einzusparen.
Ich darf daran erinnern, daß wir im Rahmen der großen Steuerreformen bereits ein Volumen von 13 1/2 Milliarden DM eingespart haben.Die Kürzungen sind eine gemeinsame Aufgabe von uns allen. Ich muß hier an die Gesamtverantwortung von Parlament und Regierung für solide Staatsfinanzen erinnern. Es ist, Herr Kollege Faltlhauser, auch nicht eine spezielle Aufgabe des Bundeswirtschaftsministers allein, sich darum zu kümmern, sondern es ist eine Aufgabe der Koalition; wir haben dies gemeinsam beschlossen.
Das Verhalten der SPD im Finanzausschuß zeigt, daß die Opposition nicht ernsthaft bereit ist, am Subventionsabbau mitzuwirken. Zählt man die zahlreichen kostenträchtigen Anträge der SPD zusammen, so kommt man schnell auf ein Volumen von 50 Milliarden DM und mehr. Schon die Forderung der SPD, die Investitionszulage für die neuen Bundesländer zu
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Dr. Hermann Otto Solmsverlängern, sie mit einem Fördersatz von 25 % auszustatten und auch auf Gebäude auszudehnen, würde mehr als 30 Milliarden DM zusätzlich kosten. Die Vorschläge der SPD würden zwangsläufig weitere Steuererhöhungen auslösen.
Deshalb wäre es eine Frage der Ehrlichkeit, dann, wenn man solche Vorschläge macht, zu sagen, wie man sie finanzieren soll und welche Steuern man dann erhöhen will, um dies zu verwirklichen.
Sie fordern ja, darüber heute in einer namentlichen Abstimmung zu entscheiden. Ehrlich wäre die namentliche Abstimmung, wenn die Finanzierungsvorschläge gleich mitgeliefert würden.
Herr Abgeordneter Solms, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Kollege Solms, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Berechnungen der Bundesregierung ergeben haben, daß die Investitionszulage zusätzlich — man muß ja gegenrechnen — 14 Milliarden DM und nicht über 30 Milliarden DM ergeben würde und daß das auch so in dem Bericht des Finanzausschusses ausgewiesen ist und daß da sozusagen noch nicht eingerechnet ist, was an dynamischer Wirtschaftsentwicklung dann über Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Steuern wieder einkommt?
Nein, ganz im Gegenteil. Wenn Sie jetzt die Diskussion um die Fördermaßnahmen nicht umgehend beenden und es bei dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost belassen, welches ja die Zustimmung der wesentlichen Verbände und Gruppierungen in diesem Land gefunden hat, dann werden Sie den Investitionsprozeß weiterhin verzögern, denn die Investitionswilligen warten natürlich ab, welche Geschenke an sie noch verteilt werden sollen. Nein diese Diskussion muß nun beendet werden,
die Investitionen müssen beginnen, und sie beginnen ja bereits. Die Situation sieht bereits wesentlich besser aus, als es die öffentlichen Medien darstellen. Ich gehe davon aus, daß dieser dynamische Prozeß an Geschwindigkeit zunehmen wird und daß wir in den kommenden Monaten und Jahren eine sehr gesunde Entwicklung erleben werden. Allerdings müssen wir erst ein tiefes Tal durchschreiten. Das weiß jeder, der sich mit der Sache befaßt.Zusätzliche Fördermaßnahmen können keine zusätzlichen Investitionen auslösen; das Angebotspaket bietet für jeden Investitionswilligen etwas, und zwar in ausreichendem Maße. Sie gefährden aber die Stabilität der öffentlichen Finanzen in unverantwortlicher Weise, wenn wir weitere Ausgaben beschließen. Die Forderung nach zusätzlichen Fördermaßnahmensind konzeptionsloser Aktionismus, der Investoren nicht beflügelt, sondern verunsichert und damit die angelaufenen positiven Entwicklungen und positiven Auswirkungen des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost weiterhin gefährdet.Das Gemeinschaftswerk hat die Zustimmung aller wesentlichen gesellschaftlichen Gruppen gefunden. Ohne den Solidaritätszuschlag wäre es nicht möglich gewesen, das Gemeinschaftswerk zu verwirklichen. Es ist zielgerecht, ausreichend, entspricht den Forderungen nach Solidarität. Deshalb auch die Zustimmung von Gewerkschaften und Arbeitgebern. Es entspricht den Forderungen nach Solidarität, und es wird bereits in starkem Maße angenommen.Wären die westlichen Bundesländer von Anfang an bereit gewesen, auf einen Teil ihrer wachstumsbedingten Steuermehreinnahmen zu verzichten, die sie gerade auch auf Grund des gesamtdeutschen Prozesses bekommen haben, dann wären die Steuererhöhungen vielleicht gar nicht, zumindest aber nicht in der jetzt notwendigen Höhe erfolgt.
Wichtig ist, daß der Solidaritätszuschlag auf ein Jahr begrenzt ist. Es ist ein Element dieser langfristigen Finanzpolitik, daß die Leistungskraft derjenigen, die die Leistung in der Wirtschaft zu erbringen haben, nämlich von Unternehmern und Arbeitnehmern, nicht durch zusätzliche Steuerbelastungen eingeschränkt wird.Daran wird sich nichts ändern. Der Solidaritätszuschlag darf auf keinen Fall verlängert werden. Es muß Vertrauen bestehen, daß die Entlastung des Leistungsprozesses fortgesetzt wird. Die Unternehmensteuerreform ist deshalb ein zwingendes Gebot zur Schaffung fairer Wettbewerbsverhältnisse, insbesondere wenn man daran denkt, daß ab 1993 der gemeinsame Binnenmarkt gilt.Meine Damen und Herren, es ist der deutschen Wirtschaft nicht zuzumuten, daß ihre Erträge wesentlicher höher, nahezu doppelt so hoch wie in einzelnen Ländern Europas, belastet werden, wenn sie in einem gemeinsamen Markt mit gemeinsamen Wettbewerbsverhältnissen agieren müssen.
Nein, wir müssen hier zu fairen Wettbewerbsverhältnissen kommen, d. h. die Wirtschaft genauso wie die Arbeitnehmer muß so belastet werden, wie es dem Belastungsniveau in den vergleichbaren und mit uns konkurrierenden Märkten entspricht.Falls nach Wegfall des Solidaritätszuschlags zur Realisierung einer familiengerechten und wettbewerbsfreundlichen Besteuerung Erhöhungen notwendig sind, kommt ab 1993 die Mehrwertsteuer in Betracht. Wir haben dies ganz bewußt so beschlossen, damit Sie nicht schon im vorhinein daraus wieder eine neue Steuerlügen- Story entwickeln, Frau Matthäus.
Vielmehr ist ganz klar, daß im Zusammenhang mitdem gemeinsamen Binnenmarkt hier Korrekturenmöglicherweise nötig sind. Das ist auch vor der Wahl
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1677
Dr. Hermann Otto Solmsnie bestritten worden. Im Zusammenhang mit Europa stand das immer zur Diskussion.Für die FDP muß das Ziel gesichert sein, ab Mitte der 90er Jahre die Steuerlastquote wieder auf das niedrige Niveau von 1990 zurückzuführen. Die indirekten, konsumabhängigen Verbrauchsteuern und die direkten, leistungsbremsenden direkten Steuern müssen wieder in ein ausgeglichenes Verhältnis gebracht werden. Es ist übrigens die Erkenntnis der Finanzwissenschaftler überall auf der Welt, daß das gesundeste Steuersystem jenes ist, in dem sich direkte und indirekte Steuern auf gleichem Niveau gegenüberstehen.Die Unternehmensteuerreform bleibt also auf der Tagesordnung. Sie ist in dieser Legislaturperiode zu realisieren. Dabei müssen die Substanzsteuern, die Gewerbekapital- und die Vermögensteuer, genauso wie die Ertragsteuern, die Lohn- und die Einkommensteuer sowie die Körperschaftsteuer, spürbar gesenkt werden.Ich will jetzt noch mit einem Satz auf die Diskussion über die Vermögensteuer eingehen. Wir haben niemals die totale Abschaffung der Vermögensteuer gefordert. Die FDP hat, ausweislich ihres Wahlprogramms, gesagt: Es geht darum, die betriebsbezogene Vermögensteuer abzubauen.
Genau das ist es, was wir realisieren wollen; denn die Vermögensteuer — bezogen auf das Betriebsvermögen — führt dazu, daß Betriebe, die in einer schwierigen Situation sind und die keine Erträge erzielen, ihre Steuern aus der Substanz zahlen müssen. Das führt natürlich sehr schnell dazu, daß solche Betriebe, gerade die kleinen und mittelständischen Betriebe, in die Gefahr ihrer Existenz geraten.
— Herr Kollege Poß, Sie, der Sie doch genau so lange wie ich in der Diskussion sind, wissen doch, daß einem mittelständischen Unternehmen mit Freibeträgen nicht zu helfen ist. Es geht darum, daß das Unternehmen damit rechnen kann, daß diese Belastung nicht eintritt. Betriebe brauchen klare Kalkulationsgrundlagen und nicht die Hoffnung darauf, daß ein gnädiger Steuergesetzgeber ihnen irgendwo, hier oder dort, entgegenkommt.
Meine Damen und Herren, es ist aber nicht nur die Unternehmensteuerreform, die es in Angriff zu nehmen gilt, sondern es geht darüber hinaus darum, die Familienbesteuerung so umzugestalten, daß das Steuerrecht den familiären Belastungen entspricht; d. h., daß die Familien drastisch von der Besteuerung entlastet werden.Des weiteren geht es darum, die steuerliche Befreiung des Existenzminimums so zu gestalten, daß sie den Ansprüchen des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Das heißt, daß man natürlich auch in dieser Legislaturperiode darüber reden muß, wie der Grundfreibetrag gestaltet, d. h. erhöht wird.Meine Damen und Herren, 1994 wird es sich erweisen, daß es für die finanzpolitische Strategie der Koalition in Wirklichkeit keine glaubwürdige Alternative gibt. Diese Strategie wird zu dem Erfolg führen, den wir im Interesse unserer Bürger in Gesamtdeutschland brauchen. Wir werden diese Strategie unerschütterlich verfolgen, und wir werden uns von den Argumenten, die wir ja nun seit 10 Jahren immer wieder von der SPD gehört haben, die uns aber nicht abhalten konnten, diese gesunde finanzpolitische Strategie 1982 zu beschließen und beharrlich durchzuführen, nicht beirren lassen. Auf diesem Kurs werden wir beharren.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schumann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Steueränderungsgesetz und dem sogenannten Solidaritätsgesetz stehen Gesetze auf der Tagesordnung, die ohne Zweifel in den vergangenen Wochen heiß diskutiert wurden; weniger im Osten Deutschlands als im Westen.Grundsätzliche Aussagen der Unionsparteien zur Wahl wurden mit diesen Gesetzen umgestoßen, und das brachte und bringt Ärgernisse hervor; vor allem bei den in Sachen Wahlen viel geübteren westlichen Mitbürgern unseres Staates. Wir lehnen diese Gesetze jedoch nicht nur deshalb ab, weil eine Wahlaussage nicht gehalten wurde, sondern weil die Finanzierung des Aufbaus der fünf neuen Länder einschließlich Berlins nach unserer Auffassung konzeptionslos erfolgt, und vor allem, weil die Mehreinnahmen an Steuern für einen Krieg als Antwort auf die völkerrechtswidrige Annexion Kuwaits durch den Irak ausgegeben werden;
für einen Krieg, den viele Bürger dieses Landes abgelehnt haben, für einen Krieg, der viel menschliches Leid und katastrophale ökologische Folgen hinterlassen hat.Wir halten es für prinzipiell unzulässig, Ausgaben für den Golfkrieg mit den Anforderungen der deutschen Einigung und den Anforderungen der Dritten Welt zu verknüpfen. Neben den finanzpolitischen und finanztechnischen Problemen, die diese Gesetze mit sich bringen, ist das für uns ein absoluter Grund, die Zustimmung zu diesen Gesetzen zu verweigern.Daß die Einheit Geld kosten wird, und zwar sehr viel Geld, mußte jedem Realpolitiker und jedem Ökonomen von Anbeginn klar sein. Es fehlte ja auch nicht an Stimmen aus allen politischen Lagern und der Wirtschaft, die mit Nachdruck vor den Folgen eines CrashKurses warnten.Was die PDS/Linke Liste angeht, so hat sie nicht nur eine quasi über Nacht erfolgende Währungsunion abgelehnt, sondern auch mit großer Klarheit auf die da-
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1678 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Dr. Fritz Schumann
mit verbundenen unausweichlichen Konsequenzen verwiesen. Die PDS hat genauso entschieden die finanzpolitischen Regelungen des Einigungsvertrags und speziell der Haushalte abgelehnt, weil sie völlig unzureichend sind und sich ihrem Wesen nach gegen eine tatsächliche Wirtschafts- und Sozialunion richten.Es war auch von vornherein völlig klar, daß die Bundesregierung zum Mittel der Steuererhöhung greifen wird. Eine Regierung, die dem Kapital verpflichtet ist, kennt nur eine Alternative: Abwälzung des Finanzdrucks, den sie selbst durch eine Art und Weise von Währungsunion und Anschluß noch erheblich vergrößerte, auf die Bevölkerungsmehrheit. Das lehnen wir so lange ab, solange nicht ernsthaft die eigentlichen Gewinner der Vereinigung, das westdeutsche Kapital, zur Kasse gebeten werden.Hinzu kommt, daß die Bereitstellung von finanziellen Mitteln allein kein Ersatz von Wirtschaftspolitik sein kann. Fakt ist doch, daß der Verzicht auf ein mittelfristiges Aufbauprogramm die Anpassungskrise weiter vertieft hat. Solange nicht ernsthaft an ein solches notwendiges Aufbauprogramm herangegangen wird, werden die Kosten der Einheit unausweichlich weiter anwachsen und sind weitere Steuererhöhungen sowie die Zunahme der Staatsverschuldung vorprogrammiert.In dieser Situation fordern wir die Bundesregierung auf, eine Wirtschaftspolitik zu betreiben, die zu Strukturen führt, die sich auch im nächsten Jahrtausend bewähren. Es gilt, die große Chance zu nutzen, eine Wirtschaft aufzubauen, die keine bloße Kopie der altbundesdeutschen ist, sondern ökologischen, sozialen und humanen Erfordernissen Rechnung trägt. Bei einem solchen Modell ist manches auch mit mittlerer Kapitalintensität machbar.Deshalb ist für uns die Privatisierung weder die einzige Alternative, noch darf sie als schneller Schlußstrich unter das Vergangene, unter die Ex-DDR gesehen worden. Nur durch den Erhalt der Produktionsstandorte in Ostdeutschland und die Ankurbelung, Sanierung und Modernisierung der Produktion lassen sich der Aufschwung in Ostdeutschland tatsächlich bewältigen und übergroße negative Folgen für die Altbundesländer und damit für die gesamte ökonomische und soziale Entwicklung in ganz Deutschland vermeiden.Die PDS/Linke Liste hält auch gegenwärtig noch ein konkretes Strukturprogramm für jedes neue Bundesland wie auch für Berlin für eine vordringliche Tagesaufgabe. Sie wird den Landesregierungen dazu ihre konkreten Vorschläge unterbreiten. Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie den Prozeß der Erarbeitung eines Szenarios für jede Region unterstützt, bei dem den Bürgerinnen und Bürgern eine Aussicht auf einen Arbeitsplatz eröffnet wird.In der Begründung der Gesetzentwürfe ist auch die Rede von der Unterstützung für die Reformen in Osteuropa. Das ist zweifellos richtig und notwendig. Aber Finanzspritzen allein sind viel zu wenig, um bei der Lösung der Probleme zu helfen. Notwendig sind Strategien, die helfen, daß Osteuropa ein potenter Partner in einer europäischen Wirtschaftsordnungund einer neuen Weltwirtschaftsordnung wird. Finanzielle Mittel für Osteuropa sind vor allem dann sinnvoll, wenn sie den Austausch von Waren und Leistungen fördern — ich betone hier: den Austausch; dieser beruht bekanntermaßen auf Gegenseitigkeit — und auch den Absatzmarkt der EG für osteuropäische Waren ohne jegliche Diskriminierung öffnen.Eingebettet in eine solche Wirtschaftspolitik geht die PDS/Linke Liste in ihren finanzpolitischen Vorstellungen davon aus, daß die finanziellen Mehrforderungen vor allem über eine Umverteilung des Reichtums und eine Veränderung der Verteilungsstrukturen zugunsten der Lohnabhängigen aufgebracht werden müssen.Wir unterstützen deshalb nachdrücklich die folgenden Vorschläge von Gewerkschaften, des Memorandums 1991 sowie verschiedener linker Gruppen und Personen:Erstens: Erhebung einer Ergänzungsabgabe auf die Körperschaftsteuer- sowie die Einkommensteuerschuld von 10 % für Besserverdienende über fünf Jahre hinweg, z. B. ab 100 000 DM für Verheiratete.
— Wir haben keine Angst davor, wenn das die betrifft.Zweitens: Einführung einer Arbeitsmarktabgabe ab einem Monatseinkommen von 6 500 DM, in die Beamte und Selbständige eingeschlossen sind, und Rücknahme der Erhöhung der Arbeitslosenversicherung um 2,5 Prozentpunkte, die ja einem Sonderopfer dieser Versicherungsgruppe gleichkommt.Drittens: Verstärkte Betriebsprüfungen, Bekämpfung der Steuerkriminalität und Maßnahmen zur Herstellung von Steuergerechtigkeit, kontrollierte Versteuerung der Zinsen im Rahmen der Einkommensteuer sowie Anpassung der Einheitswerte von Immobilien an ihre Verkehrswerte.Viertens: Auflegung einer Anleihe mit Zeichnungspflicht für Banken, Versicherungen und Handel sowie die privaten Haushalte in Abhängigkeit vom Vermögensstatus, Mindestverzinsung mit der Inflationsrate, womit das Opfer im Zinsverlust gegenüber den Kapitalmarktzinsen bestünde.Fünftens: Erhebung einer Investitionshilfeabgabe vom Waren produzierenden Gewerbe in Westdeutschland zugunsten der ostdeutschen Wirtschaft, die ihrerseits über einen Sonderfonds den Unternehmen, die die Investitionshilfeabgabe aufbringen, entsprechende Beteiligungen zur Verfügung stellt.Sechstens: Radikale Verringerung der Rüstungsausgaben um zunächst 20 Milliarden DM bis Ende 1992, wovon 10 Milliarden DM für die Rüstungskonversion eingesetzt werden müssen, sowie die Kürzung von sozial oder ökologisch nicht begründbaren Subventionen.Mit diesem Finanzierungsprogramm müssen die neuen Bundesländer und ihre Gemeinden in die Lage versetzt werden, ihren sozialen, ökonomischen und ökologischen Aufgaben gerecht zu werden. Ein finanziell notleidender öffentlicher Sektor behindert nicht
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Dr. Fritz Schumann
nur den Auf- und Umbau in Ostdeutschland, vielmehr vertieft sich dadurch die Anpassungskrise. Die Entwürfe des Steueränderungs- und des Solidaritätsgesetzes lehnen wir als unsozial ab. Schließlich will die Bundesregierung den Eindruck erwecken, daß es hier um Solidarität von West für Ost gehen soll. Dazu sei festgestellt — das wurde hier schon mehrfach betont — , daß auch 70 % der Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern die von der Bundesregierung geplante Ergänzungsabgabe zahlen müssen. Sicher, der Höhe nach betrachtet, zahlen sie weniger als die Bürger in den alten Bundesländern. Andererseits geht es für nicht wenige angesichts der steigenden Mieten und Tarife um eine für ihre Existenz bedeutsame Größe. Gleichzeitig sind auch die Betriebe in Ostdeutschland von der Mineralölsteuererhöhung betroffen. Und wo gerade Überlebenschancen berechnet wurden, sind in einer Reihe von Fällen diese als gerettet eingeschätzten Arbeitsplätze für die Arbeitnehmer wieder verloren.Die unsoziale Wirkung der vorliegenden Steuergesetze möchte ich an Hand von vier Punkten nochmals kurz charakterisieren.Erstens. Für die Bürger der alten Bundesländer in unteren Einkommensgruppen werden die positiven Wirkungen der Steuersenkung 1986/90 zunichte gemacht. Das wurde für Bezieher von Jahreseinkommen bis zu 45 000 DM durch die Wirtschaftsinstitute konkret belegt.Zweitens. Unsoziale Belastungen gehen vor allem von der Anhebung der Heizöl- und Erdgassteuer aus. Besonders betroffen werden Haushalte mit Kindern und Bezieher niedriger Einkommen sein, die einen vergleichsweise hohen Anteil ihres Einkommens für das Heizen verwenden müssen. Auch wenn durch das Einsparen von Energie sicher etwas ökologisch Wertvolles gemacht wird, halten wir die Anteile für viel zu hoch.Drittens. Die Einnahmen aus der Erhöhung der Mineralölsteuer, die durch eine Erhöhung der Kilometergeldpauschale flankiert wird, sollten für den Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs eingesetzt werden. Das wäre ein Anreiz, um den Ausstieg aus einer übermäßigen individuellen Pkw-Nutzung zu erleichtern. Durch die Erhöhung der Mineralölsteuer sind andererseits Menschengruppen, die bei ihrer Fortbewegung auf Personenkraftwagen angewiesen sind — ich denke insbesondere an Menschen mit Behinderungen — besonders benachteiligt. Hier sollte eine staatliche Ausgleichszahlung erfolgen.Viertens. Die im Steueränderungsgesetz vorgesehenen Korrekturen beim Kinderfreibetrag und Kindergeld sind unzureichend. Sie entsprechen nicht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und müssen daher nachgebessert werden. Dem Anspruch, einen sozialverträglichen mittelfristigen Finanzierungsrahmen zu geben, entsprechen die vorliegenden Gesetze unseres Erachtens nicht.Danke.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf mich zunächst an Sie, Frau Kollegin Matthäus-Maier, wenden: Ihr Vorwurf der Lüge und Täuschung fällt auf Sie zurück.
Sie arbeiten permanent mit Halbwahrheiten und Unterstellungen und suchen damit ganz bewußt zu diffamieren. Sie haben seit den Jahren 1982/83 nichts dazugelernt, weder sachlich noch in der Form.
Sie differenzieren nicht einmal zwischen Abgaben, Gebühren und Steuern. Sie haben auch keine Ahnung von der Situation, wie sie sich Ende Januar, Anfang Februar dieses Jahres international und national dargestellt hat. Sie wiederholen schließlich in stereotyper Dummheit das, was schon 1982 falsch gewesen ist.
Angesichts der Wortwahl der Frau Kollegin MatthäusMaier sehe ich mich nicht veranlaßt, davon nur einen Deut zurückzunehmen.
Es ist bodenlos schäbig, dem Kollegen Krause und der Frau Kollegin Bergmann-Pohl deren Gehalt vorzuwerfen und ihnen zu unterstellen, sie würden nicht ihre volle Kraft dem ganzen deutschen Vaterland zur Verfügung stellen.
Sie sind auch nicht über das informiert, was sich am vergangenen Freitag und Samstag in Luxemburg vollzogen hat. Sie wissen noch nicht einmal, daß zwischenzeitlich gar keine Bandbreiten vorgeschlagen werden, sondern daß von der Präsidentschaft Mindestsätze vorgeschlagen werden. Sie wissen ganz genau, daß wir uns für den Mindestsatz 14 % eingesetzt haben, uns dafür auch künftig einsetzen werden und daß von uns kein anderer Vorschlag gekommen ist.Sie sollten aber endlich einmal zur Kenntnis nehmen, daß fast alle sozialdemokratischen und sozialistischen Finanzminister Europas sich für einen höheren Mindestsatz als 14 % einsetzen. Es würde schon ein Mindestmaß auch an Information Ihrerseits voraussetzen, daß Sie wissen, daß sich die große Mehrheit der sozialdemokratischen Finanzminister und -senatoren der deutschen Bundesländer für eine Erhöhung der Mehrwertsteuer einsetzt, um ihre Einnahmebasis zu verbreitern.
Sie behaupten in diesem Zusammenhang wissend die Unwahrheit und werden dabei nicht einmal rot.
— Im Gesicht!Noch ein Wort zum Familienlastenausgleich: Wie kommen Sie eigentlich dazu, das Bundesverfassungsgerichtsurteil hinsichtlich der Bescheide von 1983 bis
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1680 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Bundesminister Dr. Theodor Waigel1985 zu kritisieren, wo Sie mit Ihrer verfehlten Familienpolitik überhaupt erst dazubeigetragen haben, daß der Familienlastenausgleich nicht ausreichend gewesen ist?
Sie haben die Kinderfreibeträge abgeschafft, und Sie haben ein Riesendefizit im Haushalt hinterlassen, das wir zuerst beseitigen mußten, um Familienpolitik überhaupt wieder betreiben zu können.
Herr Präsident, wir beraten heute abschließend über zwei steuerpolitische Gesetzesvorlagen, die im Zusammenhang mit der vor sieben Monaten vollzogenen Einheit Deutschlands stehen.Für mich — auch für andere — ist dies die erste Rede, die ich im Reichstag in einer Plenarsitzung des Deutschen Bundestages vortrage.
Ich freue mich darüber; denn der Reichstag und Berlin waren und bleiben für immer Symbol der Einheit unseres Vaterlandes.Wir dürfen das Werk vollenden, für das unsere Väter gekämpft haben. Dr. Fridolin Rothermel aus meinem Heimatort Oberrohr, später Landrat von Krumbach, wurde als Reichstagsabgeordneter 1933 von den Nationalsozialisten aus diesem Haus und aus dem politischen Leben verbannt. Es ist der Auftrag dieses tapferen Mannes und vieler seiner Zeitgenossen aus allen demokratischen politischen Lagern, den wir jetzt zu erfüllen haben.Mit dem Steueränderungsgesetz 1991 und dem Solidaritätsgesetz lösen wir vor allem zwei vordringliche Aufgaben: Wir stellen die Steuerpolitik in den Dienst einer umfassenden Wirtschaftsförderung in den neuen Bundesländern und passen die regionalen Hilfen für Berlin und das Zonenrandgebiet an die veränderten politischen und wirtschaftlichen Bedingungen an. Durch Einnahmeverbesserungen festigen wir die Haushaltsgrundlagen für die Erfüllung erheblich gestiegener nationaler und internationaler Aufgaben.Mit unseren aktuellen steuerpolitischen Initiativen bleiben wir im Rahmen unserer langfristigen finanzpolitischen Konzeption. Wir haben in den letzten neun Jahren die Steuerpolitik erfolgreich für die Interessen unserer Bürger eingesetzt; wir werden das auch in Zukunft tun.Ich möchte, auch wenn es schon etwas länger zurückliegt, an die Situation 1982/83 erinnern, die in bestimmten Punkten mit der heutigen vergleichbar ist. Damals allerdings steckte die Bundesrepublik Deutschland in einer tiefen Wachstumskrise. Spielraum für einen Einnahmeverzicht der öffentlichen Haushalte war nicht vorhanden, und dennoch konnten wir die Steuerpolitik erfolgreich als Initialzündung für den wirtschaftlichen Aufschwung einsetzen. Wir haben damals, wie jetzt im Beitrittsgebiet und ab 1993 in ganz Deutschland, vor allem bei den ertragsunabhängigen Steuern angesetzt und Entlastungen bei der Gewerbesteuer sowie bei der Vermögensteuer auf Betriebsvermögen verwirklicht. Damals erfolgte die Gegenfinanzierung über eine Anhebung der Mehrwertsteuer.Schon aus dieser Zeit kennen wir das falsche, demagogische Argument der „Umverteilung von unten nach oben", der „Steuergeschenke für Reiche" und was sonst noch in der Mottenkiste des SPD-Vokabulars zu finden ist.
Tatsache ist aber: Die steuerpolitische Initiative der Jahre 1982/83 hat zusammen mit der wirksamen Konsolidierungs- und Deregulierungspolitik die erfolgreichste Wirtschaftsperiode seit 1969 eingeleitet.
In der Summe hat die Steuerpolitik der 80er Jahre alle gesteckten Ziele erreicht. Wir hatten zuletzt einen Zuwachs des realen Bruttosozialprodukts um 4,6 Prozent. Die privaten Einkommen sind gegenüber 1982 um rund 25 Prozent gestiegen. Die Arbeitslosigkeit ist in den alten Bundesländern im April auf gut 1,6 Millionen und damit auf den niedrigsten Stand seit 1981 zurückgegangen. Und wir sind bei der Konsolidierung aller öffentlichen Haushalte weit vorangekommen.Die Steuerpolitik der 80er Jahre hat, auch wenn wir die Entwicklung des Jahres 1990 nicht voraussehen konnten, einen entscheidenden Beitrag für die Bewältigung der Wiedervereinigungsaufgabe geleistet.
Die Wiedervereinigungsaufgabe hat die Voraussetzungen steuerpolitischer Entscheidungen grundsätzlich geändert. Ursprüngliche Vorhaben werden sich verzögern, und Steuererhöhungen sind zunächst unvermeidbar. Aber wir werden die Steuerpolitik auch in Zukunft einsetzen, um Wachstum und zusätzliche Beschäftigung im Interesse der Bürger in Ost und West zu erreichen.In diesem Jahr haben wir durch das Solidaritätsgesetz zusätzliche Steuereinnahmen von gut 17 Milliarden DM, für das kommende Jahr von rund 27 Milliarden DM vorgesehen. Dem stehen bereits ab 1. Januar 1992 Steuersenkungen zugunsten der Familien und Verbesserungen beim Kindergeld mit einem Volumen von voraussichtlich rund 7 Milliarden DM gegenüber. Im Saldo beläuft sich der Beitrag der Bürger zur Bewältigung der erheblich gestiegenen internationalen und nationalen Herausforderungen auf weniger als die Hälfte dessen, was ihnen in der Steuerreform 1986 bis 1990 gegeben wurde.
Bei einer solchen Rechnung wird noch folgendes übersehen: Die entscheidende Strukturreform, vor allem die Einführung des linearen Einkommensteuertarifs, hat dauerhaft Wachstumskräfte freigesetzt, die wir jetzt dringend benötigen.Meine Damen und Herren, anscheinend hat die Frau Kollegin Matthäus-Maier ein Zitat des Kollegen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1681
Bundesminister Dr. Theodor WaigelMomper in der „Bild"-Zeitung nicht zur Kenntnis genommen. Dort heißt es zur Frage der Finanzierung industrieller Sanierungsvorhaben wörtlich: „Über Steuererhöhung, anders läuft es nicht. Und zwar in allen Bereichen — Verbrauchsteuern, möglicherweise auch eine höhere Mehrwertsteuer." — Beschäftigen Sie sich doch einmal mit den steuerpolitischen Vorschlägen und Äußerungen in Ihrer Partei, Frau Kollegin Matthäus-Maier.
Keine der Finanzierungsalternativen kann isoliert betrachtet werden. Für sich genommen sind Steuererhöhungen wachstumspolitisch natürlich problematisch. An dieser Einschätzung hat sich seit dem letzten Jahr nichts geändert.
Allerdings, wir müssen in dem Zusammenhang sehen, welche Alternativen bestehen. Niemand kann es verantworten, daß durch eine wachsende Kreditaufnahme die Zinsen steigen. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch die Befürchtungen unserer Partner in Europa und im internationalen Konzert ernst nehmen, auch wenn die Ersparnisbildung — gerade während des Wiedervereinigungsprozesses — zur Liquidität der internationalen Kapitalmärkte ganz beachtlich beiträgt. Wir brauchen das Vertrauen der internationalen Anleger. Wir brauchen die Einbettung in eine stabile Weltwirtschaft, wenn wir die Aufgabe der Wiedervereinigung bewältigen wollen.Die vorgeschlagenen Steuererhöhungen stärken vor allem die Einnahmebasis des Bundes, weil der Bund auch den größten Teil der in den letzten Monaten zusätzlich entstandenen Aufgaben zu tragen hat. Dabei möchte ich den inzwischen erheblichen Beitrag der Bundesländer nicht in den Hintergrund rücken. Durch die Entscheidung der Ministerpräsidentenkonferenz vom 28. Februar 1991 ist eine weitaus bessere Verteilung der Finanzierungslasten erreicht worden.Golfkosten, Unterstützung der mittel- und osteuropäischen Staaten, humanitäre Hilfe für die Kurden und vor allem der 100-Milliarden-DM-Transfer zugunsten der neuen Bundesländer gehen jedoch unbestritten vor allem zu Lasten des Bundeshaushalts.Auch in Zukunft fühlen wir uns aber mitverantwortlich für eine solide Finanzierungsgrundlage der anderen öffentlichen Haushalte. Die angekündigte Mehrwertsteuererhöhung — ich halte es für fair, auch in Luxemburg ausgesprochen zu haben, daß wir diese Maßnahme zum 1. Januar 1993 treffen wollen,
ohne daß wir uns schon heute über die Höhe geeinigt hätten —
ist nicht zuletzt ein Angebot an die Länder zu einem angemessenen Ausgleich der Interessen.Wir sind auch in anderen Fragen zur Kooperation bereit. Das gilt z. B. für die Forderung des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Fraktion, Herrn Kollegen Wolfgang Roth, vom 30. August 1990. Unter der Überschrift „Das Ruder herumwerfen" schrieb Kollege Roth im Pressedienst seiner Fraktion damals: „Verzicht auf Substanzbesteuerung bei Unternehmen in der DDR für 5 Jahre." Wir werden den Vorschlag gern aufgreifen und mit Ihnen diskutieren.Wenn die sozialistische Regierung Frankreichs inzwischen Vermögen bis zu 1,2 Millionen DM von der Vermögensteuer ganz freistellt, hat das mit Sicherheit nichts mit der von der SPD immer wieder angeführten Umverteilung von unten nach oben zu tun. Es geht vielmehr ganz einfach darum, dem produktiven Kapital attraktive Bedingungen zu bieten.Wir wollen offene Grenzen. Wir wollen freien Wettbewerb in Europa und der ganzen Welt. Dann müssen wir aber auch die Konsequenz ziehen und die steuerlichen Voraussetzungen an das anpassen, was in anderen Staaten bereits vollzogen oder geplant ist.
Andernfalls sind nicht die Kapitaleigentümer, die sich andere Standorte suchen, sondern die deutschen Arbeitnehmer am stärksten betroffen.Wir haben von Anfang an überhaupt keine Zweifel daran gelassen: Die Aussetzung der Gewerbekapital- und der Vermögensteuer im Beitrittsgebiet dient vor allem der Förderung von Investitionen und der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze. Mißbrauchs- und Umgehungsmöglichkeiten haben wir dabei nicht übersehen. Deshalb haben wir unseren ursprünglichen Gesetzesvorschlag in zwei Punkten angepaßt:Ab 1993 soll in ganz Deutschland eine vor allem im betrieblichen Bereich deutlich reduzierte Vermögensteuer gelten. In Frage kommen vor allem die Übernahme der Steuerbilanzwerte in die Vermögensaufstellung sowie eine Anhebung der Freibeträge für Betriebsvermögen und der Bewertungsabschläge. Die Aussetzung der Vermögen- und der Gewerbekapitalsteuer bringt vor allem für die jungen, noch weitgehend gewinnlosen Betriebe im Beitrittsgebiet eine spürbare Entlastung. Zugleich erleichtern wir den Aufbau der Finanzverwaltung in den neuen Bundesländern, da sie sich zunächst nicht mit der Feststellung von Einheitswerten befassen muß.Beim Abbau der Berlin- und Zonenrandförderung wurden in den Beratungen des Finanzausschusses noch einige Anpassungen bei den Terminen und Fristen vereinbart. Insgesamt liegt jetzt ein Konzept vor, das den Interessen aller Beteiligten ausgewogen Rechnung trägt. Der Abbauplan bleibt deutlich unter dem ursprünglich vorgesehenen Zeitraum von sieben Jahren. Die meisten Fördermaßnahmen laufen bereits bis 1994 aus.Auf der anderen Seite wurde ein zu starker Anpassungsdruck und damit die Gefährdung von Arbeitsplätzen vermieden. Bei der umsatzsteuerlichen Her-
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1682 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Bundesminister Dr. Theodor Waigelstellerpräferenz und bei der Arbeitnehmerzulage in Berlin wurden die Abbautermine gegenüber den ursprünglichen Vorschlägen um sechs bzw. um drei Monate verschoben. Auch wird das frühere West-Berlin in die Fördermaßnahmen zugunsten der neuen Bundesländer einbezogen.Für die strukturschwächeren ehemaligen Zonenrandgebiete, die auch künftig in der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" verbleiben, bleiben die Sonderabschreibung und die steuerstundende Investitionsrücklage bis Ende 1994 bestehen. Es war allerdings nicht ganz einfach, diese Frist gegenüber der Europäischen Kommission durchzusetzen.Meine Damen und Herren, leider dominiert noch immer der Eindruck, die Bewältigung der Wiedervereinigungsaufgabe liege allein im Interesse der gut 16 Millionen neuen Mitbürger. Selbst wenn dies zuträfe, wäre es Grund genug, jede wirksame Hilfe zu leisten. Tatsächlich investieren wir jedoch jede Mark, die jetzt zusätzlich gebraucht wird, in die gemeinsame Zukunft unserer Nation.Die Aufhebung der deutschen und europäischen Teilung, das Scheitern des kommunistischen Dogmas und der Rückzug der Weltmacht Sowjetunion aus Mitteleuropa sind Entwicklungen, die für uns alle den größten, kaum erhofften Gewinn bringen.Auch im ökonomischen Bereich wird unser ganzes Land von der Aufhebung der hermetisch abgeriegelten Grenze entscheidend profitieren. Grenzregionen werden zur Mitte, und alte Handelsbeziehungen werden — wenn auch nicht von heute auf morgen — wieder wachsen. Allerdings wird nichts von alleine kommen. Wir müssen uns für jeden Schritt nach vorne einsetzen und darum kämpfen.Entscheidend ist der Sieg der Freiheit über die Unfreiheit. Jahrzehntelang konnten wir nur ohnmächtig protestieren und Flüchtlinge aufnehmen, als in OstBerlin, Warschau und Budapest die Aufstände blutig unterdrückt wurden. Wir mußten hilflos zusehen, wie in Prag, wenige hundert Kilometer östlich von uns, Panzer die friedlich demonstrierenden Menschen auseinandertrieben. Wir haben auch damals auf den Sieg von Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung gehofft. Jetzt sind wir dabei, diese Werte in Deutschland und Europa für die Zukunft zu sichern.
Diese Zusammenhänge wollen wir auch in einer scheinbar nüchternen steuerpolitischen Debatte nicht vergessen lassen. Während wir über Steuererhöhungen, steuerliche Wirtschaftsförderung und vieles andere diskutieren, sollten wir uns erinnern, um was es in Deutschland und Europa zu Beginn der 90er Jahre tatsächlich geht.Die Todesopfer an der Mauer waren nicht umsonst. Peter Fechter und viele andere sind nicht umsonst gestorben. Der Aufstand von 1953 war 1989 und 1990 erfolgreich. Die Panzer des Warschauer Paktes konnten 1968 zwar die Freiheit unterdrücken, doch die Freiheit brach sich Bahn im Jahre 1990.Damals, 1956, verhallten die Hilferufe und Beschwörungen von Imre Nagy, Maléter und Kardinal Mindszenty. Nagy und Maléter sind rehabilitiert, und der tote Mindszenty ist aus dem Exil wieder in seine Heimat zurückgekehrt. Wir sind die glücklichen Nutznießer ihres mutigen Freiheitskampfes.Unsere Leistungen für die Freiheit, national und international, sind beachtlich. Sie sind aber zumutbar und angesichts der Aufgabe und der Herausforderung unserer Zeit auch angemessen.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, die Vokabel „Dummheit" hat bei der SPD zu Unruhe und Zwischenrufen geführt, die nun ihrerseits eine Qualität dieser Vokabel haben. Ich will sie nicht wiederholen, ich habe auch keine Rüge erteilt. Ich stelle nur fest, daß sich die Ordnungsgewalt des Präsidenten nicht auf Regierungsmitglieder erstreckt, wenn es um einen Ordnungsruf gehen sollte. Ich möchte nur sagen, daß der Herr Bundesfinanzminister sprachkräftig genug ist, in Zukunft, wenn er sich mit dem Intelligenzquotienten einer Kollegin oder eines Kollegen beschäftigt, dies auf andere Weise auszudrücken.
Als nächstes hat der Abgeordnete Detlev von Larcher das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, wir sollten Herrn Waigel nachsehen, daß er so nervös reagiert und sich sogar zu Verbalinjurien hinreißen läßt. Schließlich ist es sehr verständlich, daß er sich bei seinem eigenen ungerechten Gesetzgebungswerk sehr unwohl fühlt. Ich denke, man kann feststellen, er ist fast schon so angeschlagen wie Herr Stoltenberg in seiner Endphase. Offenbar hat ihm auch Irsee nicht weitergeholfen.
Das uns heute vorliegende Steuerpaket, das Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, verabschieden wollen, ist sozial ungerecht. Es gefährdet die Stabilität der Mark und ist wirtschaftlich unvernünftig. Es ist wirtschaftlich unvernünftig, weil Sie kein Konzept für eine vernünftige Industrie- und Wirtschaftspolitik haben.Wir Sozialdemokraten haben doch schon im Begleittext zum ersten Staatsvertrag Maßnahmen vorgeschlagen, die den Namen „Aufschwung Ost" verdient haben. Sie haben sie damals abgelehnt, weil Sie damals noch gesagt haben: Der Markt wird es schon richten.Nein, Herr Solms, wenn bisher vom Aufschwung so wenig zu sehen ist, so ist das Ihrer Bundesregierung zuzuschreiben. Herr Haussmann und Herr Waigel hätten sich vor einem Jahr zusammensetzen sollen, um dann unverzüglich zu handeln. Sie sind in Wahrheit die Attentisten.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1683
Detlev von LarcherEs wäre reizvoll, auf alle drei Aspekte einzugehen. Aber wegen der Kürze der Redezeit werde ich mich auf die soziale Unausgewogenheit dieses Gesetzeswerks beschränken.Herr Faltlhauser, ich kann verstehen, daß Sie das von der Steuerlüge nicht mehr hören wollen. Auch ein Dieb hat es nicht gern, wenn man öffentlich auf ihn zeigt und ihn Dieb nennt. Aber ich kann es Ihnen nicht ersparen.Im Bundestagswahlkampf ging es doch landauf, landab, allen voran der Bundeskanzler und der Marktgraf. Hoch und heilig wurde versprochen, es gebe nach der Wahl keine Steuererhöhungen. Man ließ sich allerdings wie ein kleiner Dieb ein kleines Hintertürchen offen, nämlich den Golfkrieg oder überhaupt die Probleme im Osten.Nun stehen wir vor dem größten Steuererhöhungspaket in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Belastung der Beschäftigten mit direkten und undirekten Abgaben steigt von 41,5 % in 1990 auf 43,2 % in 1991, auf 44 % in 1992 und auf 45,2 % in 1994. Schon in diesem Jahr erreichen wir damit eine Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wie wir sie in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gehabt haben. 1994 erreichen wir — oder besser: die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer — den Gipfel.Unser Kollege Huonker hat am 23. November 1988 die damaligen Verbrauchsteuererhöhungen als das größte Steuererhöhungspaket bezeichnet. Damals ging es um Steuererhöhungen von 13 Milliarden DM, heute sprechen wir von über 33 Milliarden DM. Wenn unser Kollege Huonker es damals als das größte Steuererhöhungspaket bezeichnet hat, wie wollen wir das heute wohl nennen? Mega-Steuererhöhungspaket vielleicht!Was haben Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, in der Vergangenheit nicht alles von der Senkung der Staatsquote gequatscht und versucht, uns Sozialdemokraten das ideologisch um die Ohren zu hauen. Nun schauen Sie sich einmal die Berechnungen an: Sogar ohne dieses heutige Mega-Steuererhöhungspaket wäre die Steuer- und Abgabenquote in 1991 um 2,8 Prozentpunkte höher als jemals in unserer Regierungszeit. Aber wie hieß es im Wahlkampf — Originalton Helmut Kohl — : Wenn ich sage, wir machen im Zusammenhang mit der deutschen Einheit keine Steuererhöhungen, dann machen wir keine; darauf kann sich jeder verlassen.Steuerlügner und Steuerbetrüger sind noch die gelindesten Bezeichnungen, die ich in meinem Wahlkreis über die regierungsgräflichen Exzellenzen zu hören bekomme. Haben die Menschen nicht recht? Sie haben ihnen doch ganz bewußt die Unwahrheit gesagt; denn all die Ausreden, die Sie seit März dieses Jahres gebrauchen, sind so jämmerlich schlecht, daß es keinen gibt, der das nicht durchschaut.Schon im Frühjahr 1990 haben Ihnen die Institute gesagt, wie teuer uns die deutsche Einheit kommt. Damit das klar ist — entgegen Ihren Diffamierungen unserer Partei, wir wollten in Wahrheit die DeutscheEinheit nicht —, sage ich hier: So teuer, wie uns die deutsche Einheit kommt, so teuer ist sie uns auch.
Wir Sozialdemokraten kritisieren heute nicht, daß Steuern erhöht werden sollen. Wir kritisieren, wie Sie die Steuern heute mit Ihrer Mehrheit erhöhen wollen, sowie Ihre beispiellose Unredlichkeit gegenüber den Wählerinnen und Wählern.Herr Faltlhauser hat hier den Eindruck zu erwecken versucht, als ginge es bei unseren Alternativen, die wir im Finanzausschuß zur Diskussion und zur Abstimmung gestellt haben, um unbedeutende Alternativen, die man sein lassen kann, die man aber auch durchführen kann. In Wahrheit handelt es sich bei unseren Alternativvorschlägen um den Kernpunkt dieses Steuerpaketes, nämlich um die soziale Schieflage, um die soziale Schlagseite, die Ihr Gesetzeswerk kennzeichnet. Es geht bei unseren Vorschlägen um eine grundsätzlich andere Herangehensweise an die notwendigen Steuererhöhungen, als es bei Ihnen der Fall ist.Warum weigern Sie sich — ich frage besonders auch den christlichen Arbeitnehmerschauspieler in der Bundesregierung, wie er damit zurechtkommt —, unseren Vorschlag einer unteren Einkommensgrenze zu aktzeptieren, die die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Ostdeutschland von diesem Zuschlag gerechterweise befreien würde?
Warum akzeptieren Sie nicht unsere Vorschläge, die mit dem ersten zusammenhängen, nämlich die Ergänzungsabgabe über vier Jahre und statt 7,5 % 10 % zu erheben? Damit würden mögliche Steuermanipulationen weitestgehend ausgeschlossen, und es bestünde nicht die Gefahr, daß das Bundesverfassungsgericht Ihr Gesetz wegen der Rückwirkungsproblematik für verfassungswidrig erklärt. Ihr Kollege Scharrenbroich darf tönen, darf warnen, durchsetzen tun sich in der CDU stets andere, nie das Feigenblatt CDA.Für unsere Vorschläge gab es bei den Expertenanhörungen im Finanzausschuß viel Zustimmung. Aber da können Sie nicht ran, weil Sie ideologisch verbohrt sind und um das Wohlwollen Ihrer Klientel fürchten: um das der Reichen und Superreichen.
Der Skandal der Umverteilung wird noch größer, wenn Sie die Steuersenkungen vornehmen, die Sie schon jetzt ankündigen: Wegfall der Vermögen- und Gewerbekapitalsteuer. Dafür erhöhen Sie dann die Mehrwertsteuer. In den unteren Einkommensbereichen ist die Belastung durch die Mehrwertsteuer dann höher als die Entlastung durch den Wegfall der Ergänzungsabgabe. Ganz anders im oberen Einkommensbereich: Da ist die Entlastung dann noch größer. Die große Zahl der Arbeitnehmer mit kleinen und mittleren Einkommen soll bezahlen. Die Gewinner Ihrer Steuerpolitik sind die Bezieher hoher und höchster Einkommen.
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1684 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Detlev von LarcherIch komme nun zu einigen unserer Anträge im Finanzausschuß, von denen ich sage, daß sie die grundsätzlich andere Herangehensweise der Sozialdemokraten an notwendige Steuererhöhungen widerspiegeln.Für die Ergänzungsabgabe — das habe ich schon gesagt — haben wir — so sollte sie übrigens heißen, nicht Solidaritätszuschlag; das ist ein irreführender Euphemismus — eine Einkommensgrenze nach unten, eine vierjährige Dauer und eine Höhe von 10 statt 7,5 % vorgeschlagen.Wir haben beantragt in § 10 Abs. 1 die Nr. 8 und 9 zu streichen. Damit wollen wir den Skandal beseitigen, daß die Ärmsten die Dienstmädchen der Superreichen bezahlen müssen.
Wir wollen die Steuerbegünstigungen nach § 10 e auf einen Abzug von der Steuerschuld umstellen. Damit wollen wir die Ungerechtigkeit beseitigen, die darin liegt, daß die Bezieher höherer Einkommen wegen der progressiven Entlastungswirkung wesentlich mehr an Steuern sparen können als die Bezieher geringer Einkommen.Wir haben vorgeschlagen, an Stelle der Einführung eines neuen Tariffreibetrages für die neuen Bundesländer den Grundfreibetrag um den gleichen Betrag progressionsunabhängig für alle Steuerpflichtigen anzuheben. Damit wollen wir einen ersten Schritt tun, um die Besteuerung nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts verfassungskonform zu gestalten.
Durch die zu niedrige Höhe des Grundfreibetrages werden den Steuerpflichtigen heute — verfassungswidrig — Jahr für Jahr ungefähr 500 DM — Ledige — und 1 000 DM — Verheiratete — zu viel an Steuern weggenommen.Wir haben — konstruktiv, wie wir Sozialdemokraten nun einmal sind — vorgeschlagen, den Tariffreibetrag wenigstens progressionsunabhängig zu gestalten, wenn Sie sich schon nicht für eine allgemeine Anhebung des Grundfreibetrages erwärmen können. Dadurch wollen wir die grobe Ungerechtigkeit beseitigen, daß Steuerpflichtige mit hohen Einkommen eine fast dreimal so hohe Entlastung erhalten wie solche mit geringen Einkommen.Für die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen in den neuen Bundesländern mit ihrem geringen Einkommen bedeutet Ihr progressionsabhängiger Tariffreibetrag keine spürbare Hilfe. Aber Wessis wie wir, mit unseren höheren Einkommen, werden da verstärkt entlastet. Das nennt diese Koalition Solidarität.Wir sind dafür, nicht nur die Kläger der Jahre 1983 bis 1985, also die Cleveren, die dem Staat mißtrauen, durch Rückzahlung der zuviel gezahlten Steuern zu belohnen, sondern auch die zu entschädigen, deren Steuerveranlagungen rechtskräftig sind.
Herr Kollege von Larcher, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Schluß.
Die Mehrheit der Koalitionsfraktionen hat unsere Vorschläge im Finanzausschuß samt und sonders abgelehnt, meist ohne Begründung. Das ist nur folgerichtig, denn für die Ablehnung unserer Forderungen gibt es kaum rationale Begründungen.
Die wichtigsten dieser Änderungsvorschläge liegen nun dem Plenum des Bundestages vor.
Herr Kollege, wenn die Redezeit abgelaufen ist, dann sprechen Sie einen Schlußsatz, nicht einen Schlußabsatz.
Wir geben Ihnen die Chance, die soziale Schieflage zu vermeiden.
In Beurteilung dieses Steuerpakets und der Reaktionen in der Bevölkerung kann man insgesamt nur sagen: Dieses Land braucht eine andere Bundesregierung.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Gunnar Uldall.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Vor über 40 Jahren versammelten sich draußen auf dem Platz vor dem Reichstag Hunderttausende von Berliner Bürgern, um auf die Not aufmerksam zu machen, die der Stadt durch die sowjetische Blockade drohte. In bewegenden Worten beschwor Bürgermeister Reuter die Völker der Welt, Solidarität mit den Menschen in Berlin zu zeigen. Diese Solidarität wurde von Amerikanern, von Briten, von Franzosen praktiziert. Es gibt keine Berichte darüber, daß die Ausländer lange Diskussionen über das Ob und über das Wie der Hilfe für die Deutschen führten.Heute treten wir als frei gewähltes Parlament zur ersten Arbeitssitzung im Reichstagsgebäude zusammen, um über Solidaritätsmaßnahmen von Deutschen an Deutschen zu beschließen. Lassen Sie uns dabei nicht engherziger als die Helfer von damals sein.
Beschlüsse zur Erhöhung der steuerlichen Belastung haben noch nie Jubel ausgelöst. Aber eine verantwortungsbewußte Regierung muß auch die Bereitschaft zu notwendigen, kurzfristig unpopulär erscheinenden Maßnahmen zeigen.Während der langen Beratungen über die vorliegenden Gesetzentwürfe haben die Sozialdemokraten wohl zahlreiche Vorschläge unterbreitet, wie weitere Ausgaben zu tätigen wären. Sie haben aber nicht einen Vorschlag vorgelegt, wie diese zu finanzieren wären. Wären wir den Anträgen der Sozialdemokraten gefolgt, hätten wir über 20 Milliarden DM an Mehrausgaben zu tätigen,
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Gunnar Uldallz. B. für die erhöhte Investitionszulage oder für die generelle Erhöhung des Grundfreibetrags, die Frau Matthäus-Maier heute morgen einmal eben locker in die Diskussion eingebracht hat und die 4 Milliarden DM gekostet hätte. Aber die Einnahmen wären um viele, viele Milliarden zurückgegangen, z. B. durch die Einführung der Einkommensgrenzen beim Solidaritätszuschlag. Höhere Ausgaben, aber geringere Einnahmen — das ist keine ernst zu nehmende Finanzierungskonzeption.Die Opposition soll Alternative zur Regierung sein. Wir müssen erkennen, daß die Sozialdemokraten dieser Aufgabe nicht gerecht werden.
Welche Belastungen kommen auf die Bürger durch den Solidaritätszuschlag zu? Ein lediger Arbeitnehmer mit 3 000 DM Monatseinkommen zahlt 34 DM Solidaritätszuschlag. Ist er verheiratet und hat zwei Kinder, so zahlt er 12 DM pro Monat. Ist das wirklich zuviel, um die Sanierung der Umwelt in den neuen Bundesländern voranzubringen?
In der vergangenen Woche wurde der neue Tarif der IG Druck und Papier abgeschlossen. Die Gehälter steigen um 7 %. Für den eben genannten Arbeitnehmer sind das 210 DM brutto mehr. Ist bei dieser Größenordnung ein Solidaritätszuschlag von 34 DM oder 12 DM wirklich zuviel, um den Aufbau der zerfallenden Städte zu finanzieren?
Diese Frage stellt sich vor allem, wenn wir bedenken, daß die hohen Abschlüsse der diesjährigen Tarifrunden natürlich auch darin begründet sind, daß, bedingt durch die Wiedervereinigung, die Konjunktur bei uns besonders gut läuft und die Einkommenssteigerungen hoch ausfallen konnten. Hätten wir z. B. eine Konjunktur wie in England oder in Frankreich, dann wäre die diesjährige Tarifrunde sicherlich im ganz normalen Rahmen ausgefallen, d. h. es hätte nicht 7 %, sondern vielleicht nur 4 % mehr gegeben. In dem genannten Beispiel hätte der Arbeitnehmer nicht eine Lohnerhöhung von 210 DM, sondern von 120 DM bekommen.Halten wir fest: Der Solidaritätszuschlag nimmt nur einen Teil des Einkommenszuwachses, der auch durch die Wiedervereinigungskonjunktur erzielt wird.
Dieser Anteil geht an die Menschen, die nicht von dem Konjunkturplus profitieren. Das ist echte Solidarität.Meine Damen und Herren, ich habe gestern in der „Frankfurter Allgemeinen" einen Artikel gelesen, Herr Thierse, in dem Sie schreiben: „Westdeutsche sollen auf Wohlstandswachstum verzichten." Heute legt die Regierung, legt die Koalition entsprechende Gesetzesvorschläge vor. Sie haben heute die Gelegenheit, Ihren Forderungen aus der „FAZ" von gestern zuzustimmen.
Der Zuschlag ist sozial ausgestaltet; denn er knüpft linear an die Einkommensteuer, die den Besserverdienenden auf Grund des Progressionsverlaufes stärker belastet als den Bezieher niedriger Einkommen, an. Ein Lediger mit 2 000 DM Monatseinkommen zahlt 16 DM Solidaritätszuschlag. Wer 6 000 DM verdient, muß 104 DM bezahlen. Also, wer das Dreifache verdient, muß das Sechsfache an Solidaritätszuschlag zahlen.
Das ist soziale Ausgewogenheit, meine Damen und Herren.
Über Monate hinweg wurde von der SPD ein Steuerzuschlag gefordert.
Jetzt legt die Koalition einen entsprechenden Entwurf vor. Aber die Opposition bringt nicht die Größe auf, der Regierungsvorlage zuzustimmen.
— Statt dessen schlägt sie Einkommensgrenzen vor, liebe Frau Matthäus-Maier.
— Sie schlagen Einkommensgrenzen vor, die so hoch angesetzt sind, daß nur noch eine ganz geringe Zahl von Bürgern den Solidaritätsbeitrag zu entrichten hätte. Bei einer Einkommensgrenze von 60 000 DM oder 120 000 DM Jahreseinkommen brauchte selbst, liebe Frau Matthäus-Maier, eine gut verdienende Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit zwei Kindern diesen Beitrag nicht mehr zu zahlen.
— Worauf kommt es an, liebe Frau Matthäus-Maier? Sie brauchten den nicht zu zahlen.
— Rechnen Sie Ihre Kinderfreibeträge und alles ab, dann werden Sie sehen, daß gerade Sie herausfallen.Ehrlicher wäre es gewesen, zu sagen: Alle sollen zahlen. Solidarität darf nicht heißen, Frau MatthäusMaier: Die anderen sollen zahlen. Solidarität heißt: Jeder soll nach seiner Leistungsfähigkeit zahlen.
Ich möchte nun noch einmal Stellung nehmen zu dem häufig vorgetragenen Argument, man hätte die unpopuläre Steuerentscheidung unmittelbar nach Öffnung der Mauer treffen sollen. Dann, so wird argu-
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1686 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Gunnar Uldallmentiert, wäre die Bereitschaft größer gewesen, eine zusätzliche Belastung auf sich zu nehmen. Im November oder im Dezember 1989 konnte keiner ahnen, welche neuen Aufgaben und welche neuen Ausgaben auf den Bund zukommen würden.
Für uns, die Union, ist eine Steuererhöhung auf Verdacht
— das wäre sie gewesen, wenn man sie damals vorgenommen hätte — ein völlig ausgeschlossener Weg. Das überlassen wir anderen.
Hätte man damals trotzdem dem Drängen der Sozialdemokraten nachgegeben und z. B. einen Solidaritätszuschlag beschlossen, so wäre doch selbstverständlich die damit erzielte Einnahme längst verfrühstückt, und wir stünden heute wiederum vor genau der gleichen Aufgabe, erneut irgendeine Steuererhöhung zu verlangen.
Für die CDU/CSU ist die Steuererhöhung das letzte Mittel.
Durch unser Hinausschieben der Tariferhöhung — denn darum handelt es sich ja — haben wir den Steuerzahler so lange wie irgend möglich geschont.
Nun noch eine kurze Bemerkung zu der Besteuerung von Erdgas, Heizöl und Zigaretten: Wir schließen nicht aus, daß es zu Verzerrungen der Wettbewerbsfähigkeit zwischen Heizöl und Erdgas oder innerhalb des Zigarettenmarktes kommen kann. Durch die jetzige Vorlage könnte sich eine Situation ergeben, daß der Gesetzgeber hier eine Überprüfung vornehmen müßte. Wir werden deswegen — so haben wir es im Ausschuß einhellig beschlossen — im Herbst dieses Jahres eine entsprechende Prüfung und gegebenenfalls eine Korrektur vornehmen.Welche Aufgaben stellen sich heute der Finanzpolitik?Erstens. Wir müssen deutlich machen, daß nunmehr mit dem Beschließen neuer Ausgaben Schluß ist. Auf die Kasse des Finanzministers gehört wieder ein schwer zu hebender eiserner Deckel.
Zweitens. Weitere Unterstützungsaktionen für die ostdeutschen Bundesländer können kontraproduktiv wirken, da sie die Hoffnung nähren könnten, bei etwas längerem Warten würde es noch mehr geben. Aktionismus weckt Attentismus!
Drittens. In der mittelfristigen Finanzplanung muß der Ausgabenzuwachs deutlich unter dem Zuwachs der Steuereinnahmen liegen. Die Ausgaben dürfen inden 90er Jahren nicht schneller steigen als in den 80er Jahren.Viertens. Der Abbau der Neuverschuldung von 70 auf 50, auf 40 Milliarden DM muß in jedem Fall eingehalten werden. Die Einhaltung dieser Grenzen muß oberstes Gebot für unsere Finanzpolitik sein.Fünftens. Das Streichen unnötiger Ausgaben und Subventionen muß weitergehen. Heute, im Rahmen dieser Gesetzesvorlagen, streichen wir 10 Milliarden DM an Subventionen für Berlin und für das Zonenrandgebiet. Mit diesem gewaltigen Subventionsabbau, der durch die deutsche Einheit ermöglicht wird, dürfen unsere Bemühungen nicht enden. Ein weiteres Zehn-Milliarden-Paket für die Subventionen wird noch vor der Sommerpause vorgelegt werden.
Herr Kollege Uldall, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Dann komme ich zum Schluß, Herr Präsident.
Uns stellen sich schwierige Aufgaben. Aber diese schwierigen Aufgaben sind lösbar, vorausgesetzt, daß wir unseren finanzpolitischen Kurs mit Beharrlichkeit fortführen und auch den Mut haben, einmal etwas zu tun, was auf den ersten Blick als unpopulär erscheint.
Die heute zu verabschiedenden Gesetze sind ein Beitrag für die langfristige Sicherung unserer Staatsfinanzen. Wir bitten deswegen um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Otto Reschke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Steueränderungsgesetz soll die Wohneigentumsbildung verbessert und die Modernisierung in den neuen Bundesländern gefördert werden. So die Begründung der Bundesregierung. Aber lieber Herr Kollege Dr. Faltlhauser, wenn es richtig ist, daß Eigentum die wichtigste Säule des Wohnungsmarktes ist, wenn es richtig ist, daß Eigentumsförderung der beste Mieterschutz und die beste Entlastung des Wohnungsmarktes ist — wie wir auch im Finanzausschuß gemeinsam festgestellt haben — , und wenn es richtig ist, daß bei der Eigentumsförderung nach § 10 e des Einkommensteuergesetzes kaum wohnungspolitische Effekte erzielt werden, warum gehen wir dann nicht auch heute gemeinsam an die Reform heran? Die SPD-Bundestagsfraktion hat Ihnen einen kompletten Gesetzentwurf zur Umgestaltung der Eigentumsförderung nach § 10 e EStG für den Wohnungsbau vorgelegt.Doch so, wie der Gesetzentwurf hier vorliegt, schlägt die Bundesregierung die Beibehaltung des unsozialen Systems vor. Sie setzen einfach das fort, was Sie in anderen Bereichen der Besteuerung auch tun: Großverdiener werden stark gefördert, mit hohen Mitnahmeeffekten; dagegen erhalten Bezieher mittlerer Einkommen nur die Hälfte, und Bezieher kleinerer Einkommen werden gering oder gar nicht geför-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1687
Otto Reschkedert. So zeigt auch die derzeitige Eigentumsförderung im Wohnungsbau nach § 10 e in den neuen fünf Bundesländern keine Wirkung, da sie auf Grund der niedrigen Einkommen dort kaum zu Steuerersparnissen führt. Die Aufstockung der förderungsfähigen Summe von 300 000 auf 330 000 DM, die Sie jetzt vorhaben, ändert am ungerechten System nichts. Für 25 bis 30 DM mehr im Monat baut niemand, und die Erhöhung des Baukindergeldes von 750 auf 1 000 DM als Abzug von der Steuerschuld nützt nichts, wenn die Steuerlastquote nichts hergibt.
Herr Kollege Reschke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Faltlhauser?
Herr Kollege Reschke, warum betonen Sie in diesem Plenum zur Kenntnis der Kollegen nicht auch, daß die Wohnungsbaupolitiker der Koalition ebenso wie — zumindest teilweise — die Finanzpolitiker der Koalition mit Ihnen durchaus einig sind, daß eine Systemumstellung beim Wohnungsbau insgesamt wohl zielführend sein wird,
ein derartig umfassendes Reformwerk jetzt aber nicht gleichzeitig seriös gestaltet werden kann? Denn ein entsprechendes umfassendes Reformwerk kostet unglaublich viel Geld — das wissen Sie selbst — , Geld, das wir heute, im Jahre 1991, nicht haben.
Herr Kollege Faltlhauser, Sie haben ein unglaublich kurzes Erinnerungsvermögen.
Diesen Vorschlag haben wir seit 1986 permanent in den Deutschen Bundestag eingebracht und damit vorgeschlagen, wie die Umstellung konkret laufen kann.Die Expertenanhörung des Finanzausschusses hat bestätigt, daß das, was die Bundesregierung hier vorschlägt, nur Flickschusterei ohne nennenswerte Verbesserung der Situation ist. Schlimmer noch: Der Bundesregierung wird vorgeworfen, daß durch ihre Vorhaben insgesamt viele Häuslebauer und solche, die es werden möchten, schlechter ausgehen werden als bisher. Die Fachwelt ist sich, wonach Sie soeben mit Recht gefragt haben, einig: Um eine wirksame Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums zu erhalten, muß die Förderung schnellstens umgestellt werden:
weg von der progressionsabhängigen steuerlichen Förderung auf einen einkommensneutralen Abzug von der Steuerschuld.
Die Vorschläge liegen dem Haus konkret auf dem Tisch.Unser Vorschlag lautet — ich wiederhole ihn — wie seit 1986: Statt Spitzenverdiener mit einem Höchststeuersatz von 53 % in acht Jahren mit 70 000 DM zufördern und den Bauherrn mit mittlerem Einkommen nur mit 33 000 DM in acht Jahren zu fördern, schlagen wir einen einheitlichen Förderbetrag für alle als Abzug von der Steuerschuld vor.
Hinzu kommt, daß wir das Baukindergeld von derzeit 750 DM auf 1 200 DM je Kind und Jahr, und das für zehn Jahre, wirksam anheben möchten.Die einheitliche Förderung für alle, die eine Anhebung der Förderung für die Bezieher mittlerer Einkommen bewirken wird, wird durch die Umstellung auf Abzug von der Steuerschuld erreicht. Ganz natürlich muß dies davon begleitet sein, daß diejenigen, die keine Steuerschuld haben, diesen Betrag vom Finanzamt ausgezahlt bekommen.
Dieses System kennen wir doch von der Investitionszulage, daß einem Betrieb, der über keine Steuerlast verfügt, diese Zulage vom Finanzamt ausbezahlt wird.Die Unionsparteien haben vor der Wahl die Umstellung der Förderung auf einen Eigenheimabzugsbetrag versprochen. Sie haben aber dann das Ministerium an die FDP abgegeben. Auch dieses sagt mittlerweile, daß eine Umstellung wünschenswert sei, fügt aber hinzu, sie sei nicht zu finanzieren.Das ist jedoch eine fadenscheinige Ausrede vor dem Hintergrund anderer steuerlicher Vergünstigungen im Wohnungsbau. Das muß man der Öffentlichkeit doch klarmachen: 90 % der Verluste, die bei der Einkommensteuer vor den Finanzämtern geltend gemacht werden, sind Verluste aus Vermietung und Verpachtung; rund 40 Milliarden DM im Jahr. Das bedeutet eine Steuerverkürzung um rund 20 Milliarden DM. Und da schaffen wir es nicht, 3 bis 4 Milliarden DM herauszubrechen, um zielgerecht Wohneigentum zu fördern. Darum geht es.
Stehen Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, zu Ihrem Wort — Frau Wohnungsbauministerin, da sind Sie besonders in die Pflicht genommen — und lassen Sie uns die überfällige Reform gestalten!Jetzt haben Sie auf unseren Vorschlag im Finanzausschuß hin einen Prüfungsauftrag gegeben. Im September soll ein Bericht kommen. Das ist natürlich eine lobenswerte Sache. Aber ob das unsere Kenntnisse erweitert, glaube ich nicht. Experten haben ja in der Anhörung deutlich gesagt: Die Umstellung ist jetzt so vorzunehmen, um tatsächlich Wirkungen in der Bauleistung zu erreichen.Ich sage ganz deutlich: Ich freue mich. Aber dies ist bei Ihnen natürlich Einsicht auf Raten. Blockieren Sie diese Reform nicht durch angebliche finanz- oder verfassungspolitische Zwänge!
Wir begrüßen natürlich auch einiges in dem Gesetzentwurf, und zwar, daß Sie unserem im Wohnungsbauausschuß gestellten Antrag zugestimmt haben, den Vorschlag des Bundesrates zu übernehmen, die
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Otto ReschkeKommunen künftig von der Grunderwerbsteuer zu befreien, wenn ihnen Grund und Boden von der Treuhand übertragen wird. Dadurch wird einer enormen finanziellen Belastung für die Kommunen entgegengewirkt; sie verfügen derzeit kaum über Finanzen, um solche Käufe mit der Mehrwertsteuer bzw. Grunderwerbsteuer zu bestreiten.In den neuen Bundesländern sollen bei eigengenutzten Wohnungen alle Aufwendungen für die Erhaltung der Wohnungen, die nach dem 31. Dezember 1990 und vor dem 1. Januar 1995 entstehen, mit jeweils 10 % abgezogen werden können, begrenzt auf 20 000 DM. Entschuldigen Sie, ich muß jetzt auch für viele Kollegen sagen, die das gar nicht mitbekommen haben: Im Finanzausschuß haben Sie soeben 20 000 DM hinterhergeschoben. Der Betrag ist jetzt 40 000 DM. So gehen Sie mit Abschreibungsbeträgen in Millionenhöhe um, in vielen Bereichen, ohne daß die Fachausschüsse damit beschäftigt worden sind.
Ich sage ganz deutlich: So begrüßenswert diese Situation ist — Sie sprechen von nachträglichen Herstellungskosten — , es ist nichts anderes als eine Modernisierungsförderung für Bezieher kleiner Einkommen, wo der § 10e, die Eigentumsförderung, nicht greift. Sie beschließen jetzt eine Ersatzlösung über steuerliche Möglichkeiten für kleine Einkommen im Osten.
Grundsätzlich halten wir es für begrüßenswert, daß energiesparende Maßnahmen in den neuen Bundesländern gefördert werden. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung. Unbegreiflich bleibt allerdings, warum Sie ökologische Gesichtspunkte einer vernünftigen Wohnungspolitik für Ost-Berlin gelten lassen, aber für den Westteil ausschließen. Dies ist sehr unverständlich. Dort gilt die Förderung nämlich nicht. Auch in den alten Bundesländern lassen Sie die Förderung der Energiesparmaßnahmen 1992 auslaufen, obwohl hier Verlängerungsbedarf besteht.Gleichzeitig haben Sie in einem Nachtrag neue Abschreibungsbegünstigungen für nachträgliche Herstellungskosten von Gebäuden und für den Neubau von Wohnungen in den neuen Bundesländern, einschließlich Gesamt-Berlin, festgesetzt. Das ist ja zu begrüßen.Wir sagen: nun doch irgendwie ein § 82 a; da werden auch Modernisierung und Energiesparmaßnahmen anerkannt und bezuschußt. Ich kann nur feststellen: Hier fördern Sie diejenigen, die Mietwohnungsbau und Modernisierung betreiben, schließen aber wieder die Eigenheimer von dieser Art der Förderung aus. Dies gilt auch für die alten Bundesländer bei Eigenheim und Mietwohnung.Welch ein Durcheinander! Lesen Sie übrigens mal die Stellungnahme der Steuerberaterkammer, die dazu etwas gesagt hat!
Es spricht für Ihren politischen Stil, daß Sie diese Regelungen, die ich eben angesprochen habe, nicht dem zuständigen Fachausschuß, dem Bauausschuß des Deutschen Bundestages, zur Beratung vorgelegthaben, obwohl es hier um Steuervergünstigungen in Millionenhöhe geht, die Sie an anderer Stelle immer wieder beklagen und die angeblich nicht finanzierbar sind. Dabei haben die steuerlichen Abschreibungsbegünstigungen, die die damalige Bauministerin Hasselfeldt gegeben hat, bereits gezeigt, daß dadurch kaum zusätzlicher Wohnraum entstanden ist, sondern nur hohe Mitnahmeeffekte provoziert worden sind.Die unzureichende Wohnungspolitik wird auch aus eigenen Reihen bestätigt; was Sie an Abschreibungsmöglichkeiten geben, entspricht nicht dem, was an Bauleistungen entsteht.In der Begründung des Finanzministeriums zur angestrebten Verlängerung des § 7 k in diesem Gesetzentwurf heißt es:Es liegen noch keine gesicherten Erkenntnisse darüber vor, ob mit der Abschreibungsvergünstigung nach § 7 k der erhoffte Anreiz für den sozialen Wohnungsbau noch erreicht werden kann.Deshalb haben Sie schon jetzt die Fristverlängerung von 1993 auf 1996 angemahnt und in den Gesetzentwurf geschrieben.Auch die Steuerberater — ich nannte das eben schon — beurteilen Ihre Gesetzgebung kritisch. Sie sagen, die steuerlichen Regelungen sind kompliziert und noch längst nicht in allen Fragen geklärt.Wie wenig durchdacht Ihre Aktionen sind, zeigt sich schon daran, daß in dem Moment, wo der Gesetzentwurf als Drucksache vorliegt, schon klar ist, daß er nicht das letzte Wort ist, sondern durch nachgereichte Formulierungshilfen ergänzt, verbessert und manchmal auch verwässert werden muß. Das war beim Haushalt so, ist beim Wohngeld so und ist auch bei den steuerlichen Regelungen für den Wohnungsbau nicht anders.
Herr Schneider leugnete jede Wohnungsnot, Frau Hasselfeldt versprach goldene Klinken für Mieter und Bauherren und neue Sozialwohnungen. Frau AdamSchwaetzer verspricht eine Million Wohnungen in drei Jahren, aber sie kann nur Baugenehmigungen vorlegen, in denen keiner wohnen kann. Wohnungsnot und Wohnungsmangel in den alten und den neuen Bundesländern verlangen dringend nach wirksamen Maßnahmen. Die Fertigstellungszahlen sollten eine Mahnung für Sie sein: Im Jahre 1990 sind nur 225 000 neue Wohnungen entstanden gegenüber 221 000 Wohnungen in Neubauten im Jahre 1989.
Sie können jetzt natürlich die rund 32 000 Wohnungen hinzuzählen, die durch Aus- und Umbau in vorhandenen Gebäuden entstanden sind. Aber Sie machen sich etwas vor, wenn Sie meinen, tatsächlich steigen die Wohnungsbauzahlen um viele Punkte an.
Auch in den neuen Bundesländern ist Ihre Wohnungspolitik gescheitert. Wenn Sie sehen, daß in den alten Bundesländern der Bau von Einfamilienhäusern 1990 um 11,4 % zurückgegangen ist und der Bau von Zweifamilienhäusern um 14,7 %, dann zeigt das deut-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1689
Otto Reschkelich, daß es angebracht ist, die Reform jetzt nach den Vorschlägen der SPD durchzuführen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Schluß.
Diese Koalition, speziell das Finanz- und das Bauministerium, ist aufgefordert, das System der Wohneigentumsförderung und der Wohnungsförderung grundlegend umzustellen. Wir haben Ihnen dazu einige Vorschläge unterbreitet. Kommen Sie dazu, daß endlich der Eigenheimabzugsbetrag eingeführt wird! Kommen Sie dazu, daß jährlich 100 000 Sozialwohnungen gefördert werden! Kommen Sie dazu, daß Zinshilfen gegeben werden und daß Modernisierung und Energiesparmaßnahmen in Zukunft vom Bund gezielt für diejenigen, die es nötig haben, gefördert werden in den neuen und den alten Ländern.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Hermann Rind.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Reschke, Sie haben gerade den Versuch gemacht, aus einer steuerpolitischen Debatte eine wohnungspolitische Debatte zu machen.
— Moment. Das ist Ihr gutes Recht. Einschlägig sind die Dinge, die Sie am Anfang angesprochen haben. Sie sollten aber auch zur Kenntnis nehmen, daß wir auf Grund des Ergebnisses der Anhörung im Finanzausschuß einhellig der Auffassung waren, daß wir über eine Modifizierung, über eine Verbesserung des Systems der Wohnbauförderung nachdenken sollten. In diesem Zusammenhang ist Kritik zwar möglich, aber doch gleichzeitig weitgehend entschärft, wenn man den grundsätzlichen Konsens im Finanzausschuß in Rechnung stellt.
Meine Damen und Herren, die beiden heute zur Debatte und zur Abstimmung stehenden Gesetze sind ein Spiegelbild gesamtdeutscher Wirklichkeit im Frühjahr 1991. Auf der einen Seite werden im Solidaritätsgesetz Steuererhöhungen beschlossen, die dem Aufbau der neuen Länder und der Finanzierung internationaler Verpflichtungen — ausgelöst durch den Golfkrieg und den Aufbau eines marktwirtschaftlichen Systems in Osteuropa und unseren Beitrag dazu — dienen sollen.
Auf der anderen Seite werden mit dem Steueränderungsgesetz die Berlin- und die Zonenrandförderung abgebaut, steuerliche Förderungen für den Aufbau in den neuen Ländern gewährt und eine Reihe von steuerlichen Begünstigungen in Erfüllung der Koalitionsvereinbarung eingeführt.
Meine Damen und Herren, die Koalitionsvereinbarung erfordert entsprechend der Entwicklung in den
neuen Ländern immer wieder unvorhersehbares, nicht vorher planbares Handeln, weil es für die Umstellung einer vierzigjährigen Kommandowirtschaft auf ein System der Sozialen Marktwirtschaft keine Erfahrungswerte gibt und auch die Wissenschaft und die volkswirtschaftlichen Lehrbücher uns als Gesetzgeber keine Handlungsgrundlage bieten können.
Insofern ist die Gesetzgebung in den beiden Gesetzentwürfen Ausdruck des nicht vorhersehbar und des nicht planbar Gewesenen.
Die Frage ist, ob es bei einer solchen geschichtlich einmaligen Entwicklung noch eine Linie in der Steuerpolitik geben kann oder, anders gefragt, ob die erfolgreiche Linie der Steuerpolitik bis 1990 aufgegeben wurde oder verlorengegangen ist.
Das Solidaritätsgesetz mit den Steuererhöhungen hat — dies will ich nicht verschweigen — in der FDP-Fraktion Zweifel an dem Willen ausgelöst, diese Linie in der Steuerpolitik fortzusetzen. Es gibt namhafte Stimmen — ich will hier nur aus einem Schreiben des Bundes der Steuerzahler vom 19. April zitieren —, die die Bedenken teilen, die die FDP-Fraktion sehr heftig bewegt haben. Der Bund der Steuerzahler schreibt:
Steuererhöhungen können die finanziellen Schwierigkeiten des Bundes nur vorübergehend mildern. Mittelfristig verschärfen sie die Finanzierungsprobleme, weil sich das Wirtschaftswachstum entsprechend abschwächt, was nicht ohne Einfluß auf das Steueraufkommen bleibt. Die Erfahrungen mit der Steuerreform lehren uns doch, wie Steuersenkungen die Wirtschaft beleben können.
Ich glaube, das sind beachtenswerte Sätze. Wir sprechen heute ja nicht nur über die zu beschließenden Gesetze, sondern auch über die Linie der Steuerpolitik der nächsten Jahre. Da ist es nun — wie dies auch andere Redner schon betont haben — wichtig, daß wir die langfristigen finanzpolitischen Zielsetzungen unserer Steuerpolitik trotz dieser Gesetze nicht aus dem Auge verlieren.
Herr Kollege Rind, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordenten Seifert?
Bitte.
Herr Kollege, Sie sprechen hier von der Einmaligkeit der Aufgabe. Für mich ist Solidarität immer die Solidarität der Schwachen mit den noch Schwächeren. Ich habe den Eindruck, daß jetzt die Schwachen Solidarität mit dem Starken, nämlich dem Staat, üben sollen, damit dieser das Geld bekommt. Stimmen Sie mir zu, oder sehen Sie das anders?
Herr Kollege, Solidarität ist das Zusammenstehen vieler zum Erreichen eines übergeordneten Ziels, und zwar je nach ihrer Leistungsfähigkeit. Wir sind der festen Überzeugung — ich weiß, daß es darüber zwischen uns und Ihnen sowie der SPD und anderen unterschiedliche Auffas-
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1690 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Hermann Rindsungen gibt — , daß wir mit den Gesetzentwürfen dieses Prinzip der Solidarität nicht verletzen.
Ich werde dazu im Zusammenhang mit einigen Detailpunkten noch Stellung nehmen.Meine Damen und Herren, ich habe von der langfristigen finanzpolitischen Linie der Steuerpolitik gesprochen, die bei den notwendigen Steuererhöhungsmaßnahmen nicht verlorengehen soll und darf. Es muß unser zentrales Anliegen bleiben, auf den Pfad der finanzpolitischen Tugend zurückzukehren, d. h., die Steuerlastquote zu begrenzen, die Struktur des Steuersystems zu verbessern und den Staatsanteil zurückzudrängen. Wir werden uns dafür einsetzen, daß die volkswirtschaftliche Steuerquote bis Mitte der 90er Jahre, nämlich bis zum Ende dieser Legislaturperiode, auf das Niveau von 1990 zurückgeführt wird. Dies ist ein hohes Ziel. Es erfordert sehr viele Anstrengungen, um es zu erreichen. Aber die Tatsache, daß dies im Interesse unserer Volkswirtschaft liegt und damit auch der Sicherung und Erhaltung von Arbeitsplätzen dient, ist es wert, sich diesem Ziel zu verschreiben. Dies tun wir.
Rechtfertigen können wir auf der anderen Seite Steuererhöhungen nur, wenn Haushaltsdisziplin gewahrt wird und wenn alle Einsparungsmöglichkeiten ausgeschöpft und die berühmten Subventionen abgebaut werden.In diesem Zusammenhang muß ich etwas richtigstellen. Entgegen dem Eindruck in der Öffentlichkeit — dies ist auch eine gewisse Rechtfertigung für unsere Zustimmung zu den Steuererhöhungen — gibt es auf diesen Gebieten durchaus beachtenswerte Erfolge. Ich darf noch einmal daran erinnern — mein Fraktionsvorsitzender hat dies vorhin schon ausgeführt — : Mit dem Steuerreformgesetz 1990 haben wir schon Steuervergünstigungen, somit indirekte Subventionen, im Umfang von knapp 14 Milliarden DM abgebaut, beispielsweise die Investitionszulage für das Zonenrandgebiet. Dies sollte nicht vergessen werden. Dies war eine Maßnahme zum Subventionsabbau, die erhebliche Kraft und politische Durchsetzungsfähigkeit erfordert hat.In Kürze werden weitere 10 Milliarden DM Einsparungen und Subventionskürzungen der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Der Abbau der Berlin- und der Zonenrandförderung ergibt nochmals ein Volumen von knapp 10 Milliarden DM jährlich. Im Entwurf des Verteidigungshaushalts für 1991 wurden bereits 7,6 Milliarden DM Einsparungen vorgenommen.Diese Reihe, meine Kolleginnen und Kollegen, ließe sich noch fortsetzen.
Ich muß einfach dem Eindruck entgegentreten, hier werde nichts getan. Man kann immer noch der Meinung sein, es werde zuwenig getan. Aber derjenige, der diesen Vorwurf erhebt, möge bitte konkret sagen, wo er zusätzlich zu dem, was wir bereits beschlossenhaben und in den nächsten Wochen noch vorlegen werden, entsprechende Möglichkeiten sieht.
Dann möge er dies auch politisch vertreten.
Meine Damen und Herren, nun einige Anmerkungen zu Einzelheiten des Gesetzes. Ich komme auf den Einwand der sozialen Unausgewogenheit zurück. Der Solidaritätszuschlag ist insofern gerecht, als derjenige, der wenig verdient, wenig Lohn- und Einkommensteuer und damit auch nur einen geringen Zuschlag zur Lohn- und Einkommensteuer zahlt.Im übrigen bestehen in der Öffentlichkeit völlig falsche Vorstellungen über die Höhe des Solidaritätszuschlags. Es machen sich viele nicht klar, daß der Solidaritätszuschlag bedeutet, daß 3,75 % von der Lohn- und Einkommensteuer als Zuschlag erhoben werden, nicht 7,5 % vom Einkommen pro Jahr, wie dies mitunter in der Öffentlichkeit angenommen wird. Das heißt, wer im Jahr 1 000 DM Lohn- oder Einkommensteuer zahlt, zahlt durch den Solidaritätszuschlag 37,50 DM mehr. Es geht also um eine echte Mehrbelastung in Höhe von lediglich 3,75 % von der Lohnoder Einkommensteuerschuld. Dies ist auch den Steuerzahlern mit geringem Einkommen durchaus zumutbar.
Herr Kollege Rind, Herr Kollege Seifert möchte eine weitere Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Können Sie mir nicht wenigstens dahin gehend zustimmen, daß für den Bezieher oder die Bezieherin eines kleinen Einkommens ein kleiner Zuschlag schwerer wiegt als für den Bezieher eines großen Einkommens ein etwas größerer Zuschlag?
Denn wenn man wenig hat, ist es doch bedeutend schwerer, das noch zu teilen, als wenn man viel hat und es ein bißchen teilt.
Das ist im Grundsatz natürlich richtig. Aber Sie müssen sehen, daß bei uns nur derjenige Steuern zahlt, der bereits ein gewisses Grundeinkommen hat, das ihm ein wirklich annehmliches Auskommen ermöglicht, so daß für ihn die Belastung durchaus tragbar ist, auch wenn sie bei ihm prozentual natürlich stärker als bei demjenigen mit einem hohen Einkommen wirkt. Aber man muß den Gesamtbereich unserer Sozialausgleichsleistungen in die Überlegungen einbeziehen, um zu sehen, daß soziale Ausgewogenheit gegeben ist.
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Herr Kollege Rind, jetzt eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier.
Bitte schön.
