Protokoll:
11226

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 11

  • date_rangeSitzungsnummer: 226

  • date_rangeDatum: 20. September 1990

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:02 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:53 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/226 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 226. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag der Abg. Dr. Sprung und Grünbeck 17801 A Erweiterung der Tagesordnung 17801 A Absetzung des Punktes 5 e von der Tagesordnung 17801 D Bekanntgabe des Ergebnisses der Abstimmung der Volkskammer über den Vertrag zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland über die Herstellung der Einheit Deutschlands 17872 C Tagesordnungspunkt 3: a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland b) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands — Einigungsvertragsgesetz — (Drucksachen 11/7760, 11/7817, 11/7831, 11/7841, 11/7920, 11/7931, 11/7932) c) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses Deutsche Einheit zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur vereinbarten Aussprache zur Vorbereitung der deutschen Einheit zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Regierungserklärung zur Beitrittserklärung der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik und zur Aussprache zur Vorbereitung der deutschen Einheit zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Frau Nickels, Frau Beck-Oberdorf, Frau Hillerich, Frau Oesterle-Schwerin, Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNEN zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Beitrittserklärung der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Garbe, Häfner, Hüser, Frau Kottwitz, Stratmann-Mertens, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN: Demokratische, soziale und ökologische Eckpunkte zum Einigungsvertrag zu dem Antrag der Abgeordneten Stratmann-Mertens, Frau Vennegerts und der Fraktion DIE GRÜNEN: Verabschiedung des Dritten Nachtragshaushaltsgesetzes und Verabschiedung des ersten gesamtdeutschen Haushaltsgesetzes vor den Bundestagswahlen zu dem Antrag des Abgeordneten Häfner und der Fraktion DIE GRÜNEN: Änderung des Grundgesetzes zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Beteiligung der Gewerkschaften am Vorstand und Verwaltungsrat der Treuhandanstalt zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Beteiligung der Gewerkschaften an der Kommission zur Überprüfung der Vermögenswerte aller Parteien und mit ihnen verbundenen Organisationen, juri- II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 stischen Personen und Massenorganisationen der DDR im In- und Ausland zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN: Deutsch-Deutsche Kulturunion (Drucksachen 11/7718, 11/7719, 11/7724, 11/7764, 11/7766 [neu), 11/7780, 11/7792, 11/7793, 11/7765, 11/7920, 11/7931) d) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Überleitung von Bundesrecht nach Berlin (West) nach Fortfall der alliierten Vorbehaltsrechte (Sechstes Überleitungsgesetz) (Drucksachen 11/7824, 11/7936, 11/7937) e) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Inkraftsetzung von Vereinbarungen betreffend den befristeten Aufenthalt von Streitkräften der Französischen Republik, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin und von sowjetischen Streitkräften auf dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet nach Herstellung der Deutschen Einheit (Drucksachen 11/7763, 11/7915, 11/7916) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses Deutsche Einheit: zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Die Gemeinschaft und die deutsche Einigung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Mitteilung der Kommission: Die Gemeinschaft und die Deutsche Einigung — Auswirkungen des Staatsvertrages (Drucksachen 11/7770, 11/7755 Nr. 3.2, 11/7914) Genscher, Bundesminister AA 17803 B Wüppesahl fraktionslos (zur GO) . . . 17807 C Lafontaine, Ministerpräsident des Saarlandes 17808 D Frau Unruh fraktionslos 17814 A Dr. Schäuble, Bundesminister BMI . . . 17816C Häfner GRÜNE 17821 D Mischnick FDP 17825 C Häfner GRÜNE 17827 C Voigt (Frankfurt) SPD 17829 B Dr. Stoltenberg CDU/CSU 17831B Dr. Hornhues CDU/CSU 17832 B Frau Fuchs (Köln) SPD 17834 C Spilker CDU/CSU 17837 A Dreßler SPD 17839 D Frau Beer GRÜNE 17842 B Dr. Laufs CDU/CSU 17844 C Dr. Haussmann, Bundesminister BMWi . 17846A Frau Schmidt (Nürnberg) SPD 17848 B Frau Verhülsdonk CDU/CSU 17851 A Stobbe SPD 17852 D Dr. Rüttgers CDU/CSU 17855 A Dr. Diederich (Berlin) CDU/CSU . . . 17855 C Frau Vennegerts GRÜNE 17857 B Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 17858 D Dr. Blüm, Bundesminister BMA 17861 B Dreßler SPD 17862B, 17865 A Frau Dr. Vollmer GRÜNE 17862 C Frau Unruh fraktionslos 17862 D Büchler (Hof) SPD 17865 C Jäger CDU/CSU 17867 A Scheu CDU/CSU 17868 B Frau Wollny GRÜNE 17871 A Dr. Weng (Gerlingen) FDP 17872 C Dr. Ehrenberg SPD 17873 C Cronenberg (Arnsberg) FDP 17875 A Dr. Langner CDU/CSU 17876A Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 17877 C Frau Unruh fraktionslos 17878 B Wüppesahl fraktionslos 17880 A Stücklen CDU/CSU 17882 C Westphal SPD 17886 C Jahn (Marburg) SPD (Erklärung nach § 31 GO) 17889 C Carstens (Emstek) CDU/CSU (Erklärung nach § 31 GO) 17889 D Frau Flinner GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 17890 C Höpfinger CDU/CSU (Erklärung nach § 31 GO) 17890 D Conradi SPD (Erklärung nach § 31 GO) . 17891 C Frau Garbe GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 17892B Werner (Ulm) CDU/CSU (Erklärung nach § 31 GO) 17892 D Dr. Knabe GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 17893 D Frau Nickels GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 17894 B Frau Dr. Vollmer GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 17895 A Jahn (Marburg) SPD 17898 C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 III Namentliche Abstimmungen . 17896B, 17898D Ergebnisse 17896C, 17901A, 17902D Tagesordnungspunkt 4: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Abschlußgesetzgebung zum Lastenausgleich (Drucksache 11/7436) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Such, Frau Dr. Vollmer, Frau Nickels, Häfner und der Fraktion DIE GRÜNEN: Beendigung von GenomAnalysen durch Strafverfolgungsbehörden (Drucksache 11/6092) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Brahmst-Rock, Weiss (München) und der Fraktion DIE GRÜNEN: Baustopp für den Weiterbau der A 49 Borken—Lumda (Drucksache 11/1521) d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über die Umsetzung des Konzepts für die Förderung von Frauen in Entwicklungsländern (Drucksache 11/6126) e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Achter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung (Drucksache 11/7313) f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht zum Thema „Der entwicklungspolitische Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen" (Drucksachen 11/7352, 11/7627) g) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof: Bericht des Bundesrechnungshofes gemäß § 99 BHO über die Sicherheit der Informationsverarbeitung in Rechenzentren der Bundesverwaltung (Drucksache 11/7691) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkte 5 bis 7: ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (Drucksache 11/7903) ZP 6 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Durchführung einer Repräsentativstatistik über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt (Mikrozensusgesetz) und des Gesetzes über die Statistik für Bundeszwecke (Bundesstatistikgesetz) (Drucksache 11/7768) ZP 7 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen bei der Durchführung des Mikrozensusgesetzes vom 10. Juni 1985 (Drucksache 11/1756) 17904 C Tagesordnungspunkt 5: Beratungen ohne Aussprache a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 160 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 25. Juni 1985 über Arbeitsstatistiken (Drucksachen 11/5316, 11/7917) b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Wiener Übereinkommen vom 21. März 1986 über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen oder zwischen internationalen Organisationen (Drucksachen 11/ 5728, 11/7790) c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluß der Generalversammlung des Internationalen Ausstellungsbüros vom 31. Mai 1988 zur Änderung des Abkommens über Internationale Ausstellungen vom 22. November 1928 (Drucksachen 11/7188, 11/7799) d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. August 1989 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und einiger anderer Steuern (Drucksachen 11/6530, 11/7888) f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Zur Verbesserung der kulturellen Lage der Deutschen in der Sowjetunion (Drucksachen 11/4755 [neu], 11/6477) g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag des Abgeordneten Sauter (Epfendorf), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie des Abgeordneten Paintner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Intensivierung und Koordinierung der Agrarforschung für die Dritte Welt und in der Dritten Welt (Drucksachen 11/4211, 11/6635) IV Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 h) Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses: Übersicht 17 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht (Drucksache 11/7862) i) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 09 05 Titel 681 01 — Entschädigungsleistungen im Rahmen eines Ausfuhrgenehmigungsverfahrens — (Drucksachen 11/7734, 11/7863) j) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1990 bei Kapitel 10 02 Titel 656 54 — Zuschüsse zur Sicherung der späteren Altersversorgung als Arbeitnehmer bei Abgabe landwirtschaftlicher Unternehmen (Nachentrichtungszuschüsse) (Drucksachen 11/7438, 11/7864) k) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 176 zu Petitionen (Drucksache 11/7855) 1) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 177 zu Petitionen (Drucksache 11/7856) 17905 C Tagesordnungspunkt 6: a) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Umwelthaftungsgesetzes (Drucksachen 11/6454, 11/7104, 11/7881) b) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag des Abgeordneten Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Reform des Umwelthaftungsrechts (Drucksachen 11/2035, 11/7881) Dr. Hüsch CDU/CSU 17908 A Bachmaier SPD 17909 D Kleinert (Hannover) FDP 17911 C Häfner GRÜNE 17912 D Engelhard, Bundesminister BMJ 17914 B Schütz SPD 17915 A Dr. Göhner CDU/CSU 17915 B Tagesordnungspunkt 7: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Zusatzprotokollen I und II zu den Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949 (Drucksachen 11/6770, 11/7882) Vogel (Ennepetal) CDU/CSU 17917 C Verheugen SPD 17918 D Dr. Hirsch FDP 17920 B Eich GRÜNE 17921 A Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister AA 17921 C Tagesordnungspunkt 8: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer, Kleinert (Marburg) und der Fraktion DIE GRÜNEN: Errichtung einer nationalen Gedenkstätte in Hadamar für die Opfer der NS- „Euthanasie" -Verbrechen (Drucksache 11/7329) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer, Frau Beer, Dr. Lippelt (Hannover), Meneses Vogl, Frau Nickels, Such und der Fraktion DIE GRÜNEN: Rehabilitierung und Entschädigung der unter NS-Herrschaft verfolgten Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und „Wehrkraftzersetzer" (Drucksache 11/ 7754) c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Nickels, Frau Schoppe, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN: Errichtung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte im ehemaligen Konzentrationslager Salzgitter-Drütte (Drucksachen 11/786, 11/6517) Lüder FDP 17923B, 17927 B Frau Dr. Vollmer GRÜNE 17923 B Frau Dr. Wisniewski CDU/CSU 17925 A Lambinus SPD 17926B Carstens, Parl. Staatssekretär BMF . . . 17928B Tagesordnungspunkt 9: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines . . . Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes (Drucksachen 11/391, 11/7928, 11/7938) 17929A Zusatztagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneten Frau Augustin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie des Abgeordneten Dr. Hirsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts (Drucksachen 11/7834, 11/7935) . . . 17929 C Zusatztagesordnungspunkte 8 und 9: ZP 8 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Beteiligung der Soldaten und der Zivildienstleistenden (Beteiligungsgesetz) (Drucksachen 11/7323, 11/7550) ZP 9 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs ei- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 V nes Gesetzes zur Änderung des Personalvertretungsgesetzes und anderer Vorschriften (Drucksache 11/ 7471) 17930 A Nächste Sitzung 17930 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 17931* A Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands — Einigungsvertragsgesetz — (Drucksachen 11/7760, 11/7817, 11/7831, 11/7841, 11/7920, 11/7931, 11/7932) Austermann CDU/CSU 17931* B Dr. Becker (Frankfurt) CDU/CSU . . . 17931* C Böhm (Melsungen) CDU/CSU 17931* D Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU . . 17931* D Cronenberg (Arnsberg) FDP 17932* A Dr. Czaja CDU/CSU und Dewitz CDU/ CSU 17932* C Engelsberger CDU/CSU 17934* D Dr. Fell CDU/CSU 17935* A Gattermann FDP und weitere Abgeordnete 17935* C Geis CDU/CSU 17935* D Dr. Götz CDU/CSU 17936* A Graf Huyn CDU/CSU 17936* D Jäger CDU/CSU und Sauter (Epfendorf) CDU/CSU 17939* B Kalisch CDU/CSU und weitere Abgeordnete 17940* A Dr. Kappes CDU/CSU 17940* B Lowack CDU/CSU 17941* A Marschewski CDU/CSU 17941* D Dr. Günther Müller CDU/CSU 17942* C Müller (Wesseling) CDU/CSU und weitere Abgeordnete 17943* A Niegel CDU/CSU 17943* D Regenspurger CDU/CSU 17944* A Rossmanith CDU/CSU 17945* A Sauer (Salzgitter) CDU/CSU 17946* B Schemken CDU/CSU 17947* D von Schmude CDU/CSU und weitere Abgeordnete 17948* B Dr. Schwörer CDU/CSU 17948* D Dr. Todenhöfer CDU/CSU 17949* A Windelen CDU/CSU 17949* D Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zu Punkt 6 a und b der Tagesordnung (Umwelthaftungsgesetz, Antrag zur Reform des Umwelthaftungsrechts) 17950* B Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 9 (Gesetz zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes) 17950* C Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zum Zusatztagesordnungspunkt 11 (Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts) 17953* C Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zu den Zusatztagesordnungspunkten 8 und 9 (Beteiligungsgesetz, Gesetz zur Änderung des Personalvertretungsgesetzes und anderer Vorschriften) 17955* D Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 17801 226. Sitzung Bonn, den 20. September 1990 Beginn: 9.02 Uhr
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    *) Anlage 6 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 17931* Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Brauer GRÜNE 20.09.90 Büchner (Speyer) SPD 21. 09. 90 * Clemens CDU/CSU 21.09.90 Frau Faße SPD 21. 09. 90 Kalisch CDU/CSU 21.09.90 Kolb CDU/CSU 21.09.90 Dr. Müller CDU/CSU 21. 09. 90 * Niegel CDU/CSU 20. 09. 90 * * Paintner FDP 21.09.90 Reuschenbach SPD 21.09.90 Schäfer (Mainz) FDP 21. 09. 90 Schäfer (Offenburg) SPD 21. 09. 90 Schulze (Berlin) CDU/CSU 21. 09. 90 Sieler (Amberg) SPD 20. 09. 90 Frau Trenz GRÜNE 21. 09. 90 Wischnewski SPD 21.09.90 Dr. Zimmermann CDU/CSU 21. 09. 90 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates * * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertragsgesetz — (Drucksachen 11/7760, 11/7817, 11/7831, 11/7841, 11/7920, 11/7931, 11/7932) Erklärung des Abgeordneten Austermann (CDU/CSU): Mit dem großartigen Einigungswerk wird ein Traum für die überwiegende Mehrheit der Deutschen in der neuen Bundesrepublik erfüllt. Der diese Einigung gestaltende Einigungsvertrag enthält allerdings mehrere Aussagen, die verschiedene Auslegungen zulassen. Ich stimme dem Vertrag mit dem Vorbehalt — daß nach dem interlokalen Recht auch für die DDR im Strafrecht das Wohnortprinzip gilt, soweit Verfassungsregelungen (Art. 1, 79 GG) tangiert werden, — daß die Fragen der Entschädigung für Enteignungen auf dem Gebiet der DDR von 1945 bis 1949 vom neugewählten Bundestag neu aufgegriffen und unter Beachtung des in der Bundesrepublik geltenden Verfassungsrechtes entschieden werden, — meiner Erklärung vom 21. Juni 1990 zu. Anlagen zum Stenographischen Bericht Erklärung des Abgeordneten Dr. Becker (Frankfurt) (CDU/ CSU) : Ausdrücklich begrüße ich die Aufhebung der Teilung Deutschlands in Frieden und Freiheit. Mir ist bewußt, daß diese Einheit nur unter Opfern zu erreichen ist. Deshalb stimme ich trotz mancher erheblicher Bedenken dem Einigungsvertragsgesetz zu. Meine Bedenken richten sich insbesondere gegen Regelungen zu Vermögensfragen und zu Abtreibungsfragen im DDR-Gebiet. In meiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, aus meinen Erfahrungen als Arzt und der Ehrfurcht vor dem Leben, aus den Erkenntnissen über den frühen Beginn und die Nichtverfügbarkeit des Lebens und der Wertordnung über den Vorrang des Lebens von Beginn bis zu seinem Ende vor anderen Rechten einschließlich des Selbstbestimmungsrechtes und aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur Nichtvereinbarkeit der Fristenregelung mit dem Grundgesetz lehne ich die Fristenregelung ab. Mir ist bewußt, daß diese Bedenken vor dem Einigungsvertrag gesetzlich nicht mehr ausräumbar sind und erkenne die Verbesserung des Art. 31 Abs. 4 im Einigungsvertrag an. Erklärung des Abgeordneten Böhm (Melsungen) (CDU/CSU): Bei meiner Zustimmung zum Einigungsvertrag gehe ich im Hinblick auf die Aufnahme eines neuen Art. 143 Abs. 3 in das Grundgesetz davon aus, daß das zu wählende gesamtdeutsche Parlament das Problem der Enteignungsmaßnahmen von 1945 bis 1949 in einer Form aufgreift, die der Feststellung des damaligen Vorsitzenden der CDU in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands, Jakob Kaiser, gerecht wird, der 1947 erklärte: Die Union hat ja gesagt zur Enteignung der Kriegsverbrecher und Aktivisten. Sie hat nicht ja gesagt dazu, daß darüber hinaus Enteignungsaktionen durchgeführt werden, die eine radikale Änderung der sozialwirtschaftlichen Struktur der Ostzone weit über den Bereich der Kriegsverbrecher und Aktivisten hinaus bewirken und die noch immer mit rigorosen Mitteln unter extensiver Anwendung von Denazifierungsvorschriften fortgesetzt werden. Diese einseitige Praxis entspricht dem politischen Endziel der SED, nicht aber dem Grundsatz einer wohlverstandenen Zusammenarbeit. Erklärung des Abgeordneten Carstensen (Nordstrand) (CDU/ CSU): Ich freue mich über die Vereinigung Deutschlands und stimme dem Einigungsvertrag zu. Ich erwarte allerdings vom neuen gesamtdeutschen Parlament und von den Ländern auf dem Gebiet der DDR eine befriedigende Lösung der Fragen, die die Unrechts- 17932* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 enteignungen in der Zeit von 1945 bis 1949 betreffen. Bei Einzelabstimmung über die Grundgesetzänderung, die diese Unrechtsenteignungen sanktioniert, hätte ich dieser ohne die Zusage einer Entschädigungsregelung nicht zustimmen können. Erklärung des Abgeordneten Cronenberg (Arnsberg) (FDP): Freudig stimme ich dem Gesetz zum Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands — Einigungsvertragsgesetz zu. Dies bedeutet aber kein Einverständnis mit der dort für das Gebiet der Noch-DDR zunächst beibehaltenen Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch. Im Grundgesetz sind wir ganz bewußt die Verpflichtung eingegangen, jedes menschliche Leben unterschiedslos zu schützen, auch das im Mutterleib. Dies schließt nach meiner Überzeugung die Verfügungsmacht des Menschen über dieses Leben aus, auch eine zeitlich begrenzte Verfügungsmacht über noch ungeborenes Leben im Rahmen der Fristenregelung. Die Strafandrohung ist die Konsequenz des ernsthaften Willens unserer Gesellschaft, dieser Schutzpflicht zu entsprechen. Dabei sollte die Ausgestaltung des Strafrechts individuellen Konfliktlagen Rechnung tragen. Der Ausschluß der Strafbarkeit beim Vorliegen einer in einem vorgeschriebenen Verfahren festgestellten Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch resultiert aus der Erkenntnis, daß strafrechtliche Sanktionen nur als letztes Mittel zum Schutz des ungeborenen Lebens in Betracht kommen. Die praktizierte Interpretation der sogenannten sozialen (Notlagen-)Indikation, erst recht aber eine globale Fristenlösung wird meines Erachtens weder der Verpflichtung zum Schutz des ungeborenen Lebens noch der Konfliktlage der Schwangeren gerecht. Ist die Strafandrohung vom Grundsatz her zum Schutz des Lebens auch unverzichtbar, so kann sie gleichwohl nur allerletztes Mittel sein. Um ungeborenes Leben wirksam zu schützen, der Schwangeren in ihrer sozialen und psychischen Konfliktsituation zu helfen und ihren Mut und Willen zu stärken, das Kind auszutragen, bedarf es erheblich weitergehender Maßnahmen. Dazu gehören Angebote zu ernsthafter Beratung und angemessener Hilfe, wie sie beispielsweise die Stiftung Mutter und Kind erbringt. Statt schwer voraussehbarer Ermessensentscheidungen sind klare Rechtsansprüche der Schwangeren auf bestimmte Leistungen erforderlich. Durch Novellierung des Adoptionsrechts muß einer werdenden Mutter bei ungewollter Schwangerschaft eine Alternative zum Schwangerschaftsabbruch geboten werden, die ihre Wege aus der Konfliktlage ermöglicht, ohne sie in ihrer Freiheit anzutasten. Ganz wichtig ist auch, die immer noch vorhandenen Tendenzen zur Diskriminierung der Mütter, die bereit sind, ihr Kind zur Adoption freizugeben, wie auch der nichtverheirateten Mutter und des nichtehelichen Kindes in der Gesellschaft abzubauen. Die Kirchen, die sich unlängst wieder deutlich zur Beibehaltung des strafrechtlichen Schutzes des ungeborenen Lebens durch den Staat bekannt haben, müssen sich auch selbst fragen, ob sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Notwendige getan haben, um diese Diskriminierungen abzubauen. Auch der verkrampfte Umgang mit der Sexualität und die Unkenntnis über die Möglichkeiten der Verhütung ungewollter Schwangerschaften haben häufig genug ihre Ursache im kirchlichen Erziehungseinfluß. Auch hier muß deshalb helfende Beratung einen noch größeren Stellenwert erhalten. Unterschiedliches Recht im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen ist im einigen Deutschland — jedenfalls auf Dauer — weder im Bereich der Strafbarkeit noch im Bereich von Hilfe und Beratung hinnehmbar. Zeitlich und räumlich begrenzte Übergangsregelungen für den beitretenden Teil Deutschlands kann es nur mit dem Ziele geben, dem im ganzen Deutschland vom Grundgesetz geforderten Schutz des ungeborenen Lebens in bestmöglicher Weise zu entsprechen. Erklärung der Abgeordneten Dr. Czaja und Dewitz (beide CDU/CSU) I. Grundposition Wir wollen den raschen Zusammenschluß zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Unser immer als hervorragend bezeichnetes Grundgesetz soll gemäß Art. 23 GG auf die Länder der DDR erstreckt werden. Der Beitrittsbeschluß der Volkskammer soll am 3. Oktober wirksam werden. Die Volkskammer hat dies am 23. August 1990 mit Erwartungen verbunden, aber nicht mit einer unabdingbaren Voraussetzung. In den Einigungsvertrag sind mehrere fundamentale Grundgesetzänderungen unlösbar eingefügt. Vier Bereichen dieser Grundgesetzänderungen können wir in unserer politischen und rechtlichen Verantwortung für Deutschland und die Deutschen, für eine dauerhafte Nachkriegs- und Friedensordnung in Europa, für einen glaubwürdigen Ausgleich mit den Nachbarn nicht zustimmen. Da das Begehren einzelner Abgeordneter, diese fundamentalen Grundgesetzänderungen aus dem Einigungsvertrag zwecks sorgfältiger Beratung und getrennter Abstimmung herauszulösen, im Organstreit vom Bundesverfassungsgericht verworfen wurde, sehen wir uns zu unserem Bedauern gezwungen, dem Einigungsvertrag unsere Zustimmung zu versagen. Wir haben seit vielen Jahren politisch für diese wichtige Stufe der Wiedervereinigung, des Zusammenschlusses auch der Länder der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in freier staatlicher Einheit, gekämpft. Deutschland besteht nach Art. 23 GG aus mehreren Teilen. Im Rechtsgehorsam gegenüber der Verfassung, in der Verantwortung vor unserer Geschichte und einer glaubwürdigen und ausgleichenden europäischen Friedensordnung müssen wir die fundamentalen Veränderungen unseres erprobten Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 17933* Grundgesetzes und unserer politischen Zielvorstellungen ablehnen. Das Völkerrecht eröffnet die Möglichkeit und die Hoffnung auf friedlichen Wandel. II. Im einzelnen Vier Bereiche der Grundgesetzänderungen versuchen „verfassungswidriges Verfassungsrecht" zu schaffen. 1. Art. 1 des Grundgesetzes muß bestandsfest und unangetastet bleiben. Der Kerngehalt aller Grundrechte ist darin begründet. Die beabsichtigte Minderung des vom Bundesverfassungsgericht verbindlich ausgelegten Schutzes des noch nicht geborenen, völlig wehrlosen Kindes auf unbestimmte Zeit, der Anspruch, die furchtbare Abtreibung von wehrlosen Geschöpfen innerhalb von Fristen in Teilen Deutschlands weiter zu praktizieren, die weitere Erschütterung des Rechtsgehorsams, der Ausschluß der sofortigen Anwendung der Art. 1 und 2 GG auch für das ungeborene Kind in ihrer verbindlichen Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht im ganzen Geltungsbereich der Verfassung kann nicht hingenommen werden. Es kann von Verfassungs wegen keinen Rechtstitel und keine rechtliche Begründung dafür geben, daß das ungeborene Kind nicht von Anfang an durch das Recht, insbesondere das Verfassungs-, Sozial- und Strafrecht, geschützt ist. Deshalb ist der Einigungsvertrag von einem ethisch höchst bedenklichen Einbruch begleitet. 2. Von Verfassungs wegen haben die Organe der Bundesrepublik Deutschland die Grundrechte Deutscher gegenüber jeder, auch fremder Willkür mit allen rechtlich zulässigen Mitteln zu schützen. Dies gilt auch für den Schutz von Eigentum. Die entschädigungslose Konfiskation rechtmäßig erworbenen Vermögens, u. a. auch aus nationalen Gründen, ist völkerrechtswidrig. Widerspruchslose Hinnahme bedeutet auch stillschweigende Billigung des Unrechts, das viele deutsche Staatsangehörige in der DDR erlitten haben. Statt die Rückgabe oder eine zumutbare Entschädigung für jedes rechtswidrig konfiszierte Eigentum durchzusetzen, wird vieles völlig preisgegeben. Dieses willkürliche Verhalten muß zu erheblichen Entschädigungsansprüchen wegen unterlassenen Schutzes führen. Wir lehnen dies auch wegen eines möglichen Präjudizes bei Verhandlungen mit den Vertreiberstaaten ab, was Millionen deutsche Heimatvertriebene schwer treffen müßte. Bei beabsichtigten Gebietsabtretungen aber müssen alle Individualrechte der betroffenen Deutschen, auch ihre Eigentumsrechte, von Deutschland in den Verhandlungen geregelt werden. 3. Die Neufassung von Art. 146 GG ermöglicht die völlige Beseitigung des geltenden Grundgesetzes: sie sichert nicht einmal ausdrücklich seine bestandsfesten Teile: sie öffnet u. U. den Weg für eine Volksabstimmung über einen mit einfacher Mehrheit verabschiedeten neuen Verfassungsentwurf. Das Grundgesetz hat sich außerordentlich bewährt. Es genießt auch im Ausland hohes Ansehen. Wir wollen unsere freiheitlich-rechtsstaatliche Ordnung erhalten, sie freiheitlich, sozial und im Rechtsgehorsam in einem freiheitliche und enge Zusammenarbeit sichernden europäischen Staatenbund entfalten. Wir wollen keine Möglichkeiten für eine völlig neue Grundordnung und eine „neue Republik" eröffnen. Übrigens sieht der 2+4-Vertrag „in bezug auf Deutschland" den Wegfall von Art. 146 GG vor. 4. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist nach Ratifizierung des Politischen UN-Menschenrechtspaktes völkerrechtliches Jus cogens. Wo ein Volk in einem Staat organisiert ist, gilt es für das Staatsvolk. Verträge, die es verletzen, sind nach Art. 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention null und nichtig. Das Selbstbestimmungsrecht des ganz en Deutschen Volkes kann durch zwei von mehreren Teilen Deutschlands weder präjudiziert noch vollendet werden. Nach Art. 23 GG besteht Deutschland nicht nur aus zwei, sondern aus mehreren Teilen. Nach den verbindlichen Erklärungen der Siegermächte, insbesondere der Verbündeten, soll in „frei vereinbarten friedensvertraglichen Regelungen" , die von Deutschlands Gebietsstand vom 31. Dezember 1937 ausgehen, ihn jedoch nicht garantieren, der zukünftige Gebietsstand Deutschlands festgelegt werden. Eine Abänderung z. B. von Art. 7 Abs. 1 des Deutschlandvertrages ist bisher nicht bekanntgegeben worden; das geltende Wahrungsgebot des Grundgesetzes zugunsten ganz Deutschlands hätte keine Zustimmung deutscher Staatsorgane dazu gestattet. Art. 25 GG sichert innerstaatlich den Vorrang des völkerrechtlichen Jus cogens vor allen anderen Gesetzen (auch Vertragsgesetzen). Deswegen ist die in Art. 4 vorgesehene Änderung der Präambel des Grundgesetzes einschließlich der Streichung von Art. 23 GG unzulässig und würde „verfassungswidriges Verfassungsrecht" schaffen. Wir verteidigen die freie Selbstbestimmung des ganz en deutschen Volkes. Art. 4 verstößt in gravierender Weise gegen das Selbstbestimmungsrecht des ganzen deutschen Volkes, das — wie die Bundesregierung noch kürzlich zusammen mit dem Bundestag beim Bundesverfassungsgericht vortrug — „aus der Summe aller deutschen Staatsangehörigen" besteht. Der Verfassungsauftrag richtet sich nicht auf die staatliche Einheit „der Deutschen" , sondern — wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 18. September 1990 feststellte — auf „die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands". Deutschland ist aber nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mehr als die Bundesrepublik Deutschland, die DDR und Berlin. Zu Recht hat in diesem Zusammenhang das Bundesverfassungsgericht am 18. September 1990 die DDR „als einen Teil Deutschlands im Sinne von Art. 23 Satz 2 GG" bezeichnet. 17934* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 Die Streichung von Art. 23 würde nichts daran ändern, daß nach Art. 25 GG das Selbstbestimmungsrecht des ganzen deutschen Volkes, das ohne territoriales Substrat undenkbar ist, als allgemeine Regel des Völkerrechts fortbesteht und die Verfassungsorgane bindet. Auch nach dem grausamen Krieg mit furchtbaren Untaten — deren große Zahl auf deutscher Seite wir ebensowenig leugnen, wie wir Untaten an Deutschen verschweigen — , nach der militärischen Kapitulation Deutschlands und den fortdauernden Unrechtsfolgen der grausamen Massenvertreibung muß in zähen Verhandlungen ein tragfähiger Kompromiß zwischen den Ansprüchen der Sieger und den Rechten der Deutschen ausgehandelt und vom gesamtdeutschen Souverän in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht verfassungskonform angenommen werden. Wir widersprechen der rechtswidrigen Selbstverstümmelung Deutschlands mit Mehrheiten zweier Parlamente durch totale Preisgabe Ostdeutschlands ohne gleichzeitige Gewährleistung der personalen Rechte der vertriebenen Deutschen. Das Junktim, Beitritt der DDR-Länder nur bei totaler Preisgabe Ost-Deutschlands, erweckt nicht den Eindruck freier Entscheidungen. Wir lehnen dies auch wegen der verheerenden politischen Folgen ab. Praktisch folgen in den Vertreibungsgebieten auf die völkerrechtswidrige Massenvertreibung Gebietsübertragungen: Man vertreibe grausam Millionen Menschen, siedle andere — nicht selten unter Druck — im Vertreibungsgebiet an und legalisiere dies durch Gebietsübertragung — das muß verheerende rechtliche, politische und moralische Folgen bei ähnlichen Konflikten in der Welt haben. Damit sollte ein deutscher „Einigungsvertrag" nicht belastet werden. Er sollte nicht die Möglichkeit eröffnen, daß die Sieger sich dabei auf den eigenen Willen der Deutschen berufen. Der „Einigungsvertrag" will von dem der Weimarer Republik im Versailler Vertrag belassenen Deutschland ein Viertel des Gebietes amputieren, ohne zähe Verhandlungen über einen tragfähigen Ausgleich in differenzierten Lösungen, die wir insbesondere, wie die USA und Großbritannien es schon bei den Außenministerkonferenzen 1947 taten, in einem freien europäischen Gemeinwesen zweier autonomer Volksgruppen in einem Teil des umstrittenen Gebietes begrüßen würden. Winston Churchill sagte für den Fall eines „Rumpfdeutschlands" durch eine solche Amputation einen schweren Unruheherd für Europa voraus. Ungerechte Verträge sind nur durch friedlichen Wandel, d. h. durch bessere Abkommen zu ersetzen. Emotionen, aber auch die Not daheim könnten die stufenweise Verwirklichung differenzierter Lösungen ermöglichen, die mit der freien personalen Zusammenarbeit von Fachleuten zur Überwindung der Not beginnen könnten. Wir bedauern es, daß der Einigungsvertrag nicht ausdrücklich den Weg für bessere Lösungen im europäischen Rahmen an der beabsichtigten deutschen Ostgrenze offen läßt und andeutet. Wir halten auch politisch, rechtlich und moralisch daran fest, daß die einfache Anerkennung der Faktizität nicht rechtlich fundierte Regelungen und den Rechtsgehorsam ersetzen kann. Dazu und zu Strukturen des Ausgleichs beziehen wir uns auf die Erklärung nach § 31 GO mehrerer Abgeordneter am 21. Juni 1990 (Anlage 2 des Bundestagsprotokolls). 5. Wir vermissen ferner die Gewährleistung des aktiven Wahlrechts für deutsche Staatsangehörige in den Teilen Deutschlands jenseits von Oder und Neiße bei einer historisch einmaligen Wahl, an der das g a n z e Deutsche Volk beteiligt werden soll. Ebenso fehlt eine angemessene Kriegsfolgenregelung für Vertriebene in den DDR-Ländern, um so mehr, als dies berechtigterweise für rassisch, religiös und politisch Verfolgte im Sinne des BEG und des Bundesrückerstattungsgesetzes erfolgen soll. Wir bekennen uns zur sittlichen Pflicht der Liebe zu Heimat, Volk und Vaterland. Wir werden dem freien Zusammenschluß von West- und Mitteldeutschland in einem freien, „europäischen" Deutschland dienen, um wirksame Selbstverwaltung der deutschen Volksgruppen in anderen Staaten uns bemühen und nach auch für die Deutschen besseren Verträgen in einem ganzen freien Europa streben. Wir sagen daher auch ja zu einem gerechten Ausgleich, aber nein zur totalen Preisgabe der Heimat der deutschen Vertriebenen. Erklärung des Abgeordneten Engelsberger (CDU/CSU): Nach der ablehnenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Organklage stimme ich trotz erheblicher Bedenken dem Vertragswerk zu. Ich hatte mich an der Organklage beteiligt, weil die Verknüpfung des Einigungsvertrags mit Grundgesetzänderungen den Abgeordneten die Möglichkeit nimmt, im einzelnen über diese Grundgesetzänderungen zu entscheiden. In der deutschen Einigung sehe ich einen geschichtlichen Vorgang und bin nach Ausschöpfung der rechtlichen Möglichkeiten gegen die Form der Abstimmung unter Hintanstellung gewichtiger Bedenken zu einem positiven Votum bereit. Die Bedenken bestehen hinsichtlich folgender Regelungen: 1. Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze Die Streichung des Art. 23 aus dem Grundgesetz, der den Beitritt weiterer deutscher Gebiete ermöglicht und dessen Aufhebung die bedingungslose Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze beinhaltet, wird von mir abgelehnt, da die Entscheidung hierfür nur unter dem Druck der Wiedervereinigung zustande gekommen ist. Auf Unrecht läßt sich keine endgültige Friedensordnung aufbauen. Der Verzicht Polens auf weitere Forderungen und die Gewährung von Niederlassungsfreiheit östlich von Oder und Neiße könnten allerdings einen wichtigen Beitrag zu dieser Friedensordnung leisten. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 17935* 2. Enteignungen Nicht akzeptabel ist für mich die Anerkennung der 1945 bis 1949 von den Sowjets vorgenommenen Enteignungen. Hier wird jedes Rechtsgefühl verletzt; denn warum sollten die von den russischen Kommunisten durchgeführten Enteignungen rechtlich anders behandelt werden als die, die von den deutschen Kommunisten unter Ulbricht und Honecker vorgenommen worden sind? Wenn auch viele Enteignungen nicht mehr rückgängig gemacht werden können, muß mindestens über eine angemessene Entschädigung verhandelt werden. 3. Abtreibungsrecht Ebenfalls lehne ich die Regelung des Abtreibungsrechtes (§ 218) ab. Daß für das Gebiet der bisherigen DDR eine Übergangsregelung gelten soll, kann hingenommen werden. Daß aber für westdeutsche Frauen auf dem Gebiet der DDR das kommunistische DDR-Recht gilt und daß, wenn es innerhalb der Übergangsfrist zu keiner Einigung kommt, in den ostdeutschen Bundesländern weiterhin die Fristenlösung gelten soll, ist nicht akzeptabel. Einer willkürlichen Tötung ungeborenen Lebens, wie sie die kommunistische Fristenlösung zuläßt, kann ich unter keinen Umständen zustimmen. Erklärung des Abgeordneten Dr. Fell (CDU/CSU): Ich begrüße die deutsche Einigung. Der Einigungsvertrag bringt den Menschen in der DDR die Freiheit, die Chance auf demokratische und persönliche Selbstverwirklichung. Die Vollendung der deutschen Einheit ist für die Erfüllung jahrzehntelanger Sehnsucht der Deutschen in Ost und West. Dies begrüße ich sehr. Trotzdem kann ich dem Einigungsvertrag nicht zustimmen. Abweichend von den ersten Überlegungen sieht der Vertrag in Art. 31 Abs. 4, letzter Satz, vor, daß das heute in der DDR geltende materielle Recht (Fristenlösung mit einem Rechtsanspruch auf Abtreibung) ab 1. Januar 1993 weitergelten wird, wenn es dem Gesetzgeber nicht gelingen sollte, bis Ende 1992 eine verfassungskonforme Neuregelung für die Lösung von Schwangerschaftskonflikten und den Schwangerschaftsabbruch in Kraft zu setzen. Jede Fristenlösung steht aber im Widerspruch zum Grundgesetz. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Februar 1975 hat dies eindeutig und eindrucksvoll bestätigt. Ich kann es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, durch Zustimmung zum Vertrag die Fristenlösung im Gebiet der heutigen DDR auch über die Übergangsfrist des Art. 4 des Vertrages hinaus ausdrücklich in Kraft zu setzen und damit entgegen dem materiellen Verfassungsrecht den Schutz der ungeborenen Kinder preiszugeben. Mindestens bis zu einem die Verfassungswidrigkeit feststellenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts hätte diese Fristenlösung den Schein der Legalität für sich. Dies kann ich nicht verantworten, dies lehne ich ab. Der Lebensschutz muß ohne Einschränkung gewährleistet werden. Erklärung der Abgeordneten Gattermann, Dr. Solms, Heinrich, Dr. Thomae, Neuhausen, Seiler-Albring, Würfel, Folz-Steinacker, Dr. Weng, Paintner, Grüner, Bredehorn, Gallus, Grünbeck, Dr. Hitschler, Kleinert (Hannover), Cronenberg (Arnsberg), Beckmann, Ronneburger, Zywietz, Kohn, Timm, Dr. Ing. Laermann, Nolting, Richter, Rind, Lüder, Dr. Hoyer, Dr. Segall, Irmer, Gries, Dr. Feldmann (alle FDP): Die FDP ist als Rechtsstaatspartei den Grundrechten, also auch der Eigentumsgarantie verpflichtet. Deshalb können wir die getroffenen Regelungen für die Enteignungen der Jahre 1945 bis 1949 auf dem Gebiet der DDR als Festschreibung von Unrecht nicht unkorrigiert hinnehmen. Die Regierung de Maizière hat ihre Zustimmung zur Rückgängigmachung der Enteignungen auf besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlage verweigert. Darüber hinaus hat die Regierung der Sowjetunion deutlich gemacht, daß sie zwischen unserer Haltung in dieser Frage und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten einen wichtigen Zusammenhang sieht. Um die Einigung nicht zu gefährden, stimmen wir dennoch der Regelung in der vorliegenden Fassung zu. Denn auf Drängen der FDP ist die Formulierung aufgenommen worden, daß die Enteignungen von 1945 bis 1949 als Ergebnisse der historischen Entwicklung von der Bundesregierung nicht gebilligt, sondern lediglich zur Kenntnis genommen werden und daß dem gesamtdeutschen Parlament vorbehalten bleibt, abschließende Entscheidungen über staatliche Ausgleichsleistungen zu treffen. Wir bekräftigen für die FDP die Entschlossenheit, darauf hinzuwirken, daß angemessene Ausgleichsleistungen für die unrechtmäßigen Enteignungen in der DDR zwischen 1945 und 1949 im gesamtdeutschen Parlament beschlossen und in Kraft gesetzt werden. Ausgleichsleistungen sind nach unserer Überzeugung nicht nur Geldzahlungen, sondern auch Vorkaufsrechte, Pachtrechte, Rückgaben an und von Grund und Boden und anderen Gegenständen, wo immer das technisch möglich ist und keine gutgläubig erworbenen Nutzungsrechte oder Eigentumsrechte Dritter verletzt werden. Dabei geht es uns nicht nur um wirtschaftliche Wiedergutmachung: Es geht um die Idee des Eigentumsrechtes. Der liberale Rechtsstaat gebietet allen, vor allem sich selbst, bestimmte Sachen und bestimmte Rechte als einem bestimmten Individuum gehörig unverbrüchlich zu achten. Dieser Grundsatz darf auch in der Stunde der deutschen Wiedervereinigung, in der Stunde des Beitritts des östlichen Teil Deutschlands zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nicht verletzt werden. Erklärung des Abgeordneten Geis (CDU/CSU): Der Einigungsvertrag stellt mich vor einen kaum lösbaren Konflikt. Auf der einen Seite geht es darum, durch den Einigungsvertrag einen raschen Vollzug der deutschen Einigung einzuleiten, ohne auf den langwierigen Prozeß der Überleitung unserer Gesetze auf das Gebiet der DDR angewiesen zu sein. Auf der anderen Seite findet sich in dem Vertrag die Vereinbarung, daß die in der DDR seit 1972 praktizierte Fri- 17936* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 stenregelung beim Schwangerschaftsabbruch zunächst beibehalten werden soll. Diese Fristenregelung aber ist nach den Grundsätzen, die unser Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 25. Februar 1975 aufgestellt hat, mit unserem Grundgesetz nicht zu vereinbaren. Nach einer langen Zeit der Abwägung, in welcher mir die Gründe für den Vertrag zu stimmen, zu überwiegen schienen, habe ich mich für dessen Ablehnung entschieden. Ich will damit keinen Zweifel daran lassen, daß ich gegen jede auch nur vorübergehende Rücknahme der Verpflichtung des Staates bin, den Menschen in seiner ersten Lebensphase auch mit den Mitteln des Strafrechts zu schützen. Damit ändert sich nichts an der Kritik gegen die in der Bundesrepublik bestehende Indikationsregelung. Erklärung des Abgeordneten Dr. Götz (CDU/CSU) : Die Abstimmung über den Einigungsvertrag stellt mich vor einen nicht lösbaren Gewissenskonflikt. Einerseits möchte ich dem Vertrag zustimmen, weil ich die nationale Einheit Deutschlands von ganzem Herzen wünsche, andererseits kann ich die in diesem Vertrag enthaltene Regelung zum Schutz ungeborener Kinder aus religiöser Überzeugung und verfassungsrechtlichen Gründen nicht akzeptieren. Es ist vorgesehen, daß auf dem Gebiet der heutigen DDR die bisher geltende Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch ohne Pflichtberatung weiterbesteht. Damit wird die willkürliche Tötung ungeborenen Lebens erstmals auch vom Deutschen Bundestag als Gesetzgeber — wenn auch nur übergangsweise und nur für einen Teil Deutschlands — für straffrei erklärt. Ich halte diese Regelung mit dem durch den Einigungsvertrag neu ins Grundgesetz aufzunehmenden Art. 143 nicht für vereinbar. Dieser Artikel verbietet — auch für die zweijährige Übergangszeit — Abweichungen vom Grundgesetz, die gegen die Art. 19 Abs. 2 — Kernbereichsgarantie für Grundrechte — und Art. 79 Abs. 3 — in Verbindung mit Art. 1: Menschenwürde — verstoßen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 25. Februar 1975 die Verfassungswidrigkeit der damaligen Fristenregelung, die immerhin eine Pflichtberatung vorsah, auch auf die Verletzung dieser beiden Bestimmungen des Grundgesetzes gestützt. Die Fristenregelung, wie sie in der DDR besteht, ist deshalb unzweifelhaft ebenfalls verfassungswidrig und mit Art. 143 GG unvereinbar. Hinzu kommt, daß der neu in den Vertrag aufgenommene Art. 31 Abs. 4 vorsieht, daß die materiellen Bestimmungen der DDR-Fristenregelung auch über die zweijährige Übergangszeit hinaus fortgelten sollen, sofern der Gesetzgeber bis zu deren Ablauf keine Neuregelung des strafrechtlichen Schutzes des Lebens ungeborener Kinder zustande gebracht hat. Ich erkenne an, daß Art. 31 mit seiner Verpflichtung für den gesamtdeutschen Gesetzgeber, ein verfassungskonformes Lebensschutzrecht zu schaffen, einen Fortschritt gegenüber der ursprünglich beabsichtigten Regelung bedeutet. Dennoch können damit meine grundsätzlichen Bedenken nicht ausgeräumt werden. Erstens ist es eher unwahrscheinlich, daß sich der gesamtdeutsche Gesetzgeber innerhalb von zwei Jahren mehrheitlich auf eine verfassungskonforme Lösung einigt, so daß die DDR-Fristenregelung darüber hinaus ihre Gültigkeit behält. Zum anderen kann ich mich auch nicht übergangsweise mit einer Lösung einverstanden erklären, die hilfloses Menschenleben der staatlichen Einheit opfert. Das Menschenleben hat eine höhere verfassungsrechtliche Rangstelle als die staatliche Einheit, weil Leben göttlichen Ursprungs und die staatliche Organisation Menschenwerk ist. Über den Einigungsvertrag wird das Leben des ungeborenen Kindes zukünftig auch auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik dem grundgesetzlichen Schutz entzogen. Praktisch gilt ab sofort die Fristenregelung in ganz Deutschland, da das gewohnheitsrechtlich geltende interlokale Strafrecht mit seinem Tatort-Prinzip beibehalten wird. Dies ermöglicht Bundesbürgern ein Unterlaufen des bisher geltenden Indikationenstrafrechts und vereitelt damit dessen ohnehin schon unzulängliche praktische Anwendbarkeit. Besser wäre es gewesen, den Neubeginn der staatlichen Einheit nicht mit der Schwächung des Lebensschutzes zu befrachten, sondern ein verfassungsmäßiges Recht auf staatliche Unterstützung für schwangere Frauen und eine strafrechtliche Mitverantwortung für Väter zu statuieren. Ich bedauere es sehr, daß es nicht möglich war, über eine einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts eine getrennte Abstimmung von Grundgesetzänderungen und Kernvertrag herbeizuführen. So bleibt mir nach Abwägung der Rechtsgüter „Menschenleben" und „staatliche Einheit" nichts anderes übrig, als den Einigungsvertrag abzulehnen. Eine andere Entscheidung könnte ich nicht vor meinem Gewissen verantworten. Ich bekunde meinen Respekt vor allen Kolleginnen und Kollegen, die zu einem anderen Entschluß gekommen sind und danke der Bundesregierung für ihre großen politischen Leistungen auf dem Weg zur deutschen Einheit. Erklärung des Abgeordneten Graf Huyn (CDU/CSU): Ich lehne den Einigungsvertrag aus folgenden Gründen, die zum Teil schwerwiegende Gewissensgründe sind, ab: 1. Ich bin stets für die Herstellung der deutschen Einheit in Freiheit eingetreten. Die Herstellung der Einheit Deutschlands bedarf aber dieses Vertrages nicht. Im Gegenteil: Die Einheit kommt durch die Beitrittserkärung gemäß Artikel 23 Grundgesetz zustande. Zur Erstreckung der Geltungskraft des Grundgesetzes auf die Länder Mitteldeutschlands ist lediglich ein Inkraftsetzungsgesetz erforderlich. Der sogenannte Einigungsvertrag verkürzt demgegenüber entscheidende Rechte unseres Grundgesetzes. Ohne Einigungsvertrag ist daher der Deutschen Einheit besser gedient. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 17937* 2. Dem Deutschen Bundestag und allen seinen Abgeordneten wird zugemutet, durch eine einzige Stimmabgabe über ein Vertragswerk von etwa 1 000 Seiten einschließlich einer ganzen Reihe schwerwiegender Verfassungsänderungen pauschal zu entscheiden. Dies verletzt meiner Meinung nach die Rechte der Abgeordneten und des gesamten Hohen Hauses. 3. Es widerspricht von Grund auf unserer freiheitlichen Rechtsordnung, wenn Elemente marxistisch-leninistischen Unrechts, die unserer Verfassung und den in ihr enthaltenen unabänderlichen und unveräußerlichen Grundrechten widersprechen, übernommen, gerechtfertigt oder nachträglich legalisiert werden sollen. Hierzu gehört insbesondere, aus der Abtreibung — also der Tötung ungeborenen Lebens — ein „Recht" zu machen oder der „Entzug der Grundrechte aus Opportunität", wie Prof. von Arnim zur Frage der Enteignung feststellt, wo der Deutsche Bundestag im Wege einer Verfassungsdurchbrechung die gezielte kollektive Entrechtung, die seinerzeit die Kommunistische Partei vorgenommen hat, vollenden soll. Dadurch würde das wiedervereinigte Deutschland buchstäblich „auf der Legalisierung schwerster Menschenrechtsverletzungen gegründet werden" (Prof. Kimminich). Dies ist nur der innenpolitische Teil einer Zangenbewegung, die uns von der westlichen, freiheitlichen Wertegemeinschaft zu entfernen und uns gemeinsam mit Teilen der außenpolitischen Zusatzverträge zunehmend in ein unübersehbares Abhängigkeitsnetz gegenüber der Sowjetunion politisch und finanziell einzubinden droht. 4. Entscheidend ist die Wahrung des Schutzes des ungeborenen Lebens. Hierzu haben am 30. August 1990 der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Lehmann, und der Vorsitzende des Rates der EKD, Bischof Kruse, in einer gemeinsamen Erklärung festgestellt, „daß die geltende Fristenregelung der DDR mit den fundamentalen Überzeugungen des christlichen Glaubens und der Kirche nicht vereinbar ist. Sie widerspricht auch dem Grundgesetz und seiner Auslegung durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Februar 1975". Hier muß gemäß der unveräußerlichen Grundrechte und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jegliche Annäherung an eine Fristenlösung ausgeschlossen werden. Das von Ulbricht erlassene DDR- „Recht" auf Abtreibung widerspricht dem vom Grundgesetz garantierten Menschenrecht auf Leben, das jede vorsätzliche Tötung Unschuldiger verbietet. Das Bundesverfassungsgericht hat im dritten amtlichen Leitsatz zu seiner Entscheidung betreffend die Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit der Fristenlösung erklärt, die „Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben in Schutz zu nehmen, besteht auch gegenüber der Mutter" . Dieses Grundrecht auf Leben kann auch nicht für eine Übergangsfrist ignoriert werden. Im übrigen läßt das Grundgesetz selbst einen befristeten Verzicht auf Strafe nicht zu. Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß auch der Gesetzgeber gegenüber der Grundentscheidung der Verfassung über den umfassenden Lebensschutz des Ungeborenen „nicht frei" ist; „gesellschaftspolitische Zweckmäßigkeitserwägungen, ja staatspolitische Notwendigkeiten können diese verfassungsrechtliche Schranke nicht überwinden" (BVerfGE 1, 14, 36). „Auch ein allgemeiner Wandel hierüber in der Bevölkerung herrschenden Anschauungen — falls sie überhaupt festzustellen wären — würde daran nichts ändern können" (a. a. O., S. 37). Der langjährige Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Willi Geiger wendet sich zu Recht gegen die Einräumung einer Übergangszeit und erklärt: „Die vorsätzliche und direkte Tötung eines Unschuldigen verletzt dessen Menschenwürde und das Recht auf Leben im Kern und vernichtet es irreversibel. Für diese Tat gibt es — abgesehen vom Fall der zur Rettung des Lebens der Schwangeren notwendige Opferung des Ungeborenen — keine Rechtfertigung. Ein Gesetz, das sagt, die Schwangere ist berechtigt, in den ersten drei Monaten ihr Kind abtreiben zu lassen, kann vor dem Grundgesetz keinen Tag lang Bestand haben. " Erschwerend kommt hinzu, daß bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag ein Kompromiß gefunden worden ist, bei dem die Fortgeltung des bisherigen DDR-Unrechts auf deren bisherigem Gebiet vorgesehen ist, falls bis zu einer bestimmten Frist eine politische Einigung über eine gesetzliche Neuregelung nicht hergestellt worden ist. Hiermit entfällt noch dazu der Druck, eine Einigung zu erreichen, was entweder einer Fortgeltung auf bisherigem DDR-Gebiet gleichkommt oder einer politisch bedenklichen Abschiebung der Verantwortlichkeit von diesem Hohen Hause und den anderen Gesetzgebungsorganen auf das Bundesverfassungsgericht gleichkommt. Auf einer Wiedervereinigung, die mit dem Leben tausender ungeborener Kinder bezahlt wird, kann kein Segen ruhen. 5. Ein Verfassungsskandal ist der im Einigungsvertrag unternommene Versuch, die widerrechtlichen entschädigungslosen Enteignungen von Grund und Boden in der sowjetisch besetzten Zone und der nachmaligen DDR nachträglich legalisieren zu wollen. Damit soll die unter Mißachtung aller Grund- und Menschenrechte vollzogene Vertreibung von Familien von ihrem Eigentum rechtlich unangreifbar gemacht und einer Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht entzogen werden. Hierdurch wird neues Unrecht begründet. Der langjährige Präsident des Oberlandesgerichts Braunschweig Rudolf Wassermann kommt zu dem Schluß, der neue Grundgesetzartikel 143 komme einer zweiten Enteignung gleich: „Der Rechtsfrieden wird erst jetzt gestört." Was hier legalisiert werden soll, ist keine „Bodenreform" , sondern Willkür und die Sowjetisierung der Landwirtschaft. Im übrigen hatten von den mehr als 11 000 enteigneten Höfen rund 4 300 eine Betriebsgröße von unter 100 Hektar. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, was Bundeskanzler Konrad Adenauer 1964 anläßlich der Würdigung des damals verstorbenen Andreas Hermes sagte: „Aus tiefer christlicher Verantwortung hat Andreas Hermes sein Leben dem Dienst für sein Volk gewidmet und sich aufrecht und mutig für die Freiheit eingesetzt. Wegen aktiver Teilnahme an der Widerstandsbewegung wurde er nach dem 20. Juli 1944 zum Tode verurteilt. Kompromißlos, wie er gegen die Diktatur des Nationalsozialismus gekämpft hatte, wehrte er 17938* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 sich nach 1945 energisch gegen die Gewaltmaßnahmen des Kommunismus in der sowjetisch besetzten Zone und mußte wegen seines Widerstandes gegen die sogenannte ,Bodenreform' die Zone verlassen." Andreas Hermes hat als CDU-Vorsitzender in der sowjetisch besetzten Zone 1945 erklärt: „Wenn entschädigungslos enteignet werden sollte, geht das Vertrauen auf die Rechtsordnung verloren und damit das Vertrauen auf die neue Demokratie." Mit seinem Sohn, dem langjährigen Botschafter und Staatssekretär Peter Hermes, kann man hier nur die Frage stellen: „Gilt das nicht auch im Jahre 1990?" Der Ostberliner Unterhändler des Einigungsvertrages Günther Krause hat am 4. September 1990 vor der kommunistischen PDS-Volkskammerfraktion erklärt, PDS-Vorschläge seien in den Einigungsvertrag eingegangen, was sich beispielsweise in der Regelung zu Bodenreform widerspiegele. Dies entspricht in der Tat den Forderungen des Kommunisten Modrow in seinem berüchtigten Brief an den sowjetischen Generalsekretär, die sich Ministerpräsident de Maizière zu eigen macht, wenn er unter sieben Punkten anläßlich der Unterzeichnung des Einigungsvertrages am 31. August 1990 als ersten Punkt erklärt: „Für die Menschen in der DDR und für den inneren Frieden im vereinten Deutschland ist die Festschreibung der Ergebnisse der Bodenreform von 1945 bis 1949 von zentraler Bedeutung. " Es ist geradezu ein Treppenwitz der Weltgeschichte, wenn dieses frei gewählte Deutsche Parlament solchen stalinistischen Forderungen nachgeben sollte zu einem Zeitpunkt, da in der Sowjetunion die Reprivatisierung enteigneten landwirtschaftlichen Bodens in Angriff genommen werden soll. Der vorgeschobene Einwand, unser Grundgesetz habe zwischen 1945 und 1949 weder in der Bundesrepublik noch in der sowjetisch besetzten Zone gegolten, ändert an der Beurteilung nichts. Denn erstens wird durch die unterschiedliche Behandlung zeitlich voneinander abgesetzter Unrechtshandlungen der Gleichheitsgrundsatz verletzt, zweitens ist die Enteignung durch eine Besatzungsmacht schon dadurch rechtswidrig, daß sie völkerrechtlich gegen Art. 46 der Haager Landkriegsordnung verstößt, und drittens gilt Art. 153 Weimarer Verfassung weiter. 6. In diesem Zusammenhang ist auch die geplante Aufnahme des vergessenen Art. 135a GG in den Einigungsvertrag eine Maßnahme, die geeignet ist, rechtsstaatliche Normen zu verletzen. Es geht hier um eine Abstreifung von Schuldenlasten durch einfaches Gesetz. Hiermit soll offenbar die Möglichkeit eröffnet werden, jegliche Ansprüche zu mindern oder gar zu löschen, die durch Handlungen der einstigen DDR entstanden sind. Dies reicht dann von Ansprüchen aus der sogenannten Bodenreform bis zur Reduzierung von Ansprüchen aus widerrechtlich verhängten Freiheitsentziehungen von Gegnern des kommunistischen Regimes. Auch hiermit würde verfassungswidriges Verfassungsrecht geschaffen werden. 7. Vergeblich sucht man in dem Einigungsvertrag eine angemessene Lösung der Rehabilitierung und Entschädigung der Hundertausenden von Opfern der kommunistischen Verfolgung. Das von der Volkskammer verabschiedete Gesetz ist völlig unzureichend. Es muß um eine klare Feststellung der Unrechtsmaßnahmen des SED-Regimes gehen ebenso wie um die Sicherstellung einer angemessenen Entschädigung, die aus dem unrechtmäßig erworbenen Eigentum der SED und der Blockparteien finanziert werden kann. Eine Anwendung unseres Häftlingshilfegesetzes mit lediglich einer symbolischen Entschädigung käme einer Verhöhnung der ehemaligen politischen Gefangenen gleich. 8. Keinerlei angemessene Regelung findet in dem Vertrag auch die Strafverfolgung der Verbrechen des SED-Regimes, von den Folterungen in den Haftanstalten bis zur Durchführung und Ausübung des Schießbefehls. Es darf doch wohl nicht wahr sein, daß in der bisherigen DDR gegenwärtig juristisch in einzelnen Fällen geprüft wird, ob die Todesschützen an Mauer und Stacheldraht ihren Ermessensspielraum verletzt hätten. Dies wäre genauso, wie wenn man die KZ-Schergen von Auschwitz danach beurteilt hätte, ob sie die Anordnungen Himmlers getreu befolgt haben oder nicht. 9. Unangemessen ist auch die Regelung der Aufbewahrung der Stasi-Unterlagen. Gerade wenn man verhindern will, daß Mißbrauch damit getrieben wird, gibt es rechtsstaatlich keinen sichereren und angemesseneren Platz als das Bundesarchiv in Koblenz, wo sie selbstverständlich unter getrenntem Verschluß und unter Aufsicht einer unabhängigen Kommission aufbewahrt werden können. Auf jeden Fall muß eine Vernichtung der Akten vermieden werden, da man sonst dem KGB in Moskau, der über vollständige Fotokopien aller wichtigen Akten verfügt, auf Jahrzehnte hinaus ein Erpressungsmonopol ohne Widerspruchsmöglichkeit eröffnet. Darüber hinaus sind dies keineswegs Akten, die lediglich die bisherige DDR angehen, denn von ihnen sind ebenso etwa zweieinhalb Millionen Bundesbürger betroffen. 10. Unzulässig ist in dieser Form auch die Streichung des bisherigen Art. 23 GG. Denn unter den Deutschen, denen — wie das Grundgesetz formuliert — „mitzuwirken versagt" war, zählen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ohne Frage beispielsweise auch die Schlesier. Auch wer — wie ich — nicht die Hoffnung gehabt hat, man könne die Grenzen von 1937 wiederherstellen und wer — wie ich — seit Jahrzehnten für eine deutsch-polnische Verständigung auf europäischer Grundlage eingetreten ist, kann nicht dafür eintreten, Menschen stillschweigend durch eine Pauschalabstimmung Grundrechte zu entziehen. Verfassungsrechtlich muß hier eine saubere Lösung angestrebt werden, und völkerrechtlich muß man in Verhandlungen mit Polen zu einer Lösung im europäischen Geiste mit durchlässigen Grenzen und der Möglichkeit der Gewährung des Rechtes auf Heimat ad personam sowie der Sicherung der Gruppenrechte für die Deutschen in den Ostgebieten und einer Regelung anstehender finanzieller Fragen kommen. Dies ist allerdings politisch schwer möglich, wenn man einseitig auf Rechte verzichtet, bevor man das, was man erreichen will, auch nur begonnen hat auszuhandeln. 11. Im Einigungsvertrag wird zwar Berlin als Hauptstadt bezeichnet, Bonn jedoch nicht als Parla- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 17939* ments- und Regierungssitz festgelegt. Entweder hätte man beides tun oder beides unterlassen sollen. 12. Einer der schwerwiegendsten Eingriffe ergibt sich durch die Einführung des neuen Art. 146 GG. Dies eröffnet den Weg zur Abkehr von unserer, der besten freiheitlichen Deutschen Verfassung. Während die bisherige Fassung des Art. 146 GG den zeitlichen Geltungsinhalt aus der noch nicht vollendeten Wiedervereinigung zieht, wird mit der in der veränderten Präambel unterstellten vollzogenen Wiedervereinigung der bisherige Art. 146 GG hinfällig. Seine nunmehr vorgesehene Neufassung gibt ihm einen völlig anderen Sinn, der unser gesamtes Grundgesetz in Frage stellt. Er eröffnet die Möglichkeit zu alternativen Verfassungsveränderungen und damit zu einem äußerst gefährlichen Weg, der in eine andere Republik führen kann. Hiervor ist mit allem Nachdruck zu warnen. Angesichts dieser schwerwiegendsten verfassungsrechtlichen und materiellrechtlichen Gründe werde ich gegen den sogenannten Einigungsvertrag stimmen in der festen Überzeugung, daß die Herstellung der Deutschen Einheit, wie sie bereits durch die Erklärung der Volkskammer vom 21. August 1990 gemäß Art. 23 GG gesichert ist, in Zusammenhang mit einem Inkraftsetzungsgesetz der bessere Weg ist, der nicht nur der Einheit dienen würde, sondern Einigkeit und Recht und Freiheit. Erklärung der Abgeordneten Jäger und Sauter (Epfendorf) (beide CDU/CSU): Dem politischen Kern des Einigungsvertrages, der Zusammenführung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zu einem deutschen Staat, stimmen wir nachdrücklich zu. Wir halten das Zustandekommen dieser Einigung auf der Grundlage des Art. 23 GG für eine große politische Leistung des Bundeskanzlers und seiner Regierung, die geschichtlichen Rang beanspruchen darf. Wir sagen zu dieser Politik schon deshalb ein klares Ja, weil wir die Einheit Deutschlands seit Jahrzehnten bejaht und aktiv mit vorangetrieben haben. Der Einigungsvertrag enthält neben diesem politischen Kern eine Fülle von Einzelregelungen, die ganz unterschiedlich bewertet werden können. Auf dem Gebiet der Menschenrechte enthält der Vertrag eine Regelung des strafrechtlichen Schutzes der ungeborenen Kinder, der wir aus Gewissensgründen nicht zustimmen können. Auf dem Gebiet der DDR bleibt die dort bisher geltende Fristenregelung ohne Pflichtberatung weiter bestehen. Diese Regelung bedeutet willkürliches Töten hunderttausender von ungeborenen Kindern und die physische, vor allem aber psychische Schädigung ebenso vieler Frauen. Wir halten diese Regelung auch mit dem durch den Einigungsvertrag neu ins Grundgesetz aufgenommenen Art. 143 nicht für vereinbar. Dieser Artikel verbietet — auch für die zweijährige Übergangszeit — Abweichungen vom Grundgesetz, die gegen die Art. 19 Abs. 2 (Kernbereichsgarantie für Grundrechte) und Art. 79 Abs. 3 (in Verbindung mit Art. 1 GG: Menschenwürde) verstoßen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 25. Februar 1975 die Verfassungswidrigkeit der damaligen Fristenregelung — die immerhin eine Pflichtberatung vorsah — auch auf die Verletzung dieser beiden Bestimmungen des Grundgesetzes gestützt. Eine Fristenregelung, wie sie in der DDR besteht, halten wir daher für unvereinbar mit Art. 143 und damit für verfassungswidrig. Hinzu kommt, daß die neu in den Vertrag aufgenommene Bestimmung des Art. 31 Abs. 4 vorsieht, daß die materiellen Bestimmungen der DDR-Fristenregelung auch über die zweijährige Übergangszeit hinaus fortgelten, sofern der Gesetzgeber bis zu deren Ablauf keine Neuregelung des strafrechtlichen Schutzes des Lebens ungeborener Kinder zustande gebracht hat. Wir erkennen an, daß der Art. 31 mit seiner Verpflichtung für den gesamtdeutschen Gesetzgeber, ein verfassungskonformes Lebensschutzrecht zu schaffen, das auf Betreiben unserer Fraktion in den Vertrag hineingekommen ist, einen erheblichen Fortschritt bedeutet. Da es jedoch nach unserer Auffassung höchst ungewiß ist, ob eine verfassungskonforme — d. h. eine Fristenregelung nicht enthaltende — gesetzliche Regelung zustande kommt, befürchten wir die Anwendung von Art. 31 Abs. 4 letzter Satz des Vertrages, d. h. die unbegrenzte Weitergeltung der DDR-Fristenregelung nach Ablauf der zwei Jahre. Da der Vertrag somit entweder die befristete oder die unbegrenzte Fortgeltung dieser Fristenregelung zum Inhalt hat, wäre unseres Erachtens eine Zustimmung zum Vertragstext eine Zustimmung zu einer verfassungswidrigen Vereinbarung. Schließlich bedeutet der Vertrag nach unserer Auffassung die faktische Einführung der Fristenregelung auch auf dem Gebiet der bisherigen Bundesrepublik Deutschland, und zwar durch die Möglichkeit für hier ansässige Frauen, auch ohne jede Beratung in der DDR eine Tötung ihres ungeborenen Kindes vornehmen zu lassen. Das gewohnheitsrechtlich geltende interlokale Strafrecht mit seinem Tatort-Prinzip, das im Vertrag leider nicht geändert worden ist, läßt auf diese Weise ein Unterlaufen des hier geltenden Indikationenstrafrechts zu, das dessen ohnedies unzulängliche praktische Anwendung vollends illusorisch werden läßt. Eine Zustimmung zum Vertrag würde uns deshalb auch die Mitverantwortung für eine entscheidende Verschlechterung des strafrechtlichen Schutzes des Lebensrechts ungeborener Kinder hier in der Bundesrepublik Deutschland aufbürden. Dazu sehen wir uns nicht in der Lage. Da unser Strafrecht auf Grund der Werte-Ordnung unseres Grundgesetzes die höchsten Rechtsgüter des Menschen — vor allem sein Lebensrecht — zu schützen hat, halten wir es nicht für zulässig, diesen Lebensschutz für das ungeborene Kind praktisch zu beseitigen. Trotz der grundsätzlich positiven Haltung zum Hauptinhalt des Vertrages sehen wir uns daher nicht in der Lage, ihm zuzustimmen, weil uns diese Zustimmung in schwerste Gewissensnot stürzen müßte. 17940* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 Es bestehen auch gegen andere Einzelbestimmungen des Vertrages schwerste Bedenken. Das gilt namentlich für die neue Formulierung der Präambel des Grundgesetzes oder für den Art. 143 Abs. 3 des Grundgesetzes mit der verfassungsrechtlichen Sanktionierung der Enteignungen in der DDR zwischen 1945 und 1949, der durch den Vertrag eingeführt werden soll. Auch diese Bestimmungen enthalten Eingriffe in Grundrechte oder in das Selbstbestimmungsrecht des ganzen deutschen Volkes, denen wir nicht zuzustimmen vermögen. Wir betonen aber noch einmal mit Nachdruck, daß unser Nein oder unsere Enthaltung nichts daran ändert, daß wir der Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit und Frieden aus vollem Herzen zustimmen. Erklärung der Abgeordneten Kalisch, Dr. Mahlo und Schulze (Berlin) (CDU/CSU): Im Bewußtsein unserer Verantwortung, als Abgeordnete des Deutschen Bundestages an der Vollendung der deutschen Einheit mitzuwirken, stimmen wir dem Einigungsvertrag zu. Diese Zustimmung kann jedoch nicht ohne Hinweis auf Bedenken gegenüber einzelnen Regelungen des Vertrages erfolgen. Unsere Vorbehalte zu der im Vertrag getroffenen Eigentumsregelung finden ihren Niederschlag in der persönlichen Erklärung des Abgeordneten von Schmude, die wir mittragen. Bedenken begegnet auch die Frage der Weitergeltung des Art. 146 GG, wie sie in Art. 4 Abs. 6 des Einigungsvertrags festgelegt sowie weiter in Art. 5 des Einigungsvertrags, letzter Spiegelstrich, erwähnt ist. Nach unserer Überzeugung ist der Regelungsgehalt des Art. 146 GG durch den Beitritt der DDR-Länder nach Art. 23 GG aufgebraucht und somit diese Verfassungsbestimmung obsolet geworden. Folgerichtig ist daher Art. 146 GG zu streichen. In jedem Falle ist jedoch eine Bestimmung einzufügen, wonach die Regelungen des Art. 79 GG auch für den Fall einer Verfassungsänderung durch Volksabstimmung im Sinne des weitergeltenden Art. 146 GG Geltung finden. Sollte dies nicht geschehen, bestünde die ernste Gefahr, daß die Verfassung per Plebiszit in ihrer Gesamtheit ohne Beachtung der Wesensgehaltsgarantie und ohne Zweidrittelmehrheit des Parlaments außer Kraft gesetzt werden könnte. Dieser theoretischen Möglichkeit eines Verfassungsumsturzes stellen wir uns entgegen. Schließlich wenden wir uns gegen die durch den Einigungsvertrag mit der Änderung der Präambel und der Streichung des Art. 23 GG vorgenommene Präjudizierung des endgültigen Grenzausgleichs mit Polen. Nicht ein Vertrag mit der DDR, sondern die Verhandlungen des vereinigten Deutschlands mit Polen sind der richtige Rahmen zur Klärung der hier bestehenden Fragen. Erklärung des Abgeordneten Dr. Kappes (CDU/CSU) : Ich stimme dem Einigungsvertrag zwar als einem wahrhaft historischen Schritt auf dem Weg zur deutschen Einheit und wegen seiner herausragenden Bedeutung für den Frieden in Europa trotz ganz erheblicher politischer und verfassungsrechtlicher Bedenken zu, erkläre jedoch zugleich, daß ich mit den folgenden Aussagen des Vertragswerkes nicht einverstanden bin und sich auch in Zukunft politisch im entsprechenden Sinne verhalten werde: Erstens. Entgegen der vorgesehenen Neufassung der Präambel des Grundgesetzes haben die Deutschen in den dort genannten 16 Ländern die Einheit und Freiheit Deutschlands nicht vollendet und gilt das geänderte Grundgesetz nicht für das gesamte Deutsche Volk. Meine Auffassung zur Zukunft Ostdeutschlands und der dort lebenden Menschen habe ich mit meinem Abstimmungsverhalten zur Entschließung des Deutschen Bundestages vom 21. Juni 1990 und in einer hierzu abgegebenen Persönlichen Erklärung zum Ausdruk gebracht. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Folgerichtig lehne ich auch die Streichung des Art. 23 GG ab, wenngleich nach der KSZE-Schlußakte einvernehmliche Grenzänderungen ohnehin möglich bleiben. Im übrigen hoffe auch ich auf ein Europa der offenen Grenzen. Zweitens. Das Vertragswerk wird dem moralisch und verfassungsrechtlich gebotenen Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens nur höchst unzureichend gerecht. Zwar können Abtreibungen sicher nicht in erster Linie durch Strafandrohung verhindert werden; jedoch prägt das Strafrecht nicht unerheblich das Rechtsbewußtsein einer Gesellschaft. Daher hat das Bundesverfassungsgericht, gestützt auf die Wertordnung unseres Grundgesetzes, den Gesetzgeber für verpflichtet erklärt, zum Schutz des ungeborenen Kindes als Ultima ratio auch Strafe anzudrohen. Hiervon dürfe nur dann abgesehen werden, wenn Gründe vorliegen, die vor der Wertordnung des Grundgesetzes Bestand haben. Zwar halte ich die vorgesehene Übergangszeit von bis zu zwei Jahren in unserer konkreten Situation für moralisch und verfassungsrechtlich gerade noch vertretbar. Falls es jedoch in dieser Zeit nicht zu einer verfassungsgemäßen gesamtdeutschen Regelung kommen sollte, kann entgegen Art. 31 Abs. 4, letzter Satz, des Einigungsvertrages auch im Gebiet der ehemaligen DDR nur unsere Indikationenregelung gelten. Ich gehe davon aus und werde mich nach Kräften dafür einsetzen, daß dann sofort das Bundesverfassungsgericht angerufen wird, das 1975 ja schon einmal eine einstweilige Anordnung in diesem Sinne getroffen hat. Im übrigen vertrete ich die Rechtsauffassung, daß trotz vielfältiger gegenteiliger Aussagen bei den Verhandlungen über den Einigungsvertrag auch in der erwähnten Übergangszeit Bürger der Bundesrepublik Deutschland nicht straffrei sind, wenn sie im Gebiet der ehemaligen DDR einen nichtindizierten Schwangerschaftsabbruch vornehmen. Im Näheren will ich dies an anderer Stelle fachlich begründen. Drittens. Den vorgesehenen Art. 143 Abs. 3 GG, mit dem die Enteignungen im Rahmen der sogenannten Bodenreform kurzerhand festgeschrieben werden sollen, halte ich für verfassungswidriges Verfassungsrecht. Meines Erachtens muß das, was ohne nennens- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 17941* werte Schwierigkeiten und ohne daß neues Unrecht geschieht, zurückgegeben werden kann, den Eigentümern zurückgegeben und das übrige angemessen entschädigt werden. Auch hier rechne ich notfalls mit einer entsprechenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Logisch wäre zwar einerseits, bei so schwerwiegenden Bedenken den Einigungsvertrag abzulehnen. Andererseits möchte aber auch ich bei der gegebenen historischen Situation dem Zusammenwachsen Deutschlands nicht im Wege stehen. Deshalb stimme ich zu. Erklärung des Abgeordneten Lowack (CDU/CSU): Von Beginn meiner politischen Arbeit an habe ich mit großer Leidenschaft für die deutsche Einheit — in dem sich einigenden freien Europa — gekämpft, gerade auch zu einem Zeitpunkt, als dies dem Zeitgeist zu widersprechen schien, viele verantwortliche deutsche Politiker die deutsche Einheit längst aufgegeben und/ oder sich mit dem Honecker-Regime in einer Weise arrangiert hatten, die der deutschen Einheit nicht diente. Das reichte von den Ostverträgen bis zur Anhebung der Transitpauschale u. a. auf 8,6 Milliarden DM in einer Laufzeit von 10 Jahren im Januar 1989. Die Bundesregierung hat für den Vollzug der Einheit, die wir in erster Linie den Menschen verdanken, die mit großem Mut, Risiko und Opferbereitschaft auf die Straßen in den Städten der ehemaligen DDR gingen, einen eigenwilligen und von Mißtrauen gegenüber dem Deutschen Bundestag geprägten Weg gewählt, dem ich nicht zustimmen kann. So hat sich die Bundesregierung in einem Staatsvertrag zu schwerwiegenden Grundgesetz- und Rechtsänderungen verpflichtet, die tief in die grundgesetzliche Ordnung eingreifen und für die deutsche Rechtsordnung völlig unübersehbare Konsequenzen haben werden. So wurde das für die Änderung des Grundgesetzes sowie für die Beratung und Verabschiedung von Gesetzen zuständige Parlament weitgehend von der Beratung ausgeschlossen und seine Mitwirkung auf die Alternative reduziert, zu einem Gesamtpaket mit Ja oder Nein abzustimmen. Noch in den letzten Stunden vor dieser Abstimmung hat die Bundesregierung eine Reihe von Gesetzen der Volkskammer, mit denen teilweise altes DDR-Recht konserviert werden soll, zum Gegenstand des „Einigungs"-Vertrages gemacht, obwohl nahezu kein Abgeordneter des Deutschen Bundestages von diesen Gesetzen Kenntnis nehmen konnte. Die Bundesregierung hat in dem von mir und anderen Abgeordneten des Deutschen Bundestages beim Bundesverfassungsgericht eingeleiteten Verfahren mit großer Suggestionskraft behaupten lassen, die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des „Einigungs" -Vertrags oder Teilen davon werde unübersehbare Folgen für die deutsche Einheit haben, obwohl die deutsche Einheit auch ohne diesen Vertrag in seiner jetzigen Ausformung als Konglomerat verschiedenster, oft zufällig aufgenommener gesetzlicher Regelungen zum 3. Oktober 1990 hätte vollzogen werden können. Der Beitritt gemäß Art. 23 des Grundgesetzes, den ich ausführlich befürworte, setzt den „Einigungs"-Vertrag nicht voraus. Vielmehr wäre, besonders nach der Einführung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zum 1. Juli 1990 sowie der Beitrittserklärung durch die Volkskammer, der Weg zu einem, auf einer einheitlichen Rechtsordnung aufbauenden Gesetz gemäß Art. 23 des Grundgesetzes möglich gewesen. Mit dem „Einigungs " -Vertrag und der nur vorbehaltlos möglichen Zustimmung des Gesetzgebers werden Millionen deutscher Opfer von Vertreibung, blindem Haß, Sadismus und Tötungslust, die Gefolterten, Gequälten, Entrechteten und deren Angehörige nicht befriedet. Sie müssen die Änderung der Präambel und die Streichung von Art. 23 des Grundgesetzes sowie die Neuformulierung von Art. 146 des Grundgesetzes angesichts völlig ungeklärter Rechtsverhältnisse eher als einen Akt der Verhöhnung denn als Versöhnung auffassen. Viele, die in ihrer ostdeutschen Heimat ausgeharrt haben und die unglaublichen persönlichen Opfern, Demütigungen und Grausamkeiten unterworfen wurden, haben in Zukunft keinerlei Mitwirkungsrechte als Deutsche mehr. Sie werden, ohne daß damit ihre Stimme gehört wurde, ausgegrenzt. Ich betrachte das Recht des Abgeordneten, an Abstimmungen teilzunehmen und damit an politischen Entscheidungen mitzuwirken, als das wichtigste Recht eines Volksvertreters überhaupt. Würde ich zum „Einigungs"-Vertrag mit Nein stimmen, müßte der völlig falsche Eindruck entstehen, daß ich die deutsche Einheit nicht wollte, während ich für sie mit großem Nachdruck arbeiten möchte. Zugleich würde ich mich an die Seite der SED-PDS stellen, einer Partei, der wir die Zerstörung eines Teils Deutschlands weit über die Forderungen der sowjetischen Besatzungsmacht hinaus und besonders grausame Aspekte der Teilung Deutschlands verdanken. Wenn ich mich deshalb — das erste Mal nach zehnjähriger Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag — auf das Recht berufe, nicht an einer Abstimmung teilzunehmen, so bringe ich meine persönliche Betroffenheit zum Ausdruck. Der „Einigungs"-Vertrag ist in seiner vorliegenden Form für die Vollendung der deutschen Einheit eher ein Hindernis. Er dient nicht der Rechtssicherheit, sondern fördert die Rechtsunsicherheit. Er schafft unterschiedliche Rechtsgebiete und stellt wichtige verfassungsrechtliche Grundsätze in Frage. Er enthält kein Recht zur Einheit, sondern ein Recht der Ausnahmen und der Sonderregelungen. Der „Einigungs"Vertrag wird schon in Kürze ungeheure Probleme schaffen. Schließlich enthält er auch keinerlei Perspektiven für die Entwicklung des Zusammenwachsens benachbarter Regionen, die unter der deutschen Teilung besonders gelitten hatten und denen ich mich in meiner politischen Arbeit besonders verbunden fühle. Erklärung des Abgeordneten Marschewski (CDU/CSU): Erstens. Der Einigungsvertrag regelt die Vereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. 17942 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 Ich begrüße den Zusammenschluß dieser beiden Teile Deutschlands durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Mein Dank gilt allen Politikern — vor allem Herrn Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl — für den unermüdlichen Einsatz zum Wohle unseres Vaterlandes. Zweitens. Der Einigungsvertrag bezieht sich jedoch nicht auf ganz Deutschland. Deutschlands rechtlich garantiertes Staatsgebiet erstreckt sich nämlich auch auf die Gebiete östlich der Oder-Neiße. Das ergibt sich u. a. aus: — dem Londoner Protokoll von 1944 und der Berliner Vierer-Erklärung vom 5. Juni 1945, — dem Notenwechsel mit den Verbündeten vom August und November 1979 zu den Ostverträgen, — der Ausgestaltung der Ostverträge als Gewaltverzichtsverträge und aus dem die bestehenden Grenzlinien nur beschreibenden Wortlaut (kein Wort von „Anerkennung" — vgl. Bundesaußenminister Scheel, 9. Februar 1972, vor dem Bundesrat), — der auch in den Ostverträgen verankerten Unberührtheit des Deutschlandvertrages, dessen Pflichten und Rechte die Bundesrepublik Deutschland in allen Teilen, nicht zuletzt wegen der Verantwortung für Deutschland, binden, — der Präambel, Art. 16, 23, 25, 116 und 146 des Grundgesetzes, — zahlreichen verbindlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts u. a. vom 31. Juli 1973, 7. Juli 1975 und 21. Oktober 1987, — dem Fehlen eines völkerrechtlich wirksamen Dokuments, daß die Gebiete östlich von Oder und Neiße mit dem Inkrafttreten der Ostverträge aus der rechtlichen Zugehörigkeit zu Deutschland entlassen und der Souveränität, also sowohl territorialen wie der personalen Hoheitsgewalt der Sowjetunion und Polens, endgültig unterstellt worden seien (Bundesverfassungsgerichtsentscheidung 40, 171). Dies ist geltendes Recht. Drittens. Der Einigungsvertrag hat meines Erachtens jedoch keine Änderung dieser eindeutigen Rechtslage zur Folge. Dies gilt sowohl für die Änderung der Präambel als auch für die Aufhebung des Art. 23 oder die Ergänzung des Art. 146 GG. Der Einigungsvertrag ist daher — wenn auch historisch nur als „kleinstdeutsche Lösung" zu betrachten — ein richtiger Schritt auf dem Wege, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Viertens. Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl hat mit der Realisierung des Einigungsvertrages eindeutig im Sinne Bismarcks gehandelt: „Der Staatsmann kann nur abwarten und lauschen, bis er die Schritte Gottes durch die Ereignisse hallen hört. Dann vorspringen und den Zipfel seines Mantels fassen — das ist alles. " Fünftens. Ich stimme daher dem Einigungsvertrag zu, der übrigens darüber hinaus eine Vielzahl an in jeder Hinsicht akzeptierbaren und begrüßenswerten Vereinbarungen enthält. Erklärung des Abgeordneten Dr. Günther Müller (CDU/CSU): Ich werde an der Abstimmung über das Einigungsvertragsgesetz nicht teilnehmen. Die Gründe dafür sind folgende: Da ich ein Anhänger der deutschen Einheit bin, müßte meine Nein-Stimme zum Einigungsvertrag zu einer Fehlinterpretation führen. Eine Ja-Stimme abzugeben ist aber nicht möglich, da das Einigungsvertragsgesetz in einer bisher in der deutschen demokratischen Geschichte einmaligen Art und Weise die Rechte der Abgeordneten suspendiert hat. Der Verhandlungsführer der Bundesregierung hat in einer bisher nicht üblichen Methode den permanenten Versuch gemacht, ohne Mitwirkung der Abgeordneten, wie es unsere Verfassung vorsieht, politische Daten zu setzen. Obwohl zu Beginn erklärt wurde, daß Änderungen des Einigungsvertrages nicht möglich seien, kam es zu permanenten Nachbesserungen auf Wunsch der Volkskammer der DDR. Dabei wurden Grundsätze unserer Republik in Frage gestellt und Ziele der SED-PDS, wie Staatssekretär Krause vor der PDS-Fraktion bestätigte, durchgesetzt. Der neue Artikel 143 des Grundgesetzes ist dafür ein klarer Beweis. Der Verzicht auf ein Viertel des Staatsgebietes von 1937 ist für die Vertragspartner kein Anlaß, eine historische Würdigung vorzunehmen. Die schlichte Formulierung: „Artikel 23 wird aufgehoben" ist würdelos und wäre in dieser Art in jedem unserer europäischen Nachbarstaaten undenkbar. Das Einigungsvertragsgesetz selbst ist das Ergebnis von Verhandlungen der Exekutive, an der das Parlament praktisch nicht beteiligt wurde. Selbst der Parlamentarische Staatssekretär im Hause des Verhandlungsführers wurde nicht über den Verlauf der Verhandlungen informiert. Die Abgeordneten müssen mit ihrer Stimme ein Gesetz billigen, das sie gar nicht kennen können und das darüber hinaus ein Ermächtigungsgesetz darstellt, wie es in der Geschichte der Demokratie einmalig ist. Innerhalb von drei Wochen sollte ein Abgeordneter rund 15 000 Paragraphen, die entweder geändert oder bestätigt werden sollen und die in den Gesetzen zweier verschiedener Staaten zu finden sind, überprüfen. Für 519 Abgeordnete steht ein Gesetz- oder Verordnungsblatt der DDR zur Verfügung, das nur in der Bibliothek zu bestimmten Stunden eingesehen werden kann und das nicht auf dem neuesten Stand ist. Vielleicht mag die Regelung der Spargelanbaugebiete und die Nachrüstungspflicht für Fahrräder unbedeutend für das Abstimmungsverhalten eines Abgeordneten sein, überprüfen kann er die 15 000 Paragraphen auf keinen Fall. Er muß einen Blankoscheck geben. Es werden Gesetze und Verordnungen im Einigungsvertrag für rechtsgültig erklärt, die, wie es im Einigungsvertrag heißt, „noch zu erlassen" sind. Außerdem sichert der Einigungsvertrag ab, daß für Ab- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 17943* geordnete des Deutschen Bundestages oder für Kandidaten zur gesamtdeutschen Wahl am 2. Dezember 1990 Akten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR zur Feststellung der „offiziellen oder inoffiziellen Tätigkeit" der Abgeordneten oder Kandidaten für den Staatssicherheitsdienst nicht benutzt werden dürfen. Da ich es mit der parlamentarischen Demokratie für unvereinbar halte, Blankoschecks auf Gesetze auszustellen, und darüber hinaus eine ordnungsgemäße Überprüfung des Inhalts des Einigungsvertrages für den einzelnen Abgeordneten nicht möglich war und seine Rechte damit suspendiert waren, bitte ich um Verständnis dafür, an der Abstimmung nicht teilnehmen zu können. Erklärung der Abgeordneten Müller (Wesseling), Höpfinger und Keller (alle CDU/CSU): Die Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands erfüllt uns mit Freude. An dieser Stelle gilt unser Dank all denjenigen, die immer an die Wiedervereinigung geglaubt und danach ihr politisches Handeln ausgerichtet haben. Wenn wir — Alfons Müller (Wesseling), Stefan Höpfinger und Peter Keller — dem Einigungsvertrag aus Gewissensgründen nicht zustimmen können, liegt dies einzig und allein an der für uns nicht annehmbaren Regelung im Zusammenhang mit dem Schutz des ungeborenen Menschen. Im Gebiete der bisherigen DDR bleibt die dort gültige Fristenregelung zunächst bis zum 31. Dezember 1992 in Kraft. Eine bindende Frist für ihr Außerkrafttreten ist nicht vereinbart. Die Indikationsregelung bei uns in der Bundesrepublik kann infolge dieser Rechtslage noch leichter unterlaufen werden. Im vereinigten Deutschland besteht damit auf nicht absehbare Zeit ein gespaltenes Lebensrecht. Die in Art. 31 Abs. 4 des Einigungsvertrages in Aussicht gestellte gesetzliche Neuregelung läßt durch eine Vielzahl schriftlicher und mündlicher Stellungnahmen die begründete Sorge aufkommen, daß die Entscheidungsbefugnis über das ungeborene Leben der werdenden Mutter allein überantwortet werden soll. Dies bedeutet, selbst wenn eine Beratungspflicht gesetzlich verankert wird, nichts anderes als eine verbrämte Fristenregelung. Damit wird den ungeborenen Kindern, den hilfsbedürftigsten Menschen in unserer Gesellschaft, der ihnen zustehende rechtliche Schutz der staatlichen Gemeinschaft versagt. Das widerspricht ganz klar dem Grundgesetz und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Februar 1975. Durch die getroffene Regelung wird das Rechtsbewußtsein gegenüber dem ungeborenen Leben negativ verändert; es wird die unbedingte Achtung vor seiner Menschenwürde, vor seinem Recht auf Leben und vor seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit so verändert, daß wir das nicht mitverantworten können. Solche preisgegebenen Rechtspositionen sind kaum mehr rückholbar. Wie sollen je die Schleusen geschlossen werden, die hier aufgetan werden? Mit dem Gesetz zum Einigungsvertrag beginnt auf diesem Gebiet ein Weg, den wir nicht mitgehen können. Unser Bestreben in der politischen Arbeit war und ist es, die Familienpolitik positiv zu gestalten. Entscheidende familienpolitische Leistungen sind durch diese Bundesregierung Wirklichkeit geworden. Wir alle wissen, daß weitere Aufgaben in diesem Bereich gelöst werden müssen. Wir wollen aber nichts tun, was unserer Meinung nach das Lebensrecht der ungeborenen Menschen schmälert. Dies ist für uns eine Gewissensentscheidung. Wir können deshalb dem Einigungsvertragsgesetz unsere Zustimmung nicht geben. Zusatzerklärung des Abgeordneten Müller (Wesseling) (CDU/CSU): In der Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 29. August 1990 war ich zunächst bereit, trotz erheblicher Bedenken dem Vertragswerk zuzustimmen. Leider ist dem damals vorliegenden Text in Art. 31 Abs. 4 ein für mich entscheidender neuer Satz hinzugefügt worden, der an diesem Tage nicht Gegenstand der Diskussion war: „Kommt eine Regelung in der in Satz 1 genannten Frist nicht zustande, gilt das materielle Recht in dem in Artikel 3 genannten Gebiet weiter. " Der später so in den Verhandlungen mit der SPD veränderte Vertragstext und die Reaktion zahlreicher Abgeordneter zeigen mir, daß die verfassungswidrige Fristenregelung im DDR-Gebiet auch über den 31. Dezember 1992 hinaus in Geltung bleiben kann. Deshalb ist die jetzt gefundene Formulierung des Art. 31 Abs. 4 nach meiner Meinung nicht mit den Grundwerten unseres Grundgesetzes vereinbar. Der Schutz des werdenden Menschen ist höchste Pflicht des Staates. Eine Abtreibung ist und bleibt für mich die Tötung menschlichen Lebens. Erklärung des Abgeordneten Niegel (CDU/CSU): Der Vereinigung von West- und Mitteldeutschland stimme ich voll zu, wobei ich daran erinnere, daß ich zu denen gehöre, die die Wiedervereinigung Deutschlands immer in den Mittelpunkt ihrer politischen Arbeit gestellt haben. Dem Einigungsvertrag würde ich meine Zustimmung geben können, wenn er nicht mit schwerwiegenden Verfassungsänderungen belastet wäre. Da der Vertrag mit den eingebundenen Verfassungsänderungen nicht der Einzelabstimmung unterliegt — man kann nur mit Ja oder Nein stimmen — und es nicht möglich war, die Grundgesetzänderungen aus dem Ratifikationsverfahren herauszulösen, muß ich dem Vertragsgesetz meine Zustimmung verweigern. Ich halte die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag für nicht notwendig und alle hierfür vorgebrachten Argumente für nicht stichhaltig. Sie sind 17944* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 bedenklich in bezug auf die neue Sinngestaltung der Präambel des Grundgesetzes, da die Einheit und Freiheit Deutschlands in allen seinen Teilen doch fraglos nicht vollendet wird — dies ist eine wirkliche Lebenslüge, mit der das jetzt so vereinte Deutschland belastet wird —, die Streichung des Art. 23, die weitere Beitrittsmöglichkeiten ausschließt, die Umgestaltung des Art. 146, durch die gewisse Kräfte das Grundgesetz aushöhlen wollen, um ihrem Ziel, eine andere Republik zu schaffen, näherzukommen, die Einfügung eines Art. 143, der die entschädigungslosen Enteignungen in der Sowjetzone in der Zeit zwischen 1945 bis 1949 sanktioniert. Es ist tragisch, daß die staatliche Vereinigung von West- und Mitteldeutschland in einer Form stattfindet, die es gerade denen, die sich dem Verfassungsauftrag zur Wahrung und Wiederherstellung der Einheit des ganzen Deutschlands verpflichtet fühlten, jetzt verwehrt, dem Vertragsgesetz zuzustimmen. Erklärung des Abgeordneten Regenspurger (CDU/CSU): Bei der Abstimmung muß einem unauflösbaren Widerspruch Rechnung getragen werden. Die der Bundesrepublik Deutschland beitretenden Landsleute erwarteten, daß die Bedingungen ihres Beitritts frei ausgehandelt wurden. Sie wollten dabei ein gleichberechtigter Vertragspartner sein. Ihre Forderungen führten zu einem Vertragsinhalt, der in Teilen das Grundgesetz bis in seinen Kernbereich hinein verändert. Dem stehen Rang und Gewicht des Grundgesetzes in der Fassung gegenüber, die ihm die Verfassungsväter 1949 gegeben hatten. Zweitens. Aufrecht und eindringlich sprach die Präambel mit ihren ursprünglichen Worten davon, welche Deutschen dem staatlichen Leben des Deutschen Volkes eine neue Ordnung gaben, daß dies auch geschah für jene, denen mitzuwirken versagt war, und daß das gesamte Deutsche Volk aufgefordert blieb, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Es war selbstverständlich und brauchte an dieser hervorgehobenen Stelle nicht besonders erwähnt zu werden, daß darunter das deutsche Volk in den unbestrittenen Grenzen des deutschen Staates vom 31. Dezember 1937 zu verstehen war. Dies wurde ausdrücklich in authentischer Interpretation erst dort erwähnt, wo die schwierigen Fragen der Staatsangehörigkeit zu regeln waren. Schamhaft wird in der künftigen Fassung verschwiegen, daß der schmerzliche Preis für die staatliche Wiedervereinigung der im Bundesgebiet und in der bisherigen DDR lebenden Deutschen der bevorstehende — und staatsrechtlich im Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag vorweggenommene — Verzicht auf die deutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße ist, ohne den diese Wiedervereinigung nicht zu erreichen gewesen wäre. Die Deutschen in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße, denen auch jetzt mitzuwirken versagt ist, werden keines Wortes gewürdigt. Ich tue dies hiermit ausdrücklich. Drittens. Die Gemeinsame Erklärung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen vom 15. Juni 1990, bei der es sich um eine politische Absichtserklärung handelte, erhält den Charakter einer rechtlich bindenden Verpflichtung, die gegen eine Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht am gegenwärtig geltenden Verfassungsrecht abgesichert werden soll. Verstöße gegen die grundrechtliche Eigentumsgarantie und gegen das Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes sollen auf diese Weise sanktioniert werden. Mit Verbrechen verbundene schwerste Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung, die darüber hinaus menschenrechtswidrige Willkürakte deutscher Kommunisten ermöglichten, werden zum Fundament der auf dem Grundgesetz beruhenden Rechtsordnung im wiedervereinigten deutschen Staat gemacht. Hierzu habe ich eine weitere persönliche Erklärung mit unterschrieben. Viertens. Das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft vom 9. März 1972, das die Frauen in der DDR berechtigt, die Schwangerschaft innerhalb von 12 Wochen unterbrechen zu lassen, soll durch das Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag rechtlich sanktioniert werden. Seine Fortgeltung soll für zwei Jahre der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen werden, obwohl es mit Art. 1 und 2 des Grundgesetzes in der Auslegung durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 25. Februar unvereinbar ist. Wegen der Unvereinbarkeit mit Art. 1 des Grundgesetzes, der durch Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes jeder Änderung entzogen ist, kann auch der verfassungsändernde Gesetzgeber mit einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat nicht die rechtliche Grundlage für die Fortgeltung des Gesetzes vom 9. März 1972 schaffen. Die Rechtsordnung kann ihre bewußtseinsbildende Aufgabe nicht erfüllen, nachdem es schon nicht gelungen war, das Bundesberatungsgesetz zu formulieren und zu verabschieden. Die Fortgeltung der verfassungswidrigen Fristenlösung auf dem Gebiet der bisherigen DDR droht, bereits errungene Anfangserfolge wieder zunichte zu machen. Das Bundesverfassungsgericht muß unverzüglich über die Anträge der Bayerischen Staatsregierung entscheiden, die Indikationslösung, die zu einer verkappten verfassungswidrigen Fristenlösung geführt hat, und die Bestimmungen zu ihrer Finanzierung durch die gesetzliche Krankenversicherung für verfassungswidrig und nichtig zu erklären. Das Bundesverfassungsgericht hat nach seiner eigenen Rechtssprechung die Übereinstimmung einer angefochtenen Regelung mit dem Grundgesetz umfassend zu prüfen. Das Bundesverfassungsgericht hat somit die Gelegenheit, das in der DDR fortgeltende „Recht" der Schwangeren, über die Unterbrechung der Schwangerschaft in eigener Verantwortung zu entscheiden, für verfassungswidrig und nichtig zu erklären. Fünftens. Die Fortgeltung von Art. 146 Grundgesetz in einer neuen Fassung begründet die Gefahr des Mißbrauchs. Den Bestrebungen, eine neue Verfassung mit einfacher Mehrheit zu verabschieden, um die staatliche Ordnung auf dem Boden des Grundgesetzes durch „eine andere Republik" zu ersetzen, soll nach dem Willen der SPD ein Weg vorbei an den Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 17945* Bestimmungen des Art. 79 des Grundgesetzes gebahnt werden, der nicht durch die Erfordernis einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen in Bundestag und Bundesrat erschwert ist und der vor allem die in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes jeder Änderung, auch der durch den verfassungsändernden Gesetzgeber, entzogenen Bestimmungen verfügbar macht, darunter Art. 1 des Grundgesezes, der die Würde des Menschen zu achten und zu schützen aufgibt. Sechstens. Dem Einigungsvertrag stimme ich, ohne daß die gegen Teile seines Inhalts zu erhebenden gewichtigen Bedenken ausgeräumt wären, trotzdem zu. Der Rückschlag für die Schaffung einheitlicher und geordneter Verhältnisse in Deutschland wäre bei einem Scheitern zu groß. Der am 2. Dezember 1990 zu wählende Deutsche Bundestag als die freigewählte Vertretung des deutschen Volkes hat die Aufgabe, die jeder staatlichen Rechtssetzung — auch derjenigen der verfassungsgebenden Gewalt oder des verfassungsändernden Gesetzgebers — vorgegebenen Grund- und Menschenrechte zu wahren sowie die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes in seiner gegenwärtig geltenden Fassung aufrechtzuerhalten. Erklärung des Abgeordneten Rossmanith (CDU/CSU): 1. Bei der Abstimmung muß einem unauflösbaren Widerspruch Rechnung getragen werden. Die der Bundesrepublik Deutschland beitretenden Landsleute erwarteten, daß die Bedingungen ihres Beitritts frei ausgehandelt wurden. Sie wollten dabei ein gleichberechtigter Vertragspartner sein. Ihre Forderungen führten zu einem Vertragsinhalt, der in Teilen das Grundgesetz bis in seinen Kernbereich hinein verändert. Dem stehen Rang und Gewicht des Grundgesetzes in der Fassung gegenüber, die ihm die Verfassungsväter 1949 gegeben hatten. 