Herr Kollege Rind, wollen Sie mir nicht darin zustimmen, daß eine Ergänzungsabgabe ohne Einkommensgrenze gerade für die kleinen und mittleren Einkommen deswegen besonders hart ist, weil, wie wir, glaube ich, alle hier im Hause doch wissen, daß heute bereits das Existenzminimum besteuert wird mit der Folge, daß das Ganze, wenn ich darauf noch eine Ergänzungsabgabe ohne Einkommensgrenze packe, noch härter wird?
Frau Matthäus-Maier, wir werden uns mit dem Thema Grundfreibetrag, das Sie hier ansprechen, noch auseinanderzusetzen haben, nämlich mit der Definition des Grundfreibetrags. Ich bin der Meinung, daß wir in diesem Staat auch bei den sozial Schwachen wirklich ein Einkommensniveau nach Steuern, nach Sozialabgaben oder bei steuerfreien Bezügen aus der Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe oder anderen Sozialtransfers erreicht haben, bei dem man sich, wenn man an die Neugestaltung des Grundfreibetrags herangeht, Gedanken machen sollte und muß, wie denn die Leistungsfähigkeit des Staates in der Relation zur Leistungsfähigkeit des einzelnen zu sehen ist.
Wir leben entgegen Ihren Aussagen nicht in einem Land, in dem derjenige, der sozial schwach ist, einfach nicht das Notwendige zum Leben hat. Er hat ein weites Stück sozialer Sicherheit darüber hinaus. Dies muß in die Gesamtüberlegungen einbezogen werden.
Nun, meine Damen und Herren, zurück zum Thema Solidaritätszuschlag. Die von der SPD vorgeschlagene Ergänzungsabgabe für sogenannte Besserverdienende, wäre wirtschafts- und wachstumspolitisch verfehlt.
— Ich will das gleich begründen. — Um das Einnahmenziel von 22 Milliarden DM in den beiden Jahren 1991 und 1992 zu erreichen, müßten etwa 1,5 Millionen Menschen — das sind die Leistungsträger in allen Berufsschichten und -ständen — einen etwa 15%igen Zuschlag zahlen. Wer die hohe Steuerbelastung gerade in den mittleren und höheren Einkommenschichten kennt, der weiß, daß eine solche Zusatzbelastung jegliche Leistungsbereitschaft töten würde. Angesichts der zeitlichen Befristung des Stabilitätszuschlags auf ein Jahr muß man auch akzeptieren, daß er auf alle Steuerzahler ausgedehnt wird und nicht auf die sogenannten Besserverdienenden beschränkt wird.
Beim Thema Mineralölsteuer möchte ich nur noch auf das leichte Heizöl und das Erdgas hinweisen. Uns macht Sorge, daß hier gerade für den mittelständischen Mineralölhandel Wettbewerbsverzerrungen eintreten können. Aber dieses Thema ist komplexer,
als es auch von den Verbänden immer wieder dargestellt wird. Wir werden uns — dies ist im Entschließungsantrag enthalten — diesem Thema aber im Herbst zuwenden.
Dasselbe gilt für die Struktur der Tabaksteuer. Wir wollen hier entsprechende Mehreinnahmen für den Staat erzielen, und die Tabaksteuerformel ist ein Schlüssel für entsprechende Mehreinnahmen bei der Tabaksteuer. Ich füge hinzu, daß wir, wenn wir diese Gesetze heute beschließen und falls sich in diesen beiden Bereichen noch Änderungen ergeben, daraus für die Bürger keine Steuermehrbelastungen erwachsen lassen wollen, sondern daß wir lediglich Verbesserungen in der Relation der Steuerbelastungen bzw. in der Struktur vornehmen wollen.
Herr Kollege Rind, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Larcher?
Das ist dann aber wirklich die letzte Zusatzfrage im Interesse der Kollegen, die auf die namentlichen Abstimmungen warten.
Herr Kollege.
Herr Kollege Rind, haben Sie wirklich kein Gefühl für die Ungerechtigkeit, die darin liegt, daß durch das Fehlen der Einkommensgrenze bei der Ergänzungsabgabe die Geringverdienenden in den neuen Ländern zur Solidarität mit sich selbst gezwungen werden?
Sie stellen den Antrag, den steuerfreien Betrag von 600 DM und 1 200 DM abzuschaffen; Sie ersetzen unseren Antrag durch einen nicht finanzierbaren anderen. Anschließend sprechen Sie von Solidarität mit diesen Ländern. Unser Freibetrag ist ein Zeichen der Solidarität mit diesen Ländern und den Menschen, die dort Steuern zahlen.
Beim Abbau der Berlin- und Zonenrandförderung ist hervorzuheben, daß mit Berlin und den betroffenen Bereichen im Zonenrandgebiet weitgehende Übereinstimmung erzielt wurde. Diese betrifft beim Abbau der Berlin-Förderung zwar nur den Grundsatz und nicht den Zeitrahmen und das Tempo des Abbaus. Aber immerhin: Die Bereitschaft ist anzuerkennen.Sicherlich wurde Berlin die prinzipielle Zustimmung zum Abbau der Berlin-Förderung dadurch erleichtert, daß es als sechstes neues Bundesland voll in die Förderung der neuen Bundesländer einbezogen wird, also weitgehend auch West-Berlin. Wir von der FDP sind froh darüber, daß wir unsere Forderung, die Regelungen der alten §§ 14a und 14b des Berlinförderungsgesetzes, d. h. Schnellabschreibungen im Bereich des Wohnungsbaus in das Fördergebietsgesetz, und zwar für Gesamt-Berlin, aufnehmen konnten.Die Verbesserungen bei der Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums haben Herrn Reschke zu recht interessanten Äußerungen bewegt. Ich will nicht
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1692 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Hermann Rindverschweigen — ich habe das schon in den ersten Eingangssätzen gesagt — , daß wir auch ein gewisses Unbehagen über die Möglichkeiten dieses Förderinstrumentariums empfinden und Änderungen durchaus aufgeschlossen gegenüberstehen, die natürlich finanzierbar und auch verfassungsrechtlich haltbar sein müssen. Beim Abzugsbetrag, dem Förderbetrag, den die SPD wünscht, gibt es gewisse Probleme; aber ich will das nicht mehr vertiefen.Die Nichteinführung der betrieblichen Vermögensteuer in den neuen Bundesländern hat denselben Hintergrund wie die Nichteinführung der Gewerbekapitalsteuer. Jeder, der die Realität in der Finanzverwaltung der neuen Länder kennt, weiß, daß es der Finanzverwaltung auf absehbare Zeit — dies ist nicht nur ein Zeitraum von ein, zwei Jahren, wie die SPD hier ausgeführt hat, sondern dies ist ein Zeitraum von mindestens fünf, sechs, sieben, acht Jahren — nicht möglich sein wird, die Einheitsbewertung des Betriebsvermögens und damit die Grundlage für die Besteuerung zu schaffen.Wir sehen auch — das sollte die SPD bei ihrer Kritik an der Nichteinführung der Vermögensteuer in den neuen Ländern beachten — , daß gerade die Großbetriebe, die ehemaligen volkseigenen Betriebe, durchaus erhebliche Probleme mit der Vermögensteuer haben, ohne daß sie einen Pfennig Ertrag haben; sie sind in einer Situation, in der ihnen das Wasser bereits bis Oberkante Unterlippe steht. In dieser Lage müßten sie noch die betriebliche Vermögensteuer erbringen, weil ihre bewertungsrechtliche Vermögenssituation durchaus Vermögensteuer auslöst. Dieses Problem ist also nicht ein Problem von kleinen und mittleren Betrieben. Gerade für die Gesamtwirtschaft in den neuen Ländern sind dies — neben Verwaltungsproblemen — sehr gewichtige Argumente. Gerade die Situation der Betriebe in den neuen Ländern macht deutlich, wie arbeitsplatzvernichtend Steuern sind, die unabhängig vom Ertrag und damit von der Ertragskraft der Unternehmen erhoben werden.
Meine Damen und Herren, bei dem geplanten Vorhaben „Reform der Unternehmensbesteuerung" wollen wir die Befreiung von der Gewerbekapitalsteuer und eine weitgehende Entlastung von der betrieblichen Vermögensteuer auch auf Gesamtdeutschland ausdehnen. Wir wollen — dies sei hier noch einmal angemerkt, weil es immer wieder unterschlagen wird — dies in der ersten Stufe durch den Abbau von Abschreibungsvergünstigungen aufkommensneutral gestalten. Diese Verlagerung von ertragsunabhängigen Steuern hin zu Ertragsteuern ist eine erhebliche Verbesserung der Struktur der Unternehmensbesteuerung und damit ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Reform der Unternehmensbesteuerung mit dem Ziel: Erhaltung und Sicherung von Arbeitsplätzen im Binnenmarkt bei einem Wettbewerb der Steuersysteme.
Meine Damen und Herren, mit allen Maßnahmen, die heute beschlossen werden, Sonderabschreibungen, Gewerbekapitalsteuerfreiheit, Freiheit vonder betrieblichen Vermögensteuer — Investitionszuschüsse und Investitionszulagen gibt es bereits — , haben wir ein Förderinstrumentarium, das ca. 60 Prozent der Investitionen erreichen kann. Dies ist, glaube ich, ein Förderinstrumentarium, das wir als voll ausreichend bezeichnen können und, damit kein Attentismus ausgelöst wird, auch als Endpunkt der Fördermaßnahmen bezeichnen müssen. Wir müssen daran nicht nur aus finanzpolitischen Gründen festhalten, sondern auch damit die Investitionen endlich in verstärktem Umfang in Gang gesetzt werden. Es tut sich schon eine ganze Menge, aber wir hoffen, daß sich nach Verabschiedung dieser Gesetze noch wesentliche weitere Investitionen von Unternehmen in den neuen Ländern ergeben.Zu der Forderung der SPD, neben den Sonderabschreibungen alternativ eine erhöhte Investitionszulage von 25 Prozent zu gewähren, sage ich noch einmal: Wir konnten dem aus mehreren Gründen nicht nähertreten, nicht nur wegen der erheblichen Steuerausfälle, sondern auch weil — das wurde erörtert und ist im Grunde genommen Allgemeingut der volkswirtschaftlichen Lehre — solche Zuschüsse, die generell gegeben werden, natürlich leicht zu Fehlinvestitionen führen. Wir sind auch der Meinung, daß gerade mittlere und kleinere Unternehmen in den neuen Ländern darauf angewiesen sind, innerhalb des Zeitraums, in dem die Abschreibungen gewährt werden, nämlich innerhalb von fünf Jahren, entsprechende Gewinne zu machen, so daß auch diese Betriebe durchaus in den Genuß der Sonderabschreibungen kommen. Sie brauchen für ihre Investitionen eine mittelfristige Finanzplanung; dabei müssen Gewinne berücksichtigt werden, und damit kommen auch die Sonderabschreibungen zur Geltung. Auch diesen Betrieben wird also geholfen.Ein anderes Problem ist, daß viele kleinere und mittlere Betriebe und Existenzgründer in den neuen Ländern zu geringes Eigenkapital haben. Dafür aber müssen wir andere Instrumente einführen. Ich wiederhole hier die Forderung, daß wir zu einer Verbesserung von Bürgschaftsprogrammen für mittlere und kleinere Unternehmen in den neuen Ländern kommen müssen, damit sie sich am Kapitalmarkt den Kredit verschaffen können, den sie für ihre Investitionen brauchen. Die Erhöhung der Investitionszulage ist dafür nicht das richtige Instrument.
Abschließend bleibt festzustellen, daß die FDP dem Steueränderungsgesetz lieber zustimmt als dem Solidaritätsgesetz, aber auch letzterem ihre Zustimmung nicht verweigern wird. Dies geschieht unter der sicherlich nicht justiziablen, aber politisch intensiv verfolgten Forderung, daß noch in dieser Legislaturperiode die Steuerlastquote begrenzt, die Struktur des Steuersystems verbessert und der Staatsanteil am Wirtschaftsgeschehen zurückgedrängt wird. Diese Fortsetzung der erfolgreichen Finanz- und Steuerpolitik der 80er Jahre ist im Hinblick auf ein gesundes Wachstum unserer Volkswirtschaft im Binnenmarkt der Europäischen Gemeinschaft nach unserer Oberzeugung unverzichtbar.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1693
Hermann RindIch danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile der Abgeordneten Elisabeth Grochtmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten!Die sozialistische Planung ist ein wesentliches Charakteristikum der sozialistischen Gesellschaftsordnung und ihr entscheidender Vorzug. Die Praxis der sozialistischen Planwirtschaft beweist durch die Stabilität der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung das Entwicklungstempo von Produktion, Arbeitsproduktivität und Lebensstandard, ihre historische Überlegenheit gegenüber der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation. Die sozialistische Planwirtschaft ist eine wesentliche Voraussetzung, um die Grundfrage „Wer wen?" zugunsten des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus zu entscheiden.An Ihren Mienen, meine sehr verehrten Damen und Herren, sehe ich, daß Sie sich fragen, ob Sie auf der richtigen Veranstaltung sind
und ob ich von der richtigen Fraktion komme.
Dem ist so. Aber mit diesem Zitat aus dem Wörterbuch der Politischen Ökonomie des Sozialismus wollte ich Sie daran erinnern und nochmals darauf hinweisen, wie die Grundlagen der Wirtschaft in der ehemaligen DDR verstanden wurden.Über 40 Jahre waren diese Grundlagen Pflichtwissen an allen Hochschulen und Universitäten. Die in dem Zitat angesprochene Frage „Wer wen?" wurde mit der Wende im Herbst 1989 endgültig entschieden, vorbereitet aber schon in den Jahren zuvor. Die Entwicklung, der wir jetzt gegenüberstehen, geht rasant, schnell vorwärts. Vor drei, selbst vor zwei Jahren hätte kaum jemand daran gedacht, daß die Mauer fallen würde, daß wir einmal ein einheitliches Deutschland erleben würden. Im November 1989 wollten die Menschen Freiheit, Demokratie und Einheit. Diese Ziele sind nun erreicht. Sie sind sehr schnell Selbstverständlichkeit geworden, werden als Selbstverständlichkeit betrachtet und sind scheinbar nicht mehr der Rede wert.Die Menschen im Ostteil unseres Landes hatte 40 Jahre lang vor Augen, wie Wirtschaft, wie Leben, wie Demokratie aussehen kann. Mit viel Arbeit und Fleiß ist es den Bürgern in den alten Bundesländern gelungen, sich einen freiheitlichen Staat aufzubauen. Demgegenüber waren Initiative und Selbstbewußtsein in der ehemaligen DDR verpönt. Die Menschen zogen sich in ein Nischendasein zurück, konnten sich damit aber nie abfinden. Mit der Wende 1989 begann ihr neues Leben.Dabei gibt es meiner Meinung nach zwei Aspekte der Wende, zum einen den sozialpolitischen Aspekt und zum anderen den emotionalen Aspekt.Der sozialpolitische Aspekt ist klar definierbar: Es muß ein System von einer sozialistischen Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft mit all ihren Problemen umgestellt werden. Das geht nicht von allein. Hier müssen Maßnahmen greifen wie die, die heute im Bundestag beschlossen werden sollen.Investitionen werden erleichtert. Das ist gut und richtig. Gemeinden in den neuen Bundesländern werden von der Gewerbesteuerumlage befreit. Es gibt besondere steuerliche Vergünstigungen für diejenigen, die sich entscheiden, den Aufbau der Wirtschaft in den neuen Bundesländern zu fördern. Außerdem nenne ich noch die Einführung befristeter Sonderabschreibungen sowie den Verzicht auf die Erhebung der Gewerbekapitalsteuer und der Vermögensteuer ab 1991. Die genauen Regelungen, aber auch weitere Regelungen sind dem Gesetzentwurf zu entnehmen. Rechnet man alle Maßnahmen einmal zusammen, dann ergibt sich für 100 DM Investition eine Rückerstattung von fast 50 DM.Natürlich kommt es nun darauf an, die Wirksamkeit dieser Maßnahmen zu sichern, denn sowohl Investitionsförderungsmaßnahmen als auch Steuererhöhungen und der befristete Solidaritätszuschlag sind ja kein Selbstzweck, keine Laune der Politiker. Hier geht es darum, die bisher wichtigste Aufgabe in der jüngsten deutschen Geschichte zu lösen: die Einheit Deutschlands nicht nur auf dem Papier, sondern auch in Wirklichkeit zu schaffen.
Das, meine Damen und Herren, ist nicht nebenbei möglich. Hier sind große Kraftanstrengungen sowohl der alten als auch der neuen Bundesländer nötig. Eine marode sozialistische Wirtschaft wird nicht über Nacht hocheffektiv, modern und umweltfreundlich. Aber die Zeichen des Aufschwungs sind da — zaghaft nur, aber wer sie sehen will, kann sie auch sehen.Das große Problem besteht nun natürlich darin, daß im Rahmen der Umstrukturierung der Wirtschaft uneffektive Arbeitsplätze schneller abgebaut werden, als neue dazukommen. Es kommt jetzt darauf an, diesen Prozeß so sozial wie möglich zu gestalten. Diejenigen, die dabei bewußt blockieren, sind fehl am Platze, wie z. B. jener Geschäftsführer in meinem Wahlkreis — früher aktiver SED-Funktionär — , der bereits zwei interessierte Investoren abwies und seinen Mitarbeitern einen Maulkorb umhing mit den Worten: Kohl und Blüm haben uns Arbeitsplätze versprochen. Die sollen mal machen; wir tun nichts.
Ich fordere die Treuhand auf — hier bin ich mir der Zustimmung meiner Kollegen aus den neuen Bundesländern gewiß —, daß für die Betriebe, die noch im Besitz der Treuhand sind, die Geschäftsführerstellen neu auszuschreiben sind;
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1694 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Elisabeth Grochtmanndenn das soeben angeführte Beispiel ist kein Einzelfall.
Der sozialpolitische Aspekt, den ich soeben angesprochen habe, ist für sich gesehen schon kompliziert genug. Der zweite Aspekt ist aber die teilweise schon erläuterte emotionale Seite. Wir haben die Mauer aus Stein beseitigt. Nun kommt es darauf an, die Mauer in den Köpfen der Menschen zu beseitigen. Menschen, denen bisher fast jeder Schritt vorgeschrieben wurde, sind plötzlich aufgefordert, allein zu entscheiden und ihr Leben zu gestalten. Das ist es, was wir immer gewollt haben. Aber wenn die Anforderungen mit einemmal so stehen, sind die Probleme riesengroß. Alles bisher Gewohnte und Bekannte verändert sich. Die Sorge um den Arbeitsplatz steht im Mittelpunkt der Bemühungen. Genügend Arbeitsplätze werden ohne private Investoren nicht geschaffen werden können. Deshalb appelliere ich an diese: Nutzen Sie die Gunst der Stunde, und investieren Sie in den neuen Bundesländern! So günstige begleitende Bedingungen, wie z. B. jetzt, werden Sie so schnell nicht wieder vorfinden.
Vor den Kommunalpolitikern in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt steht die Aufgabe, den Weg durch Investitionsbescheinigungen, Erschließung von Gewerbegebieten usw. für diese Investitionen freizumachen. Jetzt ist Initiative gefragt. Die ersten Schritte müssen von den Kommunen und ihren Verwaltungen getan werden. Der Aufschwung muß an der Basis beginnen. Das finanzielle und gesetzliche Fundament dafür hat die Bundesregierung mit ihren Maßnahmen der letzten Monate und dem heutigen Tag gelegt. Alte und neue Bundesländer müssen zusammenwachsen. Ich bin überzeugt davon, daß es uns gelingt, gemeinsam ein einiges und einheitliches Deutschland zu gestalten.Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Manfred Hampel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Faltlhauser hat uns heute früh erzählt, daß die CDU/CSU-Fraktion gestern abend ins Schwimmen gekommen ist — auf einem Dampfer in einer sehr angenehmen Art, wie ich hoffe. Allerdings kann ich mich der Meinung von Herrn Dr. Solms nicht anschließen, daß der derzeitige finanz- und steuerpolitische Schlingerkurs der Regierung nicht ganz Deutschland ins Schwimmen bringt — auf eine weit weniger angenehme Art.
Deutschland ist nach der politischen Einigung in der wirtschaftlichen Entwicklung leider tiefer geteilt als in Jahrzehnten zuvor.
Arbeitsmarktzahlen und Industrieproduktion sprechen eine beredte Sprache. Schauen Sie sich die Zahlen einmal an, meine Herren.
Ein Ende dieser Entwicklung ist noch nicht absehbar. Sinkenden Arbeitslosenzahlen in den alten Bundesländern stehen drastische Steigerungsraten in den neuen Bundesländern gegenüber,
und das trotz der großen Zahl von Pendlern aus den neuen Bundesländern.
Herr Kollege Hampel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grünbeck?
Ich bin beim letzten Mal auf viele Zwischenfragen eingegangen und bin daraufhin mit meiner Redezeit in Schwierigkeiten gekommen.
Die Zeit wird Ihnen nicht angerechnet.
Ich will heute auf das Zulassen von Zwischenfragen verzichten und möchte mit meiner Rede fertig werden.
Umgekehrt ist es bei der Industrieproduktion: Die Wirtschaft in den alten Bundesländern boomt; in den neuen Bundesländern erleben wir laufend Zusammenbrüche von Industriebetrieben.
Die Kluft zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung im Westen und der im Osten Deutschlands ist tiefer geworden.
Einer Minderheit von Betrieben, bei denen es kleinere Erfolge bei der Umstellung gegeben hat, steht die Mehrheit der Betriebe gegenüber, die mit der Umstrukturierung nicht vorankommen. Viele Betriebe fürchten um ihre Existenz. Die damit verbundene Sorge um den Arbeitsplatz und Zukunftsangst haben zu einer resignativen Grundstimmung geführt. Das ist nicht etwa auf — ich zitiere sinngemäß — beharrliches Madigmachen der Situation zurückzuführen, und es wurde auch nicht durch Herbeireden neuer Horrorszenen Sand ins wirtschaftliche Getriebe gestreut, wie Herr Glos dies den Sozialdemokraten vorwarf;
es ist vielmehr eine Tatsache, die Sie im Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vom 3. Mai nachlesen können.Die Entwicklung der letzten Monate hat bedauerlicherweise gezeigt, daß die sogenannten Horrorszena-
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Manfred Hampelrien bisher von der Wirklichkeit noch stets überboten wurden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Bundesfinanzminister Waigel hat kürzlich einen treffenden Vergleich gezogen. Er hat gesagt: Einen Abgrund kann man nur in einem Satz überspringen. Sehr schön! Nur, leider stehen wir noch nicht mit beiden Beinen fest auf der anderen Seite, sondern krallen uns mit den Händen am Abgrund fest und hoffen hochzukommen.
Um mit dem Vergleich fortzufahren: Wir werden kräftig gefüttert, damit wir nicht die Kraft aus den Fingerspitzen verlieren und ganz abstürzen. Ein Hochziehen mit beiden Händen wäre sicher wirkungsvoller.Auch das hochdotierte Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost läßt für Investitionen keine Perspektive erkennen. Die Mittel gehen überwiegend in den Konsum. An massiven Anreizen für Investitionen und damit für die Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen im produktiven Bereich fehlt es.Die Bundesregierung sollte sich der Frage, warum Investitionen noch immer ausbleiben, dringend stellen und weniger auf die Selbstheilungskräfte des Marktes vertrauen. Davon hängt das wirtschaftliche Überleben eines erheblichen Teils der neuen, größeren Bundesrepublik ab.
Welche Antworten hat die Bundesregierung auf diese Herausforderung? Ein Solidaritäts- und ein Steueränderungsgesetz. Einem ehemaligen DDR-Bürger dreht sich schon bei dem Wort „Solidarität" der Magen um,
weil es in der Vergangenheit zu allem Möglichen mißbraucht wurde, nur nicht um Solidarität zu praktizieren. Ähnliches gilt für dieses Gesetz. Solidarität kann es nur in einer Richtung geben: vom Starken zum Schwachen.Nach den Plänen der Bundesregierung sollen durch den Solidaritätszuschlag mehr als 70 % der erwerbstätigen Ossis Solidarität mit sich selbst üben.
So ist zumindest der Begriff falsch gewählt, um es vorsichtig auszudrücken.Ich möchte mich auf die in dem Gesetzespaket vorgesehenen Hilfen zur Förderung von Investitionen in den neuen Bundesländern konzentrieren. Dabei muß ich zunächst feststellen, daß die vorgesehene Nichterhebung der Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer tatsächlich keine Förderung von Investitionen darstellt. Welcher Betrieb in den neuen Bundesländern hat denn nach Abzug der Schulden ein so hohes Nettovermögen, daß er trotz der Freibeträge diese Steuern zahlen müßte? Die im Aufbau befindlichen Betriebe brauchen doch diese Steuern überhaupt nicht zu zahlen. Begünstigt werden durch die Abschaffung in erster Linie Privatpersonen mit hohem Kapitalvermögen und Kapitalgesellschaften mit hohem Finanzvermögen, und zwar auch dann, wenn sie keine Investitionen tätigen.
Eine besondere Dimension bekommt die Nichterhebung der Vermögensteuer noch, wenn man sich vor Augen führt, daß die Leute, die in der ehemaligen DDR große Privatvermögen erwerben konnten, fast immer von Partei und Regierung geschützte Schieber und Spekulanten sowie ehemalige SED-Bonzen waren. Solche Leute werden durch dieses System auch noch belohnt.Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, geht es ja in Wirklichkeit nicht um den Aufbau in den neuen Ländern, sondern Sie wollen den bundesweiten Abbau dieser Steuern einleiten. Indem Sie den Ländern und Kommunen mit diesen Maßnahmen die finanzielle Basis für Infrastrukturinvestitionen wegnehmen,
schaden Sie den neuen Ländern auf Dauer mehr, als Sie ihnen helfen.
— Ich möchte bitten, auf Zwischenfragen zu verzichten; ich habe nur noch sechs Minuten. Vielleicht können Sie die Zwischenfrage am Schluß stellen, wenn noch Zeit übrig ist.
Herr Kollege, die Zwischenfragen und die Antworten werden grundsätzlich von der Redezeit abgezogen. Also, darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.
Na gut, dann gestatte ich eine Zwischenfrage.
Herr Kollege, ich möchte Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis nehmen können und wollen, daß die hiermit eingetriebenen Steuern ganz konkrete Verwendungszwecke haben, und wie Sie vor diesem Hintergrund, wenn Sie das so einräumen und nachvollziehen können, sagen können, uns gehe es gar nicht um den Aufbau in den neuen Bundesländern?
Die konkreten Verwendungszwecke dieser Steuern sind die eine Seite. Wem sie letztendlich zufließen und wie sie schließlich verwendet werden, ist sicher die andere Seite.
Ich habe seit Wochen und Monaten in meinem Wahlkreis immer wieder nachgefragt: Wo bleiben die Gelder aus dem Fonds Deutsche Einheit, die bereits im Februar überwiesen werden sollten? Bis heute sind die Kommunen nicht in der Lage, diese Gelder zu ver-
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1696 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Manfred Hampelwenden, weil sie ihnen nicht zur Verfügung gestellt wurden.
— Das hat doch etwas mit der Landesregierung zu tun.— Ich möchte jetzt aber fortfahren.
— Was ist denn das jetzt für eine Frage, Herr Uldall?Aber auch die von Ihnen vorgeschlagene direkte Förderung durch die Mischung von Investitionszulage und Sonderabschreibungen hilft den Betrieben in den neuen Ländern wenig. Wir Sozialdemokraten halten eine Erhöhung der Investitionszulage von derzeit 12 % auf 25 % für dringend geboten.
Hierdurch würden private betriebliche Investitionen in den neuen Ländern vor allem im mittelständischen Bereich wirksam unterstützt. Eine direkte Investitionszulage als ein direkter finanzieller Zuschuß zu einer Investition wirkt auch dann, wenn die Unternehmen anfangs keine Gewinne erwirtschaften.Dagegen nützt die im Gesetzentwurf vorgesehene 50%ige Sonderabschreibung den ortsansässigen Investoren so gut wie nicht, weil die Sonderabschreibungen erst dann greifen, wenn Gewinne erwirtschaftet werden. Die Bundesregierung selbst geht bei ihrer Ausfallschätzung davon aus, daß nur 40 % der Unternehmen, die in den neuen Ländern Investitionen tätigen, Gewinne erwirtschaften und damit die Sonderabschreibungen nutzen können. Hierbei handelt es sich fast ausschließlich um westdeutsche Unternehmen. Damit erleiden die Unternehmen in den ostdeutschen Ländern, die die Sonderabschreibung nicht nutzen können und somit eine geringere Förderung als die gewinnstarken westdeutschen Betriebe erhalten, einen weiteren Wettbewerbsnachteil.Nach unserer Auffassung sollten daher die Betriebe eine auf 25 % erhöhte Investitionszulage erhalten, wenn ihnen die Sonderabschreibung nichts nützt. Hierdurch würden die Unternehmen auch eine größere Sicherheit bei der Planung der Finanzierung von Investitionen erhalten.Das ist eine Meinung, mit der wir Sozialdemokraten nicht allein stehen. Auch die Herren Professoren Schneider und Hedtkamp haben in der Anhörung vor dem Finanzausschuß diese Auffassung vertreten. Eine ähnliche Auffassung wurde vom Verband deutscher Reeder in der Stellungnahme im Finanzausschuß geäußert.Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf ist auch hinsichtlich der Förderung von Gebäudeinvestitionen unzureichend. Gebäudeinvestitionen sollen nur durch Sonderabschreibungen, nicht aber durch Investitionszulagen gefördert werden. Jedem, der den Zustand unserer Betriebe kennt, dürfte klar sein, daß man moderne Maschinen und Anlagen nicht in Gebäude setzen kann, die erst durch Um- und Ausbau wieder betriebsfähig gemacht werden müssen.Gestatten Sie mir einen Satz zum Stichwort ,,Attentismus", das Herr Dr. Solms anführte: Nicht unsere Vorschläge führen dazu; denn Ihnen dürfte klar sein, daß beide rückwirkend ab 1. Januar 1991 wirken würden. Was vielmehr dazu geführt hat, sind die Konzeptionslosigkeit und die abwartende Haltung der Bundesregierung. Das ist das, was in der Wahrheit zum Attentismus geführt hat!
Sie hätten doch bereits ab März letzten Jahres Konzeptionen erarbeiten können und diese spätestens ab 1. Juli oder 3. Oktober 1990 einführen können. Diese Zeit zumindest ist verstrichen.
Mit dem heute von uns vorgelegten Änderungsantrag schlagen wir eine wirksame Investitionsförderung vor, die sowohl den investitionswilligen, finanzstarken westdeutschen Unternehmen als auch den im Aufbau befindlichen ortsansässigen Unternehmen hilft.Förderprogramme, auf die in diesem Zusammenhang verwiesen wird, sind kein äquivalenter Ersatz. Erstens besteht auf Fördermittel kein Rechtsanspruch, und zweitens vergeht durch lange Bearbeitungswege viel Zeit, bis die Investition überhaupt begonnen werden kann. Zeit ist aber das, was wir am wenigsten haben.Ich bitte Sie daher, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, und insbesondere Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Bundesländern: Verschließen Sie sich nicht den besseren Einsichten und helfen Sie den Menschen, indem Sie über Ihren parteipolitischen Schatten springen und unserem Änderungsantrag zur Investitionszulage in der namentlichen Abstimmung zustimmen!Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Hansgeorg Hauser.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin gespannt, wann die Frau Kollegin Matthäus-Maier — sie ist jetzt leider nicht im Saal —
endlich mit dem unwürdigen Schauspiel aufhört, imOsten zu fordern „Tischlein, deck dich", im Westen zurufen „Goldesel, streck dich" und hier an dieser Stelle
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1697
Hansgeorg Hauser
den Schaukampf „Knüppel aus dem Sack" aufzuführen.
Mit dieser Neidkampagne sollte endlich Schluß sein! Wir sollten zu einer sachlichen Diskussion kommen; denn nur so können wir den Menschen in den neuen Bundesländern helfen.
Ein Wort zum Kollegen Hampel: Sie wissen, daß die Arbeitslosigkeit ihre Ursache zum großen Teil in der Unwirtschaftlichkeit der Betriebe hat. Deswegen fallen jetzt Arbeitsplätze weg! Sie wissen auch, daß diese Arbeitslosigkeit in Form von versteckter Arbeitslosigkeit in weit größerem Ausmaß bereits vorhanden war. Nur, das alles wurde eben zugedeckt.
Wir diskutieren heute über den Gesetzentwurf zur Änderung von Steuergesetzen, der die Förderung von Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen im Beitrittsgebiet zum Ziele hat. Mit diesem vorgelegten Gesetzentwurf sollen die steuerlichen Bedingungen rasch und entscheidend verbessert werden, damit vor allem privates Kapital für Investitionen schneller eingesetzt wird. Das bedeutet, daß neue Arbeitsplätze geschaffen und alte Arbeitsplätze erhalten werden. Gleichzeitig werden die Standortbedingungen der deutschen Wirtschaft im künftigen europäischen Binnenmarkt verbessert und die Arbeitsplätze der Zukunft gesichert.Das Steueränderungsgesetz enthält nicht nur Steuererhöhungen, sondern gewährt auch sozial gerechte Ausgleichsmaßnahmen für ungleichgewichtige Belastungen. Eine solche Härtemilderung stellt die Erhöhung der Kilometerpauschale dar, also der Aufwendungen für die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, die im Jahre 1991 auf 58 und 1992 auf 65 Pfennig erhöht werden. Die Kilometerpauschale wurde damit seit 1988 um 80 % angehoben. Allen Arbeitnehmern, die draußen auf dem Land wohnen, und insbesondere den Fernpendlern wird dadurch ein angemessener Ausgleich für Standortnachteile geboten.Die von der SPD vorgeschlagene Entfernungspauschale lehnen wir als untaugliches und finanziell überzogenes Mittel ab.
— Hören Sie bitte zu. — Dieser Vorschlag sieht vor, daß faktisch alle Arbeitnehmer, die zur Arbeit fahren oder gehen, Aufwendungen in Höhe von 65 Pfennig steuerlich geltend machen können, auch wenn überhaupt keine Kosten entstehen. Das widerspricht allen Grundsätzen unseres Steuerrechts. Es wäre vor allem eine völlig ungerechte Behandlung aller, die auf einFahrzeug angewiesen sind und nicht auf ein öffentliches Verkehrsmittel umsteigen können.
Die Arbeitnehmer in Ballungsräumen, die bereits durch gute Verkehrsanbindungen begünstigt sind, erhielten damit auch noch einen steuerlichen Vorteil gegenüber den Bewohnern im ländlichen Raum ohne günstigen öffentlichen Personennahverkehr.
Im übrigen ist die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln bereits insofern steuerlich begünstigt, als die angefallenen Kosten in voller Höhe als Werbungskosten angesetzt werden können, während die Kraftfahrzeugkosten nur mit dem Pauschbetrag berücksichtigt werden.
Wir halten den Umsteigeeffekt vom Pkw auf den öffentlichen Personennahverkehr bei Einführung einer Entfernungspauschale für unwesentlich. Die Maßnahme würde außerdem 950 Millionen DM kosten, nach einer früheren Schätzung sogar 2 Milliarden DM. Das ist nicht finanzierbar.Ganz so ernst scheint die SPD-Fraktion ihren Antrag selbst nicht genommen zu haben; sonst wären die kuriosen sprachlichen Auswirkungen des Antrags aufgefallen. Da wird beantragt, in den betreffenden Gesetzestext nach dem Wort „Fahrten" die Worte „oder Fußgängen" einzufügen. Der Gesetzestext hätte dann den Wortlaut: „Bei Fahrten" — jetzt käme die Einfügung — „oder Fußgängen mit einem eigenen oder zur Nutzung überlassenen Kfz sind die Aufwendungen ... anzusetzen. " Ähnliche Formulierungen kommen heraus, wenn man die Sache nicht so ernst meint.
Daß es sich bei der Einfügung der Fußgänge nur um einen Schaueffekt oder eine ökologische Verbrämung handelt, ist naheliegend.
Denn wer kann schon glaubhaft machen, daß er täglich 14 km zu Fuß zur Arbeit geht?
Ein wesentlicher Inhalt des Steueränderungsgesetzes ist der stufenweise Abbau der Berlin- und Zonenrandförderung. Die Verhandlungen und die Gestaltungen in diesen Punkten erwiesen sich als besonders schwierig, da Forderungen und Wünsche vielfältigster und konträrster Art unter einen Hut zu bringen waren. Während einige Verbände und Organisationen forderten, daß Förderungen und Vergünstigungen sofort, zum 1. Juli 1991, abzuschaffen sind, da es weder Mauer noch Zonengrenze mehr gibt, erinnerten die Betroffenen daran, daß einmal von einem Abbauzeitraum von sieben Jahren die Rede war.Die EG-Kommission machte klar, daß sie nicht gewillt ist, Förderungen über das Jahr 1993 hinaus zu
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1698 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Hansgeorg Hauser
akzeptieren. In diesem Punkt wurde wieder einmal deutlich, wie weit wir bereits in die Europäische Gemeinschaft integriert sind. Allerdings wurde auch Rücksicht auf die Sondersituation Deutschlands nach der Wiedervereinigung genommen, so daß ein akzeptabler Kompromiß entstanden ist.Schließlich galt es auch, die berechtigten Anliegen der Betroffenen im ehemaligen West-Berlin zu berücksichtigen. Es sollten soziale Härten und vor allem abrupte Brüche in der Wirtschaftsstruktur vermieden werden. Die Gefährdung von Arbeitsplätzen durch Auftragsrückgänge und die damit verbundene Abwanderung von Firmen mußten als Risikofaktor bei der Beratung des Gesetzentwurfs sorgfältig mit bedacht werden. Allerdings durfte es auch nicht bei dem Fördervorsprung des westlichen Berlin vor dem östlichen und den übrigen neuen Bundesländern bleiben.In Berlin hat sich der Schmerz der Teilung, aber auch die Freude der Einheit am greifbarsten ausgewirkt. Berlin mit seiner Insellage war in der Vergangenheit oft stellvertretend für uns alle in der Bundesrepublik der Prellbock, an dem die Fronten des Kalten Krieges aufeinandertrafen. Dafür, daß es das ausgehalten hat, sind wir dem Land und seinen Bewohnern großen Dank schuldig. Diese historische Leistung wird unvergessen bleiben. Jetzt aber sind Mauern und Grenzen gefallen, und Berlin ist wie unser gesamtes Land wieder eins geworden. Berlin muß sich als neues Bundesland verstehen. Deshalb sind die Fördermaßnahmen dem Niveau der anderen neuen Länder anzugleichen.Ich möchte nun nicht auf die einzelnen Maßnahmen eingehen, aber ich verweise darauf, daß der Finanzausschuß eine Reihe von Nachbesserungen beschlossen hat, z. B. daß mit dem Abbau der Arbeitnehmerzulage erst am 1. Oktober begonnen wird und daß diese Arbeitnehmerzulage erst 1994 ausläuft.Zur Abschaffung des Berlin-Darlehens nach § 17 des Berlinförderungsgesetzes möchte ich noch eine kleine persönliche Anmerkung machen: So sehr die Abschaffung begrüßt wird, würde ich es um so mehr begrüßen, wenn ähnliche Maßnahmen zur Sammlung von privatem Kapital für die neuen Bundesländer, speziell für den Wohnungsbau, vorgesehen würden. Ausreichendes, auch privates Kapital, in nicht unerheblichem Maße durch Kleinsparer mit aufgebracht, war eine Grundlage für die Aufrechterhaltung des Berliner Wohnungsbaus. Das würde auch in den neuen Bundesländern vielfältige Privatinitiativen im Wohnungsbau fördern. Natürlich müssen die Gestaltungsformen überprüft und überdacht werden. Aber man sollte positiv wirkende Gesetze nicht immer nur nach den Auswüchsen beurteilen.
Bezüglich des Abbaus der Zonenrandförderung verweisen wir auf die erfreulich objektive Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern des Zonenrandgebietes im Anhörungsverfahren, in der es heißt:Das im Entwurf eines Steueränderungsgesetzes1991 vorgesehene Abbaukonzept für Steuerabschreibungen und steuerfreie Rücklagen stellt einen Kompromiß dar, der dem berechtigten Anliegen der gewerblichen Wirtschaft des ehemaligen Zonenrandgebiets und im besonderen der mittelständischen Wirtschaft entgegenkommt.Aus bayerischer Sicht ist allerdings eine bedeutsame Unterscheidung hervorzuheben: Während durch den Wegfall der ehemaligen Zonengrenze ein neuer Wirtschaftsraum entstanden ist, der einen rasanten Aufschwung nehmen wird, trifft dies für die Gebiete entlang der Grenze zur CSFR nicht zu.
Durch die Öffnung dieser Grenze hat sich ebenfalls eine Veränderung ergeben. Aber der Aufschwung wird dort sicherlich auf sich warten lassen.Lassen Sie mich zum Abschluß noch einige persönliche Bemerkungen machen: Ich bin stolz darauf, daß ich meine erste Rede als Abgeordenter hier im Reichstag halten kann.
Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Es ist für mich immer noch ein Glücksgefühl, da draußen in der Wandelhalle zu stehen und zum Fenster auf den Platz hinauszuschauen, wo früher die Mauer war.Aber nicht nur die Beseitigung der Unterschiede in den wirtschaftlichen Lebensbedingungen braucht seine Zeit, auch mit dem menschlichen Aufeinanderzugehen haben wir so unsere Probleme. Wenn wir das Wort von der Überwindung der Teilung durch Teilen ernst nehmen, dann müssen wir auch bereit sein, das uns durch die vorliegenden Steueränderungsgesetze Abverlangte zu leisten. Es ist kein Opfer; denn keiner muß etwas von seinem Wohlstand abgeben. Es ist für die meisten nur etwa ein Drittel dessen, was sie an Lohnerhöhungen bekommen haben.
Herr Kollege Hauser, Ihre Redezeit ist reichlich überschritten.
Die Investitionen für die Schaffung neuer Arbeitsplätze sind gut angelegtes Geld, das für uns alle und die nachfolgenden Generationen reichlich Zinsen tragen wird. Deshalb appelliere ich an Sie alle: Stimmen Sie diesen Gesetzentwürfen zu.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Kubicki.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht leicht für einen neuen Bundestagsabgeordneten, in seinem ersten Beitrag vor dem Deutschen Bundestag seine sowie die abweichende Meinung der Kollegen Jürgen Koppelin und Werner Zywietz in einer derart wichtigen Frage zu begründen. Wir drei Abgeordneten der FDP können
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1699
Wolfgang Kubickiden Vorlagen des Solidaritäts- und des Steuererhöhungsgesetzes unsere Zustimmung nicht geben.
Auch wir vertreten die Auffassung, daß zur Wiederherstellung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland noch Erhebliches geleistet werden muß, mehr, als viele früher für nötig hielten und vielleicht auch heute noch für nötig halten. Gleichwohl begegnen die Vorlagen erheblichen, für uns nicht überwindlichen Bedenken. Wegen der Kürze der Zeit nenne ich nur drei Punkte.Erstens. Beide Regierungsfraktionen und namhafte Vertreter der Bundesregierung haben vor der Bundestagswahl, auch noch in der Debatte vom 22. November 1990, erklärt, es werde Steuererhöhungen nicht geben. Notwendige Mehrausgaben auf der einen Seite würden durch Einsparungen auf der anderen Seite und durch wachstumsbedingte Mehreinnahmen des Staates ausgeglichen.
Wir vermögen nicht zu erkennen, daß das Einsparungsprinzip konsequent verfolgt wird.
Wir erleben mit Unmut die Angriffe — auch aus Teilen der CDU/CSU — auf Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann und dessen Versuch des Subventionsabbaus.
Den Bürgern sind Steuererhöhungen erst und auch nur dann zuzumuten, wenn auch der Staat durch sein Ausgabeverhalten deutlich macht, daß er mit dem ihm überlassenen Geld verantwortlich umgeht.
Zweitens. Wir alle, die Mitglieder der FDP-Fraktion, haben — trotz zum Teil inhaltlich anderer Auffassungen — den Bundestagswahlkampf mit der Erklärung bestritten, Steuererhöhungen werde es wegen der deutschen Einheit nicht geben. Nun mögen neue Erkenntnisse eingetreten sein. Aber dies rechtfertigt nach unserer Auffassung Steueranhebungen noch im laufenden Haushaltsjahr nicht.
Warum dem Vorschlag des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages, z. B. Erhebungs- und Veranlagungszeitraum der Solidaritätsabgabe dekkungsgleich zu machen sowie die Anrechnung bei stufenweiser Körperschaftsteuerbelastung zu ermöglichen, nicht gefolgt worden ist, ist schwer begründbar. Wir teilen hier die Bedenken, die insbesondere auch von den Sachverständigen während der Anhörung vorgetragen wurden.
Nicht mehr hinnehmbar ist für uns die unterschiedliche Behandlung des Vermögens nach Wohnsitz oder Geschäftssitz des Steuerpflichtigen, wobei pikanterweise durch Einfügung eines Abs. 3 in § 3 a des Vermögensteuergesetzes die doch gerade den Mittelstand tragenden Personen bzw. Personengesellschaften gegenüber den Kapitalgesellschaften erheblich benachteiligt werden.
Meine Damen und Herren, es geht hier allerdings um mehr als nur juristische Bedenken. Es geht um die Frage der Glaubwürdigkeit der Politik und ihrer Entscheidungsträger sowie um die Frage von deren Kompetenz.
Diese Frage hat für uns angesichts einer weiter um sich greifenden Politikverdrossenheit einen vergleichsweise hohen Stellenwert.Drittens. Die Maßnahmen sind zum Teil wirtschaftspolitisch kontraproduktiv und sozial schwer erträglich.
So trifft z. B. die Mineralölsteuererhöhung, so sehr sie umweltpolitisch erwünscht ist, unsere ostdeutschen Mitbürger vergleichsweise härter.
Angesichts der Strukturanpassung erwarten wir von ihnen eine höhere Mobilität bei einem schlechter ausgestatteten Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln und deutlich geringerem Einkommensniveau. Ich sage Ihnen: Die von der Mineralölsteuererhöhung ausgehenden Friktionen im Osten Deutschlands werden uns noch zu schaffen machen.
Lassen Sie mich abschließend auch im Namen von Jürgen Koppelin und Werner Zywietz eine persönliche Erklärung gegenüber meiner Fraktion abgeben. Wir bedanken uns ausdrücklich für die faire Diskussion, die wir haben erleben dürfen. Wir wissen, daß vielen Abgeordneten die Entscheidung heute nicht leicht fällt. Ich möchte sagen: Auch uns ist es nicht leicht gefallen, bei unserer abweichenden Haltung zu bleiben.Vielen Dank.
Zu einer Erklärung zur Abstimmung hat der Kollege Dr. Faltlhauser das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis wir zu diesem Punkt unmittelbar vor der Abstimmung gekommen sind, haben wir in mehreren Stufen außergewöhnlich schwierige und neue Situationen erlebt: Zunächst bekamen wir finanzielle Schwierigkeiten durch Veränderungen
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1700 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Dr. Kurt Faltlhauserin allen möglichen Bereichen: Golfkrieg, neue Lasten in den Ländern Osteuropas und in den neuen Bundesländern. Das war überraschend. Dann haben wir dies in kurzer Frist — nicht immer mit dem Beifall der eigenen Diskutanten — mit Instrumenten, die wir für notwendig gehalten haben, bewältigt. Wir haben eine interne, sehr heftige und fachkundige Debatte geführt. Wir haben dabei die Anregungen aus allen Teilen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion entgegengenommen.
Herr Kollege Faltlhauser, zur Abstimmung!
Wir haben in der gesamten Zeit dieser Debatte, meine Damen und Herren, kein einziges Mal eine abweichende Meinung, wie wir sie jetzt gerade vorgetragen bekommen haben, gehört.
Wir haben von den Kollegen auch keine entsprechenden Verbesserungsvorschläge gehört. Wir haben auch keine entsprechenden abweichenden Auffassungen gehört. Deshalb, so meine ich, sollten sich die drei Kollegen jetzt noch einmal überlegen,
ob sie zur Solidarität der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion stehen.
Herr Kollege Faltlhauser, dies war keine Erklärung zur Abstimmung. Es war eine Frage in Richtung FDP.
Ich schließe die Aussprache.
Da mindestens eine Fraktion intern bekanntgegeben hat, daß die Abstimmungen um 13.30 Uhr beginnen werden, und da wir den Kollegen, die sich auf die Minute eingerichtet haben, eine Chance geben wollen, unterbreche ich die Sitzung bis 13.30 Uhr.
Sie erleichtern den Ablauf der Sitzung, wenn Sie im Saal bleiben.
Meine Damen und Herren, wir setzen die unterbrochene Sitzung fort.Meine Damen und Herren, wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Entwurf des Steueränderungsgesetzes 1991 auf Drucksachen 12/219, 12/402, 12/459 und 12/562.Ich rufe Art. 1 auf, Änderung des Einkommensteuergesetzes. Dazu liegen drei Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 12/575? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 12/576? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Auch dieser Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 12/577? — Gegenstimmen! — Enthaltungen? — Abgelehnt.Wer stimmt für Art. 1 in der Ausschußfassung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist Art. 1 in der Ausschußfassung angenommen.Ich rufe Art. 1 a in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Art. 1 a ist angenommen.Ich rufe Art. 2 auf, Änderung des Gewerbesteuergesetzes. Dazu liegt auf Drucksache 12/578 unter Nr. 1 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für Art. 2 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Art. 2 ist in der Ausschußfassung angenommen.Ich rufe die Art. 3 bis 5 in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Art. 3 bis 5 in der Ausschußfassung sind angenommen.Ich rufe Art. 6 Investitionszulagengesetz 1991 auf. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/579 vor.Die Fraktion der SPD verlangt namentliche Abstimmung. Es sind fünf Urnen aufgestellt: eine hier vorn am Stenographentisch, jeweils eine außen an der Regierungs- und an der Bundesratsbank und zwei weitere hinten in den Gängen.Ich eröffne die Abstimmung.Meine Damen und Herren, ich weise Sie vorsorglich darauf hin, daß gleich anschließend die nächste namentliche Abstimmung stattfinden wird.Meine Damen und Herren, ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? — Haben jetzt alle abgestimmt? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch, dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.Das Ergebnis der ersten namentlichen Abstimmung gebe ich später bekannt. *)Sind die neuen Urnen aufgestellt, und befinden sich bei allen Urnen Schriftführer?Ich unterstelle, daß wir bereits jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/580 abstimmen können, zu dem ebenfalls na-*) Seite 1701 C
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1701
Vizepräsident Hans Kleinmentliche Abstimmung verlangt ist. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Abstimmung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? —Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Auch dieses Ergebnis wird später bekanntgegeben.*)Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Entwurf des Solidaritätsgesetzes auf den Drucksachen 12/220, 12/403 und 12/561.Ich rufe Art. 1 auf. Dazu liegt ein Änderungsantrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 12/573 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für Art. 1 in der Ausschußfassung? — Wer stimmt dagegen? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Art. 1 in der Ausschußfassung ist angenommen.Ich rufe Art. 2 bis 6, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich seiner Stimme? — Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.Der Finanzausschuß empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? —
— Es gibt Zweifel. Dürfen wir noch einmal wiederholen?
Herr Präsident, Sie haben die Nummern nicht angegeben. Ich bitte, die Nummern zu wiederholen, damit wir das überprüfen können.
Der Finanzausschuß empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? —*) Seite 1702 AEnthaltungen? — Nach ursprünglicher Verwirrung ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Wir stimmen jetzt noch über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/574 ab. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 2 a, Steueränderungsgesetz 1991, zurück. Ich gebe das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD zu Art. 6 des Steueränderungsgesetzes, Drucksache 12/579, bekannt. Abgegebene Stimmen: 569. Davon ungültig: keine. Mit Ja haben gestimmt 208, mit Nein haben gestimmt 357;
Enthaltungen: 4. Damit ist der Antrag abgelehnt.*)Wir kommen zur Abstimmung über Art. 6 in der Ausschußfassung. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Art. 6 ist in der Ausschußfassung angenommen.Ich rufe Art. 7 bis 21, Einleitung und Überschrift auf. Zu Art. 7 liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/578, Nr. 2, vor. Die Drucksache 12/578 enthält außerdem unter Nr. 3 bis 5 drei weitere Änderungsanträge zu Art. 8, 8 a und 15. Können wir über diese Änderungsanträge gemeinsam abstimmen? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Wer stimmt für die Änderungsanträge? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Änderungsanträge sind abgelehnt.Wer stimmt für die Art. 7 bis 21, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung über das Steueränderungsgesetz auf Drucksachen 12/219, 12/402, 12/459 und 12/562. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt gegen den Gesetzentwurf? — Wer enthält sich seiner Stimme? — Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.Der Finanzausschuß empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen aus den Gruppen der PDS/Linke Liste und Bündnis 90/GRÜNE ist die Beschlußempfehlung angenommen.Ich gebe jetzt das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den*) Das endgültige Ergebnis und die Namensliste werden ineinem Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll veröffentlicht.
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1702 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Vizepräsident Hans KleinEntschließungsantrag der SPD zum Steueränderungsgesetz 1991 auf Drucksache 12/580 bekannt. Abgegebene Stimmen: 562. Davon ungültig: keine. Mit Ja haben gestimmt: 203. Mit Nein: 357. Enthaltungen: 2. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt. *)Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haushalte sowie über strukturelle Anpassungen in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet
— Drucksachen 12/221, 12/401, 12/461 —Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses
— Drucksache 12/581 —Berichterstatter:Abgeordnete Adolf Roth Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Helmut Wieczorek (Duisburg)
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Adolf Roth das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Haushaltsbegleitgesetz 1991 ist nur einer unter vielen legislativen Schritten, mit denen wir die haushalts- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung zu meistern versuchen. Wirtschaft, Ökologie, private und öffentliche Infrastruktur in den neuen Bundesländern sind in einem desolaten Zustand. Das alte System hatte ja nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich abgewirtschaftet. Insofern stehen wir heute vor einer der größten Herausforderungen. Wir müssen gewaltige Investitionsaufwendungen erbringen, um die Wirtschaft umzustrukturieren und damit die Grundlage sicherer Arbeitsplätze für morgen zu schaffen.
Herr Kollege Roth, darf ich Sie für einen Moment unterbrechen.
Meine Damen und Herren, nicht nur der Plenarsaal ist hier größer, auch die Lobby ist größer. Wenn Sie Gespräche führen wollen, führen Sie sie doch bitte in der Lobby; denn dieses neue Raumgefühl hat noch nicht die Empfindung dafür vermittelt, ob man Unterhaltungen, die man führt, hört oder nicht. Jedenfalls stört dies. Der Redner sollte Zuhörer haben. Deshalb bitte ich Sie: Wer an dem Thema teilnehmen will, soll im Saal bleiben. Wer Gespräche führen möchte oder muß, soll dafür die Lobby benutzen.
*) Das endgültige Ergebnis und die Namensliste werden in
einem Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll veröffentlicht.
Bitte fahren Sie fort, Herr Kollege.
Meine Damen und Herren, die von mir angesprochene schnelle Modernisierung erfordert zugleich eine gründliche Sanierung der Infrastruktur in den neuen Bundesländern. Hierzu waren und sind ungewöhnliche Anstrengungen erforderlich, um schrittweise das Notwendige in Gang zu setzen. Für die öffentlichen Haushalte der Bundesrepublik, insbesondere für den Haushalt des Bundes, ergeben sich daraus erhebliche Belastungen. In den haushaltspolitischen Eckwertbeschlüssen vom 14. November 1990 und im Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost haben Bundesregierung und Koalition wichtige Akzente gesetzt und gleichzeitig den Weg für die Fortsetzung unserer bewährten stabilitäts- und wachstumsorientierten Finanzpolitik geebnet.Meine Damen und Herren, das augenblickliche Konjunkturbild vom Frühjahr 1991 beweist, daß die Finanzpolitik trotz der erforderlichen Eingriffe expansiv bleibt und daß unsere Politik mit den Gesetzen einer vernünftigen Stabilitätsorientierung in Einklang steht. Wir setzen weiterhin auf die Kraft einer gesunden Konjunktur für den Aufbau und die wirtschaftliche Erneuerung.In dem breiten Bündel von Maßnahmen zur Beschleunigung des Aufbaus in den neuen Bundesländern sind aber weitere gesetzliche Anpassungen erforderlich, um die begonnenen Maßnahmen abzurunden. Soweit diese nicht bereits in anderen Gesetzen geregelt werden, sind sie im Haushaltsbegleitgesetz 1991 zusammengefaßt. Es handelt sich dabei im wesentlichen um drei große Blöcke, die hier zur Entscheidung anstehen: Es geht zum einen um Maßnahmen zur Entlastung des Bundeshaushalts, die innerhalb eines finanzpolitisch vertretbaren Ausgabe- und Verschuldungsrahmens zusätzlichen Spielraum für notwendige Anschubleistungen schaffen sollen; es geht zum zweiten um strukturelle Anpassungsmaßnahmen, die den Menschen in den östlichen Bundesländern den oft komplizierten Übergang in die Soziale Marktwirtschaft erleichtern sollen; schließlich geht es um die Verbesserung der Finanzausstattung der neuen Bundesländer und ihrer Kommunen.Lassen Sie mich in der gebotenen Kürze einige Anmerkungen zu den einzelnen Maßnahmen des Haushaltsbegleitgesetzes machen. Der Entlastung des Bundeshaushalts sind mehrere Abschnitte dieses Gesetzes gewidmet. Ich nenne einmal die Regelung zur Ablieferung der Deutschen Bundespost, sodann die Umlenkung von Finanzhilfen des Bundes für den kommunalen Straßenbau in das Beitrittsgebiet und schließlich Änderungen beim Ausgleich des Bundes für gemeinwirtschaftliche Leistungen bei den von der Bundesbahn abgegebenen Busdiensten.Über die Änderung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes werden bis 1994 jährlich 200 Millionen DM an Finanzhilfen des Bundes für den kommunalen Straßenbau in die neuen Bundesländer umgelenkt. Außerdem werden den Neuländern in den Jahren 1991 und 1992 insgesamt 2,6 Milliarden DM aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost für Zwecke des kommunalen Straßenbaus und des öffentlichen Personennahverkehrs zur Verfügung gestellt. In Er-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1703
Adolf Roth
gänzung früherer Beschlüsse ist dieser Plafond durch dieses Gesetz noch einmal aufgestockt worden.Meine Damen und Herren, damit unterstreichen wir die Bedeutung zügiger Verkehrsinvestitionen für den Prozeß der Erneuerung, für den Aufbau in den neuen Bundesländern.Zu den strukturellen Anpassungen im Beitrittsgebiet zählen die Erhöhung des Kindergeldes für das erste Kind auf monatlich 65 DM, die Einführung von Zinszuschüssen an Eigenheimer und private Vermieter, außerdem das Erlöschen rückständiger Zinsen für alte Reichsmark-Hypotheken und Aufbauhypotheken. Mit Kindergeld und Zinszuschüssen schaffen wir in bestimmten Bereichen für die Übergangsphase ein sozial verträgliches Umfeld zur Erleichterung des Einstiegs in die Bedingungen unserer freiheitlichen Wirtschaftsordnung.Die Erlöschensregelung bei Zinsen ist ein klarer Schritt, mit dem wir die systematische und oft gnadenlose Aushöhlung des Privateigentums durch die früheren Machthaber ein für allemal beenden wollen. Ich glaube, dies ist eine besonders wichtige Entscheidung, auch wenn es sich bei diesem Komplex wahrlich nicht um einen großen Finanzbeitrag handelt. Diese Lücke zu schließen ist ein Gebot der Vernunft und auch der Gerechtigkeit den betroffenen Menschen gegenüber.Meine Damen und Herren, ein wichtiger Fortschritt ist das zwischen dem Bund und den Ländern geschnürte erweiterte Finanzierungspaket. Der Bundesfinanzminister hat heute früh schon auf die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Bundeskanzler vom 28. Februar 1991 hingewiesen. Die Finanzausstattung der neuen Bundesländer und ihrer Kommunen wird einmal durch den Verzicht des Bundes auf seinen eigenen 15%igen Anteil an den Leistungen des Fonds „Deutsche Einheit" deutlich verbessert. Damit stehen den Gebietskörperschaften in den neuen Bundesländern in den Jahren bis 1994 insgesamt 14 Milliarden DM zusätzlich zur Verfügung. Hinzu kommen für denselben Zeitraum noch einmal rund 17 Milliarden DM durch die Änderung des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, mit der die Aufteilung des Länderanteils an der Umsatzsteuer zugunsten der neuen Bundesländer verbessert wird. Die neuen Länder werden nunmehr in vollem Umfang nach ihrer Einwohnerzahl am Länderanteil der Umsatzsteuer beteiligt. Ich meine, wir sollten alle diesen Schritt begrüßen. Wir sollten begrüßen, daß die alten Bundesländer mit dieser Entscheidung nach Monaten des Zauderns ebenfalls Flagge gezeigt haben und sich in die gemeinsame Verantwortung mit dem Bund begeben haben.Meine Damen und Herren, dieses Maßnahmenbündel des Haushaltsbegleitgesetzes 1991 ist nur ein Ausschnitt aus unseren vielfältigen Hilfsprogrammen für die neuen Bundesländer. Es zeigt aber die Breite der Palette an Maßnahmen für einen umfassenden Aufschwung. Wir sind sicher, daß diese Politik Schritt für Schritt bei den Menschen und im Prozeß der wirtschaftlichen Erneuerung greifen wird.Insgesamt gesehen sind wir mit unserem finanzpolitischen Konzept auf einem vernünftigen Weg. DieRahmenbedingungen stimmen. Der Übergang zur D-Mark hat sich vergleichsweise reibungslos vollzogen. Wir haben ein wachstums- und leistungsorientiertes Steuersystem schaffen können. Wir haben damit alle Voraussetzungen für die Entfaltung privater Eigeninitiativen in den neuen Bundesländern. Es gibt Schritt um Schritt günstige Perspektiven für Investoren.Es läßt sich nicht leugnen, meine Damen und Herren, daß die zielbewußte und konsequente Politik der Bundesregierung ihre Wirkung erreicht. So ist die Gründung neuer Unternehmen in den neuen Bundesländern in vielen Bereichen des Handels, des Handwerks und des Dienstleistungssektors bereits voll angelaufen: pro Monat 25 000 neue Betriebsgründungen. Ich glaube, das ist eine Zahl, die durchaus Eindruck machen kann. Auch gibt es die Privatisierungsfortschritte bei der Treuhand, die zu berechtigten Hoffnungen Anlaß geben. 1 Million Menschen haben seit der Wende eine neue Beschäftigung gefunden und aufgenommen. Die Einkommensverhältnisse in den neuen Bundesländern sind in vielen Bereichen deutlich verbessert worden.Diese Entwicklungen, meine Damen und Herren, rechtfertigen die Einschätzung, daß die Menschen in den neuen Bundesländern Zug um Zug den Anschluß an unseren Lebensstandard schaffen werden. Wir wissen, daß die Verwirklichung einheitlicher Lebensverhältnisse im vereinigten Deutschland ihre Zeit dauert. Aber sie wird schneller und nachhaltiger erfolgen, als viele der noch heute auf dem Markt zu vernehmenden Pessimisten und beruflichen Skeptiker uns weismachen wollen.Von daher gesehen glaube ich, daß das Haushaltsbegleitgesetz 1991 einen sinnvollen Abschluß unter diese Gesetzgebungsmaßnahmen bringt. Die Fraktion der CDU/CSU stimmt dem vorliegenden Gesetzentwurf in der dritten Lesung in der Ausschußfassung zu.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Arne Börnsen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu dem Haushaltsstrukturgesetz zu Beginn einige Bewertungen einzelner Artikel vornehmen, bevor ich auf ein zentrales Thema kommen möchte.Zu Art. 1, zur Änderung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes. Wir werden diesem Artikel zustimmen, da wir darin die Ermöglichung stärkerer Investitionen in den ostdeutschen Bundesländern sehen. Wir lehnen allerdings die Mittelaufteilung zwischen dem öffentlichen Personennahverkehr und dem kommunalen Straßenbau ab.Zu Art. 2, Gesetz über die Anpassung von Kreditverträgen an Marktbedingungen. Hier enthalten wir uns, weil wir der Meinung sind, daß verfassungsrechtliche Bedenken wegen der rückwirkenden Zinsanhebung zum 3. Oktober 1990 bestehen.
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Arne Börnsen
Zu Art. 4, Änderung des Personenbeförderungsgesetzes. Dies lehnen wir ab, weil wir davon ausgehen, daß diese Änderung zu spürbaren Preisanhebungen beim öffentlichen Personennahverkehr führen wird.Art. 5 und 6 sind ausgegliedert.Den Art. 7 und 8 — sie betreffen zum einen den Fonds „Deutsche Einheit" und zum zweiten die Änderung des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern — stimmen wir zu.Schließlich zu Art. 9, Änderung des Bundeskindergeldgesetzes. Dies lehnen wir ab, weil wir meinen, eine Erhöhung des Kindergeldes um 15 DM soll nicht nur das erste Kind betreffen, sondern alle Kinder.
Meine Damen und Herren, einen Artikel habe ich ausgelassen, nämlich Art. 3, die Änderung des Postverfassungsgesetzes. Hierauf möchte ich mich konzentrieren. Wir nehmen zur Kenntnis, daß die Abgabe, die die Post an den Bundeshaushalt zahlen soll, um 4 Milliarden DM reduziert worden ist. Aber es verbleiben 4 Milliarden DM. Die Größenordnung ist zwar für die Unternehmen der Post wichtig, aber bei der politischen Bewertung zweitrangig. Der Grundsatz der Vorgehensweise der Bundesregierung muß für uns im Mittelpunkt stehen.Auch das Gebührentheater, welches in den letzten Wochen die Öffentlichkeit stark beeindruckte, ist für uns heute zweitrangig, trotz des Ansehensverlustes, den die Bundesregierung mit diesem Theater in Kauf nehmen mußte — aber das haben wir nicht zu kritisieren — und trotz des Ansehensverlustes, den die Bundespost durch dieses Gebührentheater hat hinnehmen müssen.
Aus politischer Sicht ist für uns das zentrale Problem darin zu sehen, wie denn die Bundesregierung wohl mit einem Gesetz umgeht, welches sie vor noch nicht einmal zwei Jahren selbst beschlossen hat und welches sie in den vergangenen vier Jahren als eines der drei wichtigsten Reformgesetze der 11. Legislaturperiode bewertete.Ich möchte mit Ihrer Erlaubnis aus der Drucksache 11/2854 zitieren, nämlich aus der Begründung zu eben diesem Poststrukturgesetz. Der Veranlasser ist die Bundesregierung gewesen. Dort steht:Die gegenwärtige Ablieferung der Deutschen Bundespost an den Bund führt zu Wettbewerbsverzerrungen, Fehlleitungen von Ressourcen und zu gravierenden Wachstumsverlusten. Dies gilt um so mehr, seit die Ablieferung 1981— praktisch schon seit 1979 —von 62/3 auf 10 % angehoben wurde.Wir verkennen nicht, daß wir an der Anhebung damals schuld waren. Aber die Anhebung, die heute von der Bundesregierung vorgelegt wird, nämlich um 2 Milliarden DM in diesen zwei Jahren, ist eine Fortsetzung dieser fehlerhaften Politik und führt jetzt zu einer spürbaren Verschlechterung der finanziellen Situation der Bundespost.Lassen Sie mich einige Schwerpunkte, die die Bundesregierung bei der Begründung dieses Poststrukturgesetzes selber anführte, noch einmal aufgreifen.Da gab es die Trennung in hoheitliche und betriebliche Funktionen. Wir haben diese Trennung in hoheitliche und betriebliche Funktionen durchaus mitgetragen und halten sie für vernünftig. Was allerdings heute gemacht wird und uns vorexerziert wurde, ist genau das Gegenteil dieses Grundsatzes. Denn der Bundespostminister hat mit seinen Entscheidungen, ohne den Vorstand und den Aufsichtsrat in die Entscheidungsfindung mit einzubeziehen, in die Unternehmen der Post hineinregiert. Nicht nur das: Die Bundesregierung in der Gesamtheit hat dieses in der Person des Bundesfinanzministers vorexerziert.Wir haben uns bei der Beratung des Poststrukturgesetzes damals mit der Frage sehr schwergetan, ob nicht zusätzlich zu der Rechtsaufsicht, die der Bundespostminister über die Bundespost haben soll, auch eine Fachaufsicht eingeführt und in das Gesetz eingebracht werden sollte. Denn wir fürchteten, daß sonst die privatwirtschaftliche Orientierung der Unternehmen zu sehr im Vordergrund stehen würde. Wir haben das abgelehnt und müssen heute feststellen, daß diese Fachaufsicht vom Bundespostminister entgegen der Formulierung des Gesetzes bereits so wahrgenommen wird — also auch wieder das Gegenteil dessen, was angestrebt wurde.Es sollte mit dem Poststrukturgesetz aber auch eine Trennung von politischen Instanzen überhaupt erreicht werden. Ich will nur daran erinnern, daß es in den letzten Tagen vor dem Wahltag in RheinlandPfalz war, als sich die Bundesregierung bemüßigt sah, die Erhöhung der Abgabe in Frage zu stellen, weil das zu einer öffentlichen Diskussion über die Gebührenanhebung geführt hat und weil sie aus wahltaktischen Gesichtspunkten fürchtete, daß das negative Auswirkungen auf die Wahl in Rheinland-Pfalz haben würde.
Einen deutlicheren Beweis dafür, daß aus rein politischen Gesichtspunkten Änderungen an der Entscheidungsfindung der Bundespost vorgenommen werden, gibt es kaum.
Wir waren auch davon ausgegangen — ich zitiere fast immer nur die Bundesregierung; es ist eine seltsame Position, die ich hier einnehmen muß —, daß durch Einrichtung der Unternehmensvorstände auch die Eigenverantwortung der Vorstände in Unabhängigkeit von der Politik hervorgehoben werden sollte. Die Tatsache, daß die Bundesregierung, daß der Bundespostminister den Vorständen vorgibt, daß sie in den Jahren 1991 und 1992 keine Gebührenänderungen vornehmen dürfen, weil das nicht in das politische Konzept der Bundesregierung paßt, ist ebenfalls ein Beweis dafür, daß dieses Poststrukturgesetz ad absurdum geführt wurde.
Ein letzter Punkt in dieser Reihe: Wenn man von der Verantwortung des Eigentümers Bund ausgeht, dann
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Arne Börnsen
wäre es in dieser Situation, wo die Bundespost und insbesondere Telekom ganz besondere Leistungen in den fünf neuen Bundesländern erbringen müssen und einen enormen finanziellen Kraftakt leisten, um den Anforderungen in den neuen Bundesländern gerecht zu werden, angemessen gewesen, das Eigenkapital der Unternehmen der Bundespost zu erhöhen. Statt dessen macht man genau das Gegenteil. Man entzieht dem Unternehmen in einer Situation, wo es finanzpolitisch besonders gefordert ist, 4 Milliarden DM.
Meine Damen und Herren, wenn man die Bewertung des Poststrukturgesetzes aus heutiger Sicht zusammenfassend betrachtet, dann kehrt sich die Argumentation der Regierung und der Opposition von 1988 und 1989 geradezu um.
— Ich bekomme sogar Zustimmung von Herrn Briefs. Was ist mit Ihnen los, Herr Briefs? Das verstehe ich gar nicht.Die Opposition hat sich damals mit diesem Gesetz sehr schwer getan; ich will das gar nicht verhehlen. Wir haben befürchtet, daß die Gemeinwohlorientierung der Bundespost in Frage gestellt sein würde. Wir haben befürchtet, daß sie nicht mehr in der Lage sein würde, ihrem Infrastrukturauftrag nachzukommen. Wir haben befürchtet, daß das Verfahren des Finanzausgleichs unter dem Gesichtspunkt des Poststrukturgesetzes nicht mehr so „gehandled" werden könnte wie in der Vergangenheit.Heute müssen wir sehen, daß sich diese Befürchtungen nicht bestätigt haben. Dies gilt dann, wenn ich mich beim Finanzausgleich einmal auf das Verfahren beschränke und nicht die Inhalte des Finanzausgleichs heranziehe. Diese Befürchtungen haben sich nicht bestätigt, vielleicht auch deswegen nicht — das sage ich, ohne übertreiben zu wollen — , weil wir in der Endphase der Gesetzesberatung sehr wohl konstruktiv haben mitwirken können, weil die Einrichtung eines Infrastrukturrates — natürlich gemeinsam — erreicht werden konnte und weil auch die Regelungen über ein Einvernehmen mit dem Bundesfinanzminister aus dem Gesetzentwurf beseitigt wurden. Aber das ist sicherlich nicht der zentrale Punkt.Die Regierung hat sich damals zum Ziel gesetzt, Unternehmen zu schaffen, um unternehmensspezifische Antriebe freizusetzen und um die Unternehmen am Markt in die Lage zu versetzen, gegenüber privaten Konkurrenten wettbewerbsfähig zu sein.Heute muß man sehen, meine Damen und Herren, daß die Postunternehmen und insbesondere die Telekom am Hineinreden des Bundespostministers und der Bundesregierung zu scheitern drohen.Ich will abschließend drei Merkpunkte nennen, die deutlich machen, daß die Bundesregierung dem Poststrukturgesetz nicht nur nicht gerecht wird, sondern den Geist dieses Gesetzes ins Gegenteil verkehrt hat und daß dieses Gesetz aus heutiger Sicht nicht mehr geeignet ist, den Bedingungen der Unternehmen der Bundespost tatsächlich gerecht zu werden.Der Minister nimmt im Verhältnis zu den Unternehmen drei Positionen für sich in Anspruch, die dieses Ungleichgewicht skizzieren. Er ist zum einen der Regulierer, der zwischen den Monopolen der Unternehmen der Bundespost, den sich im Wettbewerb befindlichen Bundespostunternehmen und den privaten Unternehmen zu regulieren hat.Er hat zweitens eine Eigentümerrolle wahrzunehmen.Er hat drittens eine politische Funktion, die ich hier, glaube ich, ausreichend beschrieben habe.
Die Unternehmen der Bundespost sind nicht in der Lage, mit dieser dreifachen Konstruktion ihre Position am Markt wirklich zu behaupten. Wenn man dies in Vergleich zu der finanziellen Belastung setzt, die durch die Entscheidung der Bundesregierung der Post gegenüber entstanden ist, dann muß man befürchten, daß die Politik dieser Regierung die Unternehmen der Bundespost in ein finanzielles Desaster führt.Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Bundesminister für Post und Telekommunikation, Dr. Christian Schwarz-Schilling, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Herr Kollege Börnsen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist ja fast schade, daß Sie damals dem Poststrukturgesetz nicht zugestimmt haben; denn dann könnten Sie die Aussagen, wie gut das Gesetz ist und wie gut die Begründungen sind, natürlich noch mit einer ganz anderen Inbrunst hier zelebrieren. Ich freue mich trotzdem, daß Sie das Gesetz jetzt offensichtlich sehr gut finden.Trotzdem muß ich sagen, es sind hier Unrichtigkeiten vorgetragen worden. Es ist richtig, die Bundesregierung hatte ursprünglich eine erhöhte Abgabe von 2 Milliarden DM pro Jahr — und dies vier Jahre lang — vorgesehen. Nicht weil die rheinland-pfälzische Wahl anstand, sondern bereits in den Monaten Februar und März stand der Minister für Post und Telekommunikation in Gesprächen mit dem Finanzminister, um dies zu ändern, weil sich eine dramatische Veränderung der finanziellen Lage der Telekom ergeben hatte, die nicht voraussehbar war. Auch im Wirtschaftsplan der Telekom, der am 15. Dezember 1990 vom Aufsichtsrat genehmigt wurde, war dies nicht erkannt worden. Es handelt sich um 550 Millionen DM, die durch die Tarifverträge, die im Februar/ März in unseren östlichen wie in unseren westlichen Bundesländern abgeschlossen wurden, zusätzlich an Personalkosten entstanden sind.Als weiterer Faktor ist auch zu nennen, daß wir den Wunsch hatten — dazu steht diese Bundesregierung auch — , die überhöhten Telefongebühren in den neuen Bundesländern nicht erst im Jahre 1992, sondern bereits im Jahre 1991 abzubauen. Das waren wir der Bevölkerung dort schuldig. Das führt zu Mindereinnahmen bei der Telekom in Höhe von 500 Millionen DM. Auf Grund dieser zusätzlichen Kostenbela-
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Bundesminister Dr. Christian Schwarz-Schillingstung von mehr als 1 Milliarde DM ist das Gespräch zwischen den beiden Ministerien in Gang gekommen.Der Sachverhalt im Zusammenhang mit der rheinland-pfälzischen Wahl ist anders gewesen: Da hat eine Boulevardzeitung in Köln am Montag vor der Wahl von einem Geheimplan bezüglich einer zweiten Gebührenerhöhung gesprochen, obwohl es gar keine erste Gebührenerhöhung gab. Alle Agenturen haben das aufgegriffen. Manche Zeitungen haben aber auch richtig berichtet. Die SPD aber — Entschuldigung, wenn ich das so sage — hat auf diese Falschmeldungen voll gesetzt. Frau Matthäus-Maier wie auch Herr Paterna äußerten den Verdacht, daß die Telefongebühren nach der Wahl doch erhöht werden sollten. Man sprach von einem Manöver zur Täuschung der Wähler.Wer hat denn jetzt vor der Wahl etwas Falsches gesagt? Haben wir die Frage der Telefongebühren nach der Wahl anders behandelt als vor der Wahl? — Nein! Es wäre deshalb ganz gut, wenn die SPD diese Anschuldigung zurücknimmt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ganz kurz etwas Weiteres dazu sagen: Wer spricht eigentlich heute davon, daß weder 1990 noch 1991 noch 1992 Gebührenerhöhungen beim Telefon vorgenommen worden sind oder werden? Das wird für selbstverständlich gehalten.Wer spricht davon, daß am 1. April nicht — wie es in den Zeitungen stand und von manchen Politikern wiederholt wurde — eine Gebührenerhöhung, sondern per saldo eine Gebührenreduzierung in einer Größenordnung von 350 Millionen DM vorgenommen wurde? Das ist noch vom alten Verwaltungsrat im Jahre 1988 beschlossen worden und hat eine kostenorientierte Umstrukturierung der Tarife zum Gegenstand, wie sie in aller Welt vorgenommen und von der Internationalen Fernmeldeunion von jedem Mitgliedsland verlangt wird.Wer spricht davon, daß die Deutsche BundespostTelekom die Tarife in den neuen Bundesländern für alle Gespräche im Weitverkehr, also auch in den Westen, ab 1. Juli 1991 zwischen 50 und 70 % reduzieren wird, damit sie an das Westniveau angepaßt werden?Wer spricht davon, daß in den neuen Bundesländern die einmalige Anschlußgebühr ab 1. Juli 91 von 150 DM auf 65 DM herabgesetzt wird?Wer spricht davon, daß die 30 Freieinheiten für Sozialanschlüsse in den neuen Bundesländern erstmals ab 1. Juli 1991 eingeführt werden?Meine Damen und Herren, die ganze Debatte über die Telefongebührenerhöhung hat zwei Schieflagen: erstens eine falsche Wahlpropaganda, zweitens eine völlig einseitige, westorientierte Sicht, ohne jede Rücksicht darauf, was erforderlich ist, um der Bevölkerung der fünf neuen Bundesländer eine Angleichung zuteil werden zu lassen. Unter Berücksichtigung all dieser Punkte hätte die Debatte geführt werden müssen.
Ich würde die Opposition bitten, auch einmal das gesamte Deutschland zu sehen und nicht nur von den zehn Freieinheiten zu sprechen, die wir im Westteil Deutschlands jetzt einbüßen und die einen Betrag von 2,30 DM ausmachen, sondern auch auf die Vergünstigungen für den östlichen Teil Deutschlands hinzuweisen: auf die Senkung der Anschlußgebühr, auf die Senkung der Tarife ab 1. Juli 1991. Dann haben Sie eine gesamtdeutsche Sicht. Gerade hier wäre es angebracht, diese Sicht zu haben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Haushaltsbegleitgesetz 1991 ist geprägt vom Geist bzw. von dem Ungeist der konzeptionslosen Politik der Bundesregierung bei der Wahrnehmung der Jahrhundertaufgabe der sogenannten Wiedervereinigung. So begrüßenswert es ist, daß die Bundesregierung soziale Maßnahmen vor dem Hintergrund der sich anbahnenden Verarmung und auf längere Sicht Verelendung großer Teile der ostdeutschen Bevölkerung treffen will, sie tut es auch mit diesem Gesetz nur halbherzig. Sie tun es in viel zu geringem Umfang. Sie klotzen nicht, Sie kleckern.
Sie tun es, als ob Sie die Menschen im Osten des neuen Deutschlands — was immer das ist — als Wegwerfbevölkerung oder als Wegwerfgesellschaft betrachten. Und natürlich ergreifen Sie soziale Maßnahmen nur unter Druck.Sie wollen die Menschen im Osten, die — wie auch die Eierwürfe von Halle zeigen, die wir nicht für ein angemessenes Mittel politischer Auseinandersetzung halten — anfangen, sich zu wehren, die beginnen, nicht mehr alles mit sich machen zu lassen, bei der Stange Ihrer unzureichenden und unsozialen Politik halten. Daß sich der Herr Bundeskanzler nach seinem Besuch in Halle und seinen versuchten Tätlichkeiten gegenüber Demonstranten
vor allem Sorgen um sein politisches Image macht, sich jedoch nicht fragt, welche Empörung, welche Sorge ums Leben und Überleben in solchen Szenen zum Ausdruck kommt, ist bezeichnend für Ihre Einstellung gegenüber der Bevölkerung der früheren DDR.Wir fordern Sie auf, Ihre Einstellung zu der Bevölkerung der früheren DDR, wie sie eben u. a. auch im Haushaltsbegleitgesetz 1991 zum Ausdruck kommt, grundlegend zu ändern. Wir fordern Sie auf, sich um die Menschen und ihre soziale Lage — und das wirklich — zu kümmern, statt zu versuchen, die Menschen bloß kurzfristig einzulullen.Konkret: Binden Sie die Mietentwicklung in sozial verträglicher Weise an die Einkommensentwicklung gerade für die vielen sozial Schwachen. Konkret: Greifen Sie die Vorschläge der Memo-Gruppe oder
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Dr. Ulrich Briefsunsere eigenen auf — wie sie der Kollege Zimmermann auch dargelegt hat — , die detailliert und präzise aufgezeigt haben, wie sich ohne unsoziale Belastungen ökologisch und sozial sinnvolle Arbeitsmöglichkeiten in großem Umfang in den östlichen Ländern schaffen lassen.Sorgen um Ihr Image statt wirksame Notprogramme — das ist angesichts der Probleme und der Not im Osten nun wirklich unangebracht.Danke.
Das Wort hat die Abgeordnete Ina Albowitz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Briefs, wenn ich Sie manchmal reden höre, wünschte ich mir, Sie wären in der Ausschußberatung dabeigewesen. Dann wüßten Sie hinsichtlich des Gesetzes, wovon wir reden.
— Doch, es macht immer Freude, mit Ihnen zu diskutieren, vor allen Dingen dann, wenn man Ihnen etwas beibringen kann.Durch die enormen, bis an die Schmerzgrenze gehenden finanziellen Herausforderungen durch die deutsche Vereinigung sowie die eben nicht voraussehbaren Finanzbelastungen durch den Golfkrieg mußten die ursprüngliche Haushaltsplanberatung 1991 und die mittelfristige Finanzplanung durch das Ihnen vorliegende Entlastungspaket korrigiert werden. Das Haushaltsbegleitgesetz, das wir heute in letzter Lesung im Reichstagsgebäude verabschieden, sieht Entlastungen vor, die der Haushaltsausschuß sozusagen in Notariatsfunktion federführend beraten hat.Hierzu zählen u. a. die Sonderablieferungen der Deutschen Bundespost, die Umschichtung von Investitionsmitteln für den kommunalen Straßenbau in den neuen Bundesländern, die Aufhebung der Ausgleichspflicht des Bundes für einen Teil des öffentlichen Personennahverkehrs, Zinszuschüsse erheblichen Ausmaßes sowie Verbesserungen im Sozialbereich.Besonders erwähnenswert erscheint mir die Neuregelung des Finanzausgleichs mit dem Ziel, die Finanzsituation der neuen Länder, aber auch der Gemeinden deutlich zu verbessern. Zu erwähnen sind der Verzicht des Bundes auf seinen Anteil des Fonds „Deutsche Einheit" sowie eine deutliche Steigerung der Mittel im Bereich des kommunalen Straßenbaus und des ÖPNV. Kurz gesagt: Im Haushaltsbegleitgesetz sind die gesetzlichen Anpassungen zusammengefaßt, die notwendig waren, um die strukturelle Anpassung im Beitrittsgebiet sowie die Finanzausstattung der neuen Bundesländer erheblich zu verbessern. Mit diesem massiven staatlichen Mitteleinsatz versuchen wir, die öffentliche Infrastruktur, aber auch private Investitionen in den neuen Bundesländern zu fördern.Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben in ihrem jüngsten Bericht festgestellt, daß die staatlichen Förderungen in Ostdeutschland für Investoren inzwischen eine Art Oase geschaffen haben. Insgesamt dürften im laufenden Jahr öffentliche Leistungen in einer Größenordnung von annähernd 100 Milliarden DM aus West- nach Ostdeutschland fließen. Das ist rund die Hälfte des ostdeutschen Sozialprodukts.
Ein großer Teil der staatlichen Mittel geht gegenwärtig noch in den Konsum, hier insbesondere für die soziale Abfederung. Das Auseinanderlaufen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und der Produktion wird gegenwärtig weitgehend vom Staat finanziert. Trotzdem ist die Situation nicht befriedigend. Die Ungeduld wächst. Soziale Spannungen sind vermehrt zu verzeichnen.Sosehr ich die Ungeduld der ostdeutschen Mitbürger verstehen kann, sollte man jedoch dabei berücksichtigen, daß es den marktwirtschaftlichen Urknall nicht gibt. Wir befinden uns in einer Situation und Entwicklung, für die es vorher keine Beispiele gegeben hat. Was jetzt stattfindet, meine Damen und Herren, ist die Reparatur von über 40 Jahren Mißwirtschaft und Ausbeutung der Menschen. Diese tiefen Wunden heilen nicht innerhalb von wenigen Monaten.Man muß sich einmal vor Augen halten, daß ein für uns relativ normaler Vorgang wie z. B. der Bau eines Hauses vom Entschluß bis zur Fertigstellung, also Planung, Baugenehmigung, Bauausführung, mindestens anderthalb bis zwei Jahre dauert. Allein dieses Beispiel zeigt auf, daß man nicht erwarten kann, daß nach dem 3. Oktober von heute auf morgen alles besser wird. Wir werden auch in den folgenden Haushaltsjahren noch mit großen, ja größten Schwierigkeiten zu kämpfen haben.Trotzdem werden wir die Situation nur meistern, wenn wir eisern an den beschlossenen Eckwerten festhalten. Diese sehen vor, daß die Nettokreditaufnahme unter 70 Milliarden DM bleibt, in den Folgejahren wieder auf 30 Milliarden DM zurückgeführt wird und daß der Bundeshaushalt so restriktiv wie möglich gefahren wird.Die letzte Aussage bedeutet konsequentes Durchforsten aller Ausgabenansätze und die Umsetzung des seit Jahrzehnten angekündigten Subventionsabbaus. Dazu haben wir heute morgen in der Debatte schon einiges gehört. Bei der Gelegenheit weise ich noch einmal ausdrücklich auf die Initiative von Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann hin, der die tatsächliche Umsetzung des Subventionsabbaus in einer Größenordnung von 10 Milliarden DM, beginnend ab dem Haushalt 1992, zur conditio sine qua non gemacht hat. Ich bin sicher, daß die Bundesregierung diese Aufgaben meistern wird.Dies ist auch notwendig, meine Damen und Herren. Wenn ich die Aussagen des vertraulichen McKinseyGutachtens — pikanterweise muß man als Parlamentarier dies ja dem gestern erschienenen „Spiegel" entnehmen — richtig deute, bleibt uns eigentlich auch keine andere Wahl. Dort wird ausgeführt — ich zitiere — :
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Ina AlbowitzInnerhalb der Bundesrepublik droht die Belastung der öffentlichen Haushalte und der Unternehmen das tragbare Maß zu überschreiten — wenn nicht in bisher unvorstellbarem Umfang Einsparmöglichkeiten in anderen Bereichen ... konsequent genutzt werden.Dem, meine Damen und Herren, ist nichts hinzuzufügen.Lassen Sie mich zum Schluß bei dieser Gelegenheit auch ein langsam wirklich unerfreuliches Thema anschneiden, nämlich das der immer wiederkehrenden Forderung nach zusätzlichen Mitteln durch den sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf.
Wer sich in Kenntnis der umfangreichen Hilfe für die ehemalige DDR mit ständig neuen Mehranforderungen zu profilieren versucht, belastet das Klima und erzeugt bei Bürgern und Wirtschaft Unsicherheit. Bereits mit dem Abschluß des Bundeshaushaltes 1990 haben wir feststellen müssen — und Sie wissen das alle —, daß Fördermittel in Milliardenhöhe nicht abgeflossen sind. Das liegt daran, daß Verwaltungen bzw. Institutionen noch nicht so arbeitsfähig sind, wie wir uns das wünschen. Aber der tägliche Ruf nach zusätzlichen Mitteln führt dazu, daß die Opferbereitschaft und die Solidarität der Bürger in den alten Bundesländern nicht gerade zunehmen. Biedenkopf redet künstlich einen Gegensatz zwischen alten und neuen Bundesländern herbei.
Wir sollten endlich mit dem Jammern aufhören und statt dessen die vor uns liegenden Probleme zügig und motiviert anfassen.Die FDP-Fraktion gibt dem Haushaltsbegleitgesetz ihre Zustimmung.Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Entwurf des Haushaltsbegleitgesetzes 1991 auf den Drucksachen 12/221, 12/401, 12/461 und 12/581. Ich rufe Artikel 1 bis 10, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? —
Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Stimmen der Gruppen PDS/Linke Liste und Bündnis 90/GRÜNE angenommen.
Damit kommen wir zum Tagesordnungspunkt 4, den ich hiermit aufrufe:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung wohngeldrechtlicher Vorschriften
— Artikel 5 und 6 aus Drucksachen 12/221, 12/401 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
— Drucksache 12/495 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Siegfried Scheffler Dr.-Ing. Dietmar Kansy
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/568 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Jochen Borchert Dr. Wolfgang Weng Dr. Nils Diederich (Berlin)
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache wiederum eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dietmar Kansy.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die abschließende Beratung des Wohngeldsondergesetzes hier im Berliner Reichstagsgebäude hat, meine ich, fast symbolischen Charakter. Hier in Berlin, wo nach der Wiedervereinigung Ost und West am unmittelbarsten miteinander verwoben sind, schließen wir die Beratung eines Gesetzes ab, das beispielhaft dafür ist, wie wir die schwierigen Jahre des Zusammenwachsens gemeinsam meistern können.Wie stellt sich die Situation dar? Mit Mieten im Bereich der früheren DDR, deren Höhe noch aus der Hitler-Zeit stammt, wollte man eine besonders soziale Wohnungspolitik machen. Das Ergebnis war: verfallener Wohnraum in Millionenhöhe, zerstörte Innenstädte, kein Geld für Modernisierung, umweltfeindliche Heizungssysteme, Wohnungsnot. Würde man ausschließlich nach den Gesetzen der Marktwirtschaft gehen, müßte man die Mieten zügig wenigstens auf kostendeckende Beträge erhöhen, um den Verfall zu stoppen und auch Neubau zu ermöglichen.Aber wir haben in der Bundesrepublik Deutschland eben nicht einen Laissez-faire-Kapitalismus, sondern wir haben Soziale Marktwirtschaft. Vor diesem Hintergrund wäre eine Mietanpassung auf westliches Niveau, wobei im Westen im übrigen auch gesetzliche
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Dr.-Ing. Dietmar KansyBegrenzungen vorhanden sind, von vornherein nicht möglich gewesen.Die Mietverordnungen, die die Bundesregierung zusammen mit dem Bundesrat dazu erläßt und die heute nicht Bestandteil dieses Gesetzes sind, tragen diesem Gesichtspunkt bereits Rechnung. Wenn sie nunmehr insbesondere auf Wunsch der ostdeutschen Bundesländer zum 1. Oktober dieses Jahres in Kraft treten, liegen sie weiterhin erheblich unter westdeutschem Niveau. Sie sind die unterste Grenze dessen, was notwendig ist, um den Wohnraum in Ostdeutschland zu erhalten. Doch selbst diese, gemessen an den ökonomischen Notwendigkeiten immer noch nicht ausreichende Mieterhöhungsmöglichkeit würde einen Teil der Menschen in den neuen Bundesländern überfordern.Im Einigungsvertrag wurde festgelegt, daß die Mieten entsprechend den Einkommens- und Rentensteigerungen schrittweise an westdeutsches Niveau herangeführt werden sollen. Dies heißt übrigens wegen der unterschiedlichen Qualität der Wohnungen auch nicht, daß sie unbedingt westdeutsches Niveau erreichen sollen und werden. Ziel unserer Politik, Ziel auch des Gesetzentwurfs, den ich hier für die CDU/CSU-Fraktion vertrete, ist es, entsprechend den Schritt für Schritt steigenden Einkommen und Renten im Bereich der neuen Bundesländer den Anteil des monatlichen Familieneinkommens für das Wohnen ebenfalls Schritt für Schritt zu erhöhen.Angesichts der bereits heute sehr unterschiedlichen Einkommensentwicklung in den neuen Bundesländern, sei es durch unterschiedliche Tarifverträge, die ja teils schon bei 70 % und teils noch bei 35 To sind, sei es durch vorübergehende Arbeitslosigkeit, sei es durch Arbeitsverhältnisse Hunderttausender zwischen Ost und West pendelnder Arbeitnehmer, und auf Grund vieler anderer Faktoren ist es nicht möglich, dies so zu tun, daß man für den gesamten Wohnungsbestand der ehemaligen DDR oder für gewisse räumliche Bereiche gleichermaßen verfährt.Wir haben deswegen auf ein bewährtes Instrument zurückgegriffen, das schon in der alten Bundesrepublik dazu diente, persönliche Überforderung durch zu hohe Mieten individuell zu verhindern. Es ist die Idee des Wohngelds. Dieses ist keine erweiterte Sozialhilfe, sondern im Gegensatz zu der in der früheren DDR praktizierten flächendeckenden Subventionierung von Wohnraum eine individuelle Subventionierung des Wohnens.Wir sind der Auffassung, daß das Wohngeld gleichermaßen die gerechte Behandlung der betroffenen Mieter in den neuen Bundesländern ermöglicht, aber auch die Legitimation für viele Familien in den alten Bundesländern ist, die heute wesentlich höhere Mieten bezahlen und über Milliarden von Steuermitteln — wir werden allein für das Wohngeld-Ost im nächsten Jahr ungefähr 3 Milliarden DM aufwenden müssen — dieses Wohngeld mitfinanzieren.Das heißt in der Praxis z. B.: Eine Rentnerin aus Leipzig mit 600 DM Monatseinkommen hat Anspruch auf Solidarität aller Deutschen in Ost und West, wenn sie die zur Erhaltung dieser Wohnung dringend notwendigen Mieterhöhungen nicht tragen kann. DieseRentnerin wird einen erheblichen Teil ihrer Miete über dieses Sonderwohngeld bekommen.Auf der anderen Seite: Ein Maurer aus Potsdam, hier in der Nachbarschaft, der im früheren West-Berlin arbeitet und genausoviel wie sein Kollege aus Schöneberg verdient, kann nicht erwarten, daß dieser Kollege ihm die wesentlich billigere Miete in Potsdam aus seinen Steuermitteln finanziert. Auch dies ist ein Stück Gerechtigkeit.Wir haben dieses Sonderwohngeld so geschaffen, daß, im Vergleich zur Bevölkerung von Westdeutschland, die unter Berücksichtigung des Wohngeldes im Westen gut 20 % ihres Monatseinkommens für die Bruttokaltmiete ausgibt, die Familien in den ostdeutschen Bundesländern auf Grund dieses Wohngeldes im Schnitt etwa 10 % ihres Einkommens für die Bruttokaltmiete werden ausgeben müssen.Dies sind die Idee und die Leitlinie dieses Wohngeldsondergesetzes.Entsprechend den Anregungen des Bundesrats, insbesondere der ostdeutschen Bundesländer, wird in diesem neuen Wohngeldrecht-Ost eine gegenüber ersten Vorstellungen der Koalition wesentlich vereinfachte Regelung vorgesehen. Abweichend von dem westdeutschen Wohngeld werden auch Sonderregelungen über die Berücksichtigung von Heizungs- und Warmwasserkosten getroffen, da die Mieter in den neuen Bundesländern zumindest heute sehr oft noch keinen Einfluß darauf haben, wie hoch der Wasser- und der Energieverbrauch sind.Die vereinfachte Regelung berücksichtigt auch die inzwischen vom Bundesrat beschlossene Begrenzung der umlagefähigen Kosten für Heizung und Warmwasser auf 3 DM statt 2 DM je qm Wohnfläche und Monat.Vor allen Dingen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Mit der schnellen Verabschiedung des Gesetzes am heutigen Tag und in wenigen Tagen im Bundesrat ist außerdem die Gewähr dafür gegeben, daß in den ostdeutschen Ländern und Gemeinden ausreichend Zeit vorhanden ist, sich auf die Auszahlung dieses Wohngelds vorzubereiten.Zum Abschluß zwei Bitten: Die erste Bitte geht an die westdeutsche Bevölkerung: Haben Sie Verständnis für dieses Gesetz, auch für die Kosten, die damit verbunden sind! Denn die Menschen in Ostdeutschland haben in anderen Lebensbereichen schon erhebliche Nachteile; neben den Kosten des Wohnens gibt es ja auch noch die Kosten der Unterhaltung, der Ernährung, der Kleidung, der Post, der Bahn usw., die wesentlich schneller gestiegen sind als die Einkommen und die Renten in der ehemaligen DDR. Haben Sie also Verständnis, wenn wir diese Sonderregelung treffen!Meine Bitte an die Bevölkerung in den neuen Bundesländern: Haben Sie Vertrauen zu dieser Lösung, die die Kombination darstellt zwischen begrenztem Mietanstieg und Sonderwohngeld! Wir werden die Bundesregierung, aber auch die Fraktionen in den nächsten Wochen bis in jeden Haushalt hinein ausführlich informieren, damit Sie in der Lage sind, mit diesem Gesetz zu arbeiten. Ich bin sicher, daß wir eine
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1710 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Dr.-Ing. Dietmar KansyRegelung getroffen haben, die der Situation angemessen ist.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Kollege Siegfried Scheffler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie auf den meisten Feldern gegenwärtiger deutscher Innenpolitik haben sich auch vor dem Hintergrund einer sich drastisch verschlechternden Wohnraumversorgung in allen Bundesländern die Alltagsthemen der deutschen Einheit bei dem überwiegenden Teil der Bevölkerung breitgemacht: Alltagsthemen, die die Sicherheit um den Arbeitsplatz und die Bezahlbarkeit ihrer Wohnung bei Befragung in den neuen Bundesländern als meistgenannte Sorge und Nöte der Menschen in den Vordergrund stellen. Dabei lernen nicht nur die ständig steigende Zahl von Arbeitslosen und Kurzarbeitern in den neuen Bundesländern die Kehrseite der Medaille „Marktwirtschaft" kennen. Leider lernen nur wenige die von Ihnen, Herr Kansy, angesprochene soziale Seite der Marktwirtschaft kennen.Hunderttausende einkommensschwache Bürger sehen deshalb der heutigen dritten Beratung zur Wohngeldproblematik mit großer Spannung entgegen. Es ist immer wieder traurig, wie wenige Parlamentarier hier auch einer solchen grundsätzlichen Debatte zuhören.Es ist deshalb wichtig, daß bei dieser Wohngeldproblematik schon von vornherein klar war, daß vor dem Hintergrund einer immer schneller verfallenden Bausubstanz die bisher künstlich niedrig gehaltenen Mieten keinen Bestand haben können. Die Städte Rostock, Stralsund, Leipzig, Weimar, Erfurt, um nur einige zu nennen, zeigen uns das Ergebnis, ein Ergebnis, entstanden durch ein aufgeblasenes Subventionssystem, einer frustrierenden Mietenpolitik der ehemaligen DDR. Dabei wurden natürlich die Subventionen den privaten Mietshausbesitzern nicht gewährt.Die SPD-Fraktion des Deutschen Bundestages wies deshalb schon frühzeitig auf notwendige Steigerungen der Belastung bei gleichzeitiger sozialer Abfederung hin. Es war zwingend notwendig, daß im Einigungsvertrag bei entsprechender Einkommens- und Rentenentwicklung in den neuen Bundesländern die Steigerung der Belastung der Wohnkosten festgeschrieben wurde. Ausdrücklich wurde der sozialverträglichen Komponente entsprechende Priorität eingeräumt.Um so mehr begrüßt es die Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag, daß die Bundesregierung jetzt über ihren eigenen Schatten gesprungen ist und die soziale Seite der Marktwirtschaft auf dem Gebiet der Mietenentwicklung mit dem Sonderwohngeldgesetz für die neuen Bundesländer mitträgt.
Sicher haben die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsparteien im Ausschuß, entsprechend der sach- und fachgerechten Auseinandersetzung, aber sicherauch vor allem vor dem Hintergrund einer abweichenden Entscheidung des Bundesrates, kräftig beim Springen mitgeholfen. Aber immerhin! So mußte letztendlich die Bundesregierung bei der Vorlage eines ersten gesamtdeutschen Haushaltes, bei den Festlegungen aus dem Einigungsvertrag hinsichtlich der Mietenentwicklung und ihrer Belastung Farbe bekennen, wobei sich die tiefschwarze Anfangsfarbe bei der Gesetzesentwicklung der letzten Monate in eine freundlichere, dem Monat Mai entsprechende Färbung mit einem kräftigen Schuß Rot verändert hat,
nicht nur was die veränderten Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat betrifft. An dieser Stelle sollten wir ruhig den zuständigen Fachministern und Senatoren im Bundesrat für die geleistete Arbeit und das Ergebnis ihrer Arbeit danken, ein Ergebnis, das letztendlich entscheidend dazu beigetragen hat, daß der jetzt vorliegende Text zur Verabschiedung durch den Deutschen Bundestag, vorbereitet werden konnte. Es ist ein erster konkreter Schritt, der die notwendigen Rahmenbedingungen zur Anhebung der Grundmieten sowie der Umlage der Betriebskosten einschließlich der Kosten für Heizung und Warmwasser schafft. Beides soll zum 1. Oktober in Kraft gesetzt werden.Auch hier hatte die Bundesregierung noch bis zuletzt als Termin den 1. August vorgesehen, einen Termin, der Anfang des Jahres schon einmal für den 1. April — vielleicht als Aprilscherz, allerdings als ein schlechter — vorgesehen war. Bezeichnend hinsichtlich der Terminlage ist auch die Tatsache, daß nicht etwa die Bundesbauministerin die Verantwortung für den späteren Zeitpunkt übernimmt; nein, sie schiebt ihre Verantwortung allein auf die neuen Bundesländer.
Damit werden allen Ländern des Beitrittsgebietes ganz locker die Kosten für den Ausgleich der Mietendefizite aufgebrummt. Meine Damen und Herren der Koalitionsparteien, das ist doch wohl nicht sozialverträglich und schon gar nicht solidarisch. Davon war doch vorhin sehr oft die Rede. Ich bezweifle, daß bei den riesigen Finanzlöchern in den neuen Bundesländern diese Defizite — auch bei der erwarteten Mietenanhebung — getragen werden können. Die SPD-Fraktion wird sich deshalb weiterhin dafür einsetzen, daß auch nach der Verabschiedung des Haushalts '91 die entstehenden Ausgleichszahlungen wie bisher aus dem Bundeshaushalt finanziert werden.Vielleicht verstehe ich jetzt die Ausführungen der Bundesbauministerin zur freien Interpretation des Einigungsvertrages besser. Sie erklärte am 6. Februar vor dem Deutschen Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung ganz frei, daß bereits mit den Regelungen des Einigungsvertrages die Mietpreise für neugebaute Wohnungen weitgehend frei vereinbart werden; so frei, daß wir täglich — auch in durchaus seriösen Blättern — etwas über einen Wohnungsmarkt wie im Wilden Westen lesen können, einem Wohnungsmarkt, auf dem das Recht des Stärkeren zählt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1711
Siegfried SchefflerVielleicht war es auch deshalb notwendig, daß die Konferenz der für das Bau-, Wohnungs- und Siedlungswesen zuständigen Minister und Senatoren der Länder am 22. Februar dieses Jahres in Leipzig konkrete Forderungen an die Wohnungspolitik betreffs Mieten und sozialverträglicher Wohngeldregelungen gestellt hat und in dem Tagesordnungspunkt „Mietrecht" entsprechende Beschlüsse gefaßt worden sind. Die Forderungen der Minister und Senatoren waren wohlbegründet; denn noch am 20. Februar 1991 lag seitens der Bundesregierung kein konkretes Konzept zur mittelfristigen Gestaltung der Mieten und ihrer sozialen Abfederung vor.Für die Bundesregierung sprangen die Koalitionsparteien in den Ring, die am 3. März einen ersten Entwurf zum Haushaltbegleitgesetz vorlegten.Erst mit einem weiteren Antrag der SPD-Fraktion vom 13. März zur Mietenentwicklung einschließlich sozial flankierender Maßnahmen wurde die Bundesregierung aufgeschreckt. Dabei wurden schon in der ersten von der SPD-Fraktion beantragten Aktuellen Stunde zur Wohnungs- und Mietenproblematik für die neuen Länder am 20. Februar '91 konkrete Forderungen eingebracht. Ich denke beispielsweise an unsere Forderung der Mietbelastungsbegrenzung von durchschnittlich 10 % für alle Haushalte sowie als Obergrenze für einkommensschwache Haushalte, an die Einbeziehung der Belastung aus Heizung und Warmwasser in ein Sonderwohngeld sowie an den Zeitraum der Sonderregelung über das Jahr 1993 hinaus.Meine Damen und Herren der Koalitionsparteien — ich darf das hier ruhig einmal sagen — : Wir freuen uns, daß Sie Lernfähigkeit bewiesen haben und zumindest über die Stationen 3., 11., 19., 22., 27. März sowie zweimal im April und selbst noch am 2. Mai und letztendlich mit dem Entwurf am 7. Mai sich den Forderungen des Bundesrates und der SPD weitestgehend angeschlossen haben.
Dabei hatte sich die Bundesregierung schon nach der Bundesratssitzung am 26. April den Argumenten der Landesminister und Senatoren angeschlossen und deshalb, weil notwendig, den Gesetzentwurf nochmals verändert.Dazu eine Anmerkung: Wir alle, die wir im Ausschuß mit den ständig wechselnden Sachständen konfrontiert wurden — bei teilweise fehlender Formulierungshilfe — , empfanden es über alle Parteigrenzen hinweg als unmöglich, was den Parlamentariern seitens des Bundesbauministeriums zugemutet wurde.Aber vielleicht meint es die Bundesbauministerin ernst, wenn sie sagt, daß die Bundesregierung zu ihrer wohnungspolitischen Mitverantwortung — nicht Verantwortung, sondern Mitverantwortung — steht und daß die eigentliche Verantwortung für sozialpolitische Fragen — so auch für Mieten und Wohngeld in den neuen Bundesländern — bei der SPD liegt.Wir haben deshalb richtigerweise die Entscheidungsargumente rechtzeitig geliefert. Hier mußte beispielsweise durchgesetzt werden, daß eine verwaltungsmäßig beherrschbare Einführung eines Sonderwohngelds anläßlich der zu erwartenden Mieterhöhungen gesichert wird. Dem wurde Rechnung getragen. Die durchschnittliche Bruttokaltmiete wird in etwa 10 % des zur Verfügung stehenden Einkommens bzw. der Rente betragen.Rechnung getragen wurde auch der Forderung nach einer erheblichen Verfahrenserleichterung bei der Wohngeldermittlung und Wohngeldgewährung. Entgegen den bisher seitens der Bundesregierung vorgestellten Regelungen gibt es jetzt ein wesentlich vereinfacht zu ermittelndes und endgültiges Wohngeld. Aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung wurde dabei auf die Verrechnung der vorab zu leistenden Pauschalbeträge verzichtet. Das ist ein entscheidender Fortschritt.Nicht zufrieden sein können wir indes mit dem begrenzten Zeitraum bis zum 31. Januar 1993 bei der Beantragung. Hierzu hat die SPD ihre Forderungen in einem weitergehenden Antrag vorgelegt, der über den 31. Dezember 1994 hinausgeht. Er wurde vorhin bereits angesprochen.Wir werden uns der Forderung des Bundesrats und dem Gesetzestext zur Anhebung der Kappungsgrenze für die Umlage der Heizungs- und Warmwasserkosten von 2 DM auf 3 DM pro Quadratmeter anschließen, obgleich die SPD-Fraktion einen Höchstsatz von 2 DM pro Quadratmeter vorsah. Der Hintergrund dafür ist, daß durch eine weitere Subventionierung dieser Kosten Mieter von Altbauwohnungen benachteiligt wären, da sie ebenfalls ohne eigenes Verschulden überhöhte Preise für Heizenergie zu zahlen hätten. Für nicht abgedeckte Heizkosten ist weiterhin eine zeitlich begrenzte Subvention zu zahlen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend deutlich zum Ausdruck bringen, daß es unsinnig ist, daß auf der einen Seite über Jahrzehnte subventionierte Mieten vorurteilsfrei hingenommen wurden, auf der anderen Seite aber Wohngeld als Almosen abgestempelt wird. Diese Ausführungen mache ich insbesondere in Richtung PDS. Hier sollten alle Parteien in den nächsten Wochen ausdrücklich sachliche und nicht von Polemik geleitete Aufklärungsarbeit leisten.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.
Wohngeld ist eine Leistung der Wohnungspolitik und in diesem vorliegenden Wohngeldsondergesetz auch ein Stück sozialer Komponente der Marktwirtschaft, die unseren Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Bundesländern hilft, unverträgliche Härten bei der Mietennovellierung zu überstehen.Vor diesem schwierigen sozialen Hintergrund hält es bei aller Problematik im Vorfeld der Erarbeitung die SPD-Fraktion für erforderlich, dem Gesetzentwurf ihre Zustimmung in der dritten Lesung nicht zu versagen.Vielen Dank.
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1712 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Das Wort hat der Kollege Dr. Walter Hitschler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe das Gefühl, daß der Kollege Scheffler die Fristen bezüglich des Wohngeldsondergesetzes etwas durcheinandergebracht hat und bei seiner Aufzählung etwas durcheinandergeraten ist. Das geht sogar soweit, daß die Daten in dem schriftlich vorgelegten Antrag nicht stimmig sind. Es gibt beispielsweise Differenzen zwischen den Angaben im Antrag und in der Begründung.
Mit der heute abschließenden Zustimmung zu einem Wohngeldsondergesetz für das Beitrittsgebiet werden die durch die Grundmieten- und Betriebskostenverordnungen eingeleiteten Anpassungen des bisherigen Mietunwesens der DDR durch eine Regelung ergänzt, die die erforderlichen Mietanhebungen durch eine verwaltungstechnisch einfache und großzügige Subjektförderung abmildert. Damit wird auch das Wohngeld in den neuen Bundesländern zu einem zentralen wohnungspolitischen Instrument zur allmählichen Heranführung des Mietensystems an ein realistisches Marktniveau und zum zentralen Instrument der sozialen Abfederung der Wohnkostenbelastung. Seine Geltung ist für einen Übergangszeitraum bis zum 1. Januar 1995 vorgesehen, um die im Einigungsvertrag vorgesehene Überleitung der Mietbelastung entsprechend der Einkommensentwicklung gestalten zu können. Danach gilt gemeinsames Wohngeldrecht.
In einem ersten Schritt wird dann der Anteil der Wohnkosten auf einen Satz zwischen 8 und 12 % des Einkommens begrenzt. In weiteren Anpassungsschritten wird das Belastungsniveau entsprechend der Einkommensentwicklung in den nächsten Jahren bis zur Angleichung 1995 an unser Niveau angehoben.
Herr Kollege Hitschler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Seifert?
Ja, bitte.
Herr Kollege Seifert.
Kollege Hitschler, stimmen Sie mir darin zu, daß bei einer Anhebung von, wie Sie sagen, 8 bis 12 % wiederum die niedrigsten Einkommen am stärksten belastet sind?
8 bis 12 % gilt für alle Einkommen gleichermaßen.
— Ja, eben. 8 % ist von 1 000 DM 8 % wie von 10 000 DM; da kann ich keinen Unterschied erkennen.
Es ist deshalb erforderlich, daß die neue Wohngeldregelung nicht nur zum gleichen Zeitpunkt wie die Mietanhebung in Kraft tritt, sondern auch für Mieter wie Vermieter effektiv wirksam wird. Dem tragen insbesondere die erheblich vereinfachten Rechts- und Verwaltungsvorschriften Rechnung. Es wurden erstens die Einkommensermittlung stark vereinfacht, zweitens die für die Bewilligung maßgebenden Vorschriften reduziert, drittens die Ermittlung der Miete oder Belastung durch den Wegfall zahlreicher Bestimmungen entkompliziert, die Anwendung zahlreicher Verwaltungsvorschriften ausgesetzt, die Antragsformulare vereinfacht und die Zahl der Wohngeldtabellen auf fünf reduziert.
Obschon die Wohngeldstellen in der Tat zahlreiche Anträge zu bearbeiten haben werden, wäre es angesichts dieses vereinfachten Verfahrens nach unserer Auffassung möglich gewesen, die Regelung zum 1. August 1991 in Kraft zu setzen. Der Bundesrat hat sich bedauerlicherweise für den Weg des geringsten Widerstandes und ein Inkrafttreten erst zum 1. Oktober 1991 entschieden. Mit dieser Entscheidung schaden die Ministerpräsidenten der Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern, denn die spätere Mietanhebung wird zu erheblichen Verzögerungen bei der Modernisierung und Instandsetzung des Wohnbestandes führen. Die Länder belasten mit diesen Entscheidungen im übrigen ihre eigenen Haushalte, da mit etwa 3 Milliarden DM notwendigen Mietsubventionen gerechnet werden muß.
Die Ministerpräsidenten müssen sich darüber im klaren sein, daß der Bund nicht auch noch für diese selbstverschuldeten Haushaltsbelastungen etwa Ausgleichsleistungen vornimmt. Das verantworten die Länder selbst und haben es daher auch aus ihrem eigenen Portefeuille zu tragen.
Das Wohngeldsondergesetz macht die den Mietern entstehenden Kosten für Heizung und Warmwasser durch Berücksichtigung pauschaler Zuschläge je nach Heizungsart bis zu 3 DM pro Quadratmeter Wohnfläche wohngeldfähig. Dies erscheint als Übergangslösung insoweit vertretbar und erforderlich, als viele Mieter keinen Einfluß auf die Kostenbelastung haben, da sie vielfach keine Regulierungsmöglichkeit haben.
Inhaltlich gibt es über die Detailregelungen dieses Gesetzentwurfs kaum einen Dissens. Es war daher richtig, die wohngeldrechtlichen Änderungen aus dem Haushaltsbegleitgesetz auszuklammern, um ein eventuelles Vermittlungsverfahren zu vermeiden. Allein die Geltungsdauer und diverse Fristen nimmt die Opposition zum Anlaß, den Gesetzentwurf zu kritisieren. Die Öffentlichkeit aber sollte wissen, daß die Sozialdemokraten den Mietern auch die Umlage der Instandsetzungekosten aufbürden und sie damit noch stärker belasten wollten. Die Koalition hingegen hat sich an ihr Versprechen aus den Koalitionsverhandlungen gehalten, den Anteil der Wohnkosten am Einkommen einkommensschwächerer Familien im ersten Jahr durchschnittlich nicht über 10 % steigen zu lassen.
Mit diesem Gesetzentwurf halten wir unser Versprechen ein. Wir erbitten daher Ihre Zustimmung.
Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin dafür, das Kind
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1713
Dr. Ilja Seifertbeim Namen zu nennen. Ich glaube, nach der Steuerlüge kommt jetzt die Mietlüge. Mit dem sogenannten Einigungsvertrag ist die Bundesregierung ermächtigt — ermächtigt! — , durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates den höchstzulässigen Mietzins, wohlgemerkt unter Berücksichtigung der Einkommensentwicklung, schrittweise mit dem Ziel zu erhöhen, die im Gesetz zur Regelung der Miethöhe bezeichnete Miete zuzulassen.Von dieser Ermächtigung hat die Bundesregierung trotz des Verlangens der SPD — welchem auch von der PDS/Linke Liste nachdrücklich zugestimmt wurde — diese Frage im Parlament zu behandeln, inzwischen Gebrauch gemacht. Eindeutig ist festzustellen, daß die Belastung der Bürgerinnen und Bürger in den sechs neuen Bundesländern aus Miete und Mietnebenkosten, zu denen natürlich auch erhöhte Brennstoffkosten zu zählen sind, für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung den Einkommenszuwachs bei weitem übersteigt.Angesichts von rund 4 Millionen Arbeitslosen, Kurzarbeitern, sogenannten „Vorruheständlern" und in Warteschleifen Verbannten sind Hinweise auf höhere Abschlüsse schlicht und einfach eine Irreführung der Öffentlichkeit.Die Höhe der Mietsteigerungen wird von Frau Adam-Schwaetzer bewußt verniedlicht. In ihrer Begründung zum Wohngeldsondergesetz im Bundesrat ging sie von Erhöhungsbeiträgen von 2,60 DM im Altbau und 3,60 DM pro Quadratmeter im Neubau aus.Die tatsächlichen Mieterhöhungen einschließlich gestiegener Preise für Energie und Heizung dürften dagegen bei mindestens 4 bis 5 DM liegen. Dabei ist die 11 %ige Umlage von Modernisierungskosten noch nicht berücksichtigt, die vielfach eine ungeahnte Höhe erreichen kann!Nach den Beteuerungen der Bundesregierung soll die Mieterhöhung — deren Notwendigkeit für die Wohnungswirtschaft wir bis zu einem gewissen Grade im Grunde nicht bestreiten — durch die Gewährung von Wohngeld sozial abgefedert werden. Aber wieso kann praktisch ohne jedwede Gegenleistung — die Wohnqualität — der Preis einer Ware — es ist schon schlimm genug, daß Wohnungen Waren sind — einfach angehoben werden?
Frau Adam-Schwaetzer behauptet in diesem Zusammenhang — Herr Hitschler stimmte dem eben zu —, daß die durchschnittliche Belastung der Bürger im Beitrittsgebiet hieraus 10 % des Familieneinkommens nicht überschreiten werde. Frau Minister, halten Sie die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern für unfähig, Prozentrechnungen durchzuführen? Nach dem vorliegenden Gesetz kommen jedenfalls schon bei einem Monatseinkommen von 1 000 DM 16 % und bei einem Monatseinkommen eines Alleinstehenden von 1 500 DM sogar 32 % heraus. Spezielle Bedürfnisse — z. B. von Menschen mit Behinderung, die eben sehr konkrete Anforderungen an ihre Wohnung stellen müssen — werden überhaupt nicht ernsthaft einbezogen.An dieser Stelle möchte ich mich vom Deutschen Bundestag aus an die Bürgerinnen und Bürger in den sechs neuen Bundesländern wenden: Ihnen, Ihren massiven Protesten in vielfältiger Form, dem Engagement von Mieterverbänden und -initiativen ist es zu verdanken, daß sich die Bundesregierung genötigt sah, ihre in der Koalitionsvereinbarung festgeschriebenen Vorhaben zur Mietentwicklung zu überdenken und von ganz besonders schlimmen Absichten — ich erinnere nur an die ungeheuerliche Idee, Instandhaltungskosten auf die Mieter umzulegen — Abstand zu nehmen.
Herr Kollege Seifert, kommen Sie bitte zum Ende. Sie sehen wahrscheinlich das Licht nicht, Sie haben schon um eine Minute überzogen.
Ich bitte um Entschuldigung. Ich komme zum Schluß: Unsere Möglichkeiten als parlamentarische Opposition allein reichen nicht aus. Ich danke für die Unterstützung durch die Bevölkerung.
Die PDS/Linke Liste kann dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen. Wir verlangen, daß sich die Bundesregierung zumindest ihrer Wahlversprechen erinnert. Noch besser wäre es, sie nähme sich die realen Interessen der Bürgerinnen und Bürger zum Maßstab für ihre Politik, nicht hingegen die Interessen des Finanzministers.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Ministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Frau Dr. Adam-Schwaetzer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem zeitlich befristeten Wohngeldsondergesetz für die fünf neuen Bundesländer und der Neunten Wohngeldnovelle, in der die notwendigen Folgeänderungen aufgenommen sind, wird ein ganz wichtiges Stück sozialer Sicherheit für die Menschen in den fünf neuen Bundesländern auf ihrem in der Tat sehr schwierigen Weg in die Soziale Marktwirtschaft geschaffen.Ich möchte an dieser Stelle noch einmal unterstreichen, wie ich das schon vielfach getan habe: Wohngeld ist kein Almosen, sondern ein Rechtsanspruch, mit dem ein Sozialstaat notwendigerweise sicherstellen muß, daß jede Familie angemessenen Wohnraum bezahlen kann. Ich kann die Sorgen vieler Menschen in den fünf neuen Bundesländern verstehen, die sich jetzt fragen, wie hoch denn ihre Mieten sein werden, wenn diese zum 1. Oktober angehoben werden dürfen. Sie können nach den Mietenverordnungen, die Ende April im Bundesrat beschlossen worden sind, dies für ihre eigene Wohnung selbst berechnen. Sie werden nach dem Wohngeldsondergesetz, das wir heute beschließen, ebenfalls an Hand von Tabellen, von denen ich hoffe, daß sie in allen Tageszeitungen der fünf neuen Bundesländer abgedruckt werden, selber ausrechnen können wie hoch das Wohngeld ist,
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1714 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Bundesministerin Dr. Irmgard Adam-Schwaetzerauf das sie Anspruch haben; daraus können sie ihre verbleibende Mietbelastung berechnen.Deswegen, Herr Seifert, bin ich ganz sicher, daß sich die Menschen in den fünf neuen Bundesländern von Ihrer Propaganda nicht mehr werden beeindrukken lassen.
Mieten und Wohngeld gehören zusammen. Darauf haben wir von Anfang an Wert gelegt. Aber, Herr Scheffler, ich bin ein wenig erstaunt. Wenn ich mich auch freue, daß die Sozialdemokraten wenigstens der Wohngeldnovelle, so wie sie jetzt von der Bundesregierung vorgelegt worden ist, zustimmen werden, so mußte die Bundesregierung doch nicht über den eigenen Schatten springen. Die soziale Verpflichtung unseres Staates ist uns, wenn man sich die Entwicklung des Wohngeldes einmal vor Augen hält, immer eine wichtige Verpflichtung gewesen. Daran haben wir nie einen Zweifel gelassen.Im übrigen möchte ich doch noch einmal darauf hinweisen, daß in dieser Wohngeldnovelle genau das verwirklicht ist, was zum einen in den Koalitionsvereinbarungen niedergelegt worden ist, was zum anderen von uns, d. h. dem Bundesbauministerium, als Beitrag zum Haushaltsbegleitgesetz von vornherein vorgeschlagen war, nämlich die Einbeziehung der Kosten für Heizung und Warmwasser in das Wohngeld — das ist eine Regelung, die es in den westlichen Bundesländern nicht gibt — und ein besonderer Freibetrag für Familien, gestaffelt nach der Familiengröße. Über diesen Freibetrag wird sichergestellt, meine Damen und Herren, daß die Belastung aus Kaltmiete im Schnitt den Betrag von 10 % des verfügbaren Familieneinkommens nicht überschreitet. Wenn wir sagen „im Schnitt", dann bedeutet das natürlich, daß ebenfalls berücksichtigt werden muß, daß die eine Familie eine größere, die andere Familie eine kleinere Wohnung hat. Dies spielt in der Tat bei der Mietenberechnung eine Rolle; das muß es ja wohl auch.Der vorgelegte Gesetzentwurf legt großen Wert auch darauf, daß ein vereinfachtes, pauschaliertes Wohngeldverfahren zur Anwendung kommt. Dies ist — dafür danke ich dem Bundesrat und natürlich auch den Ausschüssen des Deutschen Bundestages ausdrücklich — in zum Teil sehr detaillierten Verhandlungen zwischen Bundesregierung, Bundesrat und Bundestagsausschüssen ausformuliert worden. Wir haben mit dieser Regelung ein absolutes Neuland betreten, aber ich denke, die Mühe hat sich wirklich gelohnt; denn jetzt, meine Damen und Herren, ist sichergestellt, daß jeder seinen eigenen Anspruch berechnen kann.Wir sind zu diesem vereinfachten, pauschalierten Verfahren gekommen, indem wir die Einkommensarten auf die fünf wichtigsten reduziert haben, indem wir Mieten und Heizkostenpauschalen getrennt aufgeführt haben, so daß jeder auf Grund des Mieterhöhungsbescheids in den Tabellen seinen eigenen Anspruch ablesen kann.Ich möchte mich hier bei dem Ausschuß des Deutschen Bundestages sehr herzlich bedanken, der in einer Sondersitzung ermöglicht hat, daß wir dieses Gesetz bereits heute, nach einer so kurzen Beratungszeit, verabschieden können. Ich denke, es ist wichtig, daß wir die Verabschiedung heute vornehmen können; denn wir haben in den vergangenen Monaten festgestellt, daß die Vorbereitung der Auszahlung des Wohngeldes für die Länder doch offensichtlich sehr viel komplizierter ist und von den Gemeinden sehr viel mehr Aufwand erfordert, als es im Anfang von uns angenommen worden war.Ich bitte die Gemeinden in den fünf neuen Bundesländern nachdrücklich, sofort mit der Einstellung einer ausreichenden Anzahl von Mitarbeitern in den Wohngeldstellen zu beginnen.
Die Schulung für diese Mitarbeiter könnte dann sofort in Angriff genommen werden. Wichtig ist, meine Damen und Herren: Wir können keine Mitarbeiter in Wohngeldstellen schulen, die nicht eingestellt sind. Jetzt sind die Gemeinden und natürlich auch die Länder am Zuge, die Verwaltung endlich auf die Beine zu stellen, damit die Bürger am 1. Oktober nicht umsonst auf ihr Wohngeld warten.Die Opposition hat in einem Antrag gefordert, daß die Auszahlung dieses pauschalierten Wohngeldes bis Ende 1994 ausgedehnt werden soll. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, diesem Antrag nicht zuzustimmen; denn ich bin davon überzeugt, daß die Verwaltungen in den fünf neuen Bundesländern bis zum Jahre 1993 in der Lage sein werden, das dann normale Wohngeld im Einzelfall, individuell zu berechnen und auszuzahlen. Deswegen, denke ich, ist der Termin, so wie er jetzt von der Bundesregierung vorgesehen ist, der richtige. Ich bitte Sie deshalb, dem Entwurf, so wie er im Ausschuß verabschiedet worden ist, zuzustimmen.Ein letztes: Worauf es jetzt ankommt, ist, daß die Information über das Wohngeldgesetz, insbesondere über die Sonderbedingungen des Wohngeldgesetzes in den fünf neuen Bundesländern, intensiviert wird. Ich wünsche mir, daß in diesen Fragen alle zusammenarbeiten. Information ist wirklich das beste Mittel gegen Verunsicherung. Wir, die Bundesregierung, werden deshalb sicherstellen, daß die Wohngeldtabellen für das Wohngeld in den fünf neuen Bundesländern jeden Haushalt erreichen, sei es über Veröffentlichungen in den Zeitungen oder auch durch Flugblätter, denn eines möchten wir wirklich sicherstellen, meine Damen und Herren: Wir wollen, daß jeder sofort ganz konkret weiß, was auf ihn zukommt. Wissen ist immer besser als Angstmacherei. Wir wollen mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz dazu beitragen, daß frühzeitig vor einer Mieterhöhung Kenntnis über das Wohngeld besteht und von jedem erworben werden kann. Wir werden unseren Beitrag dazu leisten.Ich bitte Sie, dem vorgelegten Gesetzentwurf zuzustimmen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1715
Vizepräsidentin Renate SchmidtWir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung wohngeldrechtlicher Vorschriften in der Ausschußfassung auf Drucksache 12/495.Ich rufe Art. 1 auf. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/572 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.Wer stimmt für Art. 1 in der Ausschußfassung? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist Art. 1 in der Ausschußfassung gegen die Stimmen des Bündnisses 90/GRÜNE und der PDS/Linke Liste angenommen.Ich rufe die Art. 2 bis 6, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind einstimmig angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit mit breiter Mehrheit angenommen.Mir liegt eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung der Kollegen Michael Wonneberger, Dr.-Ing. Paul Krüger, Rolf Rau, Udo Haschke , Reiner Krziskewitz und anderen vor. Diese Erklärung wird zu Protokoll genommen.* )Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau empfiehlt unter Nr. 2 weiterhin, die Bundesregierung aufzufordern, über die Auswirkungen des Wohngeldsondergesetzes bis zum 31. Dezember 1992 zu berichten. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist damit einstimmig angenommen.Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ich möchte Sie darauf hinweisen: Der Ältestenrat hat sich in seiner heutigen Sitzung darauf verständigt, daß in der Sitzungswoche vom 3. Juni, in der die Haushaltsberatungen erfolgen, keine Fragestunden, keine Aktuellen Stunden und keine Befragungen der Bundesregierung stattfinden sollen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung von Anträgen der SPD, CDU/CSU und FDP und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNENzur Einsetzung eines Verfassungsausschusses• ) Wird in einem Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll veröffentlicht.a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDWeiterentwicklung des Grundgesetzes zur Verfassung für das geeinte Deutschland— Einsetzung eines Verfassungsrates —— Drucksache 12/415 —Überweisungsvorschlag: Ältestenratb) Beratung des Antrags der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNENVom Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung— Einrichtung und Aufgaben eines Verfassungsrates —— Drucksache 12/563 —Überweisungsvorschlag: Ältestenratc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl H. Fell, Dirk Fischer , Siegfried Hornung, weiterer Abgeordneter und der Fraktionen der CDU/CSU und der FDPEinsetzung eines Gemeinsamen Verfassungsausschusses— Drucksache 12/567 —Überweisungsvorschlag: ÄltestenratNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Herta Däubler-Gmelin.
Meine Damen und Herren! Wir reden heute im Deutschen Bundestag zum erstenmal über die Verfassung für das geeinte Deutschland. Diese Diskussion ist keine Routineangelegenheit. Wir greifen damit weit über unsere parlamentarischen Alltagsaufgaben hinaus. Ich hoffe, wir eröffnen mit dieser ersten Diskussion heute eine ebenso ernsthafte öffentliche wie breit angelegte Auseinandersetzung, an deren Abschluß die Verfassung für das geeinte Deutschland, also unsere gesamtdeutsche Verfassung steht, die im Bundestag und im Bundesrat zuvor mit qualifizierter Mehrheit beschlossen, dann in einer Volksabstimmung durch alle Bürgerinnen und Bürger des geeinten Deutschlands bekräftigt wird.Heute stehen im Mittelpunkt unserer Diskussion sicherlich zunächst einmal Verfahrensfragen. Wenn wir die unterschiedlichen Anträge, die heute vorgelegt wurden, betrachten, dann zeigt sich sehr deutlich, daß es schon hier erhebliche Unterschiede gibt.Wir schlagen vor, das Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung weiterzuentwickeln und damit einen Verfassungsrat zu beauftragen, der neben Abgeordneten aus Bund und Ländern auch engagierte Persönlichkeiten aus allen Teilen unseres Landes zu vollberechtigten, also auch als abstimmungsberechtigten Mitgliedern haben soll. Ich denke hier — aus den östlichen Bundesländern — an Persönlichkeiten wie Kurt
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1716 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Dr. Herta Däubler-GmelinMasur, Bärbel Bohley, aber auch an Richard Schröder oder an Christa Wolf. Ich bin sicher, daß sie eine Menge zu sagen haben, wenn es um unsere künftige deutsche Verfassung geht. Mir fallen auch geeignete Persönlichkeiten aus den westlichen Ländern ein. Nehmen Sie Walter Jens, Helmut Simon oder Franz Steinkühler. Sie alle wären Bereicherungen des Verfassungsrates; sie alle gehören da hinein, meine Damen und Herren.
Die Regierungskoalition setzt sich für einen MiniVerfassungsausschuß ein. Nur 16 Mitgliedern des Deutschen Bundestages wollen Sie den Zugang zu der Erarbeitung einer gesamtdeutschen Verfassung erlauben. Wir machen das nicht mit, übrigens schon wegen der Zahl nicht. Nochmals: Wir machen das nicht mit, nicht nur wegen der Begrenzung auf Abgeordnete — das sollten wir auch nicht tun — , sondern auch wegen der geringen Zahl der Mitglieder. Ich weiß nicht, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP und der Union, ob Sie sich überlegt haben, was Sie damit tun. Damit erklären Sie Kollegen wie Herrn Ullmann oder Herrn Weiß, daß sie nicht berechtigt sein sollen, aus eigenem Recht Mitglieder dieses Ausschusses zu werden. Wollen Sie das wirklich? Sind Sie wirklich der Auffassung, wir könnten über eine gesamtdeutsche Verfassung für das geeinte Deutschland auch nur reden, wenn wir diesen Kollegen bescheinigen, sie hätten in einer solchen Kommission, in einem solchen Ausschuß nichts zu suchen? Ich denke, das darf nicht wahr sein, und erkläre Ihnen hier nochmals deutlich: Wir machen das nicht mit.
Ich will eine zweite Verfahrensfrage ansprechen. Wir schlagen vor, die gesamtdeutsche Verfassung — nach Abstimmung, wie gesagt, im Bundestag und Bundesrat mit qualifizierter Mehrheit — in einer Volksabstimmung allen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes zur Entscheidung zu unterbreiten. Sie haben Skepsis auch gegenüber diesem Vorschlag geäußert. Ich hoffe, wir können Sie davon überzeugen, daß wir auch in diesem Punkt recht haben. Gerade der Weg, daß sich Bürgerinnen und Bürger aus ganz Deutschland an der Abstimmung über ihre eigene Verfassung beteiligen können, interessiert die Bürger. Sie wollen abstimmen. Diese Frage interessiert sie ebenso wie die vielen inhaltlichen Fragen, um die es in der Diskussion gehen wird: beispielsweise ob es ein Recht auf Arbeit durch Konkretisierung des Sozialstaatsgebots geben soll, wie wir es vorschlagen; ob wir — gemeinsam, denn Verfassungsfragen sind in der Abstimmung letztlich Konsensfragen — mehr Bürgerbeteiligung auch auf Bundesebene einführen können; wie es mit dem kommunalen Wahlrecht für Ausländer steht, die mit ihren Familien schon lange in der Bundesrepublik wohnen; oder wie wir es mit dem Staatsziel Umweltschutz halten, mit der Bekräftigung des Grundsatzes der Friedensfähigkeit und der Friedensbereitschaft im geeinten Deutschland durch Verzicht etwa auf die Herstellung und auf die Lagerung atomarer, biologischer und chemischer Massenvernichtungsmittel.Wie ist es mit der Verankerung des Willens, daß wir Deutschen in dem neuen Nationalstaat gleichberechtigter Partner in einem europäischen Bundesstaat sein wollen?Alle diese Fragen interessieren die Bürger. Die bringen wir in die Diskussion um die neue gesamtdeutsche Verfassung. Ich betone das noch einmal ausdrücklich, weil ich weiß: Schon in der Benutzung dieses Begriffs gibt es Unterschiede zwischen Ihnen und uns, über die wir uns verständigen müssen.Zur gesamtdeutschen Verfassung sagen Sie: Wir haben schon eine gesamtdeutsche Verfassung, nämlich das Grundgesetz; das Grundgesetz ist diese gesamtdeutsche Verfassung; wir wollen höchstens hie und da eine kleine Änderung haben; darüber lassen wir mit uns reden, und dann hat es sich.Ich sage Ihnen: Das reicht uns nicht; denn das Grundgesetz — das ist völlig richtig; das sage ich heute nicht zum erstenmal — hat sich als Verfassung für die alte Bundesrepublik bewährt. Es ist eine Verfassung, mit der wir in der Alt-Bundesrepublik gut gefahren sind. Nur nebenbei: Es war nie sakrosankt; es war auch offen für Änderungen. Das zeigen schon die 36 Änderungen der vergangenen 41 Jahre. Es war übrigens auch offen für die Präzisierung und für die Weiterentwicklung der in ihm angelegten Staatsziele und auch Bürgerrechte in einer Welt, die sich ständig wandelt. Hier hat sich das Bundesverfassungsgericht mit seiner Rechtsprechung bleibende Verdienste erworben.Wir sagen: Das Grundgesetz war als Verfassung des Provisoriums Bundesrepublik gedacht, also des westlichen Teils unseres Landes. Es war gedacht, bis zur Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands zu gelten. Dann — so hat es übrigens auch das Grundgesetz selber angelegt — sollte das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine eigene neue Verfassung beschließen.Diese staatliche Einheit ist nun vollzogen. Viele von Ihnen meinen nun, die freie Selbstbestimmung des Volkes bei der Schaffung einer neuen Verfassung sei schon erfüllt; sie sei erfüllt, weil die staatliche Einheit auf dem Weg des Art. 23 vollzogen worden sei, schließlich habe die DDR den Beitritt zur Bundesrepublik erklärt, und schließlich gelte das Grundgesetz jetzt auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.Wir sagen: Das ist teilweise richtig. Das Grundgesetz gilt auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in der Modifikation, die wir mit dem Einigungsvertrag beschlossen haben. Dennoch — das ist, glaube ich, außerordentlich wichtig — ist es nicht die gesamtdeutsche Verfassung, von der das Grundgesetz ausgegangen ist.
Wir sagen: In diese gesamtdeutsche Verfassung gehört mehr: eben eine breite und öffentliche Diskussion, die vor allen Dingen den Menschen in den neuen Ländern die Chance gibt, eigene Erfahrungen zu artikulieren, ihre Erfahrungen der vergangenen Jahr-
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Dr. Herta Däubler-Gmelinzehnte in die Diskussion einzubringen und vor allem auch zu sagen, wie denn nach ihren Vorstellungen der Staat beschaffen, wie er verfaßt sein soll, in dem sie jetzt leben und in dem sie künftig leben wollen.Diese Tatsache ist an sich eine Selbstverständlichkeit. Wir wissen jedoch, daß im letzten Jahr vor der staatlichen Einigung auf Grund der sich überschlagenden Ereignisse dazu gar keine Zeit war.Übrigens hat diese Zeit auch für die Menschen, die in den westlichen Bundesländern leben, gefehlt. Sie wurden von den Ereignissen zeitlich ebenso überrollt. Viele fangen jetzt erst an, richtig darüber nachzudenken, was sich mit der staatlichen Einheit in unserem Land alles verändert hat, und auch darüber, was an der Verfassung des geeinten Deutschland verändert oder ergänzt werden sollte.Wir sagen deshalb: Der vollzogenen staatlichen Einheit muß eine Phase der inneren Einigung, des Zusammenwachsens in Deutschland, folgen. Die Diskussion über unsere zukünftige Verfassung kann dazu beitragen, das Zusammenwachsen aller Deutschen zu fördern, kann Verständigung und auch das Zusammengehörigkeitsgefühl verstärken. Das gilt allerdings nur dann — hier werden die Verfahrensfragen wieder außerordentlich wichtig — , wenn sich auch der Bundestag bereit erklärt, die Diskussionen über die gesamtdeutsche Verfassung so breit und offen anzulegen, wie sie das verdient, und sie nicht zu technisch und zu verengt zu führen.
Deshalb haben wir den Verfassungsrat vorgeschlagen, der Abgeordnete der Länder und engagierte Persönlichkeiten aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens einbezieht. Daher halten wir Ihren Vorschlag einer miniparlamentarischen 16er-Kommission für falsch.Lassen Sie mich zu dem zweiten Punkt kommen, zu der gesamtdeutschen Abstimmung über die Verfassung für das geeinte Deutschland. Wir wollen sie. Für uns ist auch das ein wichtiger Punkt.Nun wenden viele von Ihnen ein, auch über das Grundgesetz sei nie abgestimmt worden — das ist richtig — , und trotzdem sei es eine gute Verfassung geworden und habe auch gegolten. Auch das ist richtig. Aber richtig ist auch, daß sich gerade im Abweichen von der doch für Verfassungen normalen Prozedur einer Abstimmung durch die Bürgerinnen und Bürger eines Landes die Besonderheit der Umstände und auch die Besonderheit der Zeit zeigt, in der das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland als Provisorium geschaffen wurde.Deutschland hatte damals seine vollen Rechte eben noch nicht wieder. Nach dem Text des Grundgesetzes sollte der Souverän des Staates die Bevölkerung sein; in Wirklichkeit waren es in jener Zeit die Besatzungsmächte. Das war verständlich, vier Jahre nach dem Ende der Nazizeit mit ihren Schrecken und nach dem Ende des furchtbaren Zweiten Weltkrieges, der ja von Deutschland ausgegangen war. Die Besatzungsmächte als wirkliche Souveräne damals haben das Grundgesetz genehmigt, sie haben ihm damit auch Rechtswirksamkeit verliehen.Klar ist, daß heute diese Zeit vorbei ist, spätestens mit der staatlichen Einigung Deutschlands. Besatzungsrechtliche Bindungen bestehen nicht mehr. Also frage ich, meine Damen und Herren: Was liegt näher, als den Souverän des Staates, die Bevölkerung des geeinten Deutschland, auch bei der Schaffung der Verfassung und bei der Abstimmung über die Verfassung in seine vollen Rechte einzusetzen? Wir wollen das. Auch deswegen bestehen wir auf unserem Vorschlag einer Volksabstimmung.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch hinzufügen: Jeder, der die Auffassung vertritt, das Grundgesetz sei quasi automatisch schon die gesamtdeutsche Verfassung, setzt sich einem Verdacht aus, dem wir hier im Bundestag widersprechen sollten, nämlich dem Verdacht, daß auch auf dem Gebiet der Verfassung eine Haltung fortgeführt werden soll, die vielen Bürgerinnen und Bürgern der neuen Länder jetzt schon gegen den Strich geht. Die rügen und beklagen jetzt schon die, wie sie meinen, typische, Anmaßung vieler Wessis, die auch in Zukunft alles so weitermachen wollen, wie es bei ihnen in der alten Bundesrepublik schon immer war. Jetzt — so klagen sie — eben in ganz Deutschland, ohne danach zu fragen, was eigentlich die Bürgerinnen und Bürger der neuen Länder wollen. Wir sollten uns dieser Haltung nicht anschließen.
Wer argumentierte, das Grundgesetz sei automatisch die neue gesamtdeutsche Verfassung, der setzt sich zudem dem Verdacht aus, den ich ebenfalls nicht gut finde, daß der immer noch nicht begriffen hat, daß mit der staatlichen Einheit etwas Neues entstanden ist, daß das geeinte Deutschland eben nicht die ungebrochene Fortsetzung der alten Bundesrepublik ist, nur um etwas Gebiet vergrößert und mit etwas mehr Bewohnern. Er setzt sich zudem dem Verdacht aus, nicht verstanden zu haben, daß aus zwei deutschen Staaten jetzt ein Staat, ein Nationalstaat, wurde, dessen Konturen und dessen Selbstverständnis durch seine Bürgerinnen und Bürger überdacht und, wo es erforderlich ist, auch neu bestimmt und neu in der Verfassung festgelegt werden müssen.Meine Damen und Herren, auch der Einigungsvertrag geht von diesem Vorverständnis aus. Deshalb hat er uns den Auftrag erteilt. Ohne ihn hätte Art. 5 kaum eine Bedeutung, wäre kaum erwähnenswert. Auch der unterschiedliche Sprachgebrauch des Einigungsvertrages, der ja sehr sorgfältig zwischen fortdauerndem Grundgesetz und gesamtdeutscher Verfassung unterscheidet und den Weg des Art. 146 ausdrücklich betont, wäre sonst nicht verständlich. Deshalb sagen wir: Richten wir uns danach!Meine Damen und Herren, wir werden in diesen Auseinandersetzungen auch hier im Bundestag noch viel über Inhalte reden müssen und sicherlich auch streiten. Ich habe schon erwähnt, daß wir vorschlagen, das Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung weiterzuentwickeln. Wir wollen — das bedeutet dies zunächst — seine tragenden Elemente übernehmen. Wir wollen sie aber auch anreichern, und wir wollen sie ergänzen. Wir möchten, daß die Bundesrepublik Deutschland — ich persönlich glaube, wir sollten auch
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Dr. Herta Däubler-Gmelinbei diesem Namen bleiben — auch in Zukunft ein demokratischer und sozialer Rechts- und Bundesstaat ist. Allerdings wollen wir in der Verfassung zusätzlich die Verpflichtung zum Umweltschutz, und zwar ohne Einschränkung, und die Verpflichtung zum Frieden niedergelegt wissen.
Der Föderalismus muß — das ist der zweite unserer Vorschläge — ausgebaut werden, weil die Dezentralisierung der staatlichen Macht bürgerfreundlich ist, weil Föderalismus kulturelle und regionale Vielfalt ermöglicht und weil Entscheidungen auf der unteren Ebene, wie wir wissen, oftmals schneller und sachgerechter getroffen werden können als zentral am grünen Tisch.Wir wollen — das ist unser dritter Punkt, den ich heute anführen will — die Sozialstaatlichkeit unseres Gemeinwesens erheblich verstärken. Wir glauben, daß wir das tun sollten, weil wir damit Erwartungen vieler Menschen in den neuen Ländern berücksichtigen, die gerade in dieser Zeit mit dem Verlust ihrer gewohnten sozialen Sicherheit schreckliche Erfahrungen machen. Aber wir greifen damit auch Erwartungen vieler Menschen in den westlichen Bundesländern auf, die in den letzten 40 Jahren immer wieder erlebt haben, daß es — trotz des Sozialstaatsgebots im Grundgesetz — für die Politik häufig wichtiger war, etwas für den Schutz des Eigentums, oder Eigentumsrechte zu tun, als beispielsweise Massenarbeitslosigkeit zu verhindern oder wirksame Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit zu treffen.Viertens regen wir an, durch die Einfügung eines Staatsziels Umweltschutz — wie gesagt, ohne einschränkende Begrenzungen — in der Verfassung die Verpflichtung festzuschreiben, unser Gemeinwesen ökologisch umzubauen.Wir wollen — fünftens — das Demokratiegebot verstärken, durch mehr Bürgerbeteiligung, also durch Volksinitiativrecht, Volksbegehren und Volksentscheid auch auf Bundesebene.Lassen Sie mich drei weitere Punkte hinzufügen:Wir wollen — sechstens — , daß aus dem geeinten Deutschland kein Nationalstaat im alten — und ich füge hinzu: im schlechten — Sinne wird, wie manche bei uns oder auch manche in den Nachbarländern das befürchtet haben, aller Freude und allen Glückwünschen zur staatlichen Vereinigung zum Trotz. Wir sehen heute auch die Grenzen der Möglichkeiten von Nationalstaaten schärfer als früher; deshalb betonen wir, daß wir gleichberechtigte Partner in den Vereinigten Staaten von Europa sein wollen.Wir wollen — siebtens — die Friedensbereitschaft und Friedensfähigkeit durch einen Verzicht auf ABC-Waffen und — das möchte ich hier betonen — durch einen Verzicht auf Rüstungsexporte in der Verfassung festschreiben.Im übrigen werden wir — achtens — unsere größere Verantwortung bei der Sicherung des Friedens neu durchdenken und, so füge ich hinzu, durch eine Veränderung und Ergänzung unserer Verfassung klarstellen müssen. Besonders muß klargestellt werden,daß weiterhin der militärische Einsatz deutscher Soldaten außerhalb des Bündnisgebietes nicht zulässig ist, die Unterstützung der Vereinten Nationen durch Blauhelme ausgenommen. Die Auseinandersetzung während des Golfkriegs hat uns auch gelehrt, daß klargestellt werden muß, daß der militärische Einsatz deutscher Soldaten ohne Zustimmung des Bundestages mit qualifizierter Mehrheit nicht zulässig ist.Alles das sind Vorschläge, alles das sind wichtige Fragen, die wir gemeinsam erörtern müssen. Aber, meine Damen und Herren, wir sollten auch offenbleiben für weitere Überlegungen von anderen. Wir sollten in der ersten Phase die breite und öffentliche Diskussion regelrecht ermutigen und zuhören, was engagierte Bürgerinnen und Bürger sagen, welche Vorschläge sie machen und welche Anregungen sie unterbreiten.Ich bin dafür — um das ganz klar zu sagen —, auch Verfassungsentwürfe zu beraten, die uns beispielsweise durch engagierte Verfassungsinititativen erarbeitet werden, sei das nun der Entwurf eines Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder, der in den nächsten Tagen vorgestellt werden soll, seien es andere Entwürfe. Ich bin auch dafür, Anregungen aus dem Entwurf des Runden Tisches für die DDR nach der demokratischen Wende aufmerksam zu prüfen. Ich hoffe, wir können uns darauf verständigen.Lassen Sie mich noch ein Wort zu Ihrem Antrag sagen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen: Wir lehnen die miniparlamentarische Kommission ab, die Sie vorschlagen, und haben gegen weiteres erhebliche Bedenken: Wir halten es insbesondere nicht für klug, dem Bundesrat vorzuschreiben, wie er seine Beteiligung an einer gemeinsamen Verfassungsdiskussion organisieren soll. Erstens hat er sich schon festgelegt, und zweitens könnte ich mir vorstellen, daß man solche Vorschläge dort als unfreundlichen Akt der Bevormundung auslegen könnte, der Gespräche und auch notwendige Verständigungen belasten könnte.Meine Damen und Herren, ich denke, wir sollten die heutige Diskussion, aber auch die kommenden Wochen dazu nutzen, sicherzustellen, daß wir den Auftrag des Einigungsvertrages erfüllen können, möglichst auch in der Zeit, die uns dafür gegeben ist. Wir sollten die kommenden Wochen auch dazu nutzen, uns möglichst auf ein Verfahren zu einigen, das das alles ermöglicht.Herzlichen Dank.
Das Wort hat Herr Kollege Abgeordneter Professor Dr. Rupert Scholz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gilt, den Auftrag des Einigungsvertrages einzulösen, ein Gremium einzusetzen — nach Auffassung der CDU/CSU einen gemeinsamen Verfassungsausschuß, paritätisch aus Bundestag und Bundesrat besetzt — zur Erarbeitung der Vorschläge, die zur Modernisierung — und ich sage sehr bewußt: zur Modernisierung —
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Dr. Rupert Scholzdes Grundgesetzes geboten sind. Dies ist das richtige, das angemessene Verfahren, da es — auch das möchte ich deutlich sagen — auschließlich um bestimmte Verfassungsänderungen, -anpassungen, -modernisierungen geht, nicht aber um den Erlaß einer neuen Verfassung, nicht um einen Gesamtumbau unserer gegebenen Verfassung und nicht um eine Totalrevision.
Unser Grundgesetz gehört zu den wahrhaft historischen Glücksfällen der deutschen Geschichte. Noch nie gab es eine derart freiheitliche, eine demokratisch so stabile und auch sozial so gerechte Verfassungsordnung in unserer Geschichte. Es ist kein Zufall, daß wir um diese Verfassung heute selbst in traditionellen Demokratien, viel älteren Demokratien, als wir selbst sind, beneidet werden.Richtig ist, daß das Grundgesetz ursprünglich, im Zeitpunkt seines Erlasses 1949, zunächst als Übergangsordnung bis zur deutschen Wiedervereinigung gedacht war. Andererseits ist es aber schon historisch falsch, wenn heute teilweise — sehr plötzlich im übrigen — wieder auf diesen Übergangscharakter dominant abgestellt und behauptet wird, daß es nach unserer Einheit jetzt um die Erarbeitung oder Legitimierung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung gehen müsse.Das Grundgesetz und seine Väter und Mütter waren sehr viel klüger. Sie haben für die deutsche Einheit bekanntlich zwei Wege alternativ bereitgestellt: Das eine ist der Weg des Art. 23, und das andere ist, wie Sie alle wissen, der Weg des Art. 146. Der Weg über Art. 23 wurde gegangen. Der Weg über Art. 23 heißt nicht nur Beitritt der früheren DDR zur Bundesrepublik Deutschland, sondern er heißt auch Beitritt zum Grundgesetz.
Er heißt darüber hinaus, daß das Grundgesetz damit die eigenen Beschränkungen, das eigene Übergangsverständnis aufgibt, daß es damit endgültige, legitime deutsche Verfassung geworden ist.
Ich weiß, daß dies manchem nicht gefallen hat, daß mancher die Gelegenheit der deutschen Einheit auch gern dazu genutzt hätte, eine neue gesamtdeutsche Verfassung zu erarbeiten, eine Verfassung, die sich vom Grundgesetz hier und dort sehr maßgebend abhebt. Aber hierbei sollte auch, und zwar ehrlich, eingeräumt werden, daß das viel zitierte Argument, das wir jetzt hören, daß nämlich in unsere Verfassungsordnung auch jene Erfahrungen eingebracht werden müßten, die die Menschen in der früheren DDR mit ihrer großartigen friedlichen Revolution empfangen haben, machmal auch sehr zweckorientiert eingesetzt wird, um es vorsichtig zu formulieren.Jene große friedliche Revolution in der früheren DDR stand für ebenjene Grundwerte, die auch die zentralen Grundwerte unseres Grundgesetzes sind: Selbstbestimmung, Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Rechts- und Sozialstaatlichkeit. In diesem Sinne hatte die erste frei gewählte Volkskammer der DDR über ihr Verfassungsgrundsätzegesetz genaudiese Grundwerte auch für das Gebiet der damaligen DDR umgesetzt, so wie das Grundgesetz dies über Jahrzehnte für die alte Bundesrepublik getan hat.Man sollte heute also nicht davon sprechen, daß das Grundgesetz etwa einer grundlegenden Revision im Lichte eben jener Erfahrungen der Menschen aus der früheren DDR bedürfe. Diese Erfahrungen sind unbestrittenermaßen sorgfältig zu diskutieren und mit aufzunehmen; denn selbstverständlich müssen sich auch die Menschen in den neuen Bundesländern in unserer gemeinsamen Verfassungsordnung, in unserem Grundgesetz, wiederfinden.Dennoch ist es falsch und ungerecht, wenn manche davon sprechen, daß den Menschen in den neuen Bundesländern mit dem Grundgesetz eine Verfassung übergestülpt würde, die sie gar nicht wollten oder mit der sie sich noch gar nicht hätten befassen können. Wer so argumentiert, verkennt nicht nur die Grundwerte der friedlichen Revolution, sondern der stellt diese gleichsam nachträglich in ihrer grundsätzlich freiheitlichen und revolutionären Legitimation in Frage; denn was ware jene friedliche Revolution ohne das Bekenntnis gerade zur Demokratie, zu Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit? Was wäre sie eigentlich gewesen, wenn man sie inhaltlich von der grundgesetzlichen Verfassungsordnung und den von ihr repräsentierten Verfassungswerten abzusetzen suchte?In Wahrheit ist es doch so, daß die Menschen der früheren DDR mit ihrer friedlichen Revolution gerade für diese Grundwerte gestanden haben und daß sie auch den Menschen in der alten Bundesrepublik mit ihrem ebenso mutigen wie standhaften Eintreten für eben diese Grundwerte im ursprünglichsten Sinne des Wortes demonstriert haben, wie allein richtig und menschengerecht diese Verfassungswerte, die unser Grundgesetz uns seit 40 Jahren beschert hat, sind.Wenn man will, kann man es auch so formulieren: Unser Grundgesetz hat gerade durch diese friedliche Revolution im früher anderen Teil Deutschlands eine weitere innere Bestätigung gefunden.
Die Opposition fordert, wie Frau Däubler-Gmelin eben begründet hat, die Einsetzung eines Verfassungsrates, der von der Bundesversammlung gewählt werden soll und dann über den neuen Art. 146 zur Volksabstimmung führen soll. Die Verfassung für das geeinte Deutschland, sie soll in Wahrheit eine neue Verfassung sein, sie soll im Grunde den Weg des alten Art. 146 über die Hintertür doch noch realisieren. Aber, meine Damen und Herren, ich verweise noch einmal darauf: Mit Zweidrittelmehrheit hat dieses Haus den Weg über Art. 23 gewählt, und genauso hat die Volkskammer, die frei gewählte Volkskammer, entschieden. Das sind verfassungspolitisch relevante Entscheidungen. Diese Entscheidungen gilt es auch zu respektieren.
Deshalb meine ich: Heute ist nicht die Stunde der Begründung eines Gremiums für eine neue Verfassung, sondern allein die Stunde einer gegebenenfalls zu verändernden, einer hier und dort zu modernisie-
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Dr. Rupert Scholzrenden Verfassung, wo dies notwendig ist, nämlich unseres über vier Jahrzehnte bewährten Grundgesetzes.Meine Damen und Herren, Verfassungsrecht ist stets auch Verfassungspolitik. Innerhalb einer funktionierenden Verfassungsordnung muß stets auch Raum sein für verfassungspolitischen Streit. Verfassungspolitischer Streit gehört gleichsam zum unverzichtbaren Lebenselexier auch einer Verfassung selbst. Dennoch geht es bei alledem auch und stets um die Wahrung der Grenzen, um das konsensmäßig gemeinsame Bekenntnis zu den verfassungsrechtlichen Grundwerten und um die Offenheit in der eigenen Argumentation.Deshalb und noch einmal: Seien wir ehrlich, und bekennen wir uns zum Auftrag des Einigungsvertrages in dem Sinne, daß es allein um die Fortschreibung oder Modernisierung bestimmter, teilweise in der Tat regelungsbedürftiger Bereiche innerhalb unseres Grundgesetzes geht, daß es aber nicht um die totale Revision oder um einen Gesamtumbau, also eine verkappte Verfassungsneugebung, geht.In diesem Zusammenhang möchte ich noch ein Argument aufgreifen, das man zunehmend hört, nämlich daß das Grundgesetz eigentlich gar keine legitime deutsche Verfassung sei. Da wird plötzlich hier und dort davon gesprochen, daß das Grundgesetz über keine hinreichende demokratische Legitimation verfüge, weil es nicht im Wege einer Volksabstimmung verabschiedet worden sei. Plötzlich wird erklärt, daß das Grundgesetz nach wie vor deshalb nicht voll als deutsche Verfassung legitimiert sei, weil es noch zu Alliierten-Zeiten erarbeitet worden sei. Ich sage Ihnen dennoch: Dieses Grundgesetz verfügt über die uneingeschränkte und volle demokratische Legitimation. Es ist über vier Jahrzehnte von den Menschen der alten Bundesrepublik voll akzeptiert worden. Es ist zur freiheitlichsten, demokratischsten Ordnung der deutschen Geschichte geworden. Die Menschen in unserem Lande haben das gespürt; sie haben es buchstäblich erlebt. Aus diesem Erleben ist ein ebenso ursprüngliches wie dauerhaftes Bekenntnis zu eben dieser Verfassungsordnung erwachsen. Das sollte man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
Im übrigen ist es falsch, wenn behauptet wird, daß nur eine Volksabstimmung eine Verfassung demokratisch legitimieren kann. Dies ist im internationalen Vergleich falsch, und dies ist historisch falsch. Denken Sie nur an die Weimarer Verfassung! Auch sie wurde nicht etwa durch eine Volksabstimmung verabschiedet. Die Wege, die ein Volkssouverän für eine demokratische Verfassung wählt, liegen ausschließlich beim Volkssouverän selbst. Dies können Wege einer repräsentativen Demokratie sein, dies können genauso Wege wie die des Parlamentarischen Rats sein, und dies können natürlich ebenso die Wege einer Volksabstimmung sein.Aber wer heute davon spricht, daß das Grundgesetz erst durch eine Volksabstimmung demokratisch legitimiert werden müßte, der betreibt das Spiel dernachträglichen Delegitimierung oder Entlegitimierung unserer Verfassung.
Herr Kollege Professor Scholz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hirsch?
Also, einem Anhänger der Volksabstimmung, wie Herr Hirsch es ist, selbstverständlich.
Herr Kollege Professor Scholz, ich wollte Sie nur fragen, ob Sie den Art. 146 des Grundgesetzes für einen Zufall oder für einen Irrtum halten und ob Sie nicht auch der Auffassung sind, daß er nun endlich verwirklicht werden sollte.
Herr Hirsch, der Art. 146 des Grundgesetzes in seiner alten Fassung ist bekanntlich obsolet gewesen und deshalb aufgehoben worden. Der Art. 146 in seiner neuen Fassung ist, wenn Sie so wollen, schlicht deklaratorisch.
— Meine Damen und Herren, Sie müssen zuhören. Dann will ich Ihnen das erläutern.
Wenn ein Verfassungsgeber glaubt, daß er in einer materiellen Verfassungsbestimmung seinen potentiellen Nachfolger, den Verfassungsgeber von morgen, präjudizieren könnte, dann geht er im Selbstverständnis seines Mandats zu weit. Mit anderen Worten: Der Art. 146 neuer Fassung bringt nichts anderes als eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck, nämlich daß der Volkssouverän natürlich jederzeit eine neue Verfassung erarbeiten kann.
Wir stehen hier zu der Position, daß wir keine neue Verfassung wollen, weil wir keine neue Verfassung brauchen.
Deshalb ist der Art. 146 auch in der neuen Form für uns nicht relevant.Herr Hirsch, wir haben die Frage einer Volksabstimmung nach dem Einigungsvertrag zu diskutieren. Da werden Sie Ihre Auffassung einbringen; wir werden unsere Auffassung einbringen.Aber ich will hier auch deutlich sagen: Das Votum, verstärkt plebiszitäre Elemente in die Verfassung aufzunehmen, ist nicht das Votum der CDU/CSU.
Wir haben diese stabile Demokratie über das Prinzip der repräsentativen Demokratie geschaffen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1721
Dr. Rupert Scholz
Dies hat zur stabilen Demokratie geführt. Wir haben aus den Erfahrungen von Weimar gelernt. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren, wie sie selber formuliert haben, „gebrannte Kinder" durch die Erfahrungen von Weimar.
Wir sollten nicht noch einmal gebrannte Kinder sein wollen.Ich sage Ihnen noch eines: Die großen Erfahrungen, das große Erlebnis jener friedlichen Revolution in der früheren DDR, der Ruf „Wir sind das Volk!" werden nicht vergessen werden.
Nur, wer glaubt — auch das will ich Ihnen auf Ihre Zwischenrufe hin deutlich sagen —, daß er den Ruf „Wir sind das Volk! " , der sich gegen dieses totalitäre Unrechtssystem der SED gerichtet hat, umkehren kann und gegen ein freiheitlich-demokratisches System wie die Bundesrepublik Deutschland anwenden kann,
der verkennt die Berechtigung,
die Legitimation eben jenes Rufes und er verkennt vor allem unser demokratisches System.
Herr Kollege Professor Scholz, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Nein, bitte nicht mehr. Die Zeit eilt.
Sie wird Ihnen nicht angerechnet.
Also, wenn sie mir nicht angerechnet wird, sehr gerne, Frau Präsidentin.
Herr Kollege, Sie berufen sich nun zum wiederholten Male zu Unrecht auf die friedlichen Revolutionäre des Herbstes 1989. Ich frage Sie: Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß sich eben diese am Runden Tisch einen neuen Entwurf gegeben haben, den sie in diese gesamtdeutsche Verfassungsdiskussion einbringen wollten, und daß dieser Entwurf gerade auch etwas zu den plebiszitären Elementen, zu dem Problem des Volksentscheides sagt? Diese Diskussion wollen Sie gerade verhindern und tun das ausgerechnet mit dem Hinweis auf diese friedliche Revolution des Herbstes 1989.
Herr Kollege, ich kenne den Verfassungsentwurf des Runden Tisches.
Ich weiß auch, daß er am 16. März, zwei Tage vor dem 18. März, an einem vielleicht überraschenden Datum, verabschiedet worden ist. Ich weiß ihn in vielen seiner Fragen und Entscheidungen und Vorgaben, die er formuliert hat, durchaus zu respektieren und zu würdigen. Wir werden mit Sicherheit in unserem Verfassungsausschuß auch diese Fragen und diese Postulate aufnehmen und ernsthaft miteinander diskutieren.Aber in der Frage der plebiszitären Demokratie werden wir vermutlich auseinander sein. Auch das darf ich Ihnen hier ganz deutlich prognostizieren.
Wir werden vor dieser Frage natürlich stehen; wir werden sie zu diskutieren haben: Mehr plebiszitäre Elemente? Vielleicht gibt es Kompromißmöglichkeiten, etwa im Bereich eines Volksbegehrens; allerdings mit sehr strikten Einschränkungen. Dies halte ich für denkbar, dies halte ich für diskutabel, aber jedenfalls nicht für vorab entscheidbar.Ein anderer Punkt, den ich aufgreifen darf und auf den sich Frau Däubler-Gmelin soeben sehr intensiv bezogen hat, sind die sozialen Staatszielbestimmungen. In Wahrheit sind damit mehr oder weniger soziale Grundrechte gemeint.Auch hier ist der Dissens deutlich vorherzusagen. Wir haben im Grundgesetz über unser Sozialstaatsprinzip eine soziale Ordnung begründen können, um die wir wiederum in der Welt vielfach beneidet werden und die sich vor allem durch eines auszeichnet: Soziale Gerechtigkeit, Gestaltung der Sozialordnung sind von einem eminenten Maß an Dynamik im Wechsel der Lebensverhältnisse gekennzeichnet. Dieses Sozialstaatsprinzip war und ist die richtige Antwort auf die soziale Dynamik, auf die Entwicklung der sozialen Verhältnisse. Es sind nicht die Konkretisierungen, die Sie wollen.Das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung, das Recht auf Wohnung, das ist in einem System Sozialer Marktwirtschaft weitgehend und vielfältig Kosmetik oder Lyrik. Verfassungsgebung hat dem Bürger gegenüber ehrlich zu sein. Sie hat dem Bürger zu sagen, was einzulösen ist und was eingelöst werden kann. Ein Recht auf Arbeit kann in der Konsequenz nur in einer sozialistischen Ordnung eingelöst werden, die nämlich den Staat in die Situation versetzt, die Produktionsmittel selber zu beherrschen. Und dies wollen wir nicht.
Wir werden auf der anderen Seite eine Fülle von Fragen haben, bei denen wir uns vielleicht rascher werden einigen können.Ich denke dabei an unseren Föderalismus. Wir haben jetzt 16 Bundesländer von sehr unterschiedlicher Stärke und Qualität. Wir haben den grundgesetzlichen Auftrag der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse einzulösen. Wir haben unsere Länder zu präpa-
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Dr. Rupert Scholzrieren, zu stärken, auch im Prozeß der europäischen Einigung. Ich glaube, daß hier Wichtiges zu leisten ist und daß hier das Grundgesetz tatsächlich der Ergänzung bedarf, angefangen bei den Fragen der Partizipation der Länder im Prozeß der europäischen Einigung bis hin zur Kompetenzstärkung, bis hin auch zu Fragen der Finanzverfassung.Wir werden uns über die Staatszielbestimmung Umweltschutz verständigen müssen und können, über die wir ja schon sehr lange diskutieren.Aber auch hier, Frau Däubler-Gmelin, geht es darum, einen Kompromiß zu finden. Ihre Fassung ist für uns nicht akzeptabel. Ich denke an Ihr Streitgespräch mit Herrn Minister Kinkel, das gestern im „Spiegel" erschienen ist. Wenn Sie davon sprechen, Staatszielbestimmungen seien einklagbar, sage ich Ihnen: Staatszielbestimmungen sind nicht einklagbar; sie sind keine subjektiven Rechte. Wenn Sie mit Ihrem Verständnis der Staatszielbestimmungen in die Diskussion gehen wollen, dann werden wir es in der Frage der Staatszielbestimmungen sehr schwer miteinander haben. Staatszielbestimmungen können Auslegungsmaßstäbe, Ermächtigungen und Aufträge an den Gesetzgeber sein, aber nichts anderes. Sie müssen auch das nötige Maß an Offenheit für die gesetzliche Ausgestaltung der Zukunft wahren, so wie es im übrigen das Sozialstaatsprinzip meisterhaft verstanden hat.Die verfassungsrechtliche Diskussion vieler Details wird uns im übrigen beschäftigen. Wenn Sie mir die kleine Randbemerkung erlauben: Es gibt auch Fälle — Sie haben einen großen Katalog angekündigt —, die wir gar nicht diskutieren müssen, z. B. die Frage der Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Einsätzen. Dies ist verfassungsrechtlich überhaupt nicht lösungsbedürftig. Hier geht es, wenn überhaupt, nur darum, noch deutlicher für das Bewußtsein der Öffentlichkeit durch eine verfassungspolitische Klarstellung etwas zu bewegen. Aber ihre Diskussion um die Blauhelme und ähnliches hätten Sie sehr viel früher führen müssen, nämlich bevor Sie die Charta der Vereinten Nationen seinerzeit akzeptiert haben mit dem vorbehaltlosen Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinten Nationen.