2. Aufrecht und eindringlich sprach die Präambel mit ihren ursprünglichen Worten davon, — welche Deutschen dem staatlichen Leben des Deutschen Volkes eine neue Ordnung gaben, — daß dies auch geschah für jene, denen mitzuwirken versagt war, und — daß das gesamte Deutsche Volk aufgefordert blieb, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Es war selbstverständlich und brauchte an dieser hervorgehobenen Stelle nicht besonders erwähnt zu werden, daß darunter das deutsche Volk in den unbestrittenen Grenzen des deutschen Staates vom 31. Dezember 1937 zu verstehen war. Dies wurde ausdrücklich in authentischer Interpretation erst dort erwähnt, wo die schwierigen Fragen der Staatsangehörigkeit zu regeln waren. Schamhaft wird in der künftigen Fassung verschwiegen, daß der schmerzliche Preis für die staatliche Wiedervereinigung der im Bundesgebiet und in der bisherigen DDR lebenden Deutschen der bevorstehende — und staatsrechtlich im Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag vorweggenommene — Verzicht auf die deutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße ist, ohne den diese Wiedervereinigung nicht zu erreichen gewesen wäre. Die Deutschen in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße, denen auch jetzt mitzuwirken versagt ist, werden keines Wortes gewürdigt. 3. Die Gemeinsame Erklärung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen vom 15. Juni 1990, bei der es sich um eine politische Absichtserklärung handelte, erhält den Charakter einer rechtlich bindenden Verpflichtung, die gegen eine Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht am gegenwärtig geltenden Verfassungsrecht abgesichert werden soll. Verstöße gegen die grundrechtliche Eigentumsgarantie und gegen das Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes sollen auf diese Weise sanktioniert werden. Mit Verbrechen verbundene schwerste Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung, die darüber hinaus menschenrechtswidrige Willkürakte deutscher Kommunisten ermöglichten, werden zum Fundament der auf dem Grundgesetz beruhenden Rechtsordnung im wiedervereinigten deutschen Staat gemacht. 4. Das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft vom 9. März 1972, das die Frauen in der DDR berechtigt, die Schwangerschaft innerhalb von 12 Wochen unterbrechen zu lassen, soll durch das Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag rechtlich sanktioniert und seine Fortgeltung soll für zwei Jahre der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen werden, obwohl es mit Artikel 1 und Artikel 2 des Grundgesetzes in der Auslegung durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 25. Februar 1975 unvereinbar ist. Wegen der Unvereinbarkeit mit Artikel 1 des Grundgesetzes, der durch Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes jeder Änderung entzogen ist, kann auch der verfassungsändernde Gesetzgeber mit einer 2/3-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat nicht die rechtliche Grundlage für die Fortgeltung des Gesetzes vom 9. März 1972 schaffen. Die Rechtsordnung kann ihre bewußtseinsbildende Aufgabe nicht erfüllen, nachdem es schon nicht gelungen war, das Bundesberatungsgesetz zu formulieren und zu verabschieden. Die Fortgeltung der verfassungswidrigen Fristenlösung auf dem Gebiet der bisherigen DDR droht, bereits errungene Anfangserfolge wieder zunichte zu machen. Das Bundesverfassungsgericht muß unverzüglich über die Anträge der Bayerischen Staatsregierung entscheiden, die Indikationslösung, die zu einer verkappten verfassungswidrigen Fristenlösung geführt hat, und die Bestimmungen zu ihrer Finanzierung durch die Gesetzliche Krankenversicherung für verfassungswidrig und nicht zu erklären. Das Bundesverfassungsgericht hat nach seiner eigenen Rechtssprechung die Übereinstimmung einer angefochtenen Regelung mit dem Grundgesetz umfassend zu prüfen. Das Bundesverfassungsgericht hat somit die Gelegenheit, das in der DDR fortgeltende „Recht" der Schwangeren, über die Unterbrechung der Schwangerschaft in eigener Verantwortung zu entscheiden, für verfassungswidrig und nichtig zu erklären. 5. Die Fortgeltung von Artikel 146 Grundgesetz in einer neuen Fassung begründet die Gefahr des 17946* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 Mißbrauchs. Den Bestrebungen, eine neue Verfassung mit einfacher Mehrheit zu verabschieden, um die staatliche Ordnung auf dem Boden des Grundgesetzes durch „eine andere Republik" zu ersetzen, soll nach dem Willen der SPD ein Weg vorbei an den Bestimmungen gemäß Artikel 79 des Grundgesetzes gebahnt werden, der nicht durch das Erfordernis einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen im Bundestag und Bundesrat erschwert ist und der vor allem die in Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes jeder Änderung, auch der durch den verfassungsändernden Gesetzgeber, entzogenen Bestimmungen verfügbar macht, darunter Artikel 1 des Grundgesetzes, der die Würde des Menschen zu achten und zu schützen aufgibt. 6. Dem Einigungsvertrag stimme ich, ohne daß die gegen Teile seines Inhalts zu erhebenden gewichtigen Bedenken ausgeräumt wären, dennoch zu, um das für mich übergeordnete Ziel der Einheit nicht zu gefährden. Der Rückschlag für die Schaffung einheitlicher und geordneter Verhältnisse in Deutschland wäre bei einem Scheitern zu groß. Der am 2. Dezember 1990 zu wählende Deutsche Bundestag, als die freigewählte Vertretung des deutschen Volkes, hat die Aufgabe, die jeder staatlichen Rechtssetzung — auch derjenigen der verfassungsgebenden Gewalt oder des verfassungsändernden Gesetzgebers — vorgegebenen Grund- und Menschenrechte zu wahren sowie die freiheitlich demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes in seiner gegenwärtig geltenden Fassung aufrechtzuerhalten. Erklärung des Abgeordneten Sauer (Salzgitter) (CDU/CSU): Der Freiheitswille unserer Landsleute in Mitteldeutschland, die Politik der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika sowie die beharrliche, kluge Haltung des Herrn Bundeskanzlers haben zu der von uns allen nicht erwarteten Lage in Deutschland geführt. Um so mehr bedauere ich, dem Einigungsvertrag nicht mit Freude zustimmen zu können, sondern nur nach langer, schwerer Gewissensprüfung. Insbesondere nach den Abstimmungen beider deutscher Parlamente und der zu erwartenden Mehrheit im ersten Gesamtdeutschen Parlament im Bezug auf die zukünftige Ostgrenze Deutschlands will ich im Zwange dieser Erkenntnis der Vereinigung „Restdeutschlands" meine Zustimmung nicht versagen. Meine Familie stammt mütterlich- und väterlicherseits nachweisbar seit Jahrhunderten aus Ostdeutschland, aus Schlesien. Von dort wurden wir gewaltsam vertrieben. Immer bin ich für die Einheit unseres vielfach geteilten Vaterlandes eingetreten und dafür von Mitgliedern der heutigen Opposition, z. B. von Herrn Ehmke und Herrn Voigt, aber auch von Journalisten der „Zeit" und des „Spiegels" mit Hähme und Spott und beleidigenden Äußerungen überschüttet worden. In meiner nun 18-jährigen Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag habe ich in den Ausschüssen und im Plenum oft auf Deutschland in allen seinen Teilen, also auf das ganze Deutschland auch jenseits von Oder und Neiße, z. B. am 8. Oktober 1981 und am 9. September 1982, hingewiesen. Dabei habe ich mich auf das Grundgesetz und die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes im Verfassungsgehorsam gestützt. In dem Einigungsvertrag wird im Art. 4 das Wiedervereinigungsgebot aus dem Grundgesetz gestrichen und der Art. 23 mit der Möglichkeit des Beitritts anderer Teile Deutschlands aufgehoben. Diesem Verfahren und Vorhaben der Bundesregierung hat das Bundesverfassungsgericht jedoch in dieser Woche seine Zustimmung gegeben! Das Selbstbestimmungsrecht wird nun nicht mehr für das ganze deutsche Volk gefordert, sondern mit dem Beitritt der DDR für verbraucht erklärt. Die deutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße werden zum Ausland erklärt, und das Selbstbestimmungsrecht unseren dort lebenden Landsleuten nicht mehr zugestanden. Auch die Frage ihrer deutschen Staatsangehörigkeit bleibt offen. Die Entschließung zur Endgültigkeit der von Stalin durchgesetzten Oder-Neiße-Linie als Grenze habe ich am 21. Juni 1990 widersprochen (siehe Anlage 2 des Stenographischen Protokolls der 217. Sitzung). Die Mehrheit hat anders entschieden! Energisch verwahre ich mich gegen den in dieser Entschließung zum Ausdruck gebrachten ausdrücklichen Bezug auf das Görlitzer Abkommen. In seiner 68. Sitzung am 13. Juni 1950, erklärte der Bundestag, vorgetragen vom Alterspräsidenten Paul Löbe (SPD) u. a.: ... Gemäß dem Postdamer Abkommen ist das deutsche Gebiet östlich von Oder und Neiße als Teil der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands der Republik Polen nur zur einstweiligen Verwaltung übergeben worden. Das Gebiet bleibt ein Teil Deutschlands.... Niemand hat das Recht, aus eigener Machtvollkommenheit Land und Leute preiszugeben oder eine Politik des Verzichts zu treiben... . Die Mitwirkung an der Markierung der OderNeiße-Linie als angeblich „unantastbarer" Ostgrenze Deutschlands, ... ist ein Beweis für die beschämende Hörigkeit dieser Stelle gegenüber einer fremden Macht! Wie weit hat sich der Deutsche Bundestag von dieser eigenen Grundsatzerklärung deutscher Außen- und Ostpolitik entfernt! Ist es nun denn wirklich so unvorstellbar, in beharrlichen Verhandlungen mit der polnischen Regierung auch heute noch eine parallele Lösung zum Frankreich-Saarland-Problem angesichts der katastrophalen Lage in allen Bereichen in den Oder-Neiße-Gebieten zu finden oder eine mehr noch europäische konföderale Lösung auszuarbeiten? Es konnte mir troz intensiver Nachfrage nicht versichert werden, daß in den Verhandlungen des Außenministers in den vergangenen Monaten überhaupt der Versuch unternommen worden ist, der aufgrund der KSZE-Vereinbarungen doch möglich gewesen wäre, das Gebot der Wiedervereinigung, auf das uns das Grundgesetz verpflichtet, in bezug auf Ostdeutsch- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 17947* land — auch angesichts der Situation in der Sowjetunion und Polen — überhaupt vorzutragen, weil man eben von vornherein von den realen Machtverhältnissen ausging, so wie viele von der ewigen Zweistaatlichkeit hinsichtlich der DDR ausgegangen sind. Es ist mir trotz intensiver Nachfrage nicht bestätigt worden, daß die Siegermächte expressis verbis von sich aus das angebliche Junktim aufgestellt haben, daß die Vereinigung von West- und Mitteldeutschland nur mit „freiwilligem" Verzicht auf Ostdeutschland ermöglicht werden könne. Ich vertraue jedoch den Versicherungen des Herrn Bundeskanzlers, der diese Forderung als conditio sine qua non bezeichnet hat. Sicherlich sind generelle Vorbehalte gegen Änderungen der Nachkriegsgrenzen im allgemeinen auch mir beim Obersten Sowjet im Kreml in Moskau noch am 12. September 1990 erläutert worden. Ich befürchte aber dennoch, daß das angebliche Junktim zwischen staatlicher Einheit und dem Verzicht auf ein Viertel unseres Vaterlandes aufgrund innenpolitischer Kriterien weitestgehend auch „hausgemacht" ist, insbesondere auch zur Rechtfertigung des Warschauer Vertrages gegenüber den damals und zum Teil heute noch Verantwortlichen! Ich nehme mir das Recht, auf verantwortliche Verhandlungsführer im Außen- und Justizministerium aufmerksam zu machen. Mit Überzeugung bekenne ich mich zum gültigen Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands vom Jahre 1978 und mit der Ziffer 133 zu Deutschland in allen seinen Teilen und zum Selbstbestimmungsrecht des ganzen Deutschen Volkes. Ich habe tiefes Verständnis für viele Heimatvertriebene, die sich enttäuscht fühlen, und teile deren Schmerz. Wie bisher will ich im Geist der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen" vom Jahre 1950 als Demokrat, als überzeugter Europäer in christlicher Gesinnung mich für die Verständigung auch mit dem polnischen Volke einsetzen. Aufrichtige Verständigung aber kann nur auf der festen Grundlage der Wahrheit und der Gerechtigkeit beruhen. Ich befürchte aufgrund der geschichtlichen Erfahrung gerade auch im deutsch-polnischen Verhältnis nach dem ersten Weltkrieg, daß ein Grenzdiktat den Gedanken des Revisionismus von vornherein in sich tragen wird. Ich verweise auf die vielen Reden des im deutsch-polnischen Verhältnis erfahrenen Abgeordneten Prälat Carl Ulitzka aus dem oberschlesischen Ratibor. Die nationalistische-chauvinistische Haltung vieler Polen in Verwaltung und Kirche habe ich bei meinen Gesprächen im vergangenen Jahr in Warschau mit Vertretern der damaligen Regierung, den nun in der Regierung stehenden Vertretern der Solidarnosc und insbesondere mit Kardinal Glemp zu spüren bekommen. In dem Einigungsvertrag mit dem gleichzeitigen Verzicht auf ein Viertel unseres Vaterlandes bleiben völlig offen notwendig verbindliche Regelungen wie z. B. Volksgruppenrechte, das Recht auf die Heimat, Vorschläge zur Lösung der völlig offenen vermögensrechtlichen Fragen. Es steht immer noch aus ein polnisches Schuldanerkenntnis über die begangenen Unrechtstaten durch Massenvertreibung, Massentötungen, Zwangspolonisierungsmaßnahmen und völkerrechtswidrige Annektion. Wie anders sind die Worte gegenüber unseren sudetendeutschen Landsleuten vom Präsidenten und vom Kardinal-Erzbischof aus Prag. Ich erwarte von der Bundesregierung, daß sie bemüht bleibt, die Fehler der für den Abschluß des Warschauer Vertrages verantwortlichen Politiker zu korrigieren und durch vertraglich verbindliche Absprachen die Lebensbedingungen unsere Landsleute in den Oder-Neiße-Gebieten, zu verbessern. Menschenrechte sind unteilbar und müssen auch für alle Deutschen gelten. Es ist beschämend und bedrückend, mit welcher Lieblosigkeit und Herzlosigkeit, ja zum Teil mit widerlicher Gehässigkeit oder auch Lässigkeit — nicht nur in den Medien — das grausame Schicksal der Ostdeutschen behandelt wird. Man wird unsere Landsleute daheim nun völkerrechtlich von uns trennen, unsere Herzen kann niemand trennen, und man wird den heimattreuen Ostdeutschen auch die Heimat nie aus dem Herzen reißen können. Ich bin auch gewiß, daß gerade der Herr Bundeskanzler weiterhin mit uns ihr Fürsprecher bleiben wird. Trotz der Parlamentsmehrheit werden wir die Deutschen daheim nicht im Stich lassen! Wünschenswert ist, daß die Republik Polen möglichst bald in die EG eintreten kann, damit durch Aufhebung des Visumszwanges mit allen Nebenerscheinungen, durch Gewährung der Niederlassungsfreiheit und durch Beachtung und Respektierung des Europäischen Gerichtshofes ein neues Kapitel in den deutschpolnischen Beziehungen aufgeschlagen werden kann und diese Unrechts-Grenze demnach Brückenfunktion erhält. Bezüglich der Beurteilung der vermögensrechtlichen Fragen schließe ich mich der Erklärung meines Kollegen von Schmude an. Auch der Hinweis meiner Kollegen Dr. Czaja und Dewitz auf die ungelösten Entschädigungsfragen der Vertriebenen in der DDR findet meine Zustimmung. Die vermögensrechtlichen Regelungen entsprechen nicht meinem Gerechtigkeitsempfinden, und ich befürchte Schaden für den Rechtsfrieden in unserem Lande. Auch hier erhoffe ich mir von der Bundesregierung entscheidende Verbesserungen. Um die Vereinigung der nunmehr beiden freien Teile Deutschlands nicht zu behindern, stimme ich mit großem Bedenken dem Einigungsvertrag zu mit der Hoffnung, daß im deutsch-polnischen Bereich mit neuen Verantwortlichen in Warschau in europäischer Zielrichtung und auf dem Fundament von Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit für alle beteiligten Volksgruppen Lösungsmöglichkeiten gesucht, erarbeitet und durchgesetzt werden. Erklärung des Abgeordneten Schemken (CDU/CSU) : Ich stimme dem Einigungsvertrag unter großen Bedenken zu, weil ich den Weg zur Deutschen Einheit mit den einmaligen Chancen, insbesondere für die 17948* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 Entwicklung des geeinten Deutschlands in Frieden, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, unterstützen möchte. Ich erkläre jedoch zugleich, daß ich mit der Fassung des Art. 31 nicht einverstanden bin. Das Vertragswerk wird dem moralischen und verfassungsrechtlich gebotenen Schutz des werdenden Lebens nicht gerecht. Für mich ist Leben unteilbar und kann nach meiner Auffassung von Ethik und Moral durch kein auch noch so gesetzlich begründeten Kompromiß in Frage gestellt werden. Die Bedeutung des Art. 4 in der zukünftigen Fassung der Präambel „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen" verpflichtet uns, das unteilbare Gut des Lebens unter keiner Bedingung zur Disposition zu stellen. Zwar sieht Art. 31 Abs. 4 eine Übergangsregelung und die Verpflichtung, sofort „ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen" zur Beratung zum Leben in der ehemaligen DDR einzurichten, vor, aber es bleiben für mich nach wie vor die Bedenken, die durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Schwangerschaftsabbruch belegt sind. Die eng eingegrenzte Übergangsregelung kann dann nur vertreten werden, wenn wirklich zum Erhalt des Lebens geraten und geholfen wird. Dabei ist auch die jetzige Indikationsregelung in der Bundesrepublik nach der Einigung durch den Gesetzgeber zwingend zu verbessern. Dies sieht Art. 31 Abs. 4 unmißverständlich vor. Dies gilt eben auch für Indikationsregelung. Nur unter dieser Beschreibung und ausdrücklich verbesserter Hilfen für schwangere Frauen ist die Übergangsregelung unter großen Bedenken für mich erträglich. Erklärung der Abgeordneten von Schmude, Dr. Olderog, Engelsberger, Dörflinger, Kroll-Schlüter, Würzbach, Eigen, Hedrich, Harries, Schulze (Berlin), Lattmann, Wilz, Dr.-Ing. Kansy, Maaß, Dr. von Wartenberg, Kossendey, Graf von Waldburg-Zeil, Nelle, Dr. Wulff, Freiherr Heereman von Zuydtwyck, Frau Dempwolf, Dr. Sprung, Frau Hoffmann (Soltau), Dr. Müller, Dr. Köhler (Wolfsburg), Frau Fischer, Freiherr von Schorlemer, Clemens, Eylmann, Kalisch, Dr. Warrikoff, Dr. Meyer zu Bentrup, Hornung, Krey, Spranger, Dr. Stercken, Dr. Unland, Zeitlmann, Tillmann, Gerstein, Link (Diepholz), Dr. Vondran, Dr. Dollinger, Dr. Jenninger, Dr. Mahlo, Müller (Wadern), Bayha, Brunner, Schartz (Trier), Susset, Michels, Frau Geiger, Lintner, Lummer, Glos, Gröbl, Dr. Grünewald, Rossmanith, Regenspurger, Lowack, Hinsken, Dr. Voigt (Northeim), Borchert, Dr. Schroeder (Freiburg), Zierer, Rauen, Sauer (Salzgitter), Dr. Schneider (Nürnberg) (alle CDU/CSU) : Die im Einigungsvertrag vorgesehene Aufnahme eines neuen Art. 143 Abs. 3 in das Grundgesetz sowie die damit verbundene Anerkennung der sogenannten Bodenreform lehnen wir ab. Da nur über den Einigungsvertrag als Ganzes abgestimmt wird und wir nicht durch ein negatives Stimmverhalten die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands gefährden wollen, geben wir diese Erklärung zu Protokoll: Unser Grundgesetz garantiert in Art. 14 den Schutz des Eigentums: „Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt." Durch die Aufnahme des Art. 143 Abs. 3 in das Grundgesetz und durch Art. 41 des Einigungsvertrages in Verbindung mit der gemeinsamen Erklärung der beiden Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik wird ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet. Die unterschiedliche Behandlung von Geschädigten während der Zeiträume 1945 bis 1949 und 1950 bis dato verstößt auch gegen das Gleichheitsgebot. (Art. 3 GG). Die von 1945 bis 1949 in der damaligen SBZ durchgeführte Bodenreform hatte keine Rechtsgrundlage. Vielmehr handelte es sich um politisch motivierte Willkürakte. Als Aufgabe der Bodenreform wurde genannt: „ 1. Die Liquidierung des feudal-junkerlichen Großbesitzes und die Beendigung der Herrschaft der Junker und Großbesitzer im Dorfe, weil diese Herrschaft immer eine Bastion der Reaktion und des Faschismus in unserem Lande darstellte und eine der Hauptursachen der Aggression und der Eroberungskriege gegen andere Völker war. 2. die Erfüllung des jahrhundertealten Traumes der landlosen und landarmen Bauern nach Übergabe des Großgrundbesitzes in ihre Hände. " Es stellt eine nachträgliche Verhöhnung von Widerstandskämpfern des 20. Juli 1944 dar, daß auch ihr Eigentum durch die Bodenreform entschädigungslos enteignet wurde. Von den mehr als 11 000 enteigneten Höfen hatten rund 4 300 eine Betriebsgröße von unter 100 ha. Vertrieben, inhaftiert und enteignet wurde jeder, der der kommunistischen Diktatur im Wege stand. Die Väter unseres Grundgesetzes ließen sich auf Grund unserer geschichtlichen Erfahrung von den Grundsätzen leiten: Nie wieder darf Macht vor Recht gehen und: Auf altes Unrecht darf kein neues Unrecht geschehen. Eine wie auch immer geartete Anerkennung der mit brutaler Gewalt erzwungenen Bodenreform lehnen wir aus moralischen, rechtlichen und politischen Gründen ab. Ein gesamtdeutsches Parlament muß deshalb nicht nur eine angemessene Entschädigung durch Ausgleichszahlungen und/oder Landrückgabe an die durch die Bodenreform Betroffenen sicherstellen, sondern auch den Art. 143 Abs. 3 unseres Grundgesetzes aufheben, weil dieser nicht mit Art. 14 zu vereinbaren ist. Erklärung des Abgeordneten Dr. Schwörer (CDU/CSU): Ich stimme dem obigen Gesetz zu. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 17949* 1. Ich tue dies mit größtem Bedenken, weil in dem Gesetz die Fortgeltung der Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch für eine begrenzte Zeit enthalten ist. Ich verbinde mit meiner Entscheidung die feste Hoffnung, daß im gesamtdeutschen Parlament eine Lösung für den Schwangerschaftsabbruch gefunden wird, der die Fristenregelung auf dem Gebiet der früheren DDR beseitigt und die Indikationsregelung, die heute in der Bundesrepublik praktiziert wird, entscheidend im Sinne des Schutzes ungeborenen Lebens verbessert. 2. Ebenso verbinde ich mit meiner Zustimmung die Hoffnung, daß in den Eigentumsfragen in der früheren DDR eine Regelung gefunden wird, die dem hohen Rang des Eigentums gerecht wird. 3. Die Anerkennung unserer Ostgrenze verbinde ich mit der Erwartung, daß in einem Staatsvertrag mit Polen die Rechte der deutschen Minderheit gesichert werden. Dazu gehört auch das Heimatrecht der Heimatvertriebenen. Erklärung des Abgeordneten Dr. Todenhöfer (CDU/CSU) : Die Wiedervereinigung zweier Teile Deutschlands ist für mich das bewegendste Erlebnis meiner parlamentarischen Laufbahn. Ich begrüße sie aus ganzem Herzen und mit tiefer Freude. Um sie nicht zu gefährden, werde ich dem vorliegenden Einigungsvertrag zustimmen, obwohl ich vor allem in zwei Punkten erhebliche Vorbehalte habe: Erstens. Mit der Fortgeltung der Fristenregelung auf dem Gebiet der DDR, verbunden mit dem „Tatortprinzip", wird der ohnehin geringe Schutz ungeborener Kinder weiter ausgehöhlt. Die Bundesrepublik Deutschland entzieht damit ohne Not ungeborenen Kindern verfassungsmäßige Rechte und gibt sie zur Tötung frei. Das Abtreibungsproblem darf — das haben viele Frauen zu Recht immer wieder betont — nicht über die Köpfe der Frauen hinweg geregelt werden. Aber es darf auch nicht über die Köpfe der Kinder hinweg geregelt werden. Dies ist im Einigungsvertrag jedoch leider geschehen. Der Sozialstaat muß sich in erster Linie den Schwachen und Wehrlosen zuwenden. Es gibt nichts Wehrloseres als das ungeborene Kind. Der Rechtsstaat hat die Pflicht, jede Art menschlichen Lebens mit all seinen Instrumenten, auch mit dem Strafrecht, zu schützen. Kann sich ein Staat, der Abtreibungen bewußt zuläßt, wirklich Rechtsstaat und Sozialstaat nennen? Im Einigungsvertrag wird die einmalige Chance versäumt, mehr Menschenrechte in ganz Deutschland zu verwirklichen. Der Vertrag hätte dazu genutzt werden müssen, ein klares Signal für das Leben zu geben und mit der gegenwärtigen Abtreibungspraxis Schluß zu machen — im Osten mit der Fristenregelung, im Westen mit der verkappten Fristenregelung, die zu Unrecht den Namen „Notlagenindikation" trägt. Ich hoffe, daß das erste gesamtdeutsche Parlament diese schlimme Fehlleistung des Einigungsvertrages korrigieren wird. Wir sollten dabei werdenden Müttern in schwieriger sozialer Lage viel energischer helfen als bisher und endlich auch unseren Dünkel gegenüber ledigen Müttern aufgeben. Zweitens. Für die endgültige Festschreibung der Oder-Neiße-Linie als Grenze gilt der klassische Satz: Nichts ist geregelt, was nicht gerecht geregelt ist. Die Teilstaaten Bundesrepublik Deutschland und der DDR haben nicht das Recht, die gewaltsame Abtrennung Schlesiens, Oberschlesiens, Ostbrandenburgs, Pommerns und Ostpreußens vertraglich festzuschreiben. Sie haben nicht das Recht, auf 25 Prozent des deutschen Reichsgebiets vor(!) Hitlers Gewaltmaßnahmen zu verzichten, ohne den gesamtdeutschen Souverän und die betroffenen Bevölkerungsgruppen z. B. durch ein Referendum auch nur zu fragen. Ein Beitrag zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrecht der Deutschen ist dieses Vorgehen nicht. Nicht einmal die Sieger von 1945 maßten sich an, Polen den Erwerb der Gebiete östlich von Oder und Neiße zu ermöglichen. Warum eigentlich sollte unsere Rechtsposition 1990 schlechter sein als 1945? Den Frieden und die europäische Einigung darf man auch heute nicht auf stalinistischem Unrecht aufbauen. Der Einigungsvertrag verringert auch die Chance, in Verhandlungen mit der polnischen Regierung wenigstens echte Volksgruppenrechte für die unter polnischer Staatsgewalt lebenden Deutschen zu erreichen. Nicht einmal das hat die Bundesrepublik Deutschland erreicht. Die Behauptung der Befürworter der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, eine deutsche Wiedervereinigung sei nur um den Preis der Aufgabe der deutschen Ostgebiete erreichbar gewesen, ist im Grunde eine Unterstellung gegenüber den Vier Mächten. Will man damit etwa behaupten, die USA, Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion hätten Fallschirmjäger gegen Deutschland eingesetzt, wenn die Deutschen sich nach Art. 23 unseres Grundgesetzes wiedervereinigt hätten, ohne auf die Oder-Neiße-Gebiete zu verzichten? Die deutsche Wiedervereinigung ist nicht von den Politikern herbeigeführt worden. Die Wiedervereinigung wird Wirklichkeit, weil die Menschen in der DDR in großer Geschlossenheit für sie gekämpft haben und weil die sowjetische Führung ihren Soldaten befahl, in den Kasernen zu bleiben. Die Politiker hatten im Kern nur zwei große kontroverse Probleme zu lösen: die Oder-Neiße-Frage und die Abtreibungsfrage. Die deutsche Politik ist in beiden Fällen den Weg des geringsten Widerstandes gegangen. Ich befürchte, daß wir mit dieser opportunistischen Haltung unserer Verantwortung vor der Geschichte nicht gerecht werden. Erklärung des Abgeordneten Windelen (CDU/CSU): Dem „Einigungsvertragsgesetz" kann ich aus schwerwiegenden Gründen nicht zustimmen. Das bedrückt mich, weil mein ganzes politisches Wirken in den 33 Jahren meiner Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag als Schlesier und als Vertreter der Kriegs- 17950* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn. Donnerstag, den 20. September 1990 generation von dem Auftrag unseres Grundgesetzes und vom Streben bestimmt war, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden, dem Frieden der Welt und der Verständigung mit unseren Nachbarn zu dienen. Der Politik des Bundeskanzlers ist es zu danken, daß nunmehr die Wiedervereinigung mit den Deutschen in der ehemaligen DDR in Frieden und Freiheit möglich geworden ist. Doch ich bedauere, daß damit die Anerkennung der polnischen Westgrenze verbunden wurde, ohne daß gleichzeitig eine umfassende und verbindliche Regelung des deutsch-polnischen Verhältnisses, der Rechte der Deutschen im polnischen Machtbereich, des Heimatrechtes der Vertriebenen, der Anerkennung des Unrechtes von Vertreibung und Annektion und der materiellen Fragen erreicht wurde. Dies wird die künftigen Beziehungen zwischen Deutschen und Polen belasten. Die 150 Kriege und kriegerischen Auseinandersetzungen in aller Welt seit 1945 bis in unsere Tage mit über 50 Millionen Toten und weit mehr Vertriebenen mahnen uns, die schwierigen Probleme zwischen den Völkern in Geduld einem vernünftigen und gerechten Ausgleich zuzuführen, statt sie auf die nächste Generation abzuladen. Vor allem gilt es, einer Präzedenzwirkung entgegenzutreten, daß Vertreibung lohne und eine genügend lange Aufrechterhaltung von Unrecht Recht schaffen könne. Gewiß hat schon der deutsch-polnische Vertrag von 1972 den Spielraum der Bundesregierung begrenzt. Weil ich dies befürchtete, hatte ich diesem Vertrag damals meine Zustimmung versagt. Ich kann heute nicht Regelungen zustimmen, die ich schon vor 18 Jahren befürchtet und vor denen ich schon damals gewarnt habe. Mich bedrückt auch das Unverständnis und die Lieblosigkeit, mit der manche Politiker über das Schicksal von Millionen Heimatvertriebenen hinweggehen, die stellvertretend für das ganze Volk die schwersten Opfer gebracht haben, obschon sie an den Verbrechen des Dritten Reiches nicht mehr Verantwortung trugen als alle Deutschen. Ein erzwungenes Opfer zu Lasten Dritter aber kann nicht zum Ausgleich führen, und ein erzwungener Verzicht kann Polen nicht die notwendige Sicherheit geben, die es auf seinem Weg in ein freies Europa der Menschenrechte und der Selbstbestimmung braucht. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zu Punkt 6a und b der Tagesordnung (Umwelthaftungsgesetz, Antrag zur Reform des Umwelthaftungsrechts) Grünbeck (FDP): Auch im Namen des Kollegen Dieter-Julius Cronenberg erkläre ich gemäß § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zum Umwelthaftungsgesetz: Die Anhörung zum Umwelthaftungsgesetz hat erhebliche Zweifel an der Praktikabilität dieses Gesetzes ergeben. Mit der ungeklärten Frage der Versicherbarkeit von Schäden aus genehmigtem, störungsfreien Normalbetrieb, der sogenannten Ursachenvermutung für eine Anlage, die geeignet ist, einen entstandenen Schaden zu verursachen, und der Haftung auch für Entwicklungsrisiken werden Innovationen behindert, der Wirtschaft enorme Kosten aufgebürdet und insbesondere kleine und mittlere Unternehmen mit völlig unkalkulierbaren Risiken belastet. Wir sehen uns daher nicht in der Lage, dem Entwurf zuzustimmen. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 9 (Gesetz zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes) Keller (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Verbesserung des Vermögensschutzes in der Sozialhilfe, die wir heute unter dem Stichwort „Schutz des kleinen Hausgrundstückes" behandeln, geht bereits auf eine Gesetzesinitiative des Freistaates Bayern aus dem Jahre 1986 zurück, dem sich die übrigen Länder in einem gemeinsamen Gesetzesentwurf des Bundesrates angeschlossen haben. Lassen Sie mich die Problematik an Hand eines geläufigen Beispiels nochmals darstellen: Eine Familie mit einem behinderten Kind entschließt sich auf Grund der besonderen Wohnungsprobleme für diesen Personenkreis, ein eigenes, bescheidenes Haus zu bauen. Hier geht es in erster Linie nicht darum, Vermögen zu bilden, sondern geeigneten Wohnraum zu schaffen. Über Jahre muß eisern jede Mark gespart werden, die Familie muß in vielem zurückstecken. Dies gilt besonders für Familien, bei denen ein Elternteil zugunsten der notwendigen Betreuung eines behinderten Kindes von vornherein auf eine Berufstätigkeit verzichtet. Dann ist es geschafft, das notwendige Geld angespart und endlich das Eigenheim gebaut. Was passiert aber, wenn die Familie nach all den Entbehrungen in eine finanzielle Notlage gerät, und auf Sozialhilfe angewiesen ist? Nun droht auch noch der Verlust des Eigenheims. Noch aber kommt es entscheidend darauf an, wo die Familie wohnt. Liegt ihr Familienheim auf einem Grundstück an der Werra oder an der Leine, hatte es bislang noch beste Aussichten, angesichts des niedrigen Verkehrswertes als Schonvermögen behandelt zu werden. Beim gleichen Familienheim an der Isar oder an der Spree gelegen führt kein Weg daran vorbei, daß die Hilfesuchenden ihr Häuschen erst „aufbrauchen" müssen, bevor die Sozialhilfe greift. Das heißt, sie muß ihr Eigenheim verkaufen. Ich begrüße, daß diese soziale Härte nunmehr beseitigt wird. Weg vom „Verkehrswert" hin zur „Angemessenheit" eines Hausgrundstückes im Falle häusli- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 17951* cher Pflege ist ein erster Schritt. Dabei wird in gleicher Weise den Belangen der Pflegefamilien wie den Grundsätzen der Sozialhilfe Rechnung getragen: Häusliche Pflege von Behinderten, Schwerkranken und alten Menschen ist in der Regel jeder Heimunterbringung vorzuziehen. Dabei bedeutet die Familienpflege für die Sozialhilfeträger eine wesentliche finanzielle Entlastung, die durch eine großzügigere Regelung bei der Beurteilung des Schonvermögens sicher kompensiert werden dürfte. Allerdings muß ich hier einfügen, daß ich hierin nur einen Einstieg für die nächste Legislaturperiode sehen kann. Angesichts des Widerstandes unseres Koalitionspartners mußte der weitergehende Entwurf des Bundesrates leider für die nächste Legislaturperiode zurückgestellt werden. Ich meine, die veränderte Wohnungssituation, der Anstieg des Wohngeldes, das zumindest indirekt auch mit zum Anstieg der Mietpreise beitragen dürfte, und der sozialrechtliche Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe gebieten, hier weitergehende Überlegungen — wie von bayerischer Seite vorgeschlagen — in die Tat umzusetzen. Froh bin ich, daß wir die Altersvoraussetzung von einem Jahr für den Anspruch auf Blindenhilfe mit dem heutigen Änderungsantrag ebenfalls gestrichen haben. Damit werden Maßnahmen zur Förderung eines blinden oder schwer hirngeschädigten Kindes bereits ab Geburt wenigstens finanziell unterstützt. Lassen Sie uns das System der Sozialhilfe weiterhin immer wieder kritisch durchleuchten, den geänderten Verhältnissen anpassen und Fehlentwicklungen entgegensteuern, um gezielt dort Unterstützung zu geben, wo sie wirklich notwendig ist! Frau Seuster (SPD): Stellen Sie sich einmal vor, Sie fielen bei einer Schiffsreise bei Sturm oder Seegang ins Wasser. Der Kapitän des Schiffes verspricht, Ihnen zu helfen. Er streitet sich aber mit seinen Offizieren, ob der Rettungsring der Ihnen zugeworfen werden soll, die richtige Größe hat oder ob er vielleicht eine Nummer kleiner sein darf. Der Streit zieht sich hin. Sie werden immer schwächer und können sich schließlich nicht mehr über Wasser halten. Das Thema ist damit für Kapitän und Offiziere erledigt. Das Schiff fährt weiter. Die Situation des Schiffbrüchigen entspricht derjenigen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, die z. B. behinderte Kinder oder pflegebedürftige Angehörige zuhause betreuen oder die selbst pflegebedürftig sind. Die Sozialhilfe, um die es heute abend geht, ist angelegt, als Hilfe zur Selbsthilfe. Das bedeutet gleichzeitig, daß derjenige der sich noch mit eigenen Mitteln aus einer Notlage befreien kann, keine Sozialhilfe erhält. Soweit Vermögen vorhanden ist, muß es verwertet werden, bevor die Sozialhilfe einsetzen kann. Von diesem Grundsatz, der richtig und vernünftig ist, gibt es aber Ausnahmen: Unter anderem darf die Gewährung von Sozialhilfe nicht abhängig gemacht werden vom Einsatz oder der Verwertung eines kleinen Hausgrundstücks, besonders eines Familienheims, wenn der Hilfesuchende das Hausgrundstück allein oder zusammen mit Angehörigen, denen es nach seinem Tode weiter als Wohnung dienen soll, ganz oder teilweise bewohnt. So lautet der Text im § 88 des Bundessozialhilfegesetzes, um den es heute abend geht, ein Text, der auf den ersten Blick ganz klar und eindeutig erscheint. Der Teufel steckt aber bekanntlich im Detail. Ganze Heerscharen von Juristen haben sich über Jahrzehnte über die spannende Frage auseinandergesetzt, welches Hausgrundstück denn nun als klein oder als nicht mehr klein zu bezeichnen ist. Es geht also im übertragenen Sinne um die Größe des Rettungsrings, den ich eingangs erwähnte. Der Unterschied ist, daß die Betroffenen diese Spannung überhaupt nicht lustig finden. Wie würden Sie sich denn fühlen, wenn Sie ständig damit rechnen müßten, daß Ihnen der Helfer den Rettungsring klaut, weil er meint, er sei zu groß? Heute abend haben wir in den nächsten 30 Minuten darüber zu entscheiden, ob wir einen Weg einschlagen, der zu mehr sozialer Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft führt, oder ob wir unbeirrt den von dieser Bundesregierung betriebenen Marsch in die Zweidrittelgesellschaft fortsetzen. Das Ziel des uns vorliegenden Gesetzentwurfs des Bundesrates die Stärkung der Selbsthilfemöglichkeiten Sozialhilfebedürftiger. Die Tragfähigkeit des Rettungsringes soll verbessert werden. Unsere Aufgabe ist es zu prüfen, ob dieses Ziel mit der Beschlußempfehlung des federführenden Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit erreicht werden kann. Wir sind der Auffassung, daß genau dies nicht der Fall ist. Auf die Einzelheiten komme ich anschließend im Zusammenhang mit der Erläuterung des von uns eingebrachten Änderungsantrages zurück. Zuvor gestatten Sie mir bitte einige Bemerkungen zum bisherigen Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens. Es ist wahrhaft bemerkenswert. Der Weg dieses Gesetzentwurfes durch die Institution der bundesdeutschen Gesetzgebung ist lang, so lang, daß er nur noch als Leidensweg zu bezeichnen ist. Die Vorgeschichte beginnt, formal betrachtet, am 1. Juni 1987. Dieses Datum trägt die uns vorliegende Bundestagsdrucksache 11/391. Der Ursprung der Idee, den Vermögensschutz Sozialhilfebedürftiger zu verbessern, liegt jedoch viel weiter zurück. Bereits 1980 hatte der Deutsche Bundestag einvernehmlich, also auch mit den Stimmen der heutigen Koalition, mit der damaligen 4. Novelle zum Bundessozialhilfegesetz eine ähnliche Verbesserung der Schutzvorschriften beschlossen. Dieses Gesetz scheiterte damals im Vermittlungsverfahren zwischen Bundestag und Bundesrat, in dem die Union die Mehrheit hatte. Sechs Jahre später, im Sommer 1986, beschloß der Bundesrat einvernehmlich unter Umkehrung seiner bisherigen Position die Einbringung eines Gesetzentwurfs, der mit dem uns heute vorliegenden Entwurf identisch war. Der Initiator dieses Bundesratsbeschlusses war — hier wende ich mich besonders an die Kollegen und Kolleginnen von der CSU, weil sie es vielleicht schon vergessen haben — der Freistaat Bayern. Die Vorlage trug die Unterschrift von Franz Josef Strauß. Die erste Lesung des damaligen Ent- 17952* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 wurfs mit der Drucksachennummer 10/5842 fand im Deutschen Bundestag am 24. September 1986 statt. Mein inzwischen aus dem Deutschen Bundestag ausgeschiedener Fraktionskollege Lothar Witek, der damals für die SPD den Gesetzentwurf betreute, hatte offenbar die richtige Vorahnung. Er äußerte in der ersten Lesung die Befürchtung, die Bundesregierung werden den angestrebten Verbesserungen nur unter Bedingungen zustimmen, die die Absicht des Entwurfs in ihr Gegenteil verkehren würden. Zu dieser Auffassung veranlaßte ihn die windelweiche, wenig substantiierte Stellungnahme der Bundesregierung, der außer dem Hohen Lied vom Mißbrauch nicht viel zu dem Gesetzentwurf eingefallen war. Die Ausschußberatungen im 10. Deutschen Bundestag wurden erfolgreich verschleppt; der Entwurf verfiel der Diskontinuität. Zum allgemeinen Erstaunen in der Fachöffentlichkeit brachte der Bundesrat, wiederum auf Initiative des Freistaats Bayern, den Gesetzentwurf in der 11. Legislaturperiode wieder ein. Es wiederholte sich das gleiche Spiel. Die Bundesregierung machte Bedenken geltend, ohne sie näher zu konkretisieren. Zwei Jahre dauerte es, bis der Entwurf in erster Lesung ohne Debatte den Ausschüssen überwiesen werden konnte. Dort setzte sich der hinhaltende Widerstand der Bundesregierung fort. Obwohl sie außer ein paar dürftigen, konstruierten Beispielen möglicher sogenannter Mißbrauchsfälle ihre artikulierten Bedenken noch immer nicht konkretisierte, kam der Ausschuß überein, denkbare Schwierigkeiten in interfraktionellen Gesprächen aus dem Weg zu räumen. Auf eine Einladung zu einem solchen Gespräch warten wir noch heute. Erst nach unserer Ankündigung, einen Zwischenbericht nach § 62 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung zu beantragen, legte die Koalition am 6. September 1990, also fast ein Jahr nach der ersten Ausschußberatung, einen Änderungsantrag auf den Tisch, der den ursprünglichen Gesetzentwurf bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Aus dem Umstand, daß die FDP bereits im Sommer mit genau diesem Antrag bei Verbänden hausieren ging, ohne allerdings die deutliche Abfuhr zu erwähnen, die ihr dabei erteilt wurde, ist zu schließen, daß Ihr Antrag auf dem Mist der FDP gewachsen ist. Insgesamt eine taktische Meisterleistung, die zu loben mir verständlicherweise schwerfällt! Die auf der Grundlage des Änderungsantrags der Koalition nunmehr beschlossene Empfehlung des Ausschusses weicht vom Gesetzentwurf des Bundesrates, den wir von Beginn an unterstützt haben, in wesentlichen Punkten ab: Erstens. Der jahrzehntelange Streit über den Begriff des sogenannten kleinen Hausgrundstücks sollte durch eine bundeseinheitliche Definition unter Bezugnahme auf das 2. Wohnungsbaugesetz beendet werden, und zwar generell für alle Sozialhilfeempfänger. Nach der vom Ausschuß beschlossenen Fassung soll nur für Blindengeldempfänger und für Empfänger für Hilfe zur Pflege, also für einen wesentlich kleineren Personenkreis, bei der Beurteilung der sozialhilferechtlichen Verwertbarkeit ihres Grundstückes der Verkehrswert außer Betracht bleiben. Damit fällt eine wesentliche Zielgruppe des ursprünglichen Bundesratsantrags, nämlich die Eltern behinderter Kinder, die Eingliederungshilfe nach den §§ 39 ff. BSHG erhalten, aus dieser Gesetzgebung heraus. Dies halten wir für nicht hinnehmbar. Zweitens. Der sozialhilferechtliche Schutz des Familienheims oder der Wohnung sollte auch auf die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 2 und des § 28 des Bundessozialhilfegesetzes erstreckt werden, also auf diejenigen nahen Angehörigen, die dem Bedürftigen besonders eng verbunden sind. Dieser Vorschlag ist in den Ausschußberatungen mit dem lapidaren Hinweis auf „durchgreifende systematische Bedenken" vom Tisch gewischt worden. Unbeantwortet, zumindest nicht überzeugend beantwortet bleibt die Frage, wie die systematischen Bedenken im einzelnen begründet werden. Zweifelhaft bleibt, ob die Länder, die diesen erweiterten Schutz selbst vorgeschlagen haben, diese Änderung akzeptieren können. Denn die Länder, denen eine übertrieben großzügige Handhabung des Vermögensschutzes bisher nicht unbedingt vorgeworfen werden kann, haben offenbar erkannt, daß Hilfe zur Selbsthilfe immer dann besonders kontraproduktiv wirkt, wenn sie zu gering ist. Wer in der Sozialhilfe nicht klotzt, solange noch Zeit ist, sondern kleckert und kürzt, produziert die Sozialhilfebedürftigen von morgen. Drittens. Vermögen, das der Beschaffung oder Herstellung eines Familienheimes dienen soll, so in der Regel Bausparvermögen, sollte nach dem Bundesratsvorschlag in das sozialhilferechtliche Verwertungsverbot einbezogen werden. Auch dieser Punkt richtete sich insbesondere auf die Verbesserung der Situation von Eltern mit behinderten Kindern. Einen solchen Schutz gab es übrigens bereits in der Zeit vor dem 2. Haushaltsstrukturgesetz. Auch dieser Vorschlag wurde im Ausschuß mit der geradezu abenteuerlichen Begründung abgeschmettert das Nachrangprinzip der Sozialhilfe würde damit „in bisher nicht gekanntem Maße durchbrochen" . Davon kann schon deswegen nicht die Rede sein, weil der sozialhilferechtliche Schutz von Bausparvermögen in der Fassung vor dem 2. Haushaltsstrukturgesetz von 1981 weiterging als in der jetzt vom Bundesrat vorgeschlagenen Fassung. Bei dieser Gelegenheit erinnere ich daran, daß nicht die SPD, sondern die CDU mit ihrer damaligen Bundesratsmehrheit über das Vermittlungsverfahren das sozialhilferechtliche Kleinholz angerichtet hat, dessen Folgen Sozialhilfeempfänger noch heute zu spüren bekommen. Zusammenfassemd ist festzustellen, daß die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zu diesem Gesetzentwurf alle drei im Vorblatt genannten Zielsetzungen nicht erfüllt. Deshalb beantragen wir mit unserem Änderungsantrag, der ihnen vorliegt, die Ursprungsfassung der Drucksache 11/391 soweit wie irgend möglich wieder herzustellen. Stimmen Sie unserem Änderungsanträg zu und beenden Sie das unwürdige Hickhack zu Lasten derer, die in irgendeiner Form auf Sozialhilfe angewiesen sind. Das jahrzehntelange Spiel über die Bande, bei dem sich Bundestag und Bundesrat gegenseitig die Verantwortung zuschieben, muß endlich aufhören. Insbesondere die Damen Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 17953* und Herren von der CSU sollten sich darüber im klaren sein, daß es ihrer Partei nicht besonders hilfreich sein würde, wenn drei Wochen vor der Landtagswahl in Bayern die CSU im Deutschen Bundestag mit ihrem Abstimmungsverhalten eine Initiative des Freistaats Bayern, die zudem auch noch vernünftig ist, zum Scheitern brächte. Der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit wird die sozialdemokatische Fraktion ihre Zustimmung nicht geben können. Frau Walz (FDP): Kinder sind nicht nur unsere Nachfolger im Leben, sondern Kinder sind auch Freude, Anlaß für Prüfung und Leid. Dies gilt für gesunde Kinder gleichermaßen wie für kranke und behinderte. Behinderte Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ihre Familien brauchen unsere persönliche Hilfe und Fürsorge. Sie brauchen mehr als nur die kalte Anteilnahme von Gesetzen nach der zwar richtigen aber menschlich unvollkommenden Feststellung: Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Menschen sind dann nicht vor dem Gesetz gleich, wenn ihre besonderen Lebensverhältnisse von vorneherein ungleich sind. Dies trifft für Familien mit Behinderten zu. Für Familien mit Behinderten hat z. B. die Wohnung, hat das Haus einen besonderen Wert. Ihre Behausung ist Lebensraum in dem ein Behinderter und seine Familie normal leben können. Ich brauche dies im einzelnen nicht näher erklären, weil uns alle die beschämenden Vorfälle in Erinnerung sind, wo Nachbarn sich gegen Behinderte in ihrer Umgebung wehren oder Familien mit einem Behinderten als Mieter überhaupt nicht in Betracht kamen und kommen. Über das Schicksal der Mütter, die ein Leben lang bei häuslicher Pflege mit ihrem Leben einstehen, ist viel zu wenig bekannt. Ich hoffe, wir haben uns unser Einfühlen und Mitfühlen mit diesen Müttern bewahrt. Diese Mütter können nicht arbeiten. Sie sind ausschließlich für ihr Kind da. Für sie gilt nicht Wahlfreiheit zwischen Beruf und Familie, für sie gilt nicht Selbstverwirklichung, für sie gilt nicht das Verdienen eines Zubrotes. Für sie verlief die Rentenbiographie bisher schlecht. Wenn Familien mit behinderten Kindern bei häuslicher Betreuung ein Pflegegeld beziehen wollen, dann hält sich nach der bisherigen Regelung des BSHG das Sozialamt schadlos an Grundeigentum und Spaniermögen. Bei stationärer Pflege zahlt der Sozialhilfeträger klaglos. Geschützt wurde bisher lediglich das sogenannte kleine Hausgrundstück. Was ein kleines Hausgrundstück wert ist, definierten inzwischen die Ländern nach sehr unterschiedlichen Kriterien. Angesichts der davongelaufenen Grundstückspreise und Baukosten — vor allem in den Ballungsgebieten — häufiger an den Realitäten vorbei, wie Gerichtsurteile belegen. Dies ist mit ein Grund für den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf. Aber nicht nur Vereinheitlichung und Freistellung vom Zugriff des Sozialamtes für Menschen in besonderen Lebenslagen machen unser Handeln nötig. Auch angespartes Vermögen zur Beschaffung oder Erhaltung eines Familienheimes muß wieder geschont werden. Für uns ist es einsichtig, daß in einer Zeit der Wohnungsnot und der ständig steigenden Mieten vor allem Familien mit jungen behinderten Angehörigen zur Wohnraumbeschaffung nur der Weg über das Eigentum übrigbleibt. Die Kriterien für die Freistellung des angesparten Vermögens driften ebenfalls erheblich auseinander und führen zu Verärgerung und Unverständnis, ja zu Zorn und Resignation bei den Betroffenen. Mit dem Schutz des Vermögens, das nachweislich zur alsbaldigen Beschaffung oder Erhaltung eines Hausgrundstückes dient, werden Härten und Ungerechtigkeiten beseitigt. Theoretisch kann ich die Bedenken derjenigen Kolleginnen und Kollegen verstehen,die darin einen Systembruch in der Sozialhilfe sehen. Die Mehrheit meiner Fraktion meint jedoch, daß eine menschenwürdige Lebensführung einen höheren Rang hat. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zum Zusatztagesordnungspunkt 11 (Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts) Zeitlmann (CDU/CSU): Die Bundesrepublik Deutschland hat in den vergangenen Jahren ein stetiges Anwachsen der Asylbewerberzahlen zu verzeichnen. Hauptursache für den hohen Zugang an Asylbewerbern ist unbestreitbar der Sogeffekt, der von der wirtschaftlichen Prosperität Westeuropas und insbesondere der Bundesrepublik Deutschland ausgeht. Politische Verfolgung als Fluchtmotiv hat bei einer Anerkennungsquote zwischen 3 und 5 % fast nur noch marginale Bedeutung. Zu den hohen Zugängen von Asylbewerbern in diesem Jahr hat auch die Liberalisierung des Reiseverkehrs in den osteuropäischen Staaten beigetragen. Die hohen Zugänge sind weiter Folge des allgemein wachsenden Reiseverkehrs. Sie haben ferner ihre Ursache in den weltweit zu verzeichnenden Flüchtlings- und Wanderungsbewegungen, die — erleichtert durch moderne Massentransportmittel — bis nach Europa und in die Bundesrepublik Deutschland reichen. Das macht es erforderlich, Flüchtlingspolitik nicht nur als innere Angelegenheit eines Staates, sondern als weltweite Aufgabe zu betrachten und Lösungsansätze nicht nur im eigenen Land, sondern auch in den Herkunftsregionen der Flüchtlinge zu suchen. Da die Ursachen der Flüchtlingsbewegungen überwiegend in der extremen wirtschaftlichen Armut der Herkunftsländer begründet sind, muß eine erfolgversprechende Flüchtlingspolitik mit einer Politik der Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe einhergehen, deren Grundsätze die Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP in ihrem Antrag vom 19. Dezember 1989 gegenüber dem Deutschen Bundestag zum Ausdruck gebracht haben. Angesichts der hohen Zugangszahlen müssen wir aber auch durch innerstaatliche Maßnahmen alle 17954* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 Möglichkeiten der Beschleunigung und Verfahrensabkürzung ausnutzen. Die zwischen Bund und Ländern vereinbarte und inzwischen eingeführte enge Zusammenarbeit von zentralen Ausländerbehörden und Außenstellen des Bundesamtes zeigt Erfolg. Insbesondere für die Hauptherkunftsländer Türkei, Polen, Jugoslawien und neuerdings Rumänien konnte inzwischen die Dauer des Verwaltungsverfahrens auf durchschnittlich 4 Wochen verkürzt werden. Hinsichtlich der Asylanträge, die vom Bundesamt als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden, soll künftig bereits mit Wirkung vom 15. Oktober 1990 — und nicht erst zum 1. Januar 1991 — die Möglichkeit der Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht bzw. Verwaltungsgerichtshof entfallen. Damit dürfte künftig ein nicht unbeträchtlicher Teil der Asylverfahren dieser Personengruppen innerhalb eines halben Jahres unanfechtbar abgeschlossen sein. Die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa hat in letzter Zeit eine parteiübergreifende Diskussion über eine künftig notwendige Asyl- und Flüchtlingspolitik in Gang gesetzt. Ich begrüße diese Diskussion. Wir müssen vertieft und emotionsfei die Erfordernisse der Asylpolitik über Fragen des nationalen Verfahrensrechts hinaus erörtern und — auch unter Berücksichtigung der internationalen Verhältnisse — nach Lösungsansätzen suchen, wie unsere humanitären und rechtlichen Verpflichtungen langfristig in Einklang mit unseren tatsächlichen Möglichkeiten gebracht werden können. Deutschland muß auf Dauer ein ausländerfreundliches und asylfähiges Land bleiben. Frau Dr. Sonntag-Wolgast (SPD): Wie wir mit denen umgehen, die aus politischen Gründen oder wirtschaftlicher Not bei uns Zuflucht suchen, wird für die nächsten Jahre eines der ganz großen Themen bleiben, für das neue einige Deutschland ebenso wie für andere Industrienationen vor allem in Europa. Alle kurzatmigen Antworten taugen nichts für die humane Bewältigung des Problems. Das sollten wir all denen klarmachen, die augenblicklich wieder mit Worten wie „Asylantenschwemme" und „Flüchtlingsflut" leichtfertig umgehen und schnelle, rigorose Maßnahmen verlangen. Dabei möchte ich bei den Emotionen, die das Thema momentan hervorruft, sehr wohl zwischen professionellen Scharfmachern und Menschen, die sich ernstlich Sorgen machen, unterscheiden. So kann ich gut verstehen, wenn Bürgermeister und andere Kommunalpolitiker angesichts hoher Flüchtlingszahlen, ausgebuchter Billig-Hotels und voll belegter Turnhallen einfach nicht mehr aus noch ein wissen. Mir ist auch klar, daß manche Anwohner, die wenig über die Ursachen von Zuwanderung nachdenken, Unverständnis und Empörung äußern, vor allem gegenüber Gruppen, deren Verhalten und Eigenarten bei vielen in der Bundesrepublik schwer nachvollziehbar sind. Ich erinnere an die aktuelle Diskussion um die aus Rumänien angereisten Romana, und ich füge gleich hinzu, daß es sich hier um eine der letzten europäischen Nomadenbewegungen handelt, jedoch nur sehr bedingt um die Asylfrage. In dieser Situation sollten wir uns vor Trugschlüssen hüten. Ich warne davor, den Eindruck zu erwecken, als könne mit einigen wenigen eher organisatorischen Maßnahmen die gesamte Flüchtlings- und Asylproblematik abgehakt werden. Wir entscheiden heute über den Vorschlag der Koalition, einen Teil des neuen Ausländergesetzes schon Mitte Oktober in Kraft zu setzen. Die SPD hat dieses Gesetz abgelehnt. Sie kennen unsere ausländerpolitischen Alternativen. Wir haben nichts zurückzunehmen von den Einwänden, die wir im Frühjahr bei der Verabschiedung des Gesetzes vorgebracht haben. Ich rufe Ihnen aber auch ins Gedächtnis, daß wir seinerzeit durchaus einige positive Elemente erwähnt haben. Dazu gehören Fragen des Flüchtlingsstautus sowie die Möglichkeit, Familienangehörige aus dem Asylverfahren herauszunehmen. Einige Verbesserungen sind also auszumachen; sie kommen unseren — allerdings weitergehenden — Vorstellungen entgegen. Manches davon wurde im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf aufgrund der zum Glück heftigen Proteste der Wohlfahrtsverbände, der Kirchen und des Hohen Flüchtlingskommissars nachträglich eingefügt bzw. korrigiert. Wir werden Ihnen deshalb bei Ihrem Versuch, bestimmte asylrechtliche Maßnahmen per Gesetz vorzuziehen, keine Hindernisse in den Weg legen. Ebenso deutlich sagen wir aber auch, daß dieser Schritt eher der Beschwichtigung dient, kaum aber in der Sache wirklich weiterhilft. Wir werden uns deshalb der Stimme enthalten. Sie sollten diese Vorlage nicht allzu vollmundig hochloben, sondern den Menschen ehrlich sagen, daß es sich um eine — im Vergleich zur Bedeutung der Flüchtlingsproblematik — eher marginale Angelegenheit handelt. Und eines geht nun wirklich nicht an: sich mit pathetischer Geste zum Wahrer des Art. 16 unseres Grundgesetzes zu machen und im gleichen Atemzug zu beteuern, daß es geändert, ergänzt, mit einem Gesetzesvorbehalt versehen werden müßte — oder wie sonst die verharmlosenden Begriffe heißen. Das paßt nun einmal nicht zusammen, auch wenn Sie noch so häufig beteuern, Sie wollten das Asylrecht ja gerade vor Mißbrauch schützen. Gestern haben hier in Bonn die ausländerpolitischen Sprecher der SPD aus Bund, Ländern und dem Europa-Parlament eine Konferenz mit einer Entschließung beendet, aus der ich eine Passage zitieren möchte: „Das vereinte Deutschland wie auch die Europäische Gemeinschaft werden sich auch in Zukunft der Herausforderung weltweiter Flucht- und Wanderungsbewegungen zu stellen haben. Auf diese Herausforderung können und dürfen wir nicht mit Einschränkungen des Grundrechts auf Asyl für politisch Verfolgte antworten. Vielmehr müssen wir darauf dringen, daß in Europa eine materielle Vereinheitlichung des Asyl- und Flüchtlingsrechts erfolgt, die den Art. 16 weder einschränkt noch unterläuft." Flüchtlingsprobleme lassen sich nicht durch vermeintliche Patentrezepte wie die Beseitigung oder Einschränkung des Grundrechts auf Asyl bewältigen. Das ginge zu Lasten der Verfolgten, ohne die Zuwanderung zu stoppen. Denn ihre Ursachen — Menschenrechtsverletzungen und das Wohlstandsgefälle zwischen den Regionen und Staaten — wären damit ja Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 17955* keineswegs aus der Welt. Wer den Art. 16 demontieren möchte, der verschweigt, daß wir uns in einer Welt der offenen Grenzen — über die wir uns ja alle freuen — , im Zeitalter der modernen Medien und Verkehrsmittel nicht abschotten können. Und er verschweigt auch, daß die Bundesrepublik auch ohne einen Art. 16 in vielen Fällen verpflichtet wäre, Flüchtlingen z. B. nach den Kriterien der Genfer Konvention Schutz zu gewähren. Was wir brauchen, ist eine umfassende Flüchtlings- und Asylkonzeption, ein nationales und europäisches Flüchtlingsrecht neuer Prägung, das auch armuts- und kriegsbedingte Wanderungsgruppen berücksichtigt, dabei aber alle reichen Industrieländer gleichmäßig in die Pflicht nimmt. Wir brauchen gezielte Wirtschafts- und Strukturhilfen für die Dritte Welt, auch wenn viele unter uns in der augenblicklichen Lage solche Forderungen angesichts der hohen Kosten für die deutsche Einigung weit von sich weisen. Wir brauchen schließlich Strategien, die den Menschen ein Verbleiben in der Heimat erleichtern, auch und vor allem denjenigen, die sich wegen der Liberalisierung in Osteuropa nicht mehr auf politische Verfolgung berufen können, aber dennoch in der Hoffnung auf ein wirtschaftlich angenehmeres Leben zu uns wollen. Ich weiß zugleich, daß alle diese Pläne nicht von heute auf morgen verwirklicht werden können. Sozialdemokraten treten seit langem für eine Beschleunigung der Asylverfahren ein — und zwar im Interesse aller, nicht zuletzt auch der Betroffenen. Die Verfahren konnten entsprechend unserer Forderungen schon erheblich beschleunigt werden, was in der Öffentlichkeit wenig bekannt ist. In den Außenstellen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge dauern sie zur Zeit sechs bis acht Wochen. Wir regen außerdem an, das Bundesamt von Asylverfahren zu entlasten. So können z. B. Flüchtlinge, die konkret nachweisbar in andere Länder weiterreisen wollen, ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht erhalten. Gleiches gilt für die sogenannten De-factoFlüchtlinge. Gerichte müssen personell aufgestockt und durch zusätzliche Kammern erweitert werden. Das fünfjährige Arbeitsverbot für Asylbewerber ist nicht länger tragbar. Vor allem aber brauchen wir einen sachgerechten Kostenausgleich für Sozialhilfeaufwendungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Denn eines wird niemand leugnen: Flucht- und Wanderungsbewegungen sind ein weltweites Phänomen, mit verursacht durch nationale und internationale Politik. Die Bewältigung ihrer Folgen darf man nicht auf dem Rücken der Kommunen abladen. Dr. Hirsch (FDP) : Es ist eine Ausnahme, daß ein Gesetz, das noch nicht in Kraft getreten ist, geändert wird. Es geht darum, bestimmte asylrechtliche Bestimmungen des Gesetzes nicht erst am 1. Januar des kommenden Jahres, sondern schon am 15. Oktober in Kraft treten zu lassen. Es sind Bestimmungen, mit denen das Asylverfahren beschleunigt werden soll und kann. Für manche unserer Mitbürger ist das Asylrecht ungeliebt. Es fordert von uns Leistungen. Wir haben uns verpflichtet, politisch Verfolgte aufzunehmen. Das ist nicht nur eine Reaktion auf unsere eigene Vergangenheit, es ist der Entschluß, in diesem Jahrhundert der Flüchtlinge ein Zeichen für Überzeugungsund Glaubensfreiheit, ein Zeichen für individuelle Freiheit, ein Zeichen für Toleranz und Humanität zu setzen. Der Artikel 16 ist unsere Freiheitsstatue im sicheren Hafen unserer Verfassung, und wir werden ihr die Fackel nicht aus der Hand nehmen. Wir wollen an diesem Zeichen der Christlichkeit und der Liberalität festhalten. Es ist richtig, daß dieses Asylrecht auch von Menschen in Anspruch genommen wird, die nicht vor politischer Verfolgung, sondern nur vor Hunger, Armut und Elend fliehen wollen, nicht von Wirtschafts-, sondern von Armutsflüchtlingen. Wie immer in solchen Zeiten schlägt die Stunde der Vereinfacher, die die Mißbrauchsfälle an der Grenze abweisen wollen, als ob der Staat, der Zöllner, der Polizeibeamte, die Gabe hätte, in das Gehirn eines Menschen zu gucken und ihm anzusehen, ob er politisch verfolgt ist oder nicht. Es muß ein faires Verfahren geben, aber wir sind entschlossen, dieses Verfahren so zu straffen wie irgend möglich. Es muß schnell abgewickelt werden. Diesem Ziel dient dieses Gesetz. Lassen Sie mich abschließend eines sagen: Ich begrüße außerordentlich, daß der Bundesinnenminister in diesen Tagen eine Flüchtlingskonzeption vorgelegt hat, mit der er an die Wurzel des Problems gehen, nämlich die Ursachen der Flüchtlingsströme bekämpfen will. Der Sinn der politischen Entwicklung der letzten Jahre kann nicht darin bestehen, daß Mauer und Stacheldraht nur 200 oder 300 Kilometer weiter nach Osten verlegt werden. Wenn wir ein Europa der Freizügigkeit schaffen wollen, dann kann es nicht an der Oder-Neiße-Linie enden. Dann müssen wir mehr dafür tun, die Lebensverhältnisse in unseren europäischen Nachbarländern so zu verändern, daß dort nicht Menschen aus ökonomischen Gründen entwurzelt werden. Die Festung Europa ist kein Zukunftsobjekt. Die Chinesische Mauer hat eben nicht vor der Zukunft geschützt, und keine Mauer wird das tun. Uns ist angedroht worden, das Asylrecht zum Wahlkampfthema zu machen. Wir sind bereit dazu, und wir werden dann niemandem die Antwort ersparen, ob er auch weiterhin bereit ist, politische Flüchtlinge aufzunehmen, und was er zu tun bereit ist, um die wirtschaftlichen und sozialen Ursachen von Flüchtlingsbewegungen wenigstens in unseren Nachbarländern zu bekämpfen. Dieser Gesetzentwurf ist in dieser Frage ein Mosaikstein: Erhaltung des Asylrechts, aber Beschleunigung des fairen Verfahrens. Darum werden wir dem Gesetzentwurf zustimmen. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zu den Zusatztagesordnungspunkten 8 und 9 (Beteiligungsgesetz, Gesetz zur Änderung des Personalvertretungsgesetzes und anderer Vorschriften) 17956* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 Ganz (St. Wendel) (CDU/CSU): Nach einem langen Tag der Debatte um den Einigungsvertrag und um die deutsche Einheit möchte ich diesen Tagesordnungspunkt zuerst zum Anlaß nehmen, noch einmal festzustellen, daß unsere Soldaten mit ihren Kameraden der Allianz durch ihren Dienst für Frieden und Freiheit den Prozeß der Entspannung und der Abrüstung mit ermöglicht und gefördert haben, durch die ja letzten Endes die Wiedervereinigung möglich wurde. Gerade an einem solch historischen Tag sollten wir auch einmal ihnen für ihren Beitrag, den sie dazu geleistet haben, herzlich Dank sagen. Indem wir dies tun, bekunden wir täglich, daß es mit uns keine Politik nach dem Motto geben wird: „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan; der Mohr kann gehen". Wir wissen um die Schwierigkeiten, die mit der Verkleinerung der Bundeswehr und deren Umstrukturierung — auch und gerade im personellen Bereich — auf uns zukommen. Wir sind entschlossen, diese so zu bewältigen, daß niemand, der bisher treu seine Pflicht erfüllt hat, dabei Nachteile erleidet. Natürlich werden der Prozeß der Verkleinerung und Umstrukturierung der Bundeswehr und die Neubeschreibung der Aufgaben und des Selbstverständnisses der gesamtdeutschen Streitkräfte eine zentrale Aufgabe der politischen und militärischen Führung sein. Doch dieser Prozeß wird um so eher gelingen, je mehr wir die Soldaten selbst daran beteiligen. So gesehen kommt der Entwurf des Gesetzes über die Beteiligung der Soldaten gerade zur rechten Zeit, und wir sind vor diesem Hintergrund gut beraten, diesen noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden. Ich gebe zu, wir haben uns bei der Frage, ob und wie wir diesen Entwurf parlamentarisch behandeln wollen, recht schwergetan und kostbare Zeit darangegeben. Aber nachdem wir uns koalitionsintern und gemeinsam mit der Regierung in strittigen und für uns wichtigen Punkten geeinigt haben, sollten wir das Gesetz verabschieden, zumal wir durch die Verschiebung der Haushaltsberatung die Zeit dafür haben. Der Verteidigungsausschuß hat im vorigen Jahr ein ganztägiges Anhörverfahren zu Fragen der Beteiligungsrechte der Soldaten durchgeführt. Die Teilnehmer waren einhellig der Meinung, daß es an der Zeit sei, die Beteiligung der Soldaten an Entscheidungsprozessen zu verbessern. Über das Wie gab es unterschiedliche Auffassungen, wobei im wesentlichen zwei Modelle zur Diskussion standen: Von einem Teil der Teilnehmer wurde die Einbeziehung der Soldaten in das Bundespersonalvertretungsgesetz favorisiert; ein anderer Teil sprach sich für die Erweiterung und Stärkung des Vertrauensmännerrechts aus. Ich selbst hatte danach den vermittelnden Vorschlag gemacht, auf der Basis des Vertrauensmännerrechtes und unter Einbeziehung der Beteiligungsnormen aus dem Soldatengesetz, der Wehrdisziplinar- und -beschwerdeordnung, sowie dem bisherigen VertrauensmännerWahlgesetz ein eigenes Beteiligungsgesetz für die Streitkräfte zu erarbeiten. Dies war kein bequemer Kompromiß. Einerseits war mir daran gelegen, mit diesem Vorschlag zu verdeutlichen, daß die Streitkräfte wegen ihres besonderen Auftrags und ihres besonderen Dienstverhältnisses nicht einfach dem übrigen öffentlichen Dienst gleichgestellt werden können. In einem Anflug von Sarkasmus habe ich manchmal bemerkt, daß die Soldatenvertreter, die in allen Bereichen die totale Gleichstellung mit dem öffentlichen Dienst fordern, eigentlich den Rock ausziehen und sich fortan „Verteidigungsrat" oder „Wehrdirektor" nennen müßten. Andererseits war ich zur Überzeugung gekommen, daß eine Übernahme des BPersVg schon allein aus Gründen der Praktikabilität nicht möglich ist; es sei denn, man würde es an entscheidenden Stellen so modifizieren, daß letzten Endes ein BPersVG minor für Soldaten übrigbliebe. Die SPD hat mit ihrem Entwurf diesen Versuch gewagt. Aber ich bin sicher, würde er Gesetz, er müßte an der Undurchführbarkeit scheitern. Nehmen wir wenige praktische Beispiele: — Wie soll die Dreistufigkeit des BPersVG auf die fünf- bis siebenstufig aufgebaute Bundeswehr übertragen werden? Die SPD schlägt vor, die Zwischenstufe — also den Bezirkspersonalrat — bei der Division anzusiedeln. Nun hat die Division in der Regel drei Brigaden, und jede Brigade hat fünf Bataillone, von denen zwei im Saarland, eins in Rheinland-Pfalz und zwei in Baden-Württemberg disloziert sind. Diese Stufenvertreter müßten, um allein die einzelnen Standorte kennenzulernen, mehr Zeit aufbringen, als sie als Zeitsoldaten im Dienst sind. Oder: Wie soll das passive Wahlrecht für alle Berufs- und Zeitsoldaten uneingeschränkt gewährleistet werden? § 26 Abs. 1 BPersVG bestimmt, daß Personalräte auf drei Jahre gewählt werden. Bei Übernahme dieser Bestimmung — und das tut der SPD-Entwurf — würde entweder das passive Wahlrecht eingeschränkt oder aber die Versetzung eines Soldaten aus dienstlichen Gründen nicht mehr möglich sein. Denn einerseits dürften diejenigen, die wegen einer möglichen Beförderung eine Versetzung anstreben, kaum bereit sein, sich zur Wahl zu stellen; andererseits wären die auf drei Jahre in die Vertretung Gewählten kaum zu versetzen. Ein letztes Beispiel: Nach § 76 BPersVG hat der Personalrat Mitbestimmungsrechte bei Ein- und Anstellungen, Versetzungen, Abordnungen und Beförderungen. Wer im Wissen, daß die Personalbewirtschaftung der Bundeswehr zentral erfolgt, ja erfolgen muß, den Soldaten vormacht, mit der Übernahme des BPersVG würden sie in Personalfragen ein Mitbestimmungsrecht erwerben, führt sie hinters Licht. Ich meine, dies allein sind Beispiele und Gründe genug, die es uns geraten erscheinen lassen, dem SPD-Vorschlag nicht zu folgen. Wir begrüßen vielmehr den Regierungsentwurf der — unserem Vorschlag folgend — ein den Streitkräften adäquates eigenes Beteiligungsrecht bringt, der die Rechte der Vertrauensmänner — neuerdings „Vertrauenspersonen" — wesentlich stärkt, der als dominante Grundregel das Kooperationsgebot enthält und so, wenn er Gesetz geworden ist, die Zusammenarbeit zwischen Dienstherrn, Vorgesetzten und Soldaten erleichtern und das Miteinander der Soldaten — also die Kameradschaft — fördern wird. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 17957* Wir werden unsere bereits erarbeiteten Änderungs- bzw. Ergänzungsvorschläge im Ausschuß einbringen und den Entwurf dort so zügig beraten, daß eine endgültige Verabschiedung als Gesetz noch in den verbleibenden Sitzungswochen möglich ist. Ich bitte auch um Ihre Zustimmung und bedanke mich für die Aufmerksamkeit zu später Stunde. Steiner (SPD): Der heute in 1. Lesung zu beratende Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Beteiligung der Soldaten und der Zivildienstleistenden — kurz genannt: Beteiligungsgesetz — kann auf eine zwar langwierige, dafür aber wenig glorreiche Entstehungsgeschichte zurückblicken. Bereits seit mehreren Jahren wird von verschiedenen Seiten eine wirkliche Erweiterung der Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte für Soldaten gefordert. Sowohl der Deutsche Bundeswehrverband als auch die Gewerkschaft ÖTV und auch die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag befürworten dies seit langem durch eine Einbeziehung der Berufs- und Zeitsoldaten in die Bestimmungen des Bundespersonalvertretungsgesetzes. Nicht so die Bundesregierung. Sie dokumentierte ihr Interesse für die berechtigten Belange unserer Soldaten durch schlichte, aber dafür um so konsequentere Nichtbeachtung. Auf Initiative der SPD-Fraktion fand am 14. Juni letzten Jahres im Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages eine Expertenanhörung über die Fortentwicklung der Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte der Soldaten in der Bundeswehr statt, die der Bundesregierung kein einziges schlagkräftiges Argument für ihre Verweigerungstaktik in Sachen „Mitbestimmung für Soldaten" lieferte. Deshalb hat sie auch dafür gesorgt, daß es bis heute keine Auswertung dieser Anhörung gibt. Damit wurde das Signal für die militärische Führung gegeben, an ihrer starren Haltung festzuhalten. Besonders erschreckend an dieser Haltung ist das in ihr deutlich zum Ausdruck kommende Mißtrauen gegenüber unseren Soldaten. Die nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in allen öffentlichen Verwaltungen immer wieder bestätigte Tatsache, daß mehr Mitbestimmung die Arbeit nicht behindert, sondern letztlich fördert, wird schlicht in Abrede gestellt. Von der offenbar furchtbaren und zugleich unsinnigen Vision geplagt, daß eines Tages ein Unteroffizier in der Personalangelegenheit eines Stabsoffiziers mitreden dürfte, errichtet die militärische Führung ihr Suigeneris-Bollwerk gegen jede Form demokratisch bestimmten gesellschaftlichen Wandels innerhalb der Bundeswehr. Eine qualitative Änderung ist ausgeschlossen, so ihr unausgesprochenes Motto, weil wir sie nicht wollen. Dieses anachronistische Denken manifestiert sich auch in dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung nun nach langer Weigerung, sich des Themas überhaupt anzunehmen, vorgelegt hat. Wer so naiv war und gehofft hatte, der langen Ausarbeitungszeit hätte ein Reifungsprozeß auf der Hardthöhe zugrunde gelegen, der sieht sich nach Durchsicht des Entwurfes bitter enttäuscht oder besser gesagt gründlich verschaukelt. Lediglich die Rechte und Befugnisse des Vertrauensmannes werden mit dem Ziel neu beschrieben, den Soldaten echte Beteiligungsrechte nach wie vor vorzuenthalten. Entweder von Sachkenntnis wenig belastet oder vom Vorsatz beseelt, alte Betonstrukturen zu erhalten, haben die „Fachmänner" auf der Hardthöhe einen Gesetzentwurf vorgelegt, der den Realitäten des Soldatenberufes in keinster Weise gerecht wird. Würde man die von diesen Leuten verstandene Mitbestimmung wirklich umsetzen, käme das einer Entmündigung unserer Soldaten gleich. Ich stimme dem Deutschen Bundeswehrverband voll inhaltlich zu, der diesen Gesetzentwurf für einen Rückschritt in die Vergangenheit hält und ihn zutreffend als Begriffskosmetik abqualifiziert hat. Auch die Gewerkschaft ÖTV und selbst der Hauptpersonalrat beim Bundesministerium der Verteidigung lehnen dieses sogenannte Beteiligungsgesetz zu Recht in Bausch und Bogen ab. Was mag wohl in den Köpfen der hohen Militärs und der politischen Führungsriege auf der Hardthöhe vorgehen, wenn mit einem derart antiquierten Gesetzentwurf jegliche Zurückhaltung dahin gehend aufgegeben wird, unseren Soldaten die Reife für einen verantwortungsbewußten Umgang mit echten Mitbestimmungsrechten abzusprechen? Warum sollen unsere gut gebildeten und gut ausgebildeten Berufs- und Zeitsoldaten nicht in der Lage sein, die Vorschriften des Bundespersonalvertretungsgesetzes ebenso gewissenhaft und pflichtbewußt zu handhaben, wie Beamte in anderen Exekutivbereichen, etwa beim Bundesgrenzschutz oder bei der Polizei? Eigentlich sollte Bundesverteidigungsminister Stoltenberg als ehemaliger Ministerpräsident und Bundesfinanzminister wissen, daß kein Bereich des öffentlichen Dienstes — z. B. auch nicht die paramilitärisch organisierten Einsatzeinheiten beim Bundesgrenzschutz — durch die Einführung der Mitbestimmungsregelung nach dem Bundespersonalvertretungsgesetz einen Leistungseinbruch erfuhr. Aber statt dessen tragen er und seine Beamten weiter zum Mythos von der angeblich unteilbaren Führungsverantwortung des militärischen Vorgesetzten bei. An dieser Stelle möchte ich gerne an das im Juli 1989 stolz von der Bundesregierung präsentierte „Programm zur Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr" erinnern. Damals war die Regierungskoalition offenbar der Ansicht, daß unsere Bundeswehr als zukunftsorientierter Arbeitsplatz für junge Menschen zu wenig Attraktivität böte. Hier hätte sie nun die echte Chance gehabt, wenigstens im Bereich der Mitbestimmung für mehr Attraktivität zu sorgen. Sie hat diese Chance mehr als kläglich vertan. Aber damit nicht genug. Nicht nur der Inhalt des Gesetzentwurf es ist eine Zumutung, sondern die Art und Weise wie er von der Bundesregierung im Parlament eingebracht wird, ist schlicht eine Frechheit. In einer Nacht-und- Nebel-Aktion setzten sie ihn kurzfristig auf die Tagesordnung, so daß wir in der „glücklichen Lage" sind, dieses Thema nun in vorgerückter Stunde erstmals behandeln zu dürfen, und das noch im Schatten der heutigen Debatte zur Verabschiedung des Einigungsvertrages. Das macht besonders deutlich, welchen Stellenwert die Koalition diesem Thema einräumt. 17958* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 Die Intention der Bundesregierung für diese Vorgehensweise ist klar: Die Hardliner auf der Hardthöhe wollen mit allen Mitteln versuchen, ihr überkommenautoritäres Denken in Gesetzesform festzuschreiben. Deshalb die späte Aufnahme in die parlamentarische Beratung, spät nicht nur an diesem Abend, sondern spät vor allem im Ablauf der Legislaturperiode. Die Bundesregierung dokumentiert damit sehr eindeutig, wie ernst sie es mit den Rechten des sogenannten „Staatsbürgers in Uniform" — den ihre Mitglieder in Sonntagsreden ja so gerne immer wieder beschwören — nimmt. Neu sind diese taktischen Manöver allerdings nicht. Einen ersten Eindruck davon konnte man bereits vor der Sommerpause gewinnen, als die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf am 20. Juni auf die Tagesordnung setzen ließ, um ihn dann am selben Tag wieder absetzen zu lassen, obwohl er als besonders eilbedürftig gemäß Art. 76 Abs. 2 Satz 3 GG noch am 11. Mai dem Bundesrat zugeleitet worden war. Eine vernünftige Begründung gab es dafür nicht, konnte es auch gar nicht geben. Nun ist dieser Gesetzentwurf also wieder da, natürlich in unveränderter Form. Etwas anderes wäre allerdings auch nicht möglich gewesen, denn er ist so schlecht, daß eine Verbesserung in einzelnen Punkten nichts gebracht hätte. Der ganze Entwurf ist unbrauchbar und entspricht in keiner Weise den Anforderungen einer zeitgemäßen Mitbestimmungsregelung für die Streitkräfte. Die SPD-Fraktion hat deshalb einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Berufs- und Zeitsoldaten in die Regelungen des Bundespersonalvertretungsgesetzes einbezieht und ihnen damit demokratische Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte sichert, wie sie in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst seit Jahrzehnten selbstverständlich sind. Es ist zu bezweifeln, aber dennoch zu hoffen, daß die Fraktionen der Regierungskoalition endlich zu der Erkenntnis gelangen, daß mehr gesellschaftliche Normalität für die Streitkräfte das Gebot der Stunde sein muß. Dies zu ermöglichen setzt mehr demokratische Mitbestimmung in der Bundeswehr voraus, als sie auf der Grundlage des Gesetzentwurfes der Bundesregierung realisiert werden kann. Nolting (FDP) : Wir haben hier vor einer Woche den Jahresbericht des Wehrbeauftragten debattiert. Eine der zentralen Forderungen in diesem Bericht war der Ausbau der Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten des Vertrauensmannes in der Bundeswehr. Das war eine Forderung, die von der FDP-Bundestagsfraktion seit langem unterstützt wird. Ich will daran erinnern, daß der Verteidigungsausschuß bereits am 14. Juni 1989 ein Hearing zum Thema Beteiligungsrechte der Soldaten durchgeführt hat. Damals waren sich alle Anwesenden einig, daß bei den Beteiligungsrechten ein dringender Handlungsbedarf besteht. Konsens war, daß zumindest die Rechte des Vertrauensmannes gestärkt werden müssen. Leider hat es lange gedauert, bis die Ergebnisse dieses Hearings umgesetzt wurden. So hat das BMVg im Mai nach heftigem Drängen auch und gerade der FDP-Fraktion den Entwurf eines Soldaten-Beteiligungsgesetzes vorgelegt. Ich bin froh, daß wir heute nach einigen Schwierigkeiten in diesem Hause endlich zur ersten Lesung dieses Gesetzes kommen. Allerdings weise ich für die FDP schon jetzt darauf hin, daß der Regierungsentwurf in den Ausschußberatungen verändert werden wird. So wird die in dem Entwurf enthaltene Reduzierung der Zahl der personalratsfähigen Dienststellen von der FDP-Bundestagsfraktion keinesfalls mitgetragen. Um eine derartige Verschlechterung der bisherigen Situation zu verhindern, werden wir entsprechende Änderungsanträge einbringen. Weitere Änderungsanträge werden den vorliegenden Gesetzentwurf erheblich verbessern. Im übrigen sollte aber nicht verkannt werden, daß der vorliegende Entwurf überwiegend Bestimmungen enthält, die die rechtliche Stellung des Vertrauensmannes stärken und seine Mitspracherechte ausbauen. Dies ist genau im Sinne der langjährigen FDP- Forderungen, die Mitwirkungsrechte der Soldaten schrittweise an die allgemein im Berufsleben üblichen Rechte anzupassen. Auch Soldaten werden in Zukunft stärker mitverantwortlich handeln können. Dies trifft dann auch für die Zivildienstleistenden zu. Beim Soldaten-Beteiligungsgesetz handelt es sich um einen wesentlichen Schritt in die richtige Richtung. Endziel der FDP-Fraktion bleibt es aber, eine sachgerechte Anwendung des Bundespersonalvertretungsgesetzes in der Bundeswehr zu erreichen. Dazu scheint uns aber der vorliegende Gesetzentwurf der SPD-Fraktion unzureichend zu sein. Ein Beispiel: Die in ihm enthaltene Trennung zwischen Bundeswehrverwaltung und Soldaten ist nicht in unserem Sinne. Wir sollten uns die Zeit lassen, zu einem späteren Zeitpunkt einen optimalen Gesetzentwurf zur Personalvertretung vorzulegen. Bis dahin sollten wir die Stellung des Vertrauensmannes durchgreifend verbessern. Frau Hürland-Büning, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung: Der Entwurf der Bundesregierung eines Beteiligungsgesetzes für die Soldaten und die Zivildienstleistenden ist vom Bundesminister der Verteidigung und vom Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit gemeinsam erarbeitet worden. Er beinhaltet das Soldatenbeteiligungsgesetz und das Zivildienstvertrauensmann-Gesetz. Die Neuregelung der Beteiligungsrechte der Soldaten in den Streitkräften und der Zivildienstleistenden in den Dienststellen des Zivildienstes baut auf der bewährten Institution des Vertrauensmannes auf. Der Gesetzentwurf verwendet für den Bereich der Streitkräfte die geschlechtsneutrale Formulierung „Vertrauensperson" ; denn bereits jetzt dienen in den Streitkräften Frauen in der Laufbahn der Offiziere im Sanitätsdienst. Auch angesichts der beabsichtigten Öffnung aller Verwendungen im Sanitäts- und Militärmusikdienst für Frauen noch in diesem Jahr durch den Entwurf eines 14. Gesetzes zur Änderung des Soldatengesetzes ist eine Formulierung gewählt worden, die auch auf Frauen Anwendung finden kann. Der Gesetzentwurf stärkt für den Bereich der Streitkräfte die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte der Soldaten. Sein Ziel ist es, die Soldaten im Sinne der Inneren Führung stärker zu beteiligen und der gesellschaftspolitischen Entwicklung Rechnung zu Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990 17959* tragen. Die Bundesregierung hat damit auch die Anregungen des Wehrbeauftragen aufgegriffen, die Stellung des Vertrauensmannes qualitativ zu stärken. An dieser Stelle seien nur die wesentlichen Punkte des Gesetzentwurfs hervorgehoben: Festlegung von Tatbeständen, die den Schutz der Vertrauensperson vor einer Benachteiligung wegen ihrer Tätigkeit sicherstellen; Schaffung neuer Beteiligungstatbestände besonders in Personalangelegenheiten, z. B. durch ein Anhörungsrecht bei Versetzungen, Kommandierungen und Dienstpostenwechsel; qualitative Verbesserungen der Beteiligungsformen durch Einführung von Vorschlags- und Mitbestimmungsrechten sowie Tatbeständen zur Konfliktlösung ; Zusammenfassung der Beteiligungsnormen aus dem Soldatengesetz, der Wehrdisziplinar- und Wehrbeschwerdeordnung und des bisherigen Vertrauensmänner-Wahlgesetzes. Die durch den Gesetzentwurf definierten Formen der Beteiligung durch Anhörung, Vorschlagsrecht und Mitbestimmung tragen der besonderen rechtlichen und tatsächlichen Stellung des Soldaten Rechnung, sofern sie sich grundlegend von den Gegebenheiten in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes unterscheiden. Sie berücksichtigen die auftragsorientierte Organisations- und Befehlsstruktur der Streitkräfte und deren notwendige Funktionsprinzipien und die Besonderheiten in Ausbildung und Verwendung. Trotz Vergleichbarkeit einiger Tätigkeiten kann der Dienst des Soldaten nicht mit den Maßstäben ziviler Berufe, auch nicht mit denen der Polizei oder des Bundesgrenzschutzes gemessen werden. Aus dem Prinzip von Befehl und Gehorsam ergibt sich die eindeutige unteilbare Verantwortung des Vorgesetzten für seine Befehle. An diesen Grundsätzen, die nicht nur der Funktionsfähigkeit der Streitkräfte dienen, muß festgehalten werden. Die im Gesetzentwurf für Mitbestimmungstatbestände gewählte Form der Konfliktlösung durch Aussetzung des Befehls oder der Maßnahme bis zur Entscheidung des nächsthöheren Vorgesetzten, Pflicht zur schriftlichen Begründung bei Abweichung von den Vorstellungen der Vertrauensperson und Ausbau des Beschwerde- oder Eingaberechts der Vertrauensperson tragen zur Findung einvernehmlicher Lösungen bei. Eine unterschiedliche Behandlung von Berufs- und Zeitsoldaten einerseits und Soldaten, die auf Grund der Wehrpflicht nach dem Wehrpflichtgesetz Wehrdienst leisten, andererseits würde ein Zweiklassenrecht begründen, wodurch negative Auswirkungen auf den Zusammenhalt der Streitkräfte nicht zu vermeiden wären. Zu den Soldaten, die den Personalrat wählen, wurden bisher Grundwehrdienstleistende in personal-ratsfähigen Dienststellen gezählt, obwohl diese Soldaten auf Grund ihrer nur etwa einjährigen Zugehörigkeit zur Dienststelle faktisch kein passives Wahlrecht besitzen und ein aktives zufällig auch nur dann, wenn in ihre Dienstzeit eine der alle vier Jahre stattfindenden Personalratswahlen fällt. Das heißt, daß diese Soldaten im Grunde keinerlei Wahlrecht haben. Sie erhalten nun erstmals die Möglichkeit, eine eigene Vertrauensperson zu wählen, und damit ein tatsächliches Beteiligungsrecht. Die Einrichtung der Vertrauensperson in den Streitkräften hat eine herausgehobene Bedeutung im Rahmen der Konzeption der Inneren Führung. Sie hat ihre vornehmliche Aufgabe als Mittler zwischen dem Disziplinarvorgesetzten und den Soldaten ihrer Wählergruppe, deren Interessen sie unmittelbar persönlich erfährt und vertritt. Ihrer Tätigkeit kommt damit große Bedeutung für die vertrauensvolle Zusammenarbeit, die Erhaltung des kameradschaftlichen Vertrauens und das innere Gefüge der Streitkräfte zu. Wesentlicher Inhalt des Gesetzentwurfs ist auch die umfassende Neuregelung der Beteiligungsrechte der Zivildienstleistenden in den Dienststellen des Zivildienstes auf der Basis der bewährten Institution des Vertrauensmannes. Für den Bereich des Zivildienstes werden dabei durch Erleichterungen des Wahlverfahrens und durch weitergehende Verpflichtungen für die Leiter der Dienststellen wichtige Voraussetzungen dafür geschaffen, daß in mehr Zivildienststellen als bisher Vertrauensmänner gewählt werden. Außerdem wird die Stellung des Vertrauensmannes in der Beschäftigungsstelle gestärkt und sein Schutz gegenüber eventuellen Benachteiligungen und Behinderungen seiner Tätigkeit verbessert. Ausdrücklich werden den Vertrauensmännern Beteiligungsrechte in Form von Anhörungs-, Vorschlags- und Mitbestimmungsrechten eingeräumt und das Verfahren der Beteiligung im einzelnen festgelegt. Der Entwurf trägt damit den positiven Erfahrungen mit der Institution des Vertrauensmannes und dem Bedürfnis Rechnung, die Zivildienstleistenden in den Dienststellen einerseits in eine vertrauensvolle Zusammenarbeit einzubinden, ihnen andererseits aber auch Möglichkeiten der Einflußnahme auf die sie betreffenden Angelegenheiten zu geben, soweit dies mit der besonderen Dienststellung der Zivildienstleistenden in Einklang zu bringen ist.
Gesamtes Protokol
Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122600000
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Zunächst möchte ich Herrn Kollegen Dr. Sprung nachträglich herzlich zum 65. Geburtstag am 16. September gratulieren,