Wir werden eine Fülle von Fragen zu diskutieren haben. Es geht um Verfassungsänderungen, es geht um Verfassungsanpassung. Nach unserer Auffassung ist der gemeinsame Verfassungsausschuß, paritätisch von Bundestag und Bundesrat besetzt, das richtige Gremium hierfür, weil er deutlich macht, daß es um ein Verfahren der Verfassungsänderung nach Art. 79 und nicht etwa um das Verfahren der Verfassungsneugebung geht. Dennoch sollten wir nicht zu lange um das Verfahren streiten, wir sollten, wie leicht vorhersehbar ist, um die Sache streiten. Unser Grundgesetz hat es verdient.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Professor Dr. Gerhard Riege.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es hat eine gewisse Logik, wenn aus der Art, wie die Bildung des gesamtdeutschen Staates vollzogen wurde, nämlich unter Berufung auf Art. 23 des Grundgesetzes, Inhalt und Form der Verfassungsdiskussion abgeleitet werden. Mit Art. 5 des Staatsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 31. August 1990 würden dann die Themen der Verfassungsdiskussion schon bestimmt sein. Damit wäre ein zu enger Radius gewählt.Obendrein hätten wir eine Situation, die im Grunde aus der Vorgabe der Regierungen erwachsen ist. Wer miterlebt hat, wie dieser Staatsvertrag zustande gekommen ist, wird bestätigen müssen, daß er in einer intensiv genutzten Stunde der Exekutive seine Gestalt erhielt. Was die Parlamente dazutun konnten, war wenig, vom unmittelbaren Anteil der Bevölkerung braucht nicht geredet zu werden.Nun muß den Bürgerinnen und Bürgern in Ost und West die Möglichkeit geboten sein, auf das Gemeinwesen Einfluß zu nehmen, das sie erstreben. Die Jahrzehnte dauernde deutsche Teilung ist mit dem 3. Oktober 1990 nicht einmal der Form nach in vollem Maße aufgehoben. Soll die Teilung wirklich überwunden werden, muß eine Verfassung ermöglicht werden, die von den neuen Bundesbürgern mitgestaltet und deshalb mitgetragen wird.Ich kann mich schwer von dem Gefühl freimachen, daß der Standpunkt, die Deutschen aus der ehemaligen DDR hätten im Grunde nichts in die von der alten Bundesrepublik geprägte Verfassungsordnung einzubringen, vom gleichen Geiste ist wie der leider oft gehörte, weil zu oft ausgesprochene Satz, die gewesenen DDR-Deutschen müßten erst einmal arbeiten lernen. Die Väter des Grundgesetzes hatten ihrem Werk das Attribut des Vorläufigen gegeben. Die alte Fassung des Art. 146 belegt es: In einer schließlichen deutschen Einheit sahen sie die notwendige Bedingung für eine neue Verfassung, die sich der neue Souverän geben würde. Die Formel, daß sich das Grundgesetz bewährt habe, sollte nun nicht genutzt werden, um sich von dem realistischen Gedanken der Verfassungsschöpfung, nach der Phase der Zweistaatlichkeit müsse der gesamtdeutsche Souverän sein Verfassungswort sprechen, loszusagen.Mit dem Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten ist die DDR als Staat untergegangen; mit ihm ist auch aus der Bundesrepublik ein veränderter Staat geworden. Man kann die Dinge drehen und wenden, wie man will, wir haben es nicht mehr mit der alten Bundesrepublik zu tun, und sie ist nicht allein deshalb verändert, weil sie territorial größer und personell zahlreicher, weil sie durch den Zuwachs an Gebiet, Bevölkerung und wirtschaftlichem Potential zu einem auf mannigfache Weise gewichtigeren Faktor in der internationalen Politik geworden ist.Bedingungen für eine Großmacht sind gesetzt. Daß daraus weder gegenüber Europa noch gegenüber der weiteren Welt entsprechende Politik entspringt, muß Verfassungsgebot sein.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1723
Dr. Gerhard RiegeIm Grundgesetz ist die Doktrin von der Identität der Bundesrepublik mit dem alten Deutschen Reich lebendig. Art. 116 mit seiner auf Deutschland in den Grenzen von 1937 bezogenen Staatsangehörigkeitsdoktrin ist dafür markantes Beispiel. Es ist an der Zeit, daß sich der Souverän im vereinigten Deutschland davon verabschiedet. Das schließt eindeutige Aussagen zur Stabilität der Grenzen ein. Europäische Erwartungen würden damit erfüllt.So wenig wie die Völker Europas es vergessen werden, dürfen wir nicht vergessen, daß die eben überwundene Zweistaatlichkeit auch eine Folge der schweren Schuld gewesen ist, die aggressive deutsche Großmachtpolitik in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts begründet hat. Das verpflichtende Bekenntnis zum Antifaschismus gehört in die Verfassung.Es gibt im neuen Deutschland ein neues Staatsvolk. Zum wirklichen Souverän muß es noch werden. Ein unverzichtbarer Schritt auf dem Wege dorthin wird die Einflußnahme auf die Verfassung sein. Die Abgeordneten und das Parlament sind in bezug auf die Verfassung unverzichtbare Teile dieses Souveräns, nicht jedoch dessen Stellvertreter.Ein neuer Staat und ein neues Staatsvolk, das sind — zumal unter den veränderten internationalen Bedingungen — Gründe, die es gebieten, das Verfassungsproblem in seiner gesamten Breite zu durchdenken und nach zeitgemäßen Lösungen zu suchen. — Hier liegen Gründe, die es verbieten, dem Grundgesetz nur hier und da ein neues Lichtlein aufzusetzen.Etwa 40 Änderungen hat das Grundgesetz in seiner bisherigen Geschichte erfahren. Sie waren unterschiedlich in ihrem Gewicht und verschieden in ihren Anlässen. Aber keiner der Gründe war vergleichbar mit dem Jahrhundertereignis, daß die Bildung des deutschen Gesamtstaates darstellt. Da muß gerade das Wort gelten, die adäquate Verfassung zu schaffen. Wer nur in der deutschen Einheit den Anlaß sieht, sich dem Verfassungsproblem zuzuwenden, übergeht die vielen Diskussionen der vergangenen Jahre, die auf eine Verfassungsnovellierung zielten.Diese Diskussionen verstummten beinahe schlagartig, als die Bildung des Gesamtstaates greifbar näherrückte und Art. 23 zur Schlüsselnorm der deutschen Einheit gekürt wurde. Da war Kritik am Grundgesetz nicht mehr opportun.Verfassungsarbeit von heute kann und muß sich auf eine breite Materialbasis stützen. Dafür liegt im Grundgesetz selbst ein Fundus.Verweisen möchte ich aber auch mit gleichem Nachdruck auf den Verfassungsentwurf des Runden Tisches mit seinen vielfältigen und neuartigen Sichten auf Gesellschaft und Staat, auf Bürger, Mitmenschen und Gesellschaft, auf mittelbare und Vertretungsdemokratie sowie auf Natur, Welt und Frieden. Nie sollte vergessen werden, daß der Verfassungsentwurf von jenen Kräften initiiert wurde, die den Wandlungsprozeß auf dem Gebiet der DDR am stärksten beeinflußt haben, und daß er ein Rechtsdokument sein sollte, auf dessen Basis ein gesamtes Staatsvolk den Weg in die deutsche Einheit hätte gehen können,ohne zum Objekt einer Vereinnahmung zu werden. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches war kein marginales Ereignis.Natürlich stellte er einen Kompromiß dar; denn er war in dem Bemühen um Konsens erarbeitet. Ihn haben politische Kräfte mitgeformt und mitgetragen, die ihn wenig später preisgaben, die sich ungern an ihre einstigen guten Gedanken erinnern lassen und die heute in anderen großen gesamtdeutschen Parteien keinen Mut zeigen, unter den neuen Bedingungen das Verfassungsthema in vergleichbarer Gründlichkeit und Konstruktivität zu erörtern.Im Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder reift das Angebot eines Textes einer Gesamtverfassung.Das Verfassungswerk von Weimar enthielt — z. B. im Demokratiebereich — Lösungen, die es wert sind, befragt zu werden. Mir scheint auch, daß die konstitutionellen Erfahrungen anderer, insbesondere westeuropäischer Völker, für uns anregend sein können.Inhalte sind zu benennen, mit denen sich eine Verfassungsdiskussion beschäftigen muß. Das sind die Grundrechte.Das Grundgesetz ist für den sozialökonomischen Bereich aus meiner Sicht ergänzungsbedürftig. Das Bedürfnis der Menschen nach Konkretisierung des Sozialstaatsgebots in Gestalt von Grundrechten und Staatszielbestimmungen ist groß.Das massenhafte Erleben sozialer Unsicherheit in den neuen Bundesländern hat es verstärkt. Wir treten auch und gerade unter marktwirtschaftlichen Bedingungen für ein Recht auf Arbeit ein, für das spezifische Gewährleistungsformen gefunden werden müssen. Das kann nicht mit dem Satz abgetan werden, daß die Forderung nach einem Recht auf Arbeit dem Verlangen gleichkäme, ständig Sonnenschein haben zu wollen.Die Verfassung muß das Recht auf Wohnung enthalten.Die Teilhabe an der Kultur ist für das Menschsein so gewichtig, daß es verfassungsmäßigen Ausdruck erfahren sollte.Ein Verbot der Diskriminierung aller Arten von Minderheiten sollte festgeschrieben sein. Die Gleichstellung der Ausländer ist zu fixieren.Die Erhaltung der Grundlagen unseres Lebens muß zum allgemeinverpflichtenden Verfassungsgebot werden wie das Recht auf eine heile Umwelt zum grundrechtlichen Anspruch des Menschen.Ihm muß das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zustehen.Wir plädieren für Staatszielbestimmungen, die nicht unverbindliche Programmpunkte, sondern verbindliche, bindende Handlungsorientierungen und weitestgehend durch konkrete Rechte untersetzt sind.Im Grundgesetz ist der Weg zu Gemeineigentum und gemeinwirtschaftlichen Produktionsformen freigehalten. Die Auseinandersetzungen um Aufgaben
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Dr. Gerhard Riegeund Praxis der Treuhand zeigen, daß in diese Richtung Verdeutlichung zweckmäßig ist.Vertretungsorgane sind natürlich unerläßlich für den politischen und staatlichen Prozeß der Willensbildung. Die parlamentarische Demokratie aber, die sich in diesem Lande ausgebildet hat, kann nicht die letzte Antwort darauf sein, wie sich die Gesellschaft im Staat ausdrückt. Sie gewährleistet es nicht hinreichend, daß sich die Vielfalt der in der Gesellschaft vorhandenen Interessen in den Entscheidungsabläufen ausdrücken kann und die parlamentarischen Gremien Foren sind, in denen sie sich artikulieren können.Die schlichte Reduktion des Demokratieprinzips auf das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit scheint mir nicht mehr zeitgemäß. Deshalb sollte das Gesamtgefüge von Institutionen und Spielregeln der Demokratie auf Grund gesammelter Erfahrungen, darunter auch derjenigen aus der letzten Zeit der DDR, überdacht und optimiert werden.Das Verhältnis von Parteien, anderen politischen Vereinigungen und Bürgerbewegungen zum Staat und zu seinen Strukturen steht zur Diskussion. Die Einseitigkeit der grundgesetzlichen Entscheidung für die repräsentative Demokratie bedarf nach unserem Erachten der Ergänzung durch Formen der unmittelbaren Demokratie.Die Notstandsverfassung sollte auf kürzestem Wege das Grundgesetz verlassen.Unlängst hat Frau Hamm-Brücher die Tribüne des Bundestags nochmals genutzt, um ihre Vorstellungen vom Platz des Parlaments mitzuteilen. Daß der gewählten Körperschaft im Verhältnis zur Regierung oft die nötige sachlich begründete Souveränität fehlt, ist wiederholt ausgesprochen worden. Die Verfassungsdiskussion gibt Gelegenheit, die reale Stellung des Parlaments anzuheben.Das Verhältnis zur Exekutive, die Gestaltung der Entscheidungsprozesse im weitesten Sinne so, daß sie auch von der Öffentlichkeit, an die sich die Entscheidungen schließlich wenden, verstanden, nachvollzogen und, wenn möglich, beeinflußt werden können, sind Stichworte, die nach weiterführenden Lösungen rufen.Wir setzen uns mit den anderen politischen Kräften für einen Ausbau des Förderalismus ein. Das hat besonderes Gewicht angesichts der Situation, in der sich die neuen Bundesländer befinden, zumal sich in ihnen und durch sie in hohem Maße die Entwicklungen vollziehen müssen, die zu angeglichenen Lebensverhältnissen in Deutschland führen.Eigene Akzente setzen die Tendenzen der europäischen Integration und die Beachtung der Erfahrungen des europäischen Regionalismus.Lassen Sie mich schließlich darauf verweisen, daß die dem Wirken der Bundesrepublik für Frieden, internationale Sicherheit und Zusammenarbeit der Staaten und Völker in Europa und weltweit gewidmeten Regelungen des Grundgesetzes ergänzt werden sollten. Abgeleitet aus der internationalen Stellung und Verantwortung Deutschlands sollten Gebote zu globalem Umweltschutz, zu drastischer und substantieller Abrüstung auch als Voraussetzung dafür geregelt werden, daß Unterentwicklung überwunden, Existenz und Fortschritt der Menschheit gefördert werden können.Das Friedensgebot müßte zu einer Verpflichtung für aktives, dem Frieden und den freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Völkern dienendes Handeln fortentwickelt werden. Die Verpflichtung zur friedlichen Streitbeilegung und zum Verhüten von Konflikten sollte ebenso ausdrücklichen Verfassungsrang erlangen wie das Ziel, einen friedliebenden, entmilitarisierten, demokratischen und sozialen Bundesstaat Europa zu schaffen.Nach den gewiß ergänzungsfähigen Skizzen zum Inhalt der Verfassungsdiskussion, wie die Gruppe PDS/Linke Liste sie für geboten hält, möchte ich zum Verfahren folgendes bemerken. Die Mitglieder meiner Gruppe sprechen sich dafür aus, Prozeß und Abschluß der Verfassungsgebung so zu gestalten, daß sich die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes mit ihren Vorstellungen und schließlich mit ihrem autorisierenden Wort einbringen können. Wir sind für ein Verfassungsgremium, an dem neben professionellen Verfassungspolitikern und Verfassungsrechtlern Repräsentanten der Öffentlichkeit, z. B. von Gewerkschaften, Bürgerbewegungen, Kirchen, mitwirken.Wir sind für eine weitestgehende Öffentlichkeit der Beratungen. Der Weg, auf dem die Verfassung ihre Gestalt gewinnt, muß so gewählt werden, daß jeder, der an ihm Anteil nehmen will, dies auch durch Informationen, Stellungnahmen und Reaktionen darauf kann. Es würde verfassungsgestalterische Kraft aus der Bürgerschaft unerschlossen bleiben, sollte das Wort des Souveräns der Verfassung nur in einem Ja oder Nein zu einem fertigen, ihm vorgelegten Text bestehen. Dieses Parlament, verehrte Abgeordnete, kann sich dadurch weit über seine Legislaturperiode hinaus einen Demokratiebonus erwerben, daß es der Wählerschaft die Chance gibt, Alternativvorschläge zu wichtigen Gegenständen zur Kenntnis zu nehmen und darüber zu befinden.Die Koalitionsfraktionen haben einen Beschlußantrag eingebracht, der von seiner gesamten Anlage her das Verfassungsproblem der Öffentlichkeit entzieht. Dieser Beschlußentwurf kann keine seriöse Entscheidungsgrundlage abgeben.Wir unterstützen die Bildung eines Verfassungsrates. Die Vorschläge vom Bündnis 90/GRÜNE und von der SPD enthalten dem Gegenstand angemessene Lösungen. Schließlich plädieren wir für eine plebiszitäre Autorisierung der Verfassung, die dem geltenden Grundgesetz nicht zuteil geworden ist.All das ist von der oft geäußerten Erkenntnis bestimmt, wonach das Kernproblem der modernen Verfassung in der Volkssouveränität besteht.Danke.
Das Wort hat Herr Kollege Detlef Kleinert.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist
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Detlef Kleinert
immer wieder reizvoll, einen Vertreter der PDS zu Fragen der Demokratie zu hören.
Es wäre für die von uns stets gesuchte sachliche Auseinandersetzung natürlich noch hilfreicher, wenn sich das weniger im Nebulös-Theoretischen als vielmehr in ganz praktischen Vorschlägen darstellen würde. Dann könnte man eher nachfühlen, was es heißt, daß das Parlament seinen Aufgaben im Verhältnis zur Verwaltung — wir bemühen uns redlich und nehmen Ratschläge weiterhin entgegen — nicht so recht gewachsen ist und wer an dessen Stelle treten sollte. Solche Dinge andeutungsweise am Beginn dieser Beratung hätten unser Verständnis der Demokratieauffassung Ihrer Partei, die doch früher unübersehbar einige Defizite hatte, vielleicht erhellen können.
Das Interessantere ist natürlich, sich zu fragen, was die verehrlichen Kolleginnen und Kollegen von der Sozialdemokratie bewogen hat, hier heute mit dem Antrag auf die Berufung eines Verfassungsrates an uns heranzutreten, während wir mit einem nach den Worten von Frau Däubler-Gmelin „Mini-Ausschuß" Ihren Unwillen erregen.
Ich glaube, wir haben bis jetzt noch etwas unterschiedliche Vorstellungen von dem, was hier insgesamt geschehen, was hier geleistet werden soll. Von daher kommen wir dann naturgemäß auch zu anderen Vorstellungen über die zweckmäßige Anlage der Arbeit. Wir haben uns gedacht, eine Verfassung, die sich im Ganzen bewährt hat — daran sind wir alle, und zwar an jeder Stelle dieses Hauses und jeder in Regierungsverantwortung, schon beteiligt gewesen —, fortzuschreiben, so wie es im Einigungsvertrag ohne Erwähnung weiterer Einzelheiten festgelegt ist.Es ist ganz offensichtlich — darüber wäre sehr schnell Einigung zu erzielen — , daß in jedem Fall einige Dinge geändert werden müssen. Man sollte bei dieser Gelegenheit überlegen, was des weiteren wünschenswerterweise in einem Zuge an der Verfassung geändert werden soll. Drittens kann man sich auch darüber unterhalten, was von den verschiedenen Seiten des Hauses unterschiedlich als notwendig angesehen wird — ein Vorgang, auf den wir nun zusteuern.Ich glaube, wenn wir etwas Sachliches bewegen wollen, so wie es uns aufgegeben ist, dann ist die von uns vorgeschlagene 32er-Kommission, die sich mathematisch zwingend aus der Zahl von 16 Bundesländern und der gleichen Zahl von Mitgliedern des Bundestages herleitet, das größte, was man sich an arbeitsfähigem Gremium für eine sachlich weiterführende Unterhaltung vorstellen kann.Wegen dieser Mathematik ist es uns leider nicht möglich — darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen — , die Vertreter der Gruppen, insbesondere die Vertreter des Bündnisses 90/GRÜNE, mit Sitzen mit entscheidender Stimme zu bedenken, weil es einfach nach unserem System an dieser Stelle, genauso wenig wie in irgendeinem anderen Ausschuß des Hauses, nicht passen würde. Deshalb sieht unser Entwurf ausdrücklich vor, daß die Teilnahme mit beratender Stimme stattfinden soll. Da die Entscheidungen letztlich nicht in einem solchen Beratungsgremium fallen werden, liegt darin insoweit die Möglichkeit einer anständigen Beratung.Der von Ihnen vorgeschlagene Verfassungsrat würde mit Sicherheit zu einer ungewöhnlich umfangreichen Stoffsammlung für alles Wünschenswerte auf dieser Welt, insbesondere im Bereich dieser Republik, führen. Wir wissen aber dann immer noch nicht, wie wir aus einer solchen Stoffsammlung die notwendigerweise mit Zweidrittelmehrheit zu tragenden konkreten Schlußfolgerungen ziehen sollten.
Darum bin ich der Meinung, wir sollten es bei einer arbeitsfähigen Gruppe belassen, die nach unserem Antrag einzusetzen wäre. Kein Mensch kann Sie hindern — wie ich Sie kenne, werden Sie sich nicht im geringsten hindern lassen — , eine Fülle von beratenden Gruppierungen einzusetzen, um nicht nur auf Ihren internen, sondern auch auf den zahlreichen externen Veranstaltungen für Ihre speziellen Vorstellungen zu dem Thema zu werben. Wir werden das alles aufmerksam zur Kenntnis nehmen und damit die Beratungen zusätzlich zu bereichern suchen.Daß dies alles aber in einem Ausschuß stattfinden soll, der dadurch an die Grenze der Arbeitsfähigkeit bzw. -unfähigkeit oder sogar darüber hinaus geraten würde, leuchtet uns nicht so recht ein. Darum bitten wir in Anbetracht aller anderen Möglichkeiten herzlich, unserem Antrag zuzustimmen, damit wir möglichst bald in das von uns mit Ihnen dringend gesuchte Gespräch über eine Reihe von Sachfragen eintreten können.Keineswegs kann ich diese Sachfragen heute auch nur andeutungsweise im einzelnen durchgehen. Ich möchte aber einmal auf etwas ganz Grundsätzliches hinweisen; vielleicht gibt es auch da im Moment noch Unterschiede, die sich im Laufe der Diskussionen applanieren könnten und auch sollten. Man sollte den Unterschied zwischen dem, was die Verfassung leisten kann, und dem, was die Politik leisten muß, sehr deutlich machen und nicht bei gegebener Gelegenheit, nämlich aus Anlaß der deutschen Einigung, die trotz allem, was hier Schmeichelhaftes über das Ergebnis des Runden Tisches in letzter Minute gesagt worden ist, verfassungsmäßig wenig revolutionären Impetus gezeigt hat, versuchen, das, was Politik im Detail leisten muß, mit einem Kunstgriff in die Verfassung zu befördern, so zu tun, als wäre es damit schon erledigt, und schließlich mindestens die Gefahr in Kauf nehmen, daß dafür nicht bestimmte Verfassungsorgane dann die Detailarbeit schon leisten werden. Eine solche Veränderung unserer bisherigen Verfassungswirklichkeit würden wir allerdings keineswegs hinnehmen wollen; sie droht aber. Wenn man mit dem Recht auf Wohnung, mit dem Recht auf Arbeit, mit dem Recht auf Bildung und weiteren
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Detlef Kleinert
Staatszielbestimmungen so tut, als hätte jeder das Recht und nun hätte er auch Arbeit und Wohnung und Bildung.
— ganz und gar Bildung — , dann ist das doch die Erweckung völlig falscher Vorstellungen, dann ist das etwas, was wir den Bürgern bei dieser Gelegenheit nicht antun sollten. Gelöst ist damit gar nichts.
Der Detailteufel der praktischen parlamentarischen Arbeit wird mit einem Kunstgriff über die Verfassung zunächst zum Verschwinden gebracht. Wenn wir viel Glück haben, taucht er dann bei uns wieder auf. Wenn wir aber etwas weniger Glück haben, werden wir erstens von Richtern und zweitens von Verwaltungen oft und wieder oft hören, daß die Verfassung ihnen aufgibt, jetzt so und so zu entscheiden, weil das Gesetz nicht genügend für den zu entscheidenden Fall hergibt. Dann wird aus dem Vollen geschöpft; jede Art von Rechtssicherheit kommt abhanden; die persönliche Einstellung des Richters zu im Grunde politischen und eben nicht juristischen Fragen gewinnt ein Gewicht, das für sie nicht vorgesehen worden ist.
Deshalb wollen wir uns auf diesen Weg nicht begeben.An dieser Stelle muß man leider anmerken, daß jüngere Vorgänge in Niedersachsen in bezug auf das, was dann richterlicherseits geschehen könnte, zu denken geben: Wenn Frau Griefahn, die niedersächsische Umweltministerin, in ihrem Hause die Ausarbeitung eines aus Steuergeldern bezahlten Gutachters kursieren läßt, der empfiehlt, zur Erreichung umweltpolitischer Ziele zunächst einmal dafür zu sorgen, daß die Verwaltungsrichterschaft im Sinne der befreundeten besonderen Umweltfreunde besetzt und ausgerichtet werden möge, dann sind das Vorgänge, die man in einem Rechtsstaat mit äußerstem Abscheu zurückweisen muß
und die überhaupt keine Veranlassung geben, auch nur die Gefahr einer Vermengung der parlamentarischen und politischen Aufgabe mit der richterlichen Aufgabe zuzulassen. Das würde aber geschehen, wenn wir uns auf dem Wege der von Ihnen so geliebten Staatsziele nur gehörig weiterbewegten.Es gibt ganz andere Dinge, über die wir uns — gerade dieses Haus — bei der Gelegenheit etwas intensiver unterhalten sollten. Wenn nämlich der Bundesrat begehrt, bei Verzicht auf Hoheitsrechte dieser Republik stärker beteiligt zu werden, um seine föderalen Rechte wahren zu können, haben wir für dieses Anliegen großes Verständnis. Was mir auffällt, ist, daß sich der Bundestag die gleiche Sorge gar nicht so sehr in diesem Maße gemacht hat um das, was praktischerweise von Europa aus auch uns an geringerer Beteiligung und an nicht unbedingt notwendiger Entmachtung und an Verlust von nationaler Souveränität blühen kann. Darum sollten wir versuchen, in unserenBeratungen das zusammenzuführen, was der Bundesrat hier anstrebt und was auch wir im wohlverstandenen Interesse dieses Hauses anstreben sollten, damit Europa wirklich aus der Vielfalt seiner Glieder leben kann und nicht unnötigerweise von einer Zentrale aus, über einen Kamm hinweg geschoren, regiert wird.Die Frage ist aufgeworfen worden, was denn zum Schluß mit der zu verabschiedenden Verfassung zu geschehen hat. Es wird Art. 146 zitiert. Dabei wird gesagt, Art. 146 würde vorschreiben — so sagt es der eine — , er würde nahelegen — so sagt es der andere — , durch eine Volksabstimmung zum Schluß das Ergebnis wirklich zu legitimieren.Herr Scholz hat schon darauf hingewiesen, daß das Grundgesetz sehr wohl legitimiert ist, daß es auch durch die Praxis, in der wir alle gestanden haben und stehen, legitimiert ist und daß es nicht zuletzt, sondern in ganz besonders vornehmer Weise durch das Ergebnis legitimiert ist, daß wir heute als Vertreter eines Deutschland hier sitzen und daß die deutsche Einigung auch und gerade mit Hilfe dieses Grundgesetzes und seiner sorgfältigen Beachtung erreicht worden ist.
Deshalb glaube ich nicht, daß es sehr sinnvoll wäre, den Segen eines Plebiszits
ausgerechnet am Ende einer Beratung über gewisse Modernisierungen und Anpassungen unseres Grundgesetzes auszuprobieren.
— Hier haben schon manche versucht, irgend etwas alleine zu bewegen. Ich habe nie gehört, daß das zu sichtbaren Erfolgen geführt hätte.
— Ich bin sehr dankbar für diese Bestätigung.
Ausgerechnet ein fix und fertiges Produkt — davon geht ja wohl die Sozialdemokratische Partei aus — schließlich einer Volksabstimmung zu unterziehen,
die dann pro forma stattfinden müßte: Das wäre eine Veranstaltung, bei der mir — jedenfalls aus heutiger Sicht — nicht so recht wohl ist. Warum soll man ausgerechnet da den Eindruck erwecken, es würde etwas entschieden, wenn den Beteiligten, wenn Auguren, die mit Zweidrittelmehrheit entschieden haben, schließlich klar ist, daß das kein Beitrag zu einer wirklichen Entscheidung in der Sache sein kann?Anderes, was zu Fragen des Plebiszits zu sagen wäre, wird in den Debatten, die wir sicher nicht nur in einem — wie auch immer zusammengesetzten — Verfassungsgremium, sondern auch hier in diesem Hause führen werden, noch zu sagen sein. Darüber werden wir uns sicherlich nicht so rasch verständigen. Es gibt aber sehr viele Dinge, über die wir uns ver-
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Detlef Kleinert
ständigen können, über die wir uns auch verständigen sollten. Darum möchte ich heute alle Beteiligten sehr herzlich bitten.Unsere bewährte Verfassung hat es verdient, daß wir uns gemeinsam um eine angemessene Anpassung an den jetzt eingetretenen Zustand bemühen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte, die wir heute eröffnen, war überfällig. Seit eineinhalb Jahren steht das Thema „Demokratie" und „Demokratisierung" auf der Tagesordnung der Vereinten Nationen, auf der Tagesordnung Europas und darum auch auf der Tagesordnung des vereinigten Deutschland. Demokratisierung heißt: Das Ganze unseres gesellschaftlichen und politischen Lebens wird sich so verändern, daß der Wirkungskreis der Demokratie auch die erreicht, die bisher von ihm ausgeschlossen waren, und auch noch jene Bereiche unseres Lebens erfaßt, die wir bisher als beliebig verfügbares Material zu behandeln pflegten.Wie beantwortet die regierende Koalition diese einmalige Herausforderung? Ehe ich den eingebrachten Vorschlag beurteile, will ich in Erinnerung rufen, was das Grundgesetz für genau diese Situation vorschrieb; ist es doch eines der Merkmale, die dem Grundgesetz eine einmalige Stellung in der deutschen Verfassungsgeschichte zuweisen, daß es diese Situation, in der wir uns jetzt befinden, in seiner Präambel und seinem letzten Artikel bewußt als Ziel verfassungsgemäßen staatlichen Handelns schon vorwegnahm.Verfahren und Inhalt der Verfassungsreform stehen schon für das Grundgesetz in engstem Zusammenhang. Dennoch will ich mich jetzt im Hinblick auf die vorliegenden Entschließungsentwürfe an eine Stellungnahme zu den Verfahrensvorschlägen halten. Über die inhaltlichen Vorstellungen der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN wird der von der Gruppe mitgetragene Verfassungsentwurf des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder, der noch in diesem Monat veröffentlicht werden soll, detaillierte und konkrete Auskunft geben.Das Grundgesetz verlangt unter der Bedingung, daß der Frieden der Welt und die Vereinigung Europas dabei gefördert werden können, daß auch den Ländern, die am Entwurf und der Inkraftsetzung des Grundgesetzes nicht teilnehmen konnten, das Recht freier und gemeinsamer Selbstbestimmung zu eröffnen sei, so daß am Ende dieses Prozesses in freier Entscheidung das ganze Volk eine gemeinsame Verfassung aller deutschen Länder in Kraft setzen kann. Art. 5 des Einigungsvertrages hat diesen vom Grundgesetz vorgeschriebenen Weg unter Berufung auf Art. 146 des Grundgesetzes noch einmal bekräftigt.Was heißt es, diesen Weg in der heutigen Situation Deutschlands auch wirklich zu gehen? Es heißt zuallererst, der Bevölkerung der Ostländer die Ausübung ihrer freien Selbstbestimmung, die Ausübung ihrer verfassunggebenden Gewalt so zu ermöglichen, daß sie am Prozeß der Verfassungsdiskussion und Verfassunggebung aktiv beteiligt ist und daß jener Mißbrauch beendet wird, der darauf beruht, das Grundgesetz so auszulegen, als ob in Art. 20 nur stünde, daß das Volk seine verfassunggebende Gewalt in Wahlen ausübt.Es hieße zweitens, auch den Westländern in der gleichen Aktivität ein Ja zu der gemeinsamen politischen Situation zu ermöglichen, das über bloße Emotionen oder eine bloße Affirmation des Status quo, wie ich sie jetzt bei meinen Vorrednern gehört habe, erkennbar hinausgeht. Wie weit wir von einem solchen Ja entfernt sind, das zeigt am besten der blamable Verlauf der Berlin-Debatte.Die klarste Antwort auf diese Anforderungen wäre jener Schritt, den der Deutsche Bundestag in zwei Beschlüssen 1951 und 1952 schon einmal ins Auge gefaßt hatte: die Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung. Die Geschichte des vorigen Jahres ist anders verlaufen und hat freie Wahlen nur als Parlamentswahlen realisiert. Angesichts dessen erscheint es uns als das einzig Angemessene, die Länder dadurch an der gesamtdeutschen Verfassung zu beteiligen, daß die Hälfte eines aus 160 Vertretern und Vertreterinnen, paritätisch aus Männern und Frauen zusammengesetzten Verfassungsrates von den Ländern nach einem Verfahren bestellt wird, das auch Nichtparlamentariern eine Beteiligung ermöglicht. Dadurch, daß auch der Bundestag nach den Mehrheiten seiner Fraktionen eine Hälfte des Verfassungsrates stellt, ist auch das Ergebnis der freien Wahlen im Verfassunggebungsprozeß berücksichtigt, der durch Volksentscheid zu vollenden ist. Das Volk muß die Möglichkeit haben, ja zu sagen. Ich finde es wirklich bedrückend, mit welchen schlechten Witzen dieses Ja hier verniedlicht worden ist.Was aber schlägt nun die regierende Koalition vor? Einen 16-Mitglieder-Ausschuß des Bundestages, der mit einem Bleichstarken Bundesratsausschuß als Verfassungskommission, also als Verfassungsausschuß, zusammentreten soll. Die Vertreter von Bündnis 90/ DIE GRÜNEN sollen als überzählige Mitglieder ohne Stimmrecht beteiligt werden.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der FDP, Sie mußten sich darüber im klaren sein, daß Sie mit diesem Vorschlag zu diesem Thema Stellung auch gegenüber den Bürgerbewegungen bezogen, deren einziges Ziel es war, mit verfassungswidrigen und menschenrechtsverletzenden Zuständen in einem Teil unseres Landes Schluß zu machen.Ihr Vorschlag enthält auch eine Stellungnahme zu denen, von denen die Initiative zur Einberufung des Runden Tisches und zum Beschluß zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit, das damals nur in ein Amt für Nationale Sicherheit umgewandelt werden sollte und damit zum entscheidenden Schritt zur Wiederherstellung der Grundrechte und verfassungsmäßiger Zustände auf dem Territorium der ehemaligen DDR ausgegangen ist.
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1728 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Dr. Wolfgang UllmannIhr Vorschlag enthält eine Stellungnahme zu denen, die schon in der ersten Sitzung des Runden Tisches durch einen Beschluß die Verfassungsdebatte eröffneten, die der Deutsche Bundestag heute endlich aufnimmt, eine Stellungnahme zu denen, die angesichts des immer chaotischeren Umgehens der Volkskammer mit in sich unklaren Verfassungsgrundsätzen als erste einen entscheidenden Schritt zur Inkraftsetzung des Grundgesetzes im Sinne des Art. 23 Satz 2 forderten.Diesen Vertretern der Bürgerbewegungen wollen Sie eine Art Gaststatus in der Bundestagsgruppe der Verfassungskommission anbieten. Was eigentlich haben Sie sich mit diesem Vorschlag angesichts der Herausforderungen der Zeit, in der wir leben, gedacht?
Ganze Völker drängen auf den Areopag der Demokratie. Die Völker Osteuropas skandieren die Anfangsworte der amerikanischen Verfassung: Wir, das Volk! Sie haben dazu nichts Besseres als einen kleinen Parlamentsausschuß vorzuschlagen, der nicht einmal dem Umfang eines der großen Ausschüsse der üblichen Parlamentsarbeit entspricht.
Sind Sie taub für die Signale, die darauf deuten, daß sich auch dieser unser Alltag, Herr Kleinert, vollständig ändern muß? Gewiß, wir sind Leute, die eine Totalrevision fordern, nicht, wie Sie uns unterstellen, eine Totalrevision all dessen, worauf Freiheit und Demokratie beruhen, aber eine Totalrevision einer veralteten politischen Philosophie, die immer wieder versucht, Art. 146 zu unterminieren, eine Totalrevision all dessen, was Demokratie und Demokratisierung gefährdet, aufhält, verengt.Wir wollen keine Achsen nach links verschieben, sondern die Achse der Demokratie, der Freiheit aufrichten, geradestellen, damit sich die Umschwünge des politischen Lebens vollziehen, ohne daß dabei Geräusche entstehen, die das Ohr derer beleidigen, die noch ein Rechtsgefühl und Rechtsbewußtsein haben.Auch die Frage der Währungs- und Wirtschaftsunion war eine Frage der Demokratie. Sie ist so undemokratisch gelöst worden, daß wir alle heute die Rechnung dafür zu zahlen haben. Denn wer war der größte Besitzer jener Devisen in jener Währung, die der Mehrheit der Bevölkerung in der ehemaligen DDR vorenthalten worden sind? Es war jener Staat, der die Demokratie durch eine Diktatur ersetzt und deformiert hatte. Aber die Hauptverantwortlichen für diesen skandalösen Mißbrauch sind heute entweder Berater bei Krupp oder wohnen am Tegernsee.
Diejenigen, die zur Aufdeckung und zur Beseitigung dieser krassen Ungerechtigkeit, die nach Demoraktie nicht nur gerufen, sondern auch Wirksames für sie getan haben, wollen Sie an den Katzentisch des Verfassungsausschusses setzen.Wir verlangen weder Orden noch Ehrenzeichen; Sie wissen das auch von uns. Wir verlangen nur demokratische Gleichberechtigung im Namen der Männer und Frauen, die wir vertreten.
Das Bündnis 90/GRÜNE hat bei den Verhandlungen über den Fraktionsstatus, denke ich, ganz deutlich bewiesen, daß wir unsere Grenzen sehr genau kennen. Genauso kennen wir aber auch unsere Würde. Das Spiel, das hier mit uns gespielt werden soll, werden wir nicht mitspielen. In Sachen Verfassung lassen wir uns nicht zu Statisten machen.
Meine Damen und Herren, ich schäme mich für die Parteien, die diesen Antrag eingebracht haben, die Parteien von Jakob Kaiser, Hermann Ehlers und Theodor Steltzer, von Theodor Heuss und Thomas Dehler.
Sie haben diesen Antrag just in dem Moment eingebracht, in dem das Ansehen des Staates so schwer Schaden gelitten hat, wie es in Halle jüngst geschehen ist. In einer solchen Lage hilft nicht der Ruf nach der Polizei, sondern der Ruf nach mehr Demokratie. Der Ruf nach der Polizei ist der letzte Ausweg aller gescheiterten Politiker. Das haben wir gerade in der ehemaligen DDR gelernt.
Die Debatte über eine Verfassungsreform wird nur dann ein Ruf nach Demokratie sein, wenn sie sich mit einem demokratiegemäßen Verfahren vollzieht. Ich hoffe, daß die Beratungen des Bundestages und seiner Ausschüsse zu einem solchen Verfahren führen. Ich bitte Sie darum, in die Diskussion unserer Vorschläge einzutreten.
Das Wort hat der Minister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben vor zwei Jahren, im Mai 1989, in der damaligen Bundesrepublik das 40. Jubiläum unseres Grundgesetzes begangen. Wir haben das Grundgesetz damals als die beste und freiheitlichste Verfassung, die es je auf deutschem Boden gegeben hat, gepriesen. Aus dem Provisorium war schon damals längst das dauerhaft verankerte Fundament unseres Staatswesens geworden. Wir haben damals, vielleicht mehr prophetisch als wirklich schon wissend, hinzugefügt, daß das grundlegende Bekenntnis zu dieser Wertewelt auch im Falle einer Wiedervereinigung nicht mehr werde in Frage gestellt werden können. Von diesen Worten ist heute, zwei Jahre danach, nichts zurückzunehmen, ganz im Gegenteil.
Die deutsche Einheit ist hergestellt. Für die Verwirklichung dieses Zieles standen — das ist wahr — verfassungsrechtlich zwei Wege zur Verfügung. Die
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1729
Bundesminister Dr. Wolfgang SchäubleOption für Art. 146 wurde verworfen. Die Menschen in der damaligen DDR und das von diesen Menschen am 18. März 1990 frei gewählte Parlament haben sich für den Weg des Beitritts nach Art. 23 entschieden.Wenn der Kollege von der SED/PDS vorhin gesagt hat, die Menschen hätten dabei gar keine Rolle gespielt, hat er wohl vergessen oder verdrängt, daß es in der DDR damals eine Revolution gegen die SED und ihr Unrechtssystem gegeben hat, die dies alles ja auf den Weg gebracht hat.
Die Meinung, die Menschen seien nicht beteiligt gewesen, wird auch durch die freien Wahlen am 18. März vergangenen Jahres widerlegt.Herr Kollege Ullmann, bei allem Respekt für das, was Sie sagen, und für das, was Sie bewegt: Der Anteil an demokratischer Repräsentanz, den die Menschen in der damaligen DDR und in der heutigen Bundesrepublik Deutschland Ihrer politischen Gruppe zuerkennen wollten, wird Ihnen eingeräumt, nicht mehr und nicht weniger. Das ist der demokratisch richtige und der gerechte Anteil.
Wir haben gelegentlich auch Wahlergebnisse zu ertragen, die uns nicht gefallen.
Aber zu respektieren haben wir sie alle miteinander und allemal, ob sie nun günstig oder weniger günstig sind.Im übrigen werden Änderungen unseres Grundgesetzes nicht in einem Verfassungsausschuß, wie er von den Koalitionsfraktionen beantragt wird, und nicht von einem Verfassungsrat, wie er von der sozialdemokratischen Fraktion beantragt wird, beschlossen, sondern von Bundestag und Bundesrat mit den dafür in Art. 79 GG vorgesehenen Mehrheiten. Daran wirken Sie voll und gleichberechtigt mit dem Ihnen vom Wähler zugestandenen Anteil mit. Alles andere ist eine Legendenbildung, die wir am Anfang dieses Prozesses hier wirklich nicht einführen sollten. Darum möchte ich Sie herzlich bitten.
Ich denke übrigens, daß die Menschen in der damaligen DDR — aber wir auch; wir haben ja mitgewirkt — die Grundentscheidung für den Weg nach Art. 23 unseres Grundgesetzes, also dafür, daß mit der Herstellung der staatlichen Einheit dieses Grundgesetz zugleich auch die gemeinsame Grundordnung des vereinten Deutschland ist, keineswegs nur unter Zeitzwängen getroffen haben. Gleichwohl ist auch wahr, daß wir bei einer mit deutscher Gründlichkeit geführten Verfassungsdebatte im vergangenen Jahr die historische Gunst der Stunde vielleicht ungenutzt hätten verstreichen lassen und die Wiedervereinigung über eher nachrangigen Detailproblemen versäumt hätten. Wir wissen ja heute, daß wir die Gunst der Stunde nur für eine kurze Spanne Zeit hatten. Ich bin froh und stolz, daß wir diese Zeit genutzt haben.
Ich denke, daß auch unsere Nachbarn und unsere Partner in den internationalen Verhandlungen zur Herstellung der deutschen Einheit von vornherein gern wissen wollten, mit welchem Deutschland sie es in Zukunft eigentlich zu tun haben würden, und daß dafür wichtig war, daß es das vereinte Deutschland des Grundgesetzes sein würde. So konnten wir Irritationen vermeiden. Diese Irritationen mußten wir ja auch deshalb vermeiden, weil am Ende einer solchen Debatte im vergangenen Jahr nach meiner sicheren Überzeugung nichts besseres als das Grundgesetz herausgekommen wäre, sondern allenfalls etwas weniger Gutes.Es kam hinzu, daß die freiheitlich-friedliche Einigungsbewegung in der damaligen DDR, die Ergebnisse der freien Wahlen und die Beratungen in der Volkskammer in den Beitrittsbeschluß mündeten, daß sich die Menschen in der damaligen DDR in der ganz überwiegenden Zahl für den freiheitlich verfaßten, rechtsstaatlich geordneten, wirtschaftlich blühenden und sozial leistungskräftigen Staat unseres Grundgesetzes ausgesprochen haben, auch wenn das nicht allen so gefallen mag.Heute brauchen wir dieses stabile Fundament mehr denn je, um die schwierigen Aufgaben, die mit der Bewältigung von 40 Jahren Unrechtssystem und 40 Jahren menschenverachtender Mißwirtschaft in den neuen Ländern verbunden sind, rasch und zügig meistern zu können.Deswegen bleibt es richtig, daß wir uns im Jahre 1990 auf die zur Herstellung der deutschen Einheit national und international unbedingt erforderlichen Korrekturen, auf die einigungsbedingten Änderungen des Grundgesetzes beschränkt haben. Dabei ging es im wesentlichen darum, im Verfassungstext zu dokumentieren, daß das Wiedervereinigungsgebot erfüllt, das Selbstbestimmungsrecht ausgeübt und die Beitrittsoption damit erloschen ist. Hinzu kamen die Klauseln, die die uneingeschränkte Ausrichtung des einfachen Rechts am Grundgesetz im Beitrittsgebiet in schonend verkraftbaren Fristen ermöglichen. Und schließlich galt es, die Verfestigung der Eigentumsverhältnisse, die nach internationaler Einflußnahme nicht mehr in Frage gestellt werden konnten, verfassungsmäßig abzusichern.Sie werden verstehen, daß ich als Verhandlungsführer beim Einigungsvertrag mich heute darüber freue, daß Grundkonzeption wie Einzelstrukturen dieses Vertragswerks beim Bundesverfassungsgericht in den Entscheidungen im letzten Herbst wie in diesem Frühjahr volle Bestätigung gefunden haben.
Nach dieser Grundanlage mußten wir die Problemstellungen, die sich erst als Folge der Herstellung der deutschen Einheit ergaben, beispielsweise die territoriale Neugliederung in Berlin-Brandenburg, oder die sich mit ihr noch verschärften, etwa die Probleme der Finanzausstattung der Länder und Gemeinden, späteren Beratungen überlassen.Erst recht konnte es nicht angehen, bisher nicht konsensfähige oder gar unausgereifte Formulierungen im hektischen Sturmlauf des Einigungsprozesses mit zu erledigen, zumal die besondere Struktur des
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Bundesminister Dr. Wolfgang SchäubleEinigungsvertrages den beiden gesetzgebenden Körperschaften ja nur die Entscheidung über ein Ja oder Nein gelassen hätte. Aus dieser Einsicht folgte die Konzeption des Art. 5 des Einigungsvertrages. Im übrigen machte die Beschränkung auf diese wenigen einigungsbedingten Änderungen ja auch die Lösung des Problems der kontrahierten Verfassungsänderungen leichter.Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus dieser Entstehungsgeschichte? Ich will sie für mich kurz zusammenfassen. Zunächst einmal, Frau Kollegin Däubler-Gmelin: Das Grundgesetz ist die Verfassung des vereinten Deutschland. Es muß dazu nicht erst entwickelt werden.
Wir haben den Weg des bisherigen Art. 23 GG erfolgreich beschritten. Wir werden nicht zur Weggabelung zurückkehren und nachträglich die Option des alten Art. 146 GG ergreifen oder hinterherschalten.Eine Verfassungsneuschöpfung wird es mit uns nicht geben, auch keinen Umbau und keine Totalrevision oder wie die Schlagworte noch heißen mögen. Das Grundgesetz schafft einen wesentlichen Beitrag für das Ansehen unseres Staates bei seinen Bürgern, für das Ansehen Deutschlands in der Welt. Hieran wollen wir nicht rütteln lassen.
Änderungen und Ergänzungen müssen sich in das Strukturgefüge unserer Verfassung einpassen. Die Entscheidungen sind von den Institutionen in den Verfahren und mit den Mehrheitsverhältnissen zu treffen, die unser Grundgesetz dafür vorsieht. Diese Prinzipien sind im Wortlaut des Art. 5 des Einigungsvertrages und in der Denkschrift bestätigt. Es wäre auch nicht vorstellbar, sich von diesen allgemeinen Verfahrensgrundsätzen für den Fall des Art. 5 ohne eine entsprechende Verfassungsänderung zu verabschieden.Schließlich hat Art. 5 in seinen Anstrichen einige Problemkreise für die Sachdebatte thematisiert, wobei durch den Begriff „insbesondere", der dieser Aufzählung vorangestellt ist, weitere Vorschläge nicht ausgeschlossen sind. Die Anstriche enthalten Fragestellungen, noch nicht Vorentscheidungen oder Antworten. Darüber hätten die empfehlenden Regierungen auch gar nicht befinden können.Im übrigen: Wer einen Vorschlag macht, bleibt darlegungs- und beweispflichtig dafür, daß die Änderung tatsächlich auch eine Verbesserung gegenüber dem bisherigen Verfassungstext herbeiführt.
Wir werden uns nach den bereits mit dem Einigungsvertrag vorgenommenen Grundgesetzänderungen jetzt mit den Themen beschäftigen müssen, die sich als Folge der staatlichen Einheit ergeben oder die sich mit der Einheit noch drängender stellen. Dies sind nach meiner Auffassung im wesentlichen vier Fragenkomplexe, die auch in der Aufgabenbeschreibung des von den Koalitionsfraktionen vorgeschlagenen gemeinsamen Ausschusses enthalten sind.Zunächst einmal muß das uneingeschränkt souverän gewordene vereinte Deutschland ein größeres Maß an Verantwortung in der Weltgemeinschaft übernehmen. Wir müssen sicherstellen, daß wir unseren vollen Beitrag zu den Bemühungen der Vereinten Nationen um die Erhaltung des Weltfriedens, beim Aufbau einer neuen Weltfriedensordnung, wie sie sich als eine faszinierende Chance nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ergibt, mit einbringen können. Wir müssen unseren Beitrag an der Gesamtverantwortung ausrichten, wie sie die Völkergemeinschaft heute selbst übernommen hat. Wir dürfen uns dabei nicht durch verfassungsrechtliche Festschreibungen und Differenzierungen von vornherein Fesseln anlegen.Ich will gar nicht darauf abheben, daß nach der ganz überwiegenden Meinung der Verfassungsrechtler bereits der geltende Verfassungstext die breite Palette der Einsatzmöglichkeiten — Blauhelm-Aktionen, Einsatz unter UN-Oberbefehl, Einsatz durch Ermächtigung der UN — eröffnet. Verfassungspolitisch war es sicher vertretbar, sich in einem Staat, der an der Nahtstelle zwischen Ost und West gelegen und noch nicht mit voller Souveränität ausgestattet war, größerer Zurückhaltung zu befleißigen. Ich meine aber, daß man dem vereinten Deutschland eine sinnlos gewordene außenpolitische Selbstbeschränkung auf Dauer nicht abnehmen wird.Im Gegenteil: Die Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Golfkrieg haben gezeigt, daß wir mit einer solchen Haltung in der Welt nur Mißverständnisse erzeugen und Gefahr laufen, isoliert zu werden. Damit darüber gegebenenfalls nicht verfassungsrechtlich, sondern, wenn schon, politisch gestritten werden kann, ist eine entsprechende Klarstellung im Grundgesetz angezeigt.Hinzufügen will ich, daß ich die Verstärkung der internationalen Zusammenarbeit keineswegs auf den militärischen Bereich beschränkt sehen möchte. Zum Beispiel die weltweit operierende Drogenkriminalität und andere Formen der organisierten Kriminalität werden wir nur mit einem international koordinierten Vorgehen der Polizei wirksam bekämpfen können. Dies könnte es z. B. auch erforderlich machen, daß die Vereinten Nationen verstärkt polizeiliche Mittel an die Hand bekommen, wofür ich mich schon im vergangenen Jahr bei der Sonderversammlung der Vereinten Nationen ausgesprochen habe.
Die Herstellung der deutschen Einheit bedeutet zum zweiten keinerlei Abstriche an unserem Ziel, die Einigung Europas voranzutreiben und mitzuhelfen, daß wir schließlich über die Währungs- und Wirtschaftsunion zu einer politischen Union gelangen. Wir werden den Text unseres Grundgesetzes sorgfältig darauf abzuklopfen haben, ob das bisherige Instrumentarium der Übertragung von Hoheitsrechten im Zuge der fortschreitenden Integration noch hinreicht oder ob der Vorrang der europäischen Rechtsetzungen nur durch weitere Verfassungsänderungen gesichert werden kann.Einen anderen Aspekt in diesem Zusammenhang bildet die Einsicht, daß wir bestimmte, bisher nur im nationalen Rahmen behandelte Probleme in den eu-
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäubleropäischen Kontext einbringen müssen — als Beispiel sei die Debatte um das Asylrecht erwähnt — und daß wir eine solche Verlagerung verfassungsmäßig absichern müssen. Ich bin froh, daß wir — jedenfalls unter den Innenministern des Bundes und aller 16 Bundesländer — Übereinstimmung haben, daß wir im Asylrecht und in der Asylpolitik zu europäischen Lösungen kommen müssen.Ein wesentliches Ziel unserer Verfassungsdebatte wird es zum dritten sein, für die uneingeschränkte Erhaltung der föderativen Elemente in unserem Staatswesen Sorge zu tragen. Gerade die europäische Einheit verlangt nach starken Regionen. Die Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Länder hatten hierzu im Zuge des deutschen Einigungsprozesses bedeutsame Vorschläge unterbreitet. Hintergrund ihrer Forderungen sind nicht zuletzt die zunehmenden Kompetenzübertragungen auf die europäische Ebene, die durch verstärkte innerstaatliche Einflußmöglichkeiten ausgeglichen werden sollen. Diese Postulate enthalten ein ernst zu nehmendes Anliegen, wobei ich andererseits nicht verhehlen möchte, daß etwaige Verfassungsänderungen nicht solche Neugewichtungen herbeiführen dürfen, die den Prozeß der europäischen Integration wesentlich erschwerten oder ihn gar an formalen Hürden scheitern ließen.Ich bin zum vierten gegenüber der Aufnahme neuer Staatszielbestimmungen in unser Grundgesetz wesentlich zurückhaltender. Die Verankerung des Umweltschutzes möchte ich von diesem Bedenken ausdrücklich ausnehmen. Die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen als Basis der vielfältigen Antworten auf die ökologische Herausforderung sollte in breitem Konsens ausdrücklich festgeschrieben werden. Die Koalition hat dazu bereits in der vergangenen Legislaturperiode entsprechende Vorschläge eingebracht.Aber anders steht es bei den übrigen Diskussionspunkten. Mit einem Verfassungsbekenntnis zu einem Recht auf Arbeit oder einem Recht auf Wohnung ist noch kein Wirtschaftsunternehmen gegründet und noch kein dauerhafter Arbeitsplatz geschaffen worden.
Es wurde noch keine neue Wohnung damit gebaut und auch keine alte Wohnung saniert. Die Verfassung ist nicht der richtige Ort für die Konkretisierung der vielfältigen sozialstaatlichen Aufgaben; denn hier muß der Gesetzgeber stets neue und vor allem präzise Antworten auf die sich ständig verändernden Herausforderungen finden.Das Vorhaben wird auch nicht durch die Versicherung, man denke ohnehin nicht an die Fixierung einklagbarer Rechte, besser. Das Grundgesetz ist eine normative Verfassung, unverbindliche Deklamationen und Programmsätze sind dem Grundgesetz fremd. Und dies sollte so bleiben.
Wir sollten nicht in den Fehler von Weimar zurückfallen, die Verfassung mit lyrischen Bekundungen anzureichern, die sich im Ernstfall als leere Worte erweisen müssen. Der Staat würde sich mit derartigen Zielbestimmungen im übrigen nur Ansprüche und Erwartungen aufbürden, die er gar nicht erfüllen kann. Programmsätze und Staatsziele wie das Recht auf Arbeit können falsche Erwartungshaltungen befördern. Der Staat unseres Grundgesetzes kann nicht alles. Im Interesse der Freiheit ist er eine Ordnung der Selbstbestimmung. Im übrigen zeigt ja gerade die Erfahrung mit der früheren DDR, daß ein Staat, der alles können will, für seine Bürger letztlich wenig Gutes zu leisten imstande ist.
Anlaß und Rahmen der Debatte um unsere Verfassung bestimmen oder sollten auch die Instrumente bestimmen, die für eine sachgerechte Beratung der Änderungsvorschläge einzusetzen sind. Der Antrag der SPD möchte mit einem dreigliedrigen Verfahren einen Verfassungsrat, die parlamentarischen Körperschaften und schließlich das Volk entscheiden lassen. Ich möchte diesem Antrag widersprechen, weil er den Vorschriften unseres Grundgesetzes und auch dem Auftrag des Einigungsvertrages letztlich nicht entspricht.
Herr Minister, es gibt zwei Wortmeldungen zu Zwischenfragen. Wollen Sie die zulassen?
Bitte sehr.
Herr Kollege Weiß, bitte.
Herr Bundesminister, Sie haben sich mehrfach auf den Art. 5 des Einigungsvertrages bezogen. Darf ich Sie daran erinnern, daß es Sinn eben jenes Art. 5 war, die Möglichkeit offenzulassen, in einem späteren Verfahren die Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger der damals noch bestehenden DDR in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland einzubringen? Würden Sie meine Auffassung teilen, daß es eine erneute Rücksetzung der Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland bedeuten würde, wenn man sie von diesem Prozeß der Diskussion über eine erweiterte Verfassung und von der Mitwirkung an der Entscheidung über eine solche Verfassung ausschließen würde?
Herr Kollege Weiß, der Sinn des Art. 5 des Einigungsvertrages ist ein wenig anders, als Sie das eben hier vorgetragen haben. Ich habe es ausgeführt. Ich kenne ihn relativ genau, denn ich habe ein wenig mit seiner Formulierung zu tun gehabt.Der Sinn des Art. 5 ist, daß wir eine Reihe von möglicherweise notwendigen Grundgesetzänderungen damals nicht beschließen wollten. Deshalb haben wir gesagt: Das sollen die gesetzgeberischen Körperschaften des vereinten Deutschland alsbald danach machen. An diesen gesetzgebenden Körperschaften — Bundestag und Bundesrat — wirken die Vertreter der Menschen in den fünf neuen Ländern genauso gleichberechtigt mit wie die Vertreter der elf alten Länder. Es gibt überhaupt keinen Unterschied. Zwischen Ihrer Mitwirkungsmöglichkeit in diesem Bun-
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäubledestag und meiner Mitwirkungsmöglichkeit in diesem Bundestag gibt es überhaupt keinen Unterschied. Dies wird auch so bleiben. Allerdings werden Sie auch nicht einen höheren Grad der Mitwirkungsmöglichkeiten bekommen können als ich, sondern eben denjenigen, den uns die Wähler zugemessen haben.
Herr Minister, die zweite Zwischenfrage möchte gerne Herr Kollege Dr. Seifert stellen.
Herr Minister, Sie sprachen von Staatszielen, die Sie nicht gerne im Grundgesetz verankert haben möchten. Wie stehen Sie zu solchen Staatszielen mit Verfassungsrang wie dem Recht auf selbstbestimmtes Leben und dem verfassungsrechtlichen sanktionierten Verbot von Diskriminierung?
Herr Kollege Seifert, ich habe ausgeführt, daß ich von Staatszielen und Programmsätzen, die nicht justitiabel sind, in unserem Grundgesetz wenig halte, weil wir mit der normativen Verfassung, mit der Verfassung, die regelt, was sie regeln will, und die nicht aufnimmt, was sie nicht regeln will, gut gefahren sind. Wir haben in unserem Grundwertesystem — ausgehend von dem Schutz der Menschenwürde über das allgemeine Freiheitsrecht bis hin zum Gleichheitssatz des Art. 3 — ein sehr viel feineres System für das Leben in selbstbestimmter Würde und für die Nichtdiskreminierung, als Sie es mit irgendwelchen unverbindlichen Programmsätzen formulieren könnten. Damit sind wir wirklich besser gefahren, so ist meine sorgfältig begründete Überzeugung, als wir mit der Formulierung von unverbindlichen Programmsätzen fahren würden. Deswegen bin ich in der Tat gegen die weitere Aufnahme solcher Sätze, die das Normengefüge unseres Grundgesetzes am Ende nicht positiv, sondern allenfalls nachhaltig negativ beeinflussen könnten.
Nun, Herr Präsident, möchte ich gerne noch einmal zu begründen versuchen, warum ich denke, daß der Antrag der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion unserem Grundgesetz und auch dem Auftrag des Einigungsvertrages letztlich nicht so ganz gerecht wird. Schon der Ausdruck „Verfassungsrat" entstammt ja dem Begriffsarsenal für die Umschreibung einer originären verfassungsgebenden Gewalt. Ich denke, daß auch die vorgeschlagene hohe Zahl seiner Mitglieder Assoziationen zu den Debatten des Parlamentarischen Rats herstellen soll. Ein derartiges, letztlich außer- oder überparlamentarisches Organ wäre wohl nur für die Neuschöpfung einer Verfassung angemessen. Im Rechtsstaat des Grundgesetzes sind Verfassungsänderungen ausschließlich den gesetzgebenden Körperschaften Bundestag und Bundesrat vorbehalten. Hierdurch wird die Verfassungskontinuität hergestellt und bewahrt.Die vorgeschlagene Konstruktion kann auch nicht dadurch verbessert werden, daß dem Verfassungsrat die parlamentarischen Körperschaften nachgeschaltet werden sollen. Denn der Schwerpunkt der Beratungen soll ja nach den Vorstellungen der SPD beim Verfassungsrat liegen, und das Parlament muß sich unzweifelhaft mit dessen Vorschlägen befassen, worin eine Einschränkung oder auch Aushebelung des Initiativrechts des Hohen Hauses läge.Dies gilt auch dann, wenn Bundestag und Bundesrat nicht auf bloße Ja-oder-Nein-Entscheidungen in der Sache verwiesen wären und nicht die Ergebnisse des Verfassungsrats nur noch formal abzusegnen hätten.Deswegen halte ich im letzten die vorgeschlagene Mischform für mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, jedenfalls nicht ohne eine Grundgesetzänderung. Der Verfassungsrat ist, zumindest außerhalb des Verfahrens nach Art. 146, kein legitimer Bestandteil der Staatsgewalt nach Art. 20 Abs. 2 unserer Verfassung.Wir können übrigens dem Organ Bundesversammlung, dessen verfassungsmäßige Zuständigkeiten sich auf die Wahl des Bundespräsidenten beschränken, nicht durch einfachen Beschluß weitere Aufgaben übertragen. Jede Eingrenzung des Initiativrechts — wie sie schon durch eine Pflicht zur Befassung mit den Vorschlägen des Verfassungsrates entsteht — würde gegen Art. 76 Abs. 1 des Grundgesetzes verstoßen.Ich finde im übrigen, Frau Däubler-Gmelin, daß wir uns nicht schon jetzt, am Anfang der Verfassungsdiskussion, auf die Volksabstimmung festlegen sollten, sondern daß wir es bei dem belassen sollten, was wir im Einigungsvertrag einvernehmlich formuliert haben, nämlich daß wir prüfen und am Ende dieser Diskussion darüber entscheiden werden, ob wir eine solche Abstimmung durchführen sollen; wobei ich sogleich hinzufüge: Unser Grundgesetz weist kein Legitimationsdefizit auf.
Es ist die allseits anerkannte Grundordnung unseres Volkes, zu der wir uns im Westen in vielen Wahlen und im Gebiet der neuen Länder in der im Beitritt gipfelnden Entwicklung bekannt haben. Deswegen meine ich, daß wir jedenfalls nicht der Begründung eines Mangels an Legitimation die Frage einer Volksabstimmung nach Art. 146 am Ende unseres Diskussionsprozesses entscheiden sollten.Dagegen paßt sich der Antrag der Koalitionsfraktionen in die Struktur unseres Grundgesetzes und auch in die Vorgaben des Einigungsvertrags ein. Deswegen empfehle ich Ihnen, diesen Antrag anzunehmen.Die Verfassungsdebatte, die wir nun beginnen, wird uns höchste Sorgfalt abverlangen. Es wird gelten, Bewährtes und Erprobtes zu bewahren, bei den gebotenen Änderungen und Ergänzungen die Strukturen unseres Grundgesetzes zu erhalten und unserer Verantwortung gegenüber den großen Aufgaben und Herausforderungen der Zukunft gerecht zu werden. Dieser Auftrag kann nur dann gelingen, wenn wir die Bereitschaft zum behutsamen Ausloten der Einzelaspekte und zum sachgerechten Kompromiß mit Grundsatztreue zu vereinen wissen. Die Grundord-
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäublenung unserer staatlichen Gemeinschaft ist zu wertvoll, als daß sie durch parteipolitischen Streit oder parteipolitisches Profilierungsbedürfnis beschädigt werden darf.Ich setze auf die Gemeinsamkeit der Demokraten.In diesem Sinn freue ich mich auf eine interessante und fruchtbare Verfassungsdiskussion.
Das Wort hat jetzt unser Kollege Wolfgang Thierse.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor zwei Wochen habe ich an einer Fernsehdiskussion über die Hauptstadtfrage teilgenommen. Nachdem die Kameras abgeschaltet waren, ging die Diskussion hitzig weiter. Ein bekannter westdeutscher Fernsehjournalist warf mir, nein, den Ossis überhaupt moralische Arroganz vor und sagte dann wörtlich: Wir Westdeutschen haben 40 Jahre lang alles richtig gemacht; es gibt keinen Anlaß, irgend etwas Grundsätzliches zu ändern.
— Herr Herles. — Ich glaube, ich fürchte, diese Haltung, die sich in einer solchen Äußerung verrät, der erhitzten Debatte sicher geschuldet, ist, weniger heftig, weniger drastisch, durchaus verbreitet. Ich bin sicher, nachdem ich Herrn Scholz und Herrn Kleinert und auch Sie, Herr Schäuble, gehört habe.Was hat diese Beobachtung mit unserem heutigen Thema zu tun? Es geht darum, ob wir begreifen, daß die deutsche Einigung die Chance und die Verpflichtung zur demokratischen Selbstprüfung, zur Vergewisserung enthält und zu einem Neuanfang.
Das Grundgesetz ist in den vergangenen 40 Jahren zahllos häufig mehr oder minder kleinen oder größeren Änderungen unterworfen worden. Wann, wenn nicht jetzt aus Anlaß der deutschen staatlichen Einigung, wäre der Anlaß, grundsätzlich darüber nachzudenken, wie dieses Deutschland, dieses nunmehr neu vereinigte Deutschland verfaßt sein soll, welche gemeinsamen und welche in 40 Jahren getrennten geschichtlichen Erfahrungen in die Wertegrundordnung des gemeinsamen Staates einfließen sollen. Denn eine Verfassung ist auch eine Fixierung von Werten, auf die man sich einigt. Wann, wenn nicht jetzt, muß aus dem provisorischen Grundgesetz eine Verfassung werden?Ich will darüber reden, warum für uns, die Hinzugekommenen, eine wirklich umgreifende Verfassungsdiskussion von geradezu existentieller demokratischer Bedeutung ist. Vorweg: Ich empfinde es als durchaus zynisch, wenn aus der Tatsache, daß die staatliche Einigung nach Art. 23 des Grundgesetzes vollzogen worden ist, abgeleitet wird, wir hätten denAnspruch auf eine Verfassungsdiskussion eben durch diesen Weg verwirkt.
Gewiß, wir haben diesen Weg als den realistischsten Weg angesehen und beschritten, nicht zuletzt aus Einsicht in die eigene Schwäche, d. h. die ökonomische und damit politische Schwäche des damals noch real existierenden Staates DDR, zumal gemessen an der Stärke der damals noch existierenden BRD. Aber damit haben wir doch nicht den Wunsch und den Anspruch aufgegeben, unsere Erfahrungen und Vorstellungen in den gemeinsamen Staat und seine Verfassung einzubringen, damit und weil diese Verfassung dann kein provisorisches Grundgesetz mehr sein kann und soll. Deshalb sind die entsprechenden Passagen im Art. 5 des Einigungsvertrages vereinbart worden, an denen nicht nur Sie, Herr Schäuble, sondern auch ein paar Sozialdemokraten, Herta DäublerGmelin und Hans-Jochen Vogel, mitgewirkt haben.„Wir sind das Volk", das war der wichtigste Ruf der Demonstranten im Herbst 1989, zumindest in den Monaten September bis November. Er artikulierte die Entschlossenheit, endlich, nach 40, nach 60 Jahren demokratische Selbstbestimmung erreichen zu wollen. In der späteren Losung „wir sind ein Volk" , ist diese Entschlossenheit zwar eher versteckt, aber doch nicht gänzlich verlorengegangen. Sie hat nur einen neuen Adressaten erhalten, in dem verzweifelt hoffnungsvollen Ruf nach gesamtdeutscher Solidarität. Dieser Ruf sollte nicht nur mit materiellen, mit sozialen Hilfeleistungen, mit Geld beantwortet werden, was ich wahrhaftig nicht geringschätze, im Gegenteil.Ohne materiellen, sozialen Ausgleich in Deutschland wird die Einheit mißlingen, aber sie wird auch mißlingen ohne politischen Ausgleich, ohne politische Gleichberechtigung. Das heißt, wir, die Bürger aus dem östlichen Deutschland, wollen die Chance haben, unsere Erfahrungen, unsere Verzweiflungen und Hoffnungen aus den letzten 40 Jahren mitzubringen, vor allem das, was wir selbst daraus an politischen, auch verfassungspolitischen Konsequenzen ziehen zu müssen meinen.
Wir wollen nicht mehr nur bedauert, bemitleidet, gelobt und schulterklopfend behandelt werden, sondern wir wollen endlich gehört werden, nicht als an etwas Fertiges so unendlich Gelungenes Angeschlossene, sondern als Gleichberechtigte, denen nicht etwas, sei es das Grundgesetz, geschenkt wird, sondern die am Werk der deutschen Einheit mitarbeiten wollen. Das heißt, eben auch an seiner Grundlage, der Verfassung.
Was bringen wir mit in eine Verfassungsdebatte? —Erstens. Einen großen — und dies nenne ich ausdrücklich am Anfang — Respekt vor dem Grundgesetz. Aus der Erfahrung von Unfreiheit, von politischer
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Wolfgang ThierseUnterdrückung und Rechtlosigkeit wissen wir, wie unendlich wichtig die Sicherung individueller Grundrechte ist, wie wichtig die Verankerung der Menschenrechte in der Verfassung ist. Ob eine Gesellschaft letztlich auf Recht aufgebaut ist oder politischer Willkür gehorchen muß — diesen gravierenden Unterschied haben wir am eigenen Leibe zur Genüge erfahren. Wir müssen darüber — auch nicht von Herrn Scholz — nicht belehrt werden.
Gerade deshalb haben wir ja ein so leidenschaftliches Interesse an Fragen der politischen Kultur, an Verfassungsfragen. Daß wir ehemaligen DDR-Deutschen unter das Dach des Grundgesetzes gekommen sind, halte ich keineswegs für ein Unglück, im Gegenteil. Aber ist das Grundgesetz, so wie es ist, schon die Antwort auf alle unsere Fragen? Ist unsere Erfahrung mit dieser Ankunft schon vollständig abgegolten?Zweitens. Diese Frage gilt auch für das, was ich als zweites Mitbringsel nennen möchte, nämlich unsere Erfahrung eines leidenschaftlichen Aufbruchs im Jahre 1989, einer Selbstbefreiung, ein Anlaß zu Selbstbewußtsein, den nicht nur ich, sondern eine nicht kleine, nicht unwichtige Minderheit in verschiedenen Parteien und in den Bürgerbewegungen in den neuen Ländern fast verzweifelt zu verteidigen versuchte. Es geht hier nicht so sehr um Emotionen, auch wenn es kostbare sind. Es geht auch nicht um Lyrik. Dabei füge ich nebenbei hinzu: Auch das Recht auf Eigentum kommt mir eigentümlich lyrisch vor; denn es sichert ja noch nicht jedem Eigentum.
Es geht hier nicht so sehr um Emotionen, sondern es geht um Dinge von Gewicht, die wir mitbringen; das positive Erlebnis von unmittelbarer Demokratie, von Basisdemokratie, die Wertschätzung der Demokratie der Straße, wie das manche abschätzig nennen, und, als gewichtiges Dokument, in das diese unsere Erfahrungen und wohl auch unsere Illusionen eingeflossen sind, den Verfassungsentwurf des Runden Tisches.
Eine Diskussion darüber sollte — ich bitte Sie — nicht einfach mit dem Hinweis auf die wohlgeübte Praxis der repräsentativen Demokratie und das bewährte Grundgesetz abgelehnt werden. Insofern bin ich von dem Bundeskanzler, aber auch von Herrn Kleinert und von anderen enttäuscht, die immer nur von gewissen Änderungen, die jetzt erlaubt seien, sprechen. Mehr wird nicht zugestanden.Drittens. Wir bringen auch ein schwieriges Erbe mit. Nach vierzig, nein nach sechzig Jahren Existenz in zwei unterschiedlichen Diktaturen, zuletzt in einem beängstigend vormundschaftlichen Staat, sind wir, sind viele Menschen im östlichen Deutschland auch innerlich vormundschaftlich geworden. Ich sage das ohne Vorwurf. Es gibt Demokratiedefizite. Es gibt Demokratieunsicherheiten. Es gibt Nachholbedarf und echten Lernbedarf, aber es gibt auch Hörigkeit, autoritäre Verhaltensweise und Charaktere en masse bei uns.Demokratie kann eben nur in und durch demokratische Praxis erlernt werden; durch die Erfahrung also, nicht mehr Objekt von Politik, sondern Subjekt von Politik sein zu können. Nicht diskussions- und revisionslose Überstülpung, sondern selbstbewußte Annahme der neuen politischen Ordnung ist deshalb die Aufgabe.
Die Diskussion über die gemeinsame Verfassung ist eine entscheidende Bedingung genau für die selbstbewußte Annahme der neuen politischen Ordnung.Viertens. Wir kommen aus einem System, das mit gutem Grund ökonomisch, politisch und ideologisch gescheitert ist. Viele empfinden sich deshalb auch selbst als Gescheiterte. Die gegenwärtige Situation in den neuen Bundesländern gibt nicht sehr viel Anlaß, daß sich die Ostdeutschen als wirklich Gleichberechtigte erfahren können. Das dürfte sich, realistisch betrachtet, so schnell nicht ändern. Der ökonomische und soziale Angleichungsprozeß wird lange dauern. Um so wichtiger ist es, in der politischen Kultur einen Raum der Erfahrung von Gleichberechtigung für uns, die Ostdeutschen, zu schaffen.
Die Art und Weise, ob und wie wir uns in eine Verfassungsdiskussion einbringen können, wird dafür eine Schlüsselerfahrung von positiver oder negativer Wirkung für die demokratische Zukunft Gesamtdeutschlands sein.Fünftens. Wir bringen die Erinnerung an eine auf gewiß problematische Weise erzeugte Erfahrung sozialer Grundsicherheit mit. Arbeitslosigkeit, Angst vor Mietsteigerung und Wohnungsverlust kannten wir nicht. Ich weiß: Der Preis dafür war sehr hoch. Aber trotzdem: Soziale Sicherheit hat als ein grundsätzlich positiver Wert bei uns einen ganz hohen Rang, ebenso die soziale und ökonomische Gleichberechtigung der Frau.Deshalb streben wir die Aufnahme des Rechts auf Arbeit, auf menschenwürdigen Wohnraum und die Verwirklichung von Gleichberechtigung als Staatszielbestimmung in eine neue Verfassung an. Das sind nicht einfach unverbindliche Setzungen, sondern es sind Grundorientierungen, Vororientierungen für jede aktuelle Politik und insofern sinnvoll.
Sechstens. Gelingende Demokratie, eine um unsere Erfahrungen bereicherte neue deutsche Demokratie, wird es nicht leicht haben angesichts der bedrückenden Tatsache, daß ihr Beginn im östlichen Deutschland begleitet, ja für viele geradezu verstellt ist von sozialen Umbrüchen und Zusammenbrüchen, von Ängsten und existentiellen Unsicherheiten. Vieles davon ist unvermeidlich, nicht alles.Es bedarf aber einer besonderen Anstrengung, die im problemreichen Übergang die Chance zur Identifi-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1735
Wolfgang Thiersekation mit der Demokratie eröffnet und sichert. Eine breite demokratische Verfassungsdiskussion wäre eine unwiederbringliche deutsche Möglichkeit genau dafür.
Wir dürfen diese Möglichkeit, die uns das Grundgesetz ja selbst anbietet, nicht ungenutzt lassen, damit der deutsche Einigungsprozeß, der ja noch lange nicht beendet ist, wie wir angesichts der erfahrenen Tiefe der ökonomischen, sozialen und menschlichen Spaltung in Deutschland sehen, nicht nur von einer unendlichen Kostendebatte begleitet wird, sondern in eine wirklich politische, eine Wertedebatte eingebettet ist und in eine erneuerte, vertiefte Demokratie mündet, deren Grundlage, die erneuerte Verfassung, in einer Volksabstimmung vom Souverän angenommen wird.
In der Losung: „Wir sind e i n Volk" ist der Anspruch des trotzigen Rufs „W i r sind das Volk" nicht gänzlich ausgelöscht, hoffe ich. Dieser Anspruch ist noch nicht eingelöst.
Das Wort hat jetzt der Innenminister des Freistaates Bayern, Herr Dr. Edmund Stoiber.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gerade auf das, was Herr Abgeordneter Thierse gesagt hat, paßt natürlich wieder der Eingangssatz: Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat sich in über 40 Jahren hervorragend bewährt. Es ist die freiheitlichste Ordnung der Geschichte Deutschlands. Wir brauchen deshalb keine neue Verfassung, die die bewährten Strukturen verändert.Der Beitritt der neuen Länder zur Bundesrepublik Deutschland — ich meine das, Herr Thierse, überhaupt nicht zynisch — war auch ein klares Bekenntnis zum Grundgesetz. Auch daraus entsteht die gemeinsame Verpflichtung, das geeinte Deutschland auf der Basis des bewährten Grundgesetzes aufzubauen.Diese Haltung muß sich auch in dem Verfahren widerspiegeln, das sich aus der Empfehlung des Einigungsvertrags ergibt, die mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu behandeln. Die Aufgabe, das Grundgesetz zu ändern oder zu ergänzen, ist gemäß dem Grundgesetz den Verfassungsorganen Bundestag und Bundesrat zugewiesen. Dieser Regelung entspricht der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf die Einsetzung eines Gemeinsamen Verfassungsausschusses.Genauso entschieden wende ich mich gegen ein außenstehendes Gremium, ob es nun Verfassungsrat oder wie auch immer heißen mag. Seine Mitglieder wären nicht dem gesamtdeutschen oder dem Gesamtinteresse verpflichtet und verantwortet. Sie würdensich in erster Linie den Interessen jener Gruppen verpflichtet fühlen, die sie repräsentieren. Sonderinteressen könnten in einem solchen Gremium zu Lasten des Gemeinwohls in den Vordergrund rücken. Ich bitte Sie, zu bedenken, was es bedeuten würde, Vorschläge eines Verfassungsrates zurückzuweisen. Zwangsläufig würde ein Legitimationskonflikt mit jenen heraufbeschworen, die ihre Interessen in dem Verfassungsrat besonders repräsentiert sehen. Das wäre für mich eine völlig unnötige und vermeidbare Belastung der anstehenden Verfassungsdiskussion.Dies schließt selbstverständlich nicht aus, den Kreis jener, die sich in der Verfassungsdiskussion repräsentiert fühlen, möglichst weit zu ziehen. Aber ich meine, dazu bedarf es keiner mediatisierten Gremien. Wichtig ist, daß Bundestag und Bundesrat, in deren Händen die Änderung und Ergänzung der Verfassung liegt, sich der ihnen gestellten Aufgaben bewußt und zu einer für alle Standpunkte offenen Verfassungsdiskussion bereit sind. Ein gemeinsamer, paritätisch besetzter Verfassungsausschuß von Bundestag und Bundesrat vermag das nach meiner Überzeugung zu leisten. Er verdient hierzu unsere volle Unterstützung.Ein solcher Ausschuß läßt auch keine Zweifel darüber aufkommen, wem die Verfassung die Verantwortung für die Änderung oder Ergänzung zuweist. Er macht deutlich, daß Verfassungsänderungen und -ergänzungen immer eine gesamtstaatliche Aufgabe von Bund und Ländern sind, und er ist schließlich imstande, die mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Verfassungsfragen umfassend und sachkundig zu erörtern. Die Länder — das zeigt die vom Bundesrat einberufene Kommission Verfassungsreform — sind zu einer außerordentlich breiten Diskussion bereit. Sie hat auf ihrer konstituierenden Sitzung am 19. April entschieden, sich nicht allein mit den Fragen des Föderalismus zu beschäftigen; sie hat einen eigenen Arbeitsausschuß zur Diskussion über weitere Grundgesetzänderungen eingerichtet.Ich sehe nicht — noch einmal an die Adresse der SPD — , wieso diese Gremien ihrem Auftrag nicht gerecht werden sollen und wieso nicht alle mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Verfassungsfragen unter Einbeziehung aller relevanter Standpunkte dort diskutiert werden können.Diese prinzipielle Offenheit für alle hier und jetzt relevanten Fragen darf allerdings nicht dahin gehend verstanden oder mißverstanden werden, als gelte es, nun eine neue Verfassung zu schaffen. Wir sind nicht zu einem Akt der Verfassungsgebung, sondern zu punktuellen Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes aufgerufen. Hierüber darf von Anfang an kein Zweifel bestehen. Wir sind es der Öffentlichkeit schuldig, zu sagen, worum es in den nächsten Monaten geht.Vieles von dem, meine sehr verehrten Damen und Herren, was wir in 40 Jahren in der alten Bundesrepublik erreicht haben, war nur möglich, weil wohlgeordnete Entscheidungsprozesse politische Stabilität garantierten, war nur möglich, weil ökonomische Entwicklungen in eine wohlbedachte rechts- und sozialstaatliche Verantwortung eingebunden waren. Gerade jetzt, wo die zu bewältigenden Aufgaben größer denn je sind, ist es wichtig, sich die bewährte Konti-
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1736 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Staatsminister Dr. Edmund Stoiber
nuität der Verfassung zunutze zu machen. Auf manches, was akademisch und politisch reizvoll erscheint, aber eben nicht erprobt ist, sollte daher gerade jetzt im gesamtdeutschen oder gesamtstaatlichen Interesse verzichtet werden. Die Größe der anstehenden Aufgaben mahnt zur Selbstbescheidung. Es ist nicht die Zeit für Experimente, insbesondere nicht für Ziele, die nicht erfüllt werden können.Sie werden sicher verstehen, meine Damen und Herren, daß ich in dieser Verfassungsdiskussion vor allen Dingen an die Stärkung der föderativen Elemente des Grundgesetzes denke. Die Chance zur Einheit in der Vielfalt — hierin sehe ich eine der großen Stärken föderalistischer Ordnung. Für die größer gewordene Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus auch für das zusammenwachsende Europa ist der Föderalismus der erfolgversprechende Weg. Ihn zu gehen setzt voraus, seinen brüchig gewordenen Fundamenten Halt zu geben.Meine Damen und Herren, das im Föderalismus liegende innovative Potential muß für die anstehenden Aufgaben der Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse stärker genutzt werden. Aber auch der Prozeß der europäischen Integration kann durch den Föderalismus gewinnen. Je stärker die Länder in die gesamteuropäische Verantwortung einbezogen oder eingebunden werden, desto stärker wird vor Ort das Gefühl und das Verständnis für die europäische Integration wachsen.Ich möchte im Zusammenhang mit dem Föderalismus auch ein Wort zu plebiszitären Elementen sagen, Frau Däubler-Gmelin. Plebiszitäre Elemente auf Bundesebene bedeuten selbstverständlich eine Einschränkung unserer föderativen Ordnung, weil Sie mit plebiszitären Elementen im Grunde genommen die Länder als Teil dieses Staates ausschalten. Darüber müssen Sie sehr ernsthaft nachdenken.
— Nein, das ist überhaupt kein Schwachsinn. In einem Zwei-Kammern-System bedeuten plebiszitäre Elemente natürlich auch mehr Zentralismus; das ist gar keine Frage. Sie haben dann nur noch ein einziges Entscheidungsgremium.
Gerade deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, müssen — um bei dem Gedankengang der europäischen Integration zu bleiben — vordergründig eingängige Forderungen wie z. B. die Einführung plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz — ich sage dies noch einmal — auf ihre Auswirkungen für die föderalistische Ordnung hin befragt und durchdacht werden.
Dabei wird sich sehr rasch zeigen, daß direkte demokratische Entscheidungen auf Bundesebene die föderalistische Ordnung grundlegend in Frage stellen, weil für eine Mitwirkung der Länder über den Bundesrat insoweit kaum mehr ein Spielraum bleibt. Mitdiesem Argument werden Sie sich auseinandersetzen müssen, ob Sie wollen oder nicht.Der Föderalismus muß als Kernstück unserer Verfassung weiterentwickelt und in einem geeinten Deutschland ausgebaut und gestärkt werden. Wir fordern mit gutem Grund ein föderalistisches Europa, ein Europa der Regionen. Wir wollen deshalb auch den Föderalismus in der Bundesrepublik erneuern.Die eigenstaatliche Kraft und das eigenstaatliche Gestaltungspotential der Länder haben aus vielfältigen Gründen über Jahrzehnte etwas an Gewicht verloren. Die eigentlich vom Grundgesetz in den Art. 70 ff. vorgesehene grundsätzliche Gesetzgebungskompetenz für die Länder hat sich in der Gesetzgebungspraxis umgekehrt. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes muß zugunsten der Länder wieder zurückgeführt werden. Der Bund muß sich in dieser Frage mehr Selbstbeschränkung auflegen.Wir denken darüber nach, wie die Länder stärker in die gesamtstaatliche Verantwortung im Bund eingebunden werden können, besonders im Hinblick auf die europäische Integration. Ich verweise hier beispielhaft — das ist in der Debatte schon gebracht worden — auf die Absicherung einer stärkeren Beteiligung der Länder bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen.Wenn wir heute, meine Damen und Herren, die europäische Politik nennen, dann ist das keine Außenpolitik mehr, sondern allenfalls europäische Innenpolitik. Wenn es aber europäische Innenpolitik ist, ist der Entscheidungsweg, wie er in Art. 24 vorgesehen ist und der die Länder von der Verantwortung ausschließt, auf die Dauer nicht mehr gangbar.
Deswegen: Je stärker die Länder in die gesamteuropäische Verantwortung eingebunden werden, desto stärker wird auch vor Ort das Gefühl und das Verständnis für die europäische Integration wachsen.Natürlich ist es nicht nur die Stärkung des Föderalismus, die uns als eine der Verfassungsfragen im Zusammenhang mit der deutschen Einigung zu beschäftigen haben wird. Jede Verfassung bringt die Werte zum Ausdruck, denen sich das von ihr geordnete Gemeinwesen verpflichtet fühlt. Nun sind 16 Millionen Deutsche mit eigenen Erfahrungen und Erwartungen hinzugekommen. Auch ihren Wertvorstellungen muß eine Verfassung, die für alle gelten will, Rechnung tragen. Ich will damit nicht in Frage stellen, daß die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger in der ehemaligen DDR für den Beitritt auch und vor allem eine Entscheidung für die freiheitliche rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes war. Dennoch muß eine Verfassungsordnung gelebt und konkret erfahren werden, um wirklich angenommen zu werden. Damit ist zwar in erster Linie die praktische Politik gefordert, aber eben nicht nur sie. Das Grundgesetz muß auch aus sich heraus vermitteln, wofür es steht. Es muß dies so tun, daß jeder die Chance hat, sich mit seinen Wertvorstellungen in ihm wiederzuerkennen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1737
Staatsminister Dr. Edmund Stoiber
Hierin liegt die identitätsstiftende Integrationskraft einer Verfassung.Wir werden uns deshalb fragen müssen, ob die Verfassung in dem einen oder anderen Punkt an Überzeugungskraft gewinnen kann, wenn einzelne Politikbereiche ausdrücklich Erwähnung finden. Allerdings sollte dabei alles darangesetzt werden, den Eindruck zu vermeiden, als könne auch nur eine Wohnung oder ein Arbeitsplatz mehr geschaffen werden, wenn man sich in der Verfassung ausdrücklich zu einer Politik bekennt, die doch ohnehin selbstverständlich sein sollte.Die Verfassung schafft nur den Rahmen für praktische Politik, sie ersetzt sie jedoch nicht. Wer einen anderen Eindruck erweckt, der schadet der Integrationskraft der Verfassung und gefährdet ihre befriedende Funktion, weil er falsche Hoffnungen und Erwartungen über das erweckt, was eine Verfassung zu leisten imstande ist.Wenn wir — ich bin, was die Staatszielbestimmungen anbelangt, so skeptisch wie der Bundesinnenminister — über das Für und Wider von Staatszielen diskutieren, dann sollte niemand von uns der Versuchung erliegen, zu behaupten, es gehe dabei um die Frage, ob man sich mit bestimmten Inhalten praktischer Politik identifiziere oder nicht. Die Aufnahme von Staatszielen entscheidet sich am Funktionsverständnis der Verfassung und nicht an der Bereitschaft, sich zu bestimmten Inhalten praktischer Politik zu bekennen. Ich verhehle nicht, Frau Däubler-Gmelin: Auch Ihre Bemerkung im „Spiegel" hinsichtlich der Einklagbarkeit von Staatszielen zeigt mir, daß Sie unter einem Staatsziel etwas völlig anderes verstehen als im Grunde genommen all diejenigen, die bereit sind, über Staatsziele zu reden.Meine Damen und Herren, so ist es auch richtig, die unterschiedlichen Meinungen zum Für und Wider einer Volksabstimmung über das geänderte und ergänzte Grundgesetz auszutauschen. Es sollte nur niemand von uns so tun — das habe ich in dieser Debatte wieder gespürt — , als sei hier nur eine Lösung, als sei hier nur diese Lösung, die Lösung der Volksabstimmung, zum Wohle der Sache denkbar.Wer möchte ernsthaft bezweifeln, daß dem Grundgesetz in 40 Jahren gelebter Verfassungswirklichkeit nicht jene Legitimation zugewachsen ist, die eine erfolgreiche Verfassung auszeichnet? Das schließt sicher eine Volksabstimmung nicht aus, zeigt jedoch, daß es in der Diskussion über sie nicht um eine Conditio sine qua non geht.Ich sehe überhaupt eine der großen Herausforderungen in der anstehenden Verfassungsdiskussion darin, ob und inwieweit es uns gelingen wird, sie mit dem gebotenen Ernst und der gebotenen Sachlichkeit zu führen. Es würden sich viele Fragen ergeben, auf die unterschiedliche Antworten möglich sind. Wie wir mit diesen Differenzen umgehen und wie wir sie verstehen, meine Damen und Herren, wird viel zur politischen Kultur in unserem Lande beitragen.Danke schön.
Jetzt hat der Kollege Dr. Willfried Penner das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Daß wir überhaupt über Sinn und Notwendigkeit einer Überarbeitung des Grundgesetzes nachdenken, ist unverhofftes Glück genug, weil dies untrennbar mit der Vereinigung beider Teile Deutschlands verknüpft ist. Gewiß, schon in der Vergangenheit hat es Ergänzungen und Veränderungen des Grundgesetzes gegeben; es sind wohl 36 Zusätze im Laufe der Zeit geworden. Für manche sind sie sogar zu reichhaltig ausgefallen. Die deutsche Vereinigung ist jedoch Anlaß für Überlegungen prinzipieller Art.Die Sozialdemokraten sind der Überzeugung, daß das Bonner Grundgesetz im Laufe der vergangenen Jahrzehnte längst zur Verfassung geworden ist und damit den Charakter des Provisoriums verloren hat. Die Bürgerinnen und Bürger haben das Grundgesetz als ihre eigene Magna Charta akzeptiert.
Es ist eine tiefe Verbundenheit der Bürgerinnen und Bürger mit dem Grundgesetz gewachsen. Diese Bindung müssen wir bewahren und dürfen wir nicht achtlos abtun, weil es ein hohes Gut zum Schutz der Demokratie ist.
Der Beitritt der früheren DDR zur Bundesrepublik hat daran nichts geändert. Ganz im Gegenteil: Es ist ja nicht die rechtliche Konsequenz des Beitritts nach Art. 23 des Grundgesetzes allein, die ein Ja zum Grundgesetz generell einschließt. Diese Entscheidung der Volkskammer war von breitester Zustimmung der Menschen in der zu Ende gehenden DDR getragen.
Das darf den Blick nicht dafür verstellen, daß politische Erwartungen in der ehemaligen DDR zum Teil weit über die Möglichkeiten des Grundgesetzes hinausgehen. Ich denke hierbei an das Erlebnis der Wirksamkeit der direkten Demokratie, die über die ebenso friedlichen wie machtvollen Demonstrationen in Leipzig, Berlin, Dresden, Magdeburg, Rostock und anderswo den Wandel mit erzeugt hat. Aber direkte plebiszitäre Demokratie ist nicht der Baustoff des Grundgesetzes.In Übereinstimmung mit vielen Menschen in der DDR macht die SPD jedoch den Vorschlag, die Bonner Verfassung um plebiszitäre Elemente zu ergänzen, ohne den bewährten Kern des repräsentativen Ansatzes in Frage stellen zu wollen. Bei aller verständlichen und vielleicht auch gebotenen Vorsicht bei diesem Thema darf man die Augen nicht davor verschließen, daß die repräsentative Demokratie unseres Zuschnitts über das unvermeidbare Maß hinaus Abnutzungserscheinungen zeigt, die sich, wie ich meine, besorgniserregend in zunehmendem Desinteresse an öffentlichen Angelegenheiten bis hin zur Wahlverweigerung, ja zur Wahlgleichgültigkeit zeigt. Es muß also der Versuch gemacht werden, dieses Interesse
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1738 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Dr. Wilfried Pennerwieder zu wecken, z. B. durch verstärkte Berücksichtigung des Wählerwillens zwischen den Wahlterminen.
Anders als andere sehe ich dabei nicht so große Möglichkeiten bei der Mitwirkung bis hin zur Mitentscheidung bei konkreten politischen Fragen. Ich glaube, daß da mehr verheißen würde, als es der Sache, insbesondere dem Werben um Bürgersinn nämlich, guttäte. Aber beraten sollte man allemal darüber, auch deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, weil wir das denen schuldig sind, die ihren höchst persönlichen Anteil daran haben, daß die vielbeschworenen und vielzitierten Brüder und Schwestern aus der Zeit der Teilung Mitbürgerinnen und Mitbürger in einem vereinten Deutschland werden können.
Diese Menschen haben begreiflicherweise den Wunsch, daß diese Monate erlebter und gelebter direkter Demokratie nicht nur Episode bleiben, sondern in einer Verfassung für ein ganzes Deutschland verbrieft und abrufbar werden.
Soll man sie deshalb tadeln? Soll man ihnen den Dialog verweigern? Es ist ihr Rat, es sind ihre Erfahrungen, die sie einbringen wollen. Die Andersmeinenden unter uns haben nicht das Recht, dieses Angebot auszuschlagen.
Meines Erachtens ist allerdings ein anderer Aspekt beim Thema plebiszitäre Elemente in unserer Verfassungsordnung nicht unwichtig. Ich meine, die Bürgerbeteiligung bei wichtigsten Aufgaben der Parteien. Unter dem Schutzschirm des Art. 21 des Grundgesetzes, der erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte die Rolle der Parteien in eine Verfassung übernimmt, die Mitwirkung der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes statuiert, haben sich die Parteien zu Kernbereichen lupenreinen repräsentativen Demokratieverständnisses entwickelt.Zudem ist zu beobachten, daß dieses weit über die von der Verfassung eingeräumten Mitwirkungsmöglichkeiten hinausgeht und mehr und mehr, wie ich meine, fälschlich, als Alleinbestimmungsrecht verstanden wird. Das schadet der Demokratie. Die Parteien sollen und müssen Träger der Demokratie sein, während nicht etwa umgekehrt die Demokratie zum Tragpfeiler der Parteien verkümmern darf.
Die Parteien müssen weg von politikerstickender Förmelei, die auch etwas mit den Folgen der staatlichen Finanzierung und der daraus resultierenden Rechenschaftspflicht zu tun hat. Bei den Kandidatenaufstellungen für öffentliche Mandate müßte zumindest das Parteivolk mehr und verstärkt mitwirken können,als es das vielfach praktizierte, mehrfach geschichtete indirekte Delegiertenprinzip zuläßt.
Auch bei Listenvorschlägen sollte es künftig mehr Gestaltungsmöglichkeiten als das bisher übliche Ja/ Nein zu Listenplätzen geben.
Die Parteien sind in einer modernen Demokratie wichtig und als Organisationsangebote unverzichtbar. Partei nehmen, parteiisch sein ist gelebte Demokratie. Verfechter der Überparteilichkeit, ja Gegner von Parteien generell sind häufig nur dürftig verkleidete Lobbyisten am Rande oder jenseits der Demokratie.
Aber was den Detaileifer mancher Parteitage zu Sachproblemen angeht, so glaube ich nicht, daß dies dazu beiträgt, die Vorbehalte der Bevölkerung zu überbrücken. Der Parlamentarismus droht Schaden zu nehmen, wenn die Gefahr besteht — dies ist nicht von der Hand zu weisen —, daß die Parlamentarier als Befehlsempfänger direkt nicht faßbarer Befehlsgeber erscheinen.Ich bleibe dabei: Die Parteien sollten die große Chance zu mehr plebiszitären Möglichkeiten nutzen. Es darf nicht dazu kommen, daß die Parteien zu gesetzlich autorisierten Legitimationsapparaten für immer weniger Menschen bei ständig abnehmender Bürgerberührung versteinern.
Manche haben sich daran gestoßen, andere sogar sozialistische Gespenster gesehen, weil die SPD zum Thema soziale Grundrechte Aussagen gemacht hat, etwa zum Recht auf Arbeit oder zum Recht auf Wohnen. Wir meinen, wir sind es den Bürgerinnen und Bürgern schuldig, daß sich eine verfassungsgebende Versammlung um diese Grundpositionen bemüht. Wenn so viele Menschen wie jetzt in den fünf neuen Bundesländern arbeitslos sind und es noch mehr werden können — 30 bis 50 % Arbeitslosigkeit in den fünf neuen Bundesländern ist leider keine Schwarzmalerei, sondern eher bittere Realität —, dann geht es nicht mehr um Sozialhilferecht, um Arbeitsförderung, um Arbeitslosenunterstützung, den Fächer unseres Sozialrechts allein, dann steht die Grundordnung des Gemeinwesens auf dem Prüfstand und damit die Statik des Sozialstaatsgebotes unseres Grundgesetzes.
Um des öffentlichen Wohls willen, weil es um eine möglichst breite staatstragende Schicht auf der Grundlage einer soliden sozialen Absicherung geht, müssen wir offen sein für Präzisierungen des Sozialstaatsgebotes des Grundgesetzes, damit es verstärkt gesellschaftliches wie staatliches Handeln bestimmen kann.Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich meine, daß das Überdenken von Verfassungswirklichkeit im Umfeld von Grundrechten auch aus einem anderen Grund nötig ist. In jüngster Zeit hat sich nach
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1739
Dr. Willfried Pennermeiner Überzeugung eine Schieflage zugunsten früherer Eigentümer an Grund und Boden in der früheren DDR ergeben. Ich kann das so nicht akzeptieren. Haben nicht viele Menschen unter dem unsäglichen SED-Regime leiden müssen, eine unwiederbringliche Spanne ihres Lebens unter ihm zubringen müssen und damit Beschädigungen ihrer Menschenwürde und ihres Rechts auf freie Persönlichkeitsentfaltung hinnehmen müssen? Ist es denn gerecht, daß sie dafür entweder gar nicht oder nur höchst unzulänglich entschädigt werden können? Ist es gerecht und entspricht es der Wertordnung des Grundgesetzes, dies den Betroffenen als unabänderlich zuzumuten und nur die ursprünglichen Eigentümer von Immobilien voll zu berücksichtigen, obwohl sich dies investitionshemmend auswirkt und damit erneut belastend auf immateriell Betroffene wirkt?Nicht zu vergessen ist der nicht kleine Kreis von DDR-Grundstückseigentümern, der ohnehin schon auf vielfältige Weise bisherige Vergünstigungen der alten Bundesrepublik hat in Anspruch nehmen können.Nein, so war es nicht gedacht, daß die noch durch das Gemeinwohl gebändigte Eigentumsgarantie des Art. 14 derart massiv die Persönlichkeitsrechte der Art. 1 und 2 dominiert und überlagert. Wir Sozialdemokraten werden das nicht als gottgegeben hinnehmen können.
Was Rolle und Bedeutung der drei Gewalten angeht, so steht ebenfalls nicht alles zum besten. Gewiß, wer die Daseinsvorsorge des Staates wie wir bejaht, muß auch starke Verwaltungen wollen. Aber ist es in Ordnung, daß die Exekutive so mächtig geworden ist, und zwar auch im Verhältnis zur Legislative und zur Rechtsprechung? Von den Schwierigkeiten der Legislative, des Parlamentarismus, war an anderer Stelle schon die Rede.Probleme der Rechtsprechung gibt es nicht minder. Wo bleibt die friedensstiftende Funktion des Rechts, wenn der Richterspruch viel zu spät kommt, wie es bei uns leider eher die Regel geworden ist? Ist der ausufernde Rechtswegestaat, so wie er sich bei uns entwickelt hat, wirklich ein legitimes Kind des Rechtsstaats? Ermöglicht diese Form des Rechtsstaats nicht vielfach schon heute rechthaberische Prinzipienreiterei? Haben wir genug unternommen, um in unserem Rechtswesen wirklich Chancengleichheit durchzusetzen?Um noch einmal auf Macht und Einfluß der Exekutive zurückzukommen: Dem politischen Europa wird es nicht gut bekommen, wenn es ein Kunstgebilde der Exekutive ohne demokratische Fundamentierung bleibt.
Der Hinweis auf die Ermächtigung des Grundgesetzes, nach dem der Bund Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen darf, nützt da wenig. Es geht ja längst nicht mehr um Teilakte allein, die durch eine Ermächtigungsvorschrift demokratischlegitimiert erscheinen mögen. Längst verschieben sich die politischen Gewichte mehr und mehr von Bonn nach Brüssel. Mit der Konkretisierung des politischen Europas verliert außerdem die bei uns seit Jahrzehnten bewährte Dreiteilung der öffentlichen Verantwortung in Bund, Länder und Gemeinden ihre ursprüngliche Bedeutung. Der politische Rang der europäischen Regionen, die in Deutschland Länder heißen, wächst, und er muß in einem vereinten Europa verfassungsrechtlich festgeschrieben werden. Die Gemeinden können bei einem immer rechtseinheitlicheren Großraum Europa nicht auf ein nationales Selbstverwaltungsrecht allein verwiesen werden. Das heißt, weil Länder, Städte und Gemeinden immer wichtiger werden, gehören die diesbezüglichen Grundentscheidungen des Bonner Grundgesetzes, die ja unter den Bedingungen reiner Nationalstaatlichkeit getroffen worden sind, auf den Prüfstand.Um beim Thema Europa zu bleiben — ich sehe leider Herrn Stoiber nicht mehr — :
Wollen Sie — besonders Sie von der CDU/CSU — weiter gegen ein kommunales Wahlrecht auch nur für EG -Ausländer sein? Das Bundesverfassungsgericht, das Sie in dieser Frage bemüht haben, hat dem Souverän, dem Parlament, die Legitimation dafür nicht abgesprochen. Deshalb laden wir ein, die dafür notwendigen Voraussetzungen in der Verfassung zu schaffen.
Und noch eines sollte bei der politischen Architektur für ein geeintes Deutschland nicht übergangen werden. Ich denke an die Verankerung des Berufsbeamtentums. Wem das öffentliche Wohl am Herzen liegt und wer die schätzenswerten Dienste des Berufsbeamtentums erhalten will, kommt an einer Bestandsaufnahme des Art. 33 Grundgesetz und seiner monströsen Konkretisierungen in Gesetzen, Verordnungen und Rechtsprechungen nicht vorbei.
Wir brauchen den öffentlichen Dienst, wir brauchen das Berufsbeamtentum bei hoheitlichen Tätigkeiten mit Eingriffsbefugnissen. Wir brauchen keine privilegierte Kaste auf Kosten anderer, die es nach meinen Wahrnehmungen in wichtigen Bereichen des öffentlichen Dienstes auch nicht gibt.Ein neuer Dialog zur Finanzverfassung ist erf orderlich. Es kann so nicht weitergehen, daß der Bund zunehmend Gesetze beschließt, für die die Länder finanziell geradestehen müssen, ohne vom Bund entsprechend ausgestattet zu sein. Übrigens gilt das nicht nur für die Länder, sondern auch für Städte und Gemeinden. Es widerspricht dem sinnvollen Prinzip von Eigenverantwortung, daß heute kein Land der Bundesrepublik mehr finanzielle Eigenautonomie hat.Wie gesagt, wir Sozialdemokraten sehen also — derzeit vielleicht noch mehr als andere — die Notwendigkeit zu mehr grundlegenden Beratungen über unsere Verfassung; von den Wegen ist hier die Rede gewesen. Über unsere Vorschläge werden wir disku-
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1740 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Dr. Willfried Pennertieren müssen. In einem Punkt gibt es für uns Sozialdemokraten jedoch kein Rütteln und kein Deuteln: Die Verfassung muß vom Volk selbst und nicht von seinen Mandatsträgern beschlossen werden.Schönen Dank für die Geduld.
Das Wort hat jetzt unser Kollege Dr. Paul Laufs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktionen dieses Hauses sind bei der Anpassung der deutschen Verfassung an die Erfordernisse der Zukunft aufeinander angewiesen. Man mag es beklagen und bedauern: Keine Seite kann ihren Willen der anderen aufzwingen. Es versteht sich in einer Koalition auch von selbst, daß Verfassungsänderungen gegen den Koalitionspartner zwar zahlenmäßig, aber nicht politisch denkbar sind. Wir sollten deshalb pfleglich miteinander umgehen.Jede Seite muß sich Rechenschaft darüber geben und herausarbeiten, was ihr nicht abverlangt werden kann, auch nicht im Rahmen von Paketlösungen, wie man etwas flapsig zu sagen pflegt. Manche Wünsche werden am Einspruch der anderen Seite scheitern. Deshalb ist es nicht unwahrscheinlich, daß sich die Änderungen insgesamt eher auf das unverzichtbar Notwendige beschränken werden. Ein breit angelegter Verfassungsrat zur Vorbereitung der Verfassungsänderungen jedenfalls würde mehr Erwartungen wecken, als er je erfüllen könnte.
Meine Damen und Herren, natürlich sind wir gefordert: Die Verwirklichung der Europäischen Union und Art. 5 des Einigungsvertrages nehmen uns in die Pflicht. Der Konsens erscheint bei einigen Anliegen naheliegend, so etwa bei der Neugliederung des Raumes Berlin-Brandenburg sowie bei geringfügigen Korrekturen an Ländergrenzen; so etwa bei der Frage der Selbstauflösung des Deutschen Bundestages, bei der Aufnahme der Staatszielbestimmung Umweltschutz, vielleicht auch bei der Klarstellung hinsichtlich des Bundeswehreinsatzes zur Sicherung einer friedlichen Ordnung im Rahmen der Vereinten Nationen, falls diese Klarstellung erforderlich ist.Eine schwierige Aufgabe wird die Wegbereitung für die Europäische Politische Union sein, die der föderalen Struktur der Bundesrepublik gerecht wird.Ein dringliches Anliegen der Union ist im europäischen Zusammenhang die Harmonisierung des Asylrechts, für die nach unserer Auffassung eine Verfassungsänderung unumgänglich ist.Einer Weiterentwicklung des Grundgesetzes mit einer fundamentalen Neuorientierung, wie sie der SPD-Antrag mit einer Fülle neuer Staatszielbestimmungen vorsieht, steht die Union ablehnend gegenüber. Die Forderung nach Grundrechten etwa auf Arbeit und Wohnung und die daraus abgeleitete Forderung nach vom Bürger einklagbaren Staatsprogrammen für Wohnungsbau, Beschäftigung, für Umweltschutz,Gleichstellung der Frau usw. atmen den Geist sozialistischer Staatsgläubigkeit,
den Geist, der doch weltweit und dramatisch Schiffbruch erlitten hat. Meine Damen und Herren, wir wollen keine andere Republik.
Der SPD-Antrag läßt in seiner Begründung anklingen, daß eine neue Verfassung unter Anwendung des Art. 146 und im Rahmen einer Volksabstimmung geschaffen werden könnte. Mit dem letzten Artikel des Grundgesetzes, Art. 146, hat der Parlamentarische Rat an die Präambel unserer Verfassung angeknüpft und einen Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands eröffnet, den er damals für politisch wahrscheinlicher ansah als den Beitritt der sowjetisch besetzten Teile Deutschlands nach Art. 23 des Grundgesetzes. Mit dem Einigungsvertrag haben sich die frei gewählte Volkskammer und der Deutsche Bundestag sowie der Bundesrat auf die verfassungsrechtliche Kontinuität des Grundgesetzes für ganz Deutschland festgelegt.Herr Kollege Thierse, wie kommen Sie dazu, es als zynisch zu bezeichnen, wenn wir feststellen, daß das Grundgesetz die gemeinsame Verfassung der Deutschen seither ist? Im Prozeß der Einigung war es allgemeiner Konsens, keine das ganze Volk repräsentierende Nationalversammlung wählen und keine neue gesamtdeutsche Verfassung beraten und beschließen zu lassen. Die im Einigungsvertrag angedeuteten Grundgesetzänderungen müssen vielmehr von den bestehenden Staatsorganen der Bundesrepublik unter den Bindungen des Art. 79 des Grundgesetzes vorgenommen werden. Das ist bei der Beratung von Art. 5 des Einigungsvertrages im Ausschuß Deutsche Einheit ausdrücklich so festgestellt worden. Es ist erstaunlich, wenn die Kollegin Frau Däubler-Gmelin dies heute ganz anders darstellt.Der Zweck des Art. 146 des Grundgesetzes hat sich durch die Ereignisse erschöpft. Er muß gestrichen werden. Die im Grundgesetz begründeten Verfassungsorgane sind jedenfalls nicht ermächtigt, das Grundgesetz aufzuheben, damit eine andere Verfassung Geltung erlangen kann.Auch die Bundesversammlung, wie es der SPD-Antrag vorsieht, kann das nicht leisten. Das hätte vielmehr im Zug der Wiedervereinigung das ganze deutsche Volk direkt und unmittelbar eben durch die Wahl einer verfassungsgebende Versammlung so bestimmen müssen.Wenn Art. 146 zur geschichtlichen Makulatur geworden ist, so gilt das auch für die in ihm enthaltene Möglichkeit, die Verfassung zum Gegenstand einer Volksabstimmung zu machen. Die CDU/CSU sieht im übrigen an unserem Grundgesetz kein historisches Defizit an Legitimation.Ich muß Herrn Kollegen Thierse um Verständnis dafür bitten, wenn ich sage, daß seine betont wiederholte Charakterisierung des Grundgesetzes als eines Provisoriums für viele Kolleginnen und Kollegen recht
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1741
Dr. Paul Laufsschmerzlich ist. Eine gute Verfassung zeichnet sich durch ihre Beständigkeit aus.
Sie soll über einen langen Zeitraum hinweg eine verläßliche Grundordnung sicherstellen. Das Grundgesetz hat sich über 40 Jahre nun wirklich bewährt. Diese Erfahrung können nun allerdings die Menschen in den neuen Bundesländern so nicht unmittelbar teilen.Wir verstehen die Kollegen aus den neuen Bundesländern, wenn sie einen Neubeginn mit einer neuen Verfassung wünschen, um so der wiedererlangten Einheit für eine gemeinsame Zukunft einen neuen Grund zu legen. Viele neue Bundesbürger sind bewegt von der tief erlebten und erlittenen Erfahrung des Aufbruchs zu Demokratie und Freiheit in der Revolution gegen die menschenverachtende Diktatur. Die Menschen haben den Unterdrückern auf Straßen und Plätzen mit ihrem Freiheitswillen widerstanden und sich durchgesetzt. Es gibt aus dieser Erfahrung heraus den Wunsch — das sehen auch wir — , die unmittelbare Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung durch Volksbegehren und Volksentscheide im Grundgesetz zu verankern, wie dies etwa im Verfassungsentwurf des Runden Tisches vorgesehen war. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Für eine Verfassungsdiskussion sind wir alle selbstverständlich offen.Plebiszite haben im kommunalpolitischen, überschaubaren Bereich ihre Berechtigung. Die Erfahrungen mit Plebisziten in einer komplexen, vielschichtig verflochtenen Welt sind aber ausgesprochen schlecht. Sie haben sich in der Weimarer Demokratie nicht bewährt.
Ich bezweifle, ob sie auf landespolitischer Ebene, wo immer sie heute veranstaltet werden, so gut sind, daß man sie für die Bundespolitik einführen sollte. Man kann z. B. nicht jedermann vor die Entscheidung über komplizierte abfallrechtliche oder energiepolitische oder gar steuerrechtliche Regelungen stellen.Der Philosoph Hermann Lübbe hat dieser Tage gesagt, daß es noch nie eine Zivilisation gegeben habe, die ihre Lebensgrundlagen weniger verstanden hätte als unsere eigene. Es gebe keinen Zweifel, daß ein Grund für die wachsende emotionale Distanz des Bürgers gegenüber seinen technisch-industriellen Lebensgrundlagen derjenige sei, daß der Bürger das erforderliche Maß an Kapazität für die zu verarbeitende Informationsfülle nicht mehr aufbringen könne. In modernen hochkomplexen Gesellschaften nimmt die Neigung zu einer Nein-Danke-Haltung bei den zu einer Entscheidung gedrängten Bürgern zu. Es ist kein Nein der begründeten Ablehnung, sondern ein Nein der Urteilsenthaltung gegen die Überforderung der eigenen Urteilskraft.
Wer in dieser Situation über Volksentscheide der Allgemeinheit die Verantwortung für die Regelung kompliziertester Sachverhalte übertragen will, muß wissen, daß er mit immer schlechter werdenden Bürgerbeteiligungen immer stärker unter den Einfluß derMeinungsführer in den Massenmedien gerät, die übrigens jeglicher demokratischer Kontrolle entzogen sind.
Darüber, Herr Kollege Penner, werden wir uns kritisch auseinandersetzen müssen.Die CDU/CSU begegnet mit großer Skepsis den Vorschlägen, neue plebiszitäre Elemente in das Grundgesetz einzuführen. Die repräsentative Demokratie hat sich wahrlich bewährt. Wir sollten sie nicht in Frage stellen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat unser Kollege Dr. Burkhard Hirsch das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist, finde ich, von großer symbolischer Bedeutung, daß eine Verfassungsdebatte, die binnen zwei Jahren die Konsequenzen aus der Wiedervereinigung Deutschlands ziehen soll, im ehrwürdigen Gebäude des alten Reichstags beginnt und, so hoffe ich, auch hier mit einer breiten Mehrheit abgeschlossen werden kann. Das muß man wohl zu manchen Blütenträumen und manchen Gespensterbeschwörungen sagen, die wir gehört haben: Am Ende dieser Debatte wird die Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat stehen. Das wird manche Hoffnungen dämpfen und nicht nur die Frage nach der Berufung unserer Zeit zur Gesetzgebung aufwerfen.Die Verfasser des Grundgesetzes wollten keinen neuen Staat schaffen, sondern das an staatlicher Selbständigkeit wahrnehmen, was ihnen die Besatzungsmächte anboten. Ihre berühmte Formel, das deutsche Volk bleibe „aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden", spiegelt die politische Not der dramatischen Jahre 1948 und 1949 wider ebenso wie der die Verfassung abschließende Artikel 146, der festlegt, daß eine Verfassung vom deutschen Volk in freier Selbstbestimmung beschlossen werden möge.In den letzten vierzig Jahren haben wir aber auch erkannt, daß das oft bemäkelte Grundgesetz, als „Juristengesetz", als „rückwärts gewandt", als „von den Besatzungsmächten oktroyiert" bezeichnet, eine außerordentliche Lebenskraft bewiesen hat. Es ist nicht nur eine geschriebene Verfassung, sondern es befindet sich offenbar auch in Übereinstimmung mit dem Lebensgefühl, mit der Verfassung, in der wir uns selbst befinden. Das Grundgesetz ist einfach gut! Es ist so gut, daß es nicht nur alle Angriffe seiner Gegner hat abwehren können, sondern sogar alle Versuche, es durch Einschränkungen der in ihm garantierten Freiheiten verteidigen zu wollen, doch Gottlob nahezu unbeschadet überstanden hat.
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1742 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Dr. Burkhard HirschDas Grundgesetz ist den neuen Ländern auch nicht übergestülpt worden, sondern es ist von einem frei gewählten Parlament angenommen worden. Es ist keinesfalls so, wie der Kollege Thierse meinte sagen zu sollen, daß damit das Recht, über Verfassungsrevisionen zu debattieren, aberkannt worden sei. In keiner Weise! Hier in diesem Hause sind nahezu 140 Abgeordnete aus den neuen Ländern, die in derselben Weise wie wir an einer Verfassungsdebatte teilnehmen.Wir glauben nicht, daß unsere Verfassung durch eine Totalrevision verbessert werden könnte oder verbessert werden müßte. Darum ist auch der Gedanke einer Verfassungsversammlung nicht überzeugend. Warum sollte sie als nicht nur einfach mittelbar gewählte, sondern mehrstufig mittelbar gewählte Versammlung eine größere Legitimation haben, als sie die unmittelbar gewählten Verfassungsorgane unseres Staates besitzen?
Sie würde falsche Vorstellungen davon erwecken, was von uns tatsächlich zu leisten ist.
Kollege Dr. Hirsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber natürlich.
Bitte sehr, Frau Dr. Däubler-Gmelin.
Herr Kollege Dr. Hirsch, es wäre mir arg, wenn die wichtigen Elemente eines Verfassungsrates von Ihnen ausschließlich auf diesen, wie ich finde nicht einmal wichtigen Nebenaspekt konzentriert würden. Ich habe deshalb die Frage, ob Sie sich nicht damit befreunden können, daß beim Verfassungsrat außer Abgeordneten des Bundestages und Mitgliedern von Landesregierungen sowohl Abgeordnete der Länderparlamente als auch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die weder Bundestags- noch Bundesratmitglieder sind, teilnehmen können? Hielten Sie das nicht für richtig?
Zu der Frage der Beteiligung, zu der Öffnung dieses Gremiums für andere Personen, die Sie vorschlagen, werde ich noch kommen. Ich bin nicht der Meinung, daß es in Klausur tagen sollte. Aber ich frage mich wirklich, wieso die von Ihnen vorgeschlagene Verfassungsversammlung, gewählt von der Bundesversammlung, eine größere Legitimation als die Abgeordneten dieses Hauses,
die unmittelbar vom Volk gewählt worden sind, und als die Regierungen der Länder, die nach unserer Verfassung unmittelbar in den Bundesrat entsandt worden sind, haben sollte.
Was wir brauchen ist eine Adjustierung, eine Vergewisserung darüber, welche Änderungen sich aus der heutigen Lebenswirklichkeit in den 16 Ländern der Bundesrepublik und aus dem weiteren Zusammenwachsen Europas zwingend ergeben, ohne daß der Grundkonsens unserer Verfassung verändert wird. Wir wollen ihn erhalten, wir wollen ihn nicht gefährden.
Die inhaltlich zu begrenzende Arbeit soll nach unserer Vorstellung ein viel kleiners Gremium leisten, in dem Bundesrat und Bundestag in gleicher Weise vertreten sind. Natürlich, Frau Däubler-Gmelin, soll es nicht in Klausur tagen. Natürlich muß es in der Lage sein, jeden Sachverstand zu mobilisieren und anzuhören, den es für notwendig erachtet. Natürlich müssen auch Repräsentanten aus den neuen Bundesländern gehört und beteiligt werden. Aber sie haben in Ansehung einer Verfassung, die für alle gelten soll, nicht mehr und nicht weniger Rechte als die Bürger aus den alten Bundesländern auch, die zwar keine Revolution gemacht, aber unsere Verfassung doch vierzig Jahre mit Leben erfüllt haben. Die Vertreter der Bürger der neuen Bundesländer sind ebenso wie die Vertreter der alten Bundesländer in diesem Parlament und erfüllen hier ihre politische Aufgabe, die Interessen ihrer Wähler wahrzunehmen. Wir schaffen das nur gemeinsam oder gar nicht. Da gibt es keine Prioritäten der Herkunft. Wir sollten selber dazu beitragen, die Mauer in den Köpfen endlich abzutragen und sie nicht immer erneut zu beschwören.
Herr Dr. Hirsch, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Frau Dr. Däubler-Gmelin?
Natürlich.
Herzlichen Dank, daß Sie mir nochmals die Gelegenheit geben, bevor Sie beim nächsten Punkt sind, auf die Frage des Verfassungsrats — nicht: der Verfassungsversammlung — einzugehen, Herr Hirsch.
Könnten Sie akzeptieren, daß es nicht eine Frage von Legitimation ist — das wurde nie behauptet —, auch nicht eine Frage von öffentlichem Tagen oder Anhören, sondern eine Frage der Mitgliedschaft mit allen Rechten und Pflichten; und sind Sie nicht der Meinung, daß dies bei der Ausarbeitung von Vorschlägen einer gesamtdeuschen Verfassung viel für sich hat?
Sie kennen den Vorschlag, den wir gemacht haben. Es kommt darauf an, ein Gremium zu schaffen, das die höchstmögliche Gewähr dafür bietet, daß am Ende Lösungen vorgeschlagen werden, die in diesen Häusern eine Zweidrittelmehrheit gewinnen. Sie müssen dafür allerdings die Möglichkeit haben, jeden Sachverstand zu mobilisieren, den sie zur Erfüllung dieser Aufgabe für notwendig halten. Diese Möglichkeit wird gegeben.Im Einigungsvertrag sind die notwendigen Punkte der notwendigen Adjustierung genannt: das Verhältnis von Bund und Ländern, die Staatszielbestimmungen, der Föderalismus, die Frage einer Volksabstimmung, die in Art. 5 des Einigungsvertrags erwähnt ist. Man kann das erweitern.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1743
Dr. Burkhard HirschStärkung der Rechte der Abgeordneten in der parlamentarischen Demokratie: Hier müssen wir einmal fragen, woher die Diskussion über plebiszitäre Elemente kommt. Hierin machen es sich alle, die an dieser Debatte teilnehmen, nach unserer Überzeugung zu leicht. Es gibt Volksabstimmungen in fast allen Bundesländern. Es gibt sie in den Gemeinden, ohne daß die parlamentarische Welt daran zerbrochen wäre.
Aber man muß sich auch einmal mit der Verfassungswirklichkeit dieser Volksabstimmungen und ihrer Ergebnisse befassen und sich fragen, welche Wirkungen sie denn haben, wenn die Wahlbevölkerung aufgerufen wird, zu einem einzelnen Punkt mit der vereinfachten Antwort Ja oder Nein antworten zu müssen. Darüber muß man sich einmal unterhalten; auch darüber, wie es denn kommt, daß viele Menschen den Eindruck haben, daß sie von der Massivität der Parteien, von ihrer Hierachisierung, auch von der Hierarchisierung dieses Parlaments, nicht mehr so vertreten werden, wie sie es für richtig halten.
Wenn man an diese Wurzel herangehen will, lautet die Frage zunächst, was wir in unserem eigenen Arbeitsstil ändern müssen, welche Möglichkeiten und welche Rechte der einzelne Abgeordnete in diesem Parlament bekommen muß.Erleichterung der Neugliederung; verfassungsrechtlicher Verzicht auf ABC-Waffen; eine Definition möglicher Aufgaben der Bundeswehr im Rahmen der Vereinten Nationen einschließlich der dabei unerläßlichen parlamentarischen Entscheidungen: Ich warne die konservative Seite dieses Hauses, hier den Eindruck zu erwecken, es sei eine Art Courtoisie und nicht ein verfassungsrechtliches Gebot, daß man dann, wenn man die Bundeswehr zu anderen Auf gaben als zur Verteidigung einsetzen will, eine Verfassungsänderung benötigt. Natürlich braucht man sie.
Natürlich ist sie ein zwingendes politisches und rechtliches Erfordernis. Ich warne Sie, die Öffentlichkeit und sich selber darüber täuschen zu wollen.
— Möglicherweise Teile der Finanzverfassung. Natürlich muß darüber gesprochen werden.Ich will der Versuchung widerstehen, zu den einzelnen Punkten hier und jetzt inhaltlich Stellung zu nehmen, ebenso zu einigen weiteren Reizthemen. Wir schließen die Debatte ja heute nicht ab, sondern wir beginnen sie erst, und am Ende sollen breite Mehrheiten stehen. Darauf muß der Themenkatalog begrenzt bleiben. Muß es wirklich mehr sein? Davon müßten wir überzeugt werden.Das Ziel ist nicht, politische Träume bei dieser Gelegenheit endlich unterzubringen. Das Ziel ist, zu korrigieren, wo es notwendig ist. Das Ziel ist, die vorhandene Übereinstimmung unserer Gesellschaft mit unserer Verfassung zu erhalten, und nicht etwa, sie einer Belastungsprobe zu unterziehen. Am Ende aller dieser Bemühungen muß eine Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat stehen. Das zwingt zur Zurückhaltung, das zwingt zum Kompromiß. Ich werbe dafür, daß am Ende unserer Erörterungen und Beschlüsse schließlich die Verwirklichung des Art. 146 unserer Verfassung steht: die Bestätigung der Verfassung durch das Volk in freier Entscheidung.
Lassen Sie uns auf dieser Grundlage vollenden, was vor 42 Jahren begonnen wurde!
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Möller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Beitritt der früheren DDR zum Staat des Bonner Grundgesetzes ist der wohl sichtbarste Ausdruck der Erfolgsgeschichte unserer Verfassung, die man mit Fug und Recht, wie es auch eben geschehen ist, die deutsche Magna Charta der Freiheit nennen darf. Dieses Grundgesetz ist die beste und freiheitlichste Verfassung, die es je auf deutschem Boden gegeben hat. Auch das ist eben in verschiedenen eindrucksvollen Reden bekräftigt worden.Unser Grundgesetz hat sich bewährt und ist allgemein anerkannt und akzeptiert.Das Grundgesetz ist die jetzt voll legitimierte deutsche Verfassung. Es hat kein demokratisches Defizit. Im Gegenteil: Die Bestimmung in Art. 146 besagt gerade, daß das Grundgesetz die nach „Vollendung der Einheit und Freiheit" gültige Verfassung Deutschlands ist.Das ist ein Zitat vom Bremer Senator für Justiz, Volker Kröning, das wir voll unterstützen und dem wir uneingeschränkt zustimmen.Gleichwohl gibt es durch Art. 5 des Einigungsvertrages und darüber hinaus Anlaß und Stoff für Klarstellungen und Anpassungen in unserer Verfassung. Einige Punkte möchte ich aus meiner Sicht erwähnen.Erstens. Das oberste und beherrschende Prinzip des Grundgesetzes ist in Art. 1 Abs. 1 dargestellt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. " Dieser Artikel findet seine logische Ergänzung in Art. 2 Abs. 2, wo es heißt: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit." Der Mensch, der hier gemeint ist, beginnt nicht erst mit der Geburt. Da dies immer wieder in Zweifel gezogen oder verdrängt wird, sollte geprüft werden, ob im Grundgesetz klargestellt werden muß, daß auch das ungeborene Leben den uneingeschränkten Schutz unserer Verfassung genießt. Das Gleiche gilt für das kranke und behinderte sowie für das verlöschende Leben, denn Leben ist Leben und steht unter dem Schutz des Grundgesetzes. Nach dem Entstehen und vor dem Vergehen eines Lebens ist der
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Dr. Franz MöllerSchutz jedes Menschen uneingeschränkt und ungeteilt zu gewähren.
Zweitens. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sollte daraufhin überprüft werden, ob es notwendig ist, seine herausgearbeiteten Grundsätze zu den Freiheitsrechten, etwa zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung, in den Verfassungstext zu übernehmen, aber dann mit einem etwas besseren Begriff. Die Urteile über den Datenschutz sollten sorgfältig aufbereitet werden.Drittens. Wir müssen auch prüfen, ob und in welcher Weise den Gefahren neuer Technologien verfassungsrechtlich begegnet werden muß.Viertens. Die Freiheit des Individuums ist in eine rechtliche und soziale Ordnung eingebunden, deren Struktur ganz wesentlich durch die Soziale Markwirtschaft geprägt ist, die auf Freiheit und auf soziale Verpflichtung gleichermaßen aufgebaut ist. Unsere sozial verpflichtete Marktwirtschaft hat sich bewährt und ihre Anziehungskraft bewiesen.Bisher ist, wie das Bundesverfassungsgericht meint, die Soziale Marktwirtschaft aber im Grundgesetz nicht festgeschrieben. Das Grundgesetz sei wirtschaftspolitisch neutral, so heißt es. Die Verfassungswirklichkeit sieht jedoch anders aus. Die Soziale Marktwirtschaft hat sich längst als die Wirtschaftsform schlechthin etabliert. Durch den Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 1. Juli 1990 wurde die Soziale Marktwirtschaft deshalb auch in der früheren DDR eingeführt. Auf der KSZE-Konferenz über wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa im Frühjahr 1990 und in der Charta von Paris im Herbst 1990 haben sich 35 Staaten uneingeschränkt zur Sozialen Marktwirtschaft bekannt und sie zur Leitlinie ihrer Politik gemacht. Deshalb wird es höchste Zeit, Verfassung und Verfassungswirklichkeit in Einklang zu bringen. Marktwirtschaft ist die wirtschaftliche Ausfüllung der Staatsform Demokratie, wie wir sie jetzt erleben.Demokratie und Marktwirtschaft gehören notwendigerweise zusammen. Freiheit ist ein zentraler Wert unseres Grundgesetzes. Freiheit ist auch ein zentraler Wert jeder Marktwirtschaft, die durch das Sozialstaatsprinzip ergänzt und umgrenzt wird. Deshalb muß auch die Wirtschaftsform der Sozialen Marktwirtschaft in das Grundgesetz aufgenommen und dauerhaft verankert werden.Meine Damen und Herren, in den Beratungen des Verfassungsausschusses wird die Union das Grundgesetz offensiv verteidigen und nur dort Änderungen zulassen, wo sie sich als notwendig erwiesen haben, damit das Grundgesetz bleibt, was es ist, nämlich eine hervorragende Verfassung auch für die Zukunft.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unsere Kollegin Angelika Barbe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die aktuelle Diskussion, wie sie sich heute hier in der Frage bezüglich derEinsetzung eines Verfassungsrats zeigt, macht ganz deutlich: Verfassungsfragen sind Machtfragen.Besonders deutlich wird das in der Art und Weise, wie über die Änderung der Verfassung diskutiert wird. Es wird gesagt: Das ist die beste Verfassung, die wir je hatten. Dabei sind inzwischen über 38 Änderungen vollzogen worden.
Es werden Befürchtungen laut, daß über den Verfassungsrat gleichberechtigt vielleicht eigene Gedanken von Ländervertretern, von Bürgerrechtlern, von Wissenschaftlern und von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in die Beratungen eingebracht werden. Es wird behauptet: Das sind keine arbeitsfähigen Gremien, und Parlamentarier aus unseren eigenen Reihen, die Parlamentarier vom Bündnis 90, werden zu Beratern degradiert.Ich verstehe das sehr wohl. Damit sind natürlich Befürchtungen dahin verbunden, daß sozialstaatliche Elemente in die Verfassung aufgenommen werden könnten, die als hemmend für die Entfaltung der Marktkräfte und damit als Bedrohung des Status quo angesehen werden könnten.Ich denke beispielsweise an die Reaktion auf die Verfassung vom Runden Tisch oder an die Sozialcharta.Die Forderungen, die dort erhoben worden sind, nämlich ein Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung, ein Recht auf menschenwürdigen Wohnraum, ein Recht auf Aus- und Weiterbildung, weitergehende Demokratisierung des Arbeitslebens und die Grundsicherung, sind Bedürfnisse, die wir Menschen im Osten haben und die Sie ablehnen.Die andere Frage, das Recht auf Eigentum, betrifft Ihre Bedürfnisse. Das verstehen wir sehr gut.Ich möchte auch auf Herrn Scholz eingehen. Er sagte, man brauche keine neue Verfassung, und man wolle deshalb auch keine neue Verfassung. Ich sage dagegen: Wir im Osten brauchen die neue Verfassung. Wir wollen sie auch. Bei uns spielen andere Bedürfnisse eine Rolle.Sie behaupten, das Sozialstaatsprinzip sei meisterhaft gestaltet. Ich will versuchen, das zu widerlegen. Wenn man sich das Grundgesetz ansieht, dann stellt man fest, daß drei Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes ganz wichtige Bestimmungen sind: Demokratie, Rechtsstaat und Bundesstaat. Dies sind Leitprinzipien, die für die Umgestaltung wichtig waren. Das Sozialstaatspostulat wurde aber vernachlässigt.Bei der Analyse stellt sich heraus, daß das Prinzip des Rechtsstaats damals ganz bewußt aus der Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur entwickelt wurde. Auch für uns im Osten Deutschlands, die wir die Rechtsstaatlichkeit vermißt haben, hat die Sicherung der Rechtsstaatlichkeit besondere Bedeutung. Ich unterstreiche den hohen Respekt vor dem Grundgesetz, den Wolfgang Thierse hier angesprochen hat. Denn die klassischen Freiheitsrechte wie die Versammlungs- und die Meinungsfreiheit haben wir
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Angelika Barbe40 Jahre lang vermißt. Das hat auch verhindert, daß es im Osten zu einer Demokratie kommen konnte.Aber — es fehlen die sozialen Grundrechte. Die sind Ihrer Meinung nach schwer einklagbar und schwerer einzuhalten. Ich verstehe darunter aber auch Ihre Furcht vor Veränderungen der Machtverhältnisse. Das ist durch diese Argumente auch ausgedrückt worden.Ich möchte ein paar Prinzipien ansprechen, die für uns im Osten ganz wichtig sind. Wenn das Prinzip der rechtlichen, gleichen Freiheit für alle — gleichzeitig mit ökonomischer Herrschaft von Marktwirtschaft gekoppelt ist — besteht immer die Gefahr, daß es zu besitzabhängiger sozialer Ungleichheit und damit zu sozialer Unfreiheit kommen kann.Wir haben aber im Osten nicht nur die Gefahr, sondern wir haben drüben die Wirklichkeit: die Arbeitslosen und die Sozialhilfeempfänger, denen die Freiheit jetzt überhaupt nichts nützt.Deshalb sind gezielte staatliche Gegenwirkungen nötig; um die vom Rechtsstaat gewährte individuelle Freiheit und rechtliche Gleichheit überhaupt für Menschen erlebbar zu machen. Die sozialen Errungenschaften von Marktwirtschaftssystemen sind doch politisch errungen worden. Denken wir nur an die Kämpfe der Gewerkschaften, die das ja mitbewirkt haben.Wenn jetzt Freiheit hoch geschätzt wird, gleichzeitig aber auch vielgestaltiges wirtschaftliches Leben als Voraussetzung von Freiheit zugelassen sein muß, so frage ich mich nach den Erfahrungen des letzten Jahres bei uns im Osten, welche gleichen Chancen denn für jeden vorhanden sind. Wo oder inwieweit findet denn Wettbewerb überhaupt statt? Es gibt eine ungerechte Verteilung von Einkommen und Produktivvermögen. Das macht die Startbedingungen im Wettbewerb erst einmal gar nicht für alle gleich. Es macht sie extrem ungleich. Ich denke an die Verteilung öffentlicher Aufträge, die im Augenblick alle zugunsten der Westbetriebe erfolgen, zuungunsten der Ostbetriebe.Ich zitiere Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes: „Der Staat hat die Pflicht, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen. " Das ist aber nur eine Postulatform. In Art. 20 und 28 reicht das nicht aus, sondern es ist ein bindendes eindeutiges Sozialstaatsmodell notwendig. Es sollte in einer zukünftigen Verfassung verankert sein.
Im Zusammenhang mit dem Anspruch eines jeden Menschen auf Achtung und Schutz seiner Persönlichkeit und Privatheit muß auch das Recht eines jeden einzelnen auf Einsicht in seine eigenen persönlichen Daten und auf Einsicht in die ihn betreffenden Akten in der zukünftigen Verfassung verankert sein. Ich denke hier besonders an das Stasi-Aktengesetz. Täglich rufen etliche Bürger bei mir an oder schreiben mir und fordern genau dies, nachdem sie 40 Jahre lang Drangsal erdulden mußten.Ein weiteres Problem ist die Gleichstellung der Frau in allen Bereichen von Gesellschaft und Staat.Auch dies bedarf einer Regelung in der Verfassung. Dazu gehört auch das Recht der Frau, selbst über die Fortsetzung der Schwangerschaft zu entscheiden, und gleichzeitig die Verpflichtung des Staats, werdendes Leben durch das Angebot sozialer Hilfen zu schützen.
In der Debatte muß bedacht werden, ob Frauen in der DDR bisherige Rechtspositionen überhaupt genommen werden dürfen; denn es gibt einen Bestandschutz für gewachsene Rechtsverhältnisse, auf denen Millionen von Lebensentwürfen aufgebaut worden sind. Auch dies alles muß in einer Verfassungsdebatte Berücksichtigung finden.Als Ostparlamentarier in der Opposition bin ich nach leidvoller Erfahrung zu der Überzeugung gelangt, daß die parlamentarische Demokratie gestärkt werden muß, und zwar nicht nur all jene Formen, die den direkten Einfluß des Volkes auf die Willensbildung des Staates erhöhen — ich denke hier an Volksbegehren und Volksbefragungen, sondern ich denke vor allem auch an das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung. Da muß etliches neu geregelt werden, und zwar mit dem Ziel, die Informations- und Kontrollrechte des Parlaments zu stärken.
Es hätte nicht zu dem Skandal zu kommen brauchen, daß das Bundesministerium des Innern den Parlamentariern den Gauck-Bericht über de Maizière vorenthalten hat und wir dann alle die Daten aus dem „Spiegel" erfahren haben.An den Schluß meiner Rede möchte ich ein Zitat von Gustav Heinemann stellen, das uns, die wir in einem Unrechtsstaat groß geworden sind und leben mußten, beim Kampf um unsere Rechte weiterhelfen wird. Gustav Heinemann sagte: Das geschriebene Recht ist die Magna Charta des kleinen Mannes. — Dieses Recht haben wir als Interessenvertreter der Bürger für alle Bürger und nicht nur für mächtige Lobbyisten politisch durchzusetzen.Danke schön.
Meine Damen und Herren, nunmehr hat das Wort unser Kollege Norbert Geis.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Barbe, das Recht auf Leben sagt etwas aus über das Gemeinwesen, und das Recht auf Leben und auch das Recht des ungeborenen Menschen auf Leben markiert das Maß der Menschlichkeit in einem Gemeinwesen. Unser Grundgesetz hat hier eine eindeutige Entscheidung getroffen. Wir sollten daran nicht rütteln.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich ein Wort zu den plebiszitären Elementen sagen, die heute schon oft angesprochen worden sind. Ich bin nicht der Auffassung, daß der Volksentscheid
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1746 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Norbert Geisvom 17. Februar dieses Jahres in Bayern ein Mehr an Demokratie gezeigt hat, einmal, weil sehr wenige daran teilgenommen haben, zum anderen, weil die, die zur Entscheidung gegangen sind, über einen Sachverhalt haben entscheiden müssen — über zwei Gesetzesvorschläge — , von dem sie — dessen bin ich sicher, und ich trete dabei keinem zu nahe — nicht allzuviel begreifen konnten, weil der Sachverhalt so schwierig gewesen ist.Die angelsächsischen Demokratien sowohl in England als auch in den USA kennen plebiszitäre Elemente nicht. Der berühmte englische Verfassungshistoriker Sir Charles Pètrie schreibt in einer großen Abhandlung darüber, daß die Plebiszite oftmals der Durchsetzung ausgesprochen undemokratischer Ziele dienen, und er hat deshalb solche Plebiszite abgelehnt.Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, der von Ihnen ebenso wie von uns hochgeschätzte und unvergessene Staatsrechtslehrer und Bundesverfassungsrichter Gerhard Leibholz hat in einer frühen Abhandlung schon 1928 — und er hat daran festgehalten — plebiszitäre Elemente in einer Demokratie abgelehnt.Der Parlamentarische Rat hat, wie Sie wissen, nicht an die Tradition der Weimarer Verfassung angeknüpft, sondern er hat gerade aus dieser Erfahrung heraus plebiszitäre Elemente in das Grundgesetz nicht aufgenommen. Theodor Heuss warnte während der Beratungen des Parlamentarischen Rates davor, mit Volksbegehren und Volksentscheid die künftige Demokratie zu belasten. Das Schweizer Vorbild, so Theodor Heuss, könne auf deutsche Verhältnisse nicht ohne weiteres übertragen werden. Der Volksentscheid führe in einer großräumigen Demokratie wie bei uns zu einer dauernden Erschütterung des mühsam erkämpften und noch zu erkämpfenden Ansehens der Gesetzgebungskörper.Was damals galt, hat heute ebenso noch Geltung, insbesondere wenn man bedenkt, wie einseitig sich bei uns die veröffentlichte Meinung oft orientiert. Man kann sich sehr schnell vorstellen, daß Plebiszite in der Anonymität von Redaktionsstuben gesteuert werden und daß so Plebiszite weiter von der Demokratie weg- als zu ihr hinführen.
Ein Wort noch zu Art. 146 des Grundgesetzes. Hier muß man, wie ich meine, zwischen dem Verfassungsgeber und dem Verfassungsgesetzgeber unterscheiden. Unser Verfassungsgeber, der Parlamentarische Rat, hat nur eine einzige Möglichkeit vorgesehen, das Grundgesetz abzulösen. Das war der alte Art. 146 des Grundgesetzes. Diesen Weg haben wir nicht beschritten, sondern sind über Art. 23 des Grundgesetzes gegangen. Seit diesem Zeitpunkt ist unser Grundgesetz unsere legitimierte Verfassung. Wir leben im Augenblick ja nicht in einem verfassungslosen Zustand; kein Mensch könnte dies ernsthaft behaupten.Wenn aber der Verfassungsgeber — das bitte ich zu bedenken — nicht vorgesehen hat, daß die Verfassung, die er gibt, aufgehoben werden kann und diealte Möglichkeit nun zunichte geworden ist, weil sie nicht angewendet wurde, dann muß man sich zumindest in dieser neuen Verfassungskommission die Frage stellen, ob der jetzt neugefaßte Art. 146, der eine solche Aufhebung vorsieht, unserer Verfassung entspricht. Diese Frage muß meiner Meinung nach diskutiert werden. Deswegen hat der Innenminister mit Recht erklärt, daß wir uns erst am Ende dieser Diskussion darauf festlegen sollten, ob wir zu einem Volksentscheid kommen oder nicht, aber nicht jetzt schon.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, zum Schluß der Debatte hat der Bundesminister der Justiz, Dr. Klaus Kinkel, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, nur zu der formalen Frage Verfassungsrat und Verfassungsausschüsse Stellung zu nehmen und ganz bewußt die übrigen Fragen ohne Verfassungsänderungen wegzulassen. Der Verlauf der Debatte hat mich angeregt, einige andere Gedanken zu versuchen.Nach Jahren eines Unrechtsstaats in Deutschland, der immerhin bis 1945 gedauert hat, wurde unter dem Eindruck des damals geschehenen schlimmen, tiefen Unrechts der Versuch unternommen, dem freien Teil des übriggebliebenen Deutschland eine neue Verfassung zu geben. Was 1949 geschaffen wurde, war ein Glücksfall. So sehen es nicht nur wir. Wir könnten ja selbstverliebt und betriebsblind sein. Nein, so sieht es die Welt, die uns um dieses Grundgesetz beneidet und es als Vorbild übernimmt — übrigens in den Ländern der Dritten Welt gleichfalls wie in den Ostblockländern.Im anderen Teil Deutschlands wurde eine Verfassung geschaffen, die den Staat als Instrument der herrschenden Klasse beschrieb. Ich zitiere: „Die DDR ist die politische Organisation der Werktätigen unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei. "Unser Grundgesetz geht von der Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft aus. Es regelt in seinen Bestimmungen über das Staatsorganisationsrecht Organisation und Aufbau des Staates und begrenzt außerdem, insbesondere in seinem Grundrechtsteil, die Macht des Staates. Der Grundrechtsteil sichert den Freiraum von Bürger und Gesellschaft gegenüber dem Staat. Es ist also ein grundverschiedener Ansatz.Seit Oktober des letzten Jahres sind wir wiedervereinigt, und zwar auf der Basis unseres Grundgesetzes. Daß wir aus der Verfassung der früheren DDR nichts übernehmen wollten, war wohl unbestritten. Zu sehr war diese Verfassung Artikulation des 40jährigen SED-Unrechtsstaates. Was das übrige Recht anbelangt, haben wir uns entschlossen, praktisch unser gesamtes Recht auf die neuen Länder zu übertragen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1747
Bundesminister Dr. Klaus KinkelWir versuchen im übrigen auf diese Art und Weise— nicht häufig in der Geschichte, was aus meiner Sicht oft übersehen wird — , einen Unrechtsstaat, eine Revolution mit den Mitteln des Rechtsstaats im anderen Teil des wiedervereinigten Landes aufzuarbeiten. Was das bedeutet, sehen wir z. B. auf dem Gebiet des Strafrechts oder auf dem Gebiet des nachher noch zu behandelnden Rehabilitierungsbereichs; berechtigt kann die Frage gestellt werden, was Strafrecht in einer solch nachrevolutionären Situation überhaupt an Aufarbeitung zu bringen vermag.Ausgerechnet in dieser Situation des AufbauenMüssens des Rechsstaats in fünf neuen Ländern, in der Situation des Übergangs sollten wir an unserem Grundgesetz, dem stärksten Anker, den wir in unserem Rechtssystem haben, nicht herumbasteln und auch nicht grundsätzliche Regelungen dieser Verfassung in Frage stellen. Ich sage ganz deutlich und klar, daß ich das für wenig hilfreich und für wenig gut halte.
Ich möchte im übrigen sagen, daß ich persönlich— ich bin sehr sicher, daß ich da auch für meine Parteifreunde spreche — in die Diskussion über die wirklich notwendigen Verfassungsänderungen auch die Erwartungen und Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger der neuen Länder einfließen lassen möchte. Ich sage das mit großem Nachdruck, damit kein falscher Eindruck entsteht. Das geschieht aber zuerst und vor allem durch die in demokratischer Wahl in diesen Bundestag gewählten und entsandten Abgeordneten aus den neuen Ländern. Es geschieht schließlich in nicht minderer Form durch die Vertreter der fünf neuen Länder über den Bundesrat.Einige Redner haben heute hier im Plenum — seien Sie nicht böse, daß ich das Wort so gebrauche — mit etwas Larmoyanz den Eindruck erweckt, als ob Gedankengut des Runden Tisches oder Gedankengut von dem, was an Erlebtem in den fünf neuen Ländern hier einzubringen wäre, nicht eingebracht werden könnte. Ich muß Ihnen — genauso wie Herr Kollege Hirsch — nochmals deutlich und klar sagen, daß ich das nicht verstehe. Ich verstehe es wohl einfach auch deshalb nicht, weil es nicht richtig ist.Es ist — um jetzt zu der formellen Frage der heutigen Debatte zu kommen — völlig egal, ob wir von einem Verfassungsrat, wie ihn die SPD will, oder von einer Verfassungskommission ausgehen, die — aus meiner Sicht zu Recht — die Koalitionsfraktionen wollen. Es ist doch absolut selbstverständlich, daß dieses Gedankengut eingebracht werden kann und auch eingebracht werden soll. Ich sehe überhaupt nicht, warum das nicht möglich sein sollte. Daher bedarf es aus meiner Sicht wirklich nicht einer larmoyanten Darstellung.
— Es ist natürlich nicht egal, von wem. Aber ich habe ja nun deutlich darauf hingewiesen, wer das einbringen kann und wie es eingebracht werden könnte.Ich komme zum Schluß. Ein Verfassungsrat, nach dem Vorschlag der SPD mit 120 Mitgliedern besetzt,ist, wie ich meine, viel zu groß und nicht wirklich handlungsfähig. Der Antrag der Koalitionsfraktionen auf Einsetzung eines Gemeinsamen Verfassungsausschusses von Bundestag und Bundesrat mit je 16 Mitgliedern knüpft an die bewährten Verfahren zur Erörterung und Vorbereitung von Änderungen des Grundgesetzes an. Der Antrag der Koalitionsfraktionen verdient also, wie ich meine, Zustimmung. Er ist der richtige Weg, zu einer vernünftigen Diskussion über die wirklich notwendigen, vor allem auch in dieser Zeit notwendigen Änderungen unserer Verfassung zu kommen, um die uns — ich sage es nochmals — die Welt beneidet.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/415, 12/563 und 12/567 an den Ältestenrat vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Punkt 6 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 12/488 —
Zunächst werden Dringliche Fragen des Herrn Abgeordneten Norbert Gansel auf der Drucksache 12/564 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft aufgerufen. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Beckmann zur Verfügung.
Ich rufe die erste Dringliche Frage des Herrn Abgeordneten Norbert Gansel auf:
Auf welche Vertragsbestimmung oder Nebenabrede des Deutsch-Sowjetischen Überleitungsvertrages stützt die Bundesregierung die Ankündigung ihres Sprechers, die Bundesregierung würde Zahlungen an die Sowjetunion stoppen, wenn die deutsche Bauwirtschaft keine Aufträge für den ersten Abschnitt des Wohnungsbauprogramms für die abziehenden sowjetischen Soldaten erhält?
Herr Staatssekretär, Sie haben nun das Wort.
Herr Kollege Gansel, der Sprecher der Bundesregierung hat nicht angekündigt, daß die Bundesregierung Zahlungen an die Sowjetunion stoppen werde, wenn die deutsche Bauindustrie keine Aufträge beim Wohnungsbauprogramm erhält. Er hat vielmehr die Mechanismen der getroffenen Verabredungen erläutert, die vorsehen, daß die Arbeiten nur einvernehmlich vergeben werden können.
Soll ich Frage 2 gleich mitbeantworten?
Herr Abgeordneter Gansel.
Nein. Herr Staatssekretär würden Sie den letzten Satz mit den Abreden wiederholen?Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Der Sprecher der Bundesregierung hat vielmehr die Mecha-
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1748 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Parl. Staatssekretär Klaus Beckmannnismen der getroffenen Verabredungen erläutert, die vorsehen, daß die Arbeiten nur einvernehmlich vergeben werden können.
Ich möchte meine Zusatzfragen stellen, Herr Präsident.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Gansel.
Herr Staatssekretär, können Sie meine Dringlichkeitsfrage entsprechend beantworten, worin der Mechanismus der Abreden besteht, der der deutschen Bauwirtschaft eine Beteiligung an dem Wohnungsbauprogramm für die abziehenden sowjetischen Truppen sichert?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Der Mechanismus, Herr Kollege Gansel, ist darin zu sehen, daß auf der Grundlage des Überleitungsvertrages und des Memorandums eine Verabredung mit der Sowjetunion getroffen worden ist, daß sich der Lenkungsausschuß in Zweifelsfragen und in Fragen, in denen zunächst Uneinigkeit besteht, mit der Sache zu befassen hat und Einvernehmen herbeigeführt werden soll. Das ist der Mechanismus.
Herr Kollege Gansel, wollen Sie noch eine Zusatzfrage stellen? — Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, kann ich Ihrer Frage entnehmen, daß die Bundesregierung versäumt hat, die Mitwirkung deutscher Baufirmen, insbesondere von Baufirmen aus Ostdeutschland, bei der Durchführung dieses Programms vertraglich zu sichern, und daß Sie statt dessen Verfahrensregelungen benutzen wollen, um Druck auszuüben, das wieder in Ordnung zu bringen, was Sie bei den Verhandlungen versäumt haben?
Klaus Beckmann, Parl Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann Ihnen insoweit nicht folgen, als die Bundesregierung etwas verabsäumt hätte. Sie hat ganz im Gegenteil auf der Grundlage der Vereinbarungen des Überleitungsvertrages durch den Bundeskanzler dem Staatspräsidenten Gorbatschow ein Memorandum übermittelt und dasselbe noch einmal durch den Bundeswirtschaftsminister im Dezember an den stellvertretenden Ministerpräsidenten Sitarjan weitergereicht, in dem die Intention der Bundesrepublik Deutschland, daß bei der Abwicklung des Wohnungsbauprogramms besonders deutsche Firmen unter besonderer Berücksichtigung ostdeutscher Firmen eingebunden werden, klargemacht werden. Die sowjetische Seite hat diesem Memorandum nicht widersprochen.
Noch in der Folgezeit bei den Gesprächen über die Abwicklung des Programms ist immer wieder — übrigens unwidersprochen — verdeutlicht worden, wie groß das Interesse der Bundesregierung an der Einbindung deutscher Unternehmen ist.
— Nein, Intentionen sind Vorhaben.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Kollege Otto Schily.
Herr Staatssekretär, offenkundig sind jetzt doch einige Zweifel auf sowjetischer Seite aufgetaucht. Würden Sie immerhin zugeben wollen, daß solche Zweifel mangels vertraglicher Klarheit entstanden sind?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, daß die Irritationen, die aufgetreten sind, daher rühren, daß die Ausschreibungsabläufe nicht den internationalen Gepflogenheiten gefolgt sind, so daß wir eigentlich von einer engeren rechtlichen Rahmensetzung nicht hätten ausgehen müssen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Gernot Erler.
Herr Staatssekretär, die Bundesregierung hat sehr harte Worte gefunden und von Vertrauensbruch und anderem im Zusammenhang mit der sowjetischen Absicht gesprochen, diesen ersten Auftrag an türkische und finnische Anbieter zu vergeben. Können Sie dem Hohen Haus einmal mitteilen, um welches Volumen es sich bei dem Gesamtvolumen von 7,8 Milliarden DM handelt?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Es handelt sich hier um ein Volumen von rund 700 Millionen DM. Im übrigen hat die Bundesregierung das Wort „Vertrauensbruch" nicht in den Mund genommen.
Eine weitere Zusatzfrage von unserer Kollegin Dr. Christine Lucyga.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß die Bundesregierung mit der Sowjetunion die Besetzung von Beratungsgremien zur Koordinierung der Aufträge vorgesehen hat, und wenn ja, nach welchen Kriterien wurden diese Beratungsgremien besetzt?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die Beratungsgremien sind auf der Grundlage der Vereinbarungen mit der Sowjetunion von beiden Seiten besetzt worden, wobei die Bundesregierung bemüht war und ist, die sowjetische Seite bei der Ausschreibung und bei der Abwicklung der Ausschreibung sachkundig zu beraten.
Noch eine Zusatzfrage des Kollegen Freimut Duve.
Herr Staatssekretär, mir liegt eine dpa-Meldung vor, wonach es die Auffassung des Geschäftsführers der CDU/CSU-Fraktion Friedrich Bohl sei, daß bei der Vergabe von Aufträgen aus den von Bonn finanzierten Wohnungsbauprogrammen ohne Zustimmung der Bundesregierung nichts möglich sei. Teilen Sie diese Auffassung in Ihrer rechtlichen Beurteilung der eben von Ihnen auf diese sehr elegante Weise geschilderten Vorgänge?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1749
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Die Rechtslage stellt sich so dar, Herr Kollege Duve, daß der Mandatar der Bundesregierung, nämlich die Kreditanstalt für Wiederaufbau, zur Vergabe dieser Aufträge ihre Zustimmung erteilen muß.
Weitere Zusatzfrage des Kollegen Rudolf Bindig.
Können Sie bitte sagen, von wann das von Ihnen eben erwähnte Memorandum stammt und in welcher Form es vereinbart worden ist?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Das Memorandum ist im November 1990 der sowjetischen Seite übergeben worden.
Weitere Zusatzfrage des Kollegen Dr. Heuer.
Sie sprachen vom Anteil der ostdeutschen Baubetriebe und davon, daß es auch darum gehe, diesen Baubetrieben Arbeit zu sichern; wir alle wissen, wie notwendig das ist. Wie hoch war denn der vorgesehene Anteil der ostdeutschen Betriebe, wieweit waren sie nur Zulieferer, oder wieweit waren sie daran beteiligt?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Es konnte durch die Bundesregierung naturgemäß keine Quotierung erfolgen; das war auch nicht der Sinn der Ausschreibungen. Wir wollten dies im Wettbewerb halten, und die ostdeutschen Firmen sollten innerhalb der Konsortien mitarbeiten.
Wie hoch schätzen Sie denn den Anteil?
Nein, das ist nicht zulässig.
Nunmehr kommen wir zu der zweiten Dringlichkeitsfrage des Kollegen Norbert Gansel.
Wie wird sich die Bundesregierung in der bevorstehenden Sitzung des gemeinsamen deutsch-sowjetischen Lenkungsausschusses dafür einsetzen, daß insbesondere Bauunternehmen und Arbeitskräfte aus den neuen Bundesländern an dem gesamten Wohnungsbauprogramm beteiligt werden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, die Bundesregierung wird in den anstehenden Gesprächen mit der sowjetischen Seite auf die Einhaltung vereinbarter Verträge und Verabredungen drängen, da der von der sowjetischen Fachebene vorgetragene Vergabevorschlag hiervon abweicht. Außerdem wird die Bundesregierung erneut auf den Gesamtzusammenhang mit den weiteren wirtschaftlichen Beziehungen hinweisen.
Die Bundesregierung ist daher zuversichtlich, daß es bei der anstehenden Vergabe zu einer Entscheidung kommt, die den Interessen beider Regierungen Rechnung tragen wird. Die Beteiligung ostdeutscher
Unternehmen ist für die deutsche Seite dabei ein wesentliches Kriterium.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Gansel.
Herr Staatssekretär, ist sich die Bundesregierung darüber im klaren, daß in Anbetracht des Umstandes, daß die Bundesregierung nach dem Vertrag keine rechtlichen Ansprüche hat, die Mitwirkung deutscher Baufirmen zu sichern, das Spiel mit den Mechanismen den Charakter politischer Drohung haben kann und daß auf der sowjetischen Seite in gleicher Weise reagiert werden kann, was zur Verzögerung des Abzugs der sowjetischen Truppen führen könnte, und stellt das nicht am Anfang eines sehr schwierigen Prozesses eine außerordentliche Belastung dar?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Für die Bundesregierung ist dieser Prozeß der Auftragsvergabe nicht mit Drohungen verbunden. Ganz im Gegenteil liegt der Bundesregierung außerordentlich daran, hierin einen Start für die weitere wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland zu sehen. Deswegen ist die Bundesregierung auch sehr zuversichtlich, daß die Gespräche im Lenkungsausschuß das Ergebnis zeitigen werden, daß wir uns alle wünschen, nämlich eine Beteiligung deutscher Bauunternehmen bei der Auftragsabwicklung.
Meine Damen und Herren
— darauf komme ich gleich —,
ich mache auf folgendes aufmerksam: Unsere Geschäftsordnung sagt für die Fragestunde, die Fragen sollen kurz sein und eine kurze Beantwortung ermöglichen. Darauf wollte ich nur noch einmal aufmerksam machen.
Jetzt hat der Kollege Norbert Gansel eine weitere Zusatzfrage.
Trifft es zu, Herr Staatssekretär, daß die Bundesregierung darauf gedrängt hat, daß die Ausschreibungen für das Wohnungsbauprogramm für die abziehenden sowjetischen Truppen international getätigt werden und daß aus diesem Grunde bei allen Verhandlungen Beamte der Europäischen Gemeinschaft dabei waren, und trifft es zu, daß auf diesem Hintergrund das Bundeswirtschaftsministerium seit Monaten Warnungen erhalten hat, daß im Ergebnis der Auftrag an ausländische Firmen gehen könnte?Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Es ist richtig, daß die Bundesregierung auf eine internationale Ausschreibung gedrängt hat. Dies hält die Bundesregierung aus Wettbewerbsgründen — Preisgestaltung! —
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Parl. Staatssekretär Klaus Beckmannfür erforderlich. Es entspricht auch den international üblichen Gepflogenheiten, auf deren Beachtung wir als Bundesregierung gegenüber Drittländern sonst drängen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Otto Schily.
Herr Staatssekretär, es gibt ja ein deutsches Sprichwort: Klare Verträge, lange Freundschaft. Gibt es im Wirtschaftsministerium eine sach-
und rechtskundige Person, die vielleicht dafür sorgt, daß künftig Pannen dieser Art vermieden werden, oder werden Sie vielleicht die Amtshilfe des Justizministeriums oder des Auswärtigen Amtes in Anspruch nehmen müssen?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schily, soweit die Abwicklung dieses Vertrages erforderlich ist, ist das Bundeswirtschaftsministerium verantwortlich. Es bemüht sich, seitdem es mit dieser Angelegenheit befaßt ist, der sowjetischen Seite durch die verschiedenen Schritte, die ich genannt habe, die Interessenlage der Bundesrepublik Deutschland zu verdeutlichen. Dabei steht ihr selbstverständlich auch der geballte juristische Sachverstand des Hauses zur Verfügung.
Eine weitere Zusatzfrage hat der Abgeordnete Gernot Erler.
Herr Staatssekretär, Sie haben hier in bewegenden Worten dargestellt, welches Interesse die Bundesregierung an einer Beteiligung von Firmen aus den neuen Ländern an dem großen Bauvolumen hat. Könnten Sie dem Haus bitte einmal mitteilen, was in den Vorschriften über bietende Firmen in bezug auf ihren Jahresumsatz und auf ihren Umsatz im letzten Geschäftsjahr als Voraussetzung dafür, daß sie sich am Wettbewerb beteiligen können, steht?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann Ihnen jetzt aus der Hand diese Summe nicht nennen. Ich bin aber gern bereit, sie Ihnen nachzuliefern.
Allerdings ist eines richtig, nämlich daß die Firmen eine gewisse Größenordnung haben mußten, um zu garantieren, daß sie auch in der Lage sein würden, die Ausschreibung voll zu erfüllen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Dr. Brecht.
Herr Staatssekretär, sind Ihnen Informationen bekannt, wonach sich die
sowjetische Seite auf Grund mangelnder Qualität der ostdeutschen Bauprodukte weigert, solche Aufträge an ostdeutsche Firmen zu vergeben, und was tut die Bundesregierung, um solche Vorbehalte auszulöschen?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Falls es solche Vorbehalte der sowjetischen Seite gegeben hat, hat die Bundesregierung stets darauf hingewiesen, daß es sich bei den gewünschten deutschen Beteiligungen um Kooperationen zwischen west- und ostdeutschen Unternehmen handeln würde.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Ulrich Janzen.
Herr Staatssekretär, ich gehe davon aus, daß Ihnen bekannt ist, daß innerhalb der deutschen Bauindustrie die Meinung vertreten wird, die Bauweisen der ostdeutschen Länder wären den Sowjetmenschen nicht zumutbar. Wie wollen Sie unter dieser Voraussetzung die Beteiligung ostdeutscher Baufirmen sichern?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Von solchen Bedenken ist mir nichts bekannt. Sie können auch in in keiner Weise für die Vergabe solcher Aufträge maßgeblich sein, ganz im Gegenteil. — Ich will nur noch einmal unterstreichen: Die Bundesregierung hat der Sowjetunion klargemacht und wird dies auch in den nächsten Tagen und Wochen tun, daß sie ein großes Interesse daran hat, daß deutsche, west- wie ostdeutsche, Unternehmen und Konsortien an der Abwicklung des Auftrages beteiligt werden.
Noch eine Zusatzfrage von Frau Dr. Christine Lucyga.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesrepublik die Möglichkeit gehabt, bei den Qualifikationsverfahren mitzuwirken, und wenn ja, hat sie den Startvorteil der ostdeutschen Bauindustrie durch langjährige Bauerfahrung in der Sowjetunion dabei in angemessener Weise mitberücksichtigt?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Die Erfahrungen sind in die Bewerbungen der deutschen Konsortien eingeflossen. Es handelt sich zum Teil auch um verbundene Unternehmungen. Dabei sind also die Kenntnisse der ostdeutschen Bauunternehmen, soweit sie beteiligt waren, mit eingeflossen. Ich denke, daß sie auch weiterhin von Vorteil sein werden, wenn wir dieses Projekt in der Sowjetunion abwickeln.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Markus Meckel.
Gibt es unter den Überlegungen und Vorschlägen des Wirtschaftsministeriums auch solche, die beinhalten, daß auch sowjetische und polnische Firmen wenigstens durch Zulieferung beteiligt werden, damit nicht jeder Nagel und jede Tapetenrolle aus Deutschland oder sonst aus dem Westen zugeliefert werden, und gibt es Prozentzahlen für die Beteiligung aus dem Osten, wobei ich hier auch den Osten Deutschlands einbeziehe?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1751
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Prozentzahlen, Herr Kollege Meckel, gibt es dabei nicht. Aber beide Seiten sind davon ausgegangen und gehen davon aus, daß auch Ware aus dem Land bezogen wird. Das gilt insbesondere für die Sowjetunion.Im übrigen werden sich die Bauunternehmen natürlich der günstigsten Einkaufsmöglichkeiten bedienen; denn die Sowjetunion hat ein großes Interesse daran, daß mit dem Einsatz der Finanzmittel das größtmögliche Bauvolumen erzielt wird.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Johannes Gerster.
Herr Staatssekretär, könnten Sie mir bitte einmal klarmachen, wie das aufgeht, wenn wir der Sowjetunion einerseits Tag für Tag raten, die Gesetze der Sozialen Marktwirtschaft anzuwenden, hier aber andererseits ständig Vorschläge machen, die sämtliche Gesetze der Sozialen Marktwirtschaft außer Kraft setzen?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: In der Tat, Herr Kollege Gerster, ist es so, daß sich die Bundesregierung unter diesem Aspekt für die internationale Ausschreibung entschieden hat; ich habe vorhin das Stichwort „Wettbewerb " genannt. Gleichwohl ist es legitim — das zeigen auch die Fragen seitens der Opposition —, daß die deutschen Interessen hierbei nicht vernachlässigt werden.
Eine weitere Zusatzfrage vom Kollegen Gerd Andres.
Herr Staatssekretär, wenn es nach den Kriterien der Sozialen Marktwirtschaft geht: Würde die Bundesregierung auch hinnehmen, wenn bei den weiteren Ausschreibungsverfahren nach genau diesen Kriterien überhaupt keine deutschen Firmen zum Zuge kämen und sich die Marktwirtschaft damit klassisch durchsetzen könnte?
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Verehrter Herr Kollege Andres, das ist eine hypothetische Frage. Man sollte in der Politik auf hypothetische Fragen nicht antworten.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs angekommen. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Die Fragen 1 und 2 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit — es handelt sich um Fragen von Frau Dr. Christine Lucyga — sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie. Die beiden Fragen 3 und 4 der Frau Abgeordneten Dorle Marx sollen ebenfalls schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Dasselbe trifft für die Fragen 5 und 6 des Herrn Abgeordneten Lothar Fischer aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu, die ebenfalls schriftlich beantwortet
werden sollen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Auch die beiden Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz, die Fragen 7 und 8 des Kollegen Norbert Eimer, sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Gottfried Haschke zu Verfügung.
Wir kommen zur Frage 9 des Herrn Abgeordneten Hans-Günther Toetemeyer:
Unter Hinweis auf meine Fragen 26 und 27 frage ich die Bundesregierung, ob neuerdings für Fragen der Verletzung des Völkerrechts das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zuständig ist.
Danke, Frau Präsidentin. — Herr Kollege Toetemeyer, das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ist für die interne und externe Fischereipolitik der Europäischen Gemeinschaft und damit auch für Probleme zuständig, die sich in diesem Zusammenhang in den Beziehungen der Gemeinschaft zu einem Drittland ergeben.
Das Ministerium stimmt sich bei Fragen, die auch die Zuständigkeit anderer Ressorts berühren, mit diesen ab.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wenn dem so ist, was hat das Ministerium unternommen, um zu verhindern, daß wegen des Gerichtsurteils als Folge der Völkerrechtsverletzung die begonnenen Vertragsverhandlungen über ein Fischereiabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Namibia unterbrochen werden, was genau mit diesem Hinweis geschehen ist?
Gottfried Haschke, Parl. Staatssekretär: Verehrter Kollege, ich glaube, diese Frage ist Ihnen schon das letzte Mal beantwortet worden. Die Bundesregierung hat ihre Sorge über diesen Vorgang zum Ausdruck gebracht. Wie ich Ihnen sagte, ist das der Schritt, der unternommen wurde. Es ist empfohlen worden, die Verhandlungen sofort wiederaufzunehmen. Soweit ich informiert bin, ist das schon im Gange.
Halten Sie es für einen guten Stil, daß gegen Völkerrechtsverletzungen nur dadurch vorgegangen wird, daß man seine Sorge über die Verletzung von Völkerrecht zum Ausdruck bringt?Gottfried Haschke, Parl. Staatssekretär: Da kann man geteilter Meinung sein. Zur Europäischen Gemeinschaft gehören ja zwölf Staaten. Wenn die Bundesregierung ihre Sorge zum Ausdruck gebracht hat, dann ist das schon etwas. Aber ich gebe Ihnen recht: Wenn es erforderlich ist, kann es auch in etwas härterem Ton geschehen.
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1752 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Würden Sie das auch tun?
Gottfried Haschke, Parl. Staatssekretär: Ja.
Das waren jetzt zwar drei Zusatzfragen, aber die letzte war noch einigermaßen zulässig.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Danke schön, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Herr Horst Günther zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 10 des Herrn Abgeordneten Otto Schily:
Mit wieviel Arbeitslosen rechnet die Bundesregierung in den Ländern Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen in den Jahren 1991 und 1992?
Herr Kollege Schily, die Bundesregierung hat keine Vorausschätzung der Arbeitslosenzahlen im Beitrittsgebiet, getrennt nach einzelnen Ländern, vorgenommen. Sie geht für die Gesamtheit der fünf neuen Bundesländer einschließlich des Ostteils von Berlin derzeit davon aus, daß die Zahl der Arbeitslosen im Jahre 1991 rund 1,1 Millionen und im Jahre 1992 rund 1,3 Millionen Personen betragen wird.
Diese Annahmen implizieren, daß die Arbeitslosigkeit in einer Reihe von Monaten zur Jahreswende 1991/92 etwa 1,5 Millionen betragen wird. Im Verlauf des Jahres 1992 rechnen wir allerdings mit einem Rückgang der Arbeitslosigkeit.
Ich will allerdings auch noch darauf hinweisen, daß die Schätzungen für das Beitrittsgebiet einen weit größeren Unsicherheitsspielraum haben als vergleichbare Vorausschätzungen für das alte Bundesgebiet. Dies liegt daran, daß sich die Volkswirtschaft in Ostdeutschland in einer dramatischen Umbruchsituation befindet, für die keine empirischen Erfahrungen aus der Vergangenheit vorliegen. Daher sind den sonst üblichen, normalerweise bewährten Vorausschätzungsmethoden in diesem Falle enge Grenzen gesetzt.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Wenn Sie davon ausgehen, daß bei einer solchen Schätzung sehr viele Unsicherheitsfaktoren zugrunde gelegt werden müssen, wie sollen wir die Schwankungsbreite der Unsicherheitszone annehmen? Wenn Sie jetzt eine Zahl nennen, wie Sie es getan haben, welche Schwankungen halten Sie nach unten und nach oben für denkbar?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Das ist schwierig zu sagen, Herr Kollege Schily, zumal wir zur Mitte des Jahres noch eine Reihe von Maßnahmen abwarten müssen wie etwa das Auslaufen von Rationalisierungsschutzabkommen und das Auslaufen der Warteschleife. Wir wissen heute nicht, inwieweit hier tatsächlich Arbeitslosigkeit entsteht oder aber in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder in Fortbildung und Umschulung gegangen werden kann. Die Angebote liegen vor.
Jetzt eine Zahl zu nennen, wie die Schwankungsbreite wäre, ist ziemlich schwierig. Wenn ich sie nennen müßte, würde ich sie ziemlich weit fassen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Schily.
In welcher Weise wird die Bundesregierung bei Zugrundelegung der Zahlen, die Sie genannt haben, nach Ihrer Meinung darauf einwirken können, die Zahlen zu senken?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Wir haben durch das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost eine gute Grundlage, glaube ich, gelegt. Wir haben eine Reihe von produktiven, arbeitsmarktfördernden Maßnahmen eingeleitet. Heute abend werden in diesem Hohen Hause, so hoffe ich, mit Mehrheit — vielleicht sogar einstimmig — weitere Maßnahmen beschlossen, die dazu beitragen können, die Arbeitslosenzahlen sinken zu lassen.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Dr. Eberhard Brecht.
Herr Staatssekretär, die von Ihnen genannten Zahlen beziehen sich auf die reine Arbeitslosigkeit: Wie würden diese Zahlen aussehen, wenn Sie diejenigen Arbeitnehmer mit einbeziehen, die sich in Kurzarbeit befinden und deren Arbeitsanteil weniger als 50 % beträgt?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Wir haben im Moment etwas über 2 Millionen Kurzarbeiter, davon etwa die Hälfte mit weniger als 50 % Arbeitsanteil.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Klaus Kirschner.
Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, daß die Bundesregierung bestimmte Maßnahmen plane, dann müssen Sie doch auch auf irgendwelchen Grundlagen arbeiten. Können Sie die hier mal näher erläutern?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Die Grundlage, Kollege Kirschner, ist natürlich die Entwicklung des Arbeitsmarktes dort drüben, die wir laufend beobachten, Monat für Monat. Dann fassen wir auch die entsprechenden Beschlüsse. Ich hatte schon auf das Gesetz, das heute verabschiedet wird, zusätzlich hingewiesen. Ich habe auf das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost hingewiesen. Wir beobachten dort die einzelnen Regionen, sind dort auch mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, mit Großprojekten, am Werke, handeln so vor Ort. Anders wird es wohl nicht gehen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Ottmar Schreiner.
Herr Staatssekretär, wie verträgt sich denn Ihre Antwort auf die Frage des Kol-
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Ottmar Schreinerlegen Schily mit der Einschätzung des Bundesarbeitsministers in einem Interview mit dem „Handelsblatt" im März dieses Jahres, wo er die Befürchtung äußerte, daß die Arbeitslosenzahl in den ostdeutschen Ländern auf über 4 Millionen klettern könne?Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Der Herr Bundesarbeitsminister hat meines Erachtens hier die Gesamtbetroffenheit genannt, Kollege Schreiner, d. h. die Zahl all derer, die ihren Arbeitsplatz verlieren können, gleichwohl nicht in Arbeitslosigkeit fallen müssen. So ist diese Zahl zu verstehen. Sie hat eine Bandbreite von 2,5 bis etwa 4 Millionen. Aber wir sehen, daß auch in entsprechenden Maßnahmen etwas geleistet werden kann, so daß sie nicht alle in Arbeitslosigkeit kommen. Dieser Entwicklungsprozeß hat ja bereits eingesetzt.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Urbaniak.
Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, wir haben es mit 2 Millionen Kurzarbeitern zu tun und davon würden 1 Million zu 50 % oder darunter beschäftigt sein: Muß man die nicht realistischerweise zu den Arbeitslosen zählen, und käme man damit nicht zu viel höheren Zahlen tatsächlicher Arbeitslosigkeit?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Kollege Urbaniak, Sie wissen genau, daß wir dieses Sonderinstrument der Kurzarbeit und die Behandlung in den fünf neuen Bundesländern bewußt gewählt haben, weil die Umstrukturierung in den Betrieben noch längst nicht abgeschlossen ist und die Chance besteht, daß aus Kurzarbeit auch wieder Beschäftigung wird. Wir haben dieses Instrument, auch bei Null-Arbeit in Kurzarbeit gehen zu können, gewählt, damit die Betroffenen zunächst einmal im Betrieb verbleiben und nicht entlassen werden und so nicht eine Wiedereingliederung nötig wird, sondern eine Weiterbeschäftigung möglich bleibt.