(Beifall)

außerdem Herrn Kollegen Grünbeck, der am 17. September ebenfalls seinen 65. Geburtstag feierte. Herzlichen Glückwunsch!

(Beifall)

Nun zum heutigen Tag. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
4. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses Deutsche Einheit
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Die Gemeinschaft und die deutsche Einigung
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Mitteilung der Kommission: Die Gemeinschaft und die Deutsche Einigung — Auswirkungen des Staatsvertrages
— Drucksachen 11/7770, 11/7755 Nr. 3.2, 11/7914 —
5. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit — Drucksache 11/7903 —
6. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Durchführung einer Repräsentativstatistik über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt (Mikrozensusgesetz) und des Gesetzes über die Statistik für Bundeszwecke (Bundesstatistikgesetz) — Drucksache 11/7768 —
7. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen bei der Durchführung des Mikrozensusgesetzes vom 10. Juni 1985 — Drucksache 11/1756 —
8. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Beteiligung der Soldaten und der Zivildienstleistenden (Beteiligungsgesetz — BG) — Drucksachen 11/7323, 11/7550 —
9. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Personalvertretungsgesetzes und anderer Vorschriften — Drucksache 11/7471 —
10. Aktuelle Stunde: Bodenverseuchung auf Kinderspielplätzen und Konsequenzen der Bundesregierung für die Festlegung von Dioxin-Grenzwerten
11. Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Frau Augustin, Dr. Blank, Börnsen (Bönstrup), Breuer, Clemens, Fischer (Hamburg), Fuchtel, Ganz (St. Wendel), Glos, Harries, Herkenrath, Hinsken, Hörster, Krey, Dr. Laufs, Lenzer, Lintner, Louven, Lummer, Magin, Müller (Wesseling), Nelle, Neumann (Bremen), Pesch, Frau Rönsch (Wiesbaden), Rossmanith, Schemken, Dr. Stark (Nürtingen), Tillmann, Zeitlmann und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hirsch, Lüder, Richter, Baum, Kleinert (Hannover), Irmer, Funke, Wollgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts — Drucksachen 11/7834, 11/7935 —
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem soll Tagesordnungspunkt 5 e abgesetzt werden.
Sind Sie damit einverstanden? — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. —

(Wüppesahl [fraktionslos]: Frau Süssmuth — —!)

— Herr Wüppesahl, Sie haben einen Antrag zur Dauer der heutigen Aussprache gestellt. Dazu werde ich Ihnen das Wort nach der Regierungserklärung erteilen,
— um das gleich anzukündigen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 und Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:
3. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland
b) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands — Einigungsvertragsgesetz —— Drucksachen 11/7760, 11/7817, 11/7831, 11/7841 —



Präsidentin Dr. Süssmuth
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses Deutsche Einheit
— Drucksachen 11/7920, 11/7931 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Spilker
Stobbe
Hoppe
Häfner
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/7932 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Borchert Dr. Weng (Gerlingen) Wieczorek (Duisburg) Frau Vennegerts

(Erste Beratung 222. und 223. Sitzung)

c) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses Deutsche Einheit
zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD
zur vereinbarten Aussprache zur Vorbereitung der deutschen Einheit
zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD
zur Regierungserklärung zur Beitrittserklärung der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik und zur Aussprache zur Vorbereitung der deutschen Einheit
zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Frau Nickels, Frau Beck-Oberdorf, Frau Hillerich, Frau Oesterle-Schwerin, Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNEN
zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Beitrittserklärung der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik
zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Garbe, Häfner, Hüser, Frau Kottwitz, Stratmann-Mertens, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Demokratische, soziale und ökologische
Eckpunkte zum Einigungsvertrag
zu dem Antrag der Abgeordneten Stratmann-Mertens, Frau Vennegerts und der Fraktion DIE GRÜNEN
Verabschiedung des Dritten Nachtragshaushaltsgesetzes und Verabschiedung des ersten gesamtdeutschen Haushaltsgesetzes vor den Bundestagswahlen
zu dem Antrag des Abgeordneten Häfner
und der Fraktion DIE GRÜNEN
Änderung des Grundgesetzes zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Beteiligung der Gewerkschaften am Vorstand und Verwaltungsrat der Treuhandanstalt
zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Beteiligung der Gewerkschaften an der Kommission zur Überprüfung der Vermögenswerte aller Parteien und mit ihnen verbundenen Organisationen, juristischen Personen und Massenorganisationen der DDR im In- und Ausland
zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Deutsch-Deutsche Kulturunion
— Drucksachen 11/7718, 11/7719, 11/7724, 11/7764, 11/7766 (neu), 11/7780, 11/7792, 11/7793, 11/7765, 11/7920, 11/7931 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Spilker
Stobbe
Hoppe
Häfner
d) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Überleitung von Bundesrecht nach Berlin (West) nach Fortfall der alliierten Vorbehaltsrechte (Sechstes Überleitungsgesetz)
— Drucksache 11/7824 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des
Innenausschusses (4. Ausschuß)

— Drucksache 11/7936 —
Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Nöbel
Gerster (Mainz) Dr. Hirsch
Such
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/7937 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Kühbacher Kleinert (Marburg)

Deres
Frau Seiler-Albring

(Erste Beratung 224. Sitzung)

e) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Inkraftsetzung von Vereinbarungen betreffend den befristeten Aufenthalt von Streitkräften der Französischen Republik, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin und von sowjetischen Streitkräften auf dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet nach Herstellung der Deutschen Einheit
— Drucksachen 11/7763, 11/7915 —



Präsidentin Dr. Süssmuth
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses Deutsche Einheit
— Drucksache 11/7916 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Spilker
Stobbe
Hoppe
Häfner

(Erste Beratung 222. Sitzung)

ZP4 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses Deutsche Einheit
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Die Gemeinschaft und die deutsche Einigung
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission:
Die Gemeinschaft und die Deutsche Einigung
— Auswirkungen des Staatsvertrages
— Drucksachen 11/7770, 11/7755 Nr. 3.2, 11/7914 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Spilker
Stobbe
Hoppe
Häfner
Hierzu liegen Entschließungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/7906 bis 11/7913, 11/7919, 11/7922 und 11/7933 vor.
Zur Schlußabstimmung über den Einigungsvertragsgesetzentwurf sowie zu drei Entschließungsanträgen ist namentliche Abstimmung verlangt worden.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung acht Stunden vorgesehen. Eine Mittagspause soll von 13 bis 14 Uhr stattfinden.
Interfraktionell ist außerdem vereinbart worden, daß wir alle Artikel des Einigungsvertragsgesetzes in drei Lesungen beraten. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen, Herr Genscher.

Hans-Dietrich Genscher (FDP):
Rede ID: ID1122600100
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Am 12. September ist in Moskau der Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland unterzeichnet worden. Zusammen mit dem Einigungsvertrag, den wir heute abschließend beraten, eröffnet er uns Deutschen den Weg zur Vereinigung in Freiheit. Die Unterzeichnung dieses abschließenden Dokumentes bildet den Schlußpunkt der europäischen Nachkriegsgeschichte. Uns Deutschen eröffnet sich eine neue Chance. Europa erhält die Möglichkeit eines umfassenden Neuanfangs. Der Vertrag weist in eine bessere europäische Zukunft. Er ist ein Dokument des Friedenswillens aller Beteiligten.
Mit diesem Vertrag beendigen die Vier Mächte ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes. Das vereinigte Deutschland wird mit dem Inkraftreten des Vertrags die volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten erhalten.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

Das schließt das Recht ein, Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören. Unser Ziel, das vereinigte Deutschland nicht mit offenen außenpolitischen Fragen zu belasten, ist erreicht worden.
Es ist beabsichtigt, am 1. Oktober 1990 in New York ein weiteres Dokument zu unterzeichnen, in dem die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte vom Tage der Vereinigung bis zum Inkrafttreten des Vertrags suspendiert werden.
Der Vertrag über die abschließende Regelung trägt noch die Unterschriften der Vertreter der beiden deutschen Staaten. Seine Ratifizierung aber wird die Aufgabe des ersten gesamtdeutschen Parlamentes sein, das nach dem 3. Oktober 1990 zusammentritt.
Wir werden die Ergebnisse der Zwei-plus-VierGespräche am 1. und 2. Oktober zunächst der Außenministerkonferenz der KSZE-Staaten in New York und im Herbst feierlich dem KSZE-Gipfel in Paris vorlegen. Die Teilnehmerstaaten des KSZE-Prozesses erkennen schon heute: Die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands schafft keine neuen Probleme für Europa. Im Gegenteil, die deutsche Einheit stärkt die Hoffnung auf eine bessere Zukunft unseres Kontinents.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

In dem Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland bekennen wir Deutschen uns zur Friedensverantwortung des vereinten Deutschlands. In feierlicher Form bekräftigen wir, daß von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird. Wir stellen fest, daß Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskriegs vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar sind. Wir bekunden vor aller Welt, daß wir keine unserer Waffen jemals einsetzen werden, es sei denn in Übereinstimmung mit unserer Verfassung und mit der Charta der Vereinten Nationen.
Die Politik des vereinten Deutschland wird eine Politik des guten Beispiels sein. In diesem Geist bekräftigen wir den Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen. Wir bekennen uns erneut zu den Rechten und Verpflichtungen aus dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen. Unsere Entscheidung, die Streitkräfte des vereinten Deutschlands innerhalb von drei bis vier Jahren auf 370 000 Mann zu reduzieren, ist ein bedeutsamer deutscher Beitrag zur Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa. Wir hoffen, daß dieses Beispiel Nachahmung finden wird.
Am 3. Oktober wird das deutsche Volk wieder in einem demokratischen Staat leben, zum erstenmal



Bundesminister Genscher
nach 57 Jahren. Die Aussicht auf diesen Tag erfüllt uns mit Freude und mit Dankbarkeit. Sie ist Anlaß zur Besinnung. Nach dem 30. Januar 1933, an dem die Nacht des Faschismus über Deutschland hereinbrach, verloren wir zuerst unsere Freiheit und unseren inneren Frieden. Wir verloren den äußeren Frieden, und wir verloren unsere staatliche Einheit. Viele Deutsche verloren Leben, Gesundheit, Hab und Gut und die Heimat. Wir alle verloren die Achtung und die Freundschaft der anderen Völker. Alles das begann am 30. Januar 1933.
Wir gedenken im Bewußtsein der Zustimmung der Vier Mächte zu unserer staatlichen Einheit des unendlichen Leids, das im deutschen Namen über die Völker gebracht worden ist. Wir gedenken aller Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft. Wir vereinen uns in dem Willen, daß das alles nie wieder geschehen darf.

(Beifall bei allen Fraktionen)

In besonderer Weise gelten unsere Gedanken dabei dem jüdischen Volk. Auch das vereinte Deutschland wird sich seiner besonderen Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk bewußt sein.
Wenn wir heute die Unterzeichnung des Vertrages über die abschließende Regelung würdigen, empfinden wir, daß uns die Völkergemeinschaft mit ihrem Vertrauen auf dem Weg in die staatliche Einheit begleitet. Der Aufbau einer freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung in der Bundesrepublik Deutschland und die Politik des Friedens und der Verantwortung unseres Staates haben uns das Vertrauen der Völker zurückerworben. Die friedliche Freiheitsrevolution in der DDR hat die Völker der Welt überzeugt, daß die Deutschen die Chance der Freiheit für Freiheit und für Frieden nutzen. Die Welt hat erkannt: Wir Deutschen setzen auf die friedenstiftende Kraft von Menschenrecht und Menschenwürde, von Freiheit und Demokratie.
Es ist ein weiter Weg, der uns aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs hierher geführt hat. Es entstand die freiheitlichste und sozialste Staats- und Gesellschaftsordnung unserer Geschichte. Die außenpolitischen Meilensteine dieses Weges sind die Mitgliedschaften im Europarat, im westlichen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft. Mit diesen Schritten kehrten wir in die Gemeinschaft der Demokratien zurück. In den Verträgen von Moskau und Warschau, in dem Vertrag mit der damaligen CSSR und dem Grundlagenvertrag mit der DDR wurde die Grundlage für ein neues Verhältnis mit unseren östlichen Nachbarn gelegt und das Verhältnis der beiden deutschen Staaten für die Zeit der staatlichen Trennung geregelt. Die Namen Konrad Adenauer, Willy Brandt und Walter Scheel stehen für die Grundentscheidungen der deutschen Nachkriegsaußenpolitik.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Die Vertragspolitik der Bundesrepublik Deutschland machte auch den Weg frei für die Schlußakte von Helsinki. Aufbauend auf dem Moskauer Vertrag schuf die deutsch-sowjetische Erklärung vom 13. Juli 1989 eine neue Qualität der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Sie ist ein wichtiger Zwischenschritt zu dem
umfassenden Vertrag, der am 13. September 1990 in Moskau paraphiert wurde.
Die deutsche Vereinigung eröffnet für uns Deutsche die historische Chance, gemeinsam unseren Beitrag für ein friedliches, freiheitliches und vereintes Europa zu leisten. Mit dem europäischen Weg der Deutschen zu ihrer staatlichen Einheit vollendet sich, was in der Präambel unseres Grundgesetzes verankert wurde. Es wird verwirklicht, was Frankreich, die Vereinigten Staaten von Amerika und das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland im Deutschlandvertrag von 1954 zugesagt haben. Es erfüllt sich, was wir mit dem Brief zur deutschen Einheit beim Abschluß des Moskauer Vertrags als Ziel unserer europäischen Friedenspolitik bekräftigt haben.
Wir werden unsere volle Souveränität in europäischer Friedensverantwortung wahrnehmen. Das souveräne, demokratische und freiheitliche Deutschland wird der Einheit, der Stabilität und dem Fortschritt Gesamteuropas verpflichtet sein. Wir wollen auch dazu beitragen, daß Europa seiner Verantwortung bei der Gestaltung einer neuen Weltordnung gerecht werden kann.
Das vereinigte Deutschland wird größeres Gewicht haben. Wir wissen, daß sich die Völker Europas die Frage stellen, wie wir Deutschen dieses größere Gewicht nutzen werden. Es kann darauf nur eine Antwort geben: Mit diesem größeren Gewicht streben wir nicht nach mehr Macht, wohl aber sind wir uns der größeren Verantwortung bewußt, die daraus erwächst.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Die Politik des vereinten Deutschland wird von der Friedenspflicht und den Grundwerten unseres Grundgesetzes bestimmt. Mit Hochachtung und Dankbarkeit gedenken wir der Weitsicht und Klugheit der Frauen und Männer, die unser Grundgesetz geschaffen haben. Auch mit den Erfahrungen von vier Jahrzehnten deutscher Nachkriegspolitik könnte unser Auftrag heute nicht eindrucksvoller formuliert werden als der Verfassungsauftrag in der Präambel unseres Grundgesetzes, nämlich die Einheit Deutschlands zu vollenden, Europa zu vereinigen und dem Frieden der Welt zu dienen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Das bestimmt die europäische Berufung und die Friedensverantwortung der Deutschen. Das Schicksal Deutschlands ist eingebettet in das Schicksal Europas, und zwar stets bewußt: Die deutsche Spaltung kann nur durch Überwindung der Trennung Europas beendet werden. Deshalb sind wir für die Einheit der europäischen Demokratien eingetreten. Deshalb haben wir unsere Verantwortung im westlichen Bündnis übernommen. Unermüdlich haben wir für die Überwindung des West-Ost-Gegensatzes gearbeitet. Wir haben dem KSZE-Prozeß immer wieder neue Impulse gegeben. Wir haben jede Abrüstungschance genutzt, und wir haben für ein neues Verhältnis der Mitglieder der beiden Bündnisse zueinander gearbeitet.