Noch eine Zusatzfrage des Kollegen Gerd Andres.
Herr Staatssekretär, da, wie Ihnen bekannt ist, der Bundesarbeitsminister in seinem „Handelsblatt" -Artikel einzelne Gruppen von Arbeitslosigkeit Bedrohter aufgezählt hat, wie 700 000 aus dem Bergbau, 400 000 aus der Landwirtschaft, die in der Warteschleife des öffentlichen Dienstes, nach dem Kündigungsschutzabkommen, kann ja nicht zutreffen, daß der Arbeitsminister damit sozusagen die Gesamtbetrachtung gemacht hat, sondern er hat von 3,5 bis 4 Millionen Arbeitslosen gesprochen. Ist diese Aussage nicht in eklatantem Widerspruch zu dem zu sehen, was Sie uns hier vorgetragen haben.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Ich habe eben schon versucht, Kollege Andres, klarzustellen, daß der Bundesarbeitsminister nicht Arbeitslosigkeit als solche gemeint hat, sondern die Betroffenheit überhaupt, und die ist, wie ich eben schon geschildert habe, vielschichtig abzufangen.
Zwischenfragen gibt es in der Fragestunde nicht. Wollen Sie sich zu einer Zusatzfrage melden, Herr Kollege Manfred Reimann?
Herr Staatssekretär, da Sie dauernd von „Betroffenen" und von „Arbeitslosen" sprechen: Was ist der Unterschied?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Zum Beispiel sind Kurzarbeiter, die noch im Betrieb verbleiben, aber entweder zum Teil oder zu 100 % keine Arbeit haben, keine Arbeitslosen.
— Jemand ist auch kein Arbeitsloser, Kollege Reimann, wenn Sie das noch hören wollen, der in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen kommt.
Kollege Reimann, Ihre Frage wird noch beantwortet.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Ich kann das noch ausführen, damit Sie Ihr Lachen dann vielleicht doch einstellen können.
Auch diejenigen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, aber sofort in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen übernommen werden können, sind bekanntlich keine Arbeitslosen, zumindest für zwei Jahre nicht. Was dann wird, werden wir sehen. Das sind die „Betroffenen". Diese kann man nicht alle als „Arbeitslose" bezeichnen, wenn sie in Maßnahmen kommen, die ihrer Weiterbeschäftigung dienen sollen.
Eine letzte Zusatzfrage zu dieser Frage. Dann kommen wir zum nächsten Geschäftsbereich.
Herr Staatssekretär, würden Sie wenigstens zustimmen, daß die Gefahr der statistischen Manipulation dann nicht ganz von der Hand zu weisen ist?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Es wird statistisch überhaupt nicht manipuliert, weil die Begriffe eindeutig sind. Sie können das ja alles nachprüfen.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs angelangt. Danke schön, Herr Staatssekretär Günther.
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Zur Beantwortung steht Herr Staatssekretär Willy Wimmer zur Verfügung.
Die Fragen 11 und 12 des Abgeordneten Gernot Erler sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen damit zur Frage 13 der Frau Kollegin Ulrike Mehl:
Wird auf den unbebauten Liegenschaften der Bundeswehr für die unter das Naturschutzrecht fallenden Flächen eine qualifizierte Lebensraumkartierung, incl. Bewertung der aufgenommenen Flächen, durchgeführt, und wenn ja, durch wen ist bzw. soll das geschehen?
Grundsätzlich, Frau Kollegin Mehl, unterliegen alle Liegenschaften der Bundeswehr dem Naturschutzrecht. In den alten Bundesländern ist auf allen Übungsplätzen und Flugplätzen eine Erfassung der sogenannten Naturausstattung erfolgt. Grundlage hierfür ist ein gemeinsam mit der Bundesforschungsanstalt für Naturschutz und Landschaftsökologie entwickelter Erhebungsbogen. Diese Erfassung wurde durch die naturwissenschaftlich ausgebildeten Leiter der Geländebetreuungsgruppen bei den Standortverwaltungen vorgenommen. Das Ergebnis dieser Erhebung wird im Rahmen der Biotopkartierung der Bundesländer durch deren Kräfte vertieft. In den neuen Bundesländern soll ebenso verfahren werden, wenn feststeht, welche Liegenschaften die Bundeswehr auf Dauer nutzen wird.
Zusatzfrage, Frau Kollegin? — Keine Zusatzfrage. Gibt es weitere Zusatzfragen zu diesem Punkt? — Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Frage 14 der Frau Kollegin Ulrike Mehl:
Ist es beabsichtigt bzw. bereits Praxis, daß für unbebaute Liegenschaften der Bundeswehr, die dem § 38 BNatSchG unterliegen, fachgerechte Pflegepläne erstellt werden, und durch wen werden sie ggf. in die Praxis umgesetzt?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Verehrte Frau Kollegin, durch gemeinsamen Erlaß des Bundesministers der Verteidigung und des Bundesministers der Finanzen ist die Erarbeitung von Pflegeplänen für alle Übungsplätze der Bundeswehr angeordnet worden. Der Bundesminister der Verteidigung ist für die Betreuung des Freigeländes, der Bundesminister der Finanzen ist mit der Bundesforstverwaltung für die Betreuung der Waldflächen zuständig.
Der Erlaß sieht vor, daß die zuständigen Landesnaturschutzdienststellen zu beteiligen sind, um die Ergebnisse der Erfassung der Naturausstattung im Hinblick auf die Festlegung ökologisch richtiger Pflegemaßnahmen zu bewerten. Vertreter der Truppe sind bei der Aufstellung der Pflegepläne beteiligt, damit die Interessen der militärischen Ausbildung auf den betreffenden Flächen gewahrt werden.
Die Umsetzung der Pflegepläne in der Praxis erfolgt durch die bei 131 Standortverwaltungen eingerichteten sogenannten Geländebetreuungsgruppen. Diese sind hierfür personell und materiell entsprechend ausgestattet. Für die in Dauernutzung verbleibenden Liegenschaften in den neuen Bundesländern sollen solche Pflegepläne demnächst ebenfalls erarbeitet und umgesetzt werden.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Mehl?
Welche Qualifikation sollen die an den Pflegeplänen beteiligten Bediensteten oder Mitarbeiter der Bundeswehr haben? Erfolgt die Auswahl nach Qualifikation, oder wie suchen Sie aus?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Verehrte Frau Kollegin, das geht bei uns immer nach Qualifikation. Sie müssen in der Lage sein, gemäß den entsprechenden Erfordernissen hier tätig werden zu können. Ich bin gerne bereit, Ihnen dafür die entsprechenden Qualifikationsnachweise zukommen zu lassen.
— Bitte schön.
Noch eine Zusatzfrage? — Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Die Fragen 15 und 16 der Frau Abgeordneten Edelgard Bulmahn sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Auch die Fragen 17 und 18 der Abgeordneten Frau Renate Schmidt , die selbst derzeit keine Fragen stellen kann,
sollen deshalb schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. — Danke schön, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Die Frage 19 des Kollegen HansJoachim Otto sowie die Fragen 20 und 21 der Kollegin Bärbel Sothmann sollen ebenfalls schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. — Danke schön, Herr Staatssekretär.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Bernd Schmidbauer zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 22 des Kollegen Ernst Schwanhold:
Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse darüber vor, daß der aus den alten Bundesländern stammende Sondermüll noch immer in nicht geeigneten Deponien der fünf neuen Bundesländer unter Umgehung der rechtlichen Grundlagen eingelagert wird?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Schwanhold, nach Kenntnis der Bundesregierung werden in den neuen Bundesländern besonders überwachungsbedürftige Abfälle, also Sonderabfälle, aus den Altbundesländern nur noch auf der Deponie Schönberg mit Genehmigung der zuständigen Behörde des Landes Mecklenburg-Vorpommern abgelagert.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1755
Zusatzfrage, bitte. Meine Fragen sind mir soeben beantwortet worden.
Herr Staatssekretär, hat es inzwischen Untersuchungen der in Frage stehenden Deponie gegeben, ob sie überhaupt geeignet ist, dort weiterhin Einlagerungen vornehmen zu lassen.
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die gibt es in der Tat. Die Deponie Schönberg verfügt, wie Sie wissen, über einen für die Deponien von Sonderabfällen ausgelegten Teil, der die Kriterien der TA Abfall für Sonderabfalldeponien erfüllt. Daher erfolgt die Ablagerung von Sonderabfällen auf der Deponie Schönberg auf der Grundlage des geltenden Rechts — mit all den Problemen der Altlasten, mit all den Problemen der Verfüllung in den letzten Jahren. Sie wissen, daß es da manche Überraschung geben kann. Aber diese Deponie ist überprüft. Sie unterliegt den Kritieren, die wir auch an Deponien in den alten Bundesländern anlegen.
Weitere Zusatzfrage.
Darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß der Bundesregierung nicht bekannt ist, daß durch Mülltransportunternehmen besonders im Bereich Sondermüll noch immer Sonderabfälle sowohl nach Thüringen als auch in das Umland von Berlin transportiert und dort abgelagert werden? Oder gibt es nur keine Untersuchungen und keine Nachforschungen darüber?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich weiß nicht, was Sie unter „dort" verstehen. Wenn Sie Schönberg meinen, dann — —
— Uns interessiert jeder Hinweis, den Sie haben, daß auf andere Deponien Sonderabfälle aus den alten Bundesländern angeliefert werden. Denn Sie wissen, daß die Möglichkeit dazu in der Tat nicht besteht.
Weitere Zusatzfrage des Kollegen Eich.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, wie viele Tonnen aus den sogenannten Altländern noch monatlich auf diese Deponie verbracht werden?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Das kann ich Ihnen nicht sofort beantworten, weil dies Erhebungen bei dem zuständigen Land und den zuständigen Entsorgern bzw. den Ländern, die dorthin transportieren, notwendig macht. Ich bin gern bereit, Ihnen diese Zusatzfrage schriftlich zu beantworten. Ich sage Ihnen gern zu, Ihnen diese Daten zu liefern.
Eine weitere Zusatzfrage dazu liegt nicht vor.
Wir kommen zu Frage 23 des Kollegen Ernst Schwanhold:
Wird bei der Einlagerung von Sondermüll sowie beim Transport in den fünf neuen Bundesländern nun das Begleitscheinverfahren sowie die verantwortliche Erklärung des Sondermüllproduzenten für den Transport und die Deponierung von Sondermüll angewandt?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schwanhold, nach den entsprechenden Bestimmungen des Einigungsvertrags vom 23. September 1990 gelten das Abfallgesetz sowie die darauf beruhenden Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften auch in den neuen Bundesländern.
Insbesondere gelten die Anforderungen des Abfallgesetzes an die Entsorgung „besonders überwachungsbedürftiger Abfälle" sowie die entsprechenden Überwachungsvorschriften. Ich erwähne die Abfallbestimmungs-Verordnung nach § 2 Abs. 2 Abfallgesetz , die Reststoffbestimmungs-Verordnung und die Abfall- und Reststoffüberwachungs-Verordnung, die unter anderem die Führung des Entsorgungsnachweises durch den Sonderabfallerzeuger sowie das Begleitscheinverfahren regeln.
Die alten Bundesländer leisten im Rahmen ihrer Möglichkeiten Verwaltungshilfe und sind bei Verbringungen von Sonderabfällen in die neuen Länder ohnehin in die Überwachungsverfahren nach oben genannten Verordnungen hinsichtlich der Erzeuger und Einsammler bzw. Beförderer eingebunden.
Soweit der Bundesregierung bekannt ist, werden all diese von mir soeben zitierten Vorschriften in den neuen Bundesländern zwar schon teilweise, aber noch nicht flächendeckend angewandt, weil sich die hierfür notwendige Behördenstruktur noch im Aufbau befindet.
Zusatzfrage, Kollege Schwanhold.
Welche Qualifizierungsmaßnahmen hat die Bundesregierung eingeleitet, um genug geeignetes Personal in den neuen Bundesländern zur Verfügung zu haben?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Ich sagte, daß die Hilfe der alten für die neuen Bundesländer zum einen direkt besteht, daß auch in Bund-LänderArbeitskreisen Besprechungen darüber stattfinden und daß zusätzlich unser Haus über Berater den Ländern, den Kommunen, den entsorgungspflichtigen Körperschaften auch in diesen Fragen zur Verfügung steht. Wir haben ureigens zu diesem Zweck solche Beratergremien gebildet, die in den neuen Bundesländern auch dafür Hilfestellung geben.
Weitere Zusatzfrage.
Da Sie diese Frage nicht beantwortet haben, möchte ich gern die Frage stellen, welche Qualifizierungsmaßnahmen Sie eingeleitet haben, um in den Betrieben, in denen Sondermüll produziert wird, den Sondermüllbeauftragten mit der entsprechenden notwendigen Qualifikation zur Verfügung zu haben.Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, da Sie von Nichtbeantwortung sprechen, haben
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1756 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
P
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dies ist die Zuständigkeit der neuen Bundesländer. Unser Haus kann nur das tun, was wir heute tun, nämlich beraten und mitwirken. Wir können darauf hinwirken, daß auch aus den alten Ländern entsprechende Fachleute in den neuen Bundesländern an solchen Gesprächen und Beratungen mitwirken, damit die neuen gültigen Vorschriften praktiziert werden können. Ich sagte Ihnen auch — ich wiederhole es gern — , daß dies noch nicht flächendeckend geschehen kann. Für jede Anregung Ihrerseits, wie dies weiter bewerkstelligt werden könnte, bin ich dankbar.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Wir kommen damit zur Frage 24, die schriftlich beantwortet werden soll. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe nun die Frage 25 des Kollegen Horst Eylmann auf:
Hat sich die Schadstofffracht der Elbe seit dem Beitritt der früheren DDR verändert, und worauf sind diese Veränderungen gegebenenfalls zurückzuführen?
Herr Staatssekretär, bitte.
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eylmann, im Rahmen des von der ARGE-Elbe durchgeführten Meßprogramms konnte in Schnakkenburg — ehemaliger Grenzübertritt der Elbe — bereits 1990 für mehrere Meßparameter ein deutlicher Rückgang der Schadstofffrachten beobachtet werden, beispielsweise für die Summe der organischen Stoffe, gemessen als BSB bzw. CSB, für Stickstoff- und Phosphorverbindungen und die Summe der organischen Halogenverbindungen und für Quecksilber.
Der Grund für die Verringerung der Schadstofffrachten liegt darin, daß es seit Januar 1990 in den neuen Bundesländern zu zahlreichen Produktionsstillegungen bzw. Produktionsdrosselungen kam, wodurch die Schadstoffeinleitungen in die Gewässer weiter zurückgegangen sind.
Die Verringerung der organischen Belastung der Elbe läßt sich beispielsweise am Verlauf der Sauerstoffkonzentrationswerte an der Meßstelle Magdeburg sehr deutlich aufzeigen.
Ich darf hier einige Beispiele zitieren. Während die Sauerstoffgehalte 1989 zwischen 0,5 und 2,5 mg/l schwankten, waren sie im Juni 1990 bereits auf Werte zwischen 3,5 und 4 mg/l gestiegen. Ab Oktober 1990 lagen die Werte schon zwischen 3,5 und 8 mg/l. Im April 1991 wurden sogar Sauerstoffkonzentrationen zwischen 6 und 10 mg/l ermittelt. Das heißt, der Sauerstoffgehalt der Elbe stabilisiert sich zusehends. Beim Chemischen Sauerstoffbedarf wurde zwischen Dezember 1990 und April 1991 eine Verminderung von etwa einem Viertel festgestellt.
Beim Parameter BSB, also Biochemischer Sauerstoffbedarf, ist die Entwicklung nicht so deutlich, da die verursachenden Stoffe vor allem den kommunalen Abwässern entstammen. In diesem Bereich sind meßbare Verbesserungen erst mit dem Bau bzw. der Sanierung von Kläranlagen in großem Stil zu erwarten. Es ist zu erwarten, daß sich der aufgezeigte positive
Trend fortsetzen wird, da bei neuen Produktionsanlagen — dies ist der entscheidende Punkt — die notwendigen Abwasserreinigungsanlagen mit installiert werden müssen. Bei Altanlagen und bei Kommunen besteht noch ein gewaltiger Nachholbedarf in Sachen Umwelt- und auch im Bereich des Gewässerschutzes. Wir erarbeiten derzeit eine ausführliche Stellungnahme dazu und werden sie in Kürze veröffentlichen.
Die Bundesregierung hat bereits im Jahre 1990, noch vor dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland, zahlreiche Umweltschutz- und Abwasserprojekte gefördert. Sie geht davon aus, daß diese Projekte zügig verwirklicht werden und die neuen Länder die notwendigen Sanierungen tatkräftig vorantreiben.
Eine Zusatzfrage zu dieser langen Antwort, Herr Kollege.
Mit Rücksicht auf die angekündigte nähere Ausarbeitung verzichte ich auf Zusatzfragen.
Wir kommen damit zur Frage 26 des Herrn Abgeordneten Otto Schily:Sieht der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit im Rahmen seiner Zuständigkeit Möglichkeiten, dafür Sorge zu tragen, daß das Abholzen der Alleebäume in den neuen Bundesländern unterbleibt?Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schily, ich darf bei der Antwort auf Ihre Frage zusätzlich auf die bereits am 25. April 1991 gegebene Antwort und auch auf andere schriftlich gegebene Antworten verweisen.In vielen Gebieten — Herr Kollege Schily, das wissen Sie — in den neuen Bundesländern gibt es viele wertvolle Bestände an alten Alleen. Sie zu schützen und in gutem Zustand zu erhalten ist Aufgabe des Trägers der Straßenbaulast und der Behörden des Naturschutzes und der Landschaftspflege.Nach uns vorliegenden Informationen werden örtlich begrenzt Alleebäume gefällt. Über die Zahl kann ich Ihnen keine näheren Informationen geben. Der Baumbestand wurde in den neuen Ländern — auch dies wurde in der damaligen Antwort bereits ausgeführt — nicht ausreichend gepflegt. Darüber hinaus lassen sich wegen des teilweise schlechten Zustands der Straßen Eingriffe in den Baumbestand nicht in jedem Fall vermeiden. Allerdings ist von vielen Häusern innerhalb der Bundesregierung gefordert worden, darauf achtzugeben und darauf hinzuwirken, daß mit diesem Baumbestand äußerst schonend umgegangen wird.Im Rahmen seiner Möglichkeiten setzt sich auch der Bundesumweltminister für den Erhalt und den Schutz der Alleebäume ein. So hat er sich bereits im Herbst des vergangenen Jahres an die neuen Bundesländer mit dem Ziel gewandt, Erfassung und Bewertung besonders wertvoller Alleebestände sicherzustellen.Außerdem wirkt unser Haus mit bei der Bearbeitung von fachlichen Hinweisen des Bundesverkehrsministers zur Erhaltung der Alleen im Bereich der
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1757
Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauerklassifizierten Straßen außerhalb von Ortschaften. Hier ist vorgesehen, insbesondere auch Empfehlungen für Baumschauen zu entwickeln, die neben der Erfassung und Zustandsbewertung von Alleebäumen auch Grundlage für die Abstimmung zwischen den für den Straßenbau und den für Naturschutz und Landschaftspflege zuständigen Behörden sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Schily.
Wie weit ist denn die Erfassung der erhaltenswerten Alleebäume gediehen?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Die Länder sind mit dieser Erfassung beschäftigt. Die notwendigen Hilfestellungen werden laufend gegeben. Ich habe deshalb — auch durch den Hinweis auf die Beantwortung vom 25. April — darauf hingewiesen, daß das Verkehrsministerium mit den Ländern und mit den zuständigen Straßenbaubehörden nicht nur im Gespräch ist, sondern daß auch Grundzüge bei der Beurteilung und beim Umgang mit diesen Bäumen, die z. B. durch Straßenbau tangiert werden, erstellt werden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Schily.
Herr Schmidbauer, da Sie uns hier mitteilen — wie das schon zuvor von einem Kollegen aus dem Verkehrsministerium geschehen ist —, daß Sie keine Übersicht darüber haben, wieviele Alleebäume bereits gefällt worden sind, frage ich: Wäre es Ihnen möglich — zumindest durch Raterteilung — darauf hinzuwirken, daß wenigstens einstweilen ein Stopp verhängt wird, der dahin geht, daß keine weiteren Alleebäume gefällt werden?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: In Briefen aus unserem Haus und auch bei den Gesprächen unserer Mitarbeiter, die ureigens in der Beratung in dieser Angelegenheit in den Ländern unterwegs sind, wird genau auf diesen Punkt hingewiesen. Ich bin gern bereit, noch einmal bei den Ländern rückzufragen, wie sich der Tatbestand heute stellt und ob es neue Zahlen über das Fällen solcher Bäume gibt, bzw. darauf hinzuwirken, daß solche Fällungen nur in äußersten Notfällen vorgenommen werden. Dies ist aber auch der heutige Sachstand.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Ich bedanke mich für die Beantwortung der Fragen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Wilhelm Rawe zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 27 des Herrn Kollegen Dr. Jürgen Schmieder, sofern er im Saal ist. — Dies ist nicht der Fall. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Die Frage 28 des Kollegen Hans-Joachim Otto soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 29 des Kollegen Klaus Harries:
Treffen in der Öffentlichkeit aufgestellte Behauptungen zu, daß die Deutsche Bundespost erwägt, 400 zur Zeit noch laufende und eingesetzte Bahnpostwagen abzuschaffen, weil die Post mit 5 500 Lkw einfacher und schneller zustellbar ist?
Herr Staatssekretär, bitte.
Frau Präsidentin! Wenn Sie gestatten, würde ich gern die beiden Fragen des Kollegen Harries im Zusammenhang beantworten. Ich hoffe, der Herr Kollege Harries ist damit einverstanden.
Ja, er ist damit einverstanden.
Ich rufe also auch die Frage 30 des Abgeordneten Harries auf:
Beabsichtigt die Deutsche Bundespost, ihr Frachtgutkonzept mit dem Ziel einer deutlichen Beschleunigung zu verändern?
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Harries, die Masse der Postsendungen wird nach wie vor auf der Schiene transportiert. Die Deutsche Bundespost Postdienst läßt sich dabei von dem Grundsatz leiten, daß dem Schienenverkehr immer dann der Vorzug zu geben ist, wenn diese Art der Beförderung den Belangen des Postbetriebs ebensogut entspricht wie irgendeine alternative Transportorganisation.
Die Generaldirektion Postdienst plant nicht, die 400 eingesetzten Bahnpostwagen abzuschaffen. Sie beabsichtigt allerdings, im Jahre 1991 zusätzlich zu den im Gesamtbestand enthaltenen 117 sogenannten Schnelläufern weitere 27 und im Jahre 1992 voraussichtlich noch einmal 42 Fahrzeuge für eine Höchstgeschwindigkeit von 200 Stundenkilometern umzurüsten, um in noch größerem Umfang als bisher am Hochgeschwindigkeitsverkehr der Deutschen Bundesbahn teilzunehmen.
Auch die zur Zeit laufenden Planungen im Transportbereich Fracht bauen auf einer Kooperation von Bahn und Post auf. Das durch die Deutsche Bundespost Postdienst erarbeitete Frachtkonzept wird durch den flächendeckenden 24-Stunden-Rhythmus die derzeitige Laufzeitqualität erheblich verbessern.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, ob die Deutsche Bundespost bei ihren Entscheidungen die auch ökologische Auswirkungen haben können, vorher Kontakt und Abstimmung mit dem Bundesumweltminister sucht und findet?
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Das tut sie sicherlich, weil das ja der vorgeschriebene Weg ist, Herr Kollege, wie Sie wissen.
Eine Zusatzfrage Herr Toetemeyer.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben eben gesagt: Die Masse der Postsendungen wird durch die Bundesbahn transportiert. Könnten Sie das in Prozenten angeben?
Metadaten/Kopzeile:
1758 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Toetemeyer, das kann ich im Moment nicht. Wenn ich von der Masse spreche, gehe ich davon aus, daß es über 50 % sind. Ich bin gern bereit, Ihnen die exakte Zahl nachzuliefern.
Es liegen keine weiteren Zusatzfragen vor. Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Helmut Schäfer zur Verfügung.
Die Frage 31 des Kollegen Ortwin Lowack soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 32 des Kollegen Hans Wallow auf, der anwesend ist.
Welche politischen und organisatorischen Probleme entstehen bei den Hilfsmaßnahmen der Bundesrepublik Deutschland für die kurdischen Flüchtlinge mit türkischen Behörden einschließlich des Militärs?
Herr Kollege, die türkische Regierung und ihre Behörden haben nicht nur rasch und großzügig eigene Maßnahmen für die irakischen Flüchtlinge eingeleitet, sondern auch die deutsche und andere ausländische Hilfe von Anfang an nach besten Kräften unterstützt und koordiniert. Besonders in der Anfangsphase auftretende Schwierigkeiten waren angesichts der Einmaligkeit und der Dimension der gemeinsamen Hilfsaktionen kaum vermeidbar.
Über 500 000 Menschen flüchteten schließlich innerhalb kürzester Zeit unter schlechten Wetterbedingungen in eine unwegsame und abgelegene Hochgebirgsregion. Eine provisorische Infrastruktur mußte erst geschaffen werden.
Durch einen intensiven Dialog mit der türkischen Regierung und den türkischen Behörden, auch beim Besuch des Bundesaußenministers in der Türkei am 19. April, konnte eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit gesichert werden. Es konnten damit auch gewährleistet werden: die Versorgung von Hubschraubern mit Benzin, die Akkreditierung privater Hilfsorganisationen, Hubschrauberüberführungsflüge in den Iran und Zollabfertigung.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung bekanntgeworden, daß durch türkisches Militär Hilfsgüter gestohlen und anschließend auf Basaren verkauft worden sind?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Es gab solche Gerüchte. Aber wir haben keine festen Informationen über die Gerüchte, die gelegentlich in Zeitungen zu lesen waren.
Weitere Zusatzfrage.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß ein Journalist im Südwestfunk live über diese Diebstähle berichtet hat und daß es auch Fernsehaufnahmen gibt, die zeigen, daß Hilfsgüter in den
entsprechenden Orten auf den Basaren verkauft worden sind?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, es mag sein, daß ein Reporter des Südwestfunks live solche Unterstellungen oder Einlassungen gemacht hat. Ich kann nur darauf hinweisen, daß bei der Fülle der Hilfsgüter, die die Bundesregierung zur Verfügung gestellt hat, sicher im Einzelfall Mißbräuche nicht vermieden werden konnten. Aber wir haben keinerlei offizielle Hinweise darauf, und wir waren auch bemüht, solche Mißstände nach Möglichkeit zu vermeiden.
Es ist für mich ein bißchen schwierig, wenn immer einige im Saal stehen, zu erkennen, ob eine Zusatzfrage gewünscht wird oder ob es sich um einfaches Herumstehen handelt.
Der Kollege Rudolf Bindig hat eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, sind eine Reihe der Versorgungsschwierigkeiten, die am Anfang entstanden sind, nicht auch dadurch entstanden, daß die türkischen Behörden die geflohenen kurdischen Flüchtlinge nicht aus den Bergen in bessere Gebiete haben absteigen lassen, so daß deshalb so lange und schwierige Transportwege zu bewältigen waren?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, das ist sicher zutreffend. Wir hatten tatsächlich am Anfang solche Probleme. Sie wissen, daß wir von Anfang an, nachdem uns dies bekannt wurde, auf die türkische Regierung und auf die türkischen Behörden eingewirkt haben, damit die Flüchtlinge aus dem unwegsamen gebirgigen Gelände in die Täler absteigen durften, was ihnen schließlich auch erlaubt wurde.
Weitere Zusatzfrage zu dieser Frage? — Das ist nicht der Fall.Dann rufe ich die Frage 33 des Kollegen Wallow auf:Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung unternommen, tun die Freiheit der Berichterstattung über die Problematik der Hilfe für die kurdischen Flüchtlinge auf türkischem Gebiet zu gewährleisten bzw. gegen Einschränkungen durchzusetzen?Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Wallow, im Laufe der Flüchtlingskatastrophe im türkischirakisch-iranischen Grenzgebiet haben zeitweise über 500 Journalisten aus dem Katastrophengebiet berichtet. Diese Berichterstattung hat breiten Niederschlag in den internationalen Medien gefunden.Abgesehen von den Akkreditierungsformalitäten und Einschränkungen, die türkische millitärische Sicherheitsbereiche betroffen haben, konnte und kann die Presse im Krisengebiet im wesentlichen frei arbeiten. Darüber hinausgehende Klagen deutscher Journalisten sind nicht bekanntgeworden.Für besondere Maßnahmen seitens der Bundesregierung besteht daher kein Grund. Die Botschaft in Ankara hat sich zum Teil mit Erfolg bemüht, sogar hinsichtlich der erwähnten Einschränkungen, also in ganz bestimmte militärische Sicherheitsbereiche hinein, Erleichterungen zu erreichen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1759
Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung nicht bekanntgeworden, daß amerikanische Journalisten und auch ein deutscher Journalist auf Grund der Berichterstattung über die Diebstähle an Hilfsgütern unmittelbar darauf des Landes verwiesen worden sind?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, uns sind Fälle bekannt, etwa der dreier britischer Journalisten, denen die Akkreditierung dort auf Grund eines besonderen Zwischenfalls entzogen worden ist. Aber ich kann Ihnen zu den von Ihnen genannten Fällen keine Auskunft geben, und ich kann vor allem den Zusammenhang, den Sie herstellen, nicht bejahen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe Frage 34 des Kollegen Hans-Günther Toetemeyer auf:
Wie beurteilt das Auswärtige Amt die von mir dargestellten flagranten Völkerrechtsverletzungen durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft ?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Toetemeyer, Sie hatten in der Fragestunde am 25. April ausgeführt, daß spanische Fischer seit Sommer 1990 illegal in der 200-Meilen-Zone vor Namibia mehr als 45 000 t Fisch im Wert von ca. 120 Millionen DM gefangen haben. Kollege Gallus hat in der Sitzung vom 25. April im Namen der Regierung diese illegalen Aktivitäten von einzelnen spanischen Fischern bedauert und erklärt, daß die Bundesregierung der EG-Kommission gegenüber ihre Sorge zum Ausdruck gebracht hat. Diese Haltung war zwischen dem Landwirtschaftsministerium und dem Auswärtigen Amt abgestimmt. Sie wird vom Auswärtigen Amt voll mitgetragen.
Ergänzend darf ich betonen, daß es sich um illegale Aktivitäten von einzelnen spanischen Fischern gehandelt hat. Die spanische Regierung hat diese illegalen Aktivitäten gegenüber der Regierung Namibias inzwischen förmlich bedauert und ihre Zusammenarbeit zur Vermeidung ähnlicher Vorfälle in der Zukunft angeboten.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, da in allen der Europäischen Gemeinschaft angehörenden Parlamenten ähnliche Fragen gestellt worden sind: Hat es inzwischen eine Kontaktaufnahme der Außenminister untereinander gegeben, um auf die EG-Kommission einzuwirken, da der für die Fischerei zuständige Kommissar dieses Verhalten der spanischen Regierung ausdrücklich gedeckt hat?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe bereits darauf hingewiesen, daß wir mit der EG-Kommission, die zuständig ist, im Rahmen dieser Maßnahmen etwas zu tun, Kontakt aufgenommen haben. Wir haben uns dafür eingesetzt und gehen davon aus, daß auch die Fischereiverhandlungen mit Namibia bald fortgeführt werden können. Den weiteren
Verhandlungsverlauf werden wir mit großer Aufmerksamkeit verfolgen.
Zusatzfrage.
Wann hat es eine Besprechung der Außenminister zu diesem Fall gegeben? Könnten Sie mich darüber informieren? Welche konkreten Maßnahmen sind getroffen worden?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich kann Ihnen jetzt nicht sagen, in welchem der zahlreichen Außenministertreffen dieses spezielle Problem angesprochen worden ist. Aber ich habe bereits darauf hingewiesen, Herr Kollege Toetemeyer, daß die EG-Kommission von uns und auch von anderen Staaten darauf hingewiesen worden ist, daß die spanische Regierung es entsprechend bedauert hat und daß Verhandlungen zwischen der EG und Namibia auch im Hinblick auf die Frage der zukünftigen Fischerei vor der Küste geführt werden.
Herr Kollege, es ist der Regierung freigestellt, wie sie Fragen beantwortet oder nicht beantwortet. Ich kann leider Gottes nur zwei Zusatzfragen von Ihnen zulassen. Die Schlüsse aus den Antworten müssen Sie bitte selber ziehen.
Gibt es von einem anderen Abgeordneten Zusatzfragen zu Frage 34? — Das ist nicht der Fall.
Ich rufe Frage 35 des Kollegen Horst Sielaff auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß am 18./19. Mai 1991 in Annaberg/Polen ein Schlesiertreffen geplant ist, auf dem der Vorsitzende der Landsmannschaft Schlesien, Herbert Hupka, als Hauptredner auftreten wird, der den Grundlagenvertrag mit Polen als „übereilt und höchst unzulänglich ausgehandelt" bezeichnet hat, und teilt die Bundesregierung die Meinung, daß eine solche Veranstaltung der Normalisierung des Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen und der Versöhnung zwischen beiden Völkern höchst abträglich sein würde?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Wenn Herr Kollege Sielaff und Sie, Frau Präsidentin, einverstanden sind, möchte ich die beiden Fragen des Kollegen Sielaff gern zusammen beantworten. — Der Kollege ist einverstanden.
Dann rufe ich auch Frage 36 des Kollegen Horst Sielaff auf:Ist der Bundesregierung bekannt, daß am 18./19 Mai 1991 in Annaberg zeitgleich das Schlesiertreffen sowie, seitens polnischer Organisationen, ein Treffen anläßlich des 70. Jahrestages des 3. Schlesischen Aufstandes, der 1921 durch deutsche, in Schlesien zusammengestellte Corps niedergeschlagen wurde, geplant ist, und welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die damit zu erwartende Konfrontation zwischen Schlesiern und Polen zu verhindern?Helmut Schäfer, Staatsminister: Der Bundesregierung ist bekannt, daß am 18. und 19. Mai dieses Jahres ein Pfingsttreffen deutschstämmiger Oberschlesier am Annaberg geplant ist. Dieses Treffen fällt in der Tat mit dem 70. Jahrestag des von Ihnen erwähnten sogenannten 3. Schlesischen Aufstandes, eines polnischen Aufstandes, zusammen. Über die Teilnehmer an dem Treffen liegen der Bundesregierung keine definitiven Informationen vor.
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1760 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Staatsminister Helmut SchäferWie Ihnen bekannt ist, versucht die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit der polnischen Regierung Bedingungen zu schaffen, in denen eine endgültige Versöhnung zwischen Deutschen und Polen und ein auf Dauer einträchtiges Zusammenleben der in Polen lebenden Deutschen mit ihren polnischen Mitbürgern möglich wird. In diesem Sinn hat die Bundesregierung gegenüber den in Frage kommenden Gesprächspartnern in Deutschland zu dem geplanten Treffen am Annaberg Stellung genommen.Über ein zeitgleiches Treffen polnischer Organisationen aus Anlaß des erwähnten 70. Jahrestages des Aufstandes liegen der Bundesregierung keine sicheren Informationen vor.
Zusatzfrage, Herr Kollege Sielaff.
Ich muß der Ordnung halber darauf hinweisen, daß wir uns dem Ende der Fragestunde nähern, daß ich die Zusatzfragen noch zulasse, dies aber nicht sehr extensiv handhaben kann.
Also, Zusatzfrage, Herr Kollege Sielaff.
Herr Staatsminister, sind Sie mit mir der Auffassung, daß das Sperrfeuer der CSU gegen den ausgehandelten Text des Nachbarschaftsvertrages mit Polen den Abbau von Konfrontationen zwischen Deutschen und Polen negativ beeinträchtigt?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, das steht nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Frage nach einem Treffen am Annaberg.
Mir ist der Begriff „Sperrfeuer" zu militärisch; ich würde vielleicht eher von einer gewissen Art von Donner sprechen.
Aber, Herr Kollege, ich meine, wir sollten hier, wie schon so oft bei Fragestunden im Deutschen Bundestag, Dinge nicht dramatisieren wollen, die sich im politischen Leben von Parteien pausenlos abspielen und sicher ganz andere Motive haben als das Treffen am Annaberg und die Folgen.
So hat also auch die Antwort nicht unbedingt den Sachkomplex getroffen.
Herr Kollege Sielaff, weitere Zusatzfrage.
War geplant, Herr Staatsminister, daß der Parlamentarische Staatssekretär Priesnitz an diesem Treffen am Annaberg teilnehmen wollte oder sollte, wie es „Der Spiegel" am 6. Mai berichtete?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, da der Staatssekretär Priesnitz nicht dem Auswärtigen Amt angehört, fällt es mir sehr schwer, Ihnen auf diese Frage eine Auskunft zu geben. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß der Staatssekretär Priesnitz solche Absichten hatte. Ich habe aber auch irgendeiner Zeitung entnommen, daß er nicht dorthin fahren wird.
Es entzieht sich aber wirklich der Kenntnis des Auswärtigen Amtes.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, wäre es möglich, daß ich schriftlich nachgereicht bekommen könnte, ob Herr Priesnitz geplant hatte, an diesem Treffen teilzunehmen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, es wäre sicher sinnvoll, den zuständigen Bundesminister anzuschreiben, dem Herr Priesnitz als Staatssekretär untersteht.
Herr Staatssekretär, nur ein Hinweis, wenn er erlaubt ist: Die Bundesregierung ist gefragt.
Ich lasse jetzt noch drei Zusatzfragen zu; dann ist die Fragestunde beendet. Als erster hatte sich der Kollege Otto Schily gemeldet.
Herr Staatsminister, halten Sie das Schlesier-Treffen am Annaberg für hilfreich im Sinne der Förderung der deutsch-polnischen Beziehungen, und haben Sie vielleicht eine Anregung gegeben, anstelle dieses Treffens lieber ein deutsch-polnisches Treffen auf dem Annaberg zu veranstalten?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Zunächst einmal darf ich wiederholen, Herr Kollege Schily, daß die Anregung zu diesem Treffen von Deutschstämmigen, die in Polen leben, ausgegangen ist und daß wir bei all unseren Kontakten mit der deutschen Minderheit deutlich gemacht haben, daß es jetzt, in der Zeit eines ganz wichtigen Vertragsabschlusses darauf ankommt, nicht Emotionen aufzuheizen, sondern im Gegenteil alles zu tun, um das künftige Zusammenleben auch der deutschen Minderheit in Polen zu erleichtern, was natürlich wiederum mit der polnischen Regierung zusammenhängt.
Insofern ist jeder, der an einem solchen Treffen teilnimmt, gut beraten, wenn er die kulturellen Aspekte, die Sie in Ihrer Frage angesprochen haben, stärker in den Vordergrund stellt als möglicherweise politische Motive oder historische Reminiszenzen.
Ich werde mit Recht darauf hingewiesen, daß wir schon um vier Minuten überzogen haben. Deshalb lasse ich die letzte Zusatzfrage zu; das ist die Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Duve.
Herr Staatsminister, Sie haben eben im Zusammenhang mit unseren Fragen nach dem Annaberg die Bedeutung des Vertragswerks mit Polen erwähnt. Ist die am heutigen Tage stattgefundene Koalitionsbesprechung zum weiteren Vorgehen zwischen den drei Koalitionspartnern in Sachen dieses Vertrages im Zusammenhang mit dieser Diskussion über die Veranstaltung am Annaberg zu sehen, und sind Sie bereit, dem Haus hier über das Ergebnis dieses Gesprächs Mitteilung zu machen?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1761
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, da dieses Gespräch heute nachmittag nach meiner Kenntnis nicht zustande gekommen ist,
was aber nichts mit dem Treffen auf dem Annaberg, sondern mit wesentlich vordergründigeren Dingen zu tun hat, kann ich Ihnen diese Frage leider noch nicht beantworten.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde angekommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu Äußerungen des Bundeswirtschaftsministers zur Aufkündigung des Jahrhundertvertrages
Die Fraktion der SPD hat eine Aktuelle Stunde zu dem zuvor erwähnten Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schäfer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Der Energiepolitik der Bundesregierung fehlen Klarheit, Berechenbarkeit und Verläßlichkeit. Den jüngsten Beleg dafür liefert erneut Bundeswirtschaftsminister Möllemann: nach dem Zickzackkurs zum Kernenergieausbau in den neuen Bundesländern nun eine unnötige Kohlediskussion. Wir fragen uns: Wem eigentlich soll ein solches Verhalten nützen, Herr Wirtschaftsminister Möllemann?
Zum Sachverhalt: Am 24. August 1989 gibt der Bundeskanzler sein Wort. Viele Menschen verlassen sich darauf. Das Wort lautet: Der Jahrhundertvertrag für den Steinkohlenbergbau gilt bis 1995.
In der Koalitionsvereinbarung von Beginn dieses Jahres, die der Wirtschaftsminister mit ausgehandelt hat, heißt es noch: Die Kohleverhandlungen mit der EG werden auf der Basis von 40,9 Millionen t Steinkohle pro Jahr für die Verstromung geführt. Bis 1995 bleibt es beim Kohlepfennig.Heute will der Wirtschaftsminister davon nichts mehr wissen und mit dem Sturzflug der Steinkohle lieber heute als morgen beginnen, und zwar ohne Rücksicht auf energiepolitische, auf sozialpolitische, auf arbeitsmarktpolitische, auf regionalpolitische Vernunft.Meine Damen und Herren, soll auch in der Energiepolitik der Bundesregierung das Motto gelten: Es gilt das gebrochene Wort?
Ein klärendes und klarstellendes Wort des Bundeskanzlers, daß die Zusage für den deutschen Steinkohlenbergbau aus Sicht der Bundesregierung bis 1995 gilt, ist dringend geboten.
Herr Möllemann, gerade in der Energiepolitik, die langfristige Perspektiven braucht, bei der wir uns alle um einen neuen Konsens bemühen, sind Ihre Eskapaden überflüssig und schädlich. Man kann nicht einerseits einen energiepolitischen Konsens suchen und andererseits die Verhandlungsbasis zerstören, bevor man überhaupt mit den Partnern geredet hat. Mit diesem Stil werden Sie nicht nur in der Energiepolitik scheitern.Sie sollten statt dessen lieber Ihre energiepolitischen Schularbeiten machen. Sie haben bis heute keine einzige Maßnahme ergriffen, um die Kohlendioxidemissionen bis zum Jahre 2005 um 30 % abzusenken. Genau das hat die Bundesregierung beschlossen.Wir kennen keine konkrete Zahl von Ihnen oder eine Aussage darüber, wie der zukünftige Energiemix auszusehen hat und welche Rolle dabei die einzelnen Energieträger — auch die heimische Steinkohle und die heimische Braunkohle — spielen werden. Wir haben keine Klarheit, wie der Wirtschaftsminister langfristig zur Kernenergie steht. Es ist nicht erkennbar, welche Anstrengungen der Bundeswirtschaftsminister unternehmen wird, um die erneuerbaren Energien endlich in den Markt zu bringen. Auf allen diesen wichtigen energiepolitischen Feldern Fehlanzeige der Bundesregierung!
Statt mit konstruktiven Vorschlägen um Vertrauen und Konsens zu werben, schüren Sie mit Ihrem letzten Beitrag in der energiepolitischen Debatte Ängste, wecken Sie Emotionen, gefährden Sie mit Ihrem saloppen Gerede Arbeitnehmerexistenzen. Geben Sie endlich Eckpunkte eines energiepolitischen Gesamtkonzeptes vor, und halten Sie sich an gegebene Zusagen bei der Steinkohleverstromung!Wir Sozialdemokraten stehen jedenfalls zu unserem Wort, auch in der Kohlepolitik. Was vor der Bundestagswahl gegolten hat, gilt auch danach. Das ist übrigens auch ein Gebot der politischen Moral und der politischen Kultur, über die so oft bei uns, auch in diesem Hause heute an diesem Tage, geredet worden ist.
Nur wenn ein Gesamttableau auf dem Tisch liegt, kann man über die Rolle der einzelnen Energieträger in der Zukunft reden. Wir Sozialdemokraten haben klare energiepolitische Aussagen gemacht. Sie liegen diesem Hohen Hause vor.Wir meinen freilich, meine Damen und Herren, daß selbst bei Realisierung aller notwendigen Einsparpotentiale, bei Ausschöpfung aller Potentiale erneuerbarer Energien, bei Schaffung eines neuen energiewirtschaftlichen Ordnungsrahmens durch das Vorlegen eines neuen Energiegesetzes, das das Energiewirtschaftsgesetz aus dem Jahre 1935 ablösen muß, daß selbst bei Realisierung all dieser längst überfälligen energiepolitischen Maßnahmen die Kohle, die Steinkohle und die Braunkohle, für lange Zeit ein Eckpfeiler einer umweltverträglichen und sicheren Energieversorgung bleiben wird.
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1762 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Kollege Schäfer, kommen Sie bitte zum Schluß.
Noch ein Satz, Frau Präsidentin!
Deshalb muß ein Sockel heimischer Steinkohle und Braunkohle für die Stahlherstellung, für den Wärmemarkt und für die Stromerzeugung erhalten bleiben. Zum Gespräch über den Umfang dieses Sokkels im Rahmen einer vernünftigen Anschlußregelung nach 1995 sind wir Sozialdemokraten bereit.
Ich bedanke mich bei Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß wir hier, was die Redezeit und die Einstellung der Uhr betrifft, eine andere Regelung haben als bei uns im „Wasserwerk" in Bonn. Wenn hier die rote Lampe leuchtet, ist die Redezeit um und nicht etwa noch ein bißchen Zeit übrig. Ich bitte Sie, sich darauf einzurichten.
Jetzt hat der Kollege Heinrich Seesing das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Leben ist ohne Energie nicht möglich.
Wenn wir wollen, daß es auch noch in hundert Jahren menschliches Leben auf der Erde gibt, müssen wir schon jetzt die Frage nach der Energieversorgung nicht nur stellen, sondern auch beantworten. Viel Zeit haben wir nicht mehr zu verlieren. Deswegen ist es gut, wenn sich der zuständige Bundesminister Gedanken darüber macht. Nicht gut finde ich, daß er sich nur über eine Energieart so geäußert hat, daß man ihn eigentlich schelten müßte.
Es macht nämlich kaum einen Sinn, wenn man über Energieversorgung der Zukunft nachdenkt und nur über eine Energieart spricht.
Wir — das sind CDU und CSU — fordern nachdrücklich die Vorlage eines energiepoliltischen Gesamtkonzepts bis zum Herbst dieses Jahres. Es gibt auch für mich keinen Grund, von vertraglichen Vereinbarungen, die z. B. über die Nutzung der Steinkohle getroffen wurden, abzuweichen. Es liegen dazu eindeutige Aussagen in den Koalitionsvereinbarungen von CDU, CSU und FDP vor. Meine Glaubwürdigkeit möchte ich nicht gerne in Zweifel gezogen wissen.
Sollte es neue Bedingungen geben, muß mit allenBeteiligten gesprochen werden. Dazu zählen vor allem die Betroffenen, die Bergleute, die Steinkohlenwirtschaft und die Stromerzeuger.
Der Steinkohlenbergbau hat ein Optimierungsmodell vorgelegt. Danach ist es in beschränktem Maße möglich, die Produktionskosten zu senken. Darüber, ob die Vorschläge ausreichen oder nicht, wäre noch zu diskutieren. Die Bundesregierung sollte ihre Vortellungen dazu bald bekanntmachen.Eine vernünftige Energiepolitik muß die Energieversorgung über einen längeren Zeitraum berechenbar halten. Deswegen muß sich eine Planung für die Zukunft über einen Zeitraum von mindestens 15 bis 20 Jahren erstrecken.
Unstrittig scheinen mir die Ziele der Energiepolitik zu sein: erstens eine Versorgung zu Preisen, die uns international wettbewerbsfähig erhält, zweitens eine langfristige Versorgungssicherheit, drittens eine möglichst hohe Umweltverträglichkeit und viertens die soziale Akzeptanz. Aber darüber, welche Energieart in welchem Ausmaß eingesetzt werden soll oder darf, gibt es sicherlich unterschiedliche Auffassungen; denn jede Energieart ist mit Vorteilen und Nachteilen verbunden.Wie kompliziert diese Abwägungsprozesse sein können, kann man besonders am Beispiel der Steinkohle sehen. Deutsche Steinkohle bietet eine hohe Versorgungssicherheit. Deswegen haben wir den Bergbau mit erheblichen Subventionen — viele meinen, mit zu hohen Subventionen — am Leben gehalten. Für deren soziale Akzeptanz ist in Bergbauregionen gesorgt, leben doch diese Regionen immer noch von der Steinkohle und mit der Steinkohle. Eine soziale Akzeptanz, kurzfristig den Bergbau einzustellen oder auch nur einzuschränken, ist nicht zu erwarten. Deswegen müssen Maßnahmen, wie sie auch vom Bergbau selber vorgeschlagen werden, in einem vernünftigen, aber überschaubaren Zeitraum durchgeführt werden.Der Abbau von Subventionen kann ein Grund sein, die Steinkohlenförderung zu reduzieren. Mindestens gleichrangig muß aber auch die Belastung der Erdatmosphäre durch Kohlendioxidemissionen gesehen werden. Die Reduzierung des CO2-Ausstoßes betrifft aber nicht nur die Steinkohle, sondern auch Braunkohle, Erdöl und Erdgas. Deswegen hat es keinen Sinn, nur über eine Energieart zu sprechen.Ich will nicht verschweigen, daß ich eine Sicherheit für die deutsche Steinkohle nur sehe, wenn es gelingt, den Anteil der Stromerzeugung mit Hilfe der Kernenergie sehr langfristig zu halten. Ich befürchte allerdings, daß wir uns ziemlich kleinkariert mit deutschen Problemen beschäftigen und die sich abzeichnende Entwicklung eines europäischen Energiemarktes übersehen. Seine Perspektiven sind in das energiepolitische Gesamtkonzept einzubeziehen.Vergessen wir nicht, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Unsere wichtigste nationale Aufgabe ist der Wiederaufbau einer leistungsfähigen und umweltverträglichen Energieversorgung in den östlichen Bundesländern.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1763
Heinrich SeesingDanke schön.
Als nächstes hat Herr Abgeordneter Dr. Ulrich Briefs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ankündigung des Bundeswirtschaftsministers, den sogenannten Jahrhundertvertrag vorzeitig zur Disposition zu stellen, ist nicht ganz neu. Wirtschaftsminister Haussmann hat es schon früher durchblicken lassen: Nach den Wahlen in NRW und nach den Bundestagswahlen sollten die im Vertrag festgeschriebenen Verstromungsmengen in Deutschland geförderter Steinkohle reduziert werden.
Neu ist allerdings, daß der Anschluß der DDR nunmehr als weitere Begründung für die geplante Senkung der Verstromungsmengen und damit die Vernichtung weiterer Arbeitsplätze an Saar und Ruhr, in Ibbenbüren und im Aachener Steinkohlenrevier genannt wird. Vergessen wird dabei, daß das Ruhrgebiet eine höhere Arbeitslosigkeit als NRW hat und daß dieses Land sowie das Saarland wiederum eine höhere Arbeitslosigkeit als der Bundesdurchschnitt haben.
Nach wie vor suchen im Ruhrgebiet weit über eine Viertelmillion Menschen einen Arbeitsplatz. Nach wie vor zählt Nordrhein-Westfalen weit über 600 000 Arbeitslose. In dieser Situation ist jede politische Maßnahme zum weiteren Abbau von Arbeitsplätzen völlig unverantwortlich. Arbeitsplatzabbau im Westen mit der geradezu kataraktisch sich verstärkenden Arbeitslosigkeit im Osten zu begründen, das ist zynisch.
Als Abgeordneter, der in der letzten Legislaturperiode im Wahlkreis Recklinghausen im Ruhrgebiet in dem Wahlkreis mit der größten Bergbaustadt Europas, Herten, politisch gearbeitet hat,
sage ich: Herr Bundeswirtschaftsminister, vertreten Sie doch einmal Ihre Absichten und Ansichten dort auf einer Belegschaftsversammlung z. B. der Zeche Auguste Victoria. Oder warum sagen Sie nicht z. B. auf einer Belegschaftsversammlung auf der Zeche Sophia Jacoba in Hückelhoven im Aachener Revier den Bergleuten ins Gesicht, daß Sie die Absicht haben, ihnen ihre Lebensgrundlage zu nehmen? Dort droht bei der Schließung dieser Zeche die Arbeitslosigkeitsquote auf 20 bis 25 % zu steigen. Wollen Sie das verantworten? Können Sie das verantworten, insbesondere auch angesichts der Beschäftigungskatastrophe im Osten, die uns in der Zukunft noch gewaltige Bewältigungsanstrengungen abverlangen wird? Oder wollen Sie, geleitet von einem diffusen marktradikalen Credo, erreichen, daß sich die beiden Teile des neuen Deutschlands, der Osten und der Westen, gegenseitig auf immer höhere Grade von Arbeitslosigkeit hinauf schaukeln?
Ihre sonstigen Argumente dagegen sind Scheinargumente. An die Haupt-CO2-Ausstoßer, etwa die riesigen Braunkohlenkraftwerke der RWE-Tochter Rheinbraun westlich von Köln oder das BuschhausKraftwerk bei Helmstedt, gehen Sie doch gar nicht heran.
Wenn Sie auf die Kosten der Importkohle aus Südafrika in Höhe von nur 97 DM pro Tonne verweisen — die Ruhrkohle kostet demgegenüber 270 DM pro Tonne; das geben wir zu — , so vergessen Sie zugleich, daß die Importkohle mit Raubbau an der Natur und an der menschlichen Arbeitskraft oder unter zum Teil unmenschlichen Arbeitsbedingungen in der sogenannten Dritten Welt abgebaut wird.
Im übrigen geht es Ihnen und den hinter Ihnen stehenden Kräften, Herr Bundeswirtschaftsminister, im wesentlichen doch nur darum, unter dem Motto „Neubewertung der Atomenergie" die Weichen für den weiteren Ausbau der Atomenergieerzeugung zu stellen. Jedes der AKWs in der BRD hat allein ca. 4 000 Arbeitsplätze im Bergbau gekostet; das dürfen Sie nicht vergessen. Zusammen sind das über 60 000 Arbeitsplätze. Die Steinkohlenförderung und die in ihr vorhandenen Arbeitsplätze stören Sie einfach beim weiteren Ausbau der gefährlichen Atomenergieerzeugung.
Aber der Vorstoß von Bundeswirtschaftsminister Möllemann hat noch einen anderen Aspekt. Er stellt einen Angriff auf wichtige von den Gewerkschaften durchgesetzte Schutzvorkehrungen für abhängig Beschäftigte dar, und er ist womöglich der Vorbote eines Generalangriffs auf die Gewerkschaften, auf die Ergebnisse ihrer Kämpfe und Verhandlungen und auf ihre Rechte. Es ist zu befürchten, daß mit dem Gutachten der Deregulierungskommission, das jüngst der Bundesregierung übergeben wurde, der Prozeß eines solchen Generalangriffs auf die Gewerkschaften in Gang kommen soll.
Wir, die PDS/Linke Liste, sagen an die Adresse des Bundeswirtschaftsminsters Möllemann: Hände weg vom Steinkohlenbergbau und seinen Arbeitsplätzen!
— Das ist der Ton, den Sie gerne hätten. Er kann Ihnen nicht militärisch genug sein.
Ich hätte jetzt gerne, daß Sie zum Ende kommen.
Wir sagen: Hände weg von den Gewerkschaften und ihren Rechten! Wir werden in der zukünftigen Auseinandersetzung um gewerkschaftliche Rechte und um den Schutz der Arbeitsplätze in West und Ost an der Seite der Gewerkschaften und der Belegschaften stehen.
Herr Kollege Briefs, kommen Sie jetzt bitte zum Ende.
Betreiben Sie die Erfüllung des Jahrhundertvertrages und damit die Sicherung der Bergarbeiterarbeitsplätze!
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1764 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Dr. Ulrich BriefsWir fordern weiterhin die Auflösung des Verbundes von Steinkohleverstromung und Energieerzeugung und den Ausstieg aus der Atomenergie.
Herr Kollege Briefs, ich bitte Sie, jetzt das Rednerpodium zu verlassen. Ich habe vorhin gesagt, daß ich bei einer Aktuellen Stunde die Redezeit nicht dauernd in diesem Maße überziehen lassen kann.
Als nächster hat der Kollege Dr. Karl-Hans Laermann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, Herr Briefs, eine rationale Energiepolitik verlangt in erster Linie eine rationale Diskussion, und die Ebene der rationalen Diskussion haben Sie bei weitem verlassen.
Deswegen kann ich mich auch nicht weiter damit auseinandersetzen.Meine Damen und Herren, rationale Energiepolitik und in ganz besonderem Maße die Braun- und Steinkohlepolitik müssen schon wegen der besonderen natürlichen und technischen Gegebenheiten und wegen der davon abhängigen sozialen Strukturen langfristig angelegt sein. Das hat auch der Kollege Schäfer schon gesagt; da stimmen wir sicherlich überein.
Für die deutsche Steinkohle sind die Rahmenbedingungen im Kohleverstromungsgesetz, im Jahrhundertvertrag mit der Elektrizitätswirtschaft und im Hüttenvertrag mit den bekannten zeitlichen Befristungen festgelegt.Die daraus logischerweise folgenden Konsequenzen können nicht übersehen werden. Es ist ein zwingendes Gebot der Bergbauunternehmen wie der politisch Verantwortlichen, ihre Konzeptionen und Dispositionen an den veränderten Bedingungen und Parametern zu orientieren. Sie alle kennen genausogut wie Bundesminister Jürgen Möllemann die in der GATT-Runde vertretenen Positionen zur deutschen Kohlepolitik; oder vielleicht sollte ich sagen: gegen die deutsche Kohlepolitik. Sie kennen die Auffassung der Internationalen Energieagentur und nicht zuletzt auch die strikte Haltung der EG-Kommission zur Subventionierung der deutschen Steinkohle. Schließlich ist ja die Mikat-Kommission deswegen berufen worden, um ein Konzept für die Rolle und damit das Mengengerüst der deutschen Steinkohle nach 1995 mit dem Ziel zu erarbeiten, die Subventionen drastisch zu reduzieren und den Steinkohlebergbau von Altlasten zu befreien.Lassen Sie mich hier anmerken: Es ist ja zu begrüßen, daß die sogenannten Artikel-17-Betriebe aus der Knappschaftsversicherung herausgenommen werden sollen.
Aber es wäre nach Auffassung der FDP sinnvoll, wenn diese Regelung auf alle diejenigen im Bergbau Beschäftigten Anwendung fände, die nur über Tage tätig sind.
Wir können auch nicht übersehen, daß nach der deutschen Wiedervereinigung eine Situation eingetreten ist, die ein grundlegend neu überarbeitetes Energiekonzept dringend erforderlich macht: ein Konzept, das die deutsche Steinkohle im europäischen Kontext — meine Damen und Herren, ich wiederhole: im europäischen Kontext — als eine europäische Energiereserve einbezieht, ein Konzept, das verläßliche und auf Dauer belastbare Rahmenbedingungen für die Bergbauunternehmen und für die Strukturentwicklungen der betreffenden Regionen für die Zeit nach 1995 sichert. Daran wird im Bundeswirtschaftsministerium intensiv gearbeitet; das wissen Sie.Ich denke, daß sich der Übergang 1995 nicht abrupt vollziehen kann — auch nicht vollziehen darf — , sondern kontinuierlich erfolgen muß, mit Wirkungen möglicherweise auch schon vor 1995. Allerdings sage ich mit allem Nachdruck: Änderungen können nur im Einvernehmen aller Beteiligten — Bundesregierung, Landesregierungen, Unternehmen und auch der Gewerkschaft Bergbau und Energie — erfolgen! Über etwas anderes lassen wir mit uns überhaupt nicht reden.Genau darum ist Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann bemüht, und das wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen. Man muß nur genau hinhören, hinhören wollen, um zu erfahren, was er zum Subventionsabbau gesagt hat, und darf die Kritik an seinen Darlegungen nicht an einem einzigen Satz festmachen. Das Totschlagargument von der „Kohlelüge" ist tendenziös und bösartig. Das muß ich einmal mit aller Deutlichkeit sagen.
Und es hilft in dem von niemandem bestrittenen notwendigen Anpassungsprozeß überhaupt nicht: Es hilft nicht den Kumpels, und es hilft nicht den Menschen an Ruhr und Saar, nicht den Menschen in Hükkelhoven und Ibbenbüren und auch nicht den Menschen in der Lausitz.Deswegen unterstützt die FDP den Bundeswirtschaftsminister in seinem Bemühen um einen energiepolitischen Konsens. Die FDP will keiner persönlichen oder parteipolitischen Profilierung das Wort reden.
Wir wollen uns mit allen Beteiligten und Betroffenen, mit allen Parteien um eine Lösung der gewiß nicht einfachen Probleme bemühen: unter Berücksichtigung — hören Sie gut zu — der umweltpolitischen und der sozialpolitischen Maßstäbe.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1765
Dr.-Ing. Karl-Hans LaermannIch danke Ihnen.
Als nächster spricht Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was Herr Möllemann fordert, ist in gewissen Kreisen sicherlich außerordentlich populär. Und es ist leicht, gegen die — zugegebenermaßen sehr kostspielige — Subventionierung der westdeutschen Steinkohle zu polemisieren.
Ich kann auch sehr gut nachvollziehen, daß Bürger aus den ostdeutschen Braunkohlerevieren wenig Verständnis für die offenkundige Ungleichbehandlung haben: Im Westen werden mit Milliardenaufwand Arbeitsplätze erhalten, während im Osten der großflächige Zusammenbruch offenbar in Kauf genommen wird.
Dennoch: Es nützt wenig, den Kahlschlag im Osten jetzt zum Modell für den westdeutschen Kohlebergbau zu machen. Es ist ja nicht so, daß in Westdeutschland keine Strukturanpassung betrieben würde. Im Gegenteil: 50 000 Arbeitsplätze sind in den letzten Jahren abgebaut worden; weitere 30 000 sollen im Bereich der Steinkohle bis zum Jahre 2005 wegfallen.
Wir halten angesichts dessen wenig von der angedrohten Holzhammerpolitik des Bundesministers. Allerdings glauben wir auch nicht, daß eine Subventionierung des westdeutschen Steinkohlebergbaus im Umfang von 11 Milliarden DM pro Jahr auf Dauer vertretbar ist.
Wer also über den Jahrhundertvertrag bzw. über die Subventionierung der einheimischen Kohle debattiert, muß zunächst einmal überzeugende energiepolitische Gesamtkonzepte vorlegen, und genau das läßt der Bundesminister bisher vermissen.
Eine sinnvolle Kohlepolitik dagegen ist in folgende energiepolitische Grundlinien eingebunden:
Erstens. Wir verlangen den sofortigen Ausstieg aus der unverantwortbaren Atomenergienutzung, und zwar nicht nur aus den bekannten Sicherheitsgründen, sondern auch, um einen zeitlichen Spielraum zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen in den Kohlerevieren zu erhalten. Der Ausstieg aus der Atomenergie schafft Arbeitsplätze; nach einer Prognos-Studie bis zu 100 000 jährlich.
Zweitens. Wir fordern den schnellstmöglichen Ausbau von umweltverträglichen Einsatzmöglichkeiten für die Steinkohle, insbesondere zukunftsträchtige Investitionen für die Kraft-Wärme-Kopplung, den Ausbau der Nah- und Fernwärmeversorgung und den gleichzeitigen Verzicht auf Elektroheizung.
Drittens. Notwendig ist eine progressive Anhebung des allgemeinen Energiepreisniveaus, um die Energieeinsparung zu fördern. Die billigste und auch zukunftssicherste Energie ist die gesparte Energie.
Viertens. Wir brauchen umgehend die Bereitstellung von Ersatzarbeitsplätzen in den Steinkohlerevieren. Freiwerdende Kohlesubventionsmittel sind für den Regionalumbau zu verwenden.
Der vielzitierte Energiemix, der Konsens zwischen Kohle und Atomenergie, hat in der Vergangenheit zum Ausbau der Atomstromerzeugung, zur Verdrängung der Kohle, zum Abbau von Arbeitsplätzen geführt und gleichzeitig Energiesparmaßnahmen bzw. den Ausbau regenerativer Energien verhindert.
Die drohende Klimakatastrophe erzwingt eine schnellstmögliche Reduzierung der Verbrennung fossiler Energieträger. In einem ökologisch verantwortbaren Energiekonzept kann die Kohlefördermenge daher nur als Restgröße angesehen werden, nachdem alle Potentiale zur Energieeinsparung und zur Nutzung regenerativer Energien ausgeschöpft sind. Über Kohlefördermengen zu diskutieren, ohne den energiepolitischen Zusammenhang zu sehen, muß in die Irre führen.
Diese Regierung bleibt — wie übrigens leider auch einige SPD-Landesregierungen — der Energiepolitik der 70er Jahre verhaftet, die einseitig auf die Energieangebotsseite fixiert ist. Sie wollen nicht begreifen, daß es eigentlich um die Bereitstellung von Energiedienstleistungen gehen muß und daß hierzu nachfrageseitige Maßnahmen wie Energiespartechnologien, rationelle Energienutzung usw. preiswerter und umweltverträglicher sind.
Wir fordern deshalb ein regional- und energiewirtschaftliches Gesamtkonzept für die Steinkohle, das beschäftigungspolitische Maßnahmen sowie einen umweltverträglichen Steinkohleeinsatz insbesondere in der Kraft-Wärme-Kopplung vorsieht. Wir wollen den Jahrhundertvertrag nach 1995 durch einen KraftWärme-Kopplungs-Vertrag ersetzen, der die Steinkohlesubventionen an einen umweltverträglichen Steinkohleeinsatz bindet. Wir wollen den Kohlepfennig zugunsten einer allgemeinen Primärenergieabgabe abschaffen, um das Energiepreisniveau anzuheben und damit Energiesparmaßnahmen noch lohnender zu machen.
In dem von den GRÜNEN Anfang des Jahres vorgelegten Energiewendeszenario haben wir aufgezeigt, daß auch die CO2-Bilanz einer solchen Energiepolitik — wohlgemerkt: ohne AKWs — mehr als überzeugend ist. In zwanzig Jahren kann der Ausstoß an Kohledioxid um fast die Hälfte reduziert werden. Nicht zuletzt steigt die Versorgungssicherheit beträchtlich an, weil die Menge der importierten Energieträger massiv reduziert werden kann.
Also noch einmal an die Adresse des Bundeswirtschaftsministers: Es ist absolut unsinnig, durch polemische Rundumschläge Panik und Neidgefühle zu erzeugen, wenn man selbst noch keine über den nächsten Tag hinausreichenden energiepolitischen Konzeptionen vorlegen kann.
Danke.
Als nächster hat der Kollege Norbert Formanski das Wort.
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1766 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In den Bergbaurevieren rumort es. Nachdem heute morgen in der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" weitere Pläne des Bundeswirtschaftsministers bekanntgeworden sind, wonach er jetzt auch noch an die mit den Hüttenverträgen vereinbarten Kokskohlebeihilfen mit drastischen Streichungen herangehen will, wächst die Unruhe weiter. Als Betriebsratsvorsitzender einer Schachtanlage mitten im Ruhrgebiet weiß ich aus hautnaher Erfahrung, wovon ich rede. Deshalb warne ich auch und gerade vor diesem Hohen Hause.
Da ist inzwischen richtig Druck im Kessel. Wenn von Herrn Möllemann noch weiter angeheizt wird, dann fliegt der ganze Kessel in die Luft, dann brennt es tatsächlich an Rhein, Ruhr und Saar. Die Verantwortung dafür haben Bundesregierung und Regierungsparteien.
Ich frage die Bundesregierung, ob es denn wirklich in ihrem Interesse liegen kann, daß neben den sozialen Unruhen in den fünf neuen Bundesländern zusätzliche Unruhen in den Bergbauregionen provoziert werden. Wenn die Kohle-Kahlschlag-Pläne des Bundeswirtschaftsministers nicht ganz schnell und endgültig vom Tisch genommen werden, dann ist nicht nur der soziale Frieden in den Revieren ernsthaft gefährdet, sondern es kann ein Flächenbrand entstehen, gegen den es nicht genug Löschwasser geben wird.
Der Anpassungsprozeß im deutschen Steinkohlenbergbau läuft seit mehr als 30 Jahren, erst unkontrolliert und im Sturzflug, dann unter sozialliberaler Regierungsverantwortung geordnet und im Gleitflug. Die sozial verträglichen Lösungen haben es der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie ermöglicht, die unvermeidbaren Anpassungsschritte mitzutragen und auch gegenüber den Bergleuten zu vertreten. Damit ist der soziale Friede in den gebeutelten Bergbauregionen bisher erhalten worden.
Bergbau und Bergleute stehen heute mitten drin in einem weiteren Anpassungsprozeß, der 1987 mit der Bundesregierung und den Regierungsparteien verabredet wurde und der noch bis 1995 planmäßig verlaufen muß, bevor die damals vereinbarten Ziele erreicht werden können. In diesen sieben Jahren wird der Steinkohlenbergbau noch einmal fast 40 000 Arbeitsplätze aufgegeben haben, jedes Jahr mehr als 5 500.
Ich kann als Betriebsrat ein mehrstrophiges Lied davon singen, wie schwierig es ist, immer wieder jeden gesunden, leistungsfähigen und leistungswilligen 50jährigen Bergmann einzeln zu überzeugen, den Beruf an den Nagel zu hängen, auf Geld zu verzichten und einem Jüngeren Platz zu machen. Dahinter verbirgt sich die Bereitschaft, auch persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen, um anderen zu helfen. Dieses Füreinandereinstehen, diese Solidarität unter Bergleuten ist nicht überall selbstverständlich.
Jetzt aber den Bergleuten vorzuwerfen, ihnen gehe es viel zu gut und sie müßten für ihren Dienst an der Allgemeinheit mit Entlassung, sogar mit Arbeitslosigkeit bestraft werden, wie es der Bundeswirtschaftsminister anstrebt,
das haut dem berühmten Faß den Boden aus, das löst zusätzlich Verbitterung aus.
Inzwischen zweifeln immer mehr Menschen in den Bergbaurevieren daran, daß der Bundeskanzler sein Wort halten wird.
Auf den Schachtanlagen breitet sich der Zweifel sogar immer schneller aus, weil der Bundeskanzler hartnäkkig schweigt und schweigen läßt. Der Bundeswirtschaftsminister dagegen kündigt fast jeden Tag einen neuen Wortbruch an.
Herr Möllemann stellt den Jahrhundertvertrag zur Revision, die sozial verträgliche Anpassung in Frage und will sich klammheimlich aus dem Hüttenvertrag schleichen.
Ich sage Ihnen: Die Unsicherheit wird bald nicht mehr zu ertragen sein. Der Bundeskanzler darf nicht schweigen und sich nicht in den Wortbruch treiben lassen; denn einen Wortbruch haben die Bergleute und ihre Familien nicht verdient.
Glück auf!
Als nächster hat der Kollege Matthias Wissmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Formanski sprach eben davon, daß wir die Unsicherheit nicht schüren sollten.
Herr Kollege Formanski, mein Eindruck ist: Es gibt manche in Ihren Reihen, die genau dieses beabsichtigen.
Wir wollen die Diskussion versachlichen. Wir wollen zu einer Atmosphäre des Vertrauens beitragen.
Wir wollen Stetigkeit, Berechenbarkeit und Verläßlichkeit in der Energiepolitik.
Meine Damen und Herren von der SPD, wir sagen auch die unangenehmen Wahrheiten.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1767
Matthias Wissmann— Wir haben vor der Wahl deutlich gesagt, daß wir zum Jahrhundertvertrag stehen. Wir sagen es nach der Wahl genauso.
Wir haben vor der Wahl gesagt, daß nach 1995 eine Anpassungsregelung kommen muß, und wir sagen es nach der Wahl genauso.
Wir haben vor der Wahl klar gesagt, daß es ohne einen Energiemix aus Öl, aus Kohle, aus Kernkraft und regenerativen Energieträgern nicht geht. Und wir sagen es auch jetzt, wenn es um die Entwicklung eines energiepolitischen Gesamtkonzeptes geht.
Ich wäre dankbar, wenn innerhalb der sozialdemokratischen Reihen einmal ein klares Wort zu allen Elementen dieses Energiemixes, also auch zur Kernkraft, gesagt würde.
Sagen Sie etwas dazu, daß auf Dauer zukunftsfähige Regelungen für die Kohle nicht finanzierbar sind, ohne den Anteil der Kernkraft an diesem Energiemix zumindest auf einen absehbaren Zeitraum in der Zukunft zu gewährleisten.Meine Damen und Herren, natürlich gibt es unterschiedliche Meinungen. Aber ich bin froh, daß der Kollege Laermann für die FDP-Fraktion heute in seiner Rede eine Konzeption dargestellt hat, die auch in unserer Fraktion Zustimmung findet.
Wir bauen jetzt gemeinsam an einem energiepolitischen Konzept für die Zukunft, in dem die Rolle der deutschen Steinkohle nach 1995 neu definiert werden muß.Aber es ist doch ganz klar: Wir werden in diesem schwierigen Umstrukturierungsprozeß die Bergleute nicht alleine lassen. Wir werden nicht von gegebenen Zusagen abgehen. Wir werden für die Anpassung nach 1995 flankierende regionalpolitische und sozialpolitische Maßnahmen beschließen. Darauf kann sich jeder verlassen.
Dies ist auch Teil unserer Koalitionsvereinbarungen.
Meine Damen und Herren von der SPD, es wäre langsam einmal an der Zeit, die Widersprüche in den eigenen Reihen zu klären.
Es ist an der Zeit, daß Sie klarmachen, wie Ihre Position zur Kohle außerhalb der Reviergebiete ist, daß Sieendlich ein klares Wort zur friedlichen Nutzung der Kernkraft sprechen,
daß Sie Ihren Eiertanz in der Energiepolitik beenden, daß Sie endlich bereit sind zu sagen, was Sie sich unter einem Konsens in der Energiepolitik vorstellen. Das Hüpfen von Ast zu Ast in der Energiepolitik, wie Sie es tun, kann doch kein Gesamtkonzept ersetzen.
Es geht doch nicht darum, daß wir populistisch den Menschen sagen, was sie im Moment in der jeweiligen Region hören wollen, sondern es geht darum, daß wir ihnen auch unangenehme Wahrheiten sagen — aber nicht, indem wir Zusagen, die wir in der Vergangenheit gegeben haben, auflösen, sondern indem wir für die Zukunft ein Gesamtkonzept entwickeln, das auch in der zweiten Hälfte der 90er Jahre trägt. Kohle, Kernkraft, Öl, regenerative Energieträger — aus diesen Komponenten bauen wir ein Konzept für die zweite Hälfte der 90er Jahre.
Pro Jahr werden von den öffentlichen Haushalten, den Stromverbrauchern, zur Zeit rund 11 Milliarden DM aufgebracht, um die Förderung deutscher Steinkohle dem Weltmarktniveau anzupassen. Während die Förderung einer Tonne deutscher Steinkohle zur Zeit etwa 270 DM kostet, kann sie auf dem Weltmarkt für rund 100 DM eingekauft werden. Solche Beträge — darüber sind auch Sie sich im klaren — können auf Dauer nicht für ein Mengengerüst von derzeit 70 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten pro Jahr ausgegeben werden.
Kollege Wissmann, kommen Sie bitte zum Ende.
Das Konzept, das wir jetzt entwickeln müssen, muß dem Vertrauen gerecht werden, das die Bergleute in uns investieren. Es muß gleichzeitig ein wirtschaftlich tragfähiges Zukunftsmodell werden. Ich bin zuversichtlich, daß die Koalition in der Lage sein wird, ein solches Gesamtkonzept zu entwickeln.
Als nächstes hat der Kollege Paul Friedhoff das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Energiepolitik sind neue Konzepte notwendig; Lösungen, die Phantasie und Sachverstand erfordern, sind gefragt. Es darf nicht wahr sein, daß Denkanstöße zum Subventionsabbau vor der deutschen Steinkohle halt machen müssen und mit Totschlagargumenten wie „Kohlelüge" oder „Kahlschlagpolitik" diffamiert werden.
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1768 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Paul FriedhoffVerantwortliche Politik darf diesen Wirtschaftszweig nicht ausklammern, wenn hier ca. 130 000 Arbeitsplätze,
von denen jeder jährlich mit 75 000 DM subventioniert wird, betroffen sind. Die bisher über 120 Milliarden DM Subventionen, die in die Steinkohle geflossen sind, haben nicht etwa zur Schaffung neuer Arbeitsplätze beigetragen, sondern sind eher konsumiert worden. Dies ist in der Geschichte .der Bundesrepublik Deutschland beispiellos.
Der Strukturwandel in den 60er Jahren und schon in den 50er Jahren im Eisenerzbergbau vollzog sich ebenso wie der Wandel in der Textilindustrie in den 70er Jahren ohne dauerhafte staatliche Eingriffe und ohne nenneswerte öffentliche Unterstützungsprogramme.
In den deutschen Steinkohlerevieren wurde der erfolgreiche Strukturwandel durch die staatliche Alimentation verhindert
und mit der Versorgungssicherheit begründet.
Das dem Kohlebergbau vorgegebene Mengengerüst — bis 1995 müssen die Stromversorger jährlich 40,9 Millionen t Steinkohle abnehmen — hat das betriebswirtschaftliche Denken in den Bergbauunternehmen nicht gerade gefördert.
Für mich ist daher allenfalls ein Mengengerüst mit einer deutlich niedrigeren Preisvorgabe denkbar. Es dürften nur die kostengünstigsten Standorte, die in der Nähe der internationalen Wettbewerbsfähigkeit sein könnten, erhalten werden. Diese Wettbewerbsfähigkeit ist nur mit der Aufgabe auch liebgewordener Privilegien im deutschen Steinkohlenbergbau zu erreichen.Im folgenden möchte ich mich kurz auf zwei weitere Gesichtspunkte konzentrieren: den Abbau von Arbeitsplätzen und die Versorgungssicherheit.Für das Jahr 1991 erwarten wir in den alten Bundesländern die Schaffung von ca. 550 000 neuen Arbeitsplätzen. Gleichzeitig beklagen wir einen nicht unerheblichen Facharbeitermangel. Im Bergbau sind ca. 130 000 hochqualifizierte Arbeitnehmer beschäftigt. Diese könnten zum überwiegenden Teil auch in anderen Wirtschaftszweigen tätig werden.Die Zahlen machen deutlich, daß bei etwas gutem Willen und jener Flexibilität, die wir pausenlos in den neuen Bundesländern fordern, das Problem der Arbeitsplätze in den westdeutschen Bergbaurevieren sozialverträglich gelöst werden kann.
Lassen sie mich nun zur Versorgungssicherheit kommen. Es ist kein Geheimnis, daß auf dem Weltmarkt auch in absehbarer Zukunft genug Steinkohle verfügbar ist. Dies wird von niemandem ernsthaft bestritten. Mit der Vereinigung Deutschlands stehen zusätzlich große Braunkohlenvorräte zur Verfügung.In dem größer werdenden Europa, zu dem nun auch die Steinkohlenreviere in Polen und der CSFR gehören, läßt sich die Versorgung der Bundesrepublik mit Kohle auch bei erheblich verminderter Förderung von Steinkohle an Ruhr und Saar sicherstellen. Ich könnte mir beispielsweise ein sehr hilfreiches Engagement der deutschen Steinkohleindustrie in diesen Ländern vorstellen. Deutsches bergmännisches Know-how und Kapital wären für die Volkswirtschaft Polens und der CSFR wertvoll. Gleichzeitig würde langfristig die Versorgung Deutschlands mit Steinkohle aus europäischen Nachbarstaaten gesichert.Die immer wieder angeführten Probleme der deutschen Bergbauzulieferindustrie ließen sich auf diese Weise zumindest zum Teil ebenfalls lösen.Lassen Sie mich zum Abschluß nochmals betonen, daß die Diskussion über den Abbau der künftigen Subventionen für die deutsche Steinkohle so schnell wie möglich und nicht erst 1995 geführt werden muß. Nach den vielen Belastungen der deutschen Volkswirtschaft im Zusammenhang mit der Vereinigung müssen wir mit dem verstärkten Subventionsabbau soweit wie möglich für Entlastungen sorgen und so die Kapazitäten schaffen, um die Herausforderungen der Zukunft bewältigen zu können.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Frau Kollegin Jutta Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie werden verstehen, daß ich gerade als saarländische Bundestagsabgeordnete heute ganz besonders betroffen bin, daß wir hier in einer Aktuellen Stunde die Äußerungen von Bundeswirtschaftsminister Möllemann zum Optimierungsmodell des deutschen Steinkohlebergbaus und zum Jahrhundertvertrag diskutieren müssen. Ich habe nämlich wie viele andere Menschen in den Bergbaurevieren im August 1989 dem Bundeskanzler geglaubt, als er uns entsprechende Zusagen machte. Heute muß ich feststellen, daß dies ein Fehler war und daß, wie das heute schon öfter gesagt wurde, der nächste Wortbruch ins Haus steht.Ein lebensfähiger und leistungsfähiger Steinkohlebergbau ist für die Versorgungssicherheit unseres Landes unverzichtbar. Die Antikohlepolitik der Bundesregierung führt zwangsläufig in eine energiepolitische Sackgasse. Während die Versorgungssicherheit durch die heimische Steinkohle aufs Spiel gesetzt wird, ist ein störanfälliges Industrieland wie die Bundesrepublik demnächst von zwei Energieträgern abhängig, die beide unzuverlässig und gefährlich sind. Das Öl erhalten wir von einer Gruppe politisch instabiler Staaten, die auch nach dem Ende des Golfkrieges keine Versorgungssicherheit gewährleisten kön-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1769
Jutta Müllernen. Der Atomstrom birgt dagegen Risiken, die auch ein Minister für Reaktorsicherheit nicht verantworten kann.
Ich denke, man kann deshalb das Kohleproblem nicht auf ein bloßes Mengen- oder Subventionsproblem verkürzen. Jeder, der sich schon einmal mit Bergbau beschäftigt hat, weiß, daß die Bergbauunternehmen Planungssicherheit brauchen und daß sie mit langfristigen Vorgaben arbeiten müssen. Das bedeutet, daß in der Politik klare, berechenbare Vorstellungen über die Energiepolitik eines Landes vorhanden sein müssen. Es ist aber keine klare berechenbare Politik, wenn vier Jahre vor Auslaufen des Stromvertrages der Wirtschaftsminister die ganze Branche durch immer schärfere Forderungen in Unruhe versetzt, und genau dies tut er.Zu der Subventionspolitik möchte ich noch ein Wort sagen. Es wird von den Kohlegegnern oft verschwiegen, daß die Kohlesubventionen, die hier immer mit 10 Milliarden DM genannt werden, zum Großteil von den Stromverbrauchern getragen werden. Lediglich 3,8 Milliarden DM kamen bisher aus Bonn. Wenn man nun bedenkt, wie locker die Bundesregierung 11 Milliarden DM zur Sicherung eines anderen Energieträgers, nämlich für das Öl am Golfkrieg, ausgegeben hat, dann wird deutlich, was die Bundesregierung will, nämlich das Aus für den deutschen Steinkohlebergbau.
Ich finde, bei aller Diskussion über Mengen, Subventionen und Preise wird das menschliche Schicksal der Bergleute im Saarland und an der Ruhr vergessen. Die Menschen im Saarland haben durch die Stahlkrise und durch den Abbau von Zehntausenden von Bergbauarbeitsplätzen in den vergangenen Jahren schon genug einstecken müssen. Ein weiterer Abbau der Kohleindustrie hätte für uns Saarländer katastrophale Auswirkungen. Diesmal wären besonders viele junge Familien vom Beschäftigungsabbau betroffen, weil die älteren Beschäftigten schon im Rahmen der 1987 und 1989 getroffenen Kohlevereinbarungen die Betriebe verlassen haben. Es ist eine Illusion, zu glauben, mit Mengenkürzungen seien kurz- oder mittelfristig Subventionskürzungen zu erreichen. Die Erfahrung lehrt, Stillegungsmaßnahmen erfordern hohe Anpassungshilfen, die von den Unternehmen nicht aufgebracht werden können. Mir scheint, darüber hat sich die Bundesregierung noch nicht viele Gedanken gemacht.Es entsteht auch der Eindruck, daß es am politischen Willen fehlt, sich solche Gedanken zu machen, und daß es am politischen Willen fehlt, dem Bergbau durch Modernisierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen eine faire Chance zu geben. Denn hier gibt es auch einige Widersprüche. Einerseits fordert der Bundeswirtschaftsminister den Steinkohlebergb au auf, die Förderkosten pro Tonne zu senken, während zur gleichen Zeit der Forschungsminister die Entwicklungsförderung für bergbauspezifische Automatisierungsprojekte kürzt. Das kann man nicht als Kontinuität einer Politik bezeichnen, es sei denn, man reduziert es auf die Aussage: Die Kontinuität der Politik des Bundeswirtschaftsministers besteht darin, kontinuierlich Chaos zu verbreiten.
Lassen Sie mich zum Schluß als Saarländerin auch noch ein Wort an das Kabinettsmitglied Bundesumweltminister Töpfer richten, der leider heute hier nicht anwesend ist. Das zeigt auch schon einiges.
Ich möchte Herrn Töpfer mal daran erinnern, daß er als Abgeordneter einen Wahlkreis vertritt, in dem die meisten Menschen vom Bergbau leben.
Diese Menschen haben ein Anrecht darauf, daß auch er ihre Interessen vertritt, und diese Menschen warten bis heute auf ein klares Wort und auf seine Unterstützung als Kabinettsmitglied. Ich möchte das hier an dieser Stelle mal für die saarländische Bevölkerung einklagen. Ich denke, daß die Bergleute an der Saar und an der Ruhr diese Behandlung, wie sie zur Zeit erfolgt, nicht verdient haben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Herr Kollege Ernst Hinsken.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich meine, daß gerade bei dieser Debatte Polemik wenig am Platz ist, und ich verstehe es nicht, Frau Kollegin, wenn Sie sich darüber mokieren, daß der Bundesumweltminister, Professor Töpfer, nicht hier ist, der wahrlich anderen Terminen nachzugehen hat. Die zwei Ministerpräsidenten der Revierländer, Johannes Rau und Oskar Lafontaine, haben uns dagegen nicht einmal einen Vertreter hierher geschickt.
Dafür fehlt mir das notwendige Verständnis.
Meine Damen und Herren, Kohlepolitik hat die Aufgabe, die Gesamtheit aller energiepolitischen Zielsetzungen unter ökonomischen Aspekten zu realisieren. Der in der Bundesrepublik betriebene Kohleprotektionismus belastet den Steuerzahler und den Stromverbraucher. Wenn wir das, was im Bereich der Kohle geschieht und zur Diskussion ansteht, mit dem Beiwort Politik versehen, so bedeutet dies auch, daß als Bestandteil jeder Neuorientierung auch der Blick auf die Menschen, die von dieser Politik betroffen werden, nicht fehlen darf.Unbestritten: Solide Wirtschaftspolitik — auch für die Zukunft — erfordert, Subventionen des Staates zu überprüfen und abzubauen.
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1770 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Ernst HinskenDabei muß alles — auch der Jahrhundertvertrag der Kohle — auf den Prüfstand.
Deshalb pflichte ich Bundeswirtschaftsminister Möllemann bei, wenn er zu einem grundlegenden Nachdenken fiber die Kohlepolitik ohne Tabus aufruft
und den Jahrhundertvertrag, der vor 15 Jahren von dem damaligen Wirtschaftsminister und jetzigem FDP-Vorsitzenden, seinem politischen Urgroßvater, ausgehandelt wurde, zur Disposition stellt.Allerdings darf nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden. Ich pflichte deshalb dem badenwürttembergischen Ministerpräsidenten Teufel und dem bayerischen Wirtschaftsminister Dr. Lang, mit letzterem ich heute nachmittag noch telefoniert habe, bei,
wenn sie feststellen, daß der Vertrag, der 1995 ausläuft, nicht verlängert werden soll, Sie aber einen sofortigen Ausstieg aus dem Vertrag nicht Rechtens finden. Jetzt erwarte ich von Ihnen, der Opposition, Beifall.
Meine Damen und Herren, betrachten wir uns die Fakten der Kohlepolitik. Das immer wieder zitierte Argument der Versorgungssicherheit hat durch die Verbreiterung der Primärenergieerzeugung und der Bezugsquellen durch den Einsatz der Kernenergie und nicht zuletzt durch die Schaffung des Binnenmarktes an Bedeutung verloren. Die nunmehr im Osten unseres Landes zur Verfügung stehenden langfristig wettbewerbsfähigen Braunkohlereserven sind ein weiterer Aspekt, die bei der Diskussion über ein neues energiepolitisches Gesamtkonzept nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Mit Milliarden wird heute eine Kohleförderung subventioniert, die wenigstens dreimal so teuer ist wie vergleichbare Importkohle. Die Subventionierung eines Arbeitsplatzes im Steinkohlebergbau ist mit 70 000 DM eine ökonomische Fehlleistung ohnegleichen.
Denn nicht nur der Steuerzahler, sondern auch der Stromverbraucher — sei es der Privathaushalt oder sei es die Industrie — werden durch den Kohlepfennig belastet. Nimmt man zum Kohlepfennig die Eigenbelastungen der Energieversorgungsunternehmen hinzu, so verteuert die Kohle den Strom um bis zu zwei Pfennig pro Kilowattstunde.Dies geht zu Lasten der betroffenen Stromabnehmer, die ihre Kosten über den Verkaufspreis ihrer Produkte wieder einspielen müssen. Die deutsche Wirtschaft sieht sich hier einem Wettbewerbsnachteil ausgesetzt, den wir im Hinblick auf den rauhen Wettbewerbswind des Binnenmarktes allen Ernstes nicht wollen können.
— Dem Zwischenrufer möchte ich einmal sagen: Wenn er etwas von dem angesprochenen Problem verstände und wenn er qualifizierte Zurufe tätigte, dann ginge ich darauf ein. So aber muß ich die Zurufe beiseite lassen, weil sie keiner Antwort wert sind.
Ich darf bei der Gelegenheit auch darauf verweisen, daß sich in meinem Wahlkreis ein Betrieb mit 350 Mitarbeitern befindet, der sehr gut bezahlt, leider keine Frachthilfe mehr bekommt und keine Zonenrandabschreibung mehr tätigen kann, aber mit 170 000 DM jährlich allein über den Kohlepfennig belastet wird. Das heißt — umgerechnet —, er könnte jedem Mitarbeiter jährlich um 500 DM mehr bezahlen, wenn er mit der Last, die er hier zu erbringen hat, nicht konfrontiert wäre.
Meine Damen und Herren, ein zweiter Aspekt ist von wesentlicher Bedeutung: Die EG-Kommission ist nicht mehr bereit, die Kohlesubventionierung, wie sie in Deutschland betrieben wird, hinzunehmen. Spätestens 1993, wenn in Brüssel eine neue Beihilfeentscheidung getroffen werden muß, werden wir vor dem Scherbenhaufen einer verfehlten Kohlepolitik stehen, wenn wir das Problem nicht endlich mutig und offensiv angehen. Eine bloße Verschiebung des Problems auf der Zeitachse bis 1993 oder 1995 ist kein politisches Konzept. Ein dann drohender abrupter Ausstieg aus der Kohleförderung mit dem Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen ist ein Szenario, das schon heute durch sozial- und strukturpolitische Flankierungen verhindert werden muß.
Kollege Hinsken, kommen Sie bitte zum Schluß.
Herr Bundesminister Möllemann, ich fordere Sie auf, Ihre Vorschläge unverzüglich und in einem sozialpolitisch verträglichen Rahmen voranzutreiben und die Betroffenen und Verantwortlichen an einen Tisch zu holen, die Gewerkschaften und den Steinkohlebergbau. Alle zusammen sind gefordert.
Wir als Politiker werden sicherlich unseren Beitrag dazu leisten, daß eine maßgeschneiderte soziale Abfederung Platz greift.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft, Jürgen Möllemann.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gern mit der nachdenklichen und rationalen Art, mit der der Kollege Friedhoff das
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1771
Jürgen W. MöllemannThema hier behandelt hat, ein paar Bemerkungen zum Gegenstand der heutigen Debatte machen und zunächst einmal die Tatsachen beschreiben.Tatsache ist, daß die Koalitionsvereinbarung und die Regierungserklärung zu Beginn der Legislaturperiode festgelegt haben, daß Steinkohle und Braunkohle auch im vereinten Deutschland zu einer sicheren Energieversorgung beitragen müssen, allerdings auf einem niedrigeren Niveau als bisher. Ich stehe voll zu dieser politischen Linie und nehme sie ernst, allerdings auch in bezug auf den letzten Absatz.Dabei bitte ich um Verständnis, daß es heute angesichts der Tatsache, daß die Gespräche mit den in der Energiepolitik Tätigen, von ihr Betroffenen, an ihr Beteiligten erst kürzlich begonnen haben, noch nicht möglich ist, mengenmäßig im Blick auf die künftige Tonnenzahl zu konkretisieren, wo dieses niedrigere Niveau angesiedelt sein wird.Ich habe mir vorgenommen — das ist ebenfalls Gegenstand der Regierungserklärung — , im Herbst ein energiepolitisches Gesamtkonzept vorzulegen, zu dessen wichtigsten Eckpunkten neben der Integration der neuen Bundesländer in den gesamtdeutschen Energiemarkt, neben den Fragen des Klimaschutzes und der Kernenergie vor allem die Kohlepolitik gehört. Mir geht es um einen möglichst breiten energiepolitischen Konsens über den künftigen Energiemix, und das setzt die Diskussion mit allen Beteiligten voraus, in einer parlamentarischen Demokratie auch eine öffentliche Diskussion über die sich wandelnden Eckpunkte.Das praktizieren wir übrigens. Ich denke, die Sozialdemokratische Partei führt solche Diskussionen über streitige Themen dieser Art auch öffentlich. Ich halte es für absurd zu glauben, man könnte dieses Thema im verschlossenen Kämmerchen behandeln und am Ende den überraschten Betroffenen das Ergebnis mitteilen. Das ist nicht mein Verständnis von Demokratie.
Die entsprechenden politischen Gespräche mit den Ministerpräsidenten der Kohleländer, mit den zuständigen Fachministern in den Ländern, mit den Spitzen auch der Parteien sind aufgenommen worden. Ich werde sie fortführen und bin gespannt zu sehen, welche Bereitschaft zur Rationalität sich bei den verschiedenen Beteiligten zeigt. Das ist für mich als Liberalen für die Zukunft über den Bereich der Energiepolitik hinaus von Bedeutung.Das Denken in diesen Fragen lasse ich mir im übrigen von niemandem verbieten. Ich würde mich freuen, wenn sich möglichst viele dieser Anstrengung unterzögen, bevor sie sich mit Totschlagargumenten, wie sie zum Teil auch hier wieder gekommen sind, zu Wort melden.Folgende Fakten liegen auf dem Tisch. Erstens. Die Grundlinien der bisherigen Kohlepolitik wurden vor der deutschen Einheit formuliert. Es kann nicht bestritten werden, daß die Rolle der Steinkohle im Energiemarkt des vereinten Deutschlands abgenommen hat. Die Steinkohle ist nicht mehr der wichtigste heimische Energieträger. Diese Rolle hat die Braunkohle in Ost und West übernommen. Dies kann nicht ohne Auswirkungen auf die Rolle der heimischen Energiequellen für die Versorgungssicherheit bleiben. Wenn die Braunkohle in den neuen Bundesländern den aus ökologischen und ökonomischen Gründen unvermeidlichen Anpassungsprozeß hinter sich haben wird, wird sie ebenso ein wettbewerbsfähiger Energieträger sein wie die rheinische Braunkohle. Die deutsche Steinkohle hingegen ist und wird auch in Zukunft aus vielerlei Gründen nicht wettbewerbsfähig sein. Dies hat das Optimierungsmodell des Steinkohlenbergbaus erneut gezeigt. Die Preisdifferenz zwischen deutscher Steinkohle und Importkohle beträgt pro Tonne heute 180 DM. Den Differenzbetrag zahlen Verbraucher und Steuerzahler.Zweitens. Der Aufbau in den neuen Bundesländern fordert die öffentlichen Finanzen weit stärker, als zunächst erwartet. Hinzu kommen zusätzliche notwendige Hilfe für Osteuropa, zusätzliche Herausforderungen in der Familienpolitik, um nur einige Bereiche zu nennen.Ich halte deshalb aus Wirtschafts- und finanzpolitischen Gründen und auch im Blick auf die beschlossenen Steuererhöhungen einen gleichzeitigen nachhaltigen Subventionsabbau für unabdingbar.
Die Koalition hat in den gleichen Beschlüssen, die ich hier schon mehrfach zitiert habe, festgelegt, daß beginnend mit dem Jahr 1992 10 Milliarden DM pro Jahr an Subventionen abgebaut werden sollen. Davon kann die Kohle nicht ausgenommen werden. Sie stellt den größten Posten in meinem Haushalt dar. Ich kann nicht von anderen Ressorts Subventionsabbau verlangen, ohne dazu im eigenen Bereich bereit zu sein. Der für die Jahre 1992 bis 1994 vorgesehene Plafond für die Kokskohlenbeihilfe wird also enger werden. Ich verstehe auch, Herr Kollege, die Überraschung darüber nicht. Der Bundeshaushaltsentwurf 1991 weist dies bereits ausdrücklich aus. Er liegt Ihnen zur Beratung vor, dort steht dies in der mittelfristigen Finanzplanung, vom Kabinett einstimmig beschlossen. Man braucht nur nachzusehen. Inwieweit sich dies auf die Mengen auswirkt, wird auch davon abhängen, wie der Bergbau die Kosten in den Griff bekommt.Ich will nicht verhehlen, daß ein weiterer Abbau von Arbeitsplätzen auch im westdeutschen Bergbau unvermeidbar ist. Darüber bin ich mir im übrigen mit den Landesregierungen der Kohleländer auch einig. Gestern habe ich mit Herrn Minister Einert darüber gesprochen. Dies hat auch der Vorsitzende der IG Bergbau und Energie in seiner Rede auf dem Kongreß deutlich erklärt.Das wird im Rahmen regionaler und sozialer Flankierung geschehen. Wir können aber nicht bei der Braunkohle in den neuen Bundesländern in einem sehr viel schwierigeren sozialen Umfeld massiven Beschäftigungsrückgang verlangen — dieser wird sich innerhalb von drei Jahren um die Hälfte vollziehen —, im westdeutschen Steinkohlenbergbau aber daran festhalten, daß kein Bergmann in den Arbeitsmarkt entlassen wird. Bei einem Durchschnittsalter von
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1772 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Jürgen W. Möllemann35 Jahren wäre die Vorstellung, hier mit Ruhestandsregelungen zu arbeiten, auch einigermaßen absurd. Ein derartiger Unterschied der sozialpolitischen Maßstäbe ist im vereinten Deutschland nicht vertretbar.
Im Hinblick auf den Jahrhundertvertrag bis 1995 halte ich es für geboten, darauf hinzuweisen, daß die seinerzeit beim Bundeskanzler beschlossenen 40,9 Millionen Tonnen pro Jahr nicht eine einseitige deutsche Angelegenheit sind, sondern von der EG-Kommission akzeptiert werden müssen. Das ist keine Überraschung, sondern allen Beteiligten seit langem bekannt. Die EG-Kommission hält den Vertrag für grundsätzlich genehmigungsfähig. Sie will ihn allerdings nicht unverändert hinnehmen. Sie verlangt eine begrenzte Absenkung der Menge bis 1993. Sie hat dem Bergbau mitgeteilt — ich zitiere wörtlich aus dem Schreiben der EG-Kommission— :Die Freistellung des Jahrhundertvertrags ist mit der Maßgabe zu gewähren, daß die Bezugsverpflichtungen für Steinkohle— der öffentlichen Elektrizitätswirtschaft —so weit reduziert werden, daß sie bis zum 31. Dezember 1993 die Jahresbezugsmenge von 30 Millionen Tonnen nicht überschreiten.Die Bezugsverpflichtungen der Elektrizitätswirtschaft sollen also nach Auffassung der EG-Kommission von 34,4 Millionen Tonnen, die der Gesamtmenge von 40,9 Millionen Tonnen zugrunde liegen, auf 30 Millionen Tonnen reduziert werden.Ich werde die Verhandlungen mit der EG-Kommission im Einklang mit der Regierungserklärung des Bundeskanzlers in Kürze aufnehmen. 40,9 Millionen Tonnen sind dabei die Verhandlungsbasis. Verhandlungsgegenstand ist also nicht der Jahrhundertvertrag als solcher, wohl aber die Fördermenge, die Verstromungsmenge, die im Laufe der letzten Jahre schon einmal verändert worden ist, beispielsweise durch die Verabredung, die hier mehrfach erwähnt worden ist. Der Jahrhundertvertrag sah für den jetzigen Zeitraum ursprünglich ja 45 Millionen Tonnen vor, und es kam dann doch zu einer Reduzierung der Menge. Jetzt geht es wieder um die Menge. Man soll nicht so tun, als würde der, der über die Menge redet, den Vertrag als solchen in Frage stellen.
Die Verstromung deutscher Kohle ist aber nicht nur eine Frage bis 1995. Die Bundesregierung hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß es auch nach 1995 eine langfristige Verstromungsregelung geben muß. Sie wird Bestandteil energiepolitischen Konzeptes der Bundesregierung sein.Auch dafür brauchen wir das Plazet aus Brüssel. Ich habe den Eindruck, daß die EG-Kommission die Verstromungsmengen des Jahrhundertvertrages in einem engen Sachzusammenhang mit der Kohleverstromung ab 1996 sieht. Hier dürfen wir nicht zu kurz denken. Die Steinkohle braucht in der Tat eine langfristige Perspektive. Unser Hauptziel muß es sein, mitder EG-Kommission über eine vernünftige Menge einen Konsens zu erzielen.Meine Damen und Herren, dies als Schlußbemerkung: Hier ist moniert worden, daß ich nach jetzt knapp 100 Tagen Amtszeit nicht die Fortschreibung für ein endgültiges energiepolitisches Konzept vorgelegt habe. Sie wissen sehr wohl, daß wir uns in den ersten Wochen meiner Amtszeit sehr energisch und engagiert mit der Frage des Strategiekonzepts Aufschwung Ost beschäftigt haben. Sie wissen auch sehr wohl, daß es zwingend notwendig ist, in der Frage eines energiepolitischen Konsenses, wenn man ihn wirklich ernsthaft anstrebt, mit allen Beteiligten zu sprechen. Es ist aber ganz gewiß nicht so, daß man in ein Gespräch über einen Konsens mit einer Position zu gehen hätte, die sozusagen die Übernahme der Position der anderen Seite beinhaltete. Das können Sie ernsthaft nicht so meinen.Im übrigen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, bitte ich Sie herzlich — —
Herr Bundesminister, ich muß Sie leider darauf aufmerksam machen, daß so die Verlängerung der Debatte ermöglicht wird. Sie überschreiten die Redezeit. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, weil wir ansonsten bei der Gesamtdebattenlage in außerordentlich große Schwierigkeiten kommen.
Ich danke Ihnen dafür, daß Sie mir die gleiche Großzügigkeit angedeihen lassen, wie sie die Präsidentin zuvor einigen Rednern geboten hat, und komme deswegen zur letzten Bemerkung.
Ich halte es für zweckmäßig, meine Damen und Herren, daß wir ganz nüchtern auf der Grundlage der Fakten über das künftige Konzept diskutieren und daß wir jetzt hier nicht den Eindruck erwecken, als gehe es darum, mit Totschlagargumenten Feindbilder aus dem Weg zu räumen, die man vorher selbst aufgebaut hat.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Jung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Möllemann, wenn Sie es wirklich ernst damit meinen, einen neuen energiepolitischen Konsens zu suchen — ich betone: einen neuen energiepolitischen Konsens; es kann nicht um den alten gehen —, dann können Sie diese Suche nicht damit beginnen, daß Sie einen Generalangriff auf einen Energieträger, nämlich auf die heimische Steinkohle, fahren.
Damit verbauen Sie sämtliche Konsensmöglichkeiten für die Zukunft.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1773
Volker Jung
Es muß noch einmal eindringlich daran erinnert werden, daß der Bundeskanzler im August 1989 den Ministerpräsidenten der Bergbauländer zugesagt hat, das Mengengerüst der Kohleverstromung bis 1995 zu gewährleisten. Um dieses Thema geht es, nicht um die Anschlußregelung.
Zur Anschlußregelung hat mein Kollege Schäfer erklärt, daß wir über die Modalitäten zu sprechen bereit sind. Auf der Grundlage des geltenden Jahrhundertvertrages haben die Bergbauländer einen Teil der Finanzierungslasten aus dem Ausgleichsfonds in ihre Haushalte übernommen. Auf dieser Grundlage wurde auch die Mikat-Kommission eingesetzt, die die Grundzüge einer Anschlußregelung für den geltenden Jahrhundertvertrag erarbeitet hat. Auf dieser Grundlage hat der Steinkohlenbergbau, der die Anpassung aus der letzten Kohlerunde vom Dezember 1987 erst noch verkraften muß, sein Optimierungsmodell errechnet, das Möllemann schnöde vom Tisch gefegt hat.Was ihm offenbar noch gar nicht aufgefallen ist, ist der Umstand, daß sich der Zuschußbedarf der Steinkohleverstromung nach dieser Rechnung um ganze 3,4 Milliarden DM verringern würde. Das hat zwar mit dem Bundeshaushalt überhaupt nichts zu tun, denn der Kohlepfennig ist eine Ausgleichsabgabe innerhalb der Elektrizitätswirtschaft. Insofern ist das Argument völliger Unfug, daß man mit einer Reduzierung der Steinkohleverstromung Subventionen einsparen könnte.Was ihm auch nicht aufgefallen ist, ist der Umstand, daß jede weitere Förderreduzierung den Staatshaushalt zusätzlich belasten würde,
und zwar in Form von Stillegungskosten, Sozialplankosten, Kosten für Arbeitslosenunterstützung usw. Diese Kosten tauchen zwar nicht in seinem Etat auf, belasten aber gleichwohl die Allgemeinheit. Das sollte der Wirtschaftsminister eigentlich wissen.
Wenn Herr Möllemann heute geltend macht, daß die Zusage des Bundeskanzlers vor der deutschen Einigung gegeben wurde, dann ignoriert er schlicht die Tatsachen. Dazu ist zu sagen:Erstens. Die Zusage des Bundeskanzlers wurde nach der deutschen Einigung mehrfach bestätigt, zuletzt in der Regierungserklärung vom Januar 1991, zu einem Zeitpunkt also, als Möllemann der Bundesregierung schon als verantwortlicher Minister angehörte. Das heißt: Ihn intressiert nicht nur sein Geschwätz von gestern nicht, sondern er straft auch seinen eigenen Regierungschef Lügen. Deshalb sagen wir: Darum muß der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister zur Ordnung rufen.
Zweitens. Die Verstromung heimischer Steinkohle hat mit der deutschen Einigung eigentlich überhaupt nichts zu tun. Hier wird doch nur der durchsichtigeVersuch gemacht, die Bergleute im Braunkohlentagebau in Ostdeutschland gegen ihre Kollegen im Steinkohlenbergbau in Westdeutschland auszuspielen.
Der jüngste Kongreß der IG Bergbau und Energie hat gezeigt, daß dies nicht gelingen wird. Wegen der Transportkosten wird nämlich keine einzige Tonne heimischer Steinkohle nach Ostdeutschland transportiert und keine einzige Tonne Braunkohle nach Westdeutschland. Beide Energieträger werden in der Nähe ihrer Förderung verstromt. Das hat gute Gründe, und das soll auch so bleiben.Drittens. Besonders verwerflich ist das Argument: Weil im ostdeutschen Braunkohlentagebau Zehntausende von Arbeitsplätzen wegfallen würden, dürfe man sich nicht darüber beklagen, wenn im westdeutschen Steinkohlenbergbau einige Leute ins Bergfreie fallen. So Originalton Möllemann.
Meine Damen und Herren, das heißt doch im Klartext: Je mehr Fehleinschätzungen und Versäumnisse sich die Bundesregierung im Osten Deutschlands zuschulden kommen läßt, desto ungenierter kann sie im Westen Arbeitsplätze vernichten.
Das heißt, den Zynismus auf die Spitze zu treiben. Das werden die Bergleute nicht mitmachen.
Dafür haben wir Sozialdemokraten volles Verständnis.Meine Damen und Herren, Sie weisen darauf hin, daß die Europäische Kommission den Kohlepfennig ab 1993 nur noch genehmigen will, wenn das Mengengerüst abermals drastisch gekürzt wird. Ich weise darauf hin, daß Sie es waren, die die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof haben ruhen lassen, um mit Brüssel eine Verhandlungslösung zu suchen. Wie man aus Brüssel hört, ist die Kommission auch dazu bereit. Aber Sie haben überhaupt noch kein Verhandlungskonzept. Damit wird doch das alte Spiel über die Bande fortgesetzt, das wir von Ihren Vorgängern zur Genüge kennen.
Wenn es Ihnen wirklich um einen neuen energiepolitischen Konsens geht, Herr Möllemann, dann nehmen Sie doch endlich ernsthafte Gespräche mit allen Beteiligten und auch mit uns auf, und formulieren Sie keine Ausgangspositionen, die jede Konsensmöglichkeit verbauen. Sonst werden Sie an einer Ihrer vordringlichsten Aufgaben, nämlich Planungs- und Investitionssicherheit in der Energiewirtschaft zu schaffen, hoffnungslos scheitern.
Das Wort hat der Abgeordnete Ganz.
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1774 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Johannes Ganz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie sehen es mir bitte nach — ich bin sicher, Sie tun es —, wenn ich feststelle, daß Sie uns und sich selbst diese Aktuelle Stunde hätten ersparen können, wenn Ihre Äußerungen in den Interviews der zurückliegenden Zeit so klar gewesen wären, wie Sie sie heute hier vorgetragen haben. Dafür bin ich Ihnen eigentlich dankbar.Mit diesen Äußerungen — zumindest so, wie sie in den Nachrichten übergekommen sind — haben Sie in der Tat den Eindruck erweckt, als wollten Sie den Jahrhundertvertrag in Gänze vorzeitig kündigen, als wollten Sie mit der EG nicht nur über das Mengengerüst verhandeln, sondern den Vertrag als Ganzen in Frage stellen. Das hat uns Beschwernis eingebracht, auch die Beschwernis, daß wir draußen gegenüber den Mitbürgerinnen und Mitbürgern, insbesondere wir im Saarland auch den Bergleuten, Antwort auf die Frage geben müssen: Wie haltet ihr es denn nun damit? Jeder einzelne von uns ist angesprochen und betroffen.Deswegen darf ich feststellen — ich bin sicher, auch für die Mehrheit meiner eigenen Fraktion; ich sage dabei nichts anderes, als ich den Bergleuten an der Saar auch im Wahlkampf gesagt habe — :Erstens. Es muß noch einmal daran erinnert werden, daß der bis 1995 geltende Vertrag und dessen Wurzeln in die sozialliberale Regierung hineinreichen, daß er auf Drängen des Bundeskanzlers, der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen fortgeschrieben worden ist und daß insofern — zweitens — überhaupt kein Zweifel daran bestehen darf und die CDU/CSU-Fraktion daran auch keinen Zweifel aufkommen läßt, daß dieser Vertrag gilt und auch eingehalten wird
Drittens. Die CDU/CSU-Fraktion hat aber auch nie einen Zweifel daran gelassen, daß im Interesse aller Beteiligten vor Ablauf der vereinbarten Vertragszeit, d. h. noch vor 1995, Entscheidungen über die Anschlußregelung getroffen werden müssen. Dabei weiß jedermann und wissen auch die Bergleute, daß es zu weiteren Anpassungsmaßnahmen kommen muß, die schwierig sein werden und die sozial verträglich gestaltet werden müssen. Insofern hat der Herr Kollege Möllemann an dieser Stelle nichts Neues und Spektakuläres, wie vorhin dargestellt worden ist, gesagt. Neu, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, für uns alle ist dabei auch nicht, daß dies gewaltiger Anstrengungen nicht nur des Bundesministers für Wirtschaft, sondern von uns allen bedarf.Wir werden die geänderte Situation nach der Wiedervereinigung zu berücksichtigen haben. Wir werden Regelungen finden müssen, die den EG-Vorstellungen standhalten. Es muß ein Ausgleich zwischen den Interessen der Revierländer und der revierfernen Länder gefunden werden. Die Neuregelung muß aber auch — ich als Saarländer sage: vor allem — die Sorgen und Nöte unserer Bergleute berücksichtigen, die in schweren Zeiten unsere Energieversorgung und damit den wirtschaftlichen Aufschwung und unser aller Wohlstand erst möglich gemacht haben.Dies alles wird nicht mit einer Grätschaktion zu machen sein. Es wird aber auch nicht ohne Konsensbereitschaft auf allen Seiten zu machen sein. Das sage ich insbesondere an die Adresse meiner eigenen Landesregierung: Wer den Bergleuten wider besseres Wissen vorgaukelt, daß der nationale Energiebedarf ausschließlich mit heimischer Kohle und regenerativen Energieträgern sicherzustellen sei, verschweigt ihnen, daß wir damit insgesamt sowohl im europäischen Binnenmarkt als auch international keine wettbewerbsfähigen Strompreise haben werden, was, wollte man die damit einhergehenden Arbeitsplatzverluste vermeiden, nur über beträchtliche Subventionen — sprich: von uns allen aufzubringende Steuern oder Abgaben — kompensiert werden müßte.
Deshalb ist meine Fraktion entschlossen, auch bei der fortzuschreibenden Energiepolitik an einem Mix aus Steinkohle, Braunkohle, Kernenergie, Öl, Gas und regenerativen Energien festzuhalten. Dabei muß der Anteil an heimischer Kohle noch definiert werden, wofür die Mikat-Kommission eine gute, und, wie ich meine, konsensfähige Grundlage bietet.Hier kann ich dem Ministerpräsidenten des Saarlandes nur raten, sich wieder in Richtung Energiekonsens zu bewegen;
denn die Arbeitsteilung, wie sie heute existiert, daß in den revierfernen Ländern die Kernkraftwerke stehen und die Kohleländer genau dort die Subventionen — sprich: den Kohlepfennig — einfordern, wird auch er auf Dauer nicht durchhalten können.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Klinkert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie können mir glauben, daß ich aus eigener Erfahrung sehr genau weiß, was es für eine Region und die Menschen, die in dieser Region leben, bedeutet, wenn ein Großbetrieb oder gar ein ganzer Industriezweig zusammenbricht. In den Braunkohlegebieten in Mitteldeutschland und in der Lausitz herrschen Existenzangst und Verunsicherung. Seit der Wende ist die Braunkohlenförderung um ca. 100 Millionen t zurückgegangen. Was das Schlimmste dabei ist: Den Menschen kann im Moment keine Prognose gegeben werden. Niemand weiß, wie es weitergeht und wie lange er seinen Arbeitsplatz ganz konkret noch behalten wird.Ich beneide die westdeutsche Steinkohlenindustrie und die darin Beschäftigten, aber ich mißgönne es Ihnen nicht, daß sie durch den im Parteienkonsens geschlossenen Jahrhundertvertrag eine auf Jahre, bis 1995, gesicherte Existenz haben.Zirka 11 Milliarden DM pro Jahr werden aufgewandt, um die Förderung von 70 Millionen t Steinkohle zur Zeit zu stützen. Zur Erinnerung: 12 Milliarden DM fließen jährlich in den Aufschwung Ost. Aber
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1775
Ulrich Klinkertdie Menschen, die von der Steinkohle leben, haben für die Fördergarantie bis 1995 das Wort ihrer frei gewählten Bundesregierung, und auf dieses Wort müssen sie sich verlassen können.Ein Argument allerdings sticht in der Zwischenzeit nicht mehr, das damals für den Jahrhundertvertrag mit ausschlaggebend war, nämlich daß die Steinkohle alleiniger Energieträger zur nationalen Energieversorgung sein kann. Ein notwendiger Energiemix für die Zeit nach 1995 muß umgehend erarbeitet werden, weil er wichtige Zeichen für längerdauernde notwendige Investitionen auch im Osten setzen wird.Es muß ein Kompromiß gefunden werden, der aus volkswirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten alle Energieträger berücksichtigt und Raum für alternative Energien läßt. Die Industrie braucht Milliardeninvestitionen, um die Energieerzeugung in den neuen Bundesländern auf ein modernes ökologisches Niveau zu heben. Dafür ist ein verläßliches Energiekonzept möglichst aller Parteien notwendig, unter Berücksichtigung z. B. auch der vorgesehenen CO2-Reduzierung.Es kann aber nicht sein, daß traditionsreiche Energieerzeuger und Kohleförderer wie die in den neuen Bundesländern nun auch auf diesem Gebiet vorrangig zu Konsumenten werden.Als Politiker sind wir aufgefordert, Sorge zu tragen, daß den Menschen in den neuen Ländern in der Kohleförderung — aber nicht nur dort — eine Chance gegeben wird, nicht nur Konsumenten, also Nehmende, zu sein, sondern auch Produzenten, Gebende.
Am Beispiel der westdeutschen Steinkohle kann man vielleicht die Brisanz der Lage in den neuen Bundesländern im Zusammenhang mit der Kohle und Energie nachvollziehen. Es ist hier die Zahl von 5 000 abzubauenden Arbeitsplätzen in der westdeutschen Steinkohle pro Jahr genannt worden. In den neuen Bundesländern sind 5 000 abzubauende Arbeitsplätze mitunter eine Tagesspitzenmeldung.Ein vernünftiger Konsens und diese Chance in den neuen Ländern könnte helfen, den Menschen ihre Würde zurückzugeben und den Leitsatz der friedlichen Revolution: Wir sind ein Volk! erlebbarer zu machen.Vielen Dank.
Damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung arbeitsförderungsrechtlicher und anderer sozialrechtlicher Vorschriften
— Drucksachen 12/222, 12/413, 12/493 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 12/496 —Berichterstatter:
Abgeordneter Heinz Schemken
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/569 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Nils Diederich Dr. Klaus-Dieter Uelhoff
Ina Albowitz
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der SPD-Fraktion vor. Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 30 Minuten vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall.
Dann kann ich die Debatte eröffnen und dem Abgeordneten Schemken das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden uns in einer der schwierigsten Phasen des Umbaus von der Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft in den neuen Bundesländern. Die Einheit kann allerdings auf Sicht keine soziale Ungleichheit vertragen.Wir wissen aber auch, daß das Erbe des verheerenden Arbeitsmarktes die größte „Soziale Altlast" ist, die uns der Arbeiter- und Bauernstaat der SED hinterlassen hat. Man kann dieses Erbe nicht von heute auf morgen verbessern.Die Menschen in den neuen Bundesländern setzen die Hoffnung auf uns alle. Während in den alten Bundesländern die Arbeitslosigkeit auf 5 % absank, stieg sie in den fünf neuen Bundesländern und Berlin im Berichtszeitraum April auf 10 % an. Hinzu kommt, daß der Ostmarkt und der Handel mit den RGW-Ländern völlig eingebrochen sind. Viele Betriebe waren bis zu 80 % vom RGW-Markt abhängig. Wir bewegen uns deshalb auf eine dramatische Entwicklung des Arbeitsmarktes im Beitrittsgebiet zu. Dies erfüllt uns mit großer Sorge.Deshalb muß das Instrument des Arbeitsförderungsgesetzes noch stärker eingesetzt werden. Daher ist die konsequente und schnelle Entscheidung die dieser Gesetzentwurf von uns fordert, vonnöten.Wir werden nicht nur das Kurzarbeitergeld und damit auch die Regelung für Kurzarbeiter bis zum 31. Dezember dieses Jahres verlängern, sondern auch den Anspruch auf Altersübergangsgeld im Rahmen des Vorruhestandes für die 55- und 56jährigen Arbeitslosen einführen. Dies sind weitere flankierende Maßnahmen zur Abfederung der schwierigen Lage der Menschen in den fünf neuen Bundesländern.Eine deutliche Erhöhung der Zahl von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen kommt insbesondere kommunalen Projekten und sozialen Einrichtungen zugute. Wir schaffen damit auch die strukturellen Voraussetzungen für die Schaffung neuer Arbeitsplätze in den Städten und Gemeinden. Deshalb sind diese AB-Maß-
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Heinz Schemkennahmen im Grunde genommen auch Weichenstellungen für neue Arbeitsplätze.Das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost garantiert eine 100%ige Finanzierung. 280 000 Stellen im AB-Bereich bedeuten eine einmalige gewaltige Kraftanstrengung, die wir, mit vielen Milliarden DM ausgestattet, für die neuen Bundesländer erbringen.Hinzu kommen 140 000 Schulentlassene, die sicherlich unser besonderes Augehmerk erforderlich machen. Denn gerade die jungen Menschen in den neuen Bundesländern sollen die Soziale Marktwirtschaft und ihre Chancen und Möglichkeiten so erfahren, wie dies auch junge Menschen in den alten Bundesländern tun.Hinzu kommen weitere 10 000 Jugendliche, die ihren Ausbildungsplatz durch Konkurse verlieren.Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt deshalb u. a. das Patentschaftsmodell des deutschen Handwerks als Angebot an junge Menschen in den betroffenen Regionen. Das Angebot sieht so aus, daß die Jugendlichen ihren Wohnort in den neuen Bundesländern behalten, daß sie aber in Handwerksbetrieben in den westlichen Ländern ihre Ausbildung absolvieren.Natürlich brauchen wir auch die überbetriebliche Hilfe für die Jugendlichen, die jetzt durch den Umstellungsprozeß betroffen sind.Erfreulich ist — wir sollten hier auch einmal positive Signale setzen — , daß eine hohe Zahl von Frauen, nämlich über 55 %, an Qualifizierungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet teilnehmen. Dies ist sicherlich ein positives Signal. Denn gerade die Ausbildung und die Qualifizierung sind der Schlüssel zur Verbesserung der Lage der Arbeitslosen.Bei aller Kritik an der Treuhand und in bezug auf das Zögern der Wirtschaft muß festgestellt werden: 1 600 Betriebe sind mit einem Investitionsvolumen von 55 Milliarden DM schon privatisiert. Weitere 300 Unternehmen befinden sich in der Umwandlung.Aber eine der herausragenden und vorrangigen Forderungen an die Wirtschaft und an den Handel bleibt, in die neuen Bundesländer nicht nur Produkte und Ausstattungen zu liefern, sondern dort auch zu produzieren. Dies schafft Arbeitsplätze. Nur so werden wir die Weichen für eine gute Zukunft stellen können.Hierzu gehört allerdings auch das gemeinsame solidarische Miteinander der alten Bundesländer mit den neuen Bundesländern. Gemeinsam mit der Bundesregierung und den Regierungen der Bundesländer können wir es schaffen.Wir sollten deshalb diesem Gesetzentwurf unsere Zustimmung nicht verweigern. Im Gegenteil! Ich möchte zur Einlassung der SPD-Fraktion im Entschließungsantrag kommen, der eigentlich im wesentlichen das umfaßt, was bereits gesetzlich geregelt ist.
— Der ist obsolet, der ist eigentlich überflüssig.Wenn wir Punkt 1 nehmen, sollen damit die Möglichkeiten geschaffen werden, in den Braunkohlengebieten Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften zu gründen. Wir sind der Meinung, daß dies möglich ist. Aber wir wollen das nicht dort ausdrücklich privilegieren, sondern im Gegenteil: Wir wollen dieses Thema so behandeln, wie es auch mit den übrigen Trägerschaften nach dem Arbeitsförderungsgesetz möglich ist.Punkt 2 entspricht in seiner Intention im Grunde genommen dem Gesetzentwurf. Es besteht auf Grund dieser Entschließung überhaupt kein Entscheidungsbedarf.Nun zu den Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die in Punkt 3 behandelt werden: Niemand ist daran gehindert, an einer AB-Maßnahme teilzunehmen. Es ist auch nicht so, daß die, die in der „Warteschleife" sind, vor ihrem beruflichen Wiedereinstieg eine Qualifizierungsmaßnahme absolvieren müßten. Im Gegenteil: Sie könnten auch so direkt in eine AB-Maßnahme, falls erforderlich.
Herr Abgeordneter Schemken, Sie wissen aus Ihrer Tätigkeit als Schriftführer, daß es nicht immer ganz einfach ist, den Redner an die Zeit zu erinnern. Machen Sie es dem Präsidium nicht allzu schwer.
Schönen Dank. Ich habe das Signal hier übersehen. Es gibt ja kein Vorsignal.
Noch ein Satz: Wir bleiben dabei, daß den 55- und 56jährigen die Chance des Übergangs zum Vorruhestand eröffnet werden soll. Wir sind nicht der Meinung, daß es erforderlich ist, dieses auf weitere Jahrgänge aus sozialpolitischen Gründen vorzuziehen. Es ist in gewisser Weise auch eine Frage der Humanität, daß wir nicht auch schon den 50jährigen die Möglichkeit eröffnen, sich vom Arbeitsmarkt zu lösen. Im Gegenteil: Es gilt, ihnen Hoffnung zu machen, daß sie morgen wieder aus der Arbeitslosigkeit ins Arbeitsleben eintreten können.
Schönen Dank.
Nun erteile ich das Wort der Abgeordneten Frau Rennebach.
Herr Präsident! Meine lieben, verehrten Kolleginnen und Kollegen! Was der verehrte Vorredner gerade gesagt hat, klingt so wie die „unvollendete Humanität".Das Sammelgesetz über die Änderung arbeitsförderungsrechtlicher und anderer sozialrechtlicher Vorschriften hat einen kurzen, aber kennzeichnenden Leidensweg zurückgelegt. Es wurde zwar noch ordentlich vorbereitet, anberaten, durch Expertenmeinungen angereichert, dann aber auf Druck der Regierung und der Koalitionsmehrheit im federführenden Ausschuß wie im Schweinsgalopp über die parlamentarische Bühne gebracht.Dieses unselig-unsägliche Verfahren habe, so wurde dem Bundestagsneuling Rennebach mit wis-
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Renate Rennebachsender Miene bedeutet, Tradition. Irgendwann, verehrte Anwesende, haben Traditionen ausgedient, und zwar alle.
Denn es geht hier nicht um parlamentarische Routine, sondern um Regelungen, die über die Lebens- und Berufsperspektiven, über Glück und Aufbauwillen Hunderttausender entscheiden können. Dies sollte uns sehr teuer sein, so teuer, daß wir Präzision und Schnelligkeit miteinander verbinden. Und das ist etwas völlig anderes als die Eile der Beratungen.
Das beste Beispiel ist die von der Bundesregierung ins Auge gefaßte Übergangsregelung für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Angestoßen wurde ein verbesserter Vorruhestand in den neuen Ländern durch die Sozialdemokraten und — jetzt hören Sie genau zu — durch die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände. Regierung und Koalition mußten aus ihrem wohligen Zurücklehnen nach Verabschiedung der Operation „Aufschwung Ost" ausgerechnet auch durch die Arbeitgeber aufgeschreckt werden. Denn genau wie uns brennt es auch denen auf den Nägeln, daß der Arbeitsmarkt im Osten Deutschlands kollabiert.Während sich noch alle Welt wunderte, warum die Bundesregierung ausweichend bis ablehnend auf Vorruhestandsinitiativen reagierte, machte der Bundesarbeitsminister eine Kehrtwendung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde es nicht tadelnswert, daß der Bundesarbeitsminister eine Kehrtwendung vornahm. Er hat ja Bundestag wie Öffentlichkeit im Laufe der Zeit häufiger mit Schlingerbewegungen vertraut gemacht. Tadelnswert ist, daß er sich nur zu einer Minimalregelung durchringen konnte, die nur zwei Jahrgänge in eine neue Altersübergangsregelung bringt und die zudem so schlecht ausgestattet ist, daß bestenfalls 50 % eines Jahrgangs davon Gebrauch machen würden, wenn sie die Chance der Wahl hätten.Was der Arbeitsminister möchte, ist eine leptosome Lösung, die im Schritt ein Altersübergangsgeld von weniger als 750 DM bedeutet. Ich finde, der Lohn für ein oft sehr hartes, demütigendes Arbeitsleben im ehemaligen sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Staat sollte uns mehr wert sein als eine Marge im Pegel der Sozialhilfe.
Von ähnlicher Qualität sind die Bedingungen für die Arbeitnehmer, die das Kurzarbeitergeld verlängert bekommen. Sie werden mit Sperrzeiten bestraft, wenn sie Kurzarbeitergeld nicht mit Qualifizierung kombinieren.Außerordentlich bedauerlich ist ferner, daß sich die Bundesregierung nicht entschließen konnte — jedenfalls bis heute nicht —, die Idee der Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften in den neuen Ländern druckvoll voranzubringen und überall dort, wo sie Einfluß ausüben könnte, Initiativen entwickeln zu helfen. Es kann doch nicht sein, daß in der Bundesregierung aus einer Scheuklappenmentalität heraus dieses Potential, dieses großartige Instrument so wenige Freunde hat. Oder glaubt man wie vor einem Jahr, der Aufschwung Ost werde sich, von den Marktkräften inspiriert, automatisch einstellen?Allerdings muß ich nach der heutige Fragestunde, in der gefragt wurde, wie viele Arbeitslose das BMA in den neuen Ländern 1991 und 1992 erwartet, vermuten, daß das Blüm-Ministerium wirklich nach Inspiration — sprich : Kaffeesatz — handelt und weniger nach der Wirklichkeit vor Ort.
— Das ist kein Quatsch.Die Politik hat große Chancen, in diesem Jahr mit dafür zu sorgen, daß sich die Zeichen der Hoffnung und der Änderung in den neuen Ländern rasch mehren. Nur wollen muß sie das. Daher werden die Sozialdemokraten dem Sammelgesetz insgesamt ihre Zustimmung nicht verweigern.
— Sollen wir nein sagen? — Es beinhaltet Minimalsätze, die keineswegs zufriedenstellen können. Aber niemand will leugnen, daß durch dieses Gesetz Verschlechterungen auch vermieden werden. Nur, es bleibt hinter den Möglichkeiten zur Entlastung des Arbeitsmarktes in den neuen Ländern weit zurück. Es schafft keine wirkliche Perspektive im Prozeß des notwendigen wirtschaftlichen wie sozialen Wandels. Es ist im Grunde Abklatsch der immer gleichen kleinmütigen Politik dieser Regierung, den die Westbürger bereits zur Genüge kennen.Notwendig ist eine Vorruhestandsregelung, die eine ganze Reihe von Jahrgängen der Älteren in den neuen Bundesländern aus der Angst vor der Arbeitslosigkeit befreit, so wie die Sozialdemokraten dies in ihrem Ihnen vorliegenden Entschließungsantrag zum Ausdruck bringen.Notwendig ist darüber hinaus eine Verlängerung der Kurzarbeitergeldregelung, die jene belohnt, die in die Qualifizierung gehen.Notwendig ist auch, den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes der ehemaligen DDR wieder Berufsperspektiven zu geben und sie wirtschaftlich zu stützen.Schließlich ist es dringend erforderlich, die Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften zu einem Hebel zu machen, über den sich wirtschaftspolitisch etwas bewegen läßt.All das finden Sie in unserer Entschließung, die ich dringend Ihrer geschätzten Zustimmung empfehlen möchte. Ich frage mich, warum die Bundesregierung und in ihrem Schlepptau die sie tragende Koalition mit unseren weitreichenden Vorstellungen so ablehnend umspringen. Ich meine das keineswegs rhetorisch. Welche Blöße gibt sich eine Regierung, wenn sie sagt, okay, die Opposition hat eine gute Idee — ich meine den Entschließungsantrag — , sie ist es wert, aufgenommen zu werden?
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1778 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Renate RennebachNiemand wird doch im ernst glauben, daß das real drohende schreckliche Problem der Arbeitslosigkeit im Alter in den neuen Ländern mit der Zuführung von zwei Jahrgängen in eine Übergangsregelung gelöst wird. Warum nun kein attraktives weitergehendes Angebot? Legt sich der Bundesfinanzminister quer? Fehlen ihm wegen des Vorruhestandes dann die Millionen und Milliarden, die Vermögensteuerzahler geschenkt bekommen sollen?Warum diskutieren wir nicht ganz ernsthaft über die Frage, ob eine neue Vorruhestandsregelung nicht auch für Arbeitsmarktproblemregionen des Westens in Betracht kommt? Ist im Westen alles so paletti, daß er zurückstehen kann?Viele der Parlamentsneulinge haben gehofft, daß Diskussionen über das Bündel der Wertvorstellungen, das uns zusammenbindet, offen und ohne Zeitdruck und Scheuklappen geführt werden könnte.
Kolleginnen und Kollegen, die Sozialpolitik allein bietet ja eine ganze Menge solcher Ansätze. Gehofft wurde auch, daß der Bundestag Forum dieser Diskussion sein würde, der Bundestag an erster Stelle.Das Sammelgesetz über die Änderung arbeitsförderungsrechtlicher und anderer sozialrechtlicher Vorschriften und das dieses Gesetz leitende Verfahren haben mich enttäuscht. Dennoch hoffen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, daß dieses Gesetz hilft, einen akuten Notstand in den neuen Ländern zu mildern. Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern setzen Hoffnungen in ihre Abgeordneten. Sie sollen Vertrauen gewinnen in unsere parlamentarische Demokratie. Die Koalition hat sich gnadenlos gegen Bundesrat und Opposition durchgesetzt. Auch mein Verständnis von parlamentarischer Demokratie bekommt Sitzungstag für Sitzungstag eine Scheibe abgeschnitten. Und dennoch danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat die Abgeordnete Frau Dr. Babel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der zur Schlußabstimmung vorliegende Gesetzentwurf zum Arbeitsförderungsgesetz verlängert die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bis 1992, ebenso die Sonderregelungen für das Kurzarbeitergeld bis 1991, letztere mit der zusätzlichen Bedingung der Teilnahme an Qualifizierung. Mit den aufgestockten Mitteln aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost sollen 280 000 AB-Maßnahmen durchgeführt werden. Dafür stehen 5,2 Milliarden DM bereit. 7,7 Milliarden DM sind für Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen vorgesehen, womit etwa 500 000 Qualifizierungsmaßnahmen bis 1991 finanziert werden können.Meine Damen und Herren, das sind gigantische Zahlen. Damit kommen die klassischen Instrumente der Arbeitsmarktpolitik in einem Maße zum Einsatz, wie wir das in der ehemaligen Bundesrepublik selbst in größten Krisenzeiten und in den am stärksten betroffenen Problemregionen nicht kannten.
Niemand bestreitet, daß die jetzige Situation im Bereich der ehemaligen Planwirtschaft DDR diesen Einsatz erfordert. Die Arbeitsmarktsituation ist ernst, die Zahlen der Arbeitslosen steigen immer noch weiter an, in den Problemzonen der Industrie sind Zeichen der Besserung bei der Beschäftigung noch nicht in Sicht.
Die Bundesanstalt für Arbeit steht vor einer Herkules-Aufgabe. Sie muß dafür sorgen, daß die Finanzmittel sinnvoll und verantwortlich ausgegeben werden. Schon jetzt sind die erbrachten Leistungen eindrucksvoll: Aufbau der Arbeitsämter, Requirieren und Schulen von Mitarbeitern, Durchführen der Maßnahmen mit Bildungsträgern, die noch unerfahren sind mit Qualifizierung nach unserem westdeutschen Standard. Die Steigerung der AB-Maßnahmen von 63 000 auf 85 000 bis Mai 1991 zeigt jetzt schon den Aufwärtstrend. Aber diese Zahlen, meine Damen und Herren, müssen sich verdreifachen, um die Zielgerade zu erreichen.Ich finde es grundsätzlich gut, daß alle Parteien im Ausschuß diesen Gesetzentwurf mittragen, das Volumen der Finanzen gutheißen und der Verlängerung der Fristen zustimmen. Aber, Frau Rennebach, es gehört nicht zu den verfassungsmäßigen Pflichten der Regierung noch der Koalition, die Opposition in allen Punkten glücklich zu machen.
Es kann doch nicht angehen, daß wir z. B. die Kurzarbeitergeldregelung dadurch noch attraktiver machen wollen, daß wir Qualifizierung belohnen. Es geht darum, daß wir Anreize zur Flexibilisierung schaffen und daß das, was man in der Anhörung die Nestwärme der Betriebe genannt hat, aufbricht, um bei allen Beteiligten das Bewußtsein zu wecken und zu fördern, daß man sich um neue Existenzen wirklich bemühen muß.
Insofern bestehen die Unterschiede zur Opposition in der Beurteilung, welche Bedeutung arbeitsmarktpolitische Maßnahmen überhaupt haben können.In der Anhörung klang es an, und ich wiederhole es für die Fraktion der FDP noch einmal von dieser Stelle: Arbeitsmarktpolitik allein kann keine Arbeitsplätze auf Dauer schaffen, meine Damen und Herren.
Der Prozeß der Arbeitsplatzschaffung kann nur durch Maßnahmen der Wirtschafts-, der Struktur- und Verkehrspolitik und durch Förderung der Investitionen, durch Einsatz in der Privatwirtschaft gelingen, wenn das Ziel die gesunde Soziale Marktwirtschaft und nicht die Planwirtschaft ist.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1779
Frau Dr. Gisela BabelIch erinnere noch einmal an die Anmerkungen des brandenburgischen Kreishandwerkermeisters in der Anhörung. Er bat dringend darum, daß mit AB-Maßnahmen Baubetrieben und Handwerkern keine Aufträge weggenommen werden.
Meine Damen und Herren, das ist ein Punkt, auf den wir achten müssen. Er hat sehr anschaulich geschildert, wie das Beziehen von Kurzarbeitergeld durchaus fähige Betriebsangehörige gehindert hat, vorzeitig eine neue Stelle anzunehmen. Man wartet ab, bis die Kurzarbeitergeldregelung ausläuft, hofft noch auf eine Prämie wegen Betriebsschließung, um sich dann eventuell neu zu orientieren. Er hat sein Unverständnis darüber ausgedrückt, warum das Arbeitsamt die Arbeitskräfte, die Kurzarbeitergeld beziehen, nicht vermittelt.Der Engpaß bei der Vergabe der Investitionen sei die Bauverwaltung. Für diese könne man durch AB-Maßnahmen keine Hilfe schaffen, weil heute schon auf Grund des Tarifgefüges die Verwaltung fähige Fachleute in neuen Bundesländern nicht mehr bekommen können.
Frau Dr. Babel, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Nein, Herr Präsident, ich möchte zum Schluß kommen. — Die Kritik eines Praktikers verdient unsere Beachtung und vor allem die der Bundesanstalt für Arbeit bei der Durchführung ihrer Maßnahmen.
Nun noch eine Bemerkung zum Altersübergangsgeld. In gemeinsam gebilligten Anträgen wird die Altersgrenze für Bezieher von Altersübergangsgeld von 57 auf 55 Jahre herabgesetzt. Meine Damen und Herren, ich kann nicht begreifen, warum sich die SPD hier nicht befriedigt geäußert hat. Denn ich meine, sie hat in dieser Frage durchaus auch Anregungen gegeben.
Jetzt äußert sie sich wieder enttäuscht. Aber ich denke, es ist diese Berufsenttäuschtheit, die Sie als Opposition immer äußern müssen.
Nicht nur unter sozialen Aspekten, sondern auch, weil der Arbeitsmarkt entlastet wird, ist diese Maßnahme sinnvoll. Besonders begrüße ich die Tatsache, daß ein entsprechender neuer Vorschlag jetzt auch für Selbständige Anwendung finden kann, die es ihnen erspart, unter den veränderten marktwirtschaftlichen Bedingungen noch einmal neu anzufangen.
Sie waren bis zum 3. Oktober 1990 sozialversicherungspflichtig. Insofern ist es nur allzu gerechtfertigt, daß man ihnen jetzt die Möglichkeit gibt, Arbeitslosengeld und Altersübergangsgeld zu beziehen.
Meine Damen und Herren, die Arbeitsmarktpolitik hat mit diesem Gesetz und den wirklichen eindrucksvollen Mitteln ihren Beitrag geleistet. Die FDP stimmt dem Gesetz zu.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute Vorschläge zur Änderung arbeitsförderungs- und anderer sozialrechtlicher Vorschriften, wenige Tage nach Veröffentlichung der jüngsten Arbeitslosenzahlen für die neuen Bundesländer. Daß diese eine dramatische Zuspitzung der Lage dort sichtbar machen, brauche ich angesichts der Tatsache, daß die Veröffentlichungen seit neuestem immer mit dem Kommentar versehen sind, daß ein Ende der Talfahrt nicht absehbar ist, gar nicht zu betonen.Wir diskutieren diesen Gesetzentwurf zum Arbeitsförderungsgesetz aber auch wenige Tage, nachdem die sogenannte Deregulierungskommission ihren Bericht vorgelegt hat — einen Bericht, dessen Vorschläge darauf abzielen, die gegenwärtige Arbeitsmarktordnung zu verändern, und zwar durch grundlegende Angriffe auf die Tarifautonomie und auf Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenschutzrechte.Ich nenne diesen Bericht in diesem Zusammenhang deshalb, weil er wie kein anderes Dokument bisher deutlich macht, welche Entwicklung für den Arbeitsmarkt, für die abhängig Beschäftigten und vor allem für die Arbeitslosen wirklich vorgesehen sind, jenseits der heute zur Debatte stehenden Maßnahmen zum Krisenmanagement. Der Bericht beschreibt das Szenario, mit dem künftig Unternehmermacht gegenüber dem Einfluß der Gewerkschaften weiter ausgebaut wird, mit dem gesetzliche und tarifvertragliche Rechte der abhängig Beschäftigten weiterhin reduziert, Erwerbstätige und Arbeitslose gegeneinander ausgespielt werden.
Vor diesem Hintergrund ist es für mich völlig einsichtig, daß die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes bis zum Jahresende ebenso wie die weitere Ausweitung von ABM-Programmen, die heute zur Debatte stehen, nicht zur Problemlösung beitragen, sondern lediglich dazu taugen, die bevorstehende Katastrophe zu verschleiern, an den Problemen herumzukurieren und deren Lösung im Interesse der betroffenen Menschen zu vertagen. Eine Verknüpfung der Verlängerung des Kurzarbeitergeldes z. B. mit der Teilnahme an Qualifikationsmaßnahmen bleibt unseres Erachtens nicht mehr als eine plumpe Sanktion, wenn die Möglichkeiten dafür nicht gleichzeitig entschieden ausgeweitet werden.Darüber hinaus muß den Betroffenen deutlich gemacht werden, daß Qualifizierung angesichts der strukturellen Entwicklungen in den neuen Bundesländern die Aussicht auf einen Arbeitsplatz mindestens verbessert. Nach unserer Auffassung kann die Kurzarbeiterinnenregelung dann zum Instrument wirtschaftsstruktureller Umstellungen werden, wenn sie mit grundlegenden strukturpolitischen Maßnah-
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1780 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Petra Blässmen verbunden ist. Dabei müssen auch für die Beschäftigten Anreize geschaffen werden, sich auf neue Strukturen und wirtschaftspolitische Erfordernisse einzustellen, statt ihnen Sperrfristen und Geldkürzungen anzudrohen.Wir als PDS/Linke Liste werden trotz aller Bedenken nicht gegen den vorliegenden Gesetzentwurf stimmen, weil wir im Interesse der Menschen in Kurzarbeit wenigstens bis zum Jahresende ihre materielle Absicherung gesichert wissen wollen.Danke.
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte am Ende des Gesetzgebungsverfahrens zu diesem wichtigen Gesetz doch einige Bemerkungen machen.
Wir nutzen die Instrumente des Arbeitsmarkts, wie keine Regierung vor uns,
und zwar was die Zahl der Instrumente wie die Ausstattung anlangt.
Nie gab es mehr Geld und Instrumente im Arbeitsförderungsgesetz als durch dieses Gesetz.
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen: In den neuen Bundesländern haben wir jetzt 85 000 ABM-Plätze. Das sind mehr als in den alten Westländern insgesamt.
Wir haben in diesen Tagen mit den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern die Zahl der in den alten Bundesländern angesiedelten ABM übertroffen.
85 000! Im März hatten wir 63 000. Ich möchte doch alle, auch die Opposition, bitten, anzuerkennen, welche Anstrengungen, auch vor Ort, auch durch die Arbeitsämter, durch die Träger, in diesen Zahlen zum Ausdruck kommen. Diese Anerkennung, meine ich, ist ein Gebot der Redlichkeit.
— Ich spiele mich auf für die Leute, die durch diese
Kritik, wie die Opposition sie hier vorträgt, um den
Lohn der Anerkennung für ihre Anstrengungen gebracht werden.
Fortbildung und Umschulung: Seit Oktober 297 000; fast 300 000. Wir haben im April in vier Wochen — —
— Ach, bleiben Sie ganz ruhig. Ich rede nicht für mich; ich rede für diejenigen, die etwas Großes im Interesse derer geleistet haben, die in Not sind und denen wir beistehen müssen.
— Die Arbeitsplätze hat der Sozialismus vernichtet, nicht diese Bundesregierung.
Es wird ja immer schöner! Wir räumen die Trümmer weg, und die Trümmergesellschaft beschwert sich über unsere Arbeit.
Noch mal zu F & U: Im April in vier Wochen 73 000 neue Umschulungsplätze. Ist das nichts? Dahinter steht doch eine große Anstrengung.
— Sie langt noch lange nicht. Wir müssen auf diesem Weg weitermachen. Und dieses Gesetz bietet dafür Voraussetzungen. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden großzügiger ausgestattet, mit Sachmitteln ausgestattet.
Ich finde, wir müssen in ungewöhnlichen Zeiten ungewöhnliche Anworten geben.
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Aber bitte.
Herr Bundesminister, halten auch Sie es für einen Beitrag zur Überwindung der Arbeitslosigkeit, wenn man Kurzarbeiter, die bildungsbereit sind, für die nach Aussagen ihrer eigenen Regierung aber nicht genug Plätze angeboten werden können, dafür bestraft, daß sie die nicht vorhandenen Qualifizierungsmaßnahmen nicht wahrnehmen können?
Verehrter Herr Kollege! Meines Erachtens geht es darum, die Kurzarbeit mehr, als es uns in der Vergangenheit gelungen ist, mit Qualifizierung zu verbinden. Dafür setzen wir sowohl bei den Personen wie bei den Institutionen an. Wir bezahlen und unterstützen inzwischen auch 128 Träger für Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1781
Bundesminister Dr. Norbert BlümKurzarbeit war ein Instrument, um sozusagen das Abbrechen des Arbeitsmarkts zu verhindern. Wir haben sie großzügig ausgestattet und noch einmal um ein halbes Jahr verlängert. Aber wir möchten nicht, daß die Kurzarbeit sozusagen eine passive Antwort auf die Arbeitslosigkeit ist. Wir möchten sie stärker nutzbringend mit Qualifizierung verbinden. Das ist der Sinn, wir wollen den Menschen helfen.
Das Altersübergangsgeld — das ist schon gesagt worden — betrachte ich nicht als den Normalweg: daß sich ein 55jähriger sozusagen schon auf den Zugang zur Rente vorbereitet. Nur finde ich: Wenn wir schon vor der Wahl stehen, finde ich es sinnvoller, einem 55jährigen ein Altersübergangsgeld zu zahlen als einem 20jährigen Arbeitslosengeld.
Das ist die Philosophie, die dahintersteht.
Wir sind überhaupt keine Dogmatiker. Wenn es den Menschen hilft, helfen wir auch. Wir wollen auch die Selbständigen wieder in das Arbeitsförderungsgesetz einbeziehen.
Meine Damen und Herren, wäre es nicht gut, Sie würden in Ihren Diskussionsbeiträgen ihrem Abstimmungsverhalten Rechnung tragen? Sie haben doch alle gesagt, daß Sie dem Gesetz zustimmen. Machen Sie doch mal den Menschen, den Frauen, den Männern, den Jungen, den Alten in den fünf neuen Bundesländern Mut, daß wir mit ihnen die schwere Krise überwinden wollen. Ich finde, das ist wichtiger, als hier den Dampf der Polemik abzulassen und am Schluß doch zuzustimmen.
— Ich amüsiere mich über Sie, wenn Sie solche Lachkrämpfe kriegen. Warum stimmen Sie denn anschließend zu? Sie reden hier polemisch gegen ein Gesetz und stimmen am Schluß doch mit Ja. Ich bedanke mich ausdrücklich für Ihre Ja-Stimmen und verzichte auf Ihre Polemik.Ich bedanke mich auch bei allen Mitgliedern des Ausschusses, daß Sie so schnell gearbeitet haben. Ich bedanke mich ausdrücklich bei denjenigen, die so schnell gearbeitet haben. Leider Gottes kam die Arbeitslosigkeit auch schnell. Deshalb kann man nicht im Normalgang arbeiten, sondern muß eine schnelle Antwort bringen. Ich bin dem Ausschuß dankbar, daß er die Einsicht in die Notwendigkeit dieses Schnellganges hatte.Ich glaube, wir helfen heute mit diesem Gesetz vielen Menschen. Wir sind nicht am Ziel, aber ein großes Stück kommen wir mit diesem Gesetz voran.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf auf den Drucksachen 12/222, 12/413, 12/493, 12/496 in der jeweiligen Ausschußfassung.Ich rufe zunächst die Art. 1 bis 10, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Gruppe der PDS/Linke Liste sind die Vorschriften angenommen. Damit ist die zweite Lesung abgeschlossen.Wir treten nunmehr in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen aus der Gruppe der PDS/Linke Liste ist damit der Gesetzentwurf angenommen.Wir stimmen nunmehr ab über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/571. Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? — Wer stimmt dagegen? Damit ist dieser Entschließungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt.Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 8:Beratungen ohne Aussprachea) Erste und zweite Beratung sowie Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. Dezember 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit— Drucksache 12/470 —b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. Dezember 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit— Drucksache 12/303 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 12/445 —Berichterstatterin: Abgeordnete Dr. Gisela Babel
c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die zwanzigste Anpassung der Leistungen nach dem Bundesver-
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1782 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
— Drucksache 12/335 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 12/452 —Berichterstatter:Abgeordneter Heinz-Jürgen Kronbergbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/456 —Berichterstatter:Abgeordnete Karl DillerHans-Gerd StrubeDr. Wolfgang Weng
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungPrivatisierung von Bundesbeteiligungenhier: Veräußerung der Aktienmehrheit an der Prakla-Seismos AG— Drucksachen 12/73, 12/388 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Nils Diederich Hans-Werner Müller (Wadern)Werner Zywietze) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 15 02 Titel 681 15 — Haushaltsjahr 1990 —
— Drucksachen 12/44, 12/389 —Berichterstatter:Abgeordnete Irmgard Karwatzki Dr. Sigrid HothDr. Konstanze Wegnerf) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Müller , Harald B. Schäfer (Offenburg), Gerd Andres, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPDHilfe für die Kinder von Tschernobylzu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Braband und der Abgeordneten der Gruppe PDS/Linke ListeHilfe für die Kinder von Tschernobyl— Drucksachen 12/165, 12/170, 12/475 —Berichterstatter:Abgeordnete Klaus Harries Michael Müller
Marita SehnJutta BrabandDr. Klaus-Dieter FeigeWir kommen zunächst zu den Tagesordnungspunkten 8 a und 8 b. Interfraktionell ist vereinbart, den Regierungsentwurf zu dem Abkommen mit der Republik Polen über soziale Sicherheit heute in erster und zweiter Beratung zusammen mit dem textgleichen Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP zu behandeln. Darf ich davon ausgehen, daß Sie mit diesem Verfahren einverstanden sind? — Dies ist offensichtlich der Fall.Zur Information: Das ist nach § 80 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung möglich. Damit ist das mit Mehrheit beschlossen.Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf zum Abkommen der Republik Polen über soziale Sicherheit, der Ihnen auf den Drucksachen 12/303, 12/445 und 12/470 vorliegt.Ich rufe die Art. 1 bis 6, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit habe ich das seltene Vergnügen, festzustellen, daß das Haus das einstimmig angenommen hat.Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 8 c. Es handelt sich um die Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur zwanzigsten Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz. Dazu liegen Ihnen die Drucksachen 12/335 und 12/452 vor.Ich rufe die Art. 1 und 2 sowie Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einigen wenigen Enthaltungen sind die Vorschriften in der zweiten Beratung angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthalrungen? — Damit ist der Gesetzentwurf bei einigen wenigen Enthaltungen angenommen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 12/388. Der Ausschuß empfiehlt, die Unterrichtung durch die Bundesregierung über die Veräußerung der Aktienmehrheit an der Prakla-Seismos AG auf Drucksache 12/73 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei wenigen Enthaltungen angenommen.Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 8 e. Wir stimmen ab über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zur Unterrichtung durch die Bundesregierung zu überplanmäßigen Ausgaben beim Erziehungsgeld. Dazu liegen Ihnen die Drucksachen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1783
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg12/44 und 12/389 vor. Der Ausschuß empfiehlt Kenntnisnahme. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 8 f. Wir stimmen jetzt noch ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zur Hilfe für die Kinder von Tschernobyl auf Drucksache 12/475. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Ich rufe nunmehr Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Fraktion der SPDRehabilitierung der Opfer des SED-Unrechtsstaates— Drucksache 12/570 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
InnenausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnung HaushaltsausschußEs gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die Ihnen eine Debattenzeit von 90 Minuten empfiehlt. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.Wir kommen zur Aussprache. Ich erteile zunächst einmal der Abgeordneten Frau Schröter das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war ein schlimmes Signal für die Opfer der politischen Unterdrückung, daß das von der Volkskammer beschlossene Rehabilitierungsgesetz durch den Einigungsvertrag beschnitten wurde.
Die SPD-Fraktion begrüßt, daß in einer baldigen Neuregelung — wie auch schon im Volkskammergesetz — wieder berufliche Benachteiligung und Verwaltungsunrecht aufgenommen werden sollen. Aber hier gilt es, Prioritäten an der richtigen Stelle zu setzen.
Meine Damen und Herren! Ich wäre Ihnen außerordentlich verbunden, wenn Sie der Rednerin die notwendige Beachtung schenkten und zuhörten.
Diejenigen, die den Raum verlassen wollen, bitte ich, das so schnell zu tun, daß die ohnehin sehr lange Beratungszeit nicht unnötig verlängert wird.
Herr Geschäftsführer Krause, ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie das Unternehmen nicht durch Störungen — vermutlich durch interessante Unterhaltungen, das bezweifle ich nicht — verlängerten.
Frau Abgeordnete, ich glaube, Sie können jetzt fortfahren.
Die umfassende Neuregelung muß an dem Maß des persönlich erlittenen Unrechts anknüpfen und nicht da Prioritäten setzen, wo ein Ausgleich am leichtesten zu bestimmen ist. Es wäre gefährlich, finanzielle Entschädigung in ihrer Bedeutung für die Opfer höher zu bewerten als moralische und berufliche Rehabilitierung.
Die Neuregelung der Rehabilitation darf daher den Ausgleich von Eigentumsverlusten gegenüber dem Ausgleich des Verlustes von beruflichen Chancen und dem Brechen von Persönlichkeiten nicht bevorzugen.
Es muß berücksichtigt werden, wer Verzögerungen eher verkraften kann als andere.
Viele ältere Opfer, die beispielsweise ihren erlernten Beruf nicht ausüben durften, müssen heute mit der Mindestrente auskommen. Unerträglich ist demgegenüber, daß Profiteure des Unrechtsstaates noch in ihrer jetzigen Verrentung privilegiert sind, daß sie Höchstrenten kassieren.
Aber persönliches Leid ist nicht nur finanziell zu bemessen. Vielen von Ihnen wird vielleicht nicht bekannt sein, daß ein Teil der politischen Unterdrükkung darin bestand, daß den Opfern verboten wurde, über die von ihnen erlittenen Repressalien zu berichten. Wenn sie doch darüber sprachen, mußten sie befürchten, daß ihre Familien benachteiligt oder verfolgt wurden oder ihnen auch im persönlichen Umfeld nicht geglaubt wurde.Viele Opfer berichten deshalb heute zum erstenmal — oft unter Tränen — von Drohungen, Mißhandlungen, Folterungen, die sie oft selbst ihren Ehepartnern über lange Jahre verschwiegen haben. Vor ehrenamtlichen Helfern vor Ort tun sich Abgründe auf, die selbst kritische Bürger sich so nicht vorstellen konnten.In meiner Heimatstadt Sondershausen in Thüringen, einer Kleinstadt mit 25 000 Einwohnern, haben sich bisher vor einer beim Kreistag angesiedelten Stelle für Vergangenheitsbewältigung 150 Opfer gemeldet. Die Ausschußmitglieder vermuten, daß diese Zahl erheblich ansteigen wird, wenn das von uns zu verabschiedende Rehabilitierungsgesetz vorliegt.Diese Stelle erledigt im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Hausaufgaben, die der Gesetzgeber bisher nicht erledigt hat. Wir sollten solchen Helfern an dieser Stelle einmal danken, daß sie vor Ort im Vorgriff auf unsere Regelungen Vertrauen in den Rechtsstaat bilden, das von uns noch eingelöst werden muß.
Unter den 150 Frauen und Männern, die sich bisher hilfesuchend an die Ausschußmitglieder gewandt haben, ist ein Mann von 91 Jahren. Wir haben keine Zeit und kein Recht dazu, von diesem Mann die Geduld zu fordern, die der Bundesjustizminister Dr. Kinkel in
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1784 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Gisela Schröterseiner Presseinformation vom 10. Mai 1991 von den Opfern erbittet.Es ist nicht zu leugnen, daß nach klassischen rechtlichen Kriterien im Einzelfall Beweis- und Darlegungsschwierigkeiten bestehen werden. Unser Rechtsstaat ist dann aber gehalten, für diese Notfälle — es handelt sich hier, meine Damen und Herren, um echte Notfälle — nach Beschleunigungsmöglichkeiten zu suchen.Unter den Nachteilen, die die Opfer erlitten haben, war auch das Leid — ich sagte es bereits — , daß den Opfern ihre Unschuld oft nicht geglaubt wurde. „Es wird schon etwas drangewesen sein" hieß das Mißtrauen der Umwelt, dem heute eine offizielle Ehrenerklärung entgegengestellt werden muß.Mit einer schnellen Verabschiedung eines verbesserten Rehabilitierungsgesetzes müssen wir einen wichtigen Beitrag zu diesem ersten Schritt leisten.
Das Wort hat der Abgeordnete Marschewski.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 15. Dezember 1988 war es einem 18jährigen DDR-Bürger gelungen, die Elbe zu durchschwimmen. Er erreichte westdeutsches Gebiet, rutschte auf den Knien aus dem Wasser, reckte sich hoch. In diesem Augenblick gab ein DDR-Grenzer vier gezielte Schüsse auf ihn ab, einer verletzte den Flüchtling schwer. Als Verräter an der Arbeiterklasse und am sozialistischen Staat DDR wurde er zu drei Jahren Haft verurteilt.
Ein zweiter Fall. Ein junges DDR-Paar, es trug mit „Glasnost" und „Perestroika" bedruckte T-Shirts, ging an der Mauer in Berlin spazieren. Man nahm die beiden fest. Man verurteilte sie wegen ungenehmigter Demonstration zu 18 Monaten Freiheitsstrafe.
Dies sind nur zwei Beispiele menschenunwürdiger Entscheidungen. Allein in Salzgitter — ich sage dies hier ganz bewußt; wir wollten Salzgitter damals nicht auflösen — wurden 30 000 Fälle registriert. Die Gesamtzahl der politisch Verfolgten dürfte so ungefähr bei 150 000 liegen: Terrorurteile gegen Unschuldige, die nach DDR-Jargon wegen „Boykotthetze", „Sabotage", „Diversion" oder „Zusammenrottung" eingekerkert, in psychatrischen Anstalten interniert und sogar ermordet wurden, und dies nur, weil ihre Sehnsucht nach Freiheit und Recht sie antrieb, nachzudenken, zu fordern, Widerstand zu leisten oder zu fliehen. Nur deswegen wurden sie Opfer einer willfährigen Terrorjustiz, die im Namen der Gerechtigkeit Unrecht sprach.
Dies — ich will das eben noch ausführen — muß mich an die Zeit von 1933 bis 1945 erinnern, denn damals postulierte man so: Es sei nicht vom Recht auszugehen, sondern vom Entschluß, der Mann müsse weg. — Deswegen meine ich, wir müssen auch die Probleme so handhaben, wie wir dies nach Kriegsende getan haben. Es geht auch heute darum, die Opfer zu versöhnen. — Bitte schön.
Aus Ihrer Zwischenbemerkung habe ich entnommen, daß Sie bereit sind, die Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Wollenberger zu beantworten.
Bitte schön.
Herr Abgeordneter, Sie haben eben in bewegenden Worten den Unrechtsstaat DDR geschildert. Sind Sie da nicht auch der Meinung, daß es eine schwere Fehlentscheidung war, dem Honecker-Regime noch Milliardenkredite zu geben und damit sein Leben zu verlängern?
Meine sehr verehrte Kollegin, eine viel größere Fehlentscheidung wäre es gewesen, wenn wir damals Herrn Modrow die 15 Milliarden DM gegeben hätten. Das haben wir bewußt nicht getan, und deswegen war diese Politik sicherlich richtig.
Aber, meine Damen und Herren, ich will zu diesem Thema etwas anderes weiter ausführen. Gerade das, was Sie sagen, ist begründet, denn Opferversöhnung, sehr verehrte Frau Kollegin, bedeutet natürlich Bestrafung der Verantwortlichen für Tod, für Leid und für Unterdrückung. Ich meine, gerade das, was Sie sagen, ist begründet, denn die Hauptverantwortlichen, die Honeckers, die SchalckGolodkowskis, dürfen nicht amnestiert werden.
Für diese Leute darf es keinerlei Sonderregelung geben. Auch das gehört zur Opferversöhnung.Opferversöhnung heißt insbesondere berufliche Rehabilitation, d. h. Wiedergutmachung bei Repressionen durch Verwaltungsbehörden. Es eilt — deswegen bin ich mit der Intention Ihres Antrags durchaus einverstanden — es ist ernst zu nehmen, was ich gesagt habe, und Sie sollten es mit uns gemeinsam machen. Es eilt, die Menschen, die aus dem Bereich von Mauer und Stacheldraht als sogenannte unzuverlässige Elemente vertrieben wurden, zu rehabilitieren. Opferversöhnung bedeutet vor allen Dingen Aufhebung der Unrechtsurteile sowie eine angemessene Entschädigung auf einfachem Wege und so schnell wie möglich.Ich weiß selbst, was wir damals, am 17. Juni, gesagt haben. Ich kann es nicht begreifen, daß nach der derzeitigen Gesetzeslage nicht die Möglichkeit besteht, eine Rehabilitierung der Leute zu vollziehen, die damals gegen die politische Polizei aufgestanden sind. Da sind wir durchaus, so meine ich, einer Meinung, daß wir auch diesen Fall regeln müssen.Eine weitere Problematik: Als ich neulich in Dresden war, hat mir ein Gesprächspartner, der drei Jahre unschuldig in Haft verbrachte, gesagt, daß er es nicht verstehe, im Monat nur 80 DM Entschädigung zu be-
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Erwin Marschewskikommen. Ich teile auch da Ihre Auffassung. Wir können uns nicht damit abfinden, daß jemand, der ein Jahr zu Unrecht in Haft verbracht hat, nur 1 000 DM Entschädigung für dieses Jahr bekommt. Laßt uns doch darüber nachdenken, ob wir nicht das, was im Strafverfolgungsentschädigungsgesetz pro Hafttag vorgesehen ist — ich meine die 20 DM — , zumindest teilweise übernehmen. Ich meine, dieser Vorschlag ist überlegenswert.Ich weiß, meine sehr verehrten Damen und Herren der SPD, das kann kein Ausgleich für erlittenes Unrecht sein. Ich meine aber, dies kommt der Verpflichtung der oft genannten Solidargemeinschaft, der gesamten Bürger der Bundesrepublik Deutschland, dieses vereinten Deutschlands doch beträchtlich näher. Ich glaube, wir sollten auch darüber nachdenken.Meine Damen und Herren, dieses Ziel gilt natürlich auch für die Verwirklichung weiterer Ziele des Antrages. Ich meine, sehr geehrter Herr Minister, die Bundesregierung muß unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes Zögern, eine neue, alles erfassende, alles umfassende gesetzliche Grundlage für die Rehabilitierung schaffen. Wir haben allein 50 000 Anträge im strafrechtlichen Bereich. Diese Anträge bedürfen dringend einer Antwort des Rechtsstaates. Ich meine, wir sollten uns nicht auf Art. 17 des Einigungsvertrages beschränken, d. h. nur auf die strafrechtliche Rehabilitation, nur auf die Einweisung in psychiatrische Anstalten.Ich denke an die Zeit nach dem Krieg. Wir haben noch vor geraumer Zeit über die Urteile des Volksgerichtshofs gesprochen. 50 Jahre, nachdem diese Unrechts- und Schreckensurteile gefällt worden sind, darf es einfach nicht dauern.Wir haben aber gute Beispiele: Die Bundesrepublik hat sich nach 1945 zu einer kompromißlosen Wiedergutmachung entschlossen. Dazu gehörte auch die berufliche Rehabilitation. Dazu gehörte natürlich auch ein Ausgleich für Schäden an der Gesundheit. Bei der Vorbereitung zu diesem Thema habe ich gelesen, daß sich der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer sehr häufig über die Bedenken seines Finanzministers Fritz Scheffer hinweggesetzt hatte. Meine Damen und Herren, Konrad Adenauer tat dies, weil er wußte, daß gerade hier die Akzeptanz des Rechts, der innere Friede und die Glaubwürdigkeit der jungen demokratischen Republik zur Diskussion standen. Was damals richtig war, sollte auch heute gelten.Wir als Union sehen in der schnellen Rehabilitierung ein wesentliches versöhnendes Element zur demokratischen Erneuerung von Gesellschaft, von Staat und Recht in unserem wiedervereinigten Lande. Für die Menschen, die so unsägliches Leid erlitten haben — ich glaube, daß sich alle Demokraten in diesem Hause völlig einig sein müssen — , muß doch alles in unserer Macht Stehende getan werden, damit diesen Opfern endlich Gerechtigkeit zuteil wird.
Herr Abgeordneter, ich muß Sie noch einmal unterbrechen, weil eine Bitte um eine Zwischenfrage vorliegt.
Bitte sehr, Frau Abgeordnete.
Meine Frage bezieht sich auf das, was Sie über die Rehabilitierung nach dem Zweiten Weltkrieg gesagt haben, also auf die Rehabilitierung in bezug auf das Naziregime. Sie meinen damit sicherlich, daß auch Roma und Sinti, Homosexuelle und Kommunisten entschädigt worden sind?
Ich sage Ihnen, daß wir insbesondere im strafrechtlichen Bereich eine ganze Menge getan haben, daß wir alle Unrechtsurteile schon unmittelbar nach dem Kriege aufgehoben haben, wenn es auch noch Rechtsfälle und Restfälle gab, die wir in der Zwischenzeit gelöst haben.
Ich gehe davon aus, daß wir die Probleme, die Sie sicherlich nicht zu Unrecht ansprechen, noch lösen werden. Nur haben wir nach dem Kriege eine sehr umfassende Entschädigungsregelung geschaffen sowohl im faktischen, im finanziellen Wege, als natürlich auch im Rechtswege.
Zu einer Zwischenfrage Herr Schily.
— Ich wäre dankbar, Herr Abgeordneter Pfeffermann, meine Damen, wenn der Abgeordnete Schily seine Zwischenfrage in aller Ruhe formulieren könnte.
Herr Abgeordneter Schily, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Marschewski, wir sind uns ja sicherlich darüber einig, daß die ehemalige DDR ein Unrechtsregime war und daß es sinnvoll ist, die Opfer dieses Unrechtsregimes zu entschädigen und zu rehabilitieren, soweit das irgendwie möglich und praktikabel ist. Aber glauben Sie bei Ihren mehrfachen Vergleichen mit dem NS-Regime nicht, daß Sie vielleicht doch auch gut daran täten, einige Unterschiede herauszuarbeiten, die zwischen dem NS-Regime und dem Unrechtsregime in der ehemaligen DDR bestanden haben?
Herr Kollege Schily, ich bin schon erfreut darüber, und ich meine, es ist schon bemerkenswert, daß Sie hier erklären, daß die DDR ein Unrechtsstaat war. Da sind wir beide wirklich völlig einer Meinung. Ich weiß natürlich genauso gut wie Sie, daß man Geschichte und das Werten von Fakten in der Geschichte nicht miteinander vergleichen kann. Das ist sicherlich richtig. Nur, eines ist auch richtig: Das Dritte Reich war ein Unrechtsstaat, sicherlich mit anderen Facetten und unter anderen Umständen. Die DDR war ebenfalls ein Unrechtsstaat, den wir jetzt in einen Rechtsstaat überführt haben, in einen Staat der Freiheit, in einen Staat der Demokratie.
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1786 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Erwin Marschewski— Nein, den Verbrecherstaat haben wir überführt.— Wir haben sie in einen Staat überführt, in dem die Menschenwürde endlich wieder gilt.
Frau von Renesse möchte eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Bevor ich die Frage von Frau von Renesse zulasse, mache ich auf folgende Gefechtslage aufmerksam: Unsere Debattenzeit wird bis zwischen 1 und 2 Uhr heute nacht gehen. Ich bemühe mich — wie auch die Kollegin Vorgängerin —, einen Teil der Redebeiträge zu Protokoll geben zu lassen. Ich wäre dankbar, wenn Sie sich auf die wirklich unverzichtbaren Zwischenfragen beschränken würden, weil die Geschichte sonst für das arbeitende Personal, aber auch für uns selber unzumutbar wird.
Frau von Renesse, wenn Sie jetzt noch eine unverzichtbare Zwischenfrage stellen wollen und der Abgeordnete bereit ist, sie zu beantworten, dann bitte sehr.
Herr Abgeordneter, finden Sie es nicht erstaunlich und glauben Sie nicht, daß es den Menschen in der DDR, für die Sie sich, wenn sie Opfer sind, mit so großem Engagement einsetzen, verwunderlich erscheinen muß, daß wir uns in den Ausschüssen schon mit einem Überleitungsgesetz
— u. a. auch für die Anpassung der Versorgungen und Sonderversorgungen für Angehörige von Blockparteien, NVA, Volkspolizei, Stasi, Gesellschaft für Sport und Technik und dergleichen — beschäftigen, während ein Rehabilitationsgesetz noch nicht in Sicht ist?
Ich glaube, daß ich zum Rehabilitationsgesetz das Nötige gesagt habe. Es wird sicherlich seine Zeit dauern. Das ist keine Frage. Aber wir, das Parlament, Frau Kollegin, werden die Regierung beauftragen, das sehr schnell zu machen. Ich habe ja den Vergleich mit der Nachkriegszeit gezogen. Ich halte es für dringend erforderlich — spätes Recht ist halbes Recht — , diese Problematik sehr schnell zu lösen, und zwar einfach deswegen, um den Menschen, die unsägliches Leid erlitten haben, Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, damit Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit erwächst.
Aber es gilt, insbesondere auf eines, was ich neulich gelesen habe, eine Antwort zu finden. Da fragt Olaf Ludmann, der 22 Monate wegen sogenannter Republikflucht in Haft war: Wofür ist das alles gewesen? Wofür sind die Menschen an der Mauer gestorben, und wofür wurden Tausende jahrelang eingesperrt? Wofür wurden Familien auseinandergerissen, und wofür wurden eigentlich so viele Menschen betrogen?
— Das schreibt der Mann aus der DDR. Das ist die Lebenswirklichkeit dieses Staates gewesen. Er fragt weiter: Um jetzt im Taumel der Freude vergessen zu werden? — Meine Damen und Herren, ich meine, das
sind sehr nachdenkliche Worte. Ich glaube, unsere Antwort hierauf ist eindeutig. Nur, unsere Forderung, die Forderung des Parlaments, muß sehr bald, muß unverzüglich gestellt werden.
Ich muß Sie jetzt noch einmal unterbrechen, weil Frau Wollenberger noch eine Zwischenfrage zu stellen wünscht.
Ich bin fast am Ende. — Wir stimmen der Überweisung zu.
Aber ich bin gern bereit, noch auf das zu antworten, was Sie fragen.