Bundesminister Genscher
Alle diese Bemühungen bis hin zur grundlegenden Verbesserung unserer Beziehungen zur Sowjetunion haben schließlich die Rahmenbedingungen geschaffen, unter denen die Zwei-plus-Vier-Gespräche, die am 13. Februar 1990 in Ottawa beschlossen wurden, in wenigen Monaten beendet werden konnten.
Den Weg europäischer Verantwortungspolitik werden wir fortsetzen. Wir wollen den Ausbau der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union, die die politische Union genauso umfaßt wie die Wirtschafts- und Währungsunion. Je schneller wir die Europäische Union vollenden, desto mehr fördern wir die Einheit Gesamteuropas. Die Europäische Gemeinschaft ist ein Grundelement des zukünftigen einen Europa. Auch die Deutschen in den neuen Bundesländern werden vom 3. Oktober 1990 an der Europäischen Gemeinschaft angehören.
Wir haben Anlaß, den Institutionen der Europäischen Gemeinschaften Dank zu sagen, an der Spitze dem Präsidenten der Kommission, Jacques Delors, dafür, daß sie mit großem Engagement die dafür erforderlichen Entscheidungen vorbereitet und möglich gemacht hat.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Konstitutiv für die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft ist die einzigartige Verbindung zwischen Deutschland und Frankreich. Mit dem 3. Oktober 1990 werden alle Deutschen auch in diese Verbindung einbezogen sein. Wir bekennen uns zu einer immer engeren deutsch-französischen Zusammenarbeit als Grundlage deutscher Außenpolitik. Bundeskanzler Kohl und Präsident Mitterrand haben am 18. September 1990 in München gemeinsam erklärt:
Die Vollendung der deutschen Einheit, die wir gemeinsam begrüßen, gibt unserer Zusammenarbeit, die sich von Anfang an zum Ziel gesetzt hat, zusammen das europäische Einigungswerk in allen Bereichen voranzubringen, eine neue Tragweite und einen breiteren Horizont.
Größere Verantwortung bedeutet, unsere besondere Verantwortung für die Entwicklung in Mittel- und Osteuropa anzunehmen. Nachdem die Mauern der ideologischen Gegensätze, die Mauern aus Stein, gefallen sind, wollen wir nicht, daß Europa durch eine Mauer unterschiedlicher wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Unterschiede neu geteilt wird.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Wir werden über die Einheit der Deutschen die Einheit des ganzen Europa nicht vergessen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Wir wollen ein solidarisches und partnerschaftliches Europa, das die Zukunftserwartungen aller europäischer Völker erfüllt. Nur wenn alle europäischen Staaten den Weg nach Europa beschreiten, werden wir den Rückfall in neuen Nationalismus verhindern können. Die neue Kultur des Zusammenlebens der Völker in der Europäischen Gemeinschaft soll den Geist der
Einigung Gesamteuropas bestimmen. Die europäische Friedensordnung von der schon der Harmel-Bericht unseres Bündnisses aus dem Jahre 1967 sprach, bleibt unser Ziel.
Unser Beitrag für das eine Europa ist eine Investition auch in unsere europäische Zukunft. Tragfähige politische, ökonomische, soziale und ökologische Rahmenbedingungen für die Veränderungsprozesse in den Staaten Mittel- und Osteuropas sind die große Aufgabe einer europäischen Stabilitätspolitik, in der die militärischen Faktoren eine immer geringere Rolle spielen. Unser ökonomisches und politisches Gewicht und unsere Lage im Herzen Europas weisen uns hier eine besondere Verantwortung zu. Dabei ist uns stets bewußt, daß die Sowjetunion zu Europa gehört und daß ohne sie das eine Europa nicht entstehen kann.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Diesem großen Ziel dient der in Moskau paraphierte Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit. Dieser Vertrag schafft nicht nur eine neue, zukunftsgerichtete Grundlage für das deutsch-sowjetische Verhältnis, er entspricht zugleich der zentralen Bedeutung dieser Beziehung für ganz Europa. Diese Bedeutung wurde bei der Begegnung des Bundeskanzlers mit Präsident Gorbatschow im Juli 1990 im Kaukasus erneut deutlich. Wir wollen, daß in das neue Verhältnis auch die Menschen in unseren beiden Staaten einbezogen werden. Das gilt auch für die sowjetischen Soldaten, die in den nächsten drei bis vier Jahren das Gebiet der heutigen DDR verlassen werden.
Beide Staaten gehen daran, für ganz Europa, Neues zu schaffen. Das richtet sich nicht gegen andere, und das nimmt niemandem etwas. Es gibt aber Europa zusätzliche Stabilität.
Dieser richtungsweisende Vertrag zeigt, daß es beide Staaten mit der Absicht ernst meinen, die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Wir wollen einander in jeder Hinsicht Vertrauen gönnen. Der Vertrag schafft dafür die Grundlage.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vor uns liegen die Chancen einer umfassenden, breiten und zukunftsorientierten Kooperation. Diese Kooperation wird nicht nur eine deutsch-sowjetische Angelegenheit sein, aber durch eine enge Zusammenarbeit mit Deutschland, das Mitglied der Europäischen Gemeinschaft ist, das im westlichen Bündnis fest verankert ist und zu den Motoren des KSZE-Prozesses gehört, verbindet die Sowjetunion ihre Zukunft mit dem Schicksal Europas.
Unsere größere Verantwortung für die Zukunft Europas erkennen wir auch für unser Verhältnis zu Polen. Die Unverletzlichkeit der Grenzen ist ein Kernelement der Friedensordnung in Europa. Der Vertrag vom 12. September 1990 bestätigt den endgültigen Charakter der Grenzen des geeinten Deutschland. Das vereinte Deutschland hat keinerlei Gebietsan-



Bundesminister Genscher
Sprüche gegen andere Staaten und wird solche auch in Zukunft nicht erheben.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Das vereinte Deutschland wird die bestehende deutsch-polnische Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag bestätigen. Das wird innerhalb der kürzestmöglichen Zeit nach der Herstellung der deutschen Einheit geschehen. Für Millionen Deutsche, die ihre Heimat unter schmerzlichen Bedingungen aufgeben mußten, bedeutet diese Entscheidung einen besonderen und persönlichen Beitrag zum Frieden in Europa.
Schon mit dem Warschauer Vertrag haben wir den Teufelskreis von Unrecht und Gegenunrecht für immer durchbrochen und damit den Weg für die Aussöhnung mit dem polnischen Volk geebnet. Unser Verhältnis zu Polen drückt in besonderer Weise unsere europäische Berufung aus. Es ist deshalb unsere Absicht, in einem zusätzlichen umfassenden deutschpolnischen Vertrag die Grundlagen für ein neues Kapitel guter deutsch-polnischer Nachbarschaft aufzuschlagen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Größere Verantwortung werden wir auch bei der Vertiefung und der Institutionalisierung des KSZE- Prozesses erfüllen. Das ist die große europäische Gestaltungsaufgabe des nächsten Jahrzehnts. Vor 15 Jahren haben sich die 35 Unterzeichnerstaaten mit der Schlußakte von Helsinki auf die Freiheit, auf Demokratie und auf die Achtung der Menschenrechte verpflichtet. Die Entwicklung seitdem hat der kühnen Entscheidung von 1975 recht gegeben.
Die Gipfelkonferenz am 19. November in Paris wird den KSZE-Prozeß auf eine neue Stufe heben und die ersten gemeinsamen Institutionen des neuen, des einen Europa schaffen. Mit regelmäßigen Tagungen der Staats- und Regierungschefs und der Außenminister, mit einem Konfliktverhütungszentrum und einem Sekretariat werden erste solide Fundamente für eine dauerhafte kooperative Friedensordnung in ganz Europa entstehen.
Aus der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa entwickelt sich mit unserer aktiven Mitwirkung Schritt für Schritt eine Struktur europäischer Zusammenarbeit, Sicherheit und Stabilität. Das Ende der Ost-West-Konfrontation und ein neues Verhältnis zwischen den Mitgliedsstaaten der beiden Bündnissysteme machen den Weg für neue kooperative Strukturen in Europa frei, auch für kooperative Sicherheitsstrukturen, in denen unser Bündnis, dem auch das vereinigte Deutschland angehören wird, eine wichtige Rolle für die europäische Stabilität zu erfüllen hat.
Die Soldaten unserer Bundeswehr behalten in dieser kooperativen Sicherheitspolitik unter veränderten Umständen ihren Auftrag der Friedenssicherung. Es wird die eine Bundeswehr sein, in der Soldaten in ganz Deutschland ihren Friedensdienst in Freiheit und Demokratie erfüllen. Das eine deutsche Volk hat eine Armee, auch wenn der sicherheitspolitische Status in den neuen Bundesländern vorerst unterschiedlich ist. Das bedeutet auch, daß Soldaten der Bundeswehr nach dem 3. Oktober 1990 neben Soldaten der Roten Armee stationiert sein werden. Wir wollen, daß sich daraus neues Vertrauen und gute Partnerschaft ergeben.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Wüppesahl [fraktionslos])

Mit einem im KSZE-Rahmen institutionalisierten kooperativen europäischen Sicherheitssystem werden wesentliche Bausteine einer neuen europäischen Friedensordnung vom Atlantik bis zum Ural geschaffen. Dafür müssen die Abrüstungsverhandlungen die davongeeilte politische Entwicklung wieder einholen. Wir werden diesen Verhandlungen neue Impulse geben.
Größere Verantwortung bedeutet für uns auch eine Stärkung des transatlantischen Verhältnisses. Der Atlantik soll nicht breiter werden, wenn die Europäische Gemeinschaft auf dem Wege zur Europäischen Union immer mehr an Identität gewinnt. Im Gegenteil, die beiden Kontinente müssen noch mehr zusammenrükken. Eine transatlantische Erklärung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den nordamerikanischen Demokratien wird dieser Verbindung eine neue Qualität geben. Die Initiative zu dieser Erklärung geht von uns aus. Wir sehen sie in der Perspektive deutscher und europäischer Einheit.
Das westliche Bündnis, das mit seiner Londoner Erklärung vom 6. Juni 1990 seine Zukunft und seine Verantwortung neu bestimmt, verbindet die USA und Kanada mit den neu entstehenden Strukturen kooperativer Sicherheit in Europa. Die untrennbare Verbindung der USA und Kanadas mit dem europäischen Schicksal und ihre Teilnahme an dem KSZE-Prozeß kommen in der Abhaltung der KSZE-Außenministerkonferenz am 1. und 2. Oktober 1990 auf amerikanischem Boden sichtbar zum Ausdruck.
Mit der Überwindung des Ost-West-Konflikts wird der Blick frei für die Chancen einer neuen Weltordnung. Die Teilung Europas und der West-Ost-Konflikt haben über Jahrzehnte unsere Kräfte gebunden. Wir wollen sie nun gemeinsam für Europa und für die Welt einsetzen.
Das geeinte Deutschland wird weltoffen sein und auch darin seiner größeren Verantwortung gerecht werden. Je freiheitlicher und je toleranter, je gerechter und je sozialer unsere Staats- und unsere Gesellschaftsordnung sein werden, um so mehr werden wir uns das Vertrauen der Völker erwerben und um so mehr werden wir den Grundwerten unserer Verfassung und dem Geist der friedlichen Erhebung in der DDR gerecht. Freiheitlichkeit, Toleranz, Gerechtigkeit und soziale Verantwortung, Solidarität und Brüderlichkeit werden sich gerade jetzt bei der menschlichen Vereinigung der Deutschen bewähren müssen.
Die Politik des guten Beispiels verpflichtet uns, die globalen Herausforderungen anzunehmen. Es geht um die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen. Es geht darum, die Überwindung von Hunger und Armut in der Dritten Welt als die weltweite soziale



Bundesminister Genscher
Aufgabe am Ende dieses Jahrhunderts zu begreifen. Es geht um die Bewältigung der Probleme der Konversion von Rüstungs- in Friedenswirtschaften. Die eine Welt, in der wir leben, verlangt nach neuen Strukturen der Kooperation und der Friedenssicherung, regional und global.
Alle diese Aufgaben wird das vereinte Deutschland als besondere Herausforderung verstehen. Die Grundwerte unserer Verfassung bestimmen nicht nur unsere innerstaatliche Ordnung; sie bestimmen auch unser Zusammenleben mit den anderen Völkern und unser weltweites Handeln. Die Achtung vor der unantastbaren Würde des Menschen ist Maßstab unserer Politik nach innen und nach außen.
Bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen haben alle mit dem Ziel gehandelt, dem gemeinsamen Erfolg größeres Gewicht zu geben als dem Streben nach einseitigen Vorteilen. Dieses Beispiel gibt uns Hoffnung auf eine neue Kultur des internationalen Zusammenlebens. Wir wollen, daß das vereinte Deutschland durch seine Politik dazu beiträgt.
Wir Deutschen danken an der Schwelle zur deutschen Einheit unseren Freunden und Verbündeten im Westen, die uns die Rückkehr in die Gemeinschaft der freien Völker geebnet haben. Sie sind in guten und in schlechten Jahren für Berlin und für uns Deutsche eingestanden.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Die Luftbrücke nach Berlin wird unvergessen bleiben.
Wir danken Präsident Bush, Präsident Mitterrand, Premierministerin Thatcher, ohne deren Beistand und ohne deren Verständnis für das Anliegen unseres Volkes diese Erklärung heute hier nicht hätte abgegeben werden können.
Wir danken Präsident Gorbatschow. Er hat mit seiner mutigen Politik Europa eine neue Zukunft und Deutschland die Chance zur Einheit in Freiheit eröffnet.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Auch das wird die Zukunft des deutsch-sowjetischen Verhältnisses bestimmen.
Wir danken auch den Völkern Mittel- und Osteuropas. Daß das ungarische Volk als erstes den Eisernen Vorhang durchschnitt, wird bei uns unvergessen bleiben.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Ich danke meinen Kollegen, den Außenministern der USA, der Sowjetunion, Frankreichs und des Vereinigten Königreichs.
Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen, meine Herren, die Welt blickt auf Deutschland. Die Welt soll wissen: Wir kennen unsere Verantwortung, und wir werden sie erfüllen. Wir Deutschen wollen
nichts anderes als in Freiheit, in Demokratie und in Frieden mit allen Völkern Europas und der Welt leben.

(Bundeskanzler Dr. Kohl: Sehr gut!) Ich danke Ihnen.


(Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/ CSU sowie Beifall bei der SPD, bei Abgeordneten der GRÜNEN und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122600200
Vor Eröffnung der Aussprache erteile ich dem Abgeordneten Wüppesahl das Wort zur Geschäftsordnung.

(Unruhe bei der CDU/CSU)


Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1122600300
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren hier im Hause! Es gibt bestimmte Regularien, die in unserer Geschäftsordnung niedergelegt sind. Dazu gehört, wie man mit Geschäftsordnungsanträgen verfährt, wenn sie gestellt werden. Dagegen ist eben eindeutig verstoßen worden. Dies muß ich, bei allem Respekt unserer Präsidentin gegenüber, meinem eigentlichen Anliegen doch voranstellen. Diese Kritik ist um so bedeutender, als ich meine Vorstellungen nicht im Ältestenrat einbringen kann.
Einzelne Reaktionen eben bei diesen Ausführungen dokumentieren nochmals, mit welcher Selbstherrlichkeit bei vorhandener Ohnmacht des einzelnen Abgeordneten über solche selbstgesetzten Regeln gelegentlich hinweggegangen wird.
Ich denke, es ist deutlich geworden, daß der Feierstundencharakter, den wir bei der Regierungserklärung eben erlebt haben, gegen deren Ergebnis niemand in diesem Hause etwas haben kann — —

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122600400
Herr Abgeordneter Wüppesahl, wann kommen Sie zu Ihrem Geschäftsordnungsantrag?

Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1122600500
Ich bin gerade dabei, Frau Präsidentin.

(Frau Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Nein! — Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das sind Sie nicht!)

Dieser Feierstundencharakter also soll die eigentliche Problematik der zweiten und dritten Lesung des Einigungsvertrags überdecken; ich meine die großen Mängel und Widersprüche in diesem Vertragstext.
Deshalb beantrage ich hiermit, die vor uns liegende zweite Lesung des Einigungsvertrags wie folgt zu gliedern.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Erstens. Für jedes Fachgebiet, das in Anlage I des Einigungsvertrags aufgeführt ist, beträgt die Debattendauer jeweils eine Stunde. Das entspräche einer Strukturierung, wie wir sie von den Haushaltsdebatten kennen.
Zweitens. Da sich dies aber zu einer 13stündigen Debatte auswachsen würde, schlage ich vor, heute die Kapitel II, III, IV, V, VIII, X, XII und XVI der Anlage I des Staatsvertrags in der von mir vorgeschlagenen



Wüppesahl
Weise zu lesen. Dies wäre dann eine 8stündige Debatte für heute. Wir könnten bei humanen Arbeitsbedingungen mit einer Stunde Mittagspause gegen 18 Uhr mit dem ersten Teil der zweiten Lesung des Einigungsvertrags Schluß machen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Aufhören!)

— Bevor Sie sich so ereifern, überlegen Sie bitte, worüber Sie sich ereifern! Dies ist eine Vorgehensweise, wie wir sie von Haushaltsdebatten kennen, für die wir mehrtägige Debatten ansetzen.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Bodenlose Dummheit!)

Danach schlösse sich die Aussprache zur Regierungserklärung an.
Drittens. Die verbleibenden Anlagen des Einigungsvertrags würden im zweiten Teil der zweiten Beratung dann morgen, Freitag, gelesen werden.
Meine Begründung hierzu ist folgende. Der von der Bundesregierung und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik erarbeitete Einigungsvertrag ist, allein was seinen Umfang und noch mehr was den Wert seines Inhalts und der durch ihn betroffenen Politikfelder — praktisch die gesamte Gesellschaft — angeht, eines der umfangreichsten, wenn nicht gar das umfangreichste Gesetzeswerk, über das der Deutsche Bundestag jemals zu beraten hatte. Dabei sei auch an die ausführlichen Debatten und Meinungsbildungsprozesse in der Öffentlichkeit und der Fachöffentlichkeit erinnert, die z. B. im Zuge der Steuerreform, der Gesundheitsreform oder der Rentenreform durchgeführt wurden. Hierzu haben wir uns ungefähr gleich viel Zeit gegönnt, wie es heute geplant ist. Der jetzt zu beratende Gegenstand verdient jedoch eine Aufmerksamkeit und Beratung, die über das vorgeschlagene Maß und auch über das Zeitmaß, in dem die eben genannten Gesetzeswerke beraten wurden, hinausgeht. Er verdiente die Aufmerksamkeit und Beratung, die den Staatsverträgen der 50er Jahre zukam. Für jede Haushaltsdebatte einmal im Kalenderjahr leisten wir uns mehr Zeit als für diesen Einigungsvertrag. Das ist der reinste Hohn!
Mehr Zeit als vorgesehen für die Lesung zu verwenden wird dadurch noch dringlicher, daß der Einigungsvertrag auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland betrifft, und zwar mit Veränderungen an mehreren Stellen.
Das Durchmarschtempo aber, in dem die deutsche Einheit besiegelt wird, wird — so stehen die Fakten — nicht vom Parlament bestimmt, sondern von der Bundesregierung. Angesichts der von mir schon angeführten Tragweite des Beratungsgegenstands sollte die Bundesregierung endlich auch das Parlament real in die Beratung einbeziehen. Der von mir vorgeschlagene Zeitplan ist da schon der äußerste Kompromiß, den ein Parlament — begreift es sich noch als Parlament, in dem die wesentlichen Entscheidungen für ein Volk im offenen Diskurs erörtert und getroffen werden, nicht nur als Zustimmungsmaschine — eingehen kann.
Letzter Aspekt: Die letzte Debatte um den Wahlvertrag belegt, daß auch zweite Lesungen von Gesetzentwürfen letztlich dazu dienen, Wahlkampf zu machen.
So wurde zur zweiten und dritten Lesung nicht mehr zur Sache geredet. Daher ergibt sich, daß von dem von mir vorgeschlagenen Beratungszeitplan für jedes Fachgebiet faktisch wieder die Hälfte für Wahlkampf abgezogen werden muß

(Lachen bei der SPD)

und hoffentlich die zweite Hälfte zur sachdienlichen Erörterung benutzt werden kann.
Wir dürfen aber nicht zulassen, daß die Beratung der Zukunft des vereinten Deutschland allein kurzsichtigen Wahlkampfdebatten zum Opfer fällt. Dies würde bei den Bürgern zu einem noch größeren Verlust an Vertrauen in die parlamentarische Demokratie führen.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Beratungsvorschlag.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122600600
Herr Abgeordneter Wüppesahl, ich habe Ihren Geschäftsordnungsantrag vorher zur Kenntnis genommen. Er betraf die Dauer der Debatte, wie gerade ausgeführt. Dies ist vor Eintritt in die Aussprache hier zur Sprache gekommen, und darüber wird gleich entschieden. Ich habe in der Tat entschieden, daß dieser Zeitpunkt gewählt wird. Ich denke, daß der Gegenstand des heutigen Tages es rechtfertigt, die Regierungserklärung vor die Geschäftsordnungsdebatte zu stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich lasse jetzt über den Antrag des Abgeordneten Wüppesahl, die Debattenzeit auf 17 Stunden auszudehnen, abstimmen. Wer stimmt dem Antrag zu? — Einer. Wer stimmt dagegen? — Der Antrag ist gegen eine Stimme abgelehnt.
Ich erteile jetzt das Wort zur Aussprache dem Ministerpräsidenten des Saarlandes, Herrn Lafontaine.

(Frau Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Muß das sein?)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1122600700
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundesaußenminister hat soeben für die Bundesregierung über die äußeren Aspekte der Einheit berichtet.

(Kraus [CDU/CSU]: Da haben Sie recht!)

Die äußeren Aspekte der Einheit kommen gut voran. Wir haben dies bereits in der letzten Debatte zum Ausdruck gebracht.
Ich werde den Schwerpunkt meiner Ausführungen auf die inneren Aspekte der Einheit legen. Sie sind Gegenstand des zweiten Staatsvertrages, und hier liegt noch eine weite Wegstrecke vor uns.
Zunächst zu den äußeren Aspekten der Einheit. Ich habe bei meinem letzten Debattenbeitrag, Herr Bundesaußenminister, Ihre Verdienste beim Zustandekommen der Verträge gewürdigt. Ich will dies nicht wiederholen.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Warum nicht?)

Ich möchte heute aber ausdrücklich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Außenministeriums ein-



Ministerpräsident Lafontaine (Saarland)

schließen, ohne die die Ergebnisse sicherlich nicht zustande gekommen wären.

(Beifall bei der SPD, der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU — Dr. Bötsch [CDU/ CSU]: Wo er recht hat, hat er recht!)

Wir haben durch die Berichterstattung der Medien in den letzten Monaten zur Kenntnis erhalten, in welchem Umfange dort manchmal Nächte hindurch gearbeitet worden ist. Ich meine, es sei ein Gebot der Fairneß, dies hier auch einmal an die Adresse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter festzustellen.
Ich bedanke mich auch ausdrücklich bei Ihnen, Herr Bundesaußenminister, dafür, daß Sie die Größe besessen haben, die Verdienste des Bundeskanzlers Willy Brandt bei der demokratischen Erneuerung in Osteuropa zu würdigen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Ich glaube, das ist ein Beitrag zur demokratischen Kultur. So, wie wir im Laufe langjähriger Debatten zu dem Ergebnis gekommen sind, daß die Westintegration Adenauers die richtige Grundsatzentscheidung nach dem Kriege war, wäre es gut, wenn wir uns darauf verständigen könnten, daß die Ostpolitik Willy Brandts konstituierend für das war, was in Osteuropa an demokratischer Erneuerung möglich geworden ist.

(Beifall bei der SPD, bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Wir stimmen Ihren Ausführungen im Grundsatz zu, insbesondere deshalb, weil die Grundlage der Vereinbarungen und Verträge politische Konzepte sind, für die die Sozialdemokraten seit Jahren eintreten. Ich will sie nennen.
Da ist zunächst unser Eintreten für die endgültige Festlegung der polnischen Westgrenze. Es ist begrüßenswert, daß diese Festlegung jetzt vertraglich endgültig erfolgt ist. Wir Sozialdemokraten haben vielen Anfeindungen zum Trotz über Jahre hindurch erklärt: Nur die Anerkennung der polnischen Westgrenze kann Voraussetzung für die deutsche Einheit sein.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Wir begrüßen, daß in diesem Vertrag zum erstenmal eine atomwaffenfreie Zone festgeschrieben worden ist. Wir wissen, wie umstritten diese Vorschläge in den letzten Jahren waren.
Die Konsequenz daraus ist natürlich, auch aus dem westlichen Deutschland die Atomwaffen abzuziehen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Wenn wir den Verzicht auf die Herstellung und auf die Verfügung über solche Waffen befürworten, dann ist es in der Konsequenz der atomwaffenfreien Zone auf dem Gebiet der heutigen DDR wohl auch richtig, da-
hin zu kommen, daß solche Waffen endgültig aus ganz Deutschland abgezogen werden.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Wir begrüßen, daß in dem Vertrag eine drastische Reduzierung der Streitkräfte vorgesehen ist. Seit Jahren treten wir dafür ein und versuchen immer wieder, Vorschläge zu machen, auch die konventionellen Streitkräfte in Mitteleuropa abzubauen. Die Zahl von 370 000 Soldaten ist ein erster großer und wichtiger Schritt.
In den letzten Tagen ist so viel davon geredet worden, welche neue Rolle das vereinte Deutschland eigentlich spielen soll. Dabei ist hier oder da auch unbedachterweise der Begriff der Weltmacht wieder verwandt worden. Ich glaube, daß wir alle' uns sehr viel Zurückhaltung auferlegen sollten, wenn solche Begriffe in der Debatte auftauchen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Ich würde mir etwas ganz, ganz anderes wünschen, nämlich daß wir die neugewonnenen Chancen dazu nutzen, Vorreiterrollen zu übernehmen. Eine Vorreiterrolle sollte auf der Grundlage unserer Geschichte unsere Bemühungen um Abrüstung in Mitteleuropa sein. Dies stünde uns gut zu Gesicht.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Ich erinnere im Hinblick auf die Diskussionen der letzten Monate und die Belastungen, die auf uns zukommen und immer stärker auf uns zukommen werden, daran, daß eine Reihe von Entscheidungen zu treffen sind, um die Belastungen zu reduzieren und um die Abrüstung weiter voranzubringen.
Das betrifft den Jäger 90, der — Zinslasten und Unterhaltungskosten eingerechnet — 100 Millarden DM kosten wird. Lassen Sie dieses Projekt endlich fallen; das wäre ein weiterer wichtiger Schritt zur Abrüstung in Mitteleuropa.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Wir begrüßen auch, daß Grundlage dieses Vertrages die Änderung der Strategie des Bündnisses in Europa ist. Lange Jahre haben wir über die Vorneverteidigung diskutiert, und lange Jahre haben wir darauf hingewiesen, daß die flexible Antwort keine zeitgemäße Strategie in Mitteleuropa ist. Es ist begrüßenswert, daß die NATO jetzt angekündigt hat, diese Strategie zu ändern. Wir haben über Jahre Konzepte dazu entwickelt, und wir freuen uns, daß diese Konzepte jetzt in diesen Vertrag und in die internationalen Verhandlungen Eingang gefunden haben.
Im Zusammenhang mit der Abrüstung in Mitteleuropa möchte ich etwas zum Wehrdienst sagen. Bei der Selbstgefälligkeit, die mir hier und da wieder entgegenschlägt, erinnere ich daran, daß wir noch vor kurzer Zeit verhindern mußten, daß Teile der Regierungsparteien die Wehrdienstzeiten verlängern wollten.

(Zustimmung bei der SPD)




Ministerpräsident Lafontaine (Saarland)

Dies wäre — wenn ich an die Aufgabe denke, die Abrüstung in Mitteleuropa voranzubringen — das verkehrteste Signal der letzten Jahre gewesen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Auch in diesem Punkt haben Sie jetzt ein Einsehen gehabt — dies ist eine Konsequenz auch der Vereinbarungen, die jetzt getroffen worden sind — , und Sie haben vorgeschlagen, für den Wehrdienst eine Zeit von zwölf Monaten und für den Zivildienst eine Zeit von 15 Monaten vorzusehen.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU)

Ich erkläre hier für die sozialdemokratische Mehrheit des Bundesrates: Mit dieser Regelung können wir uns nicht einverstanden erklären.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Sie ist nicht mehr zeitgemäß. Es ist an der Zeit, daß wir lernen, daß insbesondere auf Grund der jüngeren Entwicklungen in Mitteleuropa die gesellschaftliche Arbeit der Zivildienstleistenden bei der Krankenpflege, bei der Altenpflege oder bei vielen anderen schwierigen Tätigkeiten genauso hoch zu bewerten ist wie der Militärdienst. Daher ist unsere Position: Gleichbehandlung der Wehrdienstleistenden und der Zivildienstleistenden.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Ich will auch etwas zu den Kosten für den Abzug der sowjetischen Truppen sagen. Diese Kosten sind unvermeidlich. Aber es wäre sicherlich besser gewesen, sie mit einem ökonomischen Hilfsprogramm für die Völker Osteuropas und für die Sowjetunion zusammenzubinden. Es geht ja nicht nur um die Kosten für den Abzug der sowjetischen Truppen, sondern auch und mehr noch darum, daß nicht eine ökonomische und soziale Grenze an Oder und Neiße entsteht. Daher bleibt es dabei: Wir brauchen auch ein ökonomisches Programm für Osteuropa und für die Sowjetunion.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Wenn über die Kosten des Abzugs der Truppen und über unsere Aufgaben in Osteuropa gesprochen wird, dann bietet es sich an, auch einiges zu der Diskussion in Amerika über das Burden-sharing in der Welt zu sagen. Ich glaube, daß es dem berechtigten deutschen Interesse entspricht, wenn wir darauf hinweisen, daß Lastenverteilung nur insgesamt begriffen werden kann, wenn wir darauf hinweisen, daß die Deutschen in Mitteleuropa derzeit große Lasten übernehmen, um die ökonomische und soziale Lage zu stabilisieren, und wenn wir darauf hinweisen, daß diese Lasten, die auf uns zukommen, nicht allein eine Angelegenheit der Deutschen sein können. Dies gilt nicht nur für den Abzug der sowjetischen Truppen; dies gilt genauso für die dringend notwendigen ökonomischen Hilfsprogramme für Osteuropa. Wenn über Burden-sharing geredet wird, dann meine ich, ist es in unserem Interesse, an diese finanziellen Lasten zu erinnern.
Ich rate im übrigen dazu, bei der Behandlung dieser Frage ebenfalls Zurückhaltung an den Tag zu legen. Es ist nicht unbedingt geboten — dies ist die Position der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands —,
jetzt schleunigst eine Verfassungsänderung herbeizureden, um den Einsatz von Bundeswehreinheiten am Golf zu ermöglichen. Wir haben vorher eine ganze Reihe anderer Fragen zu klären. Daher ist es gut, daß es dank der sozialdemokratischen Mehrheit im Bundesrat gelungen ist, ein Waffenexportgesetz zustande zu bringen, das stringentere Lösungen vorsieht, als Sie sie vorgeschlagen haben. Es wäre doch unhaltbar, wenn wir Bundeswehreinheiten an den Golf schickten, die dann mit deutschen Raketen und chemischen Waffen aus Deutschland konfrontiert würden.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Thema verfehlt!)

Sie, Herr Bundesaußenminister, haben in Ihrer Rede an Israel erinnert. Ich will nur ganz leise andeuten, was es wohl bedeutete, wenn bei kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten solche Waffen aus Deutschland auch gegen Israel zum Einsatz kämen.
Meine Damen und Herren, bevor es also darum geht, schnell die Verfassung zu ändern, geht es darum, daß wir eine Debatte, die wir seit Jahren in diesem Hause führen, endgültig positiv zu Ende bringen. Wenn es um die Vorreiterrolle geht, dann plädieren wir dafür, zum einen bei der Abrüstung Vorreiter zu sein, aber noch mehr Vorreiter zu sein, wenn es um Zurückhaltung beim Export von Waffen in Gebiete geht, die destabil sind und die Kriegsherde werden können.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Im übrigen ziehen wir aus der Golfkrise neben der Schlußfolgerung, bei Waffenexporten zurückhaltend zu sein, noch eine andere Schlußfolgerung. Die Golfkrise ist Veranlassung für uns, noch einmal darauf hinzuweisen, daß die ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft für alle Industriegesellschaften auch ein Beitrag zur Stabilisierung des Friedens wäre.

(Zustimmung bei der SPD und den GRÜNEN)

Unser ökologisches Erneuerungskonzept ist durch die Golfkrise nicht widerlegt; es ist vielmehr geradezu als der richtige Entwurf für die Zukunft unserer Gesellschaft belegt.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Natürlich freuen wir uns über die Lernfähigkeit innerhalb der Koalitionsparteien. Ich erinnere mich noch daran, wie unser Ökosteuerkonzept kritisiert worden ist, insbesondere aus den Reihen der Liberalen. Nun sind Sie, meine Damen und Herren, bei der Klimaschutzsteuer. Wir loben das ausdrücklich. Nun kommt aus Baden-Württemberg ebenfalls der Vorschlag einer Klimaschutzsteuer. Wir loben das ausdrücklich. Wir freuen uns immer wieder, wenn es den Sozialdemokraten gelingt, richtige Politikentwürfe durchzusetzen.

(Beifall bei der SPD)

Seien Sie daher in Zukunft etwas zurückhaltend mit
dem Vorwurf der „Steuererhöhungspartei". Bemühen
Sie sich, sachlich zu debattieren. Dann werden Sie zu



Ministerpräsident Lafontaine (Saarland)

der Einsicht kommen, daß die gesamtpolitische Lage uns dazu anhält, auch bei der Umgestaltung des Steuersystems ökologische Aspekte einzubringen.
Wenn es dann um die Fragen der zukünftigen Rolle Deutschlands im Rahmen der UN-Aktionen geht, sind wir bereit, im Rahmen des Verfassungsrats über diese Fragen zu reden,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Einen Verfassungsrat gibt es nicht! Das wissen Sie so gut wie ich!)

aber — das sage ich an die Adresse der CDU/CSU im besonderen — nur im Rahmen des Verfassungsrats, damit das ganz klar ist.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Aha! Rückzug! Sehr gut! Sich vor der Verantwortung drücken!)

Wir bleiben dabei: Eine Verfassung, Herr Bötsch, bedarf der Zustimmung des Volkes und ist nicht die Angelegenheit einer Minderheit in unserem Volk.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Wenn es um die Frage der Verfassungsänderung geht, dann ist sorgfältige Beratung geboten. Sicherlich wird jeder von Ihnen jetzt zuhören, wenn ich sage, daß sich Fragen, wie sie jetzt zu erörtern sind, anders stellen, wenn man eine Armee aus Wehrpflichtigen hat, als wenn man eine Armee aus Berufssoldaten hat. Jeder möge für sich überlegen, was das bei der Diskussion über eventuelle Einsätze der Bundeswehr in Krisengebieten dieser Welt heißt, die wir zukünftig zu führen haben.
Ich komme damit zu den inneren Aspekten der Einheit, um die es beim zweiten Staatsvertrag geht.

(Zuruf von der FDP: Zur Sache, Schätzchen! — Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Ein bißchen spät!)

Es geht um die ökonomische und soziale Lage in beiden Teilen Deutschlands. So sehr ich gesagt habe, daß sich die äußeren Aspekte der Einheit positiv entwikkeln, so sehr muß ich darauf hinweisen, daß sich die inneren Aspekte der Einheit nicht positiv entwickeln. Wir haben derzeit eine gegenläufige Entwicklung. Die westdeutsche Wirtschaft boomt. Sie macht riesige Umsätze. In der DDR-Wirtschaft haben wir einen dramatischen Einbruch. Das kann doch wohl nicht die Richtung sein, die am Anfang der deutschen Einheit stehen sollte!

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Es ging für uns alle um die Aufgabenstellung, eine Staatswirtschaft in eine Marktwirtschaft zu überführen. Bei dieser Aufgabenstellung kann man richtige Entscheidungen treffen. Man kann aber auch falsche Entscheidungen treffen.

(Kraus [CDU/CSU]: Das ist immer so!)

Es ist viel zu billig, wenn versucht wird, eine Reihe von
Entscheidungen, die zu den vorausgesagten Folgen
geführt haben, jetzt so zu interpretieren, als seien dies
noch die Folgen des ehemaligen Systems oder als sei keine andere Entscheidung möglich gewesen.

(Lachen bei der CDU/CSU — Bühler [Bruchsal] [CDU/CSU]: Sie verteidigen noch dieses System!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Verantwortung für eine Reihe von Entscheidungen, die in den letzten Wochen und Monaten getroffen worden sind, tragen nicht die ehemaligen Machthaber in der DDR, sondern Sie mit Ihrer Mehrheit hier im Bundestag. Sie sollten sich dieser Verantwortung stellen!

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Dr. Schroeder [Freiburg] [CDU/CSU]: Wer ist denn bei Ihnen im Saarland schuld?)

Nun komme ich zu einer Reihe von Punkten, die ich bereits im August hier angesprochen habe. Sie tragen nach wie vor die Verantwortung für einen Investitionsstau in der DDR

(Beifall bei der SPD)

und für die Gefahr, daß begangenes Unrecht dadurch geheilt werden soll, daß neues Unrecht geschieht. Ich rede jetzt von Ihrer unmöglichen Bodenpolitik in der DDR. Bereits im ersten Staatsvertrag haben Sie das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" gefordert. Das ist bei dem Versuch, die ökonomische Erneuerung in der DDR auf den Weg zu bringen, ein entscheidender Fehler gewesen. Ich war gestern und vorgestern in der DDR und habe viele Gespräche geführt.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP — Kraus [CDU/CSU]: Wie viele?)

— Ihre Albernheit ist wenig beeindruckend. Stellen Sie sich den dringenden Fragen des Bodensrechts. Das ist eine der brennendsten Fragen in der DDR.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Dort hat mich ein Geschäftsmann angerufen.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Der einzige, den Sie kennen! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

Er hat mir mitgeteilt, daß er sein Geschäft erweitern will

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Bravo!)

und daß er das deshalb nicht tun kann, weil er nicht weiß, ob er weiter über seinen Boden verfügen kann; denn ein Erbe eines ehemaligen Grundbesitzers aus der DDR hat bereits bei ihm vorgesprochen. Er tauchte unangemeldet in seinem Laden auf, vermaß das Geschäft und das Grundstück und beanspruchte Rückgabe.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Graf Lambsdorff läßt grüßen!)

Ich habe ebenfalls mit einem mittleren Unternehmer gesprochen, der mir gleiches berichtet hat. Ich habe mit Handwerkern gesprochen,

(Zurufe von der CDU/CSU)




Ministerpräsident Lafontaine (Saarland)

die selbiges berichten. Meine Damen und Herren, es hat keinen Sinn, daß Sie sich hier zum Anwalt der Interessen des Mittelstandes aufwerfen und katastrophale Fehler machen, wenn es darum geht, den Aufbau des Mittelstandes in der DDR auf den Weg zu bringen. Katastrophale Fehler!

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Es wäre wirklich wünschenswert, wenn sich der eine oder andere, der sich hier so einläßt, wie ich das gerade erlebe, einmal vor Ort über die Probleme informieren würde.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] — Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Es geht nicht nur um den ökonomischen Aufbau, sondern es geht auch um die soziale Gerechtigkeit. Viele, auch ältere Menschen, kommen jetzt zu uns und fragen: Können wir noch in unseren Wohnungen wohnen bleiben? Können wir noch in den Häusern wohnen bleiben, die wir vor Jahren einmal bezogen haben? Das ist doch nicht mit Albernheit, sondern nur mit einem klaren Grundsatz zu bewältigen, den wir Sozialdemokraten zur Bedingung unserer Zustimmung zum zweiten Staatsvertrag gemacht haben. Dieser Grundsatz lautet: Das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" ist umzukehren. Für uns steht „Entschädigung vor Rückgabe" an erster Stelle; denn begangenes Unrecht kann man nicht durch neues Unrecht heilen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das steht aber nicht im Vertrag, Herr Lafontaine!)

Der zweite Bereich, in dem Sie den ökonomischen Aufbau der DDR verzögert haben, ist die Behandlung der Altschulden. Auch hier haben wir Ihnen in den Verhandlungen zum zweiten Staatsvertrag Konzessionen abgerungen. Das Moratorium ist besser als nichts, aber letztendlich werden die Vorschläge, die die SPD-Fraktion schon seit Monaten macht, wirksam werden müssen. Das Moratorium hilft jetzt zwar weiter, aber wer die Kreditfähigkeit der unternehmenden Einheiten am Markt in der DDR wirklich sicherstellen will, der muß zu dem Ergebnis kommen, daß die Altschulden — von wenigen Ausnahmen abgesehen — längerfristig vom Staat übernommen werden müssen.
Der dritte Punkt, den ich nennen will, ist das Thema der Rahmenbedingungen für Investitionen. Dieses Problem ist leider immer noch unzureichend gelöst. Ich habe bereits bei meinem letzten Debattenbeitrag meiner Verwunderung darüber Ausdruck verliehen, daß es Monate gedauert hat, bis die Bundesregierung bemerkt hat, daß die Rahmenbedingungen für Investitionen in der DDR schlechter sind als in der Bundesrepublik.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Rose [CDU/CSU]: Logisch!)

Das ist ja wohl ein Treppenwitz, wenn es darum geht, den ökonomischen Aufbau in der DDR zu bewerkstelligen.
Die Inflation der Vorschläge — hierin stimme ich dem BDI ausdrücklich zu — hilft auch nicht weiter. Wenn man wirklich vorankommen will, dann muß man in der Lage sein, sachgerechte Lösungen vorzulegen, und darf auch vor unpopulären Entscheidungen nicht zurückschrecken.
Es hilft überhaupt nicht weiter, im gesamten Gebiet des neuen Deutschland etwa die Gemeinschaftsaufgabe „Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur" anzuwenden; denn wenn wir überall dieselben Förderbedingungen haben, dann ist das keine Präferenz für die DDR. Wer so einfach vorgeht, der wird nicht den gewünschten Effekt erzielen.

(Beifall bei der SPD)

Es hilft auch nicht weiter, wenn Vorschläge gemacht werden, die im Grunde genommen unpraktikabel sind. Wenn beispielsweise die FDP vorschlägt, die Unternehmensteuern in der DDR für lange Jahre zu senken oder gar auszusetzen,

(Beifall bei der FDP)

dabei aber übersieht, daß darunter auch Gemeindesteuern fallen, die dringend für den Wiederaufbau in der DDR gebraucht werden, dann hat das auf den ersten Blick zwar Charme, aber solch ein Vorschlag ist auf den zweiten Blick völlig unbrauchbar.

(Beifall bei der SPD)

Der vierte Punkt ist der Infrastrukturausbau. Ich sage noch einmal: Es war ein schwerer Fehler, daß der Ausbau der Infrastruktur nicht unmittelbar nach dem Fall der Mauer in Angriff genommen worden ist.

(Kraus [CDU/CSU]: Mit Modrow?)

Es war ein Grundfehler, hier ideologisch fixiert zu glauben, der Infrastrukturausbau in der DDR sei ein Geschenk an die Regierung Modrow. Es ging darum, Telefonnetze auszubauen, Straßen zu bauen, Schienenwege zu bauen, die Energieversorgung umzustellen. Das war nicht ein Geschenk an die Regierung Modrow, sondern das war dringend erforderlich, um die Lebensbedingungen in der DDR zu verbessern und ökonomische Investitionen überhaupt erst zu ermöglichen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE] — Zuruf von der CDU/ CSU: Ihr wolltet dem Modrow noch 15 Milliarden DM geben!)

Fünftens. Wir haben derzeit eine völlig unhaltbare Situation in der DDR, weil Sie Milliardenbeträge transferieren und damit Arbeitslosigkeit bezahlen. Wenn man durch die Städte und Gemeinden der DDR geht und dort sieht, welche Arbeit auf der Straße liegt, dann ist es unglaublich,

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr richtig!)

daß Sie nicht in der Lage sind, statt Arbeitslosigkeit und Nichtstun zu bezahlen Arbeit zu organisieren und den Aufbau in der DDR auf den Weg zu bringen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)




Ministerpräsident Lafontaine (Saarland)

Wir haben die notwendigen Instrumente dazu

(Zurufe von der CDU/CSU: Unseriös! — Steuererhöhungen!)

in den Krisengebieten der Bundesrepublik entwickelt, die wir ja — um das auch einmal anzumerken — oft von Ihnen geerbt haben.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Wie hoch ist denn die Arbeitslosigkeit im Saarland?)

Wir haben unmittelbar nach unserer Regierungsübernahme eine Beschäftigungsgesellschaft an der Saar gegründet und damit ein Modell auf den Weg gebracht, das in Gesamteuropa mittlerweile nachgeahmt wird.

(Bohl [CDU/CSU]: Wie geht es Hajo Hoffmann?)

Dieses Modell — —

(Anhaltende Zurufe von der CDU — Gegenrufe von der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122600800
Das Wort hat der Ministerpräsident. Ich bitte um Ruhe.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1122600900
Ich kann nur hoffen, daß die Bürgerinnen und Bürger aus der DDR nicht alles mitbekommen, was hier passiert; sonst könnten sie noch den Glauben an den Parlamentarismus verlieren.
Ich war dabei, über die Infrastruktur und über die Beschäftigungsgesellschaft zu reden. Wir haben in den Beschäftigungsgesellschaften das Prinzip zur Anwendung gebracht, daß es besser ist, die Leute in diesen Gesellschaften zu bezahlen und Arbeit zu organisieren, sie in andere Betriebe zu vermitteln und ihnen Ausbildung anzubieten. Gerade bei letzterem ergibt sich ein großer Nachholbedarf in der DDR. Einige Betriebe sind jetzt dazu übergegangen, Leute, die ausgebildet worden sind, zu entlassen, weil dies die Kosten senkt, und einige sind auch dazu übergegangen, keine Lehrlinge mehr einzustellen. Dritte sind bereits dazu übergegangen, Leute, die sich mitten in der Lehre befinden, nicht mehr weiter zu beschäftigen.
Dies erfüllt uns mit großer Sorge. Wir brauchen daher dringend — dies liegt in der Verantwortung der Bundesregierung — ein Programm, das sicherstellt, daß am Anfang der demokratischen Erneuerung in der DDR nicht eine Entwicklung steht, die so aussieht, daß die jungen Menschen mit den Kehrseiten der marktwirtschaftlichen Ordnung konfrontiert werden.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Wir brauchen also sechstens ein Beschäftigungs- und Ausbildungsprogramm für die Jugendlichen.

(Beifall bei der SPD)

Siebtens. Wenn es um die Erhaltung des Industriestandortes DDR geht, wird immer klarer, daß wir neben den Beschäftigungsgesellschaften an einer aktiven Industriepolitik nicht vorbeikommen. Es genügt nicht, nur über Mittelstand zu reden und auf die Kräfte des Marktes zu vertrauen. Wir haben Erfahrungen nach dem Kriege mit dem industriellen Bundesvermögen. Dies ist zu Zeiten eingerichtet worden, als die
Frage Marktwirtschaft ja oder nein gar keine Frage war. Aber damals hatte man erkannt, daß für eine lange Zeit, für die Zeit des Aufbaus, größere Aufgaben auf den Staat zukommen mußten. Daher plädiere ich dafür, in Anlehnung an das, was wir nach dem Kriege auf den Weg gebracht haben, im Zuge einer abgestimmten Industriepolitik zentrale Industriestandorte in der DDR für eine Zeitlang zu erhalten — auch in der Verantwortung des Staates — , weil anders ein Aufbau der Länder in der DDR nicht möglich ist.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Das gilt für die Stahlindustrie, bei der wir auch hier in der Bundesrepublik teilweise gar nicht anders operieren konnten. Das gilt auch für andere Teile der industriellen Produktion.
Wenn wir angesichts der Tatsache, daß nach dem Zusammenbruch der Binnenmärkte und nach dem Verlust des RGW-Markts die Produktion in der DDR in den zentralen Bereichen immer weiter zurückgeht, allzulange warten, dann hat dies verheerende Folgen für den Wiederaufbau der DDR.
Nach den sieben Punkten zum industriellen Aufbau komme ich jetzt zur sozialen Lage. Ich habe an Ihre Adresse, Herr Bundeskanzler, bei den Verhandlungen gesagt: Wir können auf Grund des großen Tempos der Verhandlungen nicht ausschließen, daß sich eine Reihe von Fehlern eingeschlichen haben. Ich habe darum gebeten, daß wir die Gelegenheit bekommen, diese Fehler zu korrigieren. Ich komme jetzt zu einem Fehler, den wir Sozialdemokraten korrigieren wollen: Das ist die Behandlung der Rentnerinnen und Rentner in der DDR auf der Grundlage der bisherigen Vereinbarungen.
Wenn es Menschen gibt, die ein Leben lang Schaden genommen haben — einmal durch den Nationalsozialismus und dann durch die kommunistische Diktatur — , dann sind es die Rentnerinnen und Rentner in der DDR. Ihnen sind wir zuallererst verpflichtet.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Es ist daher für mich völlig unverständlich, wie die Mindestrenten in der DDR im Staatsvertrag behandelt worden sind. Es ist unerträglich, daß lediglich die Kleinrenten dynamisiert werden — Renten von 300 DM beispielsweise — und daß der Differenzbetrag zu den 495 DM nicht dynamisiert worden ist.
Dies ist für uns völlig unakzeptabel. Wir werden unverzüglich Maßnahmen einleiten, damit dies geheilt wird. Wer jetzt erlebt, wie in der DDR die Preise steigen,

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

bis hin zu den Telefongebühren und den Zeitungsgebühren, der kann doch nicht akzeptieren, daß die Mindestrente von 495 DM eingefroren bleibt. Dies wäre ein Schlag ins Gesicht der Rentnerinnen und Rentner in der DDR.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Schulhoff [CDU/CSU]: Das ist die Unwahrheit!)





Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122601000
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Unruh?

(Zurufe von der SPD: Nein!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1122601100
Bitte schön.

Gertrud Unruh (GRÜNE):
Rede ID: ID1122601200
Trotz des Neins gentlemanlike. Schönen Dank.
Herr Lafontaine, ich bin natürlich begeistert, wie Sie es gut meinen mit der Mindestrente in der DDR. Meine Frage: Haben die Sozialdemokraten in der Bundesrepublik Deutschland, als sie 13 Jahre an der Regierung waren, geschlafen? Denn sie haben keine Mindestrente eingeführt, so daß die Alten in der Bundesrepublik Deutschland teilweise an der Mülltonne nagen müssen. Sie wissen: 5 Millionen haben hier weniger als 800 DM Rente.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1122601300
Ich will Ihnen gerne antworten. Nach meiner Information haben die Sozialdemokraten in dieser Zeit überwiegend nachts geschlafen. Wenn es um die Kleinrenten, um die Mindestrenten geht, dann kann man, glaube ich, durchaus berechtigterweise sagen: Die Sozialdemokraten haben durchgesetzt, daß die Kleinstrenten in der Bundesrepublik dynamisiert worden sind. Ich als Kind einer Kriegerwitwe weiß, wovon ich rede. Daß beispielsweise die Kriegerwitwenrenten dynamisiert worden sind, ist ein Verdienst der Regierung Brandt gewesen.

(Beifall bei der SPD — Abg. Wissmann [CDU/ CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Ich bitte jetzt um Verständnis, daß ich meine Ausführungen zu Ende bringe, da die Zeit knapp geworden ist. Ich habe einen bestimmten Zeitrahmen.
Ich spreche nicht nur von den Renten in der DDR, sondern ich spreche auch — ich räume ein, dies ist mir erst in den letzten Wochen klargeworden — von der Situation der Alleinerziehenden in der DDR. Ich habe mit den Menschen dort gesprochen und wollte teilweise nicht glauben, daß dort beispielsweise immer noch Löhne von 600 DM netto gezahlt werden und daß Menschen mit solchen Löhnen teilweise zwei Kinder großzuziehen haben. Dies ist für mich Veranlassung, noch einmal an Ihre Seite den Appell zu richten, die völlig verfehlte Familienförderung in der Bundesrepublik aufzugeben, bevor sie auf die DDR übertragen wird.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Die Menschen in der DDR haben nichts von den großen Steuervorteilen des Ehegattensplittings. Sie haben nichts von den großen Vorteilen der Kinderfreibeträge. Polen Sie Ihre verfehlte Familienpolitik um. Wir brauchen 200 DM Kindergeld ab dem ersten Kind. Dies wäre ein hervorragendes Programm für die gering verdienenden Alleinerzieher in der DDR.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Damit komme ich — wenn ich solche Vorschläge mache, beschäftigt uns das natürlich — zum Thema der Kosten der Einheit, wie der eine oder andere sagt.
Ich will es aber etwas untertiteln: der Kosten einer Reihe von ökonomischen Fehlentscheidungen.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

Es rächt sich eben — das dürfte dem einen oder anderen jetzt klar geworden sein — , wenn man glaubt, den Rat der Sachverständigen bei ökonomischen und finanzpolitischen Entscheidungen völlig ignorieren zu können.

(Bühler [Bruchsal] [CDU/CSU]: Sie sind einer, was? — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

Das haben Sie getan. Es wäre zur damaligen Zeit richtig gewesen, die Sachverständigen, die Bundesbank, die Gewerkschaften, die Unternehmerverbände und die entsprechenden Ministerien — ich sage jetzt Ministerien, weil sie ihre Meinung klar geäußert haben — an einen Tisch zu bitten und zu einer vernünftigen Entscheidung zu kommen.
Mittlerweile — ich wiederhole es — sind die Folgen dieser Entscheidung, was die Finanzpolitik der Bundesrepublik und damit des vereinten Deutschlands angeht, absehbar. Vor einiger Zeit — unter Ihrem Hohngelächter, geschätzte Damen und Herren dieser Seite; ein Ausweis Ihres tiefen Einblicks in ökonomische Zusammenhänge —

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

habe ich die Kosten der Einheit pro Jahr auf 100 Milliarden DM beziffert. Heute muß ich Ihnen sagen: Ich befürchte, mich geirrt zu haben;

(Zuruf von der CDU/CSU: Wie so oft!)

denn wahrscheinlich werden wir mit dieser Summe pro Jahr nicht auskommen. Daher ist von einer seriösen Finanzpolitik nicht mehr zu reden.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Wüppesahl [fraktionslos])

Meine Damen und Herren, die Staatsverschuldung steigt ins Astronomische. Der Scherz der Beamten im Finanzministerium „Theo, du fällst ins Loch." wird mittlerweile umgewandelt in „Theo, du bist im Loch. ".

(Heiterkeit und Zustimmung bei der SPD)

Die Frage ist nur, wie tief das Loch mittlerweile geworden ist.
Herr Bundesfinanzminister, bei allem Respekt vor Ihrer Person: Ich stelle mir manchmal die Frage, wie Sie mit einer solchen Entwicklung leben können. Sie werden die größte Staatsverschuldung nach dem Kriege zu verantworten haben. Bereits jetzt sind Auswirkungen erkennbar, die völlig unerträglich sind.
Wenn von Ihrer Seite immer wieder über Steuern geredet wird, dann ist das erstens ökonomisch und zweitens verteilungspolitisch falsch. Für die ökonomische und sozialpolitische Lage in unserem Lande ist die Höhe des Realzinses zumindest genauso wichtig. Ein Realzins, der der höchste nach dem Kriege ist, läßt die Mieten steigen, läßt die Preise steigen und bringt



Ministerpräsident Lafontaine (Saarland)

ganze Familien in Gefahr, die Hypotheken aufgenommen haben, um ihre Eigenheime zu finanzieren.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] sowie des Abg. Wüppesahl [fraktionslos])

Es ist daher ein Irrtum zu glauben, man könne auf der steuerlichen Seite sehr zurückhaltend sein und die Umverteilung über den Anstieg des Realzinses in Kauf nehmen, und darauf zu setzen, daß die Bevölkerung dies vor dem 2. Dezember 1990 nicht merkt. Es ist ein Irrtum, das zu glauben.

(Spilker [CDU/CSU]: Freuen Sie sich doch!)

Daher freue ich mich, daß es uns gelungen ist, Sie bei der Bewältigung der finanzpolitischen Fragen nach und nach an die Wahrheit heranzuführen.

(Lachen und Widerspruch bei der CDU/ CSU)

Ich erinnere mich, wie Sie reagiert haben, als wir zum ersten Mal gesagt haben, die Unternehmensteuerreform in der Größenordnung von 25 Milliarden DM ist nicht mehr vertretbar. Hier mußten Sie klein beigeben. Wir begrüßen es, daß mehr und mehr verantwortliche Männer und Frauen in Ihren Reihen sagen: Angesichts der gigantischen Verschuldung, die jetzt aufläuft, ist eine solche Unternehmensteuerreform, d. h. Unternehmensteuersenkung, nicht mehr vertretbar und akzeptabel.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] und des Abg. Wüppesahl [fraktionslos])

Auch wenn man — das sage ich an die Adresse der FDP — eine kleinere Gruppe zu vertreten glaubt und meint, ihr Gefälligkeitsadressen erweisen zu müssen: Die staatspolitische Verantwortung für die Staatsfinanzen tragen wir alle.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Das fängt ganz übel an!)

Deshalb ist diese reine Interessenpolitik finanzpolitisch völlig unakzeptabel.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] — Wolfgramm [Göttingen] [FDP]: Reden Sie doch einmal über das Saarland!)

Damit komme ich zu der Frage der Steuererhöhungen: Die große Mehrheit der Bevölkerung ist klüger als die Mehrheit in diesem Hause.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Die große Mehrheit der Bevölkerung weiß, daß sie dann, wenn erklärt wird, es gibt keine Steuererhöhungen nach dem Wahltermin, belogen wird und geleimt werden soll. Das haben Sie bereits einmal vorexerziert, als Sie vor der letzten Wahl Steuererhöhungen ausschlossen, um dann nach der Wahl die Mineralölsteuer zu erhöhen, die Kfz-Steuer zu erhöhen und die Weihnachtsfreibeträge abzuschaffen. Lernen Sie doch aus den Fehlern der Vergangenheit, und haben Sie den Mut, Herr Bundeskanzler, vor die Bevölkerung zu treten und zu sagen: Ich habe mich, als es um die Einschätzung der Kosten der Einheit ging, gewaltig geirrt. Ich sage jetzt die Wahrheit: Steuererhöhungen sind unvermeidlich, wenn wir die Einheit finanzieren wollen.

(Beifall bei der SPD)

Natürlich werden wir Sozialdemokraten Wert darauf legen, daß nicht nur diese Frage vor der Wahl ein wichtiges Thema der Diskussion sein wird. Vielmehr kündigen wir jetzt bereits an,

(Zuruf von der CDU/CSU: Daß ihr die Steuern erhöht!)

daß wir nicht bereit sein werden — wie ich das immer wieder gesagt habe — zuzulassen, daß im wesentlichen die sozial Schwachen die Kosten des Einigungsprozesses zu tragen haben. Das gilt nicht nur für die Senkung der Unternehmensteuern, sondern das gilt auch für die Frage, welcher Steuer wir den Vorzug geben. Das ist nun einmal die Belastung der mittleren und höheren Einkommen auf Grund der Einkommensentwicklung in der Bundesrepublik und in der DDR.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Wer — das sage ich an Ihre Adresse — bei der realen Situation der Einkommen, der Renten und der Löhne in der DDR erst über die Mehrwertsteuer nachdenkt, um die Einheit zu finanzieren, der weiß nun wirklich nicht, was es heißt, mit 600 DM zu leben oder mit 495 DM Rente auszukommen.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU)

Und nun zur Entwicklung des kulturellen, des geistigen und sozialen Klimas in unserem Lande. Ich habe es bedauert, daß der eine oder andere mit der Attitüde aufgetreten ist: Alles im Westen ist bestens, und alles im Osten war weniger gut oder kann nicht übernommen werden. Daher hat es auch im Hinblick auf die niedrige Höhe der Renten, im Hinblick auf die niedrige Höhe der Löhne in der DDR für die Sozialdemokraten Bedeutung, so vorzugehen, daß die Menschen in der DDR auch ihre Würde und ihre Selbstachtung trotz der angespannten Lage noch bewahren können.
Angesichts der Situation der Frauen in der DDR und der Lohnhöhe für Alleinerziehende war es von Wichtigkeit, beim § 218 die Interessen der Frauen zu vertreten. Es ist völlig unakzeptabel, sie mit Strafe zu bedrohen, wenn sie in solch existentiellen Krisen sind. Daher gehe ich davon aus, daß wir bald zu einer Fristenlösung für Gesamtdeutschland kommen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Opportunist! Unerträglich!)

Ebenso war es im Hinblick auf die Befindlichkeit der Menschen in der DDR notwendig, nicht ohne weiteres zu akzeptieren, daß bei der Amnestie nur das Thema Stasi und Aktivitäten der Stasi im Ausland auf der Tagesordnung steht. Ich bleibe dabei: Wenn über Amnestie geredet wird, dann bitte schön auch über die Friedensdemonstranten in Mutlangen und an an-



Ministerpräsident Lafontaine (Saarland)

deren Orten der Republik, die für die Atomwaffenfreiheit gekämpft haben.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Nein!)

— Ich höre aus der ersten Reihe der Union, wo in der Regel die ersten Geiger sitzen, den Zuruf „Nein". Meine Damen und Herren, ich muß Sie noch einmal daran erinnern: Machen Sie sich damit vertraut, es gibt eine sozialdemokratische Mehrheit im Bundesrat. Hier steht einer, der dafür Sorge trägt, daß Sie lernen, ab und zu ja zu sagen, wie Sie es in der Vergangenheit gemacht haben.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Der Droher vom Amt!)

Für uns Sozialdemokraten war es auch notwendig, bei der Frage der Entschädigung nicht nur in erster Linie über die Rückgabe von Grundstücken zu reden. Ich wiederhole: Für das geistige und kulturelle Klima in der DDR ist es ganz zentral, bei dem Thema Entschädigung nicht nur über Vermögenswerte, über Sachen zu reden. Viel wichtiger ist es für die deutschen Sozialdemokraten, darüber zu reden, wie mit den Menschen in Zukunft verfahren wird, die unter diesem System gelitten haben, die teilweise zerbrochen sind und die, wenn man so will, gar nicht mehr zu entschädigen sind.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Wir werden selbstverständlich auch bei der weiteren Behandlung der Stasi-Akten dafür Sorge tragen, daß die Interessen und die Befindlichkeit der Menschen berücksichtigt werden, die am Anfang der Revolution in der DDR gestanden haben.
Ich fasse zusammen: Wir können den Einigungsprozeß nicht auf falschen Grundlagen voranbringen. Ich wiederhole: Es war ein schwerer staatspolitischer Fehler zu sagen, niemandem wird es schlechter gehen, vielen aber besser. In der DDR ist die Lage mittlerweile in vielen Bereichen anders.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

Es war ein noch größerer Fehler zu sagen, niemand in der Bundesrepublik muß auf etwas verzichten. Angesichts der gigantischen Kosten, die auf uns zukommen, der Riesendefizite in den öffentlichen Haushalten ist jetzt eindeutig, daß es Ihre Aufgabe gewesen wäre, Herr Bundeskanzler, zu sagen: Jawohl, ihr wolltet die Einheit, ihr müßt Opfer bringen, wenn der soziale Ausgleich und der ökonomische Aufbau in der DDR vorankommen soll.

(Beifall bei der SPD — Bohl [CDU/CSU]: Geizkragen!)

Ich sprach von der Selbstachtung und von der Würde der Menschen in der DDR. Deshalb sage ich: So wichtig am heutigen Tage die Feststellung ist, daß wir bei den äußeren Aspekten der Einheit vorangekommen sind, so wichtig bleibt die Feststellung, daß es jetzt um den ökonomischen und sozialen Aufbau
der DDR geht. Für uns Sozialdemokraten geht es dabei in erster Linie

(Zuruf von der CDU/CSU: Ums Überleben!)

um soziale Gerechtigkeit; denn wenn die Menschen in der DDR nicht erfahren, daß mit der marktwirtschaftlichen Ordnung soziale Gerechtigkeit verbunden ist, dann glaube ich nicht, daß wir das Einigungswerk weiter gut voranbringen können.

(Anhaltender Beifall bei der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122601400
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern, Herr Dr. Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1122601500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe bei der Rede von Herrn Ministerpräsident Lafontaine einmal zur Tagesordnung der heutigen Sitzung gegriffen, weil ich einen Moment überlegt habe: Wovon redet der Mann?

(Heiterkeit bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)

Wir sprechen von der Vollendung der deutschen Einheit in Frieden und Freiheit. Das ist das Thema der heutigen Tagesordnung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kollege Lafontaine, bei den vielen Dingen, die Sie gesagt haben, haben Sie zwei einfache Sätze vergessen. Ich gebe Ihnen einen Rat, damit Sie es beim nächsten Debattenbeitrag nicht vergessen: Sagen Sie in Ihren Reden einmal ja zur Einheit. Das haben Sie nämlich vergessen zu sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Sie haben offenbar nicht zugehört!)

— Ja, ich habe sehr genau zugehört. Sie haben nicht ja zur Einheit gesagt. In Wahrheit ist das auch konsequent.

(Zurufe von der SPD: So ein Quatsch! — Sie sind ein geistiger Tiefflieger! — Du sollst nicht falsch Zeugnis reden!)

— Du lieber Himmel, ich habe ihm einen guten Rat gegeben, damit er es das nächste Mal sagt.
Sie haben zweitens vergessen zu sagen, ob Sie nun dem Einigungsvertrag zustimmen oder nicht. Das haben Sie auch vergessen, dieses Thema steht auch auf der Tagesordnung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei der SPD)

Dann haben Sie in Ihrer Rede gezeigt, daß Sie von den Problemen der deutschen Teilung und von den Schwierigkeiten, diese Einheit gut zu vollenden, nichts begriffen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Na, sagen Sie mal!)

Wir haben in dieser Debatte sehr zu Recht die Regierungserklärung des Bundesaußenministers mit der zweiten und dritten Lesung des Gesetzes zum Einigungsvertrag verbunden, weil beides zusammen zwei



Bundesminister Dr. Schäuble
Seiten ein und derselben Medaille sind. Eine ohne die andere Seite ist nicht möglich. Wir hätten nach mehr als vierzig Jahren Teilung die Einheit in Frieden und Freiheit im Jahre 1990 nicht vollenden können, wenn wir nicht den äußeren Prozeß so gut und so geordnet zustande gebracht hätten und wenn wir nicht zugleich den inneren Prozeß zur Einheit — der in Wahrheit ein revolutionärer ist — in einer Weise geordnet hätten, bei der sich die Menschen in beiden Teilen Deutschlands wiederfinden können. Dies ist die Aufgabe und das Anliegen des Einigungsvertrages.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wer in einer Rede im ersten Teil nur beschreibt, daß es den Menschen in der DDR zu schlecht geht, und im zweiten Teil beschreibt, daß die Menschen in der Bundesrepublik zu viel zu bezahlen haben, der hat die Aufgabe, um die es geht, nicht begriffen, nämlich die Menschen nach mehr als vierzig Jahren Teilung wieder in einem einen Deutschland zusammenzuführen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Dem Schäuble schwillt jetzt auch der Kamm!)

Daß Ihnen dabei jede Schäbigkeit recht ist, merkt man an einem ganz einfachen Beispiel. Das habe ich mir aufgeschrieben, später habe ich dann aufgehört zu notieren.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf der Abg. Frau Fuchs [Köln] [SPD])

— Ach, Frau Fuchs, lassen Sie sich mit der Rede ja nicht in Sachsen blicken!

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Am Anfang Ihrer Rede haben Sie gesagt, in der Bundesrepublik boome die Wirtschaft, und in der DDR gehe sie schlecht. Der Sinn dessen war: den Menschen in der DDR zu sagen, die im Westen haben es besser. Später haben Sie gesagt, in der Bundesrepublik stiegen die Zinsen so hoch, daß jetzt hier alles zusammenbreche. Was ist denn nun richtig? Boomt die Wirtschaft, oder boomt sie nicht?

(Lennartz [SPD]: Lassen Sie das freie Reden! Das hat wirklich keinen Zweck! — Zuruf von der SPD: Das tut ja weh! — Anhaltende Zurufe von der SPD)

— Schreien Sie doch nicht so.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122601600
Das Wort hat der Bundesminister, auch wenn Sie sich sehr erregen.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1122601700
Das ist schon so. Am Anfang haben Sie die Situation als Boom beschrieben, um den Menschen in der DDR Neid einzureden, und am Ende der Rede haben Sie denselben Tatbestand als wirtschaftlichen Niedergang beschrieben, um den Menschen hier in der Bundesrepublik Angst zu machen. Für das eine oder das andere müssen Sie sich entscheiden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Weil Sie ganz am Schluß vom geistig-kulturellen Klima in Deutschland gesprochen haben: Meine Damen und Herren, wenn wir in Deutschland ein Klima der Einheit wollen, dann dürfen wir nicht solche Reden halten, wie es Lafontaine getan hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will einmal versuchen zu erklären, wie ich es sehe: In mehr als vierzig Jahren Teilung haben sich die beiden Teile Deutschlands so auseinanderentwikkelt, daß das Gefälle riesengroß ist. Wir stehen in Wahrheit vor dem Problem — das haben wir auch in der Rede von Herrn Lafontaine gemerkt —, daß wir in der DDR in einer Situation vergleichbar der des Jahres 1949 sind, und in der Bundesrepublik stehen wir in der Situation des Jahres 1990. Nun hängt man der DDR natürlich die Situation des Jahres 1990 vor die Nase und sagt, das muß von einer Sekunde auf die andere so sein.

(Zuruf von der SPD: Das haben Sie vor der Wahl selbst gesagt!)

In der Bundesrepublik macht man es umgekehrt.
Die wahre Ursache dafür, daß wir das überhaupt in so kurzer Zeit gemacht haben — Sie haben die Diskussion ja wieder geführt, daß das alles zu schnell gewesen sei — , ist, daß das Gefälle zwischen beiden Teilen unseres einigen Vaterlandes so groß war, daß, als die Mauer gebrochen ist, der Damm gebrochen ist und alles zusammenlief. Niemand konnte diesen Prozeß beschleunigen.

(Bohl [CDU/CSU]: So ist es!)

Unsere Aufgabe ist es, ihn gut zu Ende zu bringen. Das ist schwieriger, als es in Ihrer Rede sichtbar wird. Es geht nicht zusammen, wenn man so tut, als könne man die Perfektion, die wir in der Bundesrepublik im Jahre 1990 erreicht haben, von einem Tag auf den anderen in der DDR erreichen.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das haben Sie doch vorgegaukelt!)

Es geht auch nicht, wenn man sagt, das müsse noch Jahre dauern. Das muß schnell gehen. Der Prozeß ist schnell vorangegangen, und deshalb sind wir auf dem Weg über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion rasch zur Vollendung der Einheit gekommen.
Im übrigen sage ich auch: Wenn das Gefälle nicht so groß wäre und die Kräfte, welche die Menschen dazu führen, diese Teilung überwinden zu wollen, nicht so groß wären — auch aus dem Unterschied dieser Wertordnungen, wirtschaftlich, politisch, sozial, ökologisch — , dann hätten wir vielleicht das Wunder nicht mehr erlebt, nach über 40 Jahren Teilung doch noch die Einheit in Frieden und Freiheit zu erreichen. Das eine gehört zum anderen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen müssen wir auch ja zu diesen Problemen sagen. Deswegen müssen wir uns dazu bekennen. Deswegen müssen wir auch unseren Landsleuten im Westen wie in den fünf künftigen Ländern sagen, daß es keinen einfachen Weg ohne Schwierigkeiten gibt. Wir haben das nie gesagt. Aber deswegen dürfen wir nicht Reden halten, bei denen die einen gegen die



Bundesminister Dr. Schäuble
anderen aufgehetzt werden. Sonst werden die Probleme nicht kleiner, sondern größer.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122601800
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Klejdzinski?

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1122601900
Nein. Ich finde, Frau Präsidentin, die Sozialdemokraten stören so viel,

(Lachen und Unruhe bei der SPD)

daß ich wirklich die verbleibende Zeit nutzen muß, um darüber in Ruhe zu sprechen.

(Zurufe von der SPD)

— Warum schreien Sie denn die ganze Zeit? (Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

— Quod erat demonstrandum, hat man in der Mathematik gesagt. Man muß sich das anhören.

(Dr. Klejdzinski [SPD]: Sie sind nicht so, sondern Sie sind wirklich so! — Weitere Zurufe von der SPD)

Ich halte wenig davon — ich will Ihnen das noch einmal sagen — , hier Status-Quo-Berechnungen bei der Diskussion darüber anzustellen, wie hoch die Kosten der deutschen Einheit sind, wenn man die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland unter einer Status-Quo-Betrachtung auf die DDR überträgt. Da ergeben sich Beträge, die nur zu Horrorszenarien führen können. Jeder weiß, daß es so nicht geht.
Aber der Fehler bei Lafontaine und den Sozialdemokraten ist ja, daß sie die dynamischen Kräfte einer Sozialen Marktwirtschaft überhaupt nicht einkalkulieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn man zuhört, dann fällt Ihnen nur ein, daß der Staat Arbeit organisieren müsse. Das ist in der DDR nun vier Jahrzehnte lang geschehen. Mit der Beseitigung der Folgen haben wir es gerade zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Wachstumskräfte der Sozialen Marktwirtschaft müssen die Beiträge leisten. Die Frage ist, wie wir diese Wachstumskräfte so stark wie möglich gestalten und ausnutzen können. Das ist die Frage nach der Steuerdiskussion. Die Frage ist nicht, wieviel das kostet. Eine solche Diskussion ist unsinnig. Die Frage ist vielmehr, wie wir am besten eine Wirtschafts- und Finanzpolitik steuern, die uns in die Lage setzt, die gewaltigen Aufgaben zu finanzieren, die sich uns mit der Vollendung der deutschen Einheit stellen. Da sage ich Ihnen: Unter dem Bundeskanzler Kohl und mit dem Finanzminister Waigel ist eine Finanz- und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland betrieben worden, die uns besser als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte der Bundesrepublik in die Lage versetzt, mit den großen Aufgaben fertig zu werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Als Sie regiert haben, wären wir dazu nicht in der
Lage gewesen. Deswegen müssen wir diesen Weg
fortsetzen. Mit Reden wie der, die Sie gehalten haben, leisten — —

(Reuter [SPD]: Eine gute Rede!)

— Ja gut, wenn Sie das auch noch glauben!

(Zuruf von der SPD: Jedenfalls besser als Ihre! — Heiterkeit bei der SPD — Weitere Zurufe von der SPD)

— Es ist ja in Ordnung. Sie müssen nur andere Meinungen ertragen. Wenn Sie das tun: Sie brauchen sie ja nicht für gut zu halten. Das ist nun wirklich nicht gefordert.

(Erneute Zurufe von der SPD)

— Ich finde nur, daß immer der redet, der gerade am Pult steht. Sie reden immer dann, wenn Sie nicht am Pult sind. Das ist das Störende bei Ihnen.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

Aber es ist nicht so schlimm.
Ich versuche zu erklären, und ich werbe dafür bei den Sozialdemokraten, daß wir uns gemeinsam bemühen, die Einheit gut zu vollenden. Sie wird mit dem 3. Oktober nicht vollendet sein; und mit Reden wie der von Herrn Lafontaine wird ein Beitrag zur Einheit nicht geleistet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kollege Lafontaine, es ist Ihnen nie etwas anderes eingefallen. Sie haben schon 1985 die Deutschen in der DDR ausbürgern wollen, als Sie die eigene Staatsangehörigkeit für die Deutschen in der DDR gefordert haben.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Sie haben nach der Öffnung der Mauer gefordert, die Übersiedler nicht mehr aufzunehmen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Traurig!)

Jetzt vergessen Sie in einer Rede an dem Tag, an dem wir den Einigungsvertrag ratifizieren wollen, das Ja zur Einheit und zum Einigungsvertrag zu sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Sie wiederholen sich!)

— Wie die Musik lebt auch die Politik von der Wiederholung. Wenn man manches gerne hört, sagt man es noch einmal.