Herr Abgeordneter, Sie haben vorhin von der Umwandlung der ehemaligen DDR in einen Rechtsstaat gesprochen. Ist Ihnen bekannt, daß ehemalige Stasi-Richter heute als gut bezahlte Anwälte arbeiten, und meinen Sie nicht, daß dann das Bild vom Rechtsstaat etwas korrigiert werden muß?
Frau Kollegin, wenn es Einzelfälle geben sollte, so sind sie zu lösen.
Aber ich halte es für völlig verwerflich, das, was in der DDR geschehen ist — die Menschen, die an der Mauer erschossen worden sind, und die Menschen, die gequält worden sind —, mit einem einzigen Fall zu vergleichen,
den ich gar nicht kenne und den Sie einfach behaupten. Ich meine, daß ist ein unzulässiger Vergleich der geschichtlichen Situation, die wir hier zu lösen haben.
Sie können sich darauf verlassen, daß wir bei der Rehabilitierung alles tun werden, um den Opfern Genüge zu tun. Ich sage, um die Frage von Herrn Ludmann zu beantworten — ich will damit schließen — : Diese Menschen dürfen nicht weiter Opfer sein. Wir werden in diesem Parlament alles tun, um Recht und Gerechtigkeit auch gegenüber diesen Opfern zum Siege zu verhelfen.
Ich bedanke mich ganz herzlich, daß Sie zugehört haben, und insbesondere für die vielen, sehr interessanten Zwischenfragen.
Nun hat das Wort die Abgeordnete Frau Köppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich meine, es ist kennzeichnend für die vollzogene staatliche Vereinheitlichung von DDR und Bundesrepublik, daß zwei von der Volkskammer beschlossene wesentliche Gesetze zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, nämlich das am 24. August 1990 beschlossene Stasi-Aktenge-
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Ingrid Köppesetz und das am 6. September 1990 beschlossene Rehabilitierungsgesetz, nicht als fortgeltendes Recht in den Einigungsvertrag aufgenommen wurden. Verantwortlich dafür, daß dieses Rehabilitierungsgesetz nicht als fortgeltendes Recht aufgenommen wurde, ist die CDU.Des weiteren finde ich es erstaunlich, daß die SPD, die diesem Einigungsvertrag in der Volkskammer zugestimmt hat, jetzt im nachhinein dieses Rehabilitierungsgesetz so sehr hochlobt. Ich denke, es ist zu früherer Zeit einiges versäumt worden. Wenn ich Sie heute hier so reden höre, erscheint mir das fast als Heuchelei.Sie wissen, daß diese Ignoranz gegenüber den Opfern von staatlichen Repressionen in der ehemaligen DDR bei den Betroffenen Enttäuschung, Verbitterung hervorgerufen hat. Die Vermutung, erneut betrogen zu werden, führte zu heftigen Protesten. Dem tausendfach erlittenen Unrecht wird mit den zögerlichen Wiedergutmachungsversuchen nur halbherzig begegnet. Obwohl die persönlichen und beruflichen Perspektiven vieler Menschen davon abhängen, kommen die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern nur allzu zäh in Gang. Von einer gebotenen umfassenden Genugtuung für die Opfer kann bisher nicht die Rede sein.Der Deutsche Bundestag muß diesem Anliegen eine hohe Priorität beimessen. In dem zu erarbeitenden Gesetz müssen die Intentionen des Rehabilitierungsgesetzes der DDR vom 6. September 1990 aufgegriffen und materiell umgesetzt werden.Das bedeutet: Rehabilierungsregelungen dürfen nicht auf strafrechtliche Rehabilitierungen und Fälle der Zwangspsychiatrisierung und Zwangsaussiedlungen aus den Grenzgebieten beschränkt bleiben. Schadenstatbestände wie Schaden an Körper, Leben, Gesundheit, aber auch Schaden durch Behinderung im Bildungsweg und im beruflichen Fortkommen müssen berücksichtigt werden. Und: Es muß eine Haftentschädigung geben, die ihren Namen auch wirklich verdient.
Die zahlreichen Fälle von beruflicher Benachteiligung, Verweigerung von Ausbildung, Entlassung aus dem Beruf und Exmatrikulation vom Studium müssen rehabilitiert werden.
Diejenigen, denen staatliche Ausbildung verwehrt wurde, und die infolgedessen kirchliche Einrichtungen besuchten, haben ein Recht darauf, daß ihr beruflicher Abschluß anerkannt wird.
Beruflich Benachteiligte müssen einen Rechtsanspruch auf erleichterten Zugang und auf bevorzugte Einstellung in bestimmten Berufen, z. B. im öffentlichen Dienst, haben. Diese Forderung verkommt aber zur Farce, wenn das nötige Gesetzeswerk noch lange auf sich warten läßt.Rehabilitierung darf nicht auf Urteile beschränkt werden, bei denen die Betroffenen in der Wahrnehmung von Grundrechten in friedlicher Form gehandelt haben. Wer sich dem Regime unfriedlich — dazu gehören auch schon Sitzblockaden — widersetzte und deswegen verurteilt wurde, kann nach dem jetzigen Stand der gesetzlichen Regelungen nicht rehabilitiert werden.Auch für die zwischen 1945 und 1949 unrechtmäßig Internierten und Verurteilten der sowjetischen Militärjustiz muß es Entschädigungen geben. Vor allem die Bestimmungen des Gesetzes müssen in Art und Verfahren den besonderen Bedingungen der SED-Herrschaft Rechnung tragen und den verfügbaren Quellen zum Nachweis von Verfolgungs- und Diskriminierungsmaßnahmen angemessen sein.Speziell bei Anerkennung der Tatsache, daß es sich bei der Staatssicherheit um eine verbrecherische Organisation gehandelt hat, der es zudem hinterher gelungen ist, bedeutende Unterlagen zu vernichten, ist mit Vermutungsregelungen zugunsten der Betroffenen zu arbeiten, wenn anderweitige Nachweise nicht beigebracht werden können. Hierbei sind die Kriterien der Glaubhaftmachung und der Glaubwürdigkeit zugrunde zu legen.Das Hauptproblem: Der Justizminister kann bisher nur juristische Erwägungen anstellen, die nichts kosten. Die eigentliche Entscheidung liegt also beim Finanzminister. Die Auffassung, die strafrechtliche Rehabilitierung einschließlich der Folgekosten obliege den neuen Bundesländern, wird der Sache nicht gerecht; denn wir wissen, die neuen Länder können das nicht bezahlen. Die Vermutung der Opfer, der Bund wolle diese Kosten nicht übernehmen, wird mit der ausbleibenden klaren Stellungnahme zu diesem Thema immer mehr verstärkt.Es ist verständlich, daß die Bundesregierung bei der Erarbeitung eines Rehabilitierungsgesetzes Schwierigkeiten hat, vor allem deshalb, weil Westpolitikern offensichtlich die Detailkenntnis von staatlichen Unrechtshandlungen in der ehemaligen DDR fehlt.Wir raten deshalb der Regierung: Beteiligen Sie an der Ausarbeitung des Gesetzes die Betroffenen! Setzen Sie sich mit dem Bund der Stalinistisch Verfolgten an einen Tisch! Er vertritt als stärkste Interessenvertretung in den neuen Bundesländern die in der DDR politisch Verfolgten und hat bereits sachkundige Vorschläge für eine gesetzliche Regelung erarbeitet.Der beharrlich vorgetragene Ausspruch des Justizministers, es dürfen keine unerfüllbaren Hoffnungen geweckt werden, ist eine erneute Demütigung für die Opfer. Sie hoffen darauf, daß ihnen endlich Recht widerfährt. Sie werden so lange zweifelnd und fremd diesem Rechtstaat gegenüberstehen, wie ihnen das Recht auf Rehabilitierung verwehrt wird.
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz Dr. Kinkel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das SED-Regime hat Menschen systematisch zerbrochen und Lebensschicksale zerstört; ich habe das an dieser Stelle
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1788 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Bundesminister Dr. Klaus Kinkelin anderem Zusammenhang schon einmal gesagt. Aus politischen Gründen wurden mißliebige Bürger strafgerichtlich verfolgt, in psychiatrische Anstalten gesteckt, zwangsausgesiedelt, an Ausbildung und Fortkommen gehindert. Dieses Unrecht ist noch schlimmer als das Unrecht, das im Zusammenhang mit Eigentumsentzug und Vermögensentzug geschehen ist, weil es die Menschen selbst betraf.Das Bundesverfassungsgericht hat zu Recht darauf hingewiesen, daß bei den gesamten Wiedergutmachungsregelungen der Gleichheitssatz zu beachten ist. Daran sollten und wollen wir uns halten.Ich verstehe sehr wohl, daß die betroffenen Menschen, daß die Opfer auf rasche Hilfe drängen und hoffen. — Ich will gleich noch etwas zum letzten Redebeitrag sagen; ich will es mir allerdings noch etwas aufbewahren. — Ich bleibe aber dabei: Wir dürfen auch keine falschen Hoffnungen wecken.Ich sage es nochmals: Ein Teil der Betroffenen wird sich trotz aller unserer Bemühungen noch etwas gedulden müssen, weil sich vierzig Jahre Unrecht dieses Ausmaßes — auch das wiederhole ich — beim besten Willen nicht in den paar Monaten seit der Wiedervereinigung aufarbeiten lassen. Wir haben gerade sieben Monate nach der Wiedervereinigung. Ich muß einfach einmal darauf hinweisen, daß diejenigen, die überzogene Forderungen stellen, sich aus meiner Sicht in mancher Beziehung ein wenig mäßigen sollten. — Ich werde darauf noch eingehen.Es wäre aus meiner Sicht unverantwortlich, jetzt übereilte Regelungen zu treffen, deren Folgen niemand absehen kann. Wir müssen Prioritäten zweifellos dort setzen, wo das Unrecht am schwersten war und wo Hilfe u. a. aus Altersgründen wirklich not tut.Die Hinterlassenschaft der SED haben wir alle zusammen geerbt. Die Aufarbeitung von vierzig Jahren Diktatur und Verfolgung ist deshalb eine gesamtstaatliche, eine nationale Aufgabe. Der Deutsche Bundestag hat sich dieser Aufgabe, wie ich finde, eindrucksvoll angenommen. Dafür bin ich dankbar, gerade weil ich innerhalb der Bundesregierung für diesen nicht ganz einfachen Fragenkreis Verantwortung trage.Kurz nach Abschluß des Einigungsvertrages am 6. September 1990 hat die Volkskammer der DDR noch ein umfassendes Rehabilitierungsgesetz beschlossen. Geregelt wurden damals die strafrechtliche, die verwaltungsrechtliche, die berufliche und die Rehabilitierung der Personen, die durch alliierte Besatzungsmächte in Gewahrsam genommen worden waren.In der Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertrag wurden nur die strafrechtliche Rehabilitierung und aus der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung die Fälle der Psychiatrieeinweisungen übernommen.Der Ausschuß Deutsche Einheit hat dem gesamtdeutschen Gesetzgeber die Aufgabe zugewiesen, die getroffenen Rehabilitierungsmaßnahmen zu überprüfen und neu zu regeln. Er hat außerdem klargestellt, daß die Überprüfung nicht auf die in Art. 17 des Einigungsvertrages genannte strafrechtliche Rehabilitierung beschränkt sein soll, und festgelegt — das istjetzt ganz wesentlich — , daß eine angemessene Entschädigung zu gewähren ist.Wo stehen wir heute? Zunächst zur strafrechtlichen Rehabilitierung: Diese richtet sich nach dem Rehabilitierungsgesetz, dem Häftlingshilfegesetz, und dem Vermögensgesetz. In der Praxis gibt es ganz gewaltige Probleme; das will ich nicht leugnen. Bereits jetzt liegen 50 000 Anträge auf Rehabilitierung bei den Bezirksgerichten der fünf neuen Länder vor. Ich selber rechne mit etwa 100 000 Anträgen.Die Anträge sind meistens nicht genügend aufgearbeitet. Oft fehlen Unterlagen; häufig wird das falsche Verfahren gewählt. Es fehlen aber vor allem die Richter. Fazit und Folge: Die Erledigung geht leider aus meiner Sicht nur äußerst schleppend voran.Zunächst müssen wir also, ob wir wollen oder nicht, genügend Richter aus den Altländern in die neuen Länder entsenden, fliegende Rehabilitierungssenate usw. einrichten und versuchen, mit dem Richterproblem fertigzuwerden und alles Denkbare zu tun, was helfen kann.Ich habe das mit meinem Personalprogramm versucht. Es kann alles nur Stückwerk bleiben; auch darauf muß ich hinweisen. Das letzte, was ich in diesem Zusammenhang getan habe, war mein positiv aufgenommener Appell beim Deutschen Anwaltstag in der letzten Woche. Die Anwälte sollen kostenlos bei der Aufarbeitung der unsortierten Rehabilitierungsanträge mitwirken. Dies ist mir zugesagt worden. Ich verspreche mir davon eine ganz gewaltige Verkürzung des Verfahrens.Das geltende Recht hat aber auch zahlreiche Lükken und Unklarheiten. Diese müssen ebenfalls beseitigt werden. Zum Beispiel trifft die Unterscheidung zwischen Rehablitierungs- und Kassationsverfahren die willkürliche Rechtspraxis in der DDR nicht. Die Rechtsprechung in der ehemaligen DDR bediente sich virtuos sowohl des politischen als auch des gewöhnlichen Strafrechts zur Durchsetzung ideologischer Ziele.Weiter: Die Rehabilitierung bleibt vielfach denjenigen versagt, die am 17. Juni 1953 — Herr Marschewski hat darauf hingewiesen — z. B. durch Betriebsbesetzungen Widerstand geleistet haben, weil eben Rehabilitierung nur für friedlichen und gewaltlosen Widerstand vorgesehen ist. Das ist undenkbar.Entscheidend für die Opfer ist natürlich in erster Linie die Entschädigungsregelung. Hier verweist das Rehabilitierungsgesetz auf das Häftlingshilfegesetz. Dies paßt aber nicht auf die Rehabilitierung, weil es ursprünglich als Eingliederungshilfe gedacht war und eben nicht als die jetzt benötigte Ausgleichsregelung für erlittene Nachteile. Das heißt, Unzuträglichkeiten sind zwangsläufig die Folge.Auch nach erfolgreichem Abschluß des Rehabilitierungsverfahrens muß derzeit der Betroffene ein weiteres langwieriges Anerkennungsverfahren vor einer anderen Behörde durchlaufen, um an Ausgleichszahlungen heranzukommen. In manchen Fällen geht er sogar trotz Rehabilitierung nach den Vorschriften des Häftlingshilfegesetzes leer aus, weil dieses andere Ausschlußtatbestände enthält.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1789
Bundesminister Dr. Klaus KinkelDie Leistungssätze nach dem Häftlingshilfegesetz sind viel zu gering; Herr Marschewski hat es angesprochen. Es ist natürlich nicht denkbar, daß für zwei Jahre Freiheitsberaubung der Betroffene nicht einmal 2 000 DM, nämlich 80 DM für jeden Monat, erhält. Das ist viel zuwenig und muß geändert werden.Im Bereich der strafrechtlichen Rehabilitierung strebt die Bundesregierung deshalb folgende sofortige Sonderregelungen an — ich hoffe, daß ich so schnell wie möglich, wenn es irgendwie geht, noch vor der Sommerpause, ein Gesetz vorlegen kann — : Rehabilitierungsverfahren und Kassationsverfahren werden zu einem einheitlichen Rechtsinstitut der erweiterten Rehabilitierung zusammengefaßt. Das Verfahrensrecht wird im Interesse der Betroffenen vereinfacht. Es wird eine eigene, vom Häftlingshilfegesetz abgekoppelte soziale Ausgleichsregelung geschaffen. Die Entscheidung der Gerichte ist damit für die Vollzugsbehörden ebenfalls bindend. Die Entschädigung wird in Anpassung an die heutigen Verhältnisse erhöht.Im übrigen wird — was ganz wichtig ist — eine rückwirkende Stichtagsregelung geschaffen werden müssen. Wenn die Haft zu dauernden psychischen und physischen Schäden geführt hat, ist an Renten, Berufsschadensausgleich, Pflegezulagen usw. zu denken. Die Verhandlungen mit dem Finanzminister laufen; sie werden in Kürze abgeschlossen sein.Ich finde es billig und auch ungerecht — ich muß es deutlich sagen — , wenn mir oder der Bundesregierung vorgeworfen wird, wir hätten die Zahlen noch nicht vorgelegt. Ich muß einmal ganz deutlich fragen: Wie soll ich sie denn vorlegen, wenn ich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in diesem Zusammenhang warten muß? Das liegt — ich habe es ja nun selber entgegengenommen — erst ganz kurze Zeit zurück. Man muß sich, wenn man etwas fordert, auch überlegen, was man fordert. Ich muß fünf bis sechs verschiedene Ausgleichsleistungen in Konsens bringen, am Grundgesetz messen und Dinge aufarbeiten, die eben nicht von heute auf morgen aufgearbeitet werden können. Dazu braucht man etwas Zeit zum Nachdenken. Wir können Gesetze in diesen schwierigen Komplexen auch nicht aus dem Boden stampfen.
Der falsche Weg wäre jetzt, die Leistungssätze für Freiheitsberaubung einseitig zu erhöhen. Wir brauchen wohldurchdachte, stimmige Lösungen, die sich in das spätere Gesamttableau einfügen. Klar muß im übrigen sein, was wir alles entschädigen wollen und entschädigen müssen.Zum Verwaltungsunrecht: Hier ist außer der Psychiatrieeinweisung gesetzlich leider noch nichts geregelt; ich kann nichts dafür. Die Schwierigkeit fängt schon damit an, daß es ein Verwaltungshandeln in unserem rechtsstaatlichen Sinne in der DDR überhaupt nicht gab. Verwaltungsmäßiges Handeln gegenüber dem Bürger wurde weitgehend auch durch nichtstaatliche Stellen, Parteidienststellen oder gesellschaftliche Einrichtungen bestimmt.Der dringendste Handlungsbedarf besteht bei den Zwangsaussiedlungen im Grenzbereich; das ist hierauch schon angesprochen worden. Dessen will ich mich besonders annehmen. Dabei geht es um die selektive Entfernung aller politisch mißliebigen Menschen aus dem Grenzbereich in einer Breite von ca. 5 km. Dabei sind über 50 000 Menschen bei Nacht und Nebel und unter teilweise entwürdigenden Umständen aus ihren Häusern heraus verhaftet und ins Innere der DDR verschleppt worden.Die Bundesregierung — und damit auch ich — wird im Hinblick auf die Betroffenen, die hier angesprochen sind, umgehend eine gesetzliche Regelung für die Rückgabe des Vermögens oder, wo dies nicht möglich ist, für Entschädigungen und moralische Wiedergutmachung vorlegen.Ebenso werden wir das Verwaltungsunrecht, das durch präventivpolizeiliche Maßnahmen, vor allem durch Schußwaffengebrauch an der Grenze und Freiheitsentziehungen ohne gerichtliche Kontrollen, etwa bei Demonstrationen, geschehen ist, in die Regelungen über die strafrechtliche Rehabilitierung einbeziehen.Das DDR-Gesetz betraf auch die Rehabilitierung der Menschen, die durch alliierte Besatzungsmächte in Gewahrsam genommen oder von sowjetischen Militärtribunalen verurteilt wurden. Diese Urteile von sowjetischen Militärtribunalen können wir aus völkerrechtlichen Gründen nicht aufheben. — Ich habe mich persönlich um diese Fälle außerordentlich bemüht. Die Verhandlungen mit der Sowjetunion sind so verlaufen, wie ich es Ihnen hier schildere. — Die Verurteilungen aufheben kann nur die Sowjetunion selbst; vereinzelt ist es bereits geschehen. Sie hat uns zugesichert, daß sie das bei begründeten Anträgen und entsprechenden Nachweisen auch in Zukunft tun will.
Beide Personenkreise können aber bereits jetzt Leistungen nach dem Häftlingshilfegesetz — der geplanten neuen Regelung angepaßt — erhalten.Ich will klipp und klar sagen, daß wir uns bemühen werden, auch für diesen Bereich zu besseren Lösungen zu kommen.
Ich denke einmal — vorsichtig — laut daran, ob nicht eine Lösung gefunden werden könnte, die dem entspricht, was in anderem Zusammenhang im Deutschen Bundestag einmal geschehen ist, was die pauschale Aufhebung der Urteile oder mindestens die moralisch-ethische Wiedergutmachung in diesem Zusammenhang anbelangt.
Zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Justizgeschichte zählen die sogenannten Waldheim-Prozesse. Die damals ergangenen Urteile können jetzt schon aufgehoben werden. Die Strafverfahren im Zusammenhang mit diesen Waldheim-Prozessen sprachen dieser Bezeichnung hohn: Die Verfahren waren in aller Regel nicht öffentlich und dauerten selten länger als 15 Minuten. Es wurden zum Teil gegen 14jährige Jugendliche drakonische Freiheitsstrafen von 15
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1790 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Bundesminister Dr. Klaus Kinkelbis 20 Jahren verhängt, in einigen Fällen sogar die Todesstrafe. Den von unmenschlichen Haftbedingungen, von Krankheiten und Schwächen gezeichneten Angeklagten stand meist kein Verteidiger zur Seite. Oftmals lag das fertige Urteil bereits zu Beginn der Verhandlung auf dem Richtertisch.Meine Damen und Herren, ganz schwierig ist die Situation bei der beruflichen Rehabilitierung. Wir haben hier keine gesetzlichen Regelungen, und — schlimmer noch — wir haben überhaupt kein genaues Wissen. Typische Reaktionen des SED-Regimes auf Kritik, Auflehnung und Ausreiseversuche waren im beruflichen Bereich: Es gab keinen Zugang zur Ausbildung, zum Beruf mehr. Der Aufstieg in höhere Positionen wurde verhindert. Degradierung, Entlassung aus dem Beruf und Sippenhaft für Familienmitglieder waren an der Tagesordnung. Hier die nötige Klarheit zu gewinnen ist äußerst schwierig; das brauche ich Ihnen nicht im einzelnen darzulegen. 40 Jahre staatliche Verfolgung und Willkür in allen beruflichen Bereichen sind zu erforschen, zu systematisieren und zu bewerten.Um die einzelnen Fallgruppen genauer auszuarbeiten, die Anzahl der Betroffenen hochzurechnen und taugliche Beweismittel für spätere Anerkennungsverfahren zu finden, untersuchen wir im Augenblick die Akten der Gauck-Behörde. Ganz wichtig ist außerdem die Auswertung von vielen Tausenden von Eingaben, die das Bundesjustizministerium erreicht haben. Wir versuchen, auch über demoskopische Erhebungen weiterzukommen.Es wäre unverantwortlich — ich sage es noch einmal — , ohne diese Vorarbeiten und ohne genauere Kenntnis über die Zahl der Betroffenen Lösungen zu präsentieren und festzuschreiben. Die Vorarbeiten kosten aber Zeit; Zeit, die wir für eine gerechte Lösung brauchen.Schließlich: Für die Regelung des Zugangs zu den Stasi-Akten scheint sich ja jetzt — wenn ich das in aller Kürze sagen darf — eine Lösung abzuzeichnen.Ich will zusammenfassen. In der Präambel des Rehabilitierungsgesetzes steht: „Die Rehabilitierung ist ein wesentliches Element der Politik zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft, des Staates, des Rechts." Richtig. Aber es dürfen — nochmals — keine unerfüllbaren Hoffnungen geweckt werden. Die finanziellen Auswirkungen der Rehabilitierung müssen bedacht werden. Es muß eine gerechte, am Gleichheitssatz ausgerichtete Regelung getroffen werden. Die Betroffenen werden trotz aller Bemühungen — ich sage es noch einmal, auch wenn sich Frau Köppe an den Kopf faßt — etwas Geduld brauchen.Notwendig ist — ich sage auch das noch einmal — die Konzentration auf die Fälle, in denen schnelle und sofortige Hilfe wirklich not tut; Stichworte: erheblicher Eingriff, Fortdauer der Folgen.Ich habe allergrößtes Verständnis für die berechtigten Erwartungen der Opfer. Deshalb: Was sofort gemacht werden kann, wird vorrangig in Angriff genommen. Das verspreche ich Ihnen. Wir werden in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen; die Rahmenabstimmung mit den Ländern läuft. Selbstverständlich ist beschlossen, daß wir insbesondere die Betroffenen aus den neuen Ländern in die Gesetzgebungsarbeit einbeziehen, weil wir aus ihren Erfahrungen natürlich profitieren würden.Es würde uns bei dieser Arbeit und es würde erst recht den Opfern des SED-Unrechtsregimes viel helfen, wenn wir den übergreifenden Konsens, der sich heute für mich jedenfalls ein wenig gezeigt hat, bewahren könnten.Ich möchte zum Schluß gern noch zwei Dinge sagen, Frau Köppe. Ich möchte sagen, daß ich auch persönlich tief betroffen bin durch das Leid, das mir aus diesen Tausenden von Anträgen, aus den Akten und aus den Gesamtzusammenhängen entgegenschlägt. Schon deshalb verspreche ich, daß ich auch persönlich alles tun werde, um zu helfen, wo es nur irgendwie geht.Aber ich möchte gern das, was Sie vorher dem Kollegen Marschewski gegenüber gesagt haben — Stichwort Heuchelei — zurückweisen, und zwar scharf zurückweisen. Wissen Sie, Frau Köppe, ich habe so ein bißchen den Eindruck — und den gebe ich dann doch wieder —: Es gibt einige, die nichts für diese 40 Jahre Unrechtsstaat können, überhaupt nichts, die aber nun seit Monaten mit ungeheuren Anstrengungen dabei sind, diesen ganzen Mist aufzuarbeiten. Ich muß Ihnen sagen, daß es dann manchmal bitter ist, wenn man solche Angriffe, wie vorher von Ihnen gestartet, hört. Sie sind zutiefst ungerecht. Ich sage Ihnen noch einmal: Ich weise es mit Nachdruck zurück.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Abgeordnete Frau Wollenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Ich muß es leider symptomatisch finden, daß ein so wichtiger Beitrag zu unser aller Vergangenheitsbewältigung zu so später Stunde und vor so leerem Hause erfolgt.
Ich möchte trotzdem sprechen, und zwar nicht als Abgeordnete, sondern als Betroffene und vor allen Dingen für Menschen, die sich zu diesem Thema in der Öffentlichkeit nicht äußern können.Ich meine jene, die immer noch in den Gefängnissen sitzen, obwohl sie seinerzeit von der Staatssicherheit ins Gefängnis gebracht wurden. Es ist ein weitgehend unbekannt gebliebener Fakt, daß in einem Drittel aller Fälle von verurteilten sogenannten Kriminellen in der DDR die Staatssicherheit die Untersuchung geführt hat. Diese Menschen sind nach erfolgter Verurteilung mit nur einem einzigen Blatt ins Gefängnis eingeliefert worden. Das war der Vollstrekkungsbefehl. Darauf stand, nach welchen Paragraphen sie verurteilt worden waren und für wie viele Jahre. Niemand von den Gefängnisdirektoren, die ich angesprochen habe, weiß, wo sich die Akten dieser betroffenen Menschen befinden.
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Vera WollenbergerSeinerzeit ist in der Volkskammer eine Initiative von Abgeordneten gescheitert, diese Menschen zu amnestieren. Statt dessen wurde beschlossen, daß man Einzelfallprüfungen durchführt. Seitdem ist über ein Dreivierteljahr vergangen, und ich habe von keinem einzigen Fall gehört, daß eine solche Überprüfung abgeschlossen worden wäre.
Vielleicht kann der Herr Justizminister, da er eben versprochen hat, alles zu tun, um den Betroffenen zu helfen, in diesem Fall energische Schritte einleiten, damit diese Menschen nicht länger ungerechterweise in den Gefängnissen zubringen müssen.Herr Justizminister Kinkel, Sie haben hier vor überzogenen finanziellen Forderungen gewarnt. Aber ich denke, es ist keine überzogene finanzielle Forderung, wenn man z. B. wie in meinem Fall erwartet, daß, wenn das Gericht festlegt, daß der Staatshaushalt die Kosten des Rehabilitierungsverfahrens trägt, das auch geschieht und sie nicht aus eigener Tasche bezahlt werden müssen.Ich habe heute schon darauf hingewiesen, daß auf Beschluß der alten Bundesregierung dem HoneckerRegime Milliarden-Kredite zur Verfügung gestellt wurden. Ich finde, es wäre ein guter Beitrag zur moralisch-politischen Hygiene, wenn ein ähnlich hoher Betrag zur Verfügung gestellt würde, um die Opfer des Honecker-Regimes zu entschädigen. Ich glaube, dann könnten die realistischen und auch berechtigten Erwartungen der Opfer auch erfüllt werden.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Schwanitz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach einer über 40 Jahre währenden Periode der kommunistischen Unterdrückung im östlichen Teil der heutigen Bundesrepublik eröffnet der demokratische Neuanfang die Möglichkeit, aber auch die Notwendigkeit der Aufarbeitung des gesamten Ausmaßes dieser Diktatur. Dabei sind die Voraussetzungen für diesen Aufarbeitungsprozeß sehr unterschiedlich. In den neuen Bundesländern beginnen erstmalig, Betroffene über ihre Schicksale zu berichten. Die vom SED-Staat verhängten Schweigeverpflichtungen, vor allem gegenüber dem Unrecht der 40er und 50er Jahre, und der damit einhergehende Verdrängungsprozeß, der bis in die Familien der Betroffenen hineinreichte, können nur mühsam aufgebrochen werden. Hier steht der Gesetzgeber in der Pflicht.Ohne eine angemessene gesellschaftliche Anerkennung und Wiedergutmachtung der individuell erlebten Verfolgungen können diese Wunden nicht verheilen. Ein Rehabilitierungsgesetz, welches zumindest näherungsweise dem Umfang des kommunistischen Unrechts gerecht wird, wird damit zu einer wichtigen Voraussetzung für die Demokratisierung in den neuen Bundesländern überhaupt.
Natürlich ist, wie meine Fraktionskollegin Frau Schröter bereits ausführte die Situation seit dem 3. Oktober 1990 hier nicht befriedigend. Das Rehabilitierungsgesetz der Volkskammer wurde durch die Vereinbarung zum Einigungsvertrag um ca. zwei Drittel gekürzt. Die Rehabilitierung beruflicher Unrechtsmaßnahmen fiel ersatzlos weg. Aus dem großen Bereich der verwaltungsrechtlichen Repressionen gilt nur noch die widerrechtliche zwangsweise Einweisung in eine psychiatrische Anstalt als rehabilitierungswürdig. Auch bei der strafrechtlichen Rehabilitierung sind große Unrechtsbereiche, beispielsweise die Verschleppung und Ermordung politischer Gegner zwischen 1945 und 1949, einfach unter den Tisch gefallen.Ich möchte mich in meinen nun folgenden Ausführungen vorwiegend dem Bereich der strafrechtlichen Rehabilitierung zuwenden: Die im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Rehabilitierung zur Zeit geltenden rechtlichen Regelungen sind, wie auch der Bundesjustizminister in seinen jetzigen Ausführungen richtigerweise darstellte, zum Teil unklar und widersprüchlich. Die Grenzen des politischen Strafrechts in der ehemaligen DDR sind durch die jetzigen Rehabilitierungsregelungen nicht exakt erfaßt. Ein Bürger der DDR, der beispielsweise Anfang der 50er Jahre Kontakt zum Ostbüro der SPD aufgenommen hatte, wurde von der Justiz der DDR wegen Spionagetätigkeit zu einer hohen Haftstrafe verurteilt. Diesem Bürger bleibt nach den jetzigen Rehabilitierungsregelungen eine Rehabilitierung versagt, weil Spionage als Straftatbestand nicht als rehabilitierungswürdig gilt. Dies ist ein unhaltbarer Zustand. Hier wäre nur Kassation möglich, was wegen der geringeren gesellschaftlichen Wertigkeit für diesen Bürger als nicht akzeptabel betrachtet werden muß.Der Vorschlag des Justizministers, die Rehabilitierung und die Kassation künftig zusammenzufassen, muß geprüft werden.
Mir scheint jedoch, daß bei einer solchen Verschmelzung, so sinnvoll sie aus verfahrenstechnischer Sicht auch sein mag, die Differenzierungsmöglichkeit und damit die gesellschaftliche Anerkennung des strafrechtlich verfolgten politischen Widerstands gegenüber sonstigem Unrecht in der Rechtsprechung verlorengeht.
Völlig unakzeptabel, meine Damen und Herren, sind jedoch die zur Zeit vorhandenen unterschiedlichen Ansprüche aus den Rehabilitierungs- und den Kassationsverfahren. Hier bestehen vollkommen getrennte und sowohl in der Art als auch in der Höhe vollkommen unterschiedliche Leistungsansprüche. Einen Anspruch auf Ausgleich des immateriellen Schadens infolge der Haft kennt die Kassation nicht, im Unterschied beispielsweise zum bundesdeutschen Strafrechtsentschädigungsgesetz, während bei der Rehabilitierung wenigstens auf die Eingliederungshilfen nach dem Häftlingshilfegesetz zurückgegriffen werden kann.
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1792 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Roll SchwanitzVöllig unakzeptabel ist freilich auch die Höhe der Entschädigung nach dem Häftlingshilfegesetz.
Eine finanzielle Leistung von 1 bis 2 DM pro Hafttag kann von den Betroffenen nur als Verhöhnung ihres Schicksals aufgefaßt werden.
Dies hat erfreulicherweise auch der Bundesjustizminister in seiner Presseerklärung am 10. Mai so gesehen. Hier müssen Leistungen gewährt werden, die sich an den tatsächlichen Lebensbedingungen unserer Tage orientieren, beispielsweise Tagessätze von 20 DM pro Hafttag, welche in besonderen Härtefällen auch angehoben werden können.
Nur so kann die Rehabilitierung näherungsweise einen Wiedergutmachungscharakter erhalten.Abschließend möchte ich noch auf ein besonders trauriges Kapitel im Bereich der strafrechtlichen Rehabilitierung zu sprechen kommen. Gemeint das Unrecht, welches zwischen 1945 und 1949 in der damaligen SBZ durch die Sowjets begangen worden ist. Dies war das wohl dunkelste Kapitel der politischen Verfolgung im Osten Deutschlands seit 1945. Hier wurden die längsten Haftstrafen ausgesprochen, sofern überhaupt ein Gerichtsverfahren durchgeführt worden ist. Verurteilungen von 20 bis 25 Jahren Zwangsarbeit scheinen zeitweilig normales Strafmaß gewesen zu sein. Dies war auch die Zeit der vermehrten Todesurteile und der Vernichtung der Menschen in den Internierungslagern und Haftanstalten. Allein in der Haftanstalt Bautzen rechnet man mit ca. 16 000 Toten, zum Großteil in der Zeit zwischen 1945 und 1949. Es kann nicht akzeptiert werden, daß diese Untaten weiterhin aus dem Geltungsbereich des Rehabilitierungsgesetzes herausfallen.Es geht hier nicht darum, daß die Sowjetunion als eigentlicher Verursacher dieses Unrechts heute völkerrechtlich dafür geradestehen will, wie dies der Parlamentarische Staatssekretär des BMJ, Herr Göhner, und auch der Minister selbst heute wieder als Haupthinderungsgrund ausgeführt haben. Es geht hier nicht um einen Anspruch, den die Betroffenen gegenüber der Sowjetunion besitzen oder wahrnehmen wollen, sondern es geht darum, daß diesen Unrechtsmaßnahmen bei dem innerstaatlichen Recht die gleiche Aufmerksamkeit entgegengebracht wird wie dem, was sich nach 1949 in der DDR abgespielt hat.
Die Aufnahme dieser Inhaftierungen, Verschleppungen und Tötungen zwischen 1945 und 1949 in die Rehabilitierung ist für uns unverzichtbarer Bestandteil eines künftigen, möglichst schnell zu beschließenden Rehabilitierungsgesetzes. Dieses für die Betroffenen so wichtige Signal zu setzen, meine Damen und Herren, hätten Sie durch den vorliegenden SPD-Antrag nun die Möglichkeit.Danke schön.
Das Wort hat jetzt unser Kollege Hartmut Büttner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bewältigung der DDR-Hinterlassenschaft ist in der Tat, Herr Schwanitz — ich bin für Ihre Rede sehr dankbar —, eine nationale Aufgabe, der wir uns alle zu stellen haben. Ich begrüße ausdrücklich die Gelegenheit, den Opfern des SED-Unrechtsregimes sagen zu können: Der Deutsche Bundestag hat Sie nicht vergessen.Die Wiedergutmachung vergangenen Unrechts ist besonders wichtig, um die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaats in die Bundesrepublik Deutschland für die Menschen in den neuen Ländern erlebbar zu machen. Rehabilitierung und Aufarbeitung der Folgen von 40 Jahren sozialistischer Diktatur stärken auch den inneren Frieden in unserem Land.Es ist auf die Grundlagen verwiesen worden, auf den Volkskammer-Beschluß vom 6. September, auf den Art. 17 des Einigungsvertrags, aber auch auf die Forderungen des Ausschusses Deutsche Einheit und, ich will hinzufügen, auch auf die Koalitionsvereinbarungen zwischen CDU/CSU und FDP, wo wir eindeutig gesagt haben, daß der Gesamtkomplex der Rehabilitierung zu überprüfen und neu zu regeln sei.Zahlreiche Vorredner haben auf die Spannweite des den Menschen in der ehemaligen DDR zugefügten Unrechts verwiesen.Ich will hier einige Beispiele anfügen. Angeführt worden ist die Zeit nach dem Krieg, als Menschen deportiert, interniert und durch die sowjetischen Militärtribunale verurteilt worden sind. Wir sollten aber auch daran erinnern, daß in dieser Zeit ehemalige Nazi-KZs wie Buchenwald umfunktioniert und einem neuen Zweck zugeführt worden sind. Ich erinnere an das Massengrab von Oranienburg, das eine beredte Sprache über die Untaten dieser Zeit spricht.Wir müssen auch daran erinnern, daß nach 1949 das Strafrecht zum Kampfinstrument zur Aufrechterhaltung der SED-Herrschaft verkommen ist. Bewußt sind unbeugsame Bürger zu Verbrechern gestempelt worden. Die Grenzlinien zwischen politisch Inhaftierten und kriminellen Straftätern wurden verwischt. Die Kriminalisierung der politischen Opfer war Methode, da es offiziell keine politischen Gefangenen in der DDR zu geben hatte.Das Leid der Betroffenen übersteigt heute noch das Vorstellungsvermögen des unbefangenen Beobachters. Hier ist erwähnt worden, wie menschenunwürdig die Haftbedingungen waren. Hier ist noch nicht erwähnt worden, daß es Wegnahme und Zwangsadoptierung von Kindern gab, daß Familien zerrissen worden sind. Hier müssen die zahlreichen Todesfälle auch in der Haft in den letzten Jahren erwähnt werden. Das Beispiel Bautzen ist hier genannt worden.Ich denke auch an die zahlreichen Schikanen und Willkürakte. 150 000 bis 200 000 Menschen gingen durch die Kerker der SBZ und der DDR — 150 000 bis 200 000 Menschen — , allein aus politischen Gründen. Ich denke, Bautzen, Cottbus und Hoheneck sind Symbole dieses Staatsterrors.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1793
Hartmut Büttner
Wir sollten an dieser Stelle allerdings auch auf die Enteignungen landwirtschaftlicher, betrieblicher und häuslicher Vermögen schauen.Wir müssen sehen, daß die Spannweite für Rehabilitierung auch die Einziehung des Vermögens von Republikflüchtigen und Regimegegnern umfaßt. Erwähnt von Minister Kinkel wurden die 50 000 Ausgewiesenen und Deportierten aus den Sperrgebieten auf der einen Seite der Grenze.Die Bandbreite umfaßt die vielen Menschen, die im beruflichen Bereich von Pressionen der Einheitspartei erfaßt worden sind, Menschen, die als Reaktionen des SED-Regimes auf Kritik, Auflehnung oder Ausreisewunsch mit Degradierungen, Zugangsverweigerungen und Entlassungen überzogen worden sind. Meine Damen und Herren, diese Praxis ging bis zur Sippenhaft für Familienmitglieder, einer in Diktaturen — hier gab es einige Vergleiche — immer wiederkehrenden Unterdrückungsmethode.Die systematische Zerstörung von Lebensschicksalen Andersdenkender war auch ein Ergebnis der Stasi-Tätigkeit. Ich will einen Hinweis geben, Frau Köppe. Ich denke, Sie werden dann keine Schwierigkeiten haben, dem Teil des Gesetzentwurfs zuzustimmen, den wir hiermit in Verbindung mit der Situation im Rentenbereich eingebracht haben, wo wir die Stasi-Renten auf 600 DM beschränken wollen. Ich denke, das ist auch ein Stück Gerechtigkeit, das man in dieser Diskussion mit einfügen sollte.Die Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts ist vor allen Dingen allerdings auch eine moralische Aufgabe. Neben der materiellen Seite muß es ebenfalls die menschliche Qualität der Rehabilitierung geben. Die Opfer der Diktatur dürfen nicht den Eindruck gewinnen, als würde die Fürsorge für diejenigen, die in der untergegangenen DDR Unrecht zu verantworten haben, mehr Aufmerksamkeit als die teilweise vergessenen Opfer erregen.
Meine Damen und Herren, der Bundesjustizminister sprach von 50 000 zur Zeit vorliegenden Rehabilitierungsanträgen. Zu erwarten sind 100 000 als vorsichtige Schätzung. Allein diese Zahlen zeigen die Dimension der Aufgabe. Deshalb dürfen wir nicht den Eindruck erwecken, als könnten wir jegliches erlittenes Unrecht, Frau Köppe, sofort materiell und menschlich lösen. Diese 45 Jahre lassen sich, denke ich, nicht in wenigen Monaten aufarbeiten. Deshalb sollten wir bei der Bewältigung des Gesamtproblems Schwerpunkte setzen, wir auch bewußt als Parlament.Ich meine, daß hier zunächst einmal an erster Stelle die Rehabilitierung der Haftopfer von Bautzen und Hohenegg und der anderen Gefängnisse beginnen muß. Den Betroffenen der gleichgeschalteten Justiz muß unsere erste Fürsorge gelten. Das gilt ebenfalls für die Menschen aus den Grenzgebieten, die zwangsausgesiedelt worden sind. Ich meine allerdings auch — das ist hier ebenfalls von Frau Schröter schon einmal angesprochen worden —, das muß vor allem für ältere Menschen gelten. Die Opfer der Zeitzwischen 1945 und 1949 sollten ihre Bemühungen um Gerechtigkeit auch wirklich noch erleben dürfen.
Voraussetzung für eine beschleunigte Abwicklung der strafrechtlichen Rehabilitierungsanträge ist allerdings die Abordnung von weiteren zusätzlichen Richtern aus den alten Bundesländer in die neuen Länder. Die westlichen Partnerländer haben viele Zusagen gemacht, viele Leistungen vollbracht. Aber ich denke, das ist nicht überall ausreichend. Wir sollten an dieser Stelle erinnern, daß die zusätzlich zugesagten Richter auch baldmöglichst mit ihrer Arbeit beginnen müssen. Denn wir können es den Opfern nicht zumuten, ihre Rehabilitierung vor belasteten Altrichtern anzustrengen.
Herr Schwanitz, ich sehe eine kleine Differenz, die wir aber sicherlich in den Ausschußberatungen ausräumen können. Eine gesetzliche Regelung sollte nicht bei einer Erweiterung des Häftlingsgesetzes stehenbleiben. Dessen Zielsetzung umfaßt im wesentlichen nur die Eingliederungshilfe. Ich meine, unser Ziel muß es sein, einen Ausgleich für erlittene Nachteile zu vermitteln. Wir brauchen deshalb eine spezielle Ausgleichsregelung zum Zwecke der Wiedergutmachung in diesem Falle. Dabei ist mehrfach angedeutet worden, daß die 1 DM pro Hafttag in der Tat ein Skandal und gänzlich unzureichend ist.Meine Damen und Herren, weder menschlich noch politisch ist zwischen den Opfern deutscher Diktaturen ein Unterschied zu machen. Ich möchte deshalb den Vorschlag einfügen, daß eine Orientierung an den Entschädigungszahlen für Nazi-Opfer unter Berücksichtigung der heutigen Verhältnisse ein geeigneter Maßstab wäre.
Eine Sonderregelung jenseits des Häftlingsgesetzes ist auch deshalb geboten, weil auch eine Vereinfachung des Verfahrenswegs angesichts der Fülle der Ansprüche unausweichlich ist. Eine Gerichtsentscheidung über eine anerkannte Wiedergutmachungsmaßnahme muß auch für die Vollzugsbehörden bindend sein. Auf zusätzliche, langwierige Anerkennungsverfahren sollte verzichtet werden.Meine Damen und Herren, ein Punkt, der mir besonders am Herzen liegt, müßte allerdings hier auch Erwähnung finden. Ich denke, daß auch der Bereich der Widerständler des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 durch Erweiterung des Tatbestandes der Rehabilitierung Aufnahme in das Gesetz finden sollte. Diese Widerständler sind durch die bisherigen Regelungen ebenfalls nicht erfaßt worden.Besondere Schwierigkeiten — das wurde angesprochen — werden wir bei der Bewältigung der unterschiedlichen Einzelaspekte der beruflichen Rehabilitierung bekommen. Hier wird es auch sehr, sehr schwer sein, die Zahlen zusammenzubekommen. Deshalb wird dieser Bereich sicherlich erst nach sorgfältiger Aufarbeitung aller verfügbaren Quellen zu lösen sein.
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1794 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Hartmut Büttner
Meine Damen und Herren, in dieser Frage, wie auch bei den Problemen der Bewältigung der Stasivergangenheit, sollte es Zielstellung des Deutschen Bundestages sein, zu einer gemeinsamen Lösung aller demokratischen Fraktionen und Gruppen zu kommen. Ich denke, die heutigen Diskussionsbeiträge haben hierfür eine gute Basis gelegt. Wir können unserer Verantwortung gegenüber den Opfern in der Tat gerecht werden.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Herr Kollege Uwe-Jens Heuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir zu Beginn eine Bitte. Im Zusammenhang mit der Anfrage von Frau Braband von unserer Gruppe wurden hier sehr scharfe Zwischenrufe gemacht,
die ihr das Recht absprachen, eine solche Frage zu stellen. Ich würde bitten, daß wir versuchen, festzustellen, was jeder einzelne in diesem Parlament für eine Stellung hat. Wir haben in unserer Gruppe Menschen sehr verschiedener Herkunft und auch unterschiedlicher politischer Einstellung. Ich würde sagen: Es gehört zur politischen Kultur, daß man den politischen Gegner auch als Individuum sieht und entsprechend behandelt.
— Nein, das ist z. B. in diesem Falle nicht geschehen.Das Anliegen des Antrags ist in unseren Augen voll berechtigt. Der Entschließungsantrag läßt aber nach unserer Meinung ungenügend deutlich erkennen, welch wesentliche Arbeit an einem Rehabilitierungsgesetz bereits von der Volkskammer der DDR geleistet worden ist, und zwar von allen Fraktionen dieser Volkskammer, die in seltener Einmütigkeit dieses Gesetz am 6. September 1990 mit nur einer Gegenstimme und fünf Stimmenthaltungen verabschiedet hat.Die PDS hatte an der Erarbeitung dieses Gesetzes — die anderen hier noch mitwirkenden Mitglieder unseres damaligen Rechtsausschusses werden mir das bestätigen — ihren Anteil. Der Rechtsausschuß als federführender Ausschuß hat sich an drei Sitzungstagen — mit zum Teil sehr ausführlichen Anhörungen — mit diesem Gesetz befaßt. Ich muß Ihnen gestehen, daß mich vieles, was ich in diesen Anhörungen etwa über die Art und Weise der Zwangsumsiedlungen an der Grenze oder über die Waldheimer Prozesse erfuhr, tief erschüttert hat.Welches waren die Hauptergebnisse unserer Arbeit? — Es gab eine Verständigung darüber, daß die Rehabilitierung eine ideelle und eine materielle Seite hat und daß sie über die strafrechtliche Rehabilitierung hinausgehen und auch die Nachteile durch Verwaltungsakte sowie berufliche Nachteile durch Entscheidungen von Betrieben umfassen muß.Strittig war zunächst der Maßstab, an dem das Unrecht gemessen wird. Der Ausschuß empfahl einmütig, von den verfassungsmäßig garantierten Grund- und Menschenrechten der DDR auszugehen.Ein ursprünglich vorgesehener Abschnitt über die Rehabilitierung von Personen, die durch alliierte Besatzungsmächte in Gewahrsam genommen wurden, wurde vom Ministerrat der DDR gestrichen; dann aber vornehmlich auf Grund der Forderungen des Verbandes der Opfer des Stalinismus wieder aufgenommen.Im Ergebnis unserer Diskussion im Rechtsausschuß wurde gleichzeitig die Festlegung getroffen, daß eine Rehabilitierung nicht erfolgt, wenn die Gründe der Inhaftierung von den Betroffenen zu vertreten sind, insbesondere wenn die Handlung nach international anerkannten Rechtsgrundsätzen zu verurteilen ist. Das gelte vor allem für Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit und für Kriegsverbrechen.Ein wesentlicher Punkt waren noch Hinweise der bundesdeutschen Seite auf Schwierigkeiten der finanziellen Abdeckung des Entschädigungsgesetzes. Das betraf beispielsweise die Bemessungsgrundlage für die Höhe der Entschädigung; Zeit- bzw. Einheitswert.Mit dem Bekanntwerden des Entwurfs des Zweiten Staatsvertrages wuchs bei allen Fraktionen die Besorgnis, ob es sich überhaupt noch lohne, hier weiterzuarbeiten. Das führte sehr deutlich der Abgeordnete Reichel für die Fraktion Bündnis 90/GRÜNE aus. Die Ursache hier für war Art. 17, der den Erlaß eines Rehabilitierungsgesetzes durch den Gesetzgeber des vereinigten Deutschlands vorsah.Die Volkskammer beschloß deshalb am 6. September bei einer Stimmenthaltung, die Regierung der DDR zu beauftragen, Nachverhandlungen zu führen mit dem Ziel, das Rehabilitierungsgesetz als weitergeltendes Recht zu verankern. Tatsächlich aber — das ist der entscheidende Grund, warum wir heute zusammensitzen müssen — wurde unser Rehabilitierungsgesetz nur als Torso übernommen und praktisch auf die strafrechtliche Rehabilitierung beschränkt, womit sicher erhebliche Mittel eingespart wurden.Jetzt ergibt sich die Notwendigkeit, wieder auf das DDR-Gesetz zurückzugreifen und erneut die beiden anderen Rehabilitierungsformen zu regeln und natürlich notwendige Verbesserungen vorzunehmen. Dazu ist heute hier schon gesprochen worden.Was die finanzielle Seite betrifft, so zeigt das Beispiel des Golfkrieges, welche Reserven es gibt. Vom ehemaligen SED-Vermögen hätte ein Teil der von uns im Januar 1990 überwiesenen mehr als 3 Milliarden DM für diesen Zweck verwendet werden können. Wenn die Treuhandanstalt und die Parteienkommission unserem Vorschlag zur endgültigen Regelung der Vermögensfragen gefolgt wären, so stünden beachtliche Mittel zur Verfügung. Das erfordert allerdings, daß die Treuhandanstalt endlich ihrem Auftrag nachkommt, rechtmäßig erworbenes Eigentum, das
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1795
Dr. Uwe-Jens Heuerder PDS zu übertragen ist, und anderes Eigentum zu trennen und nicht ihre treuhänderische Stellung ad infinitum zu verlängern.In dem Entschließungsantrag der SPD wird großer Wert darauf gelegt, Maßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht einzubeziehen. Der Ministerrat der DDR hatte, wie schon erwähnt, ursprünglich darauf verzichtet. Die Festlegungen unseres Rehabilitierungsgesetzes wurden im zweiten Staatsvertrag nicht übernommen. Offenbar spielten hier außenpolitische Rücksichten eine wesentliche Rolle. Der Herr Justizminister ist auf diese Frage hier heute ebenfalls eingegangen.Dieses Problem sollte sehr gründlich geprüft werden. Insbesondere halten wir es für fragwürdig, eine solche Festlegung jetzt im einheitlichen Deutschland nur für Maßnahmen einer der vier Siegermächte zu treffen. Hier wird eine Einseitigkeit des Entschließungsantrags der SPD deutlich, die — neben dem Stereotyp SED-Unrechtsstaat — auch noch in einer anderen Frage offenbar wird.Es darf keinerlei Abstriche an der Verurteilung in der DDR begangenen Unrechts geben. Dieses Unrecht ist zu einem erheblichen Teil aus den Bedingungen des Kalten Krieges zu erklären, wenn auch nicht zu rechtfertigen.
Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, daß der Kalte Krieg auch in der alten Bundesrepublik Opfer gefordert hat.
Wenn sich nicht wieder einmal das Wort von den Siegern und den Besiegten bestätigen soll, dann sollten wir auch diesen Menschen Gerechtigkeit widerfahren lassen.Nicht nur die DDR, auch die alte Bundesrepublik hatte ihre politische Strafjustiz. Zwischen 1951 und 1968 gab es etwa 250 000 Ermittlungsverfahren. Etwa 8 000 westdeutsche Bürger waren in dieser Zeit wegen ihrer politischen Tätigkeit im Gefängnis.
Die politischen Straftatbestände, geschaffen als — wie seinerzeit Herr Hassler von der CDU/CSU-Fraktion im 3. Deutschen Bundestag formulierte — „Waffe, um im Kalten Krieg zu bestehen", wurden dann Ende der 60er Jahre aufgehoben. Aber die von der politischen Justiz und auch die von den Berufsverboten betroffenen Bürger warten bis jetzt vergeblich auf Gerechtigkeit.Dazu gehören z. B. zwei Frauen aus Niedersachsen, die vom Landgericht Lüneburg Anfang der 60er Jahre zu je einem Jahr Gefängnis verurteilt wurden, weil sie im Rahmen der Aktion „Frohe Ferien für alle Kinder" entsprechende Erholungsmöglichkeiten in der DDR vermittelt hatten. Bis 1961, sieben Jahre, hat man diese Fahrten in die DDR mit preisverbilligten Feriensonderzügen der Bundesbahn durchgeführt, die sich sogar vom Bundesverfassungsgericht die Unbedenklichkeit derartiger Fahrten bescheinigen ließ.
1961 wurde dann die „Aktion" plötzlich für verfassungswidrig und strafbar erklärt. Den beiden Frauen wird die Haftzeit bis heute nicht auf die Rente angerechnet.Das sind zwei von vielen Fällen. Ich denke, wir sollten gesetzliche Möglichkeiten schaffen, um auch unter diese Dinge einen Schlußstrich zu ziehen. Man sollte dem Deutschen Bundestag nicht später einmal vorwerfen können, mit zweierlei Maß zu messen.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen.
Meine Damen und Herren! Die Rehabilitation ist ein Thema, das man nicht ohne Emotionen angehen kann, insbesondere dann nicht, wenn man den Beitrag des Kollegen Heuer gehört hat.
Ich denke, dieser Redebeitrag war eine Verhöhnung der Opfer der Diktatur der SED.
Dieses Thema kann man seitens der Betroffenen nicht ohne Emotionen angehen, denen zum Teil wichtige Lebensjahre gestohlen worden sind, denen zum Teil sogar die gesamte Lebensperspektive vernichtet wurde. Aber auch ich selbst als Bürger der alten Bundesrepublik bin nicht frei davon. Zu oft habe ich selbst entlassene Strafgefangene aus Bautzen oder anderen Strafanstalten der ehemaligen DDR vernommen und dabei von den Praktiken, genauer: schlimmen Straftaten bestimmter Wärter erfahren, deren Namen immer wieder auftauchten. Zu oft war ich über langjährige Freiheitsstrafen erschrocken, die für eigentlich ganz selbstverständliche Aktivitäten verhängt wurden, etwa die Gründung einer Umweltschutzgruppe im kirchlichen Umfeld.Aber so verständlich Gefühle in diesem Bereich sind, in der Politik sind sie nicht immer ein guter Ratgeber. Nähert man sich dem Thema rational als Jurist, so werden ebenfalls schnell Grenzen sichtbar. Der Jurist strebt nach Möglichkeit eine Einzelfallgerechtigkeit an. Nur, sie setzt komplizierte Regelungen und umfangreiche Untersuchungen voraus, wobei angesichts der zum Teil vernichteten Stasi-Unterlagen offenbleibt, ob man wirklich alles zugunsten der Opfer berücksichtigt hat, ganz zu schweigen von dem zeitlichen Aufwand, den dies bei der zu erwartenden ho-
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1796 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Jörg van Essenhen Zahl von Rehabilitierungsanträgen — die Zahl 100 000 ist hier schon mehrfach genannt worden — erfordert.Müssen die Opfer der Diktatur zu lange auf ihr Recht warten, ist von Gerechtigkeit keine Spur mehr. Insbesondere die älteren Opfer würden die Entscheidung oft nicht mehr erleben. Die uns im Einigungsvertrag auferlegte Verpflichtung, unverzüglich eine gesetzliche Grundlage für die Rehabilitierung der Opfer zu schaffen, sollte deshalb insbesondere zur Beschleunigung der Verfahren genutzt werden. Der Bundesjustizminister beabsichtigt eine Zusammenfassung von Rehabilitation und Kassation. Dies unterstütze ich nachdrücklich, bediente sich doch die SED-Diktatur zur Verfolgung ihrer Opfer der gesamten Klaviatur nicht nur des Strafrechts. Es gibt aber darüber hinaus die Möglichkeit — hier unterstütze ich die Worte eines Vorredners — belastete Richter, die in Kassationsverfahren an der Überprüfung beteiligt sein können, von der Mitwirkung auszuschließen. Damit wird das Vertrauen der Betroffenen in die gerichtliche Entscheidung verstärkt.Auch die Pläne für eine eigene Regelung des sozialen Ausgleichs, die von dem hier nicht passenden Häftlingshilfegesetz abgekoppelt ist, erscheinen mir unterstützenswert. Das Häftlingshilfegesetz ist insbesondere deshalb keine geeignete Grundlage, weil es ein anderes Ziel hat, nämlich die Eingliederung. Ich bedaure deshalb etwas, daß die SPD in ihrem Antrag wieder auf das Häftlingshilfegesetz abstellt. Mit allen meinen Vorrednern bin ich jedoch einig, daß die Entschädigungssätze des Häftlingshilfegesetzes in keinem Fall ausreichend sind.
Auch wenn man z. B. unrechtmäßig verbüßte Haft oder die ähnlich zu beurteilende Unterbringung in der Psychiatrie durch Geld im wahrsten Sinne des Wortes nicht wieder „gutmachen" kann, so ist eine angemessene Entschädigung, die sich an den Leistungen für die NS-Opfer orientiert, doch ein kleiner Ausgleich für das erlittene schlimme Unrecht.Die Erwähnung der Opfer einer anderen schlimmen Diktatur in Deutschland macht für mich jedoch auch eine Grenze der Entschädigung nach oben deutlich. Die Opfer der NS-Diktatur, insbesondere die Überlebenden der Konzentrationslager, dürfen nicht den Eindruck haben, ihr Leiden werde geringer bewertet als das der Opfer der SED-Diktatur.Gerade weil die Zeit drängt, halte ich es — damit widerspreche ich dem Kollegen Marschewski — für überlegenswert, kein Gesamtpaket zu schnüren, das auch die besonders schwierige Frage der beruflichen Rehabilitation bereits enthält.Auch der Bereich der Verfolgung nach 1945, der auch nach meiner Auffassung geregelt werden muß, ist nicht so unverzüglich zu klären — der Bundesjustizminister hat es ausgeführt — , wie es wünschenswert wäre.Die Chancen zu einer schnellen ersten Regelung sollten genutzt werden. Dazu zähle ich zunächst den Bereich der strafrechtlichen Rehabilitation. Aus demBereich der Rehabilitation aus Verwaltungsunrecht gilt es für die Bereiche der Freiheitsentziehung im Vorfeld der Justiz, der Unterbringung in der Psychiatrie, für Maßnahmen der Polizei sowie der Zwangsaussiedlungen aus dem Grenzbereich zur Bundesrepublik.Dabei sollte auch die Anregung der Opfer geprüft werden — das ist bisher von keinem der Vorredner gesagt worden; ich halte aber auch das für wichtig —, wo immer möglich eine summarische und pauschale Regelung zu treffen, die langwierige Einzelnachforschungen erübrigt. Ich begrüße in diesem Zusammenhang nachdrücklich das Hilfsangebot des Deutschen Anwaltvereins, das ebenfalls zu einer Beschleunigung der Entscheidung führen kann.Lassen Sie mich zum Schluß noch eines anmerken: Die Rehabilitation ist nur eine Seite, mit der wir den Opfern Genugtuung verschaffen müssen. Auch das Verhalten der Täter, der Handelnden, ist in rechtsstaatlichen Verfahren zu prüfen.
Das ist keine Rache, die auch die Opfer nicht wollen, sondern ein weiteres notwendiges Element der Gerechtigkeit.Dem Überweisungsvorschlag stimme ich namens der FDP zu.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, letzter Redner zum Zusatztagesordnungspunkt 2 ist der Kollege Hans-Joachim Hacker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich reihe mich ein in die Worte meiner Vorredner, daß es höchste Zeit ist, daß sich der Deutsche Bundestag mit den Fragen der Rehabilitierung der Opfer des SED-Unrechts beschäftigt.Wenn es nach den Vorstellungen der SPD gegangen wäre, hätte der Deutsche Bundestag diese vorrangige Aufgabe schon viel früher angepackt.
Zusammen mit den ehemaligen Volkskammerabgeordneten bin ich stolz darauf, daß die Volkskammer der ehemaligen DDR trotz der großen Fülle der weiteren in dieser Zeit des Aufbruches und der großen politischen Aufgaben der Einigung Deutschlands dringend gesetzlich zu regelnden Fragen ein weit umfassenderes Rehabilitierungsgesetz beschlossen hat, als es nach den Einschränkungen des Einigungsvertrages schließlich übriggeblieben ist. Das war ein für viele Betroffene sichtbares Zeichen, ihnen angetanes Unrecht wiedergutzumachen, soweit dies heute überhaupt noch möglich ist.Man mag hinsichtlich der Feinheiten der juristischen Ausgestaltung des Gesetzes der Volkskammer Einwände haben — aber welches Gesetz ist vollkommen, meine Damen und Herren? —, auf jeden Fall würde es der grundsätzlichen Aufgabenstellung, mit der wir es hier zu tun haben, weit besser gerecht als
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Hans-Joachim Hackerder nach dem Einigungsvertrag übriggebliebene Torso.Die nun anstehende Reparaturgesetzgebung muß sich von dem Grundsatz leiten lassen, wie er in der Präambel des Gesetzes vom 6. September 1990 formuliert wurde, daß die Rehabilitierung von Personen, die im Widerspruch zu verfassungsmäßig garantierten Grund- und Menschenrechten strafrechtlich verfolgt, diskriminiert oder in anderer Weise in ihren Rechten schwerwiegend beeinträchtigt wurden, ein wesentliches Element der Politik zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft, des Staates und des Rechts in den neuen Bundesländern ist.In diesem Sinne ist auch die Anfrage der Fraktion der SPD zur Rehabilitierung der Opfer des SED-Unrechts vom Februar dieses Jahres zu sehen, mit der wir die Bundesregierung zum wiederholten Male zu einer gründlichen Bestandsaufnahme als Grundlage für die dringende und umfassende Novellierung des Rehabilitierungsgesetzes veranlassen wollten. Wir Sozialdemokraten waren mit der schleppenden Behandlung dieser wichtigen Aufgabe durch die Bundesregierung nicht einverstanden, die sich den Vorwurf gefallen lassen muß, die Regelung der Eigentumsfragen, die Entschädigung für Enteignungen, viel intensiver und zügiger betrieben zu haben als die Ausarbeitung von Regelungen auf dem Gebiet der Rehabilitierung und der wenigstens teilweisen Wiedergutmachung des den Opfern des Stalinismus und SED-Unrechts zugefügten menschlichen Leides.Die erschütternden Schicksale der Opfer wurden auf Foren deutlich. Ich kann Ihnen sagen: In meinem eigenen Wahlkreis wird mir in Beratungen mit Betroffenen jedesmal deutlich, welches Unrecht dort geschehen ist.Wir Sozialdemokraten begrüßen, daß sich nunmehr auch der Bundesjustizminister zur Notwendigkeit einer umfassenden und beschleunigten Regelung der offenen Rehabilitierungsfragen bekannt hat,
so daß der Ihnen vorliegende Entschließungsantrag der Fraktion der SPD Aussicht hat, von der Mehrheit dieses Hauses akzeptiert zu werden.
Dieser Antrag sollte als Ausgangsposition und gemeinsame Grundlage für die anstehende Reparaturgesetzgebung Ihre Zustimmung finden. Mit einem klaren Votum würden wir ein nachhaltiges Signal setzen, auf das die Betreffenden seit dem 3. Oktober warten.Ich möchte nun auf einige Schwerpunkte der Novellierung des Rehabilitierungsgesetzes eingehen. Darauf haben meine Vorredner zwar schon hingewiesen, aber ich denke, es sind doch noch einmal einige Akzente in besonderer Form zu setzen. Mit der Reparaturgesetzgebung ist sicherzustellen, daß neben der strafrechtlichen Rehabilitierung auch die verwaltungsrechtliche und die berufliche Rehabilitierung der Opfer des SED-Unrechts ermöglicht wird, denn die Kriminalisierung Andersdenkender mit den Mitteln des politischen Strafrechts war nur eine Erscheinungsform der Willkürakte, mit deren Hilfe die Men-schen im Machtbereich der SED schikaniert, diszipliniert und zwangsweise den Weisungen der Parteiführungen untergeordnet wurden.Dazu gehören auch die vielen Tausenden von Menschen, die in inhumaner Weise aus dem grenznahen Raum zwangsevakuiert wurden. Ich denke an dieser Stelle insbesondere an diejenigen, die von den unmenschlichen Maßnahmen des Grenzregimes der damaligen DDR betroffen wurden. Wir in diesem Hause müssen uns dessen in besonderer Weise bewußt sein, wenn wir daran denken, welche Gedenksteine in wenigen 100 m Entfernung stehen.Im Zusammenhang mit der Zwangsevakuierung aus dem ehemaligen innerdeutschen Grenzgebiet ist ein Problem aufgetreten, auf das ich an dieser Stelle ausdrücklich aufmerksam machen möchte, das wir allerdings auch bei der Änderung des Vermögensgesetzes durch das Gesetz vom 22. März 1991 zur Beseitigung von Hemmnissen bei der Privatisierung von Unternehmen und zur Förderung von Investitionen nicht genügend berücksichtigt haben. Ich meine, das Vermögensgesetz stellt in § 1 Abs. 1 a auf die entschädigungslose Enteignung und Überführung in Volkseigentum ab. Damit werden die rechtsstaatswidrigen Vertreibungsmaßnahmen von Bürgern aus dem Gebiet an der sogenannten Staatsgrenze-West der ehemaligen DDR nicht mit erfaßt, da hier in der Regel Entschädigungen gezahlt worden sind. Den Betroffenen geht es aber um die Wiedereinsetzung in ihre alten Eigentümerrechte als Voraussetzung für die Rückkehr in die alte Heimat. Es ist unhaltbar, wenn die zwangsweise Ausgesiedelten jetzt die Prozedur über sich ergehen lassen müssen, daß sie als Bittsteller erst zum Vermögensamt, dann zum Landrat und dann zur Landesregierung gehen in dem Bestreben, eine Lösung ihres Problems herbeizuführen. Sie erfahren zwar überall viel Verständnis, aber praktische Hilfe ist nicht möglich.Eine umfassende Rehabilitierung muß auch berücksichtigen, daß im Sinne der dargestellten Ziele der SED-Politik ebenso Maßnahmen beruflicher Benachteiligung wie Berufsverbote, Entlassungen und Ausschluß von Beförderungen sowie behördliche Unrechtsakte wie die Aberkennung von Qualifikationen und die Verweigerung und der Entzug staatlicher Erlaubnisse von den Organen des Staates durchgeführt wurden. Dies ist sicher nicht der einfachste Regelungsbereich, da Hunderttausende beruflich benachteiligt wurden und der Gesetzgeber die Relation dieses Regelungsbereichs zu anderen Bereichen unbedingt beachten muß. Ich befinde mich in Übereinstimmung mit dem Bundesjustizminister, wenn ich sage: Hier kommt es auf eine Gewichtung an. Wir müssen die grassierenden Auswüchse, die vor allen Dingen im Bereich des politischen Strafrechts vorgekommen sind, natürlich anders bewerten als Einschränkungen im Bereich der beruflichen Tätigkeit.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch kurz auf das Problem der Kosten der Rehabilitierung eingehen. Es kann nicht akzeptiert werden, wenn die Bezahlbarkeit der Wiedergutmachungsleistungen in den Vordergrund der Überlegungen gestellt wird. Es ist den zumeist im fortgeschrittenen Lebensalter befindlichen, an den Folgen der Un-
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1798 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Hans-Joachim Hackerrechtsmaßnahmen noch heute leidenden Menschen, die zum Teil in kümmerlichen Verhältnissen leben, nicht zuzumuten, noch mehr Geduld aufzubringen, als sie bis jetzt schon aufgebracht haben.
Insofern ist es für mich persönlich enttäuschend, wenn Sie, Herr Bundesminister, offensichtlich auch unter Hinweis auf bestimmte Verweise des Finanzministers diese Geduld weiter einfordern. Zu den besonderen Problemen der beruflichen Rehabilitierung und der entsprechenden Vorbereitung hatte ich mich, denke ich, deutlich geäußert. Ich sehe auch hier einen Bereich für eine gründliche Prüfung.Ganz eindeutig stellen wir Sozialdemokraten fest, daß die Kosten für die Rehabilitierung der Bund tragen muß und daß sie nicht auf die Länder abgeschoben werden können, auch wenn diese nach der Verfassung dafür zuständig sind. Insbesondere die neuen Bundesländer haben für diesen Bereich nicht das nötige Geld, um die Kosten zu tragen.In diesem Zusammenhang erinnere ich erneut an die Möglichkeit der Inanspruchnahme der widerrechtlich erworbenen Vermögenswerte der SED und der anderen Blockparteien für die Zwecke der Rehabilitierung.
Hierbei geht es nicht um Enteignung, sondern um eine Vermögenszuführung an den rechtmäßigen Eigentümer, der dann über das Vermögen befinden kann. Ich freue mich, daß sich auch Herr Kollege Professor Heuer heute dazu in verbindlicher Form geäußert hat. Aber bis heute ist der von der Volkskammer der damaligen DDR erteilte Auftrag an die ehemalige Regierung, die am 3. Oktober die Verantwortung auf die neue Regierung Gesamtdeutschlands übertragen hat, nicht abgearbeitet worden. Es ist für uns nicht zu erkennen, was sich auf dem Gebiet der Klärung der Parteienvermögensfrage tut. Jedenfalls ist bis jetzt nichts Erkennbares geschehen. Ich frage die Bundesregierung, welche Aktivitäten insbesondere durch die Treuhandanstalt inzwischen eingeleitet wurden und zu welchen Ergebnissen sie geführt haben.Nach wie vor können noch von den Altparteien eingesetzte Gesellschafter aus den ihnen eingeräumten Vorzugsbedingungen Gewinne realisieren und alte Seilschaften ein gutes Leben führen, während die Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern die Folgen der Mißwirtschaft in der DDR zu tragen haben und die Opfer des SED-Unrechts bisher leer ausgingen. Hier ist eine Deckungsquelle für die Kosten der Rehabilitierung, auf die ich die Bundesregierung nachdrücklich hinweisen will.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.Interfraktionell wird Überweisung der soeben behandelten Vorlage auf Drucksache 12/570 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPDAktionsprogramm zur Sicherung der beruflichen Bildung in den neuen Ländern— Drucksache 12/416 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Frauen und JugendHaushaltsausschußEs haben inzwischen alle für diesen Tagesordnungspunkt vorgesehenen Redner ihre Rede zu Protokoll gegeben. )
Ich hoffe, daß alle damit einverstanden sind, daß wir so verfahren. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.In diesem Fall wird interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/416 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.Ich rufe nunmehr Zusatztagesordnungspunkt 3 auf:Erste Beratung des von der Abgeordneten Dr. Barbara Höll und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes— Drucksache 12/483 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Arbeit und SozialordnungHaushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GOAuch hier haben alle Redner, die sich zu diesem Tagesordnungspunkt gemeldet haben, ihre Rede zu Protokoll gegeben. *)
Ich hoffe, daß auch hier kein Widerspruch erfolgt. — Dann ist das so beschlossen.Wir werden diesen Antrag auf Drucksache 12/483, wie interfraktionell vorgesehen, an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.*) Die Reden werden in einem Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll veröffentlicht.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1799
Vizepräsident Helmuth BeckerIch rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Barbe, Holger Bartsch, Ingrid BeckerInglau und weiterer Abgeordneter aus allen Fraktionen und GruppenEinspeisung der DFF-Länderkette in das Fernsehkabelnetz des Deutschen Bundestages— Drucksache 12/481 —Überweisungsvorschlag: Ältestenrat HaushaltsausschußZum Tagesordnungspunkt 10 gibt es zwei Wortmeldungen. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Weiß. Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich fühle mich an die Zeiten in der Volkskammer erinnert, als wir ebenfalls in nächtelangen Debatten diskutiert haben; das liegt vielleicht an Berlin.
Der vorliegende interfraktionelle Antrag reiht sich in eine Kette von Initiativen ein, die eine Neugestaltung der Medienlandschaft in Deutschland zugunsten einer stärkeren Beteiligung der ostdeutschen Medien zum Ziel haben. Die schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Prozesse, die sich gegenwärtig in den östlichen Bundesländern vollziehen, bedürfen der genauen und sachkundigen Reflexion in den Medien. Diese Arbeit kann und muß zuerst von denen geleistet werden, die in der DDR gelebt haben und hier geformt, vielleicht auch verformt worden sind.
Die aktive Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit ermöglicht eine Sichtweise auf den Einigungsprozeß, die so nur von Ostdeutschen in die gesamtdeutsche Medienlandschaft eingebracht werden kann. Daher war die starke Resonanz, die die vorliegende Initiative in allen Fraktionen gefunden hat, besonders erfreulich. Fast 150 Abgeordnete haben sich dem Antrag angeschlossen, mehr als die Hälfte davon aus den alten Bundesländern. Einige der Unterzeichner und Unterzeichnerinnen baten zusätzlich darum, eine Ausweitung des Antrages vorzunehmen und die Einspeisung der ostdeutschen Hörfunk- und Fernsehsender in alle Kabelnetze zu beschließen. Prinzipiell wäre das zwar zu begrüßen, aber wir haben hierbei die alleinige Zuständigkeit der Länder für ihre Medienlandschaft zu respektieren und uns auf die Empfehlungen für die Ministerpräsidenten zu beschränken.
Ziel unseres Antrages ist es, den Abgeordneten des ersten gesamtdeutschen Bundestages wenigstens den Zugang zum Programm des Deutschen Fernsehfunks zu ermöglichen und damit auch am vorläufigen Parlamentssitz in Bonn ein gesamtdeutsches Medienangebot zu haben.
Umfassende Information ist die beste Voraussetzung dafür, die für die neuen Länder notwendigen Entscheidungen verantwortungsbewußt und sensibel zu treffen. Ich denke, auch die ostdeutschen Sender könnten dazu beitragen.
Das in seiner Art einmalige, europäisch orientierte und überaus niveauvolle Kulturprogramm des Deutschlandsenders wäre für die westdeutsche Hörfunklandschaft eine Bereicherung. Künftig sollten auch die Programme der beiden entstehenden ostdeutschen Rundfunkanstalten überall in Deutschland zu hören sein.
Zudem ermöglicht die Realisierung unseres Antrages einen Einblick in den vielschichtigen Versuch der ehemals staatstragenden Massenmedien, die Demokratisierung unseres Landes weiterzuführen, Vergangenheitsbewältigung zu leisten und zugleich der Verantwortung für den Wiederaufbau der Gesellschaft gerecht zu werden. Diese schwere Arbeit muß in den Medien wie überall im Land getan werden. Sie bleibt, wie so vieles in dieser Zeit, nicht ohne Rückschläge und Niederlagen.
Gerade deswegen sollten wir Abgeordneten alle ehrlichen Bemühungen im Deutschen Fernsehfunk, im Funkhaus Berlin und in den ostdeutschen Landessendern mit unserer Aufmerksamkeit und Ermutigung begleiten. Schließlich kommt gerade uns die Aufgabe zu, im so überaus komplizierten Einigungsprozeß integrativ und verständnisfördernd zu wirken.
Nicht zuletzt wäre die Einspeisung des DFF ein wichtiges politisches Signal für die Mitarbeiter in den ostdeutschen Medien selber. Deren soziale und soziokulturelle Situation sowie ihre häufige Nichtakzeptanz bei ihren westdeutschen Berufskollegen und bei den Politikern wirken sich denkbar ungünstig auf ihre Kreativität und ihren Mut aus, auch unbequeme Themen kritisch und couragiert zu behandeln. Massenentlassungen, ungerechtfertigte Schuldzuweisungen oder die nicht seltene Bevorzugung gerade der angepaßten und dienstfertigen Ehemaligen durch die neuen Auftraggeber bewirken Resignation, Zynismus oder — genauso schädlich — vorauseilenden Gehorsam. Nicht zufällig sind ehemals fanatische Genossen auch heute wieder unkritische Verfechter der Regierungspolitik, nicht nur in den Medien.
Zwar hat mir der Haushaltsausschuß bereits vor der Überweisung durch das Plenum mitgeteilt, er habe nicht die Absicht, einer Einspeisung ins Bonner Kabelnetz zuzustimmen.
Ich denke jedoch, der Deutsche Bundestag ist es sich schuldig, mit gutem Beispiel voranzugehen und sich für diese sinnvolle Investition in die deutsche Einheit zu entscheiden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, als nächste Rednerin hat Frau Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste begrüßt zunächst das Zustandekommen des von Abge-
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1800 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991
Petra Blässordneten aller Fraktionen getragenen Antrags zur Einspeisung der DFF-Länderkette in das Fernsehkabelnetz des Deutschen Bundestages und bekundet hiermit ihre volle Zustimmung zur vorliegenden Begründung.
In der Möglichkeit, die DFF-Länderkette im Bundestagskanalnetz empfangen zu können, sehen wir eine große Chance vor allem für unsere Kolleginnen und Kollegen aus den alten Bundesländern, eine unmittelbare Reflexion der Situation in den neuen Bundesländern quasi ins Haus zu bekommen, was selbstverständlich nicht den Aufenthalt vor Ort ersetzen kann.Wie Infas-Umfragen ermittelten, wird der Deutsche Fernsehfunk seit Monaten unverändert als Fernsehsender angesehen, der für die Bewältigung der vielen neuen Probleme in den neuen Bundesländern die beste Orientierungshilfe leistet. Als Wegbegleiter im Einigungsprozeß genießt er bei den Bürgerinnen und Bürgern in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg und Thüringen breite Akzeptanz und spielt als solcher im Vergleich mit den anderen zu empfangenden Sendern noch immer die wichtigste Rolle.Die Auswertung vorliegender Analysen ergab, daß ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern auf keinen Fall auf den Deutschen Fernsehfunk verzichten möchte und sich diesen Sender nicht aus der Medienlandschaft wegdenken kann.Die DFF-Länderkette wird heute häufiger genutzt als noch vor einem Jahr. Die Neuverteilung der Frequenzen und die damit verbundene Reduzierung des DFF-Angebots auf ein Programm hat das Ansehen dieses Senders bei den Zuschauerinnen und Zuschauern nicht beeinträchtigt, im Gegenteil: Die Einschaltquoten zeigen, daß die Zuschauerinnen und Zuschauer in den neuen Bundesländern nicht auf beliebte Programmelemente, wie „Elf 99", das Donnerstagsgespräch, Polizeiruf 110 oder Unterhaltungssendungen verzichten wollen. Die Mehrheit aller Zuschauerinnen und Zuschauer der neuen Bundesländer äußerte sich laut Infas positiv darüber, wie es dem Deutschen Fernsehfunk bisher gelungen ist, die Erwartungen und Bedürfnisse breiter Zuschauer- und Zuschauerinnenkreise zu erfüllen.Zweifellos mußte der Deutsche Fernsehfunk als aus dem ehemals staatlichen Fernsehen der DDR hervorgegangener Sender zunächst um Akzeptanz und Glaubwürdigkeit ringen. Doch mittlerweile ist die Kompetenz der ostdeutschen Programmacherinnen und Programmacher für ihr Sendegebiet, ihre differenzierte Sicht der Lage in den neuen Bundesländern unumstritten.
Hier arbeiten Journalistinnen und Journalisten, die inihren Sendungen über die neuen Bundesländer ausihrem unmittelbaren Erlebnisbereich schöpfen können, die die Befindlichkeiten der Menschen und die regionalen Eigenarten genau kennen und die dadurch am besten auf die realen Probleme eingehen können.
Entschuldigen Sie, Frau Kollegin Bläss. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lammert?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Frau Kollegin, angesichts Ihrer eindrucksvollen, mich fast rührenden
Begründung für die Notwendigkeit einer möglichst breiten Wahrnehmung aller vorhandenen Kommunikationsmöglichkeiten, in diesem Falle also der Einspeisung des DFF in das Kabelnetz des Deutschen Bundestages, könnten Sie vielleicht in Ihren eindrucksvollen Beitrag noch einen Satz der Begründung einflechten, warum Ihre Vorgängerpartei SED nach meiner Erinnerung zu keinem Zeitpunkt ähnliche Anstrengungen unternommen hat, für die Einwohner der ehemaligen DDR eine ähnliche Transparenz und die Verfügbarkeit westdeutscher Fernsehsender sicherzustellen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich darf Sie auch im Anschluß an die Ausführungen meines Kollegen Heuer darauf aufmerksam machen,
daß wir eine — so sage ich einmal — bunte, farbige Fraktion sind. Ich selbst bin nicht Mitglied der PDS. Ich bin Mitglied des Unabhängigen Frauenverbandes und als unabhängige Kandidatin auf diese Liste gekommen.
Gestatten Sie mir, hier auch zu erläutern, weshalb meine Rede vielleicht sehr emotional ist. Ich bin nach wie vor Angehörige des Deutschen Fernsehfunks.
Ich habe bis zur Annahme des Mandats im Deutschen Bundestag als Redakteurin dort gearbeitet, habe in den vergangenen Wochen noch einmal Gespräche mit dem Personalrat, mit dem Intendanten und mit dem Personalchef geführt, habe daher die neuesten Zahlen und bin deshalb natürlich auch beteiligt; das gebe ich zu.
Mit dem Deutschen Fernsehfunk wird ganz bewußt ein Programm für die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern gemacht. Davon, daß sich die Kolleginnen und Kollegen in Adlershof und in den einzelnen Landessendern mit nachweisbarem Erfolg darum bemühen, zeugt nicht zuletzt die hohe Zuwendung der Zuschauer und Zuschauerinnen zu Nachrichten-, Magazin- und Ratgebersendungen. Lassen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 25. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 14. Mai 1991 1801
Petra BlässSie mich im übrigen anmerken, daß die Sendungen des DFF auch in den alten Bundesländern, sofern ein Empfang möglich ist, also in den ehemaligen Zonenrandgebieten, Zuspruch finden.Meine Damen und Herren, laut Einigungsvertrag wird der ehemals zentrale Rundfunk der DDR zum Jahresende 1991 in Länderhoheit übergeführt. Gegenwärtig erhalten die ostdeutschen Fernsehhaushalte statt früher zwei nur noch ein Fernsehprogramm aus ihrer regionalen Produktion: die DFF-Länderkette, die allen Grundsätzen öffentlich-rechtlicher Programme entspricht. Doch die Grundversorgung ist angesichts des ständig vorgegebenen Personalabbaus sowie der mangelnden Bereitschaft der Parlamente und Regierungen in den neuen Bundesländern, schnelle Beschlüsse zur Neuordnung des Rundfunks zu fassen, in Gefahr. Solange keine Landesmediengesetze verabschiedet werden, wird der Aufbau der Landesrundfunkanstalten weiter verzögert. Die herrschende Unklarheit über die Überführung von Programmteilen und Personal wirkt sich auf das Zustandekommen funktionierender Landesfunkhäuser schmerzlich aus. Und wenn in einem leistungsfähigen Sendestandort, wie er gegenwärtig noch in Berlin-Adlershof besteht, erst alle entlassen sind, kann auch nichts mehr produziert werden.Die Versorgungspflicht des Deutschen FernsehFunks gegenüber den Bürgern und Bürgerinnen in den neuen Bundesländern darf nicht unterschätzt werden. Die Bundesrepublik braucht einen Kanal, in dem die Probleme in den neuen Bundesländern hart und offen, sozusagen aus erster Hand angesprochen werden.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit zu dieser späten Stunde.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Vorgeschlagen wird, den Antrag auf Drucksache 12/481 zur federführenden Beratung an den Ältestenrat und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE verlangt hingegen sofortige Abstimmung.
Nach ständiger Übung geht die Abstimmung über den Überweisungsvorschlag vor. Wer stimmt für den interfraktionellen Überweisungsvorschlag? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Überweisungsvorschlag mit großer Mehrheit angenommen. Die Abstimmung über den Antrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE erübrigt sich somit.
Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen
Lage von Empfängerinnen und Empfängern
von Vorruhestands- bzw. Altersübergangsgeld in den neuen Bundesländern
— Drucksache 12/484 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Zu diesem Tagesordnungspunkt haben die Redner ihre vorbereiteten Reden zu Protokoll gegeben. * )
Wenn kein Widerspruch erfolgt, dann ist dies so beschlossen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch.
Damit können wir diesen Antrag auf der Drucksache 12/484, wie interfraktionell vorgeschlagen, an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Anneliese Augustin, Richard Bayha, Meinrad Belle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink, Dirk Hansen, Heinz-Dieter Hackel, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes
— Drucksachen 12/473, 12/497 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
Auch hier haben alle vorgesehenen Rednerinnen und Redner ihre Rede zu Protokoll gegeben. *)
Ich hoffe, daß Sie auch mit diesem Verfahren einverstanden sind. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/473 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 4. Juni, 15 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.