(Lachen bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Der Einigungsvertrag leistet einen wichtigen Beitrag zur Einheit; denn so, wie die äußeren Aspekte für die Vollendung der Einheit in Frieden und Freiheit durch die Moskauer Vertragsabschlüsse gesichert werden, ordnet der Einigungsvertrag den inneren schwierigen Weg über dieses Gefälle hinweg für die nächsten Jahre in einer guten Weise für die Deutschen in beiden Teilen.
Dieser Einigungsvertrag war von ungewöhnlichen Schwierigkeiten begleitet. Es liegt mir daran, allen, die mitgewirkt haben, daß wir den Einigungsvertrag, auch mit der ergänzenden Vereinbarung von Montag dieser Woche, zustande gebracht haben, zu danken. Ich möchte mich bei den Bundesländern bedanken,



Bundesminister Dr. Schäuble
deren Vertreter an den Verhandlungen mit einer großen Intensität und Kooperationsbereitschaft mitgewirkt haben. Ich möchte mich auch bei der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion bedanken, die es ermöglicht hat, daß wir die Beratungen auch in den letzten aufregenden Tagen mit all den Veränderungen im Einigungsvertrag gut zu Ende gebracht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kollege Vogel, bei allen Auseinandersetzungen ist dies für mich die Stunde, Ihnen meinen Respekt und meinen Dank für Ihre Mitwirkung zu sagen. Es tut mir leid, Herr Vogel, daß Sie schon beim Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion Ihre Mühe mit Herrn Lafontaine gehabt haben, um eine konstruktive Oppositionspolitik durchzusetzen. Es ist Ihnen aber gelungen, und dafür möchte ich Ihnen danken.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Vertrag schafft — ich habe das bereits in der ersten Lesung sagen dürfen — gute Grundlagen; Herr Lafontaine, etwas anderes ist nicht wahr. Der Vertrag schafft gute Grundlagen dafür, daß wir nach seiner Ratifizierung die notwendigen Grundstücke in der DDR bekommen, um den Prozeß der Investitionen zu beleben.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Sie wollten das doch gar nicht!)

— Entschuldigung, das war von vornherein angeregt. Frau Fuchs, wenn Sie eine Ahnung hätten, würden Sie wissen — —

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Ich habe eine Ahnung!)

— Dann ist es gut.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Sie wollten es erst nicht!)

Herr Lafontaine hat gesagt, wir hätten die Bodenpolitik umgedreht; das stimmt überhaupt nicht. Nichts davon ist wahr. Wir mußten bei der gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni bleiben — das beschwert viele Kollegen in meiner Fraktion; ich komme darauf zu sprechen —, wir haben aber zugleich ein Gesetz gemacht, das die notwendigen Grundstücke für investive Zwecke verfügbar hält. Dies ist der richtige Weg.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Viel zu spät!)

Von der Kehrtwendung, die uns Herr Lafontaine abgezwungen hat, habe jedenfalls ich in den Verhandlungen nichts gemerkt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Vertrag schafft gute Grundlagen, um in den künftigen fünf Ländern rasch föderative Strukturen, Landesverwaltungen, vor allen Dingen leistungsfähige Kommunalverwaltungen aufzubauen. Bund, Länder und die kommunalen Spitzenverbände wirken in einer ganz einzigartigen Anstrengung zusammen, um große Hilfe beim Aufbau der Verwaltungen in den künftigen fünf Ländern, in den Kommunen, in den Städten, Gemeinden und Landkreisen zu leisten. Auch dafür bedanke ich mich an dieser Stelle sehr.
Meine Damen und Herren, der Vertrag stellt auch hohe Anforderungen an uns alle. Auch darüber muß gesprochen werden, weil das Gefälle zwischen dem, was der real existierende Sozialismus in der DDR angerichtet und hinterlassen hat, und unserer Marktwirtschaft so groß ist. Es war ja nicht die Soziale Marktwirtschaft — auch das hat Lafontaine falsch gesehen —, sondern der Sozialismus, der dieses elende Erbe angerichtet hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben mit den Folgen nicht nur wirtschaftlich, finanziell und ökologisch zu tun, wir haben damit moralisch, psychologisch, politisch noch lange zu tun.
Die Diskussion um die Stasi-Akten in den letzten Wochen ist ein Beispiel dafür. Ich denke, daß wir einen Weg gefunden haben, den berechtigten Betroffenheiten der Menschen in den fünf Ländern ebenso Rechnung zu tragen wie der Sicherheit dieser Daten, für die wir unsere Erfahrungen haben.
Die Regelung der Vermögensfragen: Es gehört zum Schwierigsten dieses Vertrages, daß wir die gemeinsame Regierungserklärung vom 15. Juni 1945 darin festschreiben und auch verfassungsrechtlich absichern. Jeder weiß, daß hier eine unendliche Fülle von Tatbeständen geregelt wird, die unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit für jeden von uns nur schwer zu ertragen sind. Dennoch sage ich: Wir müssen mit diesem Vertrag — beides hängt zusammen; die Punkte a) und b) unserer Tagesordnung hängen untrennbar miteinander zusammen — nach vorn schauen. Wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Wir können auch nicht Unrecht bei Enteignungen rückgängig machen, sondern wir müssen schauen, daß wir befriedende Lösungen finden und zugleich nach 40 Jahren Teilung eine Chance haben, die Zukunft zu gewinnen.
Auf diesem Wege — dieser Meinung bin ich — läßt der Vertrag durchaus Raum, auch für Grundstücke, die in den Jahren 1945 bis 1949 enteignet worden sind, durch den Bundesgesetzgeber Lösungen zu finden, die in die Zukunft hinein befrieden können. Diese Lösungen dürfen nicht zu Lasten von Dritten gehen, die heute Eigentum oder dinglich gesicherte Verfügungsrechte haben, sind aber dort möglich, wo es sich um Treuhandvermögen handelt. Ich denke, wir alle werden gemeinsam in dem größeren Bundestag nach dem 4. Oktober daran arbeiten, daß wir solche befriedenden Lösungen finden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Dasselbe gilt für den Schutz ungeborenen Lebens. Meine Damen und Herren, es war immer klar, daß nach einer so langen Zeit der Teilung die Wertordnungen, die Werthaltungen unterschiedlich sein werden und daß wir uns zu gemeinsamen Lösungen zusammenfinden müssen. Ich bin sehr froh, daß es nach intensiven Diskussionen in meiner Fraktion, der CDU/ CSU, auf die ich stolz bin und stolz bleiben werde, gelungen ist, Lösungen zu finden, die es uns ermöglichen, im größeren, gemeinsamen Deutschen Bundestag so rasch wie möglich gemeinsam den Schutz von Leben besser zu bewerkstelligen, als wir es in beiden



Bundesminister Dr. Schäuble
Teilen Deutschlands heute in Tat und Wahrheit können. Ich denke, das ist der Weg, den wir gehen müssen.
Wenn aber dieser Vertrag uns allen — jeder wäre unehrlich, wenn er nicht zugäbe, daß ihm wie auch mir dieser Vertrag manches zumutet — manches zumuten muß, weil die Fülle der Probleme so ist, dann muß auch klar sein, daß wir Befriedung, befriedende Wirkung nur schaffen, wenn wir alle diese Zumutungen ertragen und ertragen wollen, weil wir die Teilung überwinden wollen. Zum Überwinden der Teilung, zum Teilen, gehört auch folgendes: Wenn wir die Teilung überwinden wollen — das habe ich bereits in der Haushaltsdebatte 1989 gesagt —, haben wir eben auch die Schwierigkeiten zu ertragen, die sich aus ganz unterschiedlichen Erfahrungen und Erwartungen der Deutschen in den fünf Ländern und der Deutschen in den elf Ländern ergeben. Dies gehört zusammen, und dies muß heute gesagt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Aber es macht doch keinen Sinn, hier an das Pult des Deutschen Bundestages zu treten und nur von den Problemen und Schwierigkeiten zu reden. Vielmehr muß man doch bei allen Schwierigkeiten auch die Chancen nennen, die sich uns bei der deutschen Einheit bieten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Ich verstehe, daß ein richtiger demokratischer Sozialist nicht begreifen kann, daß ein solcher Wachstumsschub, wie er durch den Prozeß der Einheit ausgelöst wird, uns alle natürlich nicht ärmer, sondern reicher machen wird. Das ist schon wichtig; aber noch wichtiger ist doch, welche Möglichkeiten wir haben, Probleme besser zu lösen, als sie bisher gelöst worden sind.
In diesen Tagen verlassen die letzten chemischen Waffen das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Das hat doch mit diesem Prozeß untrennbar zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Übrigens möchte ich bei dieser Gelegenheit einmal auf die Rechnungen hinsichtlich der Kosten der Einheit eingehen. Sind es Kosten der Einheit, wenn wir der Sowjetunion helfen, die sowjetischen Soldaten rasch aus Mitteldeutschland zurückzunehmen, wenn wir helfen, diesen für Deutschland, Europa und die Welt so wichtigen und wertvollen Prozeß von Glasnost und Perestrojka wirtschaftlich und sozial abzufedern? Sind dies Kosten der Teilung oder der Einheit, oder sind dies nicht einfach Investitionen in eine bessere, friedlichere Zukunft?

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Beifall der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Wenn wir jetzt eine Chance haben, endlich die dramatische Verschmutzung der Elbe und anderer Flüsse zu bekämpfen und die Nordsee zu heilen — sind dies Kosten der Einheit? Wenn wir die Reaktoren in Greifswald stillegen können und die Milliardenbeträge dafür aufbringen — sind dies Kosten der Einheit,

(Zuruf von der SPD)

oder sind dies nicht Investitionen in mehr Sicherheit vor den Risiken so nicht verantwortbarer Nutzung von Kernenergie?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn wir auf den Wegfall des Eisernen Vorhangs, der Europa mehr als vier Jahrzehnte geteilt hat, nicht à la Lafontaine reagieren, indem wir sagen "So, 116 Grundgesetz streichen, daß die Aussiedler nicht mehr kommen können — —

(Zuruf von den GRÜNEN: Das müssen Sie gerade sagen!)

— Ja, ja; ich komme gerade darauf: Asylbewerber und Lafontaine.

(Zuruf von den GRÜNEN)

Ich habe immer gesagt: Wir müssen die Ursachen von Flucht und von Wanderungsbewegungen bekämpfen.

(Beifall bei der FDP — Zuruf von der FDP: Sehr wahr!)

Dies gilt für deutsche Aus- und Übersiedler genauso wir für die Flüchtlingsströme, die heute aus Südosteuropa zu uns nach Westeuropa kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dem Herrn Lafontaine fällt auch da immer nur dasselbe ein: ausgrenzen, ausgrenzen, ausgrenzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich sage: helfen, helfen, helfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn wir auf diese Weise die Chance haben, den europäischen Einigungsprozeß qualitativ zu beschleunigen — jeder in Westeuropa hat in den letzten zwölf Monaten gespürt, daß auch der Prozeß der europäischen Einigung durch die deutsche Entwicklung gefördert und nicht behindert wird — , und wenn wir zugleich die Chance haben, und ein größeres Europa ohne Eisernen Vorhang und mit sichererem Frieden zu bauen — sind dies Kosten der Einheit? Oder sind dies nicht — —

(Zuruf von der SPD: Das sind alles Kosten!)

— Ja, für Sie sind das alles nur Kosten; Sie können gar nicht anders denken. Ich sage: Es sind Investitionen in eine bessere Zukunft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich sage: Niemand braucht vor der Größe der Aufgaben Angst zu haben, sondern jeder soll froh und dankbar sein angesichts der faszinierenden Chancen, die sich uns heute, in dieser Zeit, und gerade jungen Menschen bieten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das wird auch gelten: Wir werden nicht in einer sicheren Welt leben. Der Friede wird immer bedroht bleiben. Deswegen ist es auch richtig, daß sich der Prozeß der deutschen Einheit zugleich in der festen Einbindung in das Atlantische Bündnis vollzieht.



Bundesminister Dr. Schäuble
Herr Lafontaine, Sie haben noch auf der Berliner Parteitagsrede im Dezember 1989 die Einbindung des vereinten Deutschlands in die NATO als historischen Schwachsinn bezeichnet. Nehmen Sie den Satz zurück, oder halten Sie ihn aufrecht?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der CDU/CSU: Eine gute Frage ist das!)

Für mich, meine Damen und Herren, ist es eine sehr bedenkliche und bedenkenswerte Erfahrung, daß wir genau in dem Zeitpunkt, in dem der Ost-West-Konflikt — Gott sei Dank — endlich zu Ende zu gehen scheint, eine neue Krise am Persischen Golf haben und der Friede auf neue Weise bedroht wird.
Dies zeigt nach meiner Überzeugung, daß wir auch in Zukunft das Notwendige tun müssen, um Frieden und Sicherheit für die uns anvertrauten Bürger, für die wir Verantwortung tragen, zu gewährleisten — dazu brauchen wir auch das Atlantische Bündnis —, daß wir einen größeren Teil unserer wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technologischen Fähigkeiten in die Bewältigung des Nord-Süd-Konflikts investieren müssen

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

und daß wir mehr zur Bekämpfung sowohl globaler Umweltprobleme als auch von Hunger, Not und Elend in der Dritten Welt, in Afrika, in Asien, in Lateinamerika, tun müssen.
Daß wir heute durch diesen Prozeß diese Chance und Möglichkeit auf dem Weg zur deutschen Einheit haben, das ist für mich das Faszinierende, gerade für junge Menschen.
Deswegen, meine Damen und Herren, finde ich wirklich: Wir sollten den Menschen nicht Angst und Sorgen einreden. Nicht über die Probleme hinwegreden und über die Schwierigkeiten hinwegtäuschen, aber gemeinsam dafür werben, daß wir diese Aufgaben gemeinsam meistern, und den Menschen auch sagen, daß Grund zur Freude und Dankbarkeit besteht!

(Beifall bei CDU/CSU und der FDP)

Wenn wir nach 40 Jahren Teilung jetzt die Chance haben, die Einheit unseres Vaterlandes in Frieden und in Freiheit zu vollenden, dann ist dies ein Angebot der Geschichte, bei dem wir uns unserer Verantwortung würdig zeigen müssen. Wir Deutsche im Westen sollten dabei die Fähigkeit aufbringen, die Ungeduld unserer Landsleute zu ertragen, und sollten auch Verständnis dafür haben, daß sie, auch bei den schwierigen Fragen, von denen ich gesprochen habe, vieles ganz anders sehen als wir. Wir sollten auch dafür werben, zu helfen und zu teilen und nicht Angst zu machen, sondern Zuversicht zu verkünden, für die wir aus unseren Erfahrungen mit der Sozialen Marktwirtschaft begründete Grundlage haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Den Deutschen in den fünf Ländern, die ab dem 3. Oktober zur Bundesrepublik Deutschland gehören werden, dürfen wir sagen: Überfordert uns nicht mit euren Ansprüchen, werdet nicht ungeduldig, erwartet nicht, daß ab dem 4. Oktober alles so ist wie im Westen, sondern versteht, daß wir alles, was in unserer
Kraft steht, tun, um so schnell wie irgend möglich die Teilung endgültig zu überwinden — schneller, als es Lafontaine für richtig hält; er sagt, es gehe zu schnell — ,

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

aber legt auch selbst Hand an, wartet nicht darauf, daß alles irgendein Kollektiv regelt — ihr habt in 40 Jahren erlebt, daß der Staat, der alles will, nichts kann —, und verharrt nicht in der Vergangenheit, sondern gestaltet die Zukunft!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich weiß, daß so große Veränderungen in so kurzer Zeit, wie sie die Vollendung der Einheit Deutschlands bedeutet, wie wir das beinahe körperlich auch in den parlamentarischen Beratungen erfahren haben, natürlich Anlaß zu Unsicherheit, zu Irritationen in Hülle und Fülle geben. Aber über alle Sorgen, über alle Unsicherheiten, über das Ungewisse, was auf uns alle ein Stück weit zukommt, sollten wir das Gefühl der Freude und das Gefühl der Dankbarkeit nicht verlieren, weil nur aus einem Gefühl der Freude und der Dankbarkeit der Mut zur Zukunft wächst,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

den wir brauchen, wenn wir die Einheit Deutschlands wirklich vollenden wollen.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122602000
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Häfner.

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122602100
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Während ich den bisherigen Reden zugehört habe, habe ich mir wieder einmal überlegt — —

(Unruhe)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122602200
Darf ich einen Augenblick um Unterbrechung bitten. Ich bitte diejenigen, die den Raum verlassen möchten, dies schnell zu tun, damit der Redner in Ruhe fortfahren kann. Ich halte die Redezeit so lange an.

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122602300
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedaure, daß sich die Reihen in der rechten Hälfte des Hauses jetzt so deutlich lichten; denn wer unter Parlamentarismus versteht, daß man nur der eigenen Mannschaft zuhört und zuklatscht und die Debatte scheut, der hat möglicherweise etwas mißverstanden.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD — Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Selbstgerechtigkeit!)

Ich habe mir heute morgen wieder einmal überlegt, während ich den Reden zuhörte, wie es wäre, wenn es in diesem Parlament keine GRÜNEN, keine starke Opposition und in der Volkskammer nicht das Bündnis der Grünen und der Bürgerbewegungen gäbe.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Besser! Viel besser! Wunderbar wäre es dann!)

Wir GRÜNEN tragen wieder einmal die Last der Opposition.



Häfner
Nachdem die SPD noch schnell in den vom Kanzler bereitgestellten Zug eingestiegen ist, wo sie sich im letzten, ziemlich unbequemen Wagen drängeln muß, weil vorne der Kanzler, sein Kabinett und seine Ministerialbürokratie ganze Wagenserien besetzt halten, tragen wir diese Last, jetzt, wo sie schwerer wird, ganz alleine. Dabei ist Opposition jetzt, wo das vereinte Deutschland entsteht und wo um dessen geistige und politische Orientierung gerungen werden muß, dringender denn je; denn es geht um Weichenstellungen, um einen Scheideweg.
Was für ein Deutschland soll das denn werden? Wie können wir dem Vertrauen unserer Nachbarn und der Siegermächte und unserer Verantwortung angesichts der wachsenden ökologischen Katastrophe, des aberwitzigen Potentials an Vernichtungswaffen und der immer weiter auseinandergehenden Schere zwischen Erster und sogenannter Dritter Welt gerecht werden? Hier sind Ideen nötig, und hier ist auch eine offene Debatte nötig.
Von Ideen aber ist in dem sogenannten Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR auf vielen hundert Textseiten und Anlagen weit und breit nichts zu erblicken. Im Gegenteil: Der Vertrag, eine gigantische Leistung der Bonner Ministerialbürokratie, atmet den konservativen, leicht angesäuerten Geist der Regierung Kohl.
Seit Oskar Lafontaine Helmut Kohl an der Leine der Sozialdemokratie hinterherdackelt und dabei täglich an Profil und an Glanz verliert, sind wir GRÜNEN die einzigen, die diesen Anschlußvertrag ablehnen werden. Das ist kein Nein zur deutschen Einheit, sondern ein Nein zu diesem Verfahren und vor allem zu dem von unserer Regierung ausgehandelten Einheitsvertrag.
Dieser Einheitsvertrag liest sich wie eine Liste verpaßter Chancen; denn die Chancen, am Anfang einer neuen Ära neu zu gestalten, wären groß gewesen. Im Vertrag aber sind Dinge festgeschrieben worden, die der Diskussion in Öffentlichkeit und Parlament und der demokratischen Gestaltung dringend bedurft hätten. Diese Diskussion konnte nie stattfinden.
Es war eine Vereinigung von oben. Es wurde im Bundestag und in der Volkskammer noch nicht einmal richtig diskutiert, weil die Tausende Seiten von Texten, Gesetzen und Anlagen von niemandem hier im Hause, wenn wir ehrlich sind, wirklich geprüft und diskutiert werden konnten. Es war und ist eine Vereinigung der Behörden und der Apparate, aber nicht — noch nicht — der Bürger.

(V o r sitz : Vizepräsidentin Renger)

Deswegen haben die Beamten, die den Vertrag formuliert haben, auch gleich das Berufsbeamtentum festgeschrieben, obwohl es bei uns eine jahrelange Diskussion über die Überwindung des Berufsbeamtentums gibt und uns die EG eine Frist nur noch bis 1992 eingeräumt hat, um den öffentlichen Dienst auch für Nichtdeutsche zugänglich zu machen.
Trennung von Kirche und Staat: Auch hier wurde eine Chance, endlich einmal wirklich liberale Verfassungspolitik zu praktizieren, vertan. Sie wissen, daß es aus meiner Sicht auch im Interesse der Kirchen und der Religionsgemeinschaften liegen müßte, vom Staat
ganz und gar unabhängig zu sein. Statt dessen werden die Einheit von Kirche und Staat und das staatliche Einziehen der Kirchensteuer auf die DDR ausgedehnt.
§ 218: Längst gibt es eine Mehrheit in der Bundesrepublik, insbesondere unter den Frauen, gegen die Strafandrohung. Die Diskussion darüber währt nun bald 20 Jahre. Trotzdem wurde die Chance nicht genutzt, hier einmal Rechtsangleichung umgekehrt zu betreiben, nämlich das in diesem Punkt ausnahmsweise liberalere, modernere, bessere DDR-Recht auf die Bundesrepublik zu übertragen, statt einen solch faulen Formelkompromiß, der mit dem Tatortprinzip zu ungleichem Recht und ungleichen Strafandrohungen im dann geeinten Deutschland führt, zu vereinbaren.
Das gleiche gilt für § 175, der sich ebenfalls längst überlebt hat. Solche Sonderstraftatbestände gegen Homosexuelle gibt es in kaum einem anderen Land Europas noch. Die DDR hat sie abgeschafft. Die Bundesrepublik will daran festhalten, auch zum Preis geteilten Rechtes im vereinten Deutschland.

(Kraus [CDU/CSU]: Das ist das, was die GRÜNEN bei der deutschen Einigung bewegt!)

Der Einigungsvertrag wird zusammen mit dem ersten Staatsvertrag dramatische wirtschaftliche und soziale Folgen haben, ohne dafür ausreichende Hilfsprogramme vorzusehen. Er wird vor allem die Länder in der dann ehemaligen DDR, obwohl sie vor viel größeren Aufgaben stehen als die Länder in der Bundesrepublik, weil es eine Verwaltung überhaupt erst aufzubauen gilt, finanziell wesentlich schlechterstellen als die Länder der Bundesrepublik.
Der Einigungsvertrag wird die kommunale Selbstverwaltung, bevor sie in der DDR überhaupt entstehen kann, aushöhlen, etwa durch den Stromvertrag, der Monopole sichert, wo Dezentralität und eine dezentrale ökologische Energieversorgung in der Hand der Kommunen nötig wären.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Eines der düstersten Kapitel im Zusammenhang mit diesem Einigungsvertrag war für uns die Debatte über die Stasi-Akten und die Stasi-Amnestie. Es geht dabei um mehr als nur Aktenbestände oder bloßes Papier. Es geht um Menschen, es geht um Geschichte. Es geht um die Möglichkeit und die Forderung der DDR, ihre eigene Geschichte selber aufarbeiten zu können.
Die Bundesregierung hat dabei keine gute Rolle gespielt. Sie war bis zuletzt nicht bereit, die Forderungen der Besetzer, der Bürgerbewegungen und der Volkskammer zu erfüllen. Selbst in der letzten, uns Montag nacht erst präsentierten Fassung des Einigungsvertrages wird gegen alle Forderungen der Ausschüsse, gegen alle Beschlüsse und auch gegen alle Beteuerungen der Bundesregierung der Zugriff der Nachrichtendienste auf dieses Material eröffnet.

(Stratmann-Mertens [GRÜNE]: Mit Zustimmung der SPD!)

— Mit Zustimmung der SPD. — Es handelt sich um intimste Details aus dem Leben von über sechs Millio-



Häfner
nen Bürgern. Diese Akten dürfen nie wieder in die Hände irgendwelcher Geheimdienste gelangen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dies ist die einzige Forderung, die überhaupt vertretbar ist. Die Allianz der Apparate, die auf die Akten scharf ist — übrigens ist die Konstruktion der Strafverfolgung durch Nachrichtendienste etwas völlig Neues, das es in unserer Rechtsordnung bisher nicht gegeben hat —, gegen die Menschen machen wir nicht mit. Ich gehe davon aus, daß das die Bürgerinnen und Bürger draußen und insbesondere auch die Menschen in der DDR sehr wohl verstehen werden.
Nicht Regierungen, Beamte, Politiker oder Parteien haben die erste friedliche und erfolgreiche Revolution auf deutschem Boden durchgeführt und damit den Einsturz der Mauer und der totalitären SED-Herrschaft bewirkt. Daß sich Helmut Kohl trotzdem als der Einheitsbringer feiern läßt und am 3. Oktober dazu zur quasi religiösen Überhöhung die Glocken läuten lassen will, während die Bürgerbewegungen, die Träger der Revolution, am Katzentisch Platz nehmen müssen, gehört zu den ungerechten Ironien der Geschichte.

(Beifall bei den GRÜNEN — Voigt [Frankfurt] [SPD]: Können Sie einmal erläutern, was eine gerechte Ironie ist?)

Ich bitte Sie dringend: Halten Sie meinetwegen Ihre unvermeidbaren Feierreden über die deutsche Einheit, über die Gunst der Stunde, über den Mantel der Geschichte, über Verantwortung und Auftrag, Pflicht und Erfüllung; aber lassen Sie den lieben Gott und am liebsten auch Beethoven aus dem Spiel.
Vor allem, machen Sie den 3. Oktober nicht zum nationalen Feiertag. Dieses im Parteiengezänk, Hickhack um vermeintlich bessere Wahlaussichten und in nächtlichen Sondersitzungen zustande gekommene Datum ist wirklich der ungeeigneteste Termin zum Feiern.
Wenn Sie schon feiern wollen, dann feiern Sie lieber den 9. Oktober, also den Tag, an dem die Menschen schon wußten, daß Panzer, bewaffnete Einheiten und Internierungslager bereitstanden, und an dem trotzdem jeder für sich den Mut hatte, mit der von der Union im Wahlkampf so unerträglich verzerrten Parole „Wir sind das Volk! " auf den Lippen auf die Straße zu gehen, der Gefahr und dem verhaßten Regime zu trotzen, auch wenn er nicht wissen konnte, wie es ausgehen würde.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Das ist ein Grund zu feiern. Mut und Zivilcourage in einem solchen Ausmaß haben wir in diesem Land noch nicht erlebt.
Feiern Sie nicht sich, Herr Kohl — das wird ohnehin vielen längst zu dicke — , sondern feiern Sie die Menschen, die diese Revolution und damit den Abbruch der Mauer und die Vereinigung beider deutscher Staaten erst ermöglicht haben.
Oder noch besser: Feiern Sie den Tag der neuen deutschen Verfassung, den Tag, an dem sich das
deutsche Volk in freier Entscheidung eine neue gemeinsame Verfassung gibt.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Dann machen wir noch einmal eine Feier!)

— Nein. — Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir werden die Verfassungsabstimmung auf den 9. Oktober legen und dann Revolution und Verfassung, beides vom Volk getragen und gestaltet, in einem feiern. Das hätte auch den sehr begrüßenswerten Vorteil, daß es so lange keinen Feiertag gibt, bis in Erfüllung des Grundgesetzes und in Vollendung der Revolution das Volk sich selbst eine neue Verfassung gegeben hat. Denn Verfassungsänderungen von oben, wie jetzt mit dem Staatsvertrag durchgeführt, kann man schwerlich feiern.
Sie wissen, daß sich am Wochenende im Weimarer Nationaltheater fast 1 000 Menschen versammelt haben, um eine neue Verfassung für Deutschland zu fordern und vorzubereiten. Ich selbst bin Mitinitiator dieses Kuratoriums. Viele Kolleginnen und Kollegen aus verschieden Fraktionen dieses Hauses waren in Weimar mit dabei. Wir werden nicht locker lassen, bis unser Ziel einer neuen vom Volk beschlossenen Verfassung erreicht ist. Wir fordern nichts als das Selbstverständliche.
Sie wissen, das Grundgesetz wurde seinerzeit — wie es in der Präambel wörtlich heißt — nur gemacht, „um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben" . Deshalb nannte man es auch Grundgesetz und nicht Verfassung. Es ist ein Provisorium, allerdings, wie ich meine, ein ziemlich gutes.
Auf die Ausarbeitung einer endgültigen Verfassung und eine Volksabstimmung darüber, die eine Verfassung überhaupt erst legitimiert, hat man damals verzichtet, da es — so die Präambel — einem Teil der Deutschen versagt geblieben sei, daran mitzuwirken.
Eine endgültige deutsche Verfassung — so die Meinung der Eltern des Grundgesetzes; es waren ja nicht nur Väter; es waren Väter und Mütter — könne es erst geben, wenn alle Deutschen gemeinsam über ihre Verfassung abstimmen könnten. Deshalb schließt die Präambel mit der Aufforderung, die Einheit in Freiheit zu vollenden, und deshalb schließt das Grundgesetz selbst mit dem Auftrag, eine neue Verfassung auszuarbeiten, die vom deutschen Volk — von niemand anderem, nicht von der Regierung und nicht vom Parlament, sondern vom deutschen Volk selbst — in freier Entscheidung beschlossen werden muß.
Dies ist ein Verfassungsauftrag. Wenn Sie am Grundgesetz festhalten, dann sollten Sie auch an diesem Auftrag festhalten und ihn erfüllen und nicht versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben offenbar Angst vor dem Volk.

(Zuruf von der CDU/CSU: Quatsch!)

Die Bundesregierung wollte den Einigungsvertrag nutzen, um mal eben die Volkssouveränität in diesem wichtigsten, in diesem entscheidenden Punkt der Volkssouveränität überhaupt, nämlich was den Gesellschaftsvertrag, die Verfassung, den Vertrag der



Häfner
Bevölkerung mit sich selbst, auf den überhaupt erst alle staatliche Macht, auch unsere, gegründet ist, angeht, abzuschaffen. Sie wissen, daß nach dem ersten Entwurf des Staatsvertrages Art. 146 des Grundgesetzes gestrichen werden sollte, und Sie wissen auch, daß bis zum Schluß seitens der Bundesregierung die Auffassung vertreten wurde, Art. 146 sei abzuschaffen.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Das haben wir verhindert!)

— Sie haben es aber nicht ganz verhindert.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Es ist jetzt noch besser geworden!)

— Darüber wollen wir gerne reden.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Müssen Sie auch!) Art. 146 wurde im Staatsvertrag geändert.

Der eigentliche Skandal aber findet sich in der Denkschrift zum Vertrag. Nach Art. 5 des Vertrages könnte man ja noch vermuten, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und die Möglichkeit einer Volksabstimmung hierüber — selbst wenn nur die Möglichkeit angedeutet wird, obwohl nach dem Grundgesetz eine bindende Notwendigkeit besteht — , seien zumindest offengehalten. In der Denkschrift zum Vertrag heißt es aber zu Art. 146 — ich zitiere wörtlich aus der Denkschrift; ich verweise auf Seite 359 — :
Der Wortlaut macht deutlich, daß die Arbeiten zur Novellierung von Verfassungsbestimmungen in dem im Grundgesetz verankerten Verfahren erfolgen und den Anforderungen des Artikels 79 des Grundgesetzes uneingeschränkt unterliegen mit der Folge, daß Verfassungsänderungen einer Zweidrittelmehrheit in den gesetzgebenden Körperschaften bedürfen.
Sie wissen genau, daß dies Wesen und Inhalt des Art. 146 auf den Kopf stellt.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Nein, das ist genau das, was gemeint ist!)

Hier wird ein diesbezüglicher, wie ich meine, untauglicher Versuch gemacht; denn diese Denkschrift kann keinerlei rechtliche Relevanz beanspruchen. Regierungen können nicht in Verträgen über Verfassungsrecht beschließen, wenn darüber noch nicht einmal vom Parlament offen diskutiert und beschlossen werden kann.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist auch die Meinung der Mehrheit des Hauses!)

— Nein. Sie wissen, daß das Grundgesetz a) die Möglichkeit kennt, es nach Art. 79 durch die Organe Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit zu ändern, und b) die Möglichkeit vorsieht, mit einfacher Mehrheit und durch Volksabstimmung eine neue Verfassung zu beschließen. Dies ist der Inhalt des Art. 146.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das haben Sie falsch verstanden!)

Man kann dies nicht einfach so umdrehen, daß man ihn seines eigentlichen Inhalts entkleidet.
Bundestag und Bundesrat werden — das wissen wir ganz genau und Sie ebenfalls — Endstation für wesentliche Verfassungsänderungen sein. Was es geben wird, ist bestenfalls das Schlimmste, was wir erwarten, nämlich Asylrechtsänderungen oder Bundeswehr out of area, also Änderungen, die den fortschrittlichen Charakter unserer Verfassung aushöhlen und Rückschritte ermöglichen.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Die einfache Mehrheit soll das verhindern?)

— Nein. Es zeichnet sich aber sehr deutlich ab — ich werde euch beim Wort nehmen — , daß es hier zu Vereinbarungen zwischen denjenigen Fraktionen des Hauses kommt, die gemeinsam eine Zweidrittelmehrheit herstellen können. Aber ich will das offenlassen. Die SPD hat nach außen hin , obwohl sie dieser Bestimmung, die ich für einen antidemokratischen Staatsstreich halte, zugestimmt hat,

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Ach Kinder, übertreibt doch nicht!)

immer deutlich erklärt, daß sie an der Forderung nach einem Verfassungsrat und an der Forderung nach einer Volksabstimmung über die Verfassung — wie auch wir — festhält. Wir werden sie hier beim Wort nehmen.
Wir wollen eine offene Diskussion. Wir wollen einen paritätisch mit Frauen und Männern aus Bund und Ländern besetzten Verfassungsrat. Wir wollen Initiativrechte für Bürgerinitiativen und Verbände, die ihrerseits Verfassungsvorschläge oder Vorschläge zu einzelnen Artikeln machen können. Wir wollen am Ende eine Volksabstimmung über die so erarbeitete neue Verfassung auf der Grundlage des Grundgesetzes.
Wir verstehen die Ängste, die hierbei offenbar eine Rolle spielen, nicht. Herr Benda z. B. hat in der „Zeit" geschrieben, es sei zu befürchten, daß dann mit einfacher Mehrheit die demokratische Ordnung der Bundesrepublik zur Disposition gestellt würde.

(Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Da hat er recht!)

— Da hat er nicht recht. Sie wissen ganz genau, daß hierfür überhaupt kein Anhaltspunkt und keine Gefahr besteht. Im Gegenteil. Es gibt keine Mehrheit gegen die demokratische Ordnung des Grundgesetzes. Aber es gibt eine Mehrheit in der Bevölkerung dafür, diese demokratische Ordnung weiterzuentwikkeln, z. B. was die Macht und das Monopol der politischen Parteien betrifft. Es gibt immer mehr Menschen, die neben politischen Wahlen auch Sachabstimmungen über politische Fragen, wollen. Es gibt Umfragen zufolge die Forderung von 70 % bis 80 % der Bevölkerung nach Volksinitiative, Volkbegehren und Volksentscheid. Wir GRÜNEN haben hierzu einen Antrag eingebracht. Es gibt die Forderung, das Grundgesetz im Bereich Ökologie dringend zu ergänzen. Sie wissen, daß das damals noch kein Thema war, aber heute zur zentralen Frage unseres Überlebens geworden ist. Der Bundestag hat vier Jahre lang über diese Frage debattiert. Herausgekommen ist nichts.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Weil ihr uneinsichtig seid!)

Ich verspreche Ihnen: Das Volk ist hier schneller.



Häfner
Wir sprechen vom Frieden. Hier genügt es nicht, nur vom Frieden zu reden, sondern wir brauchen im Grundgesetz, in der Verfassung verbindliche Regelungen, etwa ein Verbot des Transports, des Besitzes und der Lagerung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen und ein Verbot des Exports von Kriegswaffen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Ich freue mich auf diese Debatte. Ich verstehe, daß Sie Angst davor haben. Denn hier gibt es eindeutige Mehrheiten in der Bevölkerung gegen die Mehrheit hier im Hause.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Vor Ihnen haben wir schon gar keine Angst!)

Die Frage, ob es eine neue Verfassung gibt und das Volk selbst darüber entscheiden kann, wird ein Prüfstein für die ohnehin schon arg geschundene Demokratie in diesem Land werden. Wir wollen nicht weniger, sondern mehr Demokratie nach der Vereinigung. Wir wollen eine Präambel, die der besonderen Verpflichtung und Verantwortung der Deutschen angesichts des von Deutschen im Nationalsozialismus begangenen Massenmordes und Völkermordes an Juden, Zigeunern, Homosexuellen, Kommunisten, Behinderten usw. Rechnung trägt. Es ist wirklich eines der armseligsten und peinlichsten Kapitel in der Entstehung dieses Einheitsvertrages, daß die Bundesregierung bei der Änderung der Präambel nicht bereit war, eine Formulierung aufzunehmen, die dieser Verpflichtung entspricht. Sie mußte erst vom Zentralrat der Juden daran erinnert werden. Auch dann noch hat die sich bockig gestellt und ist es bis heute geblieben. Das ist ein schlechter Auftakt für den gemeinsamen Staat und ein gefährliches Signal für alle, die die neue Größe und Souveränität Deutschlands mit verständlicher Angst betrachten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es gab in letzter Zeit mehrere solcher Signale, etwa auch die skandalöse gezielte Einreisebeschränkung für sowjetische Juden — was haben Sie sich dabei nur gedacht? — oder die Klage von Herrn Czaja und seinen Freunden. Auch sie war ein solches Signal. Ich bin froh darüber, daß sie einen gegenteiligen Effekt hatte. Ich kann Sie, Herr Czaja, und Ihren Standpunkt nicht begreifen. Wer glaubt, heute noch von den Grenzen von 1937 faseln zu können und an diese Grenzen anknüpfen zu können, der hat nicht verstanden, daß zwischen 1937 und heute — sehr vorsichtig formuliert — Taten und Ereignisse liegen, die jedes auch nur gedankliche Anknüpfen an diese Zeit und ihre Grenzen verbieten. Ich bin froh, daß mit den Verträgen, die jetzt vorliegen, sichergestellt ist, daß die polnische Westgrenze von niemandem mehr in Frage gestellt werden kann und daß Grenzen in Europa künftig nur noch auf friedlichem Wege verändert werden können. Ich hoffe auch, daß die Grenzen ihre Bedeutung immer mehr verlieren werden.
Aber es bleibt die Frage: Was für ein Deutschland soll es werden? Es soll ein friedliches Deutschland werden, dessen Truppenreduzierung auf 370 000 Mann die Obergrenze darstellt; die Untergrenze muß
Null sein, und sie muß spätestens bis zum Ende dieses Jahrhunderts erreicht werden.
Wir wollen ein Deutschland, das den freiwerdenden Rüstungsetat nicht für sich, sondern für andere verwendet, für die Bekämpfung des Hungers und der Armut in der Welt, für eine faire Weltwirtschaftsordnung mit angemessenen Rohstoffpreisen, für den Aufbau und die Sanierung der Umwelt, der Wirtschaft und der Infrastruktur in Osteuropa.
Lassen Sie mich zum Schluß noch eines sagen: Wem nach der deutschen Einheit nichts anderes und nichts Besseres als deutsche Einheiten einfällt, der spielt mit dem Feuer und der verspielt dabei alle Chancen, die die weltpolitische Situation uns heute bietet. Unser Beitrag zum Frieden in der Welt kann und muß wahrlich ein anderer sein, als die Bundeswehr in der Welt herumzuschicken.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122602400
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.

Wolfgang Mischnick (FDP):
Rede ID: ID1122602500
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Über der heutigen Debatte könnten folgende Sätze stehen — ich zitiere — :
Es naht der Augenblick der Entscheidung über die Einheit Deutschlands. Möge jeder, welcher für des Vaterlands Wohl zu sorgen berufen ist, bedenken, daß er, ungenutzt vorübergegangen, vielleicht nie mehr wiederkehrt. Möge deshalb jede Parteileidenschaft, wie vielfach sie auch von allen Seiten aufgeregt worden ist, schweigen, jede Selbstsucht beseite gestellt werden. Möchten die Volksvertreter mindestens in dem Bewußtsein einig sein, daß sie alle, wenn auch verschiedener Ansichten, nur das Beste erstreben wollen. Dann wird die allwaltende Vorsicht, welche allein die Geschicke der Völker lenkt, denjenigen Beschluß finden lassen, welcher zum Segen des Vaterlandes führt.
Dies notierte vor 141 Jahren, nämlich am 16. März 1849, der Abgeordnete Robert Walter, Vertreter des Wahlkreises 30 der Provinz Schlesien in die Denkblätter der Paulskirchenversammlung. Es ist ein für den heutigen Tag meiner Überzeugung nach überaus zeitnahes Dokument deutscher demokratischer Tradition.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich will mich bemühen, diesen Grundsätzen in meinem Redebeitrag gerecht zu werden.
Wir schlagen heute ein neues Kapitel deutscher und europäischer Geschichte auf, in dem nach meiner Überzeugung die Anfangsworte stehen müssen: Für Frieden und Freiheit für alle, denn das ist das Motiv, unter das wir unsere Politik immer gestellt haben.
Warum betone ich dies? Das Ziel, die Einheit Deutschlands herzustellen, verbindet man oft mit dem Wort Wiedervereinigung. Diesem Begriff unterlegt man ebenso häufig einen restaurativen Sinn. Dieser Interpretation deutscher Politik muß am heutigen Tag der wahre Geist unserer Politik entgegengesetzt werden. Es darf kein Zurück in einen Zustand politischen



Mischnick
Fühlens, Denkens und Handelns geben, der unser Volk in der Vergangenheit im demokratischen Europa isoliert hat.
In der Präambel des Grundgesetzes heißt es ja, daß das gesamte deutsche Volk — ich unterstreiche, was der Bundesaußenminister gesagt hat — aufgefordert bleibt, in freier Selbstbestimmung die Einheit u n d Freiheit Deutschlands zu vollenden. In diesen Sätzen ist von den Schöpfern des Grundgesetzes, von den Schöpfern unserer Verfassung jedes Wort mit Bedacht und mit tiefem Wissen um den geschichtlichen Platz unseres Volkes gewählt worden.
Es heißt nicht:... die Einheit wiederherzustellen; es heißt nicht:... die Einheit herbeizuführen, sondern es heißt: „die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". Der Gedanke der Einheit Deutschlands wurde untrennbar mit dem Gedanken der Freiheit verbunden, nicht mit dem Gedanken der Macht, der Herrschaft, des eingebildeten Rechts, über andere Völker zu bestimmen. Unser Streben nach Einheit war und ist keine verstaubte, nach rückwärts gewandte Reichsromantik, sondern ein in die Zukunft gerichtetes gemeinsames europäisches Friedensziel.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Kolleginnen und Kollegen, Politik, heißt es, sei die Kunst des Möglichen. Das ist richtig. Politik muß aber auch die Kunst beherrschen, Zukünftiges zu erkennen, zu erfühlen und Grundlagen zu schaffen, das Erstrebte zu erreichen. Um diesen heutigen Tag zu erreichen, mußte es unser Ziel sein, die Lage in Europa stabilisieren zu helfen. Wir mußten bemüht sein, die Brücken der Verständigung zwischen Ost und West zu stärken, Vertrauen und Sicherheit wachsen zu lassen. Dies begann in den 50er Jahren mit der Zusammenarbeit mit den drei westlichen Siegermächten, dem Beitritt zur NATO, mit der Europäischen Gemeinschaft. Diese Politik fand Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre ihre folgerichtige Ergänzung mit den damals geschlossenen Verträgen, denn nicht umsonst war der Gedanke des Gewaltverzichts Grundlage unserer Ostpolitik, unserer Deutschlandpolitik. Damit sollte vor aller Welt deutlich gemacht werden, daß sich in unserem Verständnis Deutschland mit der Idee der Zusammenarbeit und des friedlichen Nebeneinander verbindet. In diesem nach meiner Auffassung einzig möglichen Sinne war unsere Deutschlandpolitik eine nationale und eine europäische Politik zugleich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Niemand kann an der Politik der Entspannung und Zusammenarbeit in Europa ein größeres Interesse haben als die in wenigen Tagen geeinten Deutschen. Wir werden die Bemühungen um die Verständigung mit Geduld fortsetzen. Wir sind geradezu verpflichtet dazu, denn wir blicken heute, wie es schon mehrfach erwähnt worden ist, auch auf Monate zurück, in denen unser Volk erfahren hat, was europäische Solidarität in der Stunde der Not und der Stunde der Hoffnung bewirken kann. Wir Liberalen erinnern uns mit Dankbarkeit der Unterstützung, die viele Völker und Regierungen uns mit Rat und Tat zuteil werden ließen. Nur mit ihrem Beistand konnte sich ein Teil unseres Volkes ohne Gewalt gegen menschenverachtende
Gewalt zur Wehr setzen und die Freiheit für die Menschen durchsetzen. Die europäische Einigung behält für unsere Politik den gleichen Rang wie die deutsche Einigung.
Hier möchte ich eine Zwischenbemerkung machen. Welche politische und moralische Scham vor ihrem Volk müssen heute diejenigen empfinden, die vielen von uns unterstellten — ich zitiere jetzt — : „Die Lebenslüge dauert ja bis heute, sie währet immerdar, und sie heißt jetzt Vereinigung unter einem europäischen Dach" ! Mein Vorschlag: Laden wir diese Kleingläubigen zur Einweihung des europäischen Hauses mit der gemeinsamen deutschen Wohnung ein! Sie sind widerlegt worden wie selten zuvor Miesmacher dieser Art in unserem Lande.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir bemühen uns, um es auf eine kurze politische Formel zu bringen, gemeinsam mit unseren europäischen und amerikanischen Partnern in der Atlantischen Allianz, das militärische Gleichgewicht des Vertrauens wegen auf einem niedrigen Niveau zu stabilisieren und damit Mittel für Werke des Friedens in der Welt freizumachen. Die Sicherheit der gesamten Staatengemeinschaft muß sich an dieser Aufnahme bewähren, um der Bedrohung des Friendens auch außerhalb Europas vorzubeugen.
Meine Damen und Herren, bei aller Bedeutsamkeit, die dem Einigungsvertrag unbestritten zukommt, möchte ich aber darauf hinweisen, daß dieser nur die politische und rechtliche Voraussetzung der Einheit bedeutet. Ihm gegenüber steht jedoch eine nicht minder schwere Aufgabe, nämlich das tatsächliche Zusammenwachsen von verschiedenen Gesellschaften mit teilweise deutlich unterschiedlichen Lebenseinstellungen und Verhaltensweisen der Menschen. Die Bewältigung dieses Zusammenwachsens ist eine Aufgabe, die nun nicht mehr allein der Politik gestellt ist. Hier ist vielmehr jeder einzelne von uns aufgerufen, das Seine zu tun, um den Prozeß des Zusammenwachsens auch im sozialen und menschlichen Bereich zu einem guten Ende zu führen. Ich sage das vor dem Hintergrund mancher Beobachtung, daß es immer noch Ressentiments gegenüber unseren Landsleuten aus dem anderen Teil Deutschlands gibt, die sich in abfälligen Bemerkungen und dumpfen Vorurteilen äußern. Der Prozeß der Vereinigung zweier so unterschiedlicher Gesellschaften ist kompliziert genug, als daß er durch Unkenntnis übereinander und Unverständnis füreinander noch erschwert werden darf.

(Zustimmung der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Ohne heute auf Einzelheiten einzugehen, die es eigentlich verdienten, näher beleuchtet zu werden, möchte ich nur wenige Punkte aus einer Vielzahl von Fragen herausgreifen, die immer wieder bei Gesprächen in Dresden, Chemnitz, im Erzgebirge oder wo auch immer gestellt worden sind.
In diesem Zusammenhang eine kurze Bemerkung zu dem, was Herr Ministerpräsident Lafontaine gesagt hat. Herr Ministerpräsident, ich habe das Gefühl, die SPD wird es nie lernen:

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: So ist es!)




Mischnick
Steuererhöhungen waren immer das falscheste Mittel, um die Zukunft zu gestalten, das falscheste Mittel, um auf Dauer die Staatsfinanzen in Ordnung zu halten. Nur mit Steuersenkungen haben wir erreicht, daß heute die Steuermehreinnahmen größer sind als das, was wir ursprünglich vorausgedacht haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie haben mit Recht darauf hingewiesen, daß es bei vielen Rentnern noch Probleme gibt. Aber es ist unbestreitbar, daß es einer Vielzahl von Rentnern in der DDR heute bereits besser geht als in der Vergangenheit, und sie erkennen dies auch an.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Hornung [CDU/CSU]: Allen geht es besser! Sie haben die Freiheit!)

Wir haben nie verschwiegen, daß die Einheit auch Kosten verursacht. Kollege Schäuble hat mit Recht gesagt, daß das Investitionen in die Zukunft sind. Wir haben aber auch hinzugefügt, daß uns die Teilung Jahr für Jahr über 40 Milliarden DM gekostet hat. Das können wir sparen und für die zukünftige Entwicklung ausgeben.
Mit Kleinkrämerseelen werden Probleme dieser Art mit Sicherheit nicht gelöst. Der Bundeswirtschaftsminister wird auf manche Punkte noch eingehen. Kollege Graf Lambsdorff hat das in der ersten Lesung auch getan.
Im übrigen: Nachdem Kollege Schäuble das, was Sie gesagt haben, Herr Ministerpräsident, so klassisch ausgepunktet hat, wären weitere Bemerkungen ein Nachtreten, und für Nachtreten bin ich noch nie gewesen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch eine kurze Bemerkung zu ein paar Einzelproblemen machen. Zunächst zu den Stasi-Akten. Die Bewältigung dieses schwierigen, aber doch zugleich besonders menschenverachtenden Teils der DDR-Vergangenheit ist verbal sehr leicht, aber praktisch sehr schwer. Aufklärung über Schandtaten der Stasi ist notwendig. Die Rehabilitation von Opfern muß sachgerecht und schnell durchgeführt werden. Diejenigen, die andere drangsaliert haben, körperlich und seelisch geschädigt haben, dürfen nicht weiter an mehr oder weniger verantwortlichen Stellen bleiben. Sie müssen endlich dort verschwinden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Aber ich füge sofort hinzu: Hüten wir uns davor, die Ausschnüffelung der Menschen dadurch wiedergutmachen zu wollen, daß jeder in allem herumzuschnüffeln versucht, wie das heute teilweise geschieht.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: So ist es!)

Ich habe die große Sorge, daß unter dem Deckmantel des Rechtsstaats Akteneinsicht begehrt wird, aber in Wahrheit eine Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in eklatantester Form erfolgt. Wenn man betroffenen Personen keine Einsicht in die Akten gewährt, um Fakten klarstellen oder sich verteidigen zu können, aber die öffentliche Beurteilung und Verurteilung zuläßt, dann hat dies nichts mehr mit Rechtsstaatlichkeit zu tun.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Bei dieser ganzen Debatte berührt mich natürlich etwas merkwürdig, daß manche, die bei den Beratungen über das Volkszählungsgesetz mit Recht den Datenschutz als einen wichtigen Faktor hervorgehoben haben, bei der Diskussion über die Stasi-Akten ihre früheren Maßstäbe völlig vergessen. Diese Mahnung gilt natürlich nicht nur für diejenigen, die legal oder illegal Zugang zu den Akten gefunden haben, sondern auch für diejenigen, die allzu bereitwillig dieses Material öffentlich verwerten und, wie zu hören ist, manchmal dafür auch noch Honorar zahlen. Das hat mit einer notwendigen Aufklärung im Interesse der Allgemeinheit und der Öffentlichkeit nichts mehr zu tun. Das, was hier geschieht, ist zum Teil Rufmord. Dagegen müssen wir uns alle wenden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122602600
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte.

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122602700
Herr Mischnick, ist Ihnen bekannt und bewußt, daß das Recht auf Akteneinsicht, insbesondere in die eigenen Akten, in die über die eigene Person gespeicherten Akten, eine uralte Forderung .. .

Wolfgang Mischnick (FDP):
Rede ID: ID1122602800
Natürlich!

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122602900
... im Rahmen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist, übrigens auch der Liberalen, . . .

Wolfgang Mischnick (FDP):
Rede ID: ID1122603000
Natürlich!

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122603100
... und daß das, was Sie als datenschutzrechtliche Problematik beschrieben haben, beim Umgang mit den Stasi-Akten etwa durch die Einführung eines In-camera-Verfahrens sehr leicht gelöst werden könnte, so daß also insofern eine Linie von der Forderung nach Volkszählungsboykott hin zu der Forderung nach Einsicht in die Stasi-Akten für Betroffene führt?

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Aber wirklich nicht!)


Wolfgang Mischnick (FDP):
Rede ID: ID1122603200
Diese Linie, die Sie hier ziehen, ist der Versuch, von dem abzulenken, was ich gesagt habe. Natürlich bestreite ich nicht, daß Akteneinsicht möglich sein soll. Aber es muß sichergestellt sein, daß mit Akteneinsicht nicht gleichzeitig Mißbrauch gegenüber Zweiten, Dritten und Vierten getrieben wird. Das ist doch das Problem, vor dem wir stehen!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Hier müssen die rechtsstaatlichen Grundsätze, die für uns selbstverständlich sind, in Zukunft auch in diesem Zusammenhang angewandt werden. Hier bin ich mit meinen Freunden und Kollegen der DDR völlig einig.

(Häfner [GRÜNE]: Dafür das In-camera-Verfahren!)




Mischnick
— Lieber Herr Kollege Häfner, ich weiß, daß Sie an die Dinge sehr subtil herangehen. Ich freue mich sehr, wie stark Sie Argumente wägen. Daß wir meist zu anderen Entschlüssen, zu anderen Entscheidungen kommen, ist eine ganz andere Frage. Aber ich glaube, hier wird es möglich sein, Lösungen zu finden, die im Interesse aller sind, wenn wir aufhören, das, was man glaubt, mit Besetzungen machen zu können, als wichtiger zu achten, als rechtsstaatliche Grundsätze einzuführen, durchzuführen und bei allen Maßnahmen, die hier ergriffen werden, zu beachten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt, den ich hier kurz ansprechen will, ist, daß es in dem Teil Deutschlands, in dem Eigentum an Grund und Boden über Jahrzehnte als etwas Beklagenswertes, gar zu Verachtendes betrachtet worden ist, nicht leichtfällt, Verstöße gegen das Recht auf Eigentum richtig einzuordnen. Wir werden in den neu zu bildenden alten Ländern viele ungelöste Eigentumsfragen aufzuarbeiten haben. Wir Freien Demokraten bekennen uns nicht nur zum Recht auf Eigentum, sondern werden auch alles daransetzen, geschehenes Unrecht durch den gesamtdeutschen Gesetzgeber wiedergutzumachen.
Natürlich denken wir nicht daran, altes Unrecht durch neues Unrecht ersetzen zu wollen. Bestimmte Enteignungen, vor allem für die Zeit von 1945 bis 1949, pauschal für tabu zu erklären, ist mit den Grundsätzen unseres Rechtsstaates nicht in Einklang zu bringen. Dies möchte ich ausdrücklich feststellen.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dabei denke ich nicht nur an die Fragen der Bodenreform, sondern ich denke auch an das, was 1946 mit dem sogenannten Volksentscheid in Sachsen geschah, und an andere Maßnahmen, die sorgfältig aufgearbeitet werden müssen.
Jedermann, der sich in der Entwicklung der letzten 45 Jahre im anderen Teil Deutschlands einigermaßen auskennt, weiß, daß die Rückgabe von Eigentum, das in der Vergangenheit widerrechtlich entzogen wurde, nicht in allen Fällen — möglicherweise nicht einmal in vielen Fällen — möglich sein wird. Man muß sich bemühen, dafür adäquate Lösungen zu finden. Aber die Rechtsstaatlichkeit wird bei diesen Lösungen auf dem Prüfstand stehen. Für uns geht Rechtsstaatlichkeit vor Opportunität. Denn ein freier demokratischer Staat lebt von der Rechtsstaatlichkeit; der Unrechtsstaat brauchte darauf keine Rücksicht zu nehmen.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hier noch einen weiteren Punkt anführen, der mir besonders am Herzen liegt. Das ist die kommunale Selbstverwaltung als Grundlage eines funktionierenden Gemeinwesens. Die Gemeinden müssen nach meiner Überzeugung binnen kürzester Frist in die Lage versetzt werden, ihr Recht auf Selbstverwaltung auch tatsächlich ausüben zu können. Dazu gehört für mich z. B., daß die Gemeinden das Eigentum an Grund und Boden, was sie vor 1933 oder 1945 hatten, das jetzt in Volkseigentum als Staatsbesitz ist, so schnell wie möglich zurückbekommen, denn darüber können sie, ohne daß andere Interessen berührt sind, schnell verfügen und Voraussetzungen für Investitionen schaffen. Dies ist eine Aufgabe, die über die Länder ganz schnell gelöst werden muß.
Wir müssen die Gemeinden mit ausreichenden Finanzmitteln ausstatten, damit sie ihrer Aufgabe als Selbstverwaltung auch gerecht werden können. Dazu braucht man auch qualifiziertes Fachpersonal. Bisher waren die Einnahmen der Städte und Gemeinden der DDR viel zu gering.
Vor diesem Hintergrund wird es vor allem darum gehen, die Beteiligung der Gemeinden am Steueraufkommen derart auszugestalten, daß sie in Zukunft im größeren Umfang selbst Ausgaben finanzieren können, ohne allein auf umfassende Zuschüsse aus dem Staatshaushalt angewiesen zu sein. Daß das eine Zeit braucht, das wissen wir, aber es ist eine Voraussetzung dafür, daß die Kommunen als Auftraggeber gerade für die kleinen und mittleren Betriebe so schnell wie möglich wirksam werden können und damit auch für den Wirtschaftsaufschwung den Beitrag leisten können, den sie leisten müssen.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, aber ich sagte schon, die Autonomie der Gemeinden über die Selbstverwaltung hängt nicht nur von der finanziellen Ausstattung ab, sondern auch davon, daß sie über das notwendige geschulte Personal verfügen, denn das beste Finanzierungssystem nützt natürlich nichts, wenn man niemanden hat, der die den Gemeinden zustehenden Steuern und Abgaben einfordert und sachlich richtig verwaltet; denn das war man bisher nicht gewohnt. Neben der verstärkten Schulung und Weiterbildung von Verwaltungskräften muß daher der Personaltransfer von geeigneten Fachleuten aus der Bundesrepublik Deutschland in die Gemeinden der neuen alten Länder mit vorangetrieben werden. Partnerschaften haben gerade jetzt in diesem Bereich eine ganz besondere Bedeutung. Sie sind nicht überflüssig geworden, im Gegenteil, sie können sich erst jetzt richtig durch praktisches Handeln entfalten.
Meine Damen und Herren, Ziel des Vertrages ist es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die beiden Teile Deutschlands in geordneten Verhältnissen zueinanderfinden und daß sich die Lebensverhältnisse im künftigen deutschen Gesamtstaat einheitlich entwickeln können.
Wenn auch in der kurzen Zeit manche Fragen bisher nicht zur allseitigen Zufriedenheit gelöst werden konnten, so stellt das vorliegende Vertragswerk dennoch — und davon bin ich überzeugt — eine beachtliche und tragfähige Grundlage dar, für deren Zustandekommen ich an dieser Stelle noch einmal allen Beteiligten ausdrücklichen Dank sagen möchte.
„Vor der Einheit Einigkeit" , so vermerkte der Breslauer Abgeordnete Gustav Ludwig von Amstetter am 6. März 1848 in Denkblättern der Paulskirchen-Versammlung. Wir haben diesem klugen Rat Folge geleistet und sind, wie ich glaube, mit dem Vertrag sowie mit der Gemeinsamen Entschließung zur polnischen Westgrenze und dem von Hans-Dietrich Genscher er-



Mischnick
zielten Verhandlungsergebnis bei den Zwei-plusVier-Gesprächen diesem Rat gefolgt.
Es ist eine großartige Leistung, die erst in der Historie richtig eingeschätzt werden wird, daß es gelungen ist, aus dem Mißtrauen gegen ein zusammenwachsendes Deutschland das Vertrauen für ein ganzes Deutschland zu gewinnen. Dafür Ihnen, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesaußenminister, der Bundesregierung und allen, die daran mitgewirkt haben, unseren tiefempfundenen Dank. Es war eine historische Tat, die hier vollbracht worden ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, zum Abschluß noch ein Wort zu der Frage, wie wir den 3. Oktober begehen sollen: Ich bin der Meinung, daß wir diesen Tag schon jetzt — und das ist ja vorgesehen — zu unserem Nationalfeiertag machen sollten. Während der 17. Juni für uns in der Bundesrepublik Deutschland weit über 30 Jahre lang ein Tag des Gedenkens war und bleibt — er wird nicht in Vergessenheit geraten — , so soll der 3. Oktober für uns alle, für alle unsere Mitbürger im vereinten Deutschland, zu einem Tag der Freude werden. Kein Mensch im Ausland würde es verstehen, wenn wir dieses wahrlich historische Datum künftig nicht festlich und fröhlich feiern würden.
Daß die heutige Entscheidung für einen Mann wie mich, der über Jahrzehnte hin, 1945 beginnend, an diese deutsche Einheit geglaubt hat, manchmal nicht zu hoffen wagte, sie noch zu erleben, ein besonderer Tag ist, dies verhehle ich nicht.
Im übrigen, meine sehr verehrten Damen und Herren, packen wir die uns vorliegende Arbeit mit Mut und Tatkraft an! Gemeinsam in Ost und West wird es uns gelingen, ganz Deutschland zu einem wirtschaftlich blühenden, sozial gerechten, friedliebenden Teil Europas werden zu lassen.
Die FDP-Fraktion stimmt geschlossen den Verträgen zu.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122603300
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Voigt (Frankfurt).

Karsten D. Voigt (SPD):
Rede ID: ID1122603400
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der 3. Oktober wird ein Freudentag sein können, weil dann die staatliche Einheit vollendet wird. Aber er wird nur dann ein Freudentag bleiben, wenn uns auch die Vollendung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Einheit gelingt.

(Beifall bei der SPD — Mischnick [FDP]: Davon sind wir überzeugt!)

Das ist der eigentliche Punkt, über den wir heute debattieren und streiten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Überhaupt nicht!)

Bundesminister Schäuble hat mit Unterstellungen, Halbwahrheiten und Polemik versucht, diesen Kern des Streites zu verschleiern; denn das ist der Kern des Streites zwischen Oskar Lafontaine und der SPD insgesamt auf der einen und der CDU/CSU auf der anderen Seite. Die Vollendung der staatlichen Einheit bejahen wir, aber wir befürchten, daß durch Ihre Politik die soziale Spaltung Deutschlands vertieft wird.

(Beifall bei der SPD — Hornung [CDU/CSU]: Sie hoffen es!)

Wenn man sieht, daß auf der einen Seite immer noch mehr Massenarbeitslosigkeit in der DDR entsteht, während sie gleichzeitig noch die Unternehmensteuern senken wollen, dann ist dies eine Politik der Spaltung Deutschlands und nicht der Vollendung der Einheit Deutschlands.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Das ist doch ein großes Geschwafel!)

Deshalb muß man jetzt auch sagen, was man künftig für ein Deutschland will.

(Hornung [CDU/CSU]: Ein sozialistisches vielleicht?)

Jetzt stellt sich nämlich die Frage und die Aufgabe der Gestaltung der Einheit. Wir haben die Einheit Deutschlands bekommen können, weil wir ein verläßlicher demokratischer Partner waren.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ihr doch nicht!)

Aber ich wünsche mir ein Deutschland, in dem der Prozeß der Demokratisierung nicht abgeschlossen ist, sondern in dem die Demokratisierung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft jetzt erst, mit dem Beginn der staatlichen Einheit, jetzt erst recht beginnt. Ich wünsche mir, daß der Satz, der am Beginn der sozialliberalen Koalition von Willy Brandt ausgesprochen wurde, nämlich: „Mehr Demokratie wagen!", jetzt auch am Beginn eines vereinigten Deutschlands steht.
Ich wünsche mir ein Deutschland, das die Kosten der Einheit sozial verträglich aufbringt und das zur Solidarität mit den Arbeitslosen und den von Arbeitslosigkeit Bedrohten in der DDR bereit ist. Ich wünsche mir ein Deutschland, das in seiner Außenpolitik zum Freund und Partner aller unserer europäischen Nachbarn wird. Ich wünsche mir ein Deutschland, das frei von Nationalismus und Großmachtgelüsten ist.

(Hornung [CDU/CSU]: Und von Sozialismus!)

— Wissen Sie, Herr de Maizière, den ja einige von Ihnen demnächst hier in ein Kabinett aufnehmen wollen, hat doch noch mit im Kabinett Modrow gesessen und den Sozialismus bis vor wenigen Wochen noch gelobt. Ich weiß gar nicht, was Sie gegen den Sozialismus haben, wenn Ihr Parteifreund de Maizière sogar das, was in der DDR bestand, als Sozialismus bezeichnet hat, was ich nie getan hätte!

(Beifall bei der SPD)

Ich wünsche mir ein Deutschland, das frei von Nationalismus und Großmachtgelüsten ist; ich wünsche mir ein Deutschland, das bei den Rüstungsexporten bedeutungslos, aber Vorreiter bei der Einigung Europas ist, Europameister bei der Abrüstung und Rüstungskonversion und das Weltmeister beim Umweltschutz und bei den Umwelttechnologien wird.

(Beifall bei der SPD)




Voigt (Frankfurt)

Mit dem Ergebnis der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen ist jetzt der Weg zur deutschen Einheit geebnet. Damit sind wir künftig ein gleichberechtigtes und voll souveränes Mitglied der Familie der europäischen Völker und der internationalen Staatengemeinschaft. Jetzt aber geht es um die Frage, wie wir diesen Neubeginn auch in der Außenpolitik gestalten.
Am Rande gesagt: Wenn Herr Portugalow sagt, wir sollten als Ständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat hineinkommen, dann soll uns das ehren. Aber wenn ein Herr Hornhues darauf gleich fliegt

(Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Ich fliege nicht!)

und sagt, das sollte auch so kommen, dann wird das im Ausland genau die Sorgen wecken, die wir beim Beginn der deutschen Einheit gerade vermeiden sollten.

(Beifall bei der SPD)

Wenn andere, neue Mitglieder in den UN-Sicherheitsrat hineingehören, dann ist es die Europäische Gemeinschaft — dafür sollten wir uns verwenden — oder dann sind es neue Staaten aus der Dritten Welt. Wir sollten uns in Zusammenhang mit der deutschen Einheit jetzt hier nicht vordrängen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Allerdings sollte die Feindstaatenklausel aus der UNO-Charta endlich herausgenommen werden — sie ist lange überlebt. Mit dem Bestehen der deuschen Einheit bin ich jetzt auch dafür, daß wir im Rahmen von UNO-Einsätzen und UNO-Beschlüssen — aber nur dort — mit der Bundeswehr auch außerhalb der NATO tätig werden, aber nur im Rahmen der UNO und nur auf der Grundlage von Beschlüssen der UNO.
Den Vier Mächten gebührt Dank, daß sie die Zweiplus-Vier-Vereinbarungen ermöglicht haben; Dank auch an den Bundesaußenminister. Ich möchte die Namen der Personen, die in den Außenministerien
— ich sage: in Ost und West — dafür verantwortlich sind, auch noch nennen: Herrn Kastrup nenne ich für die Bundesrepublik Deutschland. Und ich möchte
— gerade am heutigen Tag, an dem auch in der DDR über den Einigungsvertrag beraten wird — hinzufügen: den Parlamentarischen Staatssekretär Herrn Misselwitz und seinen Nachfolger Herrn Domke. Denn wir sollten nie vergessen, daß es nicht nur Leute gegeben hat, die hier bei uns in der Regierung viel geleistet haben, sondern daß es auch dort bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen Sozialdemokraten in der DDR-Regierung gegeben hat, die in den letzten Wochen dann allerdings schäbig, um eines Fotos als Außenminister der DDR willen, von Herrn de Maizière aus der Regierung gekippt worden sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Hornung [CDU/CSU]: Die haben versagt!)

Jetzt wird ein Schlußstrich unter die Sonderregelung für Deutschland gezogen, die eine unmittelbare Folge des durch das nationalsozialistische Deutschland verursachten Krieges war. Gleichzeitig aber weist der Vertrag auch in die Zukunft. Da möchte ich an erster Stelle die Grenzregelungen nennen. Wir waren schon immer dafür, offen zu sagen, daß ohne eine Festschreibung der Endgültigkeit der jetzigen polnischen Westgrenze weder die deutsche Einheit zu kriegen noch der Friede in Europa aufrechtzuerhalten sei. Deshalb haben diejenigen in der CDU, die dies nicht begriffen haben — leider gehörte zu ihnen lange Zeit auch der Bundeskanzler selber — , immer auch die deutsche Einheit gefährdet, und ich sage, sie würden, wenn sie die polnische Westgrenze antasten — was ja einige immer noch wollen — , den europäischen Frieden gefährden.
Jetzt aber, nachdem der Grenzverlauf klar ist, muß mit unserem polnischen Nachbarn so bald wie möglich nicht nur ein Vertrag über die Grenze, sondern über eine umfassende Zusammenarbeit geschlossen werden. Ich begrüße die Verträge, die zwischen uns und der Sowjetunion vereinbart worden sind und die noch vereinbart werden sollen.

(Hornung [CDU/CSU]: Also volle Unterstützung des Bundeskanzlers!)

— In diesem Punkt ja. — Aber ich sage darüber hinaus: Die Verträge mit Polen und der Tschechoslowakei müssen genauso umfassend aussehen, sowohl was die politische Substanz der Zusammenarbeit angeht als auch, was ihre finanzielle Ausgestaltung angeht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es darf bei den Polen nicht wieder der Eindruck entstehen, als würden Deutsche und Russen miteinander kooperieren und dabei die Interessen der Polen mißachten. Deshalb ist es wichtig, daß parallel und gleichzeitig zu den deutsch-sowjetischen Verträgen auch Verträge mit unserem unmittelbaren Nachbarn im Osten vereinbart und abgeschlossen werden.
Die sicherheitspolitischen Regelungen, die jetzt für das vereinte Deutschland vorgesehen sind, finden unsere volle Zustimmung. Sie entsprechen übrigens auch den sicherheitspolitischen Vorstellungen der SPD. Oskar Lafontaine hat sich auf dem Parteitag der SPD — ich war bei den Beratungen dabei — gegen die wahnwitzige Idee von Bundesverteidigungsminister Stoltenberg gewandt, der damals noch vorsah, daß amerikanische, britische und französische Truppen in der DDR stationiert werden. In dieser Sache hat er voll recht bekommen. Denn das war eine wahnwitzige Idee. Das, was jetzt vereinbart worden ist, ist genau das, was er wollte und was wir von Anfang an wollten.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben auch mit der Auffassung recht bekommen, daß sich die NATO völlig ändern wird und muß.

(Frau Beer [GRÜNE]: Tut sie aber nicht!)

Ich erinnere noch die Debatte über die „flexible Reaktion" , diese heilige Kuh all der Leute, die immer die NATO verteidigt haben. Sie wird jetzt aufgegeben und sollte auch aufgegeben werden.

(Hornung [CDU/CSU]: Weil sie erfolgreich war!)

Ich erinnere auch noch die Kritik. Ich war auf der Wehrkunde-Tagung. Da habe ich gesagt: wenn sich das in Osteuropa weiter politisch ändert, muß die Vorneverteidigung in Frage gestellt werden. Dazu



Voigt (Frankfurt)

hat der eine oder andere von meinen eigenen Parteifreunden gesagt: „Sei da vorsichtig! Tu das nicht! Sag das nicht! " Jetzt wird sie in Frage gestellt und revidiert. Wir haben auch da recht bekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122603500
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stoltenberg?

Karsten D. Voigt (SPD):
Rede ID: ID1122603600
Herr Stoltenberg.

Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1122603700
Herr Kollege Voigt, können Sie mir einmal sagen, wann ich jemals die Stationierung amerikanischer, britischer oder französischer Truppen auf dem Territorium der heutigen DDR gefordert haben soll?

Karsten D. Voigt (SPD):
Rede ID: ID1122603800
Sie müssen das besser wissen als ich.

(Dr. Stoltenberg [CDU/CSU]: Ja! — Heiterkeit bei der CDU/CSU)

— Ja, weil ich das nicht als Zitat vorbereitet habe. Aber ich sage Ihnen genau: Sie und andere Vertreter der CDU/CSU sind doch damit herumgelaufen, haben gesagt, daß das bisherige NATO-Konzept und NATO- Gebiet bis an Oder und Neiße ausgedehnt werden soll. Das war die Position, und dagegen haben wir uns gewehrt.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122603900
Gestatten Sie noch eine Nachfrage, Herr Kollege? — Bitte.

Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID1122604000
Darf ich feststellen, daß Sie keinen Beleg für diese falsche Behauptung erbringen können?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Darf ich Sie weiter fragen, ob Ihnen unbekannt ist, daß nach den jetzt getroffenen Vereinbarungen sehr wohl nach dem Abzug der sowjetischen Truppen deutsche Truppen auch auf dem Territorium der heutigen DDR der NATO assigniert werden können?

Karsten D. Voigt (SPD):
Rede ID: ID1122604100
Ich bin nicht nur dafür, daß deutsche Truppen dort stationiert werden können, auch wenn sie der NATO angehören, sondern ich habe das auch sehr früh mitgefordert, auch in internen Gesprächen. Aber es bleibt dabei, daß keine alliierten Truppen dort stationiert werden sollen. Das war das, was wir gefordert haben und was nach meiner Erinnerung Sie und andere in der CDU damals immer kritisiert oder in einer ganz anderen Weise verlangt haben.

(Dr. Stoltenberg [CDU/CSU]: Darf ich abschließend feststellen, daß Ihre Erinnerung in diesem Punkt Sie trügt!)

— Herr Stoltenberg, ich begrüße es, wenn Sie Ihre damalige Haltung jetzt revidieren.

(Dr. Stoltenberg [CDU/CSU]: Nein, Sie irren sich!)

Sie ist damals von der CDU/CSU vertreten worden.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Ich möchte jetzt noch auf eine Aufgabe hinweisen, die wir im Zusammenhang mit den sowjetischen Truppen haben, die noch über eine Reihe von Jahren in der DDR stationiert bleiben. Das Verhältnis zwischen den sowjetischen Truppen und den Deutschen in der DDR war bestenfalls ein Nicht-Verhältnis. Die Zahl der Konflikte zwischen beiden wächst. Ich meine, daß wir jetzt insgesamt — übrigens nicht nur die künftigen Parlamentarier aus der DDR, sondern auch wir als Parlamentarier aus dem bisherigen Gebiet der Bundesrepublik Deutschland — die Aufgabe haben, zu einem besseren Verhältnis zwischen Deutschen und sowjetischen Truppen — zwischen der deutschen Zivilbevölkerung und sowjetischen Truppen, aber auch zwischen deutschen und sowjetischen Truppen — beizutragen, als es bisher gegeben war.
Ich bin froh darüber, daß es in den letzten Monaten so gut wie keine antisowjetischen und antiamerikanischen Demonstrationen gegeben hat. Das muß auch so bleiben. Ich hoffe, daß das Verhältnis zwischen uns und den ausländischen Truppen auf deutschem Boden so gestaltet wird, daß sie, solange sie hierblieben, unsere Freundschaft empfinden und sich, wenn sie weggehen, an diese Freundschaft und Zusammenarbeit erinnern.
Die Art und Weise, wie wir mit unseren westlichen Partnern in den vergangenen Jahren umgegangen sind, wie wir sie zu Freunden gemacht haben, sollte uns ein Beispiel sein, wie wir in Zukunft auch mit der Sowjetunion umgehen. Ich bin der Meinung, daß wir versuchen sollten, die Freundschaft mit unseren westlichen Nachbarn schrittweise auch zu einer Freundschaft mit unseren östlichen Nachbarn zu erweitern.
Warum soll es nicht möglich sein, daß sich das deutsch-polnische Verhältnis genauso eng gestaltet wie das heutige deutsch-französische Verhältnis? Ich wäre dafür.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Warum soll unser Verhältnis zu den Sowjets nicht auch so sein, daß wir diejenigen sind, die ihnen mit jedem Schritt, den die Sowjetunion mit ihrer Demokratisierung auf Europa zugeht, auch ermöglichen, nach Europa hereinzukommen?

(Beifall bei der SPD)

Wir dürfen die Hinwendung Osteuropas nach Westeuropa nicht durch neue Schranken gegenüber Osteuropa, den Polen, den Tschechen, den Slowaken, den Ungarn, aber auch gegenüber den Völkern der Sowjetunion erschweren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht jetzt um die künftige Rolle des vereinigten Deutschlands. In der Außenwelt, außerhalb von Deutschland, fürchten viele doch viel mehr, als sie laut sagen, daß wir unsere neue Macht mißbrauchen könnten, daß wir unseren gewachsenen Einfluß nicht richtig nutzen könnten. Wir sollten diese Sorgen in diesem Zeitpunkt nicht übersehen und sollten sie auch dann beachten, wenn sie nicht laut ausgesprochen werden. Deshalb sollten wir gerade jetzt bekräftigen, daß Deutschland



Voigt (Frankfurt)

nicht eine Rolle als Nationalstaat im Sinne des 19. Jahrhunderts anstrebt.

(Frau Geiger [CDU/CSU]: Wer will denn das?)

In diesem Sinne ist der von Ihnen so bekämpfte und kritisierte Satz von Deutschland als einem Provisorium, den Oskar Lafontaine ausgesprochen hat, richtig. Die Einheit Deutschlands kann nur ein Zwischenschritt zu der Einheit Europas sein.

(Beifall bei der SPD)

Wenn wir dieses nicht beachten und uns jetzt nicht noch mehr für die Einheit Europas engagieren, wenn wir nicht mehr als bisher bereit sind, unsere nationalen Souveränitätsrechte in internationale Organiationen einzubetten und an sie abzutreten, dann wird das Vertrauen, das wir in 40 Jahren gewonnen haben, schnell verspielt sein, und dann würde Deutschland, das sich jetzt als Kraft im Sinne der Zielsetzung einer Europäischen Friedensordnung bewähren muß, wieder ein Unruhestifter und Friedensstörer in Europa werden. Das wollen wir Sozialdemokraten nicht. Deshalb unser Bekenntnis zum europäischen humanistischen Geist, gerade auch aus Anlaß der deutschen Einigung.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122604200
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Hornhues.

Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU):
Rede ID: ID1122604300
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In dieser Woche sind wir zum letzten Mal in alter Runde zusammen. Es ist das letzte Mal, daß wir so unter uns sind, wie es 41 Jahre lang gewesen ist. Ich gehe davon aus, daß am Ende dieser Debatte der Kollege Stücklen, der vom Anfang bis heute dabei war, dazu noch manches zu sagen hat. Ich sage dies am Anfang meiner Ausführungen, weil ich glaube, bei all dem, was sich ereignet hat, was geschehen ist, sollte man innehalten und sich immer wieder bewußt sein, wo wir stehen, was wir erleben und wo wir mit dabei sind.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, vor uns liegt die Bundestagsdrucksache 11/7777. Bei dieser Drucksache handelt es sich um die Unterrichtung der Frau Präsidentin an uns, an den Deutschen Bundestag, über den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23. Vor uns liegt ein dicker Berg zur abschließenden Beratung, der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der deutschen Einheit, der sogenannte Einheitsvertrag.

(Häfner [GRÜNE]: Das haben wir alles schon gewußt! Wann fangen Sie denn an?)

Eben hat der Bundestag als Ganzes den Bericht des Außenministers darüber, daß in Moskau am 12. September die äußeren Aspekte der deutschen Einheit geregelt, der Deutschlandvertrag in Moskau unterzeichnet wurde, zur Kenntnis genommen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe dies vorweg gesagt, weil ich glaube — das ist inzwischen zur Platitüde geworden; ich will es aber trotzdem sagen — , niemand von uns hätte sich vor einem Jahr vorstellen können, daß wir heute hier so zusammensitzen

(Häfner [GRÜNE]: Das haben Sie schon gesagt!)

und uns von einem Stück Geschichte verabschieden und in ein neues Stück bundesrepublikanischer Geschichte eintreten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir tun dies mit Freude und mit Genugtuung. Wir sind glücklich über das, was sich ereignet hat. Wir hätten nie für möglich gehalten, daß es so schnell gehen würde. Wir danken dafür, daß es möglich war.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, deswegen verstehen Sie ein wenig, daß wir an manche Diskussion, die es gegeben hat, und an manchen Zweifel, den es gegeben hat, erinnern, daß ich an die Diskussionen nach dem 28. November vergangenen Jahres erinnere, als der Bundeskanzler seine Zehn Punkte zur deutschen Einheit vorgelegt hat. Meine Fraktion möchte der Bundesregierung gratulieren. Wir möchten dem Bundeskanzler, dem Bundesaußenminister, dem Bundesinnenminister und allen ihren Mitarbeitern, dem Kabinett gratulieren und dafür Dank sagen, daß wir heute dies so erleben dürfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der eine oder andere von uns hat seine Beschwernis dabei, hat seine Probleme damit, daß manches, was schmerzt, in diesem Zusammenhang zu ertragen sein wird. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, und andere Redner meiner Fraktion werden darauf noch einmal eingehen.
Wenn wir als Bundestag der Bundesrepublik Deutschland das nächste Mal wieder zusammenkommen werden, werden wir gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen und aus ganz Berlin zusammensitzen. Wir werden dann in einem Parlament zusammensitzen, das weiterhin der Bundestag sein wird, aber der gesamtdeutsche Bundestag. Deutschland wird dann in Frieden eins geworden sein. Diese Einheit ist dann mit dem Ja unserer Nachbarn, unserer Gegner von gestern und Partner von heute, zustande gekommen. Dies, meine sehr geehrten Damen und Herren, macht uns glücklich. Wir — jedenfalls wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion — finden dies schön. Wir sagen unseren Landsleuten in jenen neuen Ländern Deutschlands: Herzlich willkommen bei uns im gemeinsamen Deutschland!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir freuen uns, daß wir in wenigen Tagen zusammen-
sein werden.
Herr Lafontaine, ich hätte mir gewünscht — das fiel mir bei Ihrer Rede ein — , daß Sie wenigstens einen solchen Satz auch hätten sagen können, wie es ein niederländischer Kollege tat, der mit mir in der DDR unterwegs war. In einer Veranstaltung stand er ein-



Dr. Hornhues
fach spontan auf und sagte: Bei all den Problemen sage ich Ihnen als niederländischer Abgeordneter, daß wir Niederländer uns auf euch freuen und uns freuen, daß ihr im freien Europa dabei seid.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich danke ihm und bedaure, daß Sie so etwas nicht gesagt haben.
Ich glaube, ich habe es verstanden, warum Sie dies so schwer sagen können, warum es Ihnen nicht über die Lippen geht. Ich möchte noch einmal in Erinnerung rufen, was Sie ganz am Ende Ihrer Rede gesagt haben. Wenn ich es richtig mitgeschrieben habe, haben Sie gesagt: Ihr wolltet die Einheit; jetzt sagt bitte, was sie kostet, was ihr zahlen müßt!

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer ist „ihr"?)

Ich glaube, dieses distanzierte Ihr macht deutlich, daß Sie sich immer noch nicht damit abgefunden haben, daß Linien Ihrer Politik, die Sie über Jahre vertreten haben, nicht realisierbar sind und falsch waren, daß Sie jetzt, der Not gehorchend, versuchsweise mitlaufen müssen. Die Menschen spüren dies. Deswegen werden Sie weiterhin erleben, daß Ihnen bis zum Wahltag manche Umfrage noch ähnliche Ergebnisse geben wird. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes wollen nicht — bei allem, was wir vielleicht an Fehlern machen mögen — jemanden für die Zukunft Deutschlands, der an sich diese Einheit gar nicht gewollt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU — Bindig [SPD]: Verdrehung! Herr Hornhues, Sie verdrehen doch die Wahrheit! Schämen Sie sich! — Gegenruf von der CDU/CSU: Das ist doch die Wahrheit!)

— Ich will nicht wieder damit anfangen, in der Zitatenkiste zu kramen, Herr Bindig. Da wären Bücher vollzuschreiben, um dies zu belegen. Das würde jetzt die Zeit, die zu kostbar ist, zu sehr in Anspruch nehmen.

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sie sind sonst auch besser, Herr Hornhues!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, in den Debatten der letzten Tage, Wochen und Monate zum Thema deutsche Einheit, das uns immer wieder bewegt hat, ist Dank gesagt worden. Ich habe mir überlegt, ob man das immer noch einmal tun sollte. Da wir aber zum letztenmal hier sind und danach die deutsche Einheit sein wird, kann man nicht Dankeschön genug an all die sagen — ich habe immer Sorge, daß man jemanden vergessen könnte —, die ihren Beitrag dazu geleistet haben. Ich möchte Wort für Wort unterstreichen, was der Bundesaußenminister hier namens der Bundesregierung in seiner Regierungserklärung zu diesem Thema in beeindruckender Weise erklärt hat, möchte aber ergänzend an all diejenigen erinnern, die den Weg bis heute mit viel Bitternis haben erleben müssen oder die ihn gar nicht mehr erleben konnten, weil sie ihr Leben gelassen haben, zuletzt noch vor einem Jahr, als sie in Verzweiflung versuchten, die Donau durchschwimmend, das offen gewordene Ungarn zu erreichen. Das waren, soweit ich mich erinnere, die letzten Toten, die dieses Elend, dieses Unrecht, gefordert hat.
Wir sollten sie in dieser Stunde ebensowenig vergessen wie diejenigen, die tapfer waren, als es unendlich schwer war, tapfer zu sein, in der DDR und anderswo, wo wir es leicht hatten mit unseren Bekundungen zu unseren Werten und Grundrechten. Ich verstehe auch manches an Bitternis bei manchem, der da gekämpft hat, der gegen Stasi gekämpft hat und heute noch kämpft, der heute ein wenig abseits steht. Ich bitte Sie alle, mit dabeizusein, nicht zu traurig zu sein darüber, daß manches, was Sie sich vielleicht gewünscht haben, so nicht in Erfüllung gegangen ist. Wir möchten Ihnen jedenfalls für Ihre Tapferkeit danken, die Sie in schwersten Stunden bewiesen haben, und wir werden Sie dabei nie vergessen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir wieder zusammen sind, werden wir ein Stück weit umdenken müssen. Daß dies notwendig ist, hat zumindest die Rede von Herrn Lafontaine klargemacht. Ich nehme für mich in Anspruch, immer noch Schwierigkeiten zu haben, hinreichend zu begreifen, wie ich als Abgeordneter dann ganz Deutschland mit vertreten soll und nicht nur meinen Wahlkreis Osnabrück, dies alles mit einzubeziehen, die Empfindungen der Menschen in Greifswald genauso zu nehmen wie die derjenigen bei mir zu Hause. Dies alles mit zu sehen und mit zu beachten wird nicht leicht sein; es wird schwer sein; es ist eine große Herausforderung, aber eine Herausforderung, bei der man als Politiker an sich nur glücklich darüber sein kann, daß man dabeisein kann und die Zukunft mitgestalten kann.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns dann einmal ein wenig von dem lösen, was unseren internsten Prozeß, nämlich die deutsche Einheit zu gestalten betrifft — das wird noch lange dauern —, werden wir deutlich sehen und bemerken, wie wichtig es ist, wieder stärker um uns herum zu sehen; denn gleichzeitig mit der deutschen Einheit, mit den gewaltigen Veränderungen in Deutschland hat sich etwas ereignet, das genauso faszinierend ist, nämlich: Europa ist nicht mehr das, was es vor kurzem noch war. Westeuropa, Osteuropa, das werden künftig geographische Begriffe sein und nicht mehr Begriffe, die politische Aussagen beeinhalten. Der Wandel durch Annäherung, jener berühmte, über den viele Bücher geschrieben worden sind, er ist eingetreten, aber anders, als es sich die Protagonisten gedacht haben.

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

Nicht wir haben uns irgendwie angenähert, nicht man hat sich angenähert, sondern der Freiheitswille, die Sehnsucht nach Leben in Freiheit hat sich durchgesetzt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Demokratie!)

Die anderen in Osteuropa, in Mitteleuropa, sie wollen auf uns zugehen, sie wollen als Demokraten mit uns zusammen leben, in gleicher politischer und gesellschaftlicher Grundordnung. So haben sich die Systeme gewandelt. Das eine ist vergangen, und die Menschen, die darunter gelitten haben, streben auf uns zu. Es ist unsere große Aufgabe, in den nächsten Jahren mit dabeizusein, vorneweg zu sein, wenn es darum geht, die Erwartungen wenigstens teilweise zu



Dr. Hornhues
erfüllen, die etwa bei der Verleihung des Karlspreises in Aachen der ungarische Außenminister geäußert hat. Er hat dort sehr deutlich gemacht, wie sehr gerade die Länder Mittel- und Osteuropas auf uns rechnen, wenn es darum geht, gesamteuropäische Integrationsprozesse vorwärts zu bringen und den Anschluß der mittel- und osteuropäischen Länder an Westeuropa zu fördern. Horn, jener ehemalige Außenminister Ungarns, hat damals formuliert: Deshalb, weil wir dies von den Deutschen erwarten und erhoffen, liegt die deutsche Einigung besonders in unserem Interesse.
Es sind viele Erwartungen an uns gerichtet, und mancher Vertrag, der in Vorbereitung ist, ob mit der Sowjetunion, mit Polen, mit der CSFR, mit Ungarn, ist von diesen Erwartungen und Hoffnungen geprägt. Ich habe dabei durchaus die Sorge, daß dabei solche Erwartungen auf uns zukommen, daß wir dringend Verbündete brauchen, die uns helfen, diesen Erwartungen gerecht zu werden. Deswegen ist es sinnvoll, richtig und gut, daß wir den europäischen Einigungsprozeß der Europäischen Gemeinschaft vorantreiben und daß dieses Werk der Integration der neuen Demokratien Ost- und Mitteleuropas in ein demokratisches, in ein freiheitliches, rechtsstaatliches Gesamteuropa gemeinsame Aufgabe der freien Länder Europas, der Amerikaner, der Kanadier, ja vielleicht auch der Japaner und einiger anderer wird. Hier liegen gewichtige Aufgaben vor uns.
Es war gut, nie Zweifel daran aufkommen zu lassen, daß wir die Prozesse und den Weg zur Einheit Deutschlands festgefügt und festverankert in der Gemeinschaft der europäischen Länder, festverankert in der Wertegemeinschaft der Nordatlanischen Allianz gehen wollten und zu betreiben hatten. Wir sollten allerdings auch bereit sein, uns nicht abzugrenzen, sondern diese Offenheit innerhalb Europas voranzutreiben. Das wird nicht ohne große Schwierigkeiten gehen, aber es wird notwendig sein.
Eine letzte Anmerkung. Wir stehen auch in der Situation, daß man an uns weitere Erwartungen richtet, nämlich die Erwartung, uns bei den verschiedenen Konflikten, die sich auftun, stärker als bisher zu engagieren. Wir, die wir als wirtschaftlich Starke gelten und an der Lösung dieser Konflikte ein Interesse haben, sind wegen unserer Aussagen zum Frieden und zur friedenstiftenden Politik generell dazu auch verpflichtet. Ich freue mich, daß auch bei Ihnen ein Umdenken stattgefunden hat

(Zuruf von der SPD)

— bei Ihnen persönlich nicht, aber bei einigen anderen von Ihnen — , so daß wir hier zu einer Gemeinsamkeit kommen können. Dazu wird auch gehören, daß uns andere einmal sagen, was sie von uns erwarten, wenn es darum geht, Verantwortung zu tragen. Es geht nicht darum, daß wir mit aller Gewalt irgend etwas tragen wollen, was uns keiner tragen lassen will. Aber ich fürchte, daß alles das, was man uns tragen lassen will, vielen von uns schon mehr als genug sein wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die CDU/ CSU wird dem vorliegenden Vertrag zustimmen. Wir begrüßen die Erklärung des Außenministers über das Erreichte. Wir sind der festen Überzeugung, daß das,
was unter der Führung der Union Politik dieses Landes immer war, so bleiben wird. Wir wollen nichts anderes, als in Freiheit und in Demokratie und in Frieden mit allen anderen Völkern leben, dies gestalten, sichern und gewährleisten.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122604400
Das Wort hat Frau Abgeordnete Fuchs.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Sachsen spricht! — Zuruf von der CDU/CSU: Hamburg, Köln oder was?)


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1122604500
Sie werden sich wundern, vielleicht als zukünftige Ministerpräsidentin.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Wollen wir uns doch einmal auf den Weg machen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten werden dem Vertrag zustimmen. Wir freuen uns auf die Einheit; damit das endlich klar ist. Natürlich freuen wir uns auf die Einheit.

(Beifall bei der SPD)

Wir wollen die Einheit gestalten. Wir werden diesem Vertrag deswegen zustimmen, weil er nur dank sozialdemokratischer Gestaltungskraft überhaupt so geworden ist, daß man ihm zustimmen kann; sonst wäre er nämlich ein mieses Stück geblieben.

(Beifall bei der SPD)

Es ist doch wohl unser Verdienst, daß die Bodenrechtsituation jetzt so ist, daß die Kommunen in der DDR endlich handlungsfähig sind.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Neu!)

Es ist unser Verdienst, daß es gelungen ist, in diesen Vertrag viele Verbesserungen hineinzubekommen. Auch deswegen grummelt es bei Ihnen in der Fraktion ziemlich. Unsere Fraktion wird dem Einigungsvertrag geschlossen zustimmen. Ich danke den Verhandlungsführern, die ein so fabelhaftes Ergebnis zustande gebracht haben.

(Beifall bei der SPD)

Wir freuen uns auf die Einheit, weil jetzt zusammenwachsen kann, was zusammenwachsen soll und zusammengehört; damit das klar ist und damit Sie mit den albernen Reden aufhören. Dies hat Oskar Lafontaine heute unterstützt und bekräftigt.

(Freiher von Schorlemer [CDU/CSU]: Mal sehen, was die Sachsen zu Ihnen sagen!)

Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Überlassen Sie es doch bitte den Bürgerinnen und Bürgern in unserem deutschen Vaterland, wem sie mehr Vertrauen entgegenbringen! Wir sind für die Einheit, wir kämpfen für soziale Gerechtigkeit, und da sind Sozialdemokraten von niemanden zu übertreffen.

(Beifall bei der SPD)

Ich will noch einmal auf den Einigungsvertrag zurückkommen. Wie wäre es denn gekommen, wenn wir nur bei der Erklärung vom 15. Juni geblieben wären, Herr Schäuble? Wir hätten uns in Sachen Bo-



Frau Fuchs (Köln)

denrechtsreform nicht so bewegt, daß wir jetzt sagen können: Es kann dort investiert werden, niemand muß Angst haben. — Wie wackelig Ihre Position ist, sehen Sie daraus, daß Sie sich genötigt sahen, Ihrer eigenen Klientel zu sagen: Nun wollen wir doch einmal sehen, was wir nach dem 4. Oktober gesetzlich noch machen müssen. — Deswegen bin ich sehr zufrieden, daß wir Sozialdemokraten hier Nägel mit Köpfen gemacht haben und daß daran auch nicht mehr gewackelt werden kann.

(Beifall bei der SPD)

Das zweite, worauf ich im Rahmen des Einigungsvertrages eingehen wollte, ist, daß es ja auch unser Verdienst ist, daß die Opfer des Stalinismus rehabilitiert werden können. Ich bin auf meine Mann-/Frauschaft schon stolz, daß sie es geschafft hat, in Sachen § 218 standfest zu bleiben. Ich habe an den Verhandlungen nicht teilnehmen können. Ich möchte mich bei den Männern und Frauen der sozialdemokratischen Fraktion dafür bedanken, daß sie dieses wichtige gesellschaftliche Feld für die Frauen so standhaft verteidigt haben und eine gute Regelung verabschieden konnten.

(Beifall bei der SPD)

Ich sage gleich hinzu: Wir müssen aufpassen, daß es nicht wieder schlechter wird. Das hängt von Mehrheitsverhältnissen ab.

(Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Nein, vom Bundesverfassungsgericht!)

Es muß sich niemand wundern, wenn wir bei gewissen Mehrheitsverhältnissen, die wir ja nicht wollen, beim § 218 noch eine Überraschung erleben werden.
Es ist uns gelungen, natürlich zusammen mit unseren Freunden in der DDR, das Spiel zu beenden: Ein Herr Krause und ein Herr Diestel versuchten, die Stasi-Akten zentral in die Bundesrepublik zu überführen. Ich bin froh, daß das jetzt einigermaßen vom Tisch ist. Denn — das sage ich Ihnen, meine Damen und Herren — wir wollen, wie Herr Schäuble gesagt hat, Vertrauen der Menschen in die Entwicklung schaffen. Wir wollen ein Klima des Vertrauens und des Aufschwungs auch in den bisherigen Ländern der DDR erreichen.
Das geht aber nur, wenn jenes tiefsitzende Mißtrauen, wenn jener Zorn und die Erbitterung überwunden werden, die darin bestehen, daß in den Betrieben noch immer die alten Leitungen das Sagen haben, die heute die Menschen in Arbeitslosigkeit schicken. Das muß aufhören, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Stücklen [CDU/CSU])

Was die Bürokratie angeht, bestehen Zorn und Erbitterung darüber, daß noch immer die alten Polizeipräsidenten, die schon in Vorzeiten Genehmigungen gegeben haben, die Demonstrationen dieses Jahres genehmigen. Wir müssen das ändern. Es kann nicht angehen, daß an den Machthebeln in der DDR die alten Menschen das Sagen behalten. Dann werden
Zorn und Mißtrauen in der DDR nämlich nicht abgebaut.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Es gibt Wut und Empörung. Das dürfen wir überhaupt nicht unterschätzen. Dieses Problem rangiert noch vor der Angst um die Arbeitsplätze. Dieses Problem wird zum Ausdruck gebracht, indem man fragt: Wie kann es denn sein, daß in den Verwaltungen die alten Leute sind, daß es noch immer Stasi-Offiziere in besonderem Einsatz in den Verwaltungen gibt

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Jetzt werden sie nach Hause geschickt!)

und daß in den Arbeitsämtern noch immer die alten Leute arbeiten? Es gibt eine seltsame Kumpanei zwischen PDS und CDU, die verhindert, daß hier wirklich ein Erneuerungsprozeß beginnt.

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wenn wir uns über die Einheit freuen, dann müssen wir die zweite große Frage beantworten: Wie schaffen wir Arbeitsplätze? Herr Schäuble hat von den Kräften des Marktes und des Wachstums gesprochen. Ich stimme ihm zu, daß wir Wachstumsschübe nur erreichen, wenn wir die Marktkräfte mobilisieren. Es ist auch richtig, daß wir überall dort, wo wirtschaftliche Entwicklungen privatwirtschaftlich organisiert funktionieren, diese unterstützen müssen und daß wir das mit Investitionszulagen, mit Betriebszulagen und auch, glaube ich, mit größeren Übergangskrediten stützen müssen, als wir es bisher getan haben.
Aber im Kern unterscheiden wir uns, Herr Schäuble, in einem Punkt: Wir sind der Überzeugung, daß der Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft ohne funktionierendes Gemeinwesen nicht erreicht werden kann. Deswegen wird nicht investiert, solange die Infrastruktur in der bisherigen DDR nicht in Ordnung kommt. Daher ist unser vorrangiges Ziel, die Kommunen in die Lage zu versetzen, jetzt mit den Infrastrukturmaßnahmen zu beginnen.

(Beifall bei der SPD — Hornung [CDU/CSU]: Das ist das Programm der Bundesregierung!)

Sie können nicht warten, bis irgendwo irgendwie irgend jemand etwas macht.

(Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Herr Romberg hat ja nicht alles Geld weitergeleitet!)

Sie brauchen vielmehr eine Finanzspritze für die Kommunen; denn die Wachstumsschübe, von denen Herr Schäuble spricht, werden im Augenblick zur Folge haben, daß viel Arbeitslosigkeit entsteht, was nicht zu vermeiden ist. Ich sage es ausdrücklich: Die Wachstumsschübe werden Arbeitsplätze vernichten, und zwar in größeren Mengen, als Sie sich das wahrscheinlich vorstellen können.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Quatsch!)

— Es ist aber so.



Frau Fuchs (Köln)

Nun kommt die spannende Frage: Wer kann denn für die Übergangszeit Arbeitsplätze schaffen und Arbeit organisieren, damit die Hoffnungslosigkeit überwunden wird? Es kann doch nicht angehen, daß in der DDR Menschen arbeitslos sind, obwohl die Arbeit auf der Straße liegt. Es gibt so viel zu tun.

(Beifall bei der SPD)

Da sich diese Arbeit marktwirtschaftlich nicht rechnet, ist die Frage an den Staat und die Politik: Wo kann man helfen?
Man kann erstens helfen, indem jetzt Finanzspritzen an die Kommunen gegeben werden. Diese können jetzt nämlich die Kanalisation bauen, sie können jetzt die Straßen reparieren, und sie können jetzt die Häuser in Ordnung bringen. Sie würden damit der einheimischen Wirtschaft Arbeit bringen. Das ist dringend notwendig und würde neue Arbeitsplätze schaffen.

(Beifall bei der SPD)

Wir brauchen weiter die Verzahnung von Arbeitsämtern und Kommunen. Das, was wir Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nennen, würde ich zu einer staatlichen Beschäftigungsgesellschaft, zu einem großen ARI-Programm ausweiten. — ARI heißt: aufräumen, reparieren, in Gang setzen. — Man sollte die Menschen zusammenholen, die, statt zu Hause zu sitzen, lieber am Aufbau der DDR mitarbeiten wollen. Davon gibt es nämlich sehr viele Männer und Frauen.

(Beifall bei der SPD)

Diese Aufgabe rechnet sich nicht nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen; die Wachstumsschübe setzen im Augenblick im Gegenteil Arbeitskräfte frei, also müssen wir die Chance dagegensetzen, mit staatlicher Politik Arbeitsplätze, Beschäftigung zu vermitteln, und zwar auch dann, wenn es in manche ökonomische Theorie nicht hineinpaßt.
Ich glaube aber, es paßt in jegliche ökonomische Theorie hinein. Ich habe schon oft gesagt: Das Teuerste, was sich eine Gesellschaft leistet, ist, nur Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Es ist deswegen besser, nach jedem anderen Weg zu suchen, damit die Menschen eine Chance haben, durch Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das geht auch in der DDR, wenn wir es nur wollen.

(Beifall bei der SPD)

Das ist die Kernauseinandersetzung, Herr Schäuble. Sie sagen, das Wachstum kommt. Herr Haussmann hat mir gesagt, es sei richtig, daß die Kommunen Geld bräuchten.

(Bundesminister Dr. Schäuble: Das machen wir doch!)

— Ihr habt bisher gekleckert und nicht geklotzt; ein paar Millionen werden da nicht reichen.
Wenn das alles nicht geht, brauchen wir Beschäftigungsgesellschaften, brauchen wir staatliches Geld, um diese Übergangszeit, die in einigen Jahren dazu führen wird, daß es mehr Arbeitsplätze gibt — davon bin ich überzeugt — , unkonventionell und helfend zu begleiten.
Die Politiker in der DDR — egal, von welcher Couleur — , die Oberbürgermeister sind mit mir einig, daß sie, wenn sie jetzt Finanzspritzen bekämen, schon morgen Aufträge an die heimische Handwerkerschaft vergeben könnten.
Eine solche von uns vorgeschlagene Politik könnte den Abwarteprozeß durchbrechen und den Menschen Hoffnung geben, wenn sie erkennen: Hier tut sich etwas; in der DDR wird etwas realisiert. — Das kostet Geld; das weiß ich wohl.
Herr Schäuble, Sie haben das wieder einmal so elegant umschrieben und nicht geantwortet. Es geht doch nicht um die Frage, ob wir finanzieren. Natürlich ist uns die Einheit das Geld wert. Wenn wir die Einheit wollen, dann müssen wir das Geld auch ausgeben wollen. Dazu stehen wir Sozialdemokraten, weil es sonst nicht geht.
Sie müssen schon sagen, wie Sie das rechnen wollen. Wenn Sie die gesamten Finanzlasten, die auf uns zukommen, addieren, ist doch ganz klar, daß Sie die Finanzierung nicht allein über Verschuldung durchführen können. Ich bin gespannt, wie Sie die Milliardenbeträge finanzieren wollen. Auch ich hätte gerne zum Bundeskanzler gesagt: Gib mir drei Milliarden DM für die Kommunen in der DDR, und ich hätte hinterher sagen können: Das ist mehr, als ich erwartete. Aber das geht wohl nur im Zusammenhang mit dem Einsatz im Golfkrieg.

(Zuruf von der CDU/CSU: Unverschämtheit!)

— Ich habe ja nichts dagegen. — Aber wenn der Bundeskanzler so reich ist und sagt: Ich gebe mal eben drei Milliarden, und wenn der amerikanische Außenminister sagt: Das ist mehr, als ich erwartet habe, möchte ich sagen: Ich wäre froh, wenn wir bei einer Hilfe für die DDR einmal sagen könnten, wir hätten mehr bekommen als erwartet, und beim Bundeskanzler danke schön sagen könnten. Das wäre wirklich fabelhaft.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Ich fasse zusammen: Wir wissen, daß die Wirtschaft Wachstumsschübe auslösen muß. Aber es wird nicht ohne staatliche Begleitung gehen. Wir brauchen ein funktionierendes Gemeinwesen in der DDR — wir beginnen damit bei den Städten und Gemeinden — , und wir brauchen Hoffnung für die vielen zigtausend Menschen, die jetzt ihren Arbeitsplatz verlieren.
Ich muß Ihnen sagen: Zu meinen bedrückendsten Erlebnissen gehört es, wenn ich mit den Menschen in der DDR erst einmal über Arbeitslosigkeit, über die Instrumente und die wenigen Hilfen, die man in einer solchen Situation anbieten kann, reden muß.
Dennoch freuen wir uns auf die Einheit. Aber die Einheit kann doch nicht bedeuten, daß es einigen gut geht und die vielen ohne Hoffnung sind. Deswegen werden wir Sozialdemokraten darum kämpfen, daß bei diesem Prozeß der deutschen Einheit, bei dem zusammenwächst, was zusammengehört, Menschen nicht unter die Räder geraten.
Wir Sozialdemokraten werden dem Einigungsvertrag geschlossen zustimmen. Wir sind uns aber darüber im klaren, daß danach die Arbeit erst beginnt,



Frau Fuchs (Köln)

meine Damen und Herren. Bilden wir uns doch bitte nicht ein, daß irgendein Problem gelöst ist, wenn wir heute zustimmen, und seien wir uns bewußt, daß wir hier im Westen unseres Vaterlandes noch ein großes Stück an Solidarität geben müssen! Bisher sitzen wir ganz schön bequem in unseren Sesseln und tun so, als ob die ganze Angelegenheit mit ein bißchen Wachstum erledigt werden könnte. Nein, wir werden Solidarität abfordern müssen. Wir Sozialdemokraten sind dazu bereit.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122604600
Das Wort hat der Abgeordnete Spilker.

Dr. Karl-Heinz Spilker (CSU):
Rede ID: ID1122604700
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Herstellung der Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung wird ein Auftrag erfüllt, den uns die Verfassungsväter des Grundgesetzes vorgegeben haben. Wir haben uns unbeirrt an diesem Ziel orientiert; wir haben es nie aus dem Auge verloren und damit den Weg offengehalten, den wir nun, 45 Jahre nach Kriegsende, beschreiten.
Es geht um die Voraussetzungen für den Beitritt, um die notwendige Rechtseinheit und -sicherheit und um einheitliche Lebensverhältnisse, gleiche Lebensbedingungen, die wir so schnell wie möglich haben wollen.
Das vorliegende umfangreiche Vertragswerk ist das Ergebnis intensiver und schwieriger Verhandlungen zwischen Partnern mit nicht immer gleichlaufenden Interessen. Es kann daher nicht verwundern, daß nicht jeder von uns alle seine Vorstellungen verwirklicht sieht. Bei aller Freude müssen wir uns vergegenwärtigen, daß Kompromisse geschlossen wurden, geschlossen werden mußten, wie es bei Partnern üblich ist, die, wie die Diskussionen hier im Parlament, aber auch in der Öffentlichkeit gezeigt haben, für viele von zentraler Bedeutung sind.
Bereits bei der ersten Beratung des Einigungsvertrages habe ich auf zwei Punkte aufmerksam gemacht, die manche von uns bedrücken, einzelne sogar beschweren und die es ihnen schwer machen, dem Vertrag zuzustimmen.
Eine dieser zentralen Fragen ist die Regelung zum Schutz des ungeborenen Lebens. Wir von der Union — das ist bekannt — hätten sie uns anders gewünscht. Hier entstehen im wahrsten Sinne des Wortes Gewissenskonflikte, und es entwickeln sich Entscheidungen, die wir zu respektieren haben. Meine Kollegin Frau Verhülsdonk wird darauf näher eingehen, weil ich, auch für andere, ein anderes Thema behandeln möchte, über das hier schon gesprochen wurde, das aber einer Vertiefung bedarf.
Es handelt sich um die Enteignungen, die in den Jahren 1945 bis 1949 auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitsrechtlicher Grundlage vorgenommen worden sind. Wir wissen, daß diese sogenannte Bodenreform, aber auch andere Enteignungen ein Instrument des Klassenkampfes waren. Die Opfer waren nicht nur die Eigentümer von über 100 ha großen Betrieben, wie der große Anteil enteigneter kleinerer Besitzungen zeigt. Der Grundbesitz wurde in rechts-staatswidriger Weise total und entschädigungslos konfisziert. Diese Enteignungen geschahen nicht zum Wohle der Allgemeinheit, wie es unser Grundgesetz voraussetzt, das auch zwingend eine Entschädigung vorschreibt. Es waren politische, ideologisch motivierte Willkürakte einer Diktatur, die mit den grundlegenden Wertvorstellungen eines demokratischen Rechtsstaates unvereinbar sind und jedes Rechtsgefühl verletzen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nach der Gemeinsamen Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen vom 15. Juni dieses Jahres — Bestandteil des Einigungsvertrages — sind diese Enteignungen „nicht mehr rückgängig zu machen". Weiter:
Die Regierungen der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik sehen keine Möglichkeit, die damals getroffenen Maßnahmen zu revidieren. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland nimmt dies im Hinblick auf die historische Entwicklung
— ich bitte das genau zu beachten —
zur Kenntnis. Sie ist der Auffassung,
— jetzt kommt das für mich Entscheidende —
daß einem künftigen gesamtdeutschen Parlament eine abschließende Entscheidung über etwaige staatliche Ausgleichsleistungen vorbehalten bleiben muß.
Damit, meine Damen und Herren, wird dem künftigen gesamtdeutschen Gesetzgeber die Möglichkeit freigehalten, dieses Unrecht, so gut es geht, wiedergutzumachen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das begangene Unrecht kann nach so vielen Jahren
oft sicherlich nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Das ist, glaube ich, jedem klar. Es darf aber auch nicht
— schon gar nicht von uns — sanktioniert werden. Wir wollen uns weder nationalem noch internationalem Unrecht beugen und werden es auch nicht tun. Wer gäbe uns eigentlich das Recht, uns so zu verhalten?
Der Vertrag ermöglicht nach meiner festen Überzeugung einen Interessenausgleich, über den allerdings erst später, nämlich von einem gesamtdeutschen Gesetzgeber, zu entscheiden sein wird.
Es gibt aber auch noch einen Vorspann zu den Vermögensfragen, den ich auch in diesem Zusammenhang für ganz wesentlich halte. Ich möchte ihn deshalb vorlesen, weil es sich nur um drei Sätze handelt:
Bei der Lösung der anstehenden Vermögensfragen gehen beide Regierungen davon aus, daß ein sozial verträglicher Ausgleich unterschiedlicher Interessen zu schaffen ist. Rechtssicherheit und Rechtseindeutigkeit sowie das Recht auf Eigentum sind Grundsätze, von denen sich die Regierungen der Deutschen Demokratischen Republik



Spilker
und der Bundesrepublik Deutschland bei der Lösung der anstehenden Vermögensfragen leiten lassen. Nur so kann der Rechtsfriede in einem künftigen Deutschland dauerhaft gesichert werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich spreche sicherlich auch in Namen mancher, die eine persönliche Erklärung abzugeben wünschen. Wenn ich mir diesen Vorspann anschaue, möchte ich eigentlich sagen: Darauf bauen wir und auf das zukünftige gesamtdeutsche Parlament unter den kritischen Augen der Hüter unserer Verfassung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Gestatten Sie mir einen agrarpolitischen Hinweis nicht nur in diesem Zusammenhang. Damit komme ich auf zahlreiche Zuschriften zu sprechen, die wir in der letzten Zeit erhalten haben. Auch auf dem Gebiet der DDR wollen wir eine gemischte, eine bäuerlich geprägte Betriebsstruktur. Eine in diese Richtung laufende Entwicklung wollen wir fördern. Für meine politischen Freunde und mich ist das eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Unser Leitbild ist die bäuerliche Landwirtschaft und nicht die Agrarfabrik, schon gar nicht die staatliche Agrarfabrik.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122604800
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer?

Dr. Karl-Heinz Spilker (CSU):
Rede ID: ID1122604900
Ich wäre dankbar, wenn ich diesen Gedanken jetzt zum Abschluß bringen könnte. — Nur so können wir gleiche Voraussetzungen, gleiche Wettbewerbsverhältnisse für die Bauern in einem vereinten Deutschland schaffen. Dafür zu sorgen, sind wir auch den Landwirten in der Bundesrepublik Deutschland schuldig, die nicht zu Leidtragenden der Einheit werden dürfen, wie manche von ihnen auf Grund von Entwicklungen in einigen Teilmärkten und mancher übergangsbedingter Vorkommnisse befürchten. Das ist ein Zustand, mit dem ich seit Wochen täglich konfrontiert werde.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir unterstützen daher die von Bundesminister Kiechle geplanten und zum Teil schon realisierten Maßnahmen zur Entlastung der Agrarmärkte, die sich weiter fortsetzen sollten. Herr Präsident Heereman, ich bitte um Nachsicht, daß ich dieses Thema ohne Ihre „Genehmigung" aufgegriffen habe.

(Zurufe von der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122605000
Denken Sie an die Zwischenfrage, Herr Kollege?

Dr. Karl-Heinz Spilker (CSU):
Rede ID: ID1122605100
Frau Kollegin, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich ein bißchen schonen würden, denn ich habe auch nur eine begrenzte Redezeit. Ich möchte meine Gedankengänge zusammenfassend abschließen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122605200
Bedeutet das, daß Sie keine Zwischenfrage zulassen?

Dr. Karl-Heinz Spilker (CSU):
Rede ID: ID1122605300
Im Moment nicht.
Ich möchte noch ein Wort zu den Kosten der Vereinigung sagen, weil mir die Diskussion darüber, um ganz ehrlich zu sein, auf die Nerven geht. Ich finde das schlimm, ich finde das unwürdig. Ich meine, daß wir in dieser Stunde eigentlich über etwas anderes zu entscheiden haben, als ununterbrochen über Statistiken zu reden.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Täglich, wöchentlich, ja stündlich kommen neue Aufgaben auf uns zu. Das können wir gar nicht verhindern. Aber wir haben diese Aufgaben zu erledigen, wir haben sie zu erfüllen. Da können wir nicht erst eine Diskussion darüber führen, ob das mehr oder weniger kostet. Wir haben zu handeln. Wir sind dazu verpflichtet.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Wenn wir die Einheit wollen, meine Damen und Herren, dann müssen wir sie auch gestalten. Wenn wir sie gestalten wollen, dann muß sie nach den Grundsätzen gestaltet werden, nach denen wir auch die Bundesrepublik Deutschland aufgebaut haben.
In diesem Zusammenhang wird natürlich auch immer wieder die Diskussion über Steuererhöhungen geführt. Das ist ja eine alte Diskussion. Sie sind ja wirklich Meister in solchen Vorschlägen. Sie haben das immer wieder bewiesen. Sie haben einmal geordnete Haushaltsverhältnisse übernommen, und sich trotzdem überschlagen mit Steuererhöhungen.
Sie waren auch Meister der Staatsverschuldung.

(Hornung [CDU/CSU]: Und haben eine riesige Erblast hinterlassen!)

Ihr Kandidat hat hier, wenn ich das richtig begriffen habe, weniger als Vertreter eines Landes,

(Hornung [CDU/CSU]: Eines hochverschuldeten Landes!)

als vielmehr als Vertreter einer Partei gesprochen, die er im Wahlkampf zum Erfolg führen will. Herr Lafontaine, ich habe das bittere Gefühl, wenn Sie so weitermachen wie hier heute, dann wird das Meinungsbild von Ihnen nicht besser werden.
Ich frage mich jetzt — ich kenne Sie sehr lange —: Ist das wirklich nur Demagogie, oder verstehen Sie nichts davon? Sonst könnten sie wirklich nicht sagen, wir sollten mit staatlichen Maßnahmen Arbeitsplätze schaffen, was sie über Jahre und Jahrzehnte nicht vermocht haben. Arbeitsplätze schafft man anders. Das möchte ich Ihnen einmal ganz deutlich sagen.

(Andres [SPD]: Welch ein Quatsch!)

— Hier spricht zumindest einer, der in der Industrie, in der Wirtschaft dieses Landes jahrzehntelang tätig war und der nicht auf Wegen anderer Art in dieses Parlament gekommen ist.

(Dr. Vogel [SPD]: Vorsicht! Vermintes Gelände! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Ich möchte Ihnen noch einmal dies sagen: Wenn
Sie eine gesunde Entwicklung unserer Wirtschaft und



Spilker
damit der Wirtschaft in der DDR herbeiführen wollen, dann schaffen Sie das sicherlich nicht mit Methoden, die Sie seit Jahrzehnten vertreten und mit denen Sie in der Praxis nicht eingebrochen sind.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Sie haben mit Ihrer Politik nie Erfolg gehabt, weil Sie sozialistische und keine marktwirtschaftliche Politik vertreten haben. Das erwähne ich nur, damit Sie endlich begreifen, woran Sie in der Vergangenheit gescheitert sind.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal auf die Kosten zurückkommen, weil diese auf dieses Thema verengte Diskussion, wie ich sagte, einfach unwürdig ist. Wenn es um die Herstellung unserer nationalen Einheit geht — wir freuen uns doch alle darauf —, dann ist sie einfach unangemessen. Ich finde es auch unangemessen, ununterbrochen nur materielle Gesichtspunkte in den Vordergrund zu stellen. Auch das ist schlimm.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Aus dem Grunde verstehe ich z. B. auch die Beschwernis der Kolleginnen und Kollegen in bezug auf § 218.
Wenn es so ist, daß wir uns alle auf die Einheit freuen, dann darf ich für die CDU/CSU-Fraktion sagen, daß wir es sehr begrüßen, daß heute hier der Einigungsvertrag mit seinen Anlagen verabschiedet wird.

(Dr. Vogel [SPD]: Gegen Stimmen aus Ihrer Fraktion! Freuen Sie sich da auch?)

— Herr Vogel, wie nett wäre es, wenn Sie mich ausreden ließen. Wir kennen das — ich hätte fast gesagt, aus Ihrer Kindheit; doch das ist übertrieben — : Sie legen immer größten Wert darauf, daß Sie ausreden dürfen. Bitte gönnen Sie mir das auch.

(Bohl [CDU/CSU]: Vogel hat doch einen Schnupfen!)

— Lieber Herr Bohl, wir reden über etwas ältere Zeiten. Wir haben uns damals schon mit „Herr Kollege" angesprochen — das hatte einen anderen Grund —, wir tun es heute mit viel Respekt auch.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich wiederholen: Wir freuen uns über die Freiheit unserer Landsleute in der DDR; die sie sich selbst erkämpft haben. Wir wollen gemeinsam mit ihnen diese Einheit des Vaterlandes, für die sie auch gekämpft haben, gestalten, und wir möchten mit all den Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, dafür sorgen, daß es in dem vereinten Deutschland glückliche Menschen geben wird, die in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben können. Dem dient der Einigungsvertrag, dem wir heute hier eine einmütige Mehrheit verschaffen wollen.
Ich danke Ihnen sehr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Frau Präsidentin, ich bitte um Nachsicht, auf dem Wege hierher ist mir etwas nachgeschoben worden, was nicht in meine Rede gehört. Es geht um die Berichterstattung des Ausschusses Deutsche Einheit. Da
ist ein kleiner Zusatz erforderlich. Die Mitberichterstatter haben mich gebeten, das in Ordnung zu bringen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122605400
Bitte schön, Herr Kollege.

Dr. Karl-Heinz Spilker (CSU):
Rede ID: ID1122605500
Mit Ihrer Genehmigung darf ich das vortragen: Der Auswärtige Ausschuß und der Ausschuß für Wirtschaft haben noch weiteren Beratungsbedarf zu der EG-Vorlage angemeldet. Beschlußempfehlung und Bericht in Drucksache 11/7914 enthalten nur die vorläufigen Stellungnahmen dieser Ausschüsse. Deshalb bleibt ein Ergänzungsbericht für den Fall vorbehalten, daß diese Ausschüsse weitere Entschließungen vorschlagen sollten.

(Dr. Vogel [SPD]: Wann? Heute noch?)

Wir sollten heute, wie in Drucksache 11/7914 vorgeschlagen worden ist, beschließen, auch deshalb, weil das Lob auf die Europäischen Gemeinschaften wegen der hervorragenden Kooperation in Sachen Deutsche Einheit heute hier fällig ist.
Ich habe das, was mir als Berichterstatter aufgeschrieben worden ist, pflichtgemäß vorgelesen. Ich bitte um Einverständnis und um Aufnahme in das Protokoll.
Ich bedanke mich sehr.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122605600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dreßler.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1122605700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Herbst vergangenen Jahres schaute die Welt staunend auf die DDR und bewunderte, wie die Menschen dort die scheinbar eherne Herrschaft der SED wie ihre Komplizen abschüttelten. Natürlich haben Bewunderung und auch Begeisterung zuerst die Bundesrepublik Deutschland ergriffen. Dieses Erlebnis einer friedfertigen Revolution auf deutschem Boden pflanzte sich fort. In der Bundesrepublik wurde es lebendig in Form einer großen Bereitschaft zur Solidarität, zur Mithilfe, die alle mitriß, die sogenannten kleinen Leute ebenso wie Vorstände großer Konzerne und Sprecher mächtiger Wirtschaftsverbände.
Es wurde deutlich: Die Menschen in Ost- wie Westdeutschland erlebten etwas Einmaliges, die praktische Chance nämlich, beim Aufbau einer Gesellschaft nach friedlichem Umsturz mitzumachen und damit zugleich ein Stück Friedensdienst zu leisten, der von niemandem in Zweifel gezogen werden kann.
Praktische Solidarität beendet eine Epoche der Teilung in Deutschland und in Europa besser, als das Verträge tun könnten. Das war vielen Millionen Menschen nach dem Fall der Mauer in Berlin am 9. November unmittelbar bewußt geworden.
Aber was ist daraus geworden? Die Vereinigung wird mittlerweile auch als Last empfunden. Nicht einmal ein Jahr nach dem Fall der Mauer ist die Begeisterung zu häufig dem Mißmut gewichen.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Daran habt ihr gearbeitet!)




Dreßler
Gleichwohl glaube ich, daß in weiten Teilen unserer Bevölkerung immer noch Bereitschaft zur Solidarität mit den Menschen in der DDR vorhanden ist.

(Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Das stimmt!)

Diese Einstellung müßte jedoch gehegt und gepflegt werden.

(Beifall bei der SPD — Dr. Rüttgers [CDU/ CSU]: Sagen Sie das mal Herrn Lafontaine!)

Sie müßte sich vor allem wiederfinden können in der amtlichen Regierungspolitik. Die Bundesregierung hat die Vereinigung der beiden Teile Deutschlands von Anfang an betrieben, als ginge es quasi um einen Kammermusikabend für einen kleinen illustren und geladenen Kreis von Gästen.
Die Menschen spüren das. Daher registrieren wir innerliche Abwendung. Wie brisant die Situation geworden ist, wird ansatzweise in Umfragen deutlich. Nahezu jeder dritte Bundesbürger war im September gegen die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Wer denkt, dies sei eine Beruhigung für uns, die wir die Vereinigung wollen, der täuscht sich; denn in wenigen Tagen, nach dem 3. Oktober, werden die schlimmen ökologischen Verhältnisse im künftigen Bundesland Sachsen-Anhalt, werden Massenentlassungen in Zwickau und die katastrophale Lage von tausenden bäuerlichen Betrieben im Norden der Noch-DDR ebenso zur deutschen Innenpolitik gehören wie die vielen ungelösten Probleme in der Bundesrepublik. Wer aber die Deutschen zerstritten, mißmutig und überdrüssig in die künftige Innenpolitik führt, der setzt die Vereinigung materiell aufs Spiel.

(Beifall bei der SPD)

Wie desolat die Lage geworden ist, hat der Herr Bundesarbeitsminister in dieser Woche auf unfreiwillige Art in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel" zugeben müssen. Was ihm in seinen Antworten einfiel, spricht für sich selber. Ich gebe Ihnen einige seiner Aussagen wieder, die den Zerfall von Sachkompetenz und den Verlust der Fähigkeit zur Lösung von Problemen widerspiegeln. Zitat: „Man muß durch ein Tal." Oder: „Wunder gibt es nur im Märchen." Oder: „Die genauen Arbeitslosenzahlenkennt außer dem lieben Gott niemand. " Oder: „Niemand kann jetzt exakt rechnen." Oder: „Nein, das weiß ich noch nicht." Oder: „Der Winter ist nicht die beste Zeit für einen Beschäftigungsanstieg. " Oder: „Wir haben Massenarbeitslosigkeit." Oder: „Der Erfolg fällt nicht vom Himmel. " Und: „Richtig ist, daß es auch ohne DDR viele Aufgaben zu lösen gibt."

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Was war denn bisher falsch?)

Der Bundesarbeitsminister ist mit diesen Einschätzungen der Wahrheit sehr nahegekommen.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Na also!)

Ich frage deshalb: Wo ist eigentlich, Herr Kollege Blüm, Ihr Optimismus geblieben?

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das haben Sie alles nicht vorgelesen!)

Wo bleibt das Wirtschaftswunder, das Sie noch vor wenigen Monaten den Deutschen in Ost und West versprochen haben? Rechtfertigt Ihre Politik tatsächlich solche Sätze — ich zitiere erneut aus dem erwähnten „Spiegel"-Interview — : „Unsere großzügige Kurzarbeitsregelung, einer unserer besten Einfälle, hat bislang verhindert, daß außer den 360 000 weitere 1,4 Millionen arbeitslos geworden wären"?
Herr Blüm, das war nicht allein Ihr Einfall, sondern die geltende Kurzarbeiterregelung in der DDR wurde auf Druck der Sozialdemokraten in den ersten Staatsvertrag eingefügt. Tatsächlich sind heute in der DDR nicht 360 000, sondern fast 2 Millionen Menschen von Arbeitslosigkeit erfaßt oder bedroht. Ein hoher Prozentsatz der in der DDR auf Kurzarbeit gesetzten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind zu 100 % arbeitslos. Die Betriebe können sie nicht beschäftigen, an Umschulungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten fehlt es.
Der im ersten Staatsvertrag von Ihrer Regierung zugesagte Vorrang für eine aktive Beschäftigungspolitik wurde nicht ansatzweise umgesetzt. Das ist die Wirklichkeit, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Dieser Verzicht auf einen umfassenden und aktiven Einsatz aller Mittel im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit in der DDR ist typisch. Die Grundlage für den wirtschaftlichen Aufschwung in der DDR haben Sie während der ersten Monate des Jahres 1990 nicht gelegt, weil Sie angeblich den Ausgang der Wahlen zur Volkskammer am 18. März abwarten wollten. Damit haben sie drei Monate verschenkt, in denen der Ausbau und die Modernisierung der DDR-Infrastruktur hätten geplant und vorbereitet werden können.

(Hornung [CDU/CSU]: Nach Ihnen ist dies noch zu schnell!)

Und danach haben Sie gewartet, wie die Landtagswahlen in der Bundesrepublik ausgehen würden. Forderungen nach einer aktiven Strukturpolitik und einer breit angelegten Qualifizierungsoffensive wurden später mit dem Hinweis auf den ersten Staatsvertrag, dann auf den Einigungsvertrag wie auf das Datum 3. Oktober quittiert. Und auch nach dem 3. Oktober wird nichts Entscheidendes geschehen. Dann wiederum gilt für Sie das Datum 2. Dezember,

(Hornung [CDU/CSU]: Sie sind wohl Hellseher? — Scharrenbroich [CDU/CSU]: Und danach?)

das Datum der Wahl zu einem gesamtdeutschen Parlament.
So werden Sie das entscheidende erste Jahr für die Umgestaltung der DDR-Wirtschaft und -Gesellschaft verschenken und vertändeln. Denn Sie schauen eben nicht auf die reale Lage der Menschen in Deutschland, sondern Sie starren auf den Wahltermin am 2. Dezember.

(Hornung [CDU/CSU]: Gott sei Dank wissen die Wähler das besser!)

Und ich sage Ihnen: Diesem Ziel vieles unterzuordnen ist nicht akzeptabel. Die soziale Gerechtigkeit, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die ökologische Sanierung — vor allem der DDR — und die Herstellung



Dreßler
stabiler wie bezahlbarer sozialer Sicherungssysteme gegen die Wechselfälle des Lebens sind von einem wesentlich höheren Rang als Ihr Blick auf den Wahltermin des 2. Dezember.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Meine Damen und Herren, ich will in diesem Zusammenhang ein Thema ansprechen, das mich besonders bewegt. Zur schrecklichen Hinterlassenschaft von SED wie Komplizen zählt, daß die Arbeitnehmerschaft in der DDR 40 Jahre lang gedemütigt wurde, daß sie ausgelaugt und ausgenommen wurde. Wer dafür verantwortlich ist, darf seiner Strafe nicht entgehen. Ob er sich daran in der SED, in einer Blockpartei wie der CDU oder im angeblich Freien Deutschen Gewerkschaftsbund beteiligte, spielt überhaupt keine Rolle.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Das ist aber eine neue Erkenntnis!)

Ab dem 3. Oktober gehört diese gedemütigte Arbeitnehmerschaft zum geeinten Deutschland. Es wird auch für Sie eine herausragende Aufgabe der Innenpolitik im gemeinsamen Deutschland sein, sich dieser Demütigung anzunehmen.
Der Gesetzgeber ist nach dem 3. Oktober herausgefordert, der weiter anwachsenden Massenarbeitslosigkeit in der DDR mit allen verfügbaren Mitteln entgegenzutreten und sie endlich beherrschbar zu machen. Mit der Ankündigung, es sei das ehrgeizige Ziel der Bundesregierung, bis Ende des Jahres 100 000 Plätze für berufliche Fortbildung und Umschulung in der DDR zu schaffen, ist es nicht getan. Einen Dammbruch bei der Arbeitslosigkeit, wie Minister Blüm ihn dieser Tage zugestand, geht man wirklich anders an, meine Damen und Herren. Regionalpolitik, Strukturpolitik, aktive Arbeitsmarktpolitik und die Finanzpolitik müssen dem zentralen Ziel der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit zugeordnet werden.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Es ist bezeichnend, wenn Herr Spilker in diesem Zusammenhang das Wort „Statistiken" in den Mund nimmt, um die es angeblich gehe oder auch nicht, während es in Wahrheit um Millionen von Menschen geht. Das macht einigermaßen deutlich, in welcher Kategorie hier gedacht wird.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Zu diesen Dingen zählt auch, daß in den künftigen fünf neuen Ländern Deutschlands die Strukturen für den Aufschwung bereitet werden. Es ist unerträglich, daß z. B. den Gewerkschaften der Zutritt zur Entscheidungsebene der Treuhandanstalt verwehrt wird. Warum hat die Bundesregierung die Chance nicht genutzt, die Gewerkschaften, die Arbeitnehmervertretungen an den Entscheidungen der Treuhandanstalt zu beteiligen und damit ein Signal zu setzen, daß Mitbestimmung, Kooperation und Interessenausgleich die Industriepolitik in den fünf neuen Ländern künftig mitprägen?

(Hornung [CDU/CSU]: Herr Dreßler, Sie reden an der Wirklichkeit vorbei!)

Einen sachlichen Grund für die Ausgrenzung der Gewerkschaften gibt es nicht. Bleibt also nur die verbohrte Position, die Vereinigungspolitik ohne Gewerkschaften, ohne Arbeitnehmervertreter zu betreiben. Ihre Sonntagsreden auf Gewerkschaftskongressen stehen — wie üblich — dieser Tat, die hier in diesen Tagen passierte, diametral entgegen.

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)

Aufgefordert ist der Gesetzgeber nach dem 3. Oktober auch, die Alterssicherung in der DDR weiterzuentwickeln und sozial zu gestalten. Die Dynamisierung der Renten einschließlich der Sozialzuschläge steht auf der Tagesordnung. Eine Verlängerung des Vorruhestandes für Frauen über den 1. Januar 1991 ist notwendig. Herr Blüm, wir lassen Ihnen nicht durchgehen, wenn Sie hier ankündigen, daß Sie angeblich 10 % Rentenerhöhung am 1. Januar wollen. Warum sagen Sie den Leuten nicht, daß es Hunderttausende gibt, die diese 495 DM nur über den sogenannten Sozialbetrag erreichen, und daß Ihre angebliche Erhöhung zum 1. Januar diese Menschen überhaupt nicht berührt,

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Unglaublich! Kann doch nicht wahr sein!)

weil sie eingefroren wird, bis diese 495 DM erreicht sind? Ich sage Ihnen: Es ist für uns inakzeptabel, was da getrieben wird.

(Beifall bei der SPD)

Schließlich ist der Gesetzgeber nach dem 3. Oktober auch herausgefordert, das Gesundheitswesen der DDR so zu ordnen und zu reformieren, daß es tragfähig wird. Wir wiederholen: Die Übertragung der Folgen des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes auf die Bürgerinnen und Bürger in der heutigen DDR ist nicht akzeptabel. Wir sagen, daß es absurd ist, die konservativen Fehler, die in der Bundesrepublik gemacht wurden, auf die künftigen fünf Länder zu übertragen und damit dort neue Probleme zu schaffen. Zusätzliche Selbstbeteiligungsregelungen und Leistungskürzungen ab dem 1. Januar 1991 für die Bürger der Noch-DDR wie die westdeutschen wollen wir wieder abschaffen. Wir werden die in der heutigen DDR bestehenden Ambulatorien und Polikliniken nicht austrocknen, wenn sie von den Versicherten gewünscht werden und sich wirtschaftlich betreiben lassen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Schließlich wehren wie uns dagegen, daß die Organisation der westlichen Krankenversicherung mit all ihren Fehlern und Mängeln den neuen Ländern übergestülpt wird. Wir wollen auf einen möglichen Reformansatz nicht verzichten; im Interesse der Versicherten können wir es auch nicht.
Ich nenne schließlich die Reform des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes. Diese Reform steht für uns weiterhin auf der Tagesordnung, und zwar im Interesse der Arbeitnehmerschaft im geeinten Deutschland. All dies bleibt über den 3. Oktober hinaus zu tun.



Dreßler
Meine Damen und Herren, Staats- und Einigungsvertrag sind wichtige Etappen auf dem Weg zur deutschen Einheit. Die Vollendung der Einheit aber, die Herstellung materiell vergleichbarer Lebensverhältnisse in allen Ländern des künftigen Deutschland, bleibt dem Gesetzgeber der nächsten Legislaturperiode überlassen.
Den bisherigen Weg zur deutschen Einheit hat sich eine Mehrheit unserer Bevölkerung etwas anders vorgestellt. Notwendig wäre ein Einigungsprozeß gewesen, der auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens in beiden Teilen Deutschlands aufbauen kann. An der SPD ist das nicht gescheitert. Die Bundesregierung und vor allem der Bundeskanzler haben die Einheit stur zu privatisieren versucht. Aber die Bundesrepublik ist keine GmbH und der Kanzler nicht deren Geschäftsführer. Erst die durch die Wahlen gewonnene SPD-Mehrheit im Bundesrat hat nun die Alleingänge der CDU/CSU/FDP-Koalition gestoppt. Selbst heute hat sich die Bundesregierung noch nicht mit der Tatsache anfreunden können, daß die Sozialdemokraten den Einigungsprozeß kritisch und konstruktiv begleiten. Das Abblocken von Gewerkschaftsvertretern im Vorstand der Treuhandanstalt durch die Mehrheit des Ausschusses Deutsche Einheit spricht Bände. Dies ist kein gutes Omen für die kommenden Wochen. Wenn das so weitergeht, verspielt die Bundesregierung die Chancen, die Aufbruchstimmung des Herbstes 1989 noch einmal wachzurufen. Aber genau das ist in diesen Zeiten gefragt: Aufbruchstimmung, die Mitwirkung und Mitgestaltung und die Bündelung der gesellschaftlichen Kräfte in ganz Deutschland. Dafür setzt sich die SPD-Fraktion auch weiterhin ein.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122605800
Meine Damen und Herren, wir treten jetzt in die Mittagspause bis 14 Uhr ein.
Ich unterbreche die Sitzung.

(Unterbrechung von 13.04 bis 14.00 Uhr)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122605900
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir fahren in unserer Debatte fort. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beer.

Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122606000
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich erlaube mir, mit erheblicher zeitlicher Verzögerung die außenpolitische Debatte über die Regierungserklärung des Außenministers Genscher von heute morgen wieder aufzunehmen.
Monatelang standen die Nachrichten über die Wiedervereinigung Deutschlands an erster Stelle. Erst seit dem 2. August, dem Tag der Invasion des Irak in Kuwait, wurde dies anders.
Die Abschlußverhandlungen und die Unterzeichnung des Vier-plus-Zwei-Vertrages fanden im Windschatten des Golfkonflikts statt.
Chancen und Risiken des Vertrages über die Herstellung der deutschen Einheit wurden im krassen Ungleichgewicht dargestellt. Wir sind bitter enttäuscht über den Verlauf der Einigungsverhandlungen, insbesondere im außen- und sicherheitspolitischen Bereich.
Der Vertrag über die Herstellung der deutschen Einheit hätte begleitet werden müssen von dem Gedanken der Herstellung einer europäischen Friedensordnung. Wie viele Menschen haben doch gehofft, daß die Auflösung des östlichen Militärblocks auch die Auflösung des westlichen Militärpakts nach sich zöge! Wie viele Menschen habe gehofft, daß im Zuge der Entspannung zwischen Ost und West ein einseitiger Abrüstungsprozeß, der vollständige Verzicht auf Massenvernichtungsmittel, die Entmilitarisierung beider deutscher Staaten zur Grundlage der Wiedervereinigung werden! Statt dessen müssen wir heute feststellen: Die Ausdehnung des NATO-Gebiets gen Osten wurde vertraglich festgehalten.
Die äußeren Aspekte der deutschen Einheit als Grundstein für eine europäische Friedenssicherung und -ordnung stellen nach unserer Überzeugung klare Anforderungen an die Bundesrepublik Deutschland. Sie ist dem nicht nachgekommen.
Wir haben eine besondere Verpflichtung zur Wahrung des Friedens. Zwingendes Gebot für verantwortungsbewußte deutsche Politik wäre es, den Sorgen und Ängsten unserer Nachbarn durch die Selbstbeschränkung eigener Macht, durch die Einbindung in friedensvertragliche und friedensfördernde internationale Zusammenhänge und durch die Entmilitarisierung beider deutscher Staaten Rechnung zu tragen.

(Beifall des Abg. Such [GRÜNE])

Dies wäre die Grundlage gewesen, Herr Außenminister — er ist nicht da — , um Bedenken zu zerstreuen. Die notwendigen Schritte um eine friedensschaffende, friedensfördernde Struktur zu schaffen, werden nicht nur von den USA, sondern auch von der Bundesregierung abgelehnt. Notwendige Ergänzungen der deutschen Selbstbeschränkungspolitik wäre die Einbindung deutscher Macht in und ihre Kontrolle durch internationale nichtmilitärische Institutionen gewesen.
Die KSZE könnte tatsächlich Kern- und Ausgangspunkt für die Schaffung einer neuen gesamteuropäischen Friedensordnung sein. Ihr wird aber von der NATO allenfalls eine nachgeordnete, komplementäre Rolle zugebilligt. Ziel ist eine möglichst schwache KSZE als Ergänzung zu einer starken NATO.
Wir dagegen wollen die Ersetzung der Militärpakte durch eine auf die KSZE aufbauende gesamteuropäische Friedensordnung. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, daß der KSZE-Vertrag, der im November unterzeichnet wird, die verbindliche Erklärung beinhaltet, daß sich die KSZE- Staaten zur Auflösung beider Militärpakte und zu ihrer Ersetzung durch ein eurokollektives Sicherheitssystem verpflichten.

(Beifall des Abg. Such [GRÜNE])

Der Vier-plus-Zwei-Vertrag ist deshalb vor allem in den Punkten zu kritisieren, die er nicht enthält, in den sogenannten Lücken. Die Sowjetunion ist von ihrer ursprünglichen Forderung und Idee, einem wiedervereinigten Deutschland einen neutralen Status zuzuschreiben, abgewichen. Das ist gut so. Wir wollen die



Frau Beer
Sicherheitsinteressen unserer Nachbarn und auch der Sowjetunion, aber auch der anderen europäischen Staaten ernst nehmen. Deshalb müssen nach Beendigung des 45jährigen kalten Krieges und nach der Wiedervereinigung Deutschlands daraus resultierende Macht und Machtstreben eingebunden werden. Doch ich bedaure, daß Grundsatzforderungen des Verhandlungspartners Sowjetunion über den zukünftigen sicherheitspolitischen Status Deutschlands in dem Vertragswerk nicht einmal mehr vorkommen.
Die Ablehnung, Polen als gleichberechtigten Partner mit am Verhandlungstisch sitzen zu lassen, ist erster Beweis dafür, daß nicht nur militärische, sondern vor allem auch wirtschaftliche Macht Deutschlands das Verhandlungszepter in diesem Rahmen in der Hand hält.
Wie ist das Zugeständnis, daß sich die NATO nach Osten ausbreitet, statt sich aufzulösen, eigentlich zustande gekommen? Im Windschatten des Golfkonflikts wurden berechtigte Interessen unserer Nachbarn verdrängt, wurde eine neue Struktur Europas vorbereitet, die mit der eines friedlichen europäischen Systems überhaupt nichts zu tun hat. Wirtschaftliche Schwächen und innenpolitische Schwierigkeiten bei den östlichen Nachbarn wurden und werden genutzt, um die eigene Verhandlungsposition zu stärken.
Das Einverständnis mit der Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO wird mit einem Zwölf-MilliardenKredit an die Sowjetunion erkauft. Gorbatschow hat nahezu alle eigenständigen Positionen aufgegeben. Gelassen wird ihm die Hoffnung auf eine europäische Friedensordnung im Rahmen der KSZE. Doch die NATO hat im Juli dieses Jahres deutlich bestätigt — und im Kommuniqué festgehalten — , daß sie dem nicht folgen wird.
Die Truppenreduzierung auf 370 000 Mann ist nicht der Erfolg von „Vier plus zwei", sondern ordnet sich in einen Prozeß der militärischen Umstrukturierung der NATO ein: Kleine, hochmobile, feuerkräftige Einheiten werden aufgebaut, — flexibel als Instrument für Eventualfälle aller Art an beliebigen Orten einsetzbar.
Die Angst vor dem drohenden Legitimationsverlust von Militär und Massenvernichtungsmitteln hier im eigenen Land und im übrigen Westen wurde mit dem Golfkonflikt beiseite gelegt. Der neue Feind ist da, und das zukünftige Deutschland wird bereit sein, ihn zu bekämpfen.
Der Golfkonflikt macht die Gefahren der jetzigen Entwicklung deutlich: Militarisierung von Strukturen, die eigentlich Instrumente einer europäischen Friedensentwicklung sein könnten und sein sollten. Obwohl erstmals weitreichende Sanktionen der UNO beschlossen wurden, um eine nichtmilitärische Konfliktlösung zu suchen, preschte die USA mit ihrer Intervention vor. Sie ist verantwortlich für die Instrumentalisierung der UNO, läßt sich den Rückfall in die Kanonenbootpolitik nachträglich von den Mitgliedsländern der Vereinten Nationen besiegeln und klagt erfolgreich Solidarität der Verbündeten ein.
Die finanzielle, logistische und militärische Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland — zugesagt unter Umgehung und Ausschaltung des Parlaments — ist der Preis für die zugebilligte sogenannte Souveränität, die in den Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands zugestanden wurde. Milliardenbeträge für den militärischen Aufmarsch im Golf — das ist ein bitterer Preis. Auch der von der Friedensbewegung seit Jahren verlangte Abzug der ausländischen Streitkräfte aus der Bundesrepublik bekommt einen bitteren Beigeschmack, wenn die Truppen der Amerikaner, der Franzosen und der Engländer durch ihre Verbringung in die Golfregion nun zur Zuspitzung der Krise beitragen werden.
In der Unfähigkeit, jahrelange Fehlpolitik gegenüber den Ländern der sogenannten Dritten Welt zuzugestehen, in der Unfähigkeit, die Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, daß Rüstungsexporte aus Ost und West den Bruch internationalen Völkerrechts durch Irak erst möglich gemacht haben, beschließt die Bundesregierung, an der militärischen Zuspitzung aus Solidarität zu den USA und aus Dankbarkeit teilzuhaben. Die Zusage gegenüber Baker am vergangenen Wochenende, nicht nur logistische Mittel und Hilfe zu leisten, sich nicht nur direkt an den Kriegskosten der USA zu beteiligen, sondern auch NVA-Bestände aus der DDR zur Verfügung zu stellen, wird dazu führen, daß sich im Nahen Osten deutsche Panzer auf beiden Seiten gegenüberstehen. So wächst zusammen, was zusammengehört.
Art. 2 Satz 1 der Vier-plus-Zwei-Vereinbarungen lautet:
Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, daß von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird.
Diese Bestätigung — heute morgen hier wieder einmal hervorgehoben — steht schon heute auf wackeligen Füßen.
Die politische Praxis der Bundesregierung während der letzten Monate steht jetzt im krassen Widerspruch zu ihrem Versprechen von Außenminister Genscher von heute morgen, daß die Wiedervereinigung ein Beitrag für ein friedliches Europa ist. Wo ist die Einlösung dafür? Sie zwingen den Menschen in der heutigen DDR eine Politik auf, die nach Macht strebt, eine Politik, die wir als Menschen nicht beeinflussen können.
Das deutsche Ziel einer Vorreiterrolle in der NATO ist so gut wie erreicht. Unter der Formulierung im Vier-plus-Zwei-Vertrag — ich zitiere —
bekräftigt ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen
wird die Weigerung der Bundesregierung, diesem Verzicht entsprechend der Forderung der GRÜNEN Verfassungsrang einzuräumen, deutlich. Wir werden diesen Antrag heute in der namentlichen Abstimmung zur Entscheidung stellen.
Die Formulierung der Bundesregierung in diesem Vertrag ist eine Neuauflage bisheriger politischer Willensbekundungen. Das heißt vor allem: Die von uns kritisierten Einschränkungen und Unzulänglichkeiten durch WEU-Verträge und im NPT-Vertrag bleiben



Frau Beer
bestehen. Die Erklärung bedeutet eben keine neue Qualität und ist somit kein positives friedenspolitisches Signal eines wiedervereinigten Deutschland als Lehre aus der Geschichte, sondern sie schreibt lediglich den unbefriedigenden Status quo der BRD für das wiedervereinigte Deutschland fort.
Anstatt den Verzicht auf Teilhabe an Massenvernichtungsmitteln ins Grundgesetz aufzunehmen, wird die nächste Grundgesetzmanipulation durch den Bundeskanzler — mit Unterstützung der SPD — angekündigt.

(Stobbe [SPD]: Also!)

Es reicht ihnen nicht, einen militärischen Konflikt im Nahen Osten finanziell und logistisch anzuheizen, sondern die Bundeswehr soll direkt am Säbelrasseln im Golf teilnehmen können. Das Streben nach Outof-area-Aktionen wird seit Jahren in der NATO debattiert. Läßt es sich unter dem Deckmantel der UNO besser machen?
Wirtschaftlich ist Deutschland schon heute eine Weltmacht. Militärisch ist es leider auf dem besten Weg dorthin. Wie ist sonst die Bereitschaft zu erklären, als sechstes Mitglied in den Weltsicherheitsrat einzutreten? So verständlich dieser Vorschlag Portugalows aus der Sicht der Sowjetunion in der Hoffnung auf Einbindung deutscher Stärke in internationale Institutionen auch ist, dem Außenminister der Bundesrepublik steht nicht zu, diesen Vorschlag positiv aufzugreifen. Das entlarvt die entgegengesetzten Absichten.
Die GRÜNEN haben sich immer für eine stärkere Rolle der UNO in internationalen Konflikten ausgesprochen und sind für eine stärkere Unterstützung der UNO durch die Bundesrepublik eingetreten. Die gegenwärtige Diskussion ist absolut fehl am Platz.
Dringend erforderlich ist eine Demokratisierung der UNO-Struktur, insbesondere des Weltsicherheitsrates. Die fünf über Atomwaffen verfügenden Weltmächte haben bisher durch ihr Veto verhindert, daß zahlreiche Konflikte, die gerade auch in der Dritten Welt militärisch ausgetragen worden sind, nicht gewaltfrei ausgetragen wurden.
Ich möchte zum Schluß appellieren, sich engagiert für eine Wende in der Wiedervereinigungspolitik einzusetzen und dafür zu streiten. All diejenigen, welche die Einheit nicht oder so nicht wollten, möchte ich zum Protest ermutigen, nicht nur am 2. und 3. Oktober in Berlin parallel zu der offiziellen Feierlichkeit.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122606100
Frau Kollegin, ich bin schon sehr großzügig gewesen.

Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122606200
Ich komme zum Ende. Ich möchte zum Protest ermutigen auch durch Teilnahme an der Demonstration der Frauen aus Ost und West am 29. September gegen die Einschränkungen und gegen die Bevormundung der Frauen und am 3. November in Berlin, um deutlich zu machen, daß demokratische Rechte hier unter den Tisch gewischt worden sind, die wir für ein wiedervereinigtes Deutschland dringend brauchen.
Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN — Dr. Langner [CDU/CSU]: So ein Unsinn!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122606300
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Laufs.

Prof. Dr. Paul Laufs (CDU):
Rede ID: ID1122606400
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir freuen uns auf den großen Tag der deutschen Einheit. Wir haben überhaupt kein Verständnis für Aufrufe zu Demonstrationen und Protesten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Noch dazu von diesem Podium aus!)

Es ist für uns eine hohe Zeit deutscher und europäischer Geschichte, ein Neubeginn voller Hoffnung. Die Tür steht offen: zu einer Epoche des Friedens und der Freiheit in Europa und zu einer Zukunft in Sicherheit und Wohlstand für alle. Dies erfüllt uns mit herzlicher Dankbarkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist aber auch die Zeit der Wahrheit über die geistige und materielle Ruinenlandschaft, die der Sozialismus in einem Teil Deutschlands und Europas hinterlassen hat. Wenn Jahrzehnte alte totalitäre Kommandostrukturen zerbrechen, zerfällt staatliche Autorität und herrscht große Unsicherheit. Die neue Ordnung stellt sich nicht schon mit der Verkündung neuer Gesetze und Verordnungen ein. Die staatliche Einheit mit Staatsverträgen zu begründen ist nur die eine Seite; sie in den Köpfen und Herzen der Menschen zu vollziehen die andere, ungleich schwierigere. Die marxistisch-leninistischen Denk- und Verhaltensmuster lassen sich nicht über Nacht gänzlich auswechseln. Die Last der Vergangenheit ist schwer. Der Weg zum Rechtsfrieden führt nicht über eine Verdrängung, sondern nur über eine Aufarbeitung der Vergangenheit. Sie konnte in der Kürze der Zeit von der Volkskammer nicht bewältigt werden. Diese zutiefst bedrückende Aufgabe liegt nun im vereinten Deutschland vor uns gemeinsam.
Wir erkennen die Verstrickung nahezu aller die Gesellschaft tragenden Kräfte mit dem SED-Unrechtsstaat und die erzwungene Anpassung fast aller Menschen an totalitäre Strukturen. Wir im Westen sollten uns nicht leichthin anmaßen, den Richter zu spielen und die Bürger der DDR in gute und böse aufzuteilen. Wir müssen vor allem Hilfe zur Selbstreinigung leisten.
Die Einrichtung der Justizhoheit bei den neuen Ländern und die Garantie der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit der Richter sind zwingende Voraussetzungen für eine befriedende Rechtsprechung. Diese muß den Schießbefehl und seine Todesspur in nahezu 200 Fällen ebenso aufarbeiten wie politische Verfolgung, Folter und Mord in heute noch unbekanntem Ausmaß.
Zum künftigen Rechtsfrieden gehört auch, das bittere Unrecht der willkürlichen Enteignungen abschließend zu behandeln. Dazu gehört auch die Einheit des Rechts zum Schutz des ungeborenen Lebens, das konform ist mit dem Kernbestand der Grund-



Dr. Laufs
rechte unserer Verfassung. Es ist atemberaubend, mit welcher Leichtigkeit sich die Redner der SPD und der GRÜNEN über die fundamentalen Rechte auf Menschenwürde, auf Leben und körperliche Unversehrtheit hinwegsetzen.

(Stobbe [SPD]: Das kann so nicht stehenbleiben! Das ist unfair! — Scharrenbroich [CDU/ CSU]: Jawohl, das muß gesagt werden!)

Meine Damen und Herren, den Rechtsfrieden dauerhaft bewahren können wir nur, wenn das Vertrauen der Menschen in Exekutive und Jurisdiktion wiederhergestellt wird. Jahrzehnte der Willkür haben tiefe Wunden geschlagen. Verwaltung und Justiz müssen deshalb neu aufgebaut werden. Es muß klar sein, daß für bisher Beschäftigte, die sich im SED-Unterdrükkungsapparat besonders hervorgetan und Menschenrechtsverletzungen begangen haben, im künftigen öffentlichen Dienst kein Platz mehr ist. Ehemalige hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter können nicht die Gewähr für Verfassungstreue bieten. Ich meine, ihre Neueinstellung oder Weiterbeschäftigung ist ausgeschlossen.
Penible Sorgfalt bei der Personalauswahl im Zuge des Aufbaus einer neuen Verwaltung und Justiz ist unerläßlich. Für die Menschen drüben wäre es absolut unerträglich, wenn aus den Unterdrückern von gestern die Herren von morgen würden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir müssen davon ausgehen, daß viele Personalakten auf höchst fragwürdige Weise „gereinigt" worden sind und daß sich Seilschaften früherer SED-Kader gegenseitig entlasten und Persilscheine ausstellen.
Der Auftrag der beim Bundesminister des Innern eingerichteten Clearing-Stelle für den Behördenaufbau sollte nach meiner Auffassung erweitert werden. Es müssen nicht nur objektive Kriterien für die Eingruppierung in die tariflichen Vergütungs- und in die Besoldungsordnungen erarbeitet werden; es müssen auch — natürlich gemeinsam mit den Vertretern der fünf neuen Länder — Kriterien entwickelt werden, wer als unbelastet zu gelten hat und folglich im öffentlichen Dienst beschäftigt werden kann.
Dabei sollte durchaus berücksichtigt werden, daß viele Angehörige der öffentlichen Verwaltung nur deshalb Mitglieder der SED waren, weil anders für sie und ihre Familien ein halbwegs auskömmliches Leben nicht möglich gewesen wäre. Geben wir auch diesen Menschen eine Chance, sich in einer neuen, demokratisch aufgebauten Verwaltung zu bewähren!
Eine Amnestie kann ein Beitrag zum Rechtsfrieden sein, wenn sie sich auf Fälle leichteren Unrechtsgehalts beschränkt. Wahlkampfzeiten sind allerdings für eine vernünftige, ausgewogene, den Rechtsfrieden dauerhaft garantierende Regelung nicht besonders geeignet. Wir sollten die Fragen der Begnadigung und des Straferlasses bald nach der Bundestagswahl aufgreifen und mit großer Sensibilität entscheiden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wir haben uns nicht nur mit dem Stasi-Terror und den Exzessen des Sozialismus, sondern mit dem Sozialismus jeder Spielart auseinanderzusetzen. Zum Wesen jedes Sozialismus gehört, daß Entscheidungsmacht, Einkommen und Eigentum aus privaten Händen auf politische Institutionen, letztlich auf den Staat verlagert werden. Es zeigt sich dabei immer, daß die zentralen staatlichen Entscheidungsträger nicht in der Lage sind, diese Macht zum Wohle der Bürger zu nutzen und die komplexen Wirtschaftsprozesse in arbeitsteiligen, international vernetzten Volkswirtschaften zu steuern. Es zeigt sich ebenfalls immer, daß die betroffenen Menschen, denen die Initiative genommen wird und die um den Erfolg ihrer Arbeit gebracht werden, die Lust an besonderer Leistung verlieren. Dies gilt auch für die milderen Formen des demokratischen Sozialismus.
Es ist deshalb ein großes Glück, daß die politischen Kräfte in Deutschland, die sich zur freiheitlichen, sozialen und marktwirtschaftlichen Ordnung bekennen, den Einigungsprozeß im wesentlichen gestaltet haben. Ich bin der Auffassung, daß die SPD weder die wirtschaftlichen und damit auch nicht die sozialen Grundlagen noch die rechtlichen und ordnungspolitischen Voraussetzungen für die Einheit hätte schaffen können.

(Zurufe von der SPD)

— Sie kommen mit den alten untauglichen Rezepten, die schon Adenauer und Erhard abgewehrt haben — Gott sei Dank, sonst wäre die Bundesrepublik heute nicht in der Lage, die Probleme der Einheit zu lösen.
Es geht also darum, die totalitäre Ansammlung von Entscheidungsgewalt, Produktionsmitteln und Grundvermögen beim Staat abzubauen, so weit wie möglich rückgängig zu machen und zu privatisieren, wie dies im wirtschaftlichen Bereich durch die Treuhandanstalt geschieht. Dazu gehört auch die zügige Privatisierung des größten Teils des früheren volkseigenen Grundvermögens.
Wir stehen des weiteren vor der Aufgabe, den maßlos überdimensionierten zentralistischen Staatsapparat der bisherigen DDR drastisch zu reduzieren und die Verwaltungsangehörigen auf unser Recht und die Grundsätze einer bürgernahen, dienenden Leistungsverwaltung umzuschulen.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Sehr richtig!)

Dieser totale Umbau einer Verwaltung geht natürlich nicht ohne Härten und nicht ohne große Anstrengungen ab. Der Einigungsvertrag sieht dafür mildernde Regelungen vor.
Meine Damen und Herren, es ist in der Geschichte eine einmalige und einzigartige Wende, wenn 16 Millionen Menschen praktisch über Nacht eine andere Währung, ein anderes Recht, eine andere Wirtschaftsordnung und eine neue, föderale Verwaltung erhalten, die sich radikal von bisherigen Strukturen unterscheiden. Wir sind gefordert zu beweisen, daß es ein Zurück aus totalitären, zentralistischen Plan- und Unterdrückungssystemen hin zu einer offenen, freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Ordnung gibt, die zugleich sozial und ökologisch ausgerichtet ist. Diese Wende darf nicht mißglücken; sonst gehen die Lichter in Osteuropa für lange Zeit aus. Wir sind voller Zuver-



Dr. Laufs
Sicht, daß sie uns im vereinten Deutschland gut und bald gelingen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der bei FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122606500
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1122606600
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem Herr Lafontaine, Frau Fuchs und Herr Dreßler heute von so vielen Negativmeldungen aus den neuen Bundesländern berichtete haben, ist es, glaube ich, ganz wichtig, auch einmal einige Punkte zu nennen, die aus meiner Sicht sehr positiv sind und die auch für die Stimmung der Menschen in der Bundesrepublik von großer Bedeutung sind.
Erstens. Wir haben in den wenigen Monaten seit Einführung der D-Mark und der Marktwirtschaft 136 000 Gewerbeanmeldungen in der DDR.

(Stobbe [SPD]: Wie viele davon sind realisiert?)

Sie sind angemeldet, aber sie haben teilweise Auftragsmangel, weil die Kommunen auf Grund ihrer alten Verwaltungen bisher nicht in der Lage waren, wirtschaftsnahe Aufträge zu vergeben. Aber ich will hinzusetzen: Jeder, der in der DDR die Absicht hat, sich selbständig zu machen, sei es z. B. als Anwalt oder als Arzt, hat ab 3. Oktober alle Chancen, dies mit Hilfe unserer Existenzgründungsprogramme und unserer Eigenkapitalhilfen zu tun. Wir sollten den Selbständigen in der DDR Mut machen;

(Zuruf von der FDP: Jawohl!)

denn es herrscht gar kein Zweifel daran: Die Arbeitsplatzverluste in den großen Kombinaten, die im Sozialismus angelegt wurden, werden noch viele Monate anhalten.
Zweite positive Meldung: Die Kaufkraft für die Menschen in der DDR; auch für die Rentner, nimmt zu. Neueste Kaufkraftvergleiche zeigen eindeutig, daß das Preisniveau sinkt, verglichen mit Ost-MarkNiveau, daß das Warenangebot deutlich zugenommen hat

(Dr. Jens [SPD]: Aber die können nicht kaufen!)

und daß die Löhne und Gehälter dem Produktivitätsfortschritt voraneilen. Insgesamt können wir eine starke Verbesserung der Kaufkraft in D-Mark für die Menschen feststellen.
Drittens. Die Treuhandanstalt wird neu strukturiert. Es wird 300 Fachleute in Ost-Berlin und in der Endstufe 700 Fachleute in den 15 neuen Außenstellen geben,

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Höchste Zeit!)

die die Partner für Mittelstand und Kommunen sind. Der Treuhand kommt die entscheidende Schlüsselrolle bei der Rekonstruktion, bei der Revitalisierung, bei der Entwicklung von mittelständischen Betrieben in der DDR zu.
Meine Damen und Herren, eine noch nicht veröffentlichte Ifo-Umfrage bei westdeutschen Unternehmern zeigt, daß jedes zweite Unternehmen in der Bundesrepublik die Absicht hat, sich in den nächsten zwei Jahren in der DDR zu engagieren, zunächst mit Vertriebsstellen

(Zuruf von der SPD: Eben!)

mittel- und langfristig mit Produktion, mit industriellen Arbeitsplätzen.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Wegen der Steuervorteile!)

— Darauf werde ich noch zu sprechen kommen, Frau Kollegin.
Neben diesen positiven Meldungen gibt es vor allem drei Probleme. Das erste Problem liegt bei den Kommunen. Sie sind im Grunde die Schaltstelle zwischen den Infrastrukturprogrammen, die es ja gibt. Es gibt im Moment keinen Kapitalmangel in der DDR, sondern einen Umsetzungsmangel, weil es an marktwirtschaftlich erfahrenen Verwaltungsfachleuten fehlt.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Hierbei, meine Damen und Herren, müssen sich auch die Bundesländer stärker engagieren als bisher. Sie haben Wirtschaftsfachleute, sie haben Verwaltungsfachleute. Ich gehe davon aus, daß ab 3. Oktober auch wir von den Bundesministerien, von Bonn aus über Ost-Berlin, aber auch über Entsendung von Fachleuten in die Fläche in der DDR diesem Mangel abhelfen.
Das zweite Problem ist die Qualifikation. Ich halte es auf die Dauer für unerträglich, wenn hunderttausende von Menschen in Kurzarbeit fast gleichgestellt werden mit Vollbeschäftigten, aber praktisch nur einmal im Monat ihre Unterstützung abholen und bisher kaum eine Möglichkeit haben, sich weiterzuqualifizieren. Hier verschenken wir Zeit, und hier ist die neue Arbeitsverwaltung gefordert. Aber ich füge hinzu: Auch die privaten Unternehmen in der Bundesrepublik, insbesondere die großen Unternehmen, müssen durch Ausbildungspartnerschaften dafür sorgen, daß insbesondere die jungen Menschen in der DDR nicht als erste Erfahrung mit der Marktwirtschaft die machen, daß sie auf der Straße stehen, sondern ausgebildet werden,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auch für einige Monate in der Bundesrepublik.


(Dr. Jens [SPD]: Beschäftigungsgesellschaften?)

— Ich bin bei Beschäftigungsgesellschaften sehr vorsichtig,

(Dr. Jobst [CDU/CSU]: Mit Recht!)

und zwar deshalb, weil wir nicht die falsche Mentalität aufrechterhalten dürfen,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

nach dem Motto: von der staatlichen Dauersubvention in die private Dauersubvention.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Das funktioniert auch nicht! — Peter [Kassel] [SPD]: Das ist doch Quatsch!)




Bundesminister Dr. Haussmann
Dort, wo es zu neuen Investitionen kommt, z. B. in der Automobilindustrie, kann es Sinn machen, Facharbeiter in einer anderen Form der Beschäftigungsgesellschaft auf Monate hinaus vorzuqualifizieren; aber es macht keinen Sinn, alte, bankrotte Staatskombinate aufrechtzuerhalten und die Menschen dort künstlich auf völlig veralteten Arbeitsplätzen zu beschäftigen. Das bringt nichts an Qualifikationszuwachs.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Jens [SPD]: Qualifizierung macht immer Sinn!)

Die erste Stufe des Wiederaufbaus der Wirtschaft der DDR startet mit unserer Regionalförderung. Es ist schlicht falscht, was Herr Lafontaine gesagt hat. Es gibt eine Regionalförderung in strukturschwachen Gebieten in der Bundesrepublik.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Wo wäre sonst das Saarland?)

Natürlich gilt diese Regionalförderung auch für die DDR. Ansonsten wäre es wohl grundgesetzwidrig, denn wir haben durch die Regionalförderung dafür zu sorgen, daß gleichwertige Lebensverhältnisse in Gesamtdeutschland entstehen.

(Beifall bei der FDP)

Dazu kommt in der DDR die Investitionszulage für zwei Jahre. Wer jetzt bereit ist, etwas zu tun, bekommt eine Zulage; wer zu lange wartet,

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Den bestraft das Leben!)

bekommt keine Zulage.
Aus der Sicht der Freien Demokraten und des Wirtschaftsministers muß sich aber auch eine sinnvolle Steuerperspektive für die DDR ergeben.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wer die Unternehmensteuerreform nicht — wie leider einige Politiker — aufgeben will, muß in der DDR damit beginnen.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es führt kein Weg daran vorbei. Die neuen Bundesländer in der DDR müssen für einen Übergangszeitraum ein attraktives Niedrigsteuergebiet werden. Das entlastet all diejenigen westdeutschen Unternehmen, die in der Lage und bereit sind, sich in der DDR zu engagieren. Nur das macht Sinn!

(Beifall bei der FDP)

Dabei kommt es vor allem darauf an, die ertragsunabhängigen Steuern zu senken, denn sie sind es ja, die von Anfang an gezahlt werden müssen, auch wenn keine Gewinne entstehen. Es gibt in der DDR ja genügend Investitionsprobleme.
Wenn die gesamtdeutsche Wirtschaft läuft, wenn das gesamtdeutsche Wirtschaftswachstum zunimmt, wenn damit auch die gesamtdeutschen Steuereinnahmen zunehmen, dann ist es sinnvoll, das Niedrigsteuersystem aus den neuen Bundesländern auf die alten Bundesländer der Bundesrepublik zu übertragen.

(Beifall bei der FDP)

Dann haben wir die gesamtdeutsche Unternehmensteuerreform, die wir brauchen. Denn die DDR macht nur 5 % der Europäischen Gemeinschaft aus, aber wir müssen unsere Investitionsbedingungen und unsere Steuerpolitik an den übrigen 95 % der EG ausrichten. Wer statt dessen wie die Sozialdemokraten Steuererhöhungen fordert, der gibt auch zu erkennen, daß er sich nicht an Subventionsabbau, daß er sich nicht an Privatisierung herantraut.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Wort zu der Diskussion um die sogenannten Kosten der Einheit sagen. Niemand kann die Kosten heute beziffern, kein Regierungsmitglied, kein Oppositionsmitglied, kein Wirtschaftsforscher. Eines ist sicher: Die deutsche Einheit wird nicht mit Wohlstandsverlusten und Sozialabbau erkauft werden müssen. Wenn die Übergangsprobleme in den neuen Bundesländern überwunden sind, wird die Produktivität kräftig steigen. Beschäftigung und Einkommen in der DDR werden zunehmen. Das bedeutet wachsende Steuereinnahmen, aber auch Sozialbeiträge für die öffentlichen Kassen. Was wir jetzt für den Aufbau in der DDR ausgeben, ist kein verlorenes Geld, sondern die beste Investition in die gemeinsame deutsche Zukunft.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Neben der staatlichen Steuer- und Finanzpolitik müssen aber auch die Tarifpartner gesamtdeutsche Verantwortung zeigen. Ich erwarte von den Gewerkschaften, aber auch von den Arbeitgeberverbänden, daß sie in den Aufbau der neuen Bundesländer investieren und nicht vorab verteilen, was erst morgen erarbeitet werden kann.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der Aufbau und die damit verbundene riesige Aufbauleistung in der DDR können nicht mit mehr Freizeit beginnen. Deshalb sind Arbeitszeitverkürzungen in der Phase des Zusammenwachsens und des Aufbaus unterlassene Hilfeleistung auch für die DDR. Schon heute gibt es vermehrt Klagen aus unserer Wirtschaft, daß die für die DDR bestimmten Investitionsgüter nicht zu bekommen sind, weil unter dem Diktat immer kürzerer Arbeitszeiten die Produktion insbesondere im Maschinenbau, in der Bauindustrie und im Investitionsgüterbereich nicht mit der Nachfrage Schritt halten kann. Es ist deshalb aus meiner Sicht ein Gebot der Solidarität beider Tarifpartner, auf weitere Arbeitszeitverkürzungen zu verzichten.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, nicht zuletzt ist der Aufbau in den neuen Bundesländern eine wesentliche ordnungspolitische Aufgabe. Ich jedenfalls gehöre nicht zu denjenigen, die meinen, man könne den schnellen wirtschaftlichen Erfolg kaufen oder herbeisubventionieren. Voraussetzungen für den künftigen Wohlstand auch in den neuen Bundesländern sind Wettbewerb und Leistung, nicht das Warten auf Hilfeleistung vom Staat. Auch für die Zukunft ab dem 3. Oktober gilt: Ohne persönliche Leistung kein Wohlstand.

(Frau Folz-Steinacker [FDP]: Jawohl!)




Bundesminister Dr. Haussmann
Aber wir dürfen auch niemanden überfordern. In nicht einmal einem Jahr seit der Öffnung der innerdeutschen Grenze hat die DDR eine neue Währung, ein neues Wirtschaftssystem und ein neues Sozialsystem bekommen. Dieses gewaltige Ausmaß an Wandel, das im Ausland respektiert wird, wird manchmal vergessen, wenn heute ungeduldig gefragt wird, warum es in der DDR noch immer — zugegeben — an vielen einzelnen Stellen hakt und klemmt.
Die notwendige ökonomische Umgestaltung in den neuen Bundesländern erfordert auch Zähigkeit und Stehvermögen. Es reicht eben nicht aus, die Planwirtschaft abzuschaffen und per Knopfdruck die Marktwirtschaft auszurufen. Dieser Wandel von einem Wirtschaftssystem zum anderen muß auch im Denken und Handeln der Menschen fest verankert werden. Tugenden, wie persönliche Leistung und Engagement, die unter dem alten System bekämpft wurden, und Eigeninteressen sind jetzt der Schlüssel für eine bessere Zukunft in den neuen Bundesländern.
Ich glaube, einer der wesentlichsten Beiträge, den die Sozialdemokraten heute leisten können, ist, dem Einigungsvertrag zuzustimmen. Viele Gespräche mit internationalen Investoren zeigen, daß es ganz entscheidend darauf ankommt, daß dieser Einigungsvertrag in unserem Parlament von einer breiten Mehrheit getragen wird.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122606700
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt (Nürnberg).

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1122606800
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine Aufgabe ist es nun nicht, auf den Wirtschaftsminister zu antworten. Die Weisheit unserer Geschäftsführungen hat uns so eingeteilt. Nur ein Wort, Herr Haussmann: Sie haben gerade mit einem kleinen Satz bestätigt, daß Herr Lafontaine heute recht hatte,

(Zurufe von der FDP: Teilweise! — Bedingt!)

als er befürchtet hat, daß die DDR zur verlängerten Ladentheke der Bundesrepublik wird. Sie haben nämlich gerade gesagt: 50 % der deutschen Unternehmen möchten in der DDR investieren, aber zuerst in ein Vertriebsbüro.

(Fuchtel [CDU/CSU]: So fängt es doch immer an!)

Das bedeutet nichts anderes, als daß Oskar Lafontaine recht hat.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Sie haben gesagt: Mittel- und langfristig wollen sie investieren. Dies ist das falsche Konzept. So kann es garantiert nicht gehen. So viel Zeit haben wir nicht.
Ich möchte aber gerne zu dem Thema kommen, das heute hier meines sein soll: Die Frauen in Deutschland (Ost) und in Deutschland (West) sind im Moment „beglückt" . Im ersten Staatsvertrag wurde ihnen und ihren Sorgen ein Halbsatz gewidmet. In diesem Einigungsvertrag ist es immerhin schon ein ganzer Artikel mit vier Absätzen, der Art. 31. Diesen Artikel hätte es
ohne die SPD, ohne den Druck von veränderten Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat und vor allem ohne den Druck von Frauen aus den unterschiedlichsten Organisationen und dem Bundestag nie gegeben.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Der Bundesregierung sind — wie im ersten Staatsvertrag — nur Verschlechterungen eingefallen. Wäre es nach ihr gegangen, wären die Frauen endgültig zu Verliererinnen der deutschen Einheit geworden. Die Bundesregierung hat in ihrem ersten Entwurf nur Verschlechterungen vorgesehen, z. B. beim Elternurlaub, im Mutterschutzgesetz, bei den Unterhaltsvorschußkassen, im Arbeitsrecht, bei den Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, vor allem für kranke Kinder, und bei Qualifizierungsmöglichkeiten während der Arbeitszeit; und das ist bei weitem noch nicht alles.
Warum sollen eigentlich die Leistungen der Unterhaltsvorschußkassen auf unser bescheidenes BRD- Maß reduziert werden? Warum sollen Eltern ihre kranken Kinder auch in der DDR nur noch bis zum 8. Lebensjahr und nur noch maximal fünf Arbeitstage selber pflegen dürfen? Es ist uns allen hier im Deutschen Bundestag doch klar, daß unsere Regelungen und unsere Schlußlichtposition in Europa in diesen Punkten nicht länger aufrechtzuerhalten sind.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Ist also, liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Art. 31 im Einigungsvertrag nur ein Luftgebilde, eine Seifenblase, die zerplatzt, wenn man sich den Vertrag ein bißchen näher anschaut? Nein, er hat es in sich. Wir haben mit diesem Einigungsvertrag die Pflicht, die Gesetzgebung zur Gleichberechtigung weiterzuentwickeln, die unterschiedlichen Rechtslagen so anzugleichen, daß die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf gewährleistet ist, die Kindergärten, Horte und Kinderkrippen in der DDR mit Hilfe des Bundes zu sichern und eine Schwangerschaftsabbruchregelung zu schaffen, die wirklich auf dem Prinzip „Hilfe statt Strafe " beruht. Es sind allerdings Zweifel angebracht, ob diese Bundesregierung und diese Mehrheit willens und in der Lage sind, diese Verpflichtungen zu erfüllen.

(Frau Dr. Sonntag-Wolgast [SPD]: Da muß man ihr auf die Sprünge helfen!)

Wir halten die bisherige verbindliche Frauenförderung in der DDR für richtig. Sie hat zu mehr Gleichstellung im Beruf und zu mehr Qualifikationsmöglichkeiten für Frauen geführt. Der Nachteil war, daß die damit verbundenen Sozialleistungen beinahe ausschließlich von den Betrieben zu tragen waren. Richtig war aber das Ziel der wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Frauen.
Deshalb werden wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten unser Gleichstellungsgesetz erneut einbringen, um damit eine verbindliche Frauenförderung zu verankern. Das bedeutet außerdem: keine Beschäftigungsverhältnisse mehr ohne Versicherungsschutz.

(Beifall bei der SPD)




Frau Schmidt (Nürnberg)

Das bedeutet Abschaffen des Beschäftigungsförderungsgesetzes und damit der Schutzlosigkeit befristeter Arbeitsverhältnisse vor allem für werdende Mütter.

(Beifall bei der SPD)

Das bedeutet Absicherung der Teilzeitbeschäftigung und ein durchsetzbares Benachteiligungsverbot, b es-sere Qualifizierungsmöglichkeiten für Frauen sowie die verbindliche Einführung von Gleichstellungsbeauftragten mit Kompetenzen und gesicherter finanzieller und personeller Ausstattung.
Wir wollen Wahlfreiheit. Das heißt für uns: Beide, Vater und Mutter, müssen entscheiden können, wer wann in welchem Umfang erwerbstätig ist und wer wann in welchem Umfang sich um die Kinder kümmert.
In beiden deutschen Teilstaaten ist diese Wahlfreiheit bis heute nicht gegeben: in der Noch-DDR nicht, weil dort die ununterbrochene Erwerbstätigkeit von Müttern und Vätern als alleinseligmachend propagiert wurde und zur Existenzsicherung unabdingbar notwendig ist, und bei uns nicht, weil Kindereinrichtungen, von Tagesmüttern über Krippen, Kindergärten und Horten bis zu Ganztagsschulen, in einem Maß fehlen, daß für eines der reichsten Länder dieser Erde beschämend ist.

(Beifall bei der SPD)

In beiden deutschen Teilstaaten gibt es also nicht die Wahlfreiheit, sondern bei der Frage „Kinder und/ oder Beruf" den Wahlzwang. Wir werden deshalb noch in dieser Legislaturperiode über unseren Antrag auf Verlängerung des Erziehungsurlaubs in dritter Lesung debattieren. Wir halten eine dreijährige Arbeitsplatzgarantie für unumgänglich, und zwar sofort. Wir streben an, auch das Erziehungsgeld auf drei Jahre auszudehnen.
In denselben Zusammenhang gehören auch unsere Anträge und Vorstellungen zur Verbesserung von Wiedereinstiegsmöglichkeiten in den Beruf für Mütter. Wir wollen endlich weg von der Modellvorhabenpolitik hin zu Rechtsansprüchen für Frauen. Wir wollen nicht nur irgendwelche unverbindlichen Absichtserklärungen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Art. 31 Abs. 3 ist ein Auftrag an die Bundesregierung. Hier ist nicht nur Abs. 3, sondern Alarmstufe 3 vor dem Hintergrund dessen angesagt, was Frau Ministerin Lehr zu dieser Vorschrift im Ausschuß Deutsche Einheit gesagt bzw. nicht gesagt hat. Frau Ministerin Lehr — im Moment wende ich mich an Herrn Staatssekretär Pfeifer — , Sie haben auf die Frage meines Kollegen Heyenn im Ausschuß Deutsche Einheit, wie denn diese Sicherung von Kinderbetreuungseinrichtungen in der DDR unter Beteiligung des Bundes vorgenommen werden soll, wo Gemeinden Anträge stellen können, welche Kriterien angelegt werden und wieviel Geld zur Verfügung steht, geantwortet — ich zitiere — :
Sie haben mit Recht auf einen wunden Punkt hingewiesen. Dabei geht es einmal um die Frage der
ausreichenden Betreuungsmöglichkeiten. Hier
haben wir ja bereits in Art. 31 Abs. 3 festgehalten, daß sich der Bund für eine Übergangszeit an den Kosten dieser Einrichtungen beteiligt. Danach ist es, wie Sie wissen, Sache der Länder. Wir hoffen, daß bis zum 30. Juni 1991 hier auch mehr Klarheit geschaffen sein wird.
Das ist völlig unzureichend. Das sagt uns eine Ministerin zu einer so ernsten Frage. Wenn das Ihre Antwort ist, dann ist das mehr als dünn.
Wir verlangen von Ihnen, uns umgehend ein Konzept vorzulegen, wie sich das zuständige Ministerium die Sicherung der Kinderbetreuungseinrichtungen unter Beteiligung des Bundes vorstellt, welche Mittel dazu voraussichtlich notwendig sein werden und vor allem, wie das Verfahren aussehen soll, also wer wo unter welchen Voraussetzungen Anträge stellen kann und wie hoch eventuelle Zuschüsse sind.

(Beifall bei der SPD)

Wir verlangen dieses Konzept nicht mit irgendwelchen Hoffnungen Mitte nächsten Jahres, sondern in den nächsten zwei bis vier Wochen; sonst besteht die Gefahr — wie so oft in Ihrem Ministerium —, daß sich alles von selbst erledigt. Im Haushaltsplan bleibt das berühmte Pünktchen stehen. Kinderbetreuungseinrichtungen in der DDR sind dann an Geldmangel und der unzureichenden finanziellen Ausstattung der Gemeinden kaputtgegangen.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Das kann Oskar ja alles über den Bundesrat regeln!)

Also bitte Schluß mit dem Hoffen. Schnelles Handeln ist angesagt, damit das Ziel, keine Reduzierung von Kinderbetreuungseinrichtungen in der DDR, erreicht wird.
Für uns ist damit selbstverständlich verbunden, daß dies Konsequenzen auch für die Bundesrepublik haben wird. Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, der überfällig ist, wird sich nicht länger aufhalten lassen. Er wird sich vor allen Dingen auch nicht vor dem Hintergrund der Verpflichtungen des Art. 31 Abs. 4 aufhalten lassen. Wir werden mit diesem Absatz die Möglichkeit erhalten, die Erkenntnisse, die wir in den letzten 15 Jahren gewonnen haben, umzusetzen, und zu einem wirklichen Schutz werdenden Lebens kommen. Dem dauernden Anzweifeln, daß Frauen nicht in der Lage seien, in einer Schwangerschaftskonfliktsituation eine verantwortliche Entscheidung zu fällen, werden wir ein Ende setzen.
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sowie Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen dieses Hauses werden noch in dieser Legislaturperiode einen Gesetzentwurf einbringen, der Hilfen mit Rechtsansprüchen wie den auf Kindergartenbetreuung, die bessere Ausstattung von Unterhaltsvorschußkassen, vernünftige Regelungen für Alleinerziehende und vieles mehr enthalten wird;

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Das können Sie über den Bundesrat regeln!)

einen Gesetzentwurf, der Anspruch auf Aufklärung und die kostenfreie Abgabe von Verhütungsmitteln vorsieht; einen Gesetzentwurf, der den Anspruch auf ein plurales Beratungsangebot und die finanzielle



Frau Schmidt (Nürnberg)

und personelle Ausstattung der Beratungsstellen regelt.

(Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Wie sieht es denn in den SPD-regierten Ländern aus?)

Das neue Recht wird nach dem Vertragstext auf strafrechtliche Bestimmungen für — oder besser: gegen — Frauen verzichten können.

(Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Ein Jahr Erziehungsgeld im Saarland!)

Art. 31 Abs. 4 ist ein wirklicher Sieg für die Frauen und die realistische Chance für einen besseren Schutz werdenden Lebens.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Frau Hellwig, Sie haben gerade gesagt, daß auch wir vieles nicht geschafft haben. Das gebe ich Ihnen gerne zu. Mehrheiten waren bisher für Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker häufig nicht vorhanden, egal wie die Regierungskoalitionen aussahen. Wir haben jetzt nicht nur die Möglichkeit, mehr durchzusetzen, sondern wir haben die Verpflichtung. Ich nehme diese Pflicht ernst und meine Fraktion auch.

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich noch zu zwei Punkten Stellung nehmen. Es ist uns allen bewußt — der Herr Bundesaußenminister hat es heute noch einmal betont — , daß wir uns nicht aus unserer Geschichte verabschieden können. Nur verbale Bekundungen reichen nicht. Die Verpflichtung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus darf sich nicht darin erschöpfen, zu reden. Wir müssen auch etwas tun. Diese Verpflichtung wurde auf unser Betreiben nach langen Mühen in einer Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertrag festgelegt. Wir begrüßen das.
Wir werden uns bei der Abstimmung über den Antrag der GRÜNEN enthalten, weil er weitreichende Veränderungen der Entschädigungspraxis enthält. Wir stimmen aber der Zielsetzung dieses Antrags überwiegend zu.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, möchte ich für die SPD feststellen: Erstens. Die heutigen Härterichtlinien sind unzureichend. Sie müssen entweder im Sinne unseres Stiftungsgesetzes verbessert werden, oder es muß eine Stiftung errichtet werden. Diese Regelungen müssen selbstverständlich auf die Bürgerinnen und Bürger der DDR ausgedehnt werden, wie es die Zusatzvereinbarung jetzt vorsieht.
Zweitens. Es ist genauso selbstverständlich, daß Ehrenpensionen, die Verfolgte bisher in der DDR erhalten haben, weiter gezahlt werden müssen. Das darf nicht von willkürlichen Entscheidungen oder von politischen Überzeugungen und Verhaltensweisen der Vergangenheit abhängig gemacht werden.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen, wie es Oskar Lafontaine gesagt hat, die gleiche Dauer von Wehr- und Zivildienst. Wir wollen die
freie Entscheidung der jungen Männer, welchen Dienst sie leisten wollen. Das hat übrigens auch die FDP in ihrem Wahlprogramm beschlossen. Liebe Kollegen der FDP, Sie können das früher haben. Erhöhen Sie Ihre Glaubwürdigkeit, und stimmen Sie mit uns in dieser Frage für mehr Gerechtigkeit im Wehr- und Zivildienst.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Für ein absolut untaugliches Mittel zur Herstellung von mehr Wehrgerechtigkeit halten wir allerdings die Einführung einer Dienstpflicht für alle jungen Männer und Frauen. Es kann ja wohl nicht wahr sein, daß weitere Benachteiligungen für Frauen geschaffen werden sollen, um angebliche Wehrgerechtigkeit für Männer herzustellen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abgeordneten Frau Würfel [FDP] und Frau Unruh [fraktionslos])

Die Anzahl der Tage, Monate und Jahre, die Frauen an unbezahlten sozialen Diensten an Kindern, alten Menschen und ihren eigenen Männern leisten, übersteigt weit den Zeitraum von einem Jahr. Die Nachteile, die sie deshalb in ihrem Beruf und bei der Höhe ihrer Rente hinzunehmen haben, sind bis heute nicht beseitigt.

(Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Da stimme ich Ihnen zu!)

Deshalb kommt ein solches soziales Pflichtjahr nicht in Frage; denn Gleichstellung von Frauen und Männern ist leider noch längst nicht erreicht.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der CDU/ CSU)

Statt unnützer Pflichtjahrdiskussionen sollten Sie lieber das freiwillige soziale Jahr besser ausstatten und Zivildienstleistenden dieselben Vergünstigungen gewähren wie den Wehrdienstleistenden.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

Absolut unzulässig ist, die Frage der Verkürzung des Zivildienstes mit der Diskussion über die Beseitigung des Pflegenotstands zu verknüpfen.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Das tut keiner!)

— Na, was wollen Sie denn, Herr Cronenberg? — Die strukturellen Fehler in unserem Gesundheits- und Betreuungswesen dürfen nicht durch die Rekrutierung billiger Arbeitskräfte vertuscht und können hierdurch naturgemäß auch nicht gelöst werden.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Sprechen Sie einmal mit Ihrem SPD-Kollegen Horn darüber!)

Meine sehr geehrten Herren und Damen, der Einigungsvertrag ist nicht das Ende, sondern der Beginn einer Entwicklung. Er ist in der Frauenpolitik eine brauchbare Grundlage zum Handeln. Die Bundesregierung und insbesondere das Frauenministerium haben diesen Auftrag bisher noch nicht begriffen und



Frau Schmidt (Nürnberg)

sich vor allen Dingen durch Nichtstun ausgezeichnet.

(Dr. Langner [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!)

Wir werden die Frauen nicht zu den Verliererinnen des Einigungsprozesses werden lassen.

(Frau Kottwitz [GRÜNE]: Sind sie aber!)

Wir verstehen diesen Einigungsvertrag als Auftrag für Reformen sofort nach dem 3. Oktober und vor allen Dingen nach dem 2. Dezember diesen Jahres. Wir wollen und werden die deutsche Einigung zum Nutzen der Menschen, der Kinder, Frauen und Männer, in Gesamtdeutschland gestalten.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122606900
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Verhülsdonk.

Roswitha Verhülsdonk (CDU):
Rede ID: ID1122607000
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Regie klappt, Frau Schmidt; denn ich rede zu demselben Thema, zu dem Sie gesprochen haben. Das wird Sie nicht überraschen.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Nein!)

Ich muß Ihnen leider wieder das sagen, was ich Ihnen von diesem Pult aus schon oft gesagt habe: Sie reden so vollmundig über Frauenpolitik und stellen so schöne Forderungen, die die Regierung erfüllen soll, seit Sie in der Opposition sind. Jetzt soll die Regierung das durchsetzen, was Sie dort, wo die SPD Regierungsverantwortung trägt, keineswegs getan haben oder tun.

(Beifall bei der CDU/CSU — Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Das war immer so!)

Bei vielen Begegnungen mit Menschen in der DDR und aus Gesprächen mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus der Volkskammer haben wir gelernt: Es genügt nicht, unser vorzüglich ausgebautes soziales Netz auf die DDR zu übertragen. Wir brauchen angesichts der derzeitigen wirtschaftlichen Lage auch besondere Übergangsregelungen, wenn wir den Problemen der Menschen in der DDR gerecht werden wollen. Das gilt vor allem für die Situation der Familien und Frauen. Ich bin deshalb sehr dankbar, daß es uns u. a. gelungen ist, einige soziale Schutzbestimmungen für erwerbstätige Mütter, die es drüben gab, für eine Übergangsfrist zu erhalten. Ich hoffe, daß wir sie auch bei uns einführen können.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, daß die Chance besteht, das flächendeckende Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen auf dem Gebiet der DDR zu erhalten. Die Familien sind ja bei den noch niedrigen Löhnen auf die Einkommen beider Elternteile angewiesen. Die Städte drüben wiederum sind finanziell noch nicht in der Lage, die bestehenden Einrichtungen zu erhalten. Und die Länder entstehen erst. Es ist deshalb eine gute Sache, daß die Bundesregierung bis Mitte 1991 bei der Finanzierung der Kindertagesstätten hilft.
In der DDR sind bekanntlich über 80 % der Frauen erwerbstätig. Ja, sie mußten es sein; das sozialistische System hat es ihnen abverlangt.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Sie müssen es noch sein!)

In Zukunft werden auch die Frauen in den neuen Bundesländern mit dem Erziehungsgeld und dem Erziehungsurlaub und der Erziehungsrente mehr Wahlmöglichkeiten haben und ihre Kinder, wenn sie es wollen, selbst erziehen können.
Mir scheint fast, Frau Schmidt, die öffentliche Diskussion um den Erhalt der Kinderbetreuungseinrichtungen auf dem Gebiet der DDR hat auch bei uns in der Bundesrepublik etwas bewirkt: Viele Politiker in den Ländern — ich sehe das in meinem Bundesland Rheinland-Pfalz — und in den Kommunen sind jetzt bereit, mehr Anstrengungen für einen bedarfsgerechten Ausbau von familienergänzenden Einrichtungen zu machen. Wenn es dann auch noch gelingt, in den neuen Bundesländern das pädagogische Konzept der Kindergärten und -krippen unseren westdeutschen Maßstäben anzugleichen, dann können wir in einigen Jahren vielleicht feststellen: Die deutsche Einheit hat den Frauen mehr Chancen gebracht, mit Kindern leben zu können und gleichzeitig auch ihre eigenen beruflichen Lebenspläne verwirklichen zu können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

In Art. 31 Abs. 1 des Einigungsvertrages lesen wir — Sie haben darauf hingewiesen — : „Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers, die Gesetzgebung zur Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen weiterzuentwickeln." Da haben wir — bei aller Unterschiedlichkeit der Ausgangssituation in Ost und West — noch viel zu tun.
Ich kann hier nicht alle Felder aufzählen — Sie haben viele genannt —, in denen sich Frauen quer durch Parteien und über Verbände hinweg noch viele Verbesserungen — vor allem in der Arbeitswelt — vorstellen können. Eines will ich nennen: Der Mangel an flexiblen Arbeitsmöglichkeiten und an Teilzeitarbeitsplätzen für Eltern ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Diskussion um die derzeitigen Probleme der Frauen in der DDR hilft vielleicht mit, das Bewußtsein der Politik insgesamt für Frauenfragen zu schärfen und Regelungen voranzutreiben. Ich erwarte jedenfalls von den neuen Kolleginnen und Kollegen, die von drüben kommen, daß sie uns bei der Lösung dieser Probleme helfen werden und konkrete Vorschläge mitbringen.
Im Einigungsvertrag ist allerdings eine andere Regelung festgeschrieben, die meiner Fraktion große Beschwernis macht. Es ist für viele meiner Kollegen eine große Gewissensbelastung, hinnehmen zu sollen, daß nach dem Beitritt der DDR am 3. Oktober 1990 die sogenannte Fristenlösung auf dem Gebiet der DDR für zwei Jahre bestehenbleibt. Das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche ist vom sozialistischen Staat als ein Glanzstück des Selbstbestimmungsrechts der Frau beschrieb en worden. Das hat natürlich in den Wertvorstellungen der Menschen drüben Wirkung gezeigt.
Die Fristenlösung wurde als eine Methode der Geburtenplanung praktiziert. Man kann nur sagen: Lei-



Frau Verhülsdonk
der Gottes. Zwar hat die Volkskammer das Gesetz diesbezüglich noch schnell entschärft. Trotzdem bleibt festzustellen: Diese Fristenlösung ist und bleibt verfassungswidrig.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das stimmt doch nicht!)

Umfragen haben gezeigt, daß die Bundesbürger nur wenig Verständnis dafür haben, daß in Deutschland in der so wichtigen Frage des Lebensschutzes auf Zeit zweierlei Recht bestehen soll, obwohl ansonsten ab sofort unser Grundgesetz für die neuen Bundesländer gilt. Es war in der Kürze der Zeit bis zum 3. Oktober 1990 nicht möglich, eine gesetzliche Regelung für den Schutz des ungeborenen Lebens zu schaffen, die auch für die Bevölkerung in der DDR verständlich und hinnehmbar gewesen wäre.
Ihr Einwand, unser Indikationenstrafrecht habe zu keinem besseren Lebensschutz geführt als die Fristenlösung, ist — leider — zutreffend. Auch meine Fraktion ist mit dem geltenden § 218 nicht zufrieden. Sie hat das ja oft genug zum Ausdruck gebracht.
Unser Strafrecht hat in seiner Anwendung all die Mißbrauchsmöglichkeiten offenbart, die wir Unionspolitiker als wir das Gesetz 1975 einmütig abgelehnt haben, damals bereits vorhergesagt haben. Insoweit können wir zustimmen, wenn sich der gesamtdeutsche Gesetzgeber im Einigungsvertrag selbst bindet, innerhalb von zwei Jahren einen wirksameren Lebensschutz für ungeborene Kinder zu schaffen.
Wir sind auch sehr froh, daß es noch in letzter Minute gelungen ist, Art. 31 des Einigungsvertrages zu ergänzen. Jetzt ist darin festgelegt, daß für die verfassungskonforme Bewältigung von Konfliktsituationen schwangerer Frauen rechtlich gesicherte Ansprüche auf Beratung und auf soziale Hilfen zu schaffen sind.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Hilfe statt Strafe!)

Dazu sind wir fest entschlossen. Das ist ohne Zweifel eine Chance, Frauen in konkreten Notlagen zu ermutigen, ihr Kind zur Welt zu bringen.
Meinen Fraktionskollegen, die sich in ihrem Gewissen besonders beschwert fühlen und die meinen, wegen der übergangsweisen Fortdauer der Fristenlösung im Gebiet der heutigen DDR dem sonst von ihnen sehr positiv bewerteten Einigungsvertrag nicht zustimmen zu können, will ich noch einmal sagen, was ich schon in der Fraktion gesagt habe: Immerhin hat die Bundesregierung ab sofort die Chance, ein Netz an Beratungsstellen in der DDR aufzubauen und zu finanzieren. Diese werden auch in die Lage versetzt, soziale Hilfen zu vermitteln. Das ist in der DDR besonders nötig. Ich habe die Hoffnung, daß sich dadurch manche schwangere Frau in wirtschaftlicher Not für ihr Kind entscheiden kann. Wir sehen es ja: Zur Zeit entscheiden sich viele Frauen wegen der materiellen Nöte und wegen der Zukunftsängste, die sie bedrängen, zum Abbruch.
Ich habe auch die Hoffnung, daß über die Bemühungen der Beratungsstellen in der DDR die Erkenntnis in der dortigen Bevölkerung an Boden gewinnt, daß Abtreibung Tötung menschlichen Lebens ist und
nicht etwa — wie offensichtlich viele drüben noch glauben — die Entfernung von mütterlichem Gewebe.

(Frau Kottwitz [GRÜNE]: Das haben die nie behauptet!)

— Doch. Auf dem Katholikentag in Berlin ist von vielen Frauen gesagt worden, daß sie das so sehen. Deswegen muß man dagegen vorgehen.
Ich wünsche mir sehr, daß es uns, ausgehend von mehr sozialen Hilfen für Frauen in Not, gelingt, eine Offensive für eine kinderfreundliche Gesellschaft in unserem gemeinsamen Deutschland auf den Weg zu bringen. Ich wäre froh, wenn Sie alle mitmachten und uns unterstützten. Das wird aber nicht zu erreichen sein, meine Damen und Herren von der SPD, wenn wir es in das subjektive Ermessen von Frauen in Konfliktsituationen stellen, ob sie ihr Kind austragen wollen oder nicht.
Die Fristenlösung ist nicht nur verfassungswidrig, sie ist auch im Hinblick auf die reale Situation vieler Frauen in Notlagen ethisch nicht zu verantworten.

(Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. Cronenberg [Arnsberg] [FDP])

Diese Frauen werden in ihrem Konflikt dann noch mehr allein gelassen. Sie werden noch mehr dem Druck ihrer Umgebung ausgeliefert, als es heute leider schon vielfach der Fall ist. Jetzt haben sie noch eine Stütze bei der Beratung.
Die Politikerinnen und Politiker der Union werden sich mit allen Mitteln dafür einsetzen, daß das ungeborene Leben in Deutschland durch verbesserte Beratung, durch Beratung zum Leben, durch ein breites Angebot von sozialen und auch von menschlich-psychologischen Hilfen für schwangere Frauen in Notlagen, aber auch durch unsere Rechtsordnung besser geschützt wird, als das heute der Fall ist. Dies ist der Auftrag unseres Grundgesetzes, den wir alle zu erfüllen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. Cronenberg [Arnsberg] [FDP])


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122607100
Das Wort hat der Abgeordnete Stobbe.

Dietrich Stobbe (SPD):
Rede ID: ID1122607200
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe zukünftige Bundesbürgerinnen und Bundesbürger in der DDR! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Wir stehen vor dem Abschluß des Prozesses, der uns Deutschen die staatliche Einigung bringen wird. Dies ist nicht nur ein Augenblick der Dankbarkeit und der Freude, sondern auch, wie wir hier im Parlament miterleben, ein Augenblick des politischen Streits. Das ist normal. Aber wir sollten doch einen Augenblick innehalten, um kritisch zurückzuschauen und um die Probleme, die vor uns liegen, mit Besonnenheit zu durchdenken und in ihrer geschichtlichen und gesellschaftlichen Dimension voll zu erfassen.
Es ist meine feste Überzeugung, daß es keine wahre innere Einigung der Deutschen ohne Vertrauen und kein Vertrauen ohne soziale Gerechtigkeit geben wird. Wir müsen deshalb vor einem Mißverständnis



Stobbe
warnen: Mit dem Beitritt der DDR bekommen wir nicht etwa nur eine vergrößerte Bundesrepublik. Vielmehr müssen wir unsere Vorstellungen von Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft weiterentwickeln. Hierin liegt die eigentliche Chance der deutschen Einheit.

(Beifall bei der SPD)

Mit einem tausendseitigen Vertragswerk, mit einem festlichen Staatsakt, der vor uns steht, mit bürokratischem Perfektionismus, den wir in den Verhandlungen, die zum Einigungsvertrag führten, zuhauf gesehen haben, und auch mit einem finanziellen Kraftakt ersten Ranges ist es keineswegs getan. Wer die deutsche Einheit nur in den Kategorien der Machtsicherung und in der Dimension des Regierungs- und Verwaltungshandelns versteht, zimmert zwar zusammen, was zusammengehört, aber er läuft Gefahr, darüber die wesentlichen Herausforderungen zu vergessen. Denn der deutsche Einigungsprozeß hat doch nicht nur eine staatliche, eine wirtschaftliche, eine sozialpolitische, eine finanzielle Seite. Es geht vielmehr um seine Auswirkungen auf die Menschen. Es geht darum, wie wir in dem zukünftigen Deutschland miteinander umgehen und miteinander leben wollen. Es geht damit um die Ausgestaltung unserer Demokratie und Ausbildung unserer politischen Kultur.
Die Bundesregierung ist in diesem Prozeß oft genug mit einem Maximum an demokratischer Herrschaftstechnik und einem Minimum an politischer Umsicht vorgegangen. Die Wahltermine verführten zu Machtsicherungsdenken, wo doch eine volle Konzentration auf die Neubegründung der politischen und gesellschaftlichen Freiheit im Vordergrund hätte stehen müssen.
Im Sommer, als es um den Wahlrechtsvertrag ging, und insbesondere nach dem Gespräch zwischen Kohl und de Maizière am Wolfgangsee fühlte ich mich an ein Distichon von Friedrich von Schiller erinnert:
Haltet Ihr denn die Deutschen so dumm, Ihr Freiheitsapostel?
Jeglicher sieht, Euch ist's nur um die Herrschaft zu tun.

(Zustimmung bei der SPD)

Die Regierungen haben nicht nur Wahltermine, sondern auch Sachzwänge für ihre Vorgehensweise geltend gemacht. Da ist natürlich viel dran. Auch eine sozialdemokratisch geführte Regierung wäre aus diesen Sachzwängen in mancherlei Hinsicht nicht herausgekommen.

(Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Auch bei den Wahlterminen!)

— Die Wahltermine hätten ja zu einer anderen Konsequenz führen müssen, als sie bei den Regierungschefs führten. — Aber auch wer die Entscheidungsabfolge hin zur staatlichen Einheit, wie es jetzt gelaufen ist, als zwangläufig akzeptiert, sollte heute erkennen und anerkennen, daß es zukünftig um mehr gehen muß. Die vom Umbruch betroffenen Menschen — das ist letzten Endes jeder von uns — müssen ihre Ängste und ihre Hoffnungen, ihr Verständnis und ihre Hilfsbereitschaft mehr als bisher selbst einbringen können, damit die deutsche Einigung ein von den Deutschen
gemeinsam gestalteter, erlebter und erkämpfter Erfolg wird.
Ich habe hier ein Zitat:
„Wenn unser Staat gedeihen und wenn er dem Volke wahrhaft dienen soll im Sozialen und Kulturellen, dann muß der innere Ausgleich möglich gemacht werden. "
Das sagte Herbert Wehner. Die innere Wahrheit dieses Satzes gilt heute, meine ich, mehr denn je.
Innerer Ausgleich: Als in Berlin in meiner Nachbarschaft ein Stück Mauer eingerissen und eine neue Verbindungsstraße eröffnet wurde, kam ich mit einem Elektromonteur in ein Gespräch. Er sagte: „Ich könnte jeden Tag vor Glück zehnmal heulen, daß dies alles möglich ist, aber genausooft schüttelt es mich vor Angst um meine Zukunft. " Damals habe ich begriffen: Es kommt darauf an, den Ausgleich widerstreitender Gefühle und Empfindungen in jedem einzelnen Menschen zustande zu bringen und die Menschen nicht in solche zu teilen, die von der Einheit profitieren, und in solche, die in ihr unter die Räder kommen.

(Beifall bei der SPD)

Dieser Gesprächspartner erwartete und erhoffte sich Schutz durch das Grundgesetz, Sicherheit durch unseren Rechtsstaat und persönliche Entfaltungsmöglichkeiten in unserer sozialen Demokratie.
Zur Wahrheit gehört aber, daß wir auch in der Bundesrepublik jeden Tag mit Menschen sprechen können, die mit widerstreitenden Gefühlen kämpfen: Da sind das Ja zur Einheit und zugleich die Angst vor der Last, die sie für jeden einzelnen bedeuten kann und, wenn man realistisch ist, auch wird. Gerade deshalb muß es in der Zukunft mehr als bisher darum gehen, die Bereitschaft zum Verstehen, zum wirklichen Begreifen der so unterschiedlichen Lebensschicksale in diesem Deutschland zu fördern. Es geht letztlich um den Ausgleich einer tiefen gesellschaftlichen Spannung. Wir dürfen nicht zulassen, daß sich diese auf einen Konflikt zwischen Geben und Nehmen reduziert.

(Beifall bei der SPD)

Zu fordern ist dagegen die politische Arbeit an einem Gesellschaftsentwurf oder, wenn Sie so wollen, Gesellschaftsvertrag, der alle Deutschen in eine neue Solidargemeinschaft bringt. Diese Solidargemeinschaft wäre mit nationalem Pathos nicht zu bilden; genausowenig mit selbstsüchtiger Verweigerung oder mit überzogenem Anspruchsdenken. Zur Solidargemeinschaft gehören auf Leistung basierende Beiträge von allen, die aus dem Verständnis heraus erbracht werden, daß die Hilfe zur Selbstentfaltung des Schwächeren letzten Endes eine Lebensverbesserung für alle Mitglieder dieser Solidargemeinschaft bedeutet. Wenn wir es nicht schaffen, dieses Verständnis von Solidargemeinschaft im ganzen deutschen Volk fest zu verankern, dann kann der Prozeß der inneren Einigung, der vor uns steht, auch schiefgehen. Das müssen wir wissen.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Scharrenbroich [CDU/CSU])




Stobbe
Vor diesem Hintergrund hat sich die SPD bei dem Ringen um die Ausgestaltung der beiden Staatsverträge für sachgerechte Lösungen eingesetzt. Sie hat es dabei nicht leicht gehabt, mit ihren Vorstellungen durchzukommen. Der Bundeskanzler hat unseren Wunsch, von Anfang an mitzuwirken, in den ersten Monaten nach dem 9. November 1989 schroff zurückgewiesen, in einer Phase, in welcher der Rat und die geistig-politische Tradition der SPD besonders gebraucht worden wären.

(Beifall bei der SPD)

Erst als sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat änderten, hatte die SPD eine bessere Chance, auf die Gestaltung der Verträge einzuwirken. Das zahlt sich bei dem Einigungsvertrag jetzt positiv aus.
Aber auch hier ist die notwendige Konsensbildung nur nach hartem Ringen, nach zum Teil erbitterten politischen Auseinandersetzungen möglich geworden. Ich habe mir z. B. nie vorstellen können, daß die deutsche Einheit mit einer Amnestie für Stasi-Spione beginnen soll.
Ich habe immer viel mehr an die Opfer des Stalinismus gedacht.

(Sehr wahr! bei der SPD)

Deswegen ist das Rehabilitierungsgesetz der Volkskammer für mich wichtig. Gestern noch haben wir darum ringen müssen, daß die von der Bundesregierung in den Nachverhandlungen gegenüber der DDR durchgesetzten Einschränkungen dieses Gesetzes wieder mit einer Öffnungsklausel verbunden werden, die dem bundesdeutschen Gesetzgeber erlaubt, Unrecht in dem gebotenen Umfang wiedergutzumachen. Ohne die SPD gäbe es diese Öffnungsklausel nicht.

(Beifall bei der SPD)

Ich denke an die Bürgerrechtsbewegung in der DDR und an die leidenschaftliche Auseinandersetzung über die Behandlung der Stasi-Akten. Ich glaube, es ist wirklich erlaubt zu sagen, ohne die SPD gäbe es nicht jene gemeinsame Interpretation des Ausschusses Deutsche Einheit des Deutschen Bundestages, die die Nutzung und Übermittlung von Daten für nachrichtendienstliche Zwecke ausdrücklich ausschließt.
Ich denke vor dem Hintergrund des Solidaritätsgedankens an die breite Schicht der Arbeitnehmer in der DDR, die wegen der erdrückenden persönlichen Angst um die Arbeitsplätze in diesem Einigungsprozeß so seltsam stumm geblieben ist. Ihren Interessen galt die Sorge der SPD von Anfang an. Für sie haben wir gehandelt, als es um die Mitbestimmung ging, für sie haben wir gekämpft, als es um die Arbeitsförderung ging, als es um die Arbeitslosenversicherung ging und als es um die ganzen Qualifizierungsmaßnahmen ging.

(Beifall des Abg. Dr. Diederich [Berlin] [SPD])

Für sie haben wir uns bis gestern — bis zum Schluß — eingesetzt, als es um ihre Vertretung in den Leitungsgremien der für die künftige wirtschaftliche Entwicklung so wichtigen Treuhandanstalt in der DDR ging.

(Beifall bei der SPD)

Ich denke auch an die Menschen in der Landwirtschaft in der DDR. Für sie haben wir noch gestern wichtige Verbesserungen im Ausschuß Deutsche Einheit erreicht — auch wenn das Gesamtergebnis hinter unseren Erwartungen zurückbleibt. Das gilt vor allen Dingen für das Schutzjahr für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen, das wir im Interesse der in der Landwirtschaft arbeitenden Menschen in der DDR, die sich selbständig machen wollen, gern erreicht hätten.
Ich denke auch an die Frauen in der DDR mit ihrer sehr spezifischen Rolle in der dortigen Gesellschaft, für die sich die SPD nun wirklich im umfassenden Sinne eingesetzt hat — leider nicht immer erfolgreich, wie Frau Schmidt gerade ausgeführt hat. Aber es bleibt auch festzuhalten, daß wir uns, nur weil wir an bestimmten markanten Stellen gekämpft haben — ich nenne als Beispiel den § 218 — , haben durchsetzen können, auch mit einer Öffnungsklausel für den neuen Bundesgesetzgeber.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich denke an die Rentnerinnen und Rentner in der DDR, für die jetzt schon klar ist, daß wir mehr tun müssen, als sozialpolitisch bisher erreicht wurde.
Ich denke an die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen, völlig kontrovers, über die offenen Vermögensfragen. Die SPD hat und wird sich von dem Grundsatz leiten lassen, daß altes Unrecht, das es in der Tat zuhauf gegeben hat, eben nicht dadurch geheilt werden kann, daß jetzt neues Unrecht geschieht.

(Sehr richtig! bei der SPD)

Wir sind froh, daß die Regelung erreicht ist, die erreicht wurde.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die SPD wird, ihrer Tradition getreu, bei der Auseinandersetzung um die Ausgestaltung der neuen Solidargemeinschaft immer auf der Seite der breiten Arbeitnehmerschichten und der sozial Schwächeren stehen.

(Beifall bei der SPD)

Eine der großen Aufgaben in der neuen deutschen Demokratie ist es, den neuen Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern in der DDR zu verdeutlichen, daß soziale Gerechtigkeit angesichts widerstreitender Interessen nur im politischen und gesellschaftlichen Kampf erreicht werden kann.

(Beifall bei der SPD)

Ein passives Hinnehmen von Entwicklungen führt zur Selbstbeschädigung. Die aktive Aufnahme des Kampfes um soziale Gerechtigkeit in den Formen der Demokratie erfordert solidarisches Handeln und gesellschaftliches Engagement. Dazu möchte ich von dieser Stelle ausdrücklich aufrufen.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, von den Deutschen wird nach Vollendung der staatlichen Einheit am 3. Oktober noch mehr verlangt als die Gestaltung einer neuen gesellschaftlichen Solidarität. An dem Tag, an dem hier und, wie ich doch hoffe, auch in der Volkskammer, der Einigungsvertrag ratifiziert wird, müssen wir



Stobbe
laut und deutlich sagen, daß wir ein Deutschland der Solidarität auch mit unseren Nachbarn wollen. Diese muß sich insbesondere mit den jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas sowie der sich demokratisierenden Sowjetunion beweisen. Diese Solidarität muß so gestaltet werden, daß sie jederzeit ein Beitrag für die Entwicklung eines geeinten Europas ist. Das ist die Bringschuld der Deutschen, nachdem sie ursächlich durch die Politik des Dritten Reiches maßgeblich für die bis dato andauernde Teilung Europas verantwortlich sind.
Diese Aufgabe im Innern und in Europa und gegenüber der Welt bedeutet also doch folgendes: Am 3. Oktober, wenn wir uns alle freuen werden, daß die staatliche Einheit erreicht wurde, ist eben nicht alles vorbei und fertig für unsere Demokratie. Die Wahrheit ist, daß unsere Arbeit in politischer Auseinandersetzung um die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse, wie dies unser Grundgesetz verlangt, dann erst beginnt. Diese Arbeit wird Jahrzehnte dauern.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122607300
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rüttgers.

Dr. Jürgen Rüttgers (CDU):
Rede ID: ID1122607400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die politische Ausgangslage für die heutige Debatte ist klar. Die Zweidrittelmehrheit für den Einigungsvertrag ist gesichert. Nun hat der Erfolg ja bekanntlich wie immer, viele Väter. Je größer der Erfolg, desto mehr werden es im Laufe der Zeit.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)

Diese menschliche Erfahrung mindert nun nicht unsere Freude über die Zustimmung der SPD zu diesem Vertrag. Aber ich will doch sagen, daß mich manche Töne und manche Untertöne in dieser Debatte schon wundern. Herr Kollege Stobbe, wenn ich Revue passieren lasse, was Sie gesagt haben, dann haben Sie vor allen Dingen von Sorgen, von Nöten, von Ängsten und von Problemen gesprochen. Ich frage mich, nachdem dies auch in anderen Reden, vor allem in der ersten Rede aus Ihrer Fraktion heute hier auch so geworden ist, ob diese Darstellung der Situation in der DDR und in unserem Vaterland nicht auf einer Form selektiver Wahrnehmung beruht. Also sprach Lafontaine am 13. August 1990 im „Spiegel" : Die DDR war, bis die Mauer fiel, ein führendes Industrieland.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Ja wie kann man denn, meine sehr verehrten Damen und Herren, so etwas überhaupt sagen. Das hat doch wahrlich mit der Realität nichts zu tun. Vielleicht gibt man am besten die Antwort auf solche Feststellungen mit Herrn Stolpe, immerhin Ministerpräsidentenkandidat in der DDR für die SPD. Herr Stolpe, so schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung, glaubt auch nicht, daß es sinnvoll sei, stets eine lange Liste von Fehlern und Ängsten zu benennen, um daran nachzuweisen, welche Fehler de Maizière und Kohl gemacht hätten. Dem kann man nur zustimmen. Ich glaube, wenn es etwas gibt, was Verunsicherung bei unseren Landsleuten in der DDR zur Folge hat, dann ist es die Tatsache, daß sie sich mißbraucht fühlen mit
ihren Problemen, die es unzweifelhaft gibt, weil sie hier zum Gegenstand einer innenpolitischen Auseinandersetzung und von Wahlkampfpolemik gemacht werden.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122607500
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Diederich. — Bitte schön.

Dr. Nils Diederich (SPD):
Rede ID: ID1122607600
Herr Kollege Rüttgers, Sie haben soeben gesagt, es sei vielleicht übertrieben, wenn man hier Sorgen über die Verhältnisse und Vorgänge in der DDR zum Ausdruck bringt. Ich möchte Sie fragen: An wie vielen Tagen Sie sich in den letzten sechs Wochen in der DDR aufgehalten haben, um wirklich zu hören, was die Leute dort denken und sagen?

Dr. Jürgen Rüttgers (CDU):
Rede ID: ID1122607700
Also ich lade Sie gerne ein, Sie können morgen mitfahren, denn dann fahre ich wieder in die DDR,

(Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Da bin ich leider in Brandenburg, tut mir leid!)

für zwei Tage. Eben weil ich häufig dort bin und weil ich auch häufig mit den Kollegen, die zu uns kommen, in meiner Funktion als parlamentarischer Geschäftsführer rede, kann ich mir, glaube ich, da durchaus ein Urteil bilden.

(Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Dann kann ich aber nicht verstehen, warum Sie das hier so verniedlichen!)

— Entschuldigen Sie bitte, Herr Kollege, hier redet nicht jeder, wann er will.
Vielleicht wäre das ganze ja auch viel einfacher, wenn man sich auf der einen Seite mit Problemen und Sorgen auseinandersetzte, auf der anderen Seite aber sagen würde, daß man sich über die Ergebnisse des Prozesses des letzten Jahres auch freut und stolz darauf ist, was hier erreicht worden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will dies doch noch einmal betonen, weil ich das Gefühl habe, daß mancher in der Bundesrepublik, auch heute in dieser Debatte, so tut, als habe es keine Revolution in Deutschland gegeben, als habe in der DDR nur ein Wechsel der Führungsschicht stattgefunden, oder als wäre nur der Vorstand eines vielleicht sanierungsbedürftigen Unternehmens ausgetauscht worden.

(Dr. Vogel [SPD]: Sagen Sie das Ihrer Blockpartei!)

Ich habe zumindest, und ich glaube, das geht uns allen so, wenn wir ehrlich sind, in den letzten Monaten täglich Neues erfahren über das Ausmaß der Fäulnis des Regimes, über Korruption und Fälschung, über Lüge und Schönfärberei einer Staatspartei, die sich selbst und die Menschen betrogen hat, und über ein Regime, das die Wirklichkeit vor sich selbst geheim gehalten hat. Niemand, meine sehr verehrten Damen und Herren, weder Erich Honecker, weder Günter Mittag noch Willi Stoph wäre in der Lage gewesen, eine zutreffende Einschätzung der realen Wirtschaftslage, der wirklichen Umweltzerstörung oder



Dr. Rüttgers
der tatsächlichen Stimmung in der Bevölkerung der DDR zu geben.
Auch der vormalige sozialdemokratische Finanzminister der DDR konnte ja eben nicht rechtzeitig aussagefähige Daten über die Lage der Staatsfinanzen liefern. Aber wenn er es nicht konnte, dann, meine ich, ist auch die Forderung der SPD nach Offenlegung exakter Zahlen über die Kosten der Einheit nichts anderes als reine Polemik, weil alle Zahlen, die jetzt in die Welt gesetzt werden, reine Spekulation sind.

(Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es!)

Es gibt eben keine Eröffnungsbilanz; also sind auch alle Modellrechnungen, die uns Frau Matthäus-Maier vorlegt — durchgerechnet bis zur Frage, wieviel D-Mark pro Sekunde anfallen — , nicht das Papier wert, auf dem sie stehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wer ausschließlich die Kosten der Einheit in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, der verliert auf der anderen Seite die Kosten der Teilung aus dem Blick, und zwar nicht nur die materiellen. Er vergißt nämlich allzu leicht, daß in Zukunft die Teilung niemanden mehr das Leben kosten wird und daß den Menschen nicht mehr die Freiheit vorenthalten wird und daß in Zukunft die Teilung nicht mehr verschmutzte Flüsse und verpestete Luft kostet und daß in Zukunft die Teilung nicht mehr Hochrüstung und Feindbilderziehung erfordert.
Die Revolution in Deutschland hat den Unrechts- und Verhüllungsstaat hinweggefegt und — das ist, glaube ich, auch für die Zukunft wichtig — mit ihm das Hirngespinst einer eigenständigen sozialistischen Nation. Aber weder die Revolution noch die erste frei gewählte Regierung haben die heutige Lage in der DDR verursacht. Auch — wie so manche jetzt im Wahlkampf für die Landtagswahlen in der DDR zu suggerieren versuchen — die Wirtschafts- und Währungsunion ist nicht dafür verantwortlich.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Das wäre ja wohl das letzte!)

Durch sie wurden nur die Realitäten offengelegt.
Die Regierungen und Parlamente in beiden Teilen Deutschlands haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß diese Revolution nicht wie viele andere vor ihr nur eine Versteigerung der Vergangenheit ist, sondern auch und vor allem, so glaube ich, ein Bauplatz der Zukunft.
Mit dem Einigungsvertrag und dem Zwei-plusVier-Vertrag ist der Rahmen für die zukünftige deutsche Politik vervollständigt worden. Er muß weiter ausgefüllt werden.
Ich will auf drei Bereiche des Einigungsvertrages kurz eingehen, zunächst auf den Art. 146 des Grundgesetzes: Die neue Fassung des Artikels wird vom gleichen Grundgedanken getragen wie der bisherige Text. Ich meine, es wäre verhängnisvoll, diesen Art. 146 so auszulegen, daß in Zukunft unsere Verfassung zur Disposition einer einfachen Mehrheit steht. Der Kernbestand des Grundgesetzes ist ausdrücklich jeder Änderung entzogen. Im übrigen sind — dies ist bekannt — Verfassungsänderungen nur mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat möglich. Hier den Weg — wie wir das heute morgen noch gehört haben — zu einer Totalrevision mit einfacher Mehrheit beschreiten zu wollen, ist für mich und meine Fraktion nicht akzeptabel.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es war, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch nicht die Absicht des Parlamentarischen Rates, dies durch Art. 146 alter Fassung zu ermöglichen.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Sicher nicht!)

Das Grundgesetz wollte die Vorläufigkeit der konkreten Gestalt der Bundesrepublik Deutschland festschreiben und gleichzeitig die Endgültigkeit der Entscheidung für Demokratie und Grundrechte, für Gewaltenteilung und Föderalismus dokumentieren.
Das Grundgesetz gilt ab dem 3. Oktober in allen deutschen Ländern, und das Grundgesetz ist rechtlich und politisch voll legitimiert. Es ist — auch dies ist sehr, sehr wichtig — national und international zum Symbol einer neuen politischen Grundhaltung der Deutschen geworden. Wer hier dennoch eine Volksabstimmung fordert, dem sollte bewußt sein, daß er damit glauben macht, das geeinte Deutschland lebe ansonsten mit einer Verfassung minderer Qualität. Dies ist nicht nur sachlich falsch, sondern auch politisch gefährlich.

(Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Sehr wahr! — Such [GRÜNE]: Seltsame Logik ist das!)

Die Weitergeltung des Grundgesetzes stellt auch klar, daß ein Kurswechsel in Deutschland weder im Inneren noch nach außen ansteht. Selbstverständlich wird sich das geeinte Deutschland neuen Fragen stellen müssen. Wir können nicht im Windschatten der internationalen Politik segeln. Ebensowenig können und wollen wir Weltpolizisten sein. Aber auch die Zeit der kleinen Metternichs, die den Status quo heiligten, als sei er gottgegeben, ist vorbei. Von der Geschichte überholt ist auch die Vorstellung eines dritten Weges zwischen West und Ost.

(Frau Vennegerts [GRÜNE]: Das ist nicht wahr!)

Ich frage Sie: Wo sollte auch Platz sein für einen dritten Weg zwischen Václav Havel und Westeuropa. Nicht „der dritte Weg", sondern „die Rückkehr nach Europa" heißt deshalb das Leitwort, unter dem der Umbruch in Ost- und Mitteleuropa steht.
Unser Weg ist nicht ein Deutschland im Niemandsland, sondern ein westeuropäisches Deutschland, das Brücken schlägt, um geistig-kulturell, wirtschaftlich und politisch den Staaten des ehemaligen Ostblocks die Rückkehr nach Europa zu erleichtern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Brücken zu schlagen ist, so meine ich, auch eine innerdeutsche Aufgabe. Dies gilt insbesondere für die Lösung des Problems der Stasi-Akten. Es geht nicht um eine neue Verfolgung oder um Rache. Ich meine, gerade die letzten Tage hätten bewiesen, daß es jetzt vor allen Dingen darum gehen muß, den Schutz der betroffenen Menschen sicherzustellen, den Schutz der Menschen vor unwahren Anschuldigungen, vor



Dr. Rüttgers
gefälschten Stasi-Akten, vor Unwahrheiten in den Stasi-Akten und vor möglichen Erpressungen.

(Zuruf von den GRÜNEN: Aber der Verfassungsschutz hält sie für wahr und wertet sie aus!)

Unser Ziel muß sein: Wir müssen die Opfer schützen und nicht die Täter.

(Zuruf von den GRÜNEN: Was will denn der BND mit den Unwahrheiten?)

Ich meine, die neue Regelung im Einigungswerk ist ein guter Ansatzpunkt für die Beratungen im gesamtdeutschen Parlament.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen aus dem geeinten Deutschland ein blühendes Land machen. Das ist ein ehrgeiziges Ziel. Aber ich meine, es ist erreichbar. Dabei sind wir — kein Wunder nach 40 Jahren Sozialismus — auch mit Problemen unterschiedlicher Erfahrungen und Einstellungen konfrontiert. Sicher ist der mahnende Zeigefinger das falsche Rezept gegenüber diesen Problemen. Noch verhängnisvoller allerdings sind neue Versprechungen für eine staatlich behütete Zukunft, die wir in diesen Tagen, auch heute in dieser Debatte und besonders im Wahlprogramm der SPD, immer wieder hören.
Trotz des Umbruchs in Mittel- und Osteuropa, der ja auch die Verkrustungen staatlicher Wirtschaftspolitik abschütteln will, haben manche es immer noch nicht geschafft, endlich vom Mythos des planenden, des lenkenden, des dirigierenden Übervaters Staat Abschied zu nehmen.
Meine Damen und Herren, in diesen Tagen, am 14. September, hat Fritz J. Raddatz einen bemerkenswerten Artikel in der „Zeit" geschrieben, ein Selbsteingeständnis. Ich will dies abschließend zitieren:
Mir scheint das inzwischen ein Hokuspokus, auf Flaschen gezogenes Weihwasser; das Etikett trug den Namen „Sozialismus". Nur haben diese Flaschen, von Havanna bis Peking, nie Menschen nähren können, vielleicht einlullen.
Und weiter fordert er:
Ehrlicherweise ist einzugestehen: Mit der linken Krücke Hoffnung ging es sich besser. Ehrlicherweise ist einzugestehen: Es war ein Blindenstock. Zu verabschieden ist ein Traum. Wer den nicht lassen will, muß ihn sich künstlich erzeugen. Man macht das wohl mit Drogen .. .
Diese Erkenntnis, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist in der Tat eine Errungenschaft des realen Sozialismus und seines Bankrotts, die es auch über den Tag der Wiedervereinigung hinaus festzuhalten und zu bewahren gilt.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122607800
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Vennegerts.

Christa Vennegerts (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1122607900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich nehme an, Herr Rüttgers,
daß Sie sich gerade mindestens nicht nur im Ton, sondern auch im Wortgebrauch vergriffen haben. Dem Herrn Genscher müßte es auf diplomatischer Ebene übel aufstoßen, wenn andere Staatsmänner als Flaschen bezeichnet werden. Ich finde das unwürdig.

(Zuruf von der CDU/CSU: Er hat nicht von Staatsmännern gesprochen!)

— Ich finde das beschämend. So, das ist meine Meinung. Dafür müssen Sie geradestehen.
Nach den Bekundungen der Bundesregierung soll mit dem Einigungsvertrag die Einheit Deutschlands in Freiheit vollendet werden. Wir GRÜNEN haben mit dem damit verbundenen Hurrapatriotismus von Anfang an Schwierigkeiten gehabt. Diese rühren vor allem daher, daß die überstürzte Herbeiführung der Einheit Deutschlands im sozialen und ökonomischen Bereich zu nicht mehr beherrschbaren Einbrüchen in beiden Teilen Deutschlands zu führen droht. Durch die überstürzte Wirtschafts- und Währungsunion, durch unzureichende Maßnahmen zur Betriebsstützung lernen viele Bürgerinnen der DDR zum erstenmal und gleich von Anfang an die häßliche Seite der Marktwirtschaft kennen.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Durch Wiederholungen wird das alles nicht richtiger, was Sie sagen!)

Kurzarbeit, Massenarbeitslosigkeit und Betriebsschließungen, das ist die traurige Wahrheit.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Traurige Wahrheit sind 40 Jahre Sozialismus, dem Sie heute noch anhängen!)

Diese Phänomene sind nicht allein das Ergebnis von 40 Jahren sozialistischer Mißwirtschaft — so leicht ist das nicht —,

(Kittelmann [CDU/CSU]: Ausschließlich!)

sondern haben ihre Ursache auch in der überstürzten Währungs- und Wirtschaftsunion.
Die GRÜNEN haben von Anfang an für einen schrittweisen und zeitlich gestreckten Übergang der DDR von der Kommandowirtschaft zur sozialen und ökologischen Marktwirtschaft plädiert, weil wir zusammen mit vielen Wirtschafts- und Finanzexperten den vollständigen Kollaps der DDR-Wirtschaft befürchteten.
Jetzt erweist sich, daß aus dem von Kohl und Co versprochenen Wirtschaftswunder in der DDR eine Wirtschaftskatastrophe zu werden droht.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist eine unverschämte Unterstellung!)

Die Unternehmer aus der Bundesrepublik sehen die DDR in erster Linie als einen zusätzlichen Absatzmarkt für Westprodukte, eventuell gerade noch als verlängerte Werkbank. Auch das sind die Fakten, lieber Kollege.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Es zeichnet sich die reale Möglichkeit eines Zweiklassensystems in einem Land ab: das Aschenputtel im Osten und die reichen Stiefmütter, -brüder und -schwestern im Westen. Das sind die Tatsachen.
17858 Deutscher Bundestag — 11. Wahiperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990
Frau Vennegerts
Ein Beispiel, wie durch den Einigungsvertrag der im Grundgesetz verbürgte Anspruch auf Herstellung gleicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland ausgehebelt wird, sind die im Einigungsvertrag getroffenen Regelungen über den Länderfinanzausgleich.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist eine häßliche Rede!)

Minister Haussmann sprach hier vollmundig von der Gleichheit der Lebensverhältnisse. Warum ist das denn beim Länderfinanzausgleich nicht möglich? Die DDR-Länder werden schlechtergestellt; auch das wissen Sie. Sie werden in den Finanzausgleich nicht einbezogen. Das ist aus meiner Sicht für die DDR-Länder wirklich entwürdigend. Auch die Kommunen werden damit finanziell knapp gehalten. Länder und Kommunen erleiden insgesamt zwischen 20 und 35 Milliarden DM Einbußen. Das sind die Fakten.
Es gibt einen großen Nachholbedarf bei Infrastrukturmaßnahmen, auch das wissen Sie. Sie wissen, daß auch dies die Privatwirtschaft nicht alleine regeln wird. Hier müssen vielmehr staatliche Maßnahmen getroffen werden. Das hat, Herr Rüttgers, mit Planwirtschaft gar nichts zu tun. Davon haben Sie noch nie etwas verstanden. MBB und Daimler, allen werfen Sie staatliche Gelder durch Subventionen nach. Wenn es aber um wichtige staatliche, ökologische Investitionsprogramme geht, dann schreien Sie: Das ist verteufelt! Das ist vom Staat! — Das ist Ihre falsche Politik.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Sie haben es ja schon wieder nicht verstanden!)

Wie heuchlerisch die hochtrabenen Bekenntnisse der Bundesregierung zum einig deutschen Vaterland sind, beweist der gestrige Beschluß — Herr Schäuble sitzt hier; er hat es nämlich initiiert — der Mehrheit im Haushaltsausschuß, wonach — jetzt höre und staune man; es ist ungeheuerlich — Bundesbeamten, die nach dem 3. Oktober in das einig Vaterland Ost entsandt werden, noch eine besondere Aufwandsentschädigung von ca. 1 500 DM monatlich bis Ende Januar 1991 gewährt werden soll.

(Frau Kottwitz [GRÜNE]: Das ist ja unglaublich!)

Das ist so, als wäre die DDR Ausland und eine Art Katastrophengebiet. Es ist unglaublich, daß dies die Regierungskoalition mit Unterstützung von Herrn Schäuble, der gestern im Haushaltsausschuß war, beschlossen hat. Er spricht von Optimismus gegenüber den DDR-Bürgerinnen und -Bürgern, und zwei Minuten später wird in demselben Haushaltsausschuß ein Beschluß gefaßt,

(Kittelmann [CDU/CSU]: Können Sie nicht ein bißchen netter reden?)

daß die DDR-Bediensteten hier nur Zeitverträge bekommen. Das ist so peinlich und beschämend. Wie wollen Sie der DDR-Bevölkerung überhaupt noch klarmachen, was hier eigentlich abgeht? Ich muß wirklich sagen: Es ist ein ganz trauriges Beispiel, und es ist unglaublich, was Sie sich hier geleistet haben.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Frau Kollegin, haben Sie nicht ein freundliches Wort?)

Die finanziellen Auswirkungen für die Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik sollen durch den
Einigungsvertrag bewußt verschleiert werden. Finanzminister Waigel war nicht willens und bereit, die tatsächlichen Zahlen auf den Tisch zu legen. Die SPD hat gejammert. Überall sind nur Striche: bei der regionalen Wirtschaftsförderung, bei den Altschulden; Staatssekretär Voss weiß das alles. Nicht angegeben sind die wahren Kosten; sie sollen erst nach der Wahl auf den Tisch. Die Finanzierung ist nicht gesichert.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist doch nicht wahr!)

Es soll angeblich nur die Verschuldung erhöht werden. Die SPD lamentiert und enthält sich gerade noch vornehm bei diesem Punkt.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Gut, daß wir Sie haben!)

Dann nehmen Sie einmal ein anderes Problem. Die ganze Finanzierung ist nicht gesichert. Sie treiben die Bevölkerung, uns alle, in eine nicht verantwortbare Verschuldung hinein. Das wird auf dem Buckel der sozial Schwachen ausgetragen. Das sind die Fakten.
Wir wollen eine Ergänzungsabgabe für Höherverdienende. Wir wollen einen Solidarbeitrag der Wirtschaft. Die Wirtschaft soll verdienen; aber sie soll genauso wie die Höherverdienenden in unserer Gesellschaft einen Beitrag für die Einheit Deutschlands liefern. Das würde Optimismus in der DDR auslösen, nicht aber fromme Sprüche von Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir GRÜNEN werden weiterhin für eine gerechte

(Kittelmann [CDU/CSU]: Gerechte?)

und ökologische Gesellschaft kämpfen. Wir werden uns dabei auch nicht von einer schlappen SPD in irgendeiner Form einbinden lassen, die zwar ihre Oppositionskritik immer sehr wortreich vorträgt, aber umkippt, wenn es zum Schwur kommt.

(Beifall bei den GRÜNEN — Kittelmann [CDU/CSU]: Die PDS wartet schon auf Sie!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122608000
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.

(Beifall bei der FDP)


Dr. Hildegard Hamm-Brücher (FDP):
Rede ID: ID1122608100
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Vennegerts, deren Sachverstand ich in diesen Jahren immer wieder einmal sehr geschätzt habe, ich möchte Ihnen und all denen, die hier stets diese Horrorgemälde über die Katastrophenlage der DDR und über die Zukunft wählen, die heutige Losung der Herrnhuter Brüdergemeinde ans Herz legen. Es steht nämlich unter dem 20. September dieses Jahres — das wurde übrigens vor drei Jahren ausgewählt, ist aber für diesen Tag ungeheuer passend — ein Vers aus dem 3. Buch Moses, Kapitel 26: „Ihr sollt Brots die Fülle haben und sollt sicher in eurem Lande wohnen. " Eine schönere Losung für die Verabschiedung — —

(Frau Vennegerts [GRÜNE]: Wenn es nur wahr wäre, Frau Kollegin!)




Frau Dr. Hamm-Brücher
— Ich wollte die Sache nur etwas entkrampfen, Frau Kollegin, und manchmal sind Losungen dazu ganz gut geeignet.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN — Such [GRÜNE]: Wer wäre denn dagegen? — Zuruf von der CDU/CSU: Wer wäre denn in der Lage, die GRÜNEN zu entkrampfen?)

— Es ist uns doch allen gelegentlich schon gelungen, hier einmal eine gewisse Entkrampfung herbeizuführen, und sei es auch nur durch ein Bibelwort oder einen guten Scherz.
Mein Beitrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, setzt an den nachdenklichen Ausführungen des Kollegen Stobbe an; denn auch ich verstehe die Verabschiedung des Vertrags über die Herstellung der Einheit Deutschlands als Abschied und Neuanfang zugleich: Abschied von der Nachkriegsepoche in Deutschland und Europa. Zu diesem Abschied und Neuanfang hat unser Außenminister heute und in der Vergangenheit immer wieder Wegweisendes beigetragen, für das ich ihm auch persönlich in diesem Augenblick noch einmal ganz herzlich danken möchte.

(Beifall bei der FDP, bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Vogel [SPD])

Es geht auch um einen Abschied von der bundesrepublikanischen Nachkriegsdemokratie, die Männer und sehr wenige Frauen der sogenannten ersten Stunde vor 45 Jahren auf den materiellen und geistigen Trümmern des nationalsozialistischen Unrechtsstaats zu errichten begannen, von einer Nachkriegsordnung, die sich bewährt hat. Deshalb wollen wir auch in diesem Augenblick der Gründungsväter unserer Republik und unserer Verfassung dankbar gedenken.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es geht auch um einen Abschied für viele von uns hier im Deutschen Bundestag und drüben in der Volkskammer. Ich zähle auch zu denen, die von der aktiven Politik Abschied nehmen werden. Da ich eine der ganz wenigen Politikerinnen der ersten Stunde bin, sei es mir gestattet, in diesen letzten Stunden meines parlamentarischen Mandats einige Gedanken auszusprechen, die mich in diesem Augenblick des Abschieds und des Neuanfangs doch sehr bewegen.
Mein politisches Denken ist von den Erfahrungen meiner Jugend- und Studentenzeit geprägt, von der Schreckensherrschaft der Nazis, der Ächtung, Verfolgung und Vernichtung Andersdenkender, Anders-glaubender, anderer Rassen und Kulturen, aber auch von der Erfahrung der weitgehenden Zustimmung, die der Nationalsozialismus in weiten Teilen unseres Volkes gefunden hatte.
Deshalb war ich nach 1945 entschlossen, dazu beizutragen, daß sich in Deutschland nie wieder, nicht einmal im Keime, eine Diktatur, welcher Prägung auch immer, wiederholt.
So erklärt es sich, daß ich zu einer radikalen Demokratin wurde, der nicht Deutschland über alles ging. Die Schaffung eines freiheitlichen Gemeinwesens —
das ging mir über alles, oft auch über Parteigrenzen hinweg.
So erklärt es sich auch, daß ich mehr als 40 Jahre vor allem und immer wieder für eine gelebte und für eine glaubwürdige Demokratie gestritten habe und daß ich angesichts vieler Defizite, Versäumnisse und Schwächen mit ihrer Entwicklung nicht zufrieden war und bin. Wenn ich gelegentlich Freunde und Kollegen damit verletzt habe, dann möchte ich in diesem Augenblick dafür ausdrücklich um Verständnis bitten; es wurzelt alles in dieser Erfahrung meiner Jugend.
So erklärt es sich schließlich, daß sich bei mir in Freude und Dankbarkeit über die Vereinigung der beiden Deutschlands auch Besorgnisse mischen, ja Zweifel, ob die überstürzten Abläufe der letzten Wochen und Monate im Strudel parteipolitischer Machtkämpfe einem wirklichen neuen demokratischen Anfang zuträglich sind oder ob es hierbei nur um Macht und Mehrheiten geht.
Bitte verstehen Sie meinen Beitrag zu dieser Thematik nicht als Besserwisserei mit erhobenem Zeigefinger, sondern eben als einen Beitrag einer altgedienten Freien Demokratin. Ich sorge mich aufrichtig, ob auch wir hier in der Bundesrepublik Deutschland die Chance dieses Neubeginns begreifen und sie auch auf unserer Seite für eine Bestandsaufnahme der äußeren und inneren Verfassung unseres demokratischen Gemeinwesens nutzen,

(Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

statt nur einfach selbstzufrieden fortzuschreiben, was bisher war.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den noch vor kurzem und immer wieder beklagten Ansehensverlust von Parteien und Parlamenten, an die Entfremdung zwischen Politikern und vor allem jungen Bürgern, die wir doch alle beklagen müssen. Ich erinnere an die vielen Anzeichen für die Verwilderung unserer demokratischen Kultur, an die doch offenkundigen Schwächen des parlamentarischen Systems. Die Beratungen des Staatsvertrages müssen doch auch dem letzten Kollegen klargemacht haben, daß das Parlament als erste Gewalt im Staat in der Zukunft dringend aufgewertet werden muß.

(Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜNEN)

Ich erinnere auch an das Wiedererstarken des Rechtsradikalismus und an die erst in jüngster Zeit wieder mit Hakenkreuzen geschändeten jüdischen Friedhöfe in unserem Land. Hier steht es wirklich nicht zum besten in unserer Demokratie.
Ich denke, daß auch diese Sachverhalte heute Anlaß genug zur Selbstbesinnung sein sollten. Sie dürfen nicht einfach unter den „Vereinigungsteppich" gekehrt werden;

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

davor, meine Damen und Herren, möchte ich in dieser Stunde warnen.



Frau Dr. Hamm-Brücher
Mit den Staatsverträgen allein — mögen sie noch so vollständig und vorzüglich sein — wird es keinen neuen demokratischen Anfang geben, auch nicht mit einer einmaligen Wahlentscheidung am 2. Dezember, bei der es ja um den Machtanteil der Parteien geht, nicht aber um die Grundlagen und die Grundwerte einer gemeinsamen deutschen Verfassung, einer geschriebenen, einer gelebten und einer erlebten Verfassung. Deshalb möchte ich dafür plädieren, daß wir die Chance nutzen, die die Vereinigung für einen neuen gemeinsamen demokratischen Anfang eröffnet.
Dazu gehört auch und vor allem, daß wir nicht vergessen und verdrängen dürfen, was zum militärischen, staatlichen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenbruch 1945 und in der Folgezeit zur deutschen Teilung geführt hat.
Erinnern heißt,
— jetzt zitiere ich noch einmal Richard von Weizsäcker aus seiner historischen Rede vom 8. Mai 1985 —
eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.
Und weiter:
Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen.
Jüngere und Ältere müssen und können sich gegenseitig helfen, zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten.
Wir wissen aus leidvoller Erfahrung, meine Damen und Herren, daß dieses Erinnern für uns immer wieder eine mühsame Aufgabe war und daß es das auch in Zukunft bleiben wird, ob es sich um die unerledigten Kapitel der Nazi- oder nun auch der Stasi-Vergangenheit handelt.
So gelesen, liebe Kolleginnen und Kollegen, halte ich die Präambel zum Einigungsvertrag und die entsprechenden Passagen in der dazugehörigen Denkschrift leider für völlig ungenügend. Hier hätte — statt in verschwommenem Beamtendeutsch zu formulieren — mit einem klaren moralischen Bekenntnis zu unserer geschichtlichen Erblast ein guter neuer Anfang gemacht werden können.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Das ist leider versäumt worden, und ich bedaure das.
Zu einem neuen demokratischen Anfang gehört auch und vor allem die Besinnung auf den eigentlichen Kraftquell der Demokratie. Dieser Kraftquell, liebe Kolleginnen und Kollegen, das spüren wir alle, ist kein Staatsvertrag, keine Parteienmehrheit, von welcher Seite auch immer, sondern eben eine gemeinsame Verfassung, von der Theodor Heuss nach seiner Wahl am 12. September 1949 auf dem Bonner Marktplatz sagte, daß die Verfassung im Bewußtsein und in der Freude des Volkes lebendig werden müsse, anderenfalls bliebe sie eine Machtgeschichte von Parteien-
kämpfen, die wohl notwendig seien, aber nicht ihren inneren Sinn erfüllten.
Herr Präsident, ich bitte Sie um Verständnis. Meine Fraktion hat mir zugestanden, daß ich heute noch eine weitere Seite zu Ende führen darf.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Dieses Blinken hat mich schon immer irritiert. Es irritiert mich auch heute bei meiner letzten Rede.

(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen — Dr. Vogel [SPD]: Gar nicht darauf achten!)

— Ich kann es ja nicht zudecken.

(Dr. Vogel [SPD]: Hand drauflegen!)

Meine Damen und Herren, ich wiederhole: Eine Verfassung, lebendig im Bewußtsein und in der Freude des Volkes, heute noch in West und Ost, nach dem 3. Oktober vereinigt — das ist es, was wir uns wohl alle als Kraftquell unserer Demokratie wünschen. Dazu gehört dann aber auch, daß die Verfassung vom Volk, von den Bürgerinnen und Bürgern in doppeltem Wortsinn, Herr Kollege Rüttgers, angenommen wird, einmal durch eine gemeinsame Anstrengung der gewählten Volksvertreter und dann durch ein Votum des Volkes, mit dem die Akzeptanz bekundet werden kann.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Zur Begründung möchte ich auch uns, die wir in dieser Frage zögerlich sind, daran erinnern, wie begeistert wir doch alle über den zehntausendfachen Ruf in den Oktober- und Novembertagen 1989 „Wir sind das Volk" und wenig später „Wir sind ein Volk" waren. Wenn wir diese Begeisterung nicht auf Sonntagsreden reduzieren wollen, dann gehört doch folgerichtig beides zusammen: Das deutsche Volk muß sich durch seine frei gewählten Vertreter die gemeinsame Verfassung für unser freiheitliches Gemeinwesen geben, und dann muß ein vereintes Volk durch ein Votum darüber befinden können.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Erst aus dieser Beteiligung kann Gewißheit für ein neues Zusammenleben und für die eigenen Rechte und Pflichten der Bürgerinnen und Bürger erwachsen. Soll der Beitritt der DDR nach Art. 23 des Grundgesetzes mehr und etwas anderes als ein Anschluß sein, dann brauchen wir hierfür mehr Geduld und langen Atem.
Das hat der thüringische Landesbischof Werner Leich, der einer jener tapferen Repräsentanten des Protestantismus in der DDR war und ist und den wir auf den gemeinsamen Kirchentagen zusammen mit Richard von Weizsäcker und Erhard Eppler so oft erleben und bewundern konnten, wie ich glaube, uns allen vor wenigen Tagen in Bonn ins Stammbuch geschrieben: mehr Geduld und langen Atem.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aus all diesen Gründen — ich wende mich vor allem an die Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion und der Koalition — fände ich es nicht nur bedauerlich,



Frau Dr. Hamm-Brücher
sondern vielleicht verhängnisvoll, wenn der Ruf nach einer Weiterentwicklung des Grundgesetzes über technische Veränderungen hinaus und nach einem Neudurchdenken der Grundlagen nur eine Forderung der sogenannten Linken in unserem Lande bliebe.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Nein, ich will hier gar nicht irgendeine Zustimmung provozieren, sondern eigentlich nur zu noch etwas mehr Nachdenklichkeit aufrufen, als wir in der Hitze der vielen Aufgaben im Augenblick dafür aufbringen konnten. Ich bin der Meinung, dies ist ein Thema, das noch nicht ausgereift diskutiert worden ist.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122608200
Nein, Frau Kollegin Dr. Hamm-Brücher, eine weitere Überziehung der Redezeit können wir den anderen Kollegen nicht zumuten.

Dr. Hildegard Hamm-Brücher (FDP):
Rede ID: ID1122608300
Meine Redezeit geht zu Ende.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122608400
Sie ist zu Ende.

Dr. Hildegard Hamm-Brücher (FDP):
Rede ID: ID1122608500
Ich möchte auch den geduldigen Herrn Vizepräsidenten mit dem langen Atem nicht länger strapazieren. Aber ich möchte zu Abschied und Neuanfang als persönliche Erfahrung zitieren, was Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen" so verdichtet hat:
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne, um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andere, neue Bindungen zu begeben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Dieser Zauber des Neuanfangs, liebe Kolleginnen und Kollegen, der uns beflügeln kann und beflügeln soll — das ist es, was ich Ihnen in Dankbarkeit für viele Jahre des Mit-, gelegentlich auch des Gegeneinanders zum Abschied wünsche.
Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei allen Fraktionen)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122608600
Frau Dr. Hamm-Brücher, wir alle haben Ihnen Beifall gezollt. Wir hier oben dürfen es nicht; sonst hätten wir es getan. Aber um bei den Scherzen und den humorvollen Bemerkungen zu bleiben, die Sie uns anempfohlen haben: Ich hoffe, heute Abend auch einen so großzügigen Präsidenten zu haben, wenn es um die Redezeit geht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Jetzt hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung das Wort.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1122608700
Herr Präsident! Liebe Frau Hamm-Brücher! Ihre Rede steht in Übereinstimmung mit dem schönen Gedicht von Hermann Hesse: Wir stehen in der Tat am Ende einer Epoche, der Nachkriegszeit, und es gibt einen neuen Anfang für Deutschland. Es muß Sie doch mit großer Zufriedenheit ausstatten, daß Sie Ihre Abschiedsrede zu einem Thema gehalten haben, von dem wir uns alle die Erfüllung nicht hätten träumen lassen. Deutschland frei, einig, friedlich vereinigt — das ist doch eigentlich das schönste Abschiedsgeschenk, das sich ein Parlamentarier vorstellen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Such [GRÜNE]: Peinlich!)

Daß die Bundesrepublik über Jahre hinaus ein Magnet der Freiheit bleiben konnte und daß die Bundesrepublik, Freiheit und Menschenrechte erlangen und bewahren konnte, verdanken wir auch streitbaren Demokraten, die diese Republik zu dem gemacht haben, was sie in unserer Geschichte ist: die freieste und sozialste Republik, die es je auf deutschem Boden gab. Dafür danken wir Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Such [GRÜNE]: Das ist doch bei unserer Vergangenheit gar nichts! — Bindig [SPD]: Diese Rede hat Frau Hamm-Brücher nicht verdient!)


(Vorsitz: Vizepräsidentin Renger)

Manches Gezänk wird dem mildherzigen Vergessen der Geschichte anheimfallen. Bleiben wird: Der 3. Oktober 1990 ist der glücklichste Tag für die Deutschen in diesem Jahrhundert. Ich kenne kein anderes Datum, ich kenne kein anderes Jahr,

(Such [GRÜNE]: Weihnachten ist noch schöner!)

zu dem die Deutschen glücklicher gewesen wären als jetzt im Jahr 1990.
1914 wird als der Beginn des Ersten Weltkriegs in Erinnerung bleiben, 1939 als Beginn des Zweiten Weltkrieges — ein schlimmes Datum. 1990 wird das beste Datum sein.
Ich gebe zu: Große Schwierigkeiten und große Herausforderungen sind mit der deutschen Einheit verbunden. Aber nennen Sie mir einmal ein großes Ziel in der Geschichte der Menschheit, das nicht mit großen Hindernissen verbunden war. Nennen Sie mir eine große Aufgabe, die nicht mit großen Schwierigkeiten verbunden war.
Es wird wohl jeder zugeben: Es gab in der Geschichte unseres Volkes größere Probleme, mit denen wir fertig geworden sind: Kriege, die wir erleiden mußten, mit Millionen von Toten, Witwen und Heimatvertriebenen. Das liegt doch nicht Jahrhunderte zurück. Damit ist unser Volk fertig geworden. Ich finde, dann werden wir doch die Früchte einer friedlichen Revolution für eine gute Zukunft unseres Vaterlandes nutzen können.
Meine Damen und Herren, Sie können die Debatte nicht immer nur über die Kosten führen. Ich will die Kosten nicht verschweigen. Ich sage nur: Amerika ist nicht von Buchhaltern entdeckt worden, und auch die deutsche Einheit wollen wir nicht den Kostenrechnern überlassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])




Bundesminister Dr. Blüm
Wir bauen ein neues Haus Deutschland. Natürlich, eine Baustelle ist nicht bequem, eine Baustelle ist kein Kurpark.

(Heiterkeit)

Aber wir bauen ein neues Haus Deutschland, unter dessen Dach alle Deutschen in Frieden und Freiheit leben.
Lassen Sie mich auch zu den Kostenrechnern etwas sagen: Wir schreiben das Jahr 1990. Ich gebe zu: Würden wir das Jahr 1982 schreiben, wäre es schwieriger, die deutsche Einheit zu finanzieren.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Damals war der Staatshaushalt völlig heruntergekommen. Damals standen die Sozialsysteme kurz vor der Zahlungsunfähigkeit.

(Widerspruch bei der SPD)

— Herr Vogel sagt: Immer der gleiche Quatsch! — Die Wahrheit kann man nicht oft genug wiederholen: Damals gab es rote Zahlen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Damals hatten wir ein Minuswachstum. Ein Prozentwachstum — inzwischen haben wir 4 % — bedeutet Mehreinnahmen von 23 Milliarden DM für die Bundesrepublikaner. Jetzt haben wir ein Wachstum von 4 %. Das sind — 4 mal 23 — fast 100 Milliarden.
Allein die boomende Wirtschaft bringt es zustande, das Bund, Länder und Gemeinden 1990/91 35 Milliarden DM mehr an Steuereinnahmen haben.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122608800
Herr Bundesminister, gestatten Sie Zwischenfragen zunächst von Herrn Dreßler und dann von Frau Vollmer?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1122608900
Bitte schön.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1122609000
Herr Blüm, Sie haben soeben über die Liquidität der Sozialsysteme philosophiert und das Jahr 1982 angesprochen. Würden Sie mir zustimmen, daß damals, als Sie ins Arbeitsministerium eingezogen sind, die Rücklagen der deutschen Rentenversicherung exakt zwei Monatsausgaben betrugen und daß auch die augenblicklichen Rücklagen der Rentenversicherung eben diese Ausgaben für zwei Monate betragen?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1122609100
Ich bin Ihnen für diese Frage dankbar. Ich nenne Ihnen die exakten Zahlen: Als ich mein Amt übernahm, hatte die Rentenversicherung 1983 — im ersten Jahr — ein Defizit von 5,5 Milliarden DM. Heute hat sie eine Rücklage von 33 Milliarden DM. Das ist der Unterschied zu damals.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dreßler [SPD]: Das ist ungeheuerlich! Das ist unglaublich!)

Wenn nichts geschehen wäre, wären wir im August 1983 zahlungsunfähig gewesen. Wir haben heute den höchsten Überschuß in der Sozialversicherung seit Beginn der Republik und die höchsten Rücklagen in der Rentenversicherung seit 1976. Ich bedanke mich
deshalb sehr, daß der Kollege Dreßler mir die Gelegenheit gab, dies klarzustellen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122609200
Herr Bundesminister, zwei Damen möchte Sie noch etwas fragen, nämlich Frau Dr. Vollmer und Frau Unruh.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1122609300
Bitte schön.

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122609400
Herr Bundesminister, da Sie gerade wieder beim Thema Erblasten sind, frage ich Sie: Finden Sie nicht, daß es irgendwann auch einmal an der Zeit wäre, daß Sie in dem hohen Ton, den Sie ja durchaus anzuschlagen verstehen, etwas über das positive Erbe sagen, das diese Regierung angetreten hat und für das sie nicht gearbeitet hat, und daß Sie auch etwas über das ungeheure Glück sagen, daß Sie auf der Basis einer Revolution, die Sie nicht gemacht haben, Politik machen konnten?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1122609500
Frau Kollegin Vollmer, ich würde nie — auf diesen Gedanken komme ich überhaupt nicht — meinen großen Respekt gegenüber den Bürgern in der DDR für ihre friedliche Revolution in Abrede stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich füge nur hinzu, daß dieser geradezu eruptive Aufbruch der Freiheit in der Bundesregierung ein Echo gefunden hat und daß diese Kräfte im Zehn-PunkteProgramm kanalisiert worden sind. Sie haben doch nur die Antwort „nein" gegeben; Frau Vollmer, Sie geben doch bis heute die Antwort „nein".

(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber es bleibt dabei, Frau Vollmer: Ich habe großen Respekt vor dem Mut und dem Freiheitswillen unserer Mitbürger in der DDR. Das bleibt unbestritten. Sie haben das große Verdienst, sozialistische Unterdrükkung abgeschüttelt zu haben.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122609600
Frau Unruh möchte ebenfalls noch eine Zwischenfrage stellen. — Frau Unruh, bitte.

Gertrud Unruh (GRÜNE):
Rede ID: ID1122609700
Herr Minister, warum leisten wir uns ein Berufsbeamtentum, das ohne eigene Einzahlungen eine Mindestpension zur Zeit von 1730 DM ermöglicht, und warum leisten wir uns trotz unseres Reichtums nicht eine Mindestrente von zur Zeit 1 200 DM für Menschen über 65 Jahre, die arm geblieben sind?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1122609800
Frau Kollegin, ich wollte jetzt eigentlich keine Debatte über den öffentlichen Dienst führen. Aber Sie geben mir auch Gelegenheit, zu sagen, daß ich es sehr wohl zu schätzen weiß, daß eine loyale Beamtenschaft diesen demokratischen Staat getragen hat. Auf diese möchten wir nicht verzichten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zur Mindestrente komme ich gleich im Zusammenhang mit dem Sozialstaat Deutschland.



Bundesminister Dr. Blüm
Vielleicht sollten Sie mich auch noch einmal auf soziale Grundrechte im rechtsstaatlichen Gewand ansprechen. Ist es nicht eine große Errungenschaft, daß es jetzt in der DDR die freie Berufswahl statt ideologischer Zugangssperren gibt und daß junge Leute zu Berufen Zugang haben, zu denen sie früher nur mit Parteibuch Zugang hatten? Ist das keine Veränderung?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ist es keine Errungenschaft, daß es jetzt freie Gewerkschaften an Stelle von Harry Tischs Unterdrükkungsapparatur mit hohem Freizeitwert für Bonzen gibt? Sind freie Gewerkschaften kein Fortschritt?

(Reuschenbach [SPD]: Mein Gott, Sie reden über freie Gewerkschaften immer nur im Ausland! Im eigenen Land kritisieren Sie sie laufend!)

— Zu den freien Gewerkschaften gehört wie zu einer freien Regierung, daß sie kritisiert werden dürfen; das ist mein Freiheitsverständnis.

(Beifall bei der CDU/CSU — Reuschenbach [SPD]: Das ist mager!)

Meine Damen und Herren, ich wollte jetzt über sozialstaatliche Verbesserungen im Zusammenhang mit der deutschen Einheit sprechen, und zwar nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit. Lassen Sie mich nur ein paar Fakten nennen.
Herr Dreßler, es tut mir leid, daß ein so großer zeitlicher Abstand zwischen Ihrer Rede und meiner Antwort liegt.

(Reuschenbach [SPD]: Es ist nicht nur ein zeitlicher, sondern auch ein qualitativer!)

— Das ist richtig.
Nun, meine Damen und Herren, zur Rentenversicherung: Mit der Sozialunion ist die durchschnittliche Rente in der DDR um 30 % gestiegen. Das müssen wir doch einmal weitersagen, um auch Hoffnung in der DDR zu wecken. Die durchschnittliche Rente ist um 30 % gestiegen, und zwar in D-Mark und nicht in alter verlotterter Ost-Mark.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich füge jetzt auch hinzu: Nach der voraussichtlichen Entwicklung wird die nächste Rentenerhöhung in der DDR, für die ich kein Datum angegeben habe, Herr Dreßler, mindestens — so schätze ich — doppelt so hoch ausfallen wie hier. Ist das keine gute Nachricht für die Rentner in der DDR? Wir werden im nächsten Jahr eine Rentenerhöhung um 4,8 % haben. Das ist die größte Rentenerhöhung seit 1983 im westlichen Teil Deutschlands. Sie fällt auch dadurch so hoch aus, daß die Krankenversicherungsbeiträge sinken. Die Renten im Gebiet der ehemaligen DDR werden mindestens — so schätze ich — doppelt so stark steigen wie im westlichen Teil Deutschlands. Ich sage den Rentnern hier in der Bundesrepublik: Dafür besteht auch ein Grund; denn die Renten in der DDR sind nur halb so hoch, und unsere Landsleute müssen aufholen. Wer aufholen will, muß ein höheres Tempo fahren als wir.
Was die Mindestrente anbelangt: Sehr geehrter Herr Dreßler, von großem quantitativem Gewicht war
sie nicht. 60 Millionen DM bei einer Monatsausgabe von 2,2 Milliarden DM hat sie ausgemacht. Ich will mit Ihnen aber nicht über die Beträge streiten. Ich bleibe Gegner einer Mindestrente, die ohne Rücksicht darauf gezahlt wird, ob Bedarf vorliegt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Denn die Höhe einer Rente sagt noch gar nichts über das Einkommen eines Haushalts aus, auch in der DDR nicht. Es ist ein Unterschied, ob ein Haushalt von einer Rente oder von zwei Renten lebt. Ich bleibe dabei, daß die Rente lohnbezogen sein muß und daß wir das Armutsproblem, das ich so ernst nehme wie Sie, mit anderen Instrumenten lösen müssen, allerdings mit bedarfsabhängigen Instrumenten.
Was die Witwenversorgung anbelangt, kann man nur froh sein, daß die DDR unsere Rentenregelung für Hinterbliebene übernimmt. Hätten Sie, Herr Dreßler, sich damals mit der Teilhaberente durchgesetzt, hätten sich gerade die Witwen, die eine eigene Rente haben — solche gibt es in der DDR mehr als hier —, schlechtergestellt als mit unserer Form der Hinterbliebenenrente.

(Beifall des Abg. Hornung [CDU/CSU])

Ich möchte in dieser Debatte, in der vieles beklagt worden ist, auch gegenüber unseren Landsleuten in der DDR sagen: Wir versprechen keine Wunder. Wir wissen auch, daß vor uns eine schwierige Strecke liegt. Aber lassen Sie uns auch die handfesten Verbesserungen nennen. Ist hier jemand, der bestreitet, daß die Einführung der Kriegsopferversorgung in der DDR eine Verbesserung ist? 40 Jahre lang sind die Kriegsopfer und die Kriegerwitwen in der DDR verachtet und vergessen worden. Ab 1. Januar 1991 wird es in der DDR eine ordentliche Kriegsopferversorgung geben. Warum reden Sie davon nicht?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Über 1 Milliarde DM wird sie kosten, inklusive Fürsorge, Pflegezulage, Berufsschadensausgleich und Heilfürsorge. Das ganze System, das wir in 40 Jahren geschaffen haben, soll jetzt auch im anderen Teil Deutschlands gelten. Die Kriegsopfer in der DDR sind 40 Jahre verachtet worden. Es ist eine späte Anerkennung ihrer Opfer. Für viele kommt sie zu spät — sie sind gestorben — , aber für viele auch nicht zu spät.
Dann hat Herr Dreßler gesagt, Sie wollten die Gesundheitsreform zurücknehmen. Herr Dreßler, wollen Sie zurücknehmen, daß ab 1. Januar 1991 auch in der DDR die Schwerstpflegebedürftigen entweder ein Pflegegeld von 400 DM oder Sachleistungen in Höhe von 750 DM erhalten? Das ist ein gewaltiger Fortschritt für die Schwerstpflegebedürftigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Zählt man die Sachleistungen und die Aufwendungen für Ersatzpflegepersonal bei Urlaub des Angehörigen zusammen, bekommen der Schwerstpflegebedürftige bzw. seine Angehörigen 10 800 DM im Jahr, und zwar ab 1. Januar 1991. Das gilt für unsere Mitbürger in der DDR wie für unsere Mitbürger hier. Das ist eine Frucht



Bundesminister Dr. Blüm
der Gesundheitsreform. Gott sei Dank können die Bürger in der DDR diese Frucht mit genießen.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Das bekommen doch die allerwenigsten!)

Ihr ganzes Gemäkel wird diesen sozialen Fortschritt nicht schmälern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will auch von den Schwierigkeiten reden.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Sagen Sie einmal, wer das bekommt!)

Einen Sozialstaat aufzubauen, an dem wir 40 Jahre gearbeitet haben, bedeutet viel Mühe. Wir müssen eine Arbeitsverwaltung aufbauen. 17 000 Beschäftigte werden dort Arbeit finden. Es werden eine Rentenversicherung mit 11 000 Mitarbeitern und eine gegliederte Krankenversicherung mit 12 000 Mitarbeitern entstehen. Insgesamt werden in der Sozialversicherung, die aufzubauen ist, 45 000 Mitarbeiter Beschäftigung finden. Freilich ist es eine fast nicht zu leistende Arbeit, das, was wir in 40 Jahren geschaffen haben, jetzt in wenigen Monaten aufzubauen. Wenn Sie immer miesmachen, wenn Sie nur Pessimismus ausstreuen, ist diese Aufgabe allerdings nicht zu schaffen. Sie ist nur zu schaffen mit dem Bewußtsein: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Und wir wollen den Sozialstaat im anderen Teil Deutschlands aufbauen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will von einer anderen Schwierigkeit reden. Die Beiträge müssen eingehen. Auch das ist eine Pflicht des Sozialstaats. In der alten sozialistischen Gulaschkanone ist das alles untergegangen. Hier werden wir eine große Anstrengung leisten müssen. Wir brauchen ein ordentliches Beitragseinzugsverfahren. Ich danke allen Sozialversicherungsträgern, der Rentenversicherung, der Krankenversicherung, der Arbeitslosenversicherung, daß sie jetzt mit mehreren hundert Mitarbeitern in den anderen Teil Deutschlands gehen, um beim Aufbau einer ordentlichen Sozialverwaltung zu helfen. Die tun mehr für den Sozialstaat Deutschland als all die Mäkler und Miesmacher, die ich heute morgen so oft gehört habe. Die helfen den Leuten!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will noch ein zweites nennen. Natürlich kann man mit Beiträgen von Löhnen, die halb so hoch sind wie hier, nicht die gleichen Leistungen wie hier bezahlen. Mir mag einer komplizierte ordnungspolitische Vorträge halten, mir langt die Mathematik: Mit halb soviel Geld kann ich nicht die gleichen Arzthonorare, Zahnarzthonorare und Arzneimittelpreise wie hier bezahlen. Daran führt kein Weg vorbei. Deshalb war es notwendig, Einnahmen und Ausgaben in der Balance zu halten. Zu den Geheimnissen einer seriösen Sozialpolitik gehört ja, daß sie Einnahmen und Ausgaben in der Balance hält. Wie die Kriegsopfer, wie die Rentner, die auch nicht sofort auf 100 % kommen, so werden auch Ärzte und Zahnärzte nicht sofort das Honorar wie hier haben können. Es bleibt dabei, daß sie trotz eines Einstiegswinkels von 45 % ein Honorar erhalten werden, das in der Regel dreimal so hoch ist wie das Honorar, das sie bisher bezogen haben.
Ich halte das Verlangen, daß man, wenn man sich niederläßt, auch Investitionen tätigen muß, sehr wohl für berechtigt. Aber das heißt doch nicht, daß es den Röntgenapparat auf Krankenschein gäbe. Dafür ist doch die Krankenkasse nicht zuständig. Hier gibt es das Angebot von ERP-Programmen und Eigenkapitalhilfeprogrammen. Es wird übrigens von Zahnärzten und Apothekern mehr genutzt als von Ärzten. Es kommt also auch darauf an, Mitteilungen von dem vorhandenen Angebot zu machen.
Auch für die Hersteller von Arzneimitteln gilt, daß sie nicht die gleichen Preise wie hier erheben können. Ich bin für jeden Vorschlag dankbar, aber es geht nicht, daß man in der DDR die gleichen Arzneimittelpreise wie bei uns nimmt, und das bei Beiträgen, die Löhnen entsprechen, die halb so hoch sind wie bei uns. Das geht nicht. Wir sind Vertreter des Gemeinwohls, wir sind nicht der verlängerte Arm der Lobbyisten. Deshalb sage ich: Liebe Lobbyisten, überlegt nicht immer, was ihr aus dem Prozeß der deutschen Einheit herausholen könnt, sondern überlegt lieber, was ihr für Deutschland tun könnt!

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Alles dreht sich um die Frage „Arbeit für alle". Eine Planwirtschaft kann mit Kommandos arbeiten, eine Soziale Marktwirtschaft ist auf Initiative, auf Innovation angewiesen. Deshalb brauchen wir Unternehmer, die investieren. Die Bremsklötze der Bürokratie müssen weg. Auch eine neue Mentalität muß Platz greifen, und zwar dahin gehend, daß der Staat nicht alles leisten kann.
Wir brauchen Qualifizierung. Die Kurzarbeiterregelung hat geholfen, schlimme soziale Dammbrüche zu verhindern, aber sie muß mehr als bisher mit Qualifikation verbunden werden. Sie kann nicht eine sozusagen staatlich finanzierte Arbeitszeitverkürzung sein. Ich möchte dem DGB und der BDA danken, daß sie ein gemeinsames Bündnis für eine Qualifizierungsoffensive im anderen Teil Deutschlands geschlossen haben. Verlangt nicht alles vom Staat; das ist der falsche Weg. Wir brauchen mehr Partnerschaft zwischen den beiden Teilen Deutschlands, wir brauchen mehr Partnerschaft zwischen den Gewerkschaften, den Arbeitgebern und der Regierung. Ich fordere uns auf, uns dieser großen Herausforderung mit allen unseren Kräften zu stellen.
Ich muß sagen: Ich bin froh, daß wir nicht nur Zeitzeugen, sondern auch Mitgestalter der deutschen Einheit sind. Ich empfinde unsere Aufgabe nicht so, als würden wir einen perfekten Sozialstaat übergeben. Natürlich muß der gemeinsame Sozialstaat Deutschland weiterentwickelt werden. Vielleicht reißt uns die deutsche Einheit auch aus mancher liebgewonnenen Routine hier, aus mancher Gewohnheit. Ich glaube, daß auch unser Sozialstaat, wie er hier gebaut wurde, gemeinsam weiterentwickelt werden muß, auch mit den Erfahrungen der Bürger aus dem anderen Teil Deutschlands. Der größte Nachholbedarf aber scheint mir darin zu bestehen: Wir dürfen nicht alles den großen kollektiven Sicherungssystemen überlassen, sondern es gilt, eine neue Kultur der Nachbarschaft — nicht nur für die Bundesrepublik als ein Teil Deutschlands, sondern für ganz Deutschland — zu



Bundesminister Dr. Blüm
begründen und unseren Sozialstaat weiterzuentwikkeln.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122609900
Ich erteile dem Herrn Abgeordneten Dreßler das Wort zu einer Kurzintervention von höchstens zwei Minuten.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1122610000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Frage der Liquidität der Rentenversicherung 1982 und 1989 hat hier soeben eine Rolle gespielt. Ich nehme das Mittel der Kurzintervention deshalb in Anspruch, weil ich dem Parlament das Verhältnis von Herrn Blüm zu den Zahlen der Sozialversicherungssysteme an diesem Beispiel noch einmal vor Augen führen will.
Ich stelle hiermit fest, daß am 4. Oktober 1982 beim Regierungswechsel die westdeutsche Rentenversicherung zwei Monatsreserven hatte, und ich stelle zweitens fest, daß diese zwei Monatsreserven jetzt, nach acht Jahren Regierungszeit Blüm, endlich wieder erreicht worden sind.
Nun hat Herr Blüm meine Frage nach den Rücklagen mit dem Begriff der Defizite verwechselt. Das ist zwar üblich, aber in diesem Fall nicht zugelassen, weil ich, wenn ich die defizitäre Situation der Rentenversicherung im 15-Jahres-Zeitraum nehme, dem Parlament mitteilen muß, daß Herr Minister Blüm 1988 es im 15-Jahres-Zeitraum bei der realistischen Entwicklungsvariante auf ein Defizit von 346 Milliarden DM gebracht hat.

(Dr. Vogel [SPD]: Hört! Hört! Falschspieler!)

Diese kleine Intervention macht deutlich, daß es darum geht, Herr Blüm, sich immer präzise an den Fragen zu orientieren, hart an der Sache zu arbeiten und keine Vermengung von Tatbeständen vor dem Parlament vorzunehmen, die dann die Assoziation erwecken, als ob hier Defizite mit Rücklagen verwechselt werden dürften. Ich bitte Sie, das wirklich zur Kenntnis zu nehmen und in Zukunft hier fair zu operieren.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122610100
Das Wort hat Herr Bundesminister Blüm.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1122610200
Ich stelle fest, daß der Kollege Dreßler nicht widersprochen hat, daß wir 30 Milliarden DM Rücklagen in der Rentenkasse haben und daß das die höchste Rücklage seit 1976 ist. Das ist die wichtigste Botschaft für die Rentner.

(Dr. Vogel [SPD]: Zwei Monate, wie früher auch!)

— Zwei Monate bei höherem Rentenniveau ist natürlich auch mehr Geld. Es bleibt also bei den 30 Milliarden DM Rücklage, und es bleibt dabei, daß die Rentenversicherung im August 1983 zahlungsunfähig gewesen wäre, wenn wir nicht Maßnahmen getroffen hätten. Wer ein Haus kurz vor dem Zusammenbruch übergeben hat, der soll sich hier nicht hinstellen, als sei er der Baumeister der Rentenversicherung. Trümmer haben wir übernommen, und wir haben aus den Trümmern wieder ein stabiles Haus gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bin der Geschäftsführer der Trümmerbeseitigungsgesellschaft, und die Trümmer haben Sie hinterlassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122610300
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Büchler.

Hans Büchler (SPD):
Rede ID: ID1122610400
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister Blüm, Sie haben sich offensichtlich geirrt. Mein Kollege Dreßler hat von zwei Monaten gesprochen. Daß die Zahlen heute höher sind, ist klar, denn das Rentenniveau ist ja auch angewachsen. Dann sollte man auch fair genug sein und sagen: Ich habe mich geirrt, ich bitte um Entschuldigung.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Davon verstehst du nichts!)

Das wäre doch eine Möglichkeit gewesen, einen solchen unnützen Streit zu vermeiden.

(Beifall bei der SPD)

Herr Minister, Sie hätten heute gar keine Bühne, wenn die Sozialdemokraten nicht dafür gesorgt hätten, daß die Sozialunion in das erste Vertragswerk hineingeschrieben wurde. Wenn wir nicht dafür gesorgt hätten, daß die Sozialleistungen für die DDR- Bürger entsprechend im Vertrag installiert worden wären, dann würden Sie heute ziemlich nackt dastehen; auch das ist die Wahrheit!
Ich möchte noch einen Satz zu Ihnen, Frau Hamm-Brücher, sagen. Wir bedanken uns als Sozialdemokraten recht herzlich für Ihre Rede, Ihre letzte Rede. Wir zollen Ihnen hohen Respekt. Wir bedanken uns für das, was Sie für dieses Parlament in den letzten Jahren geleistet haben. Wir wissen, daß Sie weiter arbeiten werden. Wir wissen auch, daß wir eine große Dame des Parlaments leider in Zukunft nicht mehr am Rednerpult sehen werden, aber wir sind auf Ihre Arbeit in der Zukunft gespannt.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, für die Deutschlandpolitiker der SPD, aber auch für die anderen Fraktionen — ich bin hier heute wohl der einzige, der als Mitglied des innerdeutschen Ausschusses spricht — ist die heutige Debatte der Endpunkt einer langen Arbeit. Deutschlandpolitik — Sie wissen es — war oftmals kein herausragendes Thema im Deutschen Bundestag. Debatten wurden oft lustlos abgewickelt, und nicht immer traten die Hauptredner — wie in der letzten Zeit — hier ans Pult. Deutschlandpolitik war fast eine Spielwiese für eine Minderheit geworden, und von manchen wurde sie schon als etwas Nebensächliches belächelt.

(Hornung [CDU/CSU]: Insbesondere bei der SPD! — Günther [CDU/CSU]: So ist es!)




Büchler (Hof)

Das hat sich in den vergangenen Monaten begreiflicherweise geändert. Am heutigen Tag findet eine Debatte statt, die wir wohl als weiteren Höhepunkt der Deutschlandpolitik bezeichnen können. Heute erfüllt sich eigentlich das, was Willy Brandt in seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 hier vor dem Plenum sagte:
Niemand kann uns ausreden, daß die Deutschen ein Recht auf Selbstbestimmung haben, wie alle anderen Völker auch. Die Deutschen sind nicht nur durch ihre Sprache und ihre Geschichte — mit ihrem Glanz und Elend — verbunden; wir sind alle in Deutschland zu Hause.
Jetzt erfüllt sich, was die damalige SPD/FDP-Bundesregierung im Brief zur deutschen Einheit 1972 zu ihrem Ziel erklärte, nämlich „auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt" .
Wir erinnern uns an die Schlußakte der KSZE, und wir erinnern uns heute auch an das Grundgesetz.
Das war die Richtschnur unserer Deutschland- und Entspannungspolitik. Das war der rote Faden, den wir nie verloren haben, obwohl es wahrlich nicht immer leicht war, diesen Grundsätzen zur gebührenden Geltung zu verhelfen; das weiß ich auch. Manche Teilbereiche waren ein bißchen in den Hintergrund gerückt.
Zum anderen müssen wir auch sagen: Dieses deutsch-deutsche Verhältnis war auch zu einer Art Realpolitik geworden, die es lediglich zu verwalten galt.
Das Volk der DDR war es dann, das uns alle wachrüttelte und die genannten Prinzipien, auf denen unsere Politik ruht, durch eine friedliche Revolution in Deutschland realisierte, d. h. sein Selbstbestimmungsrecht verwirklichte.
Erinnern wir uns heute auch an jene, die in über 40 Jahren unter der Teilung Deutschlands gelitten haben, die erfolglos dagegen angegangen sind: die verfolgten Sozialdemokraten und aufrechten Demokraten anderer politischer Richtungen; die politisch Inhaftierten; diejenigen, die bei der Flucht aus der DDR getötet wurden; die, die sich in den Kirchen für Demokratie und Selbstbestimmung einsetzten; die Mitglieder der unabhängigen Bewegungen und schließlich die Bürger und Bürgerinnen der DDR, die — keiner Gruppe zugehörig — im vergangenen Herbst auf die Straße gegangen sind. Erinnern wir uns daran!
Wir als Sozialdemokraten erinnern uns daran, daß wir über Jahre illegal arbeiten mußten. Wir erinnern uns auch daran — das muß heute ebenfalls gesagt werden, weil jetzt dazu die Chance besteht —, daß die Blockpartei CDU und auch die anderen Blockparteien der SED noch im Dezember 1989 die Stange gehalten haben.

(Beifall bei der SPD)

Der Mann, den Sie heute so nach oben schieben, Herr de Mazière hat noch am 6. November 1989 in der „Neuen Zeit" festgestellt: „Wir brauchen einen Sozialismus, der diesen Namen wirklich verdient. " Dabei wissen wir alle, daß de Mazière unter „Sozialismus"
nie auch nur annähernd das verstand und versteht, was wir Sozialdemokraten unter demokratischem Sozialismus verstehen, nämlich Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.

(Beifall bei der SPD)

Aber heute ist auch ein Tag der Selbstkritik. Auf allen Seiten gab es langanhaltende Fehleinschätzungen der wirklichen Situation in der DDR.
Als die Bundesregierung 1987 den damaligen ersten Mann der DDR in Bonn empfing,

(Reuschenbach [SPD]: Mit rotem Teppich!)

ging sie vom Fortbestand des SED-Regimes aus, sonst hätte sie nämlich Honecker nicht so mit allen Ehren empfangen. Auch die zehn Punkte des Bundeskanzlers mit dem Vorschlag konföderativer Strukturen waren nicht mehr zeitgemäß. Ich verschweige nicht, daß auch wir solche Pläne gehabt haben. Wir alle sahen dann aber, daß das Volk der DDR in seiner überwältigenden Mehrheit auf einen schnellen Beitritt nach Art. 23 und auf möglichst schnelle demokratische Wahlen drängte.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das haben Sie aber spät gemerkt!)

— Das haben wir eher gemerkt als Sie; denn wir haben einen früheren Beitritt befürwortet.

(Lachen bei der CDU/CSU — Kraus [CDU/ CSU]: Machen Sie sich nicht lächerlich! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— 15. September!
Machen wir uns also nichts vor: In allen politischen Lagern wurde die Stimmung, wurden die Wünsche und Sehnsüchte der DDR-Bevölkerung erst nach und nach richtig gesehen und begriffen.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Also nein!)

Ein Beispiel für Fehleinschätzung — ich will das sagen, weil ich mitgewirkt habe —

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Ja, an der Fehleinschätzung!)

war die Beschlußempfehlung des Innerdeutschen Ausschusses vom 13. Februar dieses Jahres. Einstimmig sprach sich der Ausschuß noch zu dieser Zeit für eine „Vertragsgemeinschaft" und für ein „gemeinsames parlamentarisches Gremium" aus. — Die tatsächliche Entwicklung war schon ungleich weiter. — In dieser Beschlußempfehlung stand auch:
Konföderative Organe sollen möglichst in Berlin tagen, ihre ständigen Einrichtungen dort ihren Sitz haben. Im Rahmen des Einigungsprozesses muß Berlin wieder Hauptstadt werden.
So der Innerdeutsche Ausschuß.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: So kann man sich irren!)

Dabei sind wir davon ausgegangen, daß das, was hier 40 Jahre verkündet worden ist, auch in Zukunft Gültigkeit hat.

(Beifall bei der SPD)





Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122610500
Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger? — Bitte.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1122610600
Herr Kollege Büchler, können Sie mir zustimmen, daß Sie mit Ihrem Zitat aus dem Beschluß des Innerdeutschen Ausschusses soeben bestätigt haben, daß auch die Regierungskoalition — entgegen den Behauptungen Ihres Kanzlerkandidaten Lafontaine — von einem langsameren, von einem allmählicheren Tempo der deutschen Einheit ausgegangen ist und daß die Bevölkerung der DDR es war — und nicht die Bundesregierung, wie ihr von Lafontaine vorgeworfen wird — , die das rasche Tempo erzwungen hat?

(Beifall der Abg. Frau Würfel [FDP])


Hans Büchler (SPD):
Rede ID: ID1122610700
Sie verwechseln die Zeit vor der Sommerpause mit der nach der Sommerpause, als dann offensichtlich war, daß sich das Tempo verschärft.
Ich möchte noch kurz zu den anderen Fragen Stellung nehmen, die uns heute natürlich bewegen: Das ganze deutsche Volk hat heute ohne Zweifel Anlaß, diesen Einigungsprozeß mit Freude zu begleiten. Aber dieser Prozeß wird natürlich immer schwieriger, je dynamischer er wird. Das hat objektive Gründe.
Wir erinnern uns an die hinhaltende Taktik der Regierung Modrow, die wertvolle Zeit verstreichen ließ. Ich erinnere an die Diskussion über die Firmenbeteiligung und — natürlich — an die Diskussion über das Bodenrecht.

(Hornung [CDU/CSU]: Wollten Sie das Geld rübergeben?)

— Sie haben das falsch verstanden. Wir wollten die Infrastrukturmaßnahmen in unserer Regie rechtzeitig in Angriff nehmen. Niemand in der SPD hat daran gedacht, Modrow 15 Milliarden DM zu geben. Aber hätten wir es nur gemacht!

(Beifall bei der SPD — Doss [CDU/CSU]: Auf welcher Rechtsgrundlage? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Wir wären heute ein großes Stück weiter.

(Zustimmung bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wir erinnern uns daran, daß natürlich die Stasi und auch die SED in ihrer Art alles vertuscht haben und die Modrow-Regierung die Vergangenheitsbewältigung nicht in Angriff genommen, ja sogar torpediert hat. Die SED — heute die PDS — hat sehr schnell Seilschaften gebildet, an denen wir hier im gemeinsamen Deutschen Bundestag mit Sicherheit noch über Jahre zu kauen haben werden.
Die SPD hat — das müssen Sie uns zugestehen — durch mich bereits im Januar auf diesen Mißstand aufmerksam gemacht. Aber die Union war so damit beschäftigt, mit Modrow ins klare zu kommen, daß sie diese entscheidenden Entwicklungen verschlafen hat. Das ist die Wahrheit!

(Beifall bei der SPD)

Auch die Bundesregierung trägt einen Großteil der Verantwortung dafür, daß der Vereinigungsprozeß bruchartig verläuft. Aus in der DDR durchgeführten
Umfragen wissen wir, daß in der Bevölkerung der DDR mit Blick auf die Zukunft große Sorgen bestehen.

(Hornung [CDU/CSU]: Die beste Umfrage ist die Wahl!)

— Das werden wir dann sehen, wenn gewählt wird. —

(Zuruf von der CDU/CSU: Das haben Sie bei den letzten Wahlen auch gesagt!)

Die Einleitung des sozialen Prozesses — ich habe darauf hingewiesen — wurde von Ihnen eingangs praktisch versäumt. Sie haben nur von einer Währungs- und Wirtschaftsunion gesprochen.

(Günther [CDU/CSU]: Stimmt doch gar nicht, ist doch nicht wahr!)

Die Sozialunion, die Umweltunion haben erst wir Sozialdemokraten verwirklicht.

(Beifall bei der SPD — Lachen und Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP — Günther [CDU/CSU]: Lachhaft, ist doch lächerlich! Wo sind Sie denn gewesen?)

Heute sehen wir, wie wichtig gerade das für die Menschen in der DDR ist.
Die Sozialdemokraten erwarten genauso wie die Menschen in der DDR, daß eine klare Richtung vorgegeben wird. Wir werden im gemeinsamen Parlament in wenigen Wochen — und dies ist wohl eine der letzten Sitzungen dieses Parlaments in dieser Zusammensetzung — eine neue Aufgabenstellung haben. Wir müssen an die Flut der neuen Aufgaben herangehen. Wir müssen darauf hinarbeiten, daß auch einfache Dinge rüberkommen, daß sie den Menschen in der DDR verständlich werden, bis hin zu Formularen, mit denen sie bis jetzt nicht umgehen konnten. Auch das ist wichtig, damit uns dieser Einigungsprozeß insgesamt gelingt.
Wir Sozialdemokraten haben immer gesagt: Die Einigung ist nicht zum Nulltarif zu bekommen. Jeder, der in der DDR gearbeitet hat, oft drüben war, wußte, in welchem Zustand dieses Land war. Die intimen Kenntnisse der DDR einzelner Abgeordneter wurden von der Regierung nicht wahrgenommen. Es steht außer Zweifel, daß Wirtschaft, Städtebau bis hin zu den Kindertagesstätten und Krankenhäusern in der DDR von Jahr zu Jahr mehr verlottert sind. Wer davon gesprochen hat, daß dies zum Nulltarif zu reparieren sei, der hat sich gewaltig geirrt, der hat den Menschen Sand in die Augen gestreut — nicht nur da drüben, sondern auch bei uns. Dies kostet echt Geld; darüber gibt es gar keinen Zweifel.

(Beifall bei der SPD)

Also: Schluß mit den Träumereien! Wir müssen es anpacken.
Wir müssen auch mit Altlasten fertig werden. Wir waren doch den bequemen Weg gegangen und haben unseren Sondermüll in die DDR geschafft. Ich erinnere an die wiederholten Initiativen meines Kollegen Hiller hier im Parlament, dies abzustellen, weil wir alle wußten, daß das ein Risiko für Gesamtdeutschland für die Zukunft ist. Heute müssen wir dafür Sorge



Büchler (Hof)

tragen, daß diese Umweltschäden wieder repariert werden. Berlin und das Zonenrandgebiet sehnen den Tag herbei, an dem wir nicht mehr giftige Wolken über uns haben; den Tag, an dem die Umwelt in der DDR wieder in Ordnung ist.
Wir müssen in diesem Parlament auch einmal klar feststellen, daß diese letzten Tage, Wochen und Monate der westdeutschen Bevölkerung im Grenzland unheimliche Belastungen gebracht haben. Ich sage immer: Nur jedes dritte Auto in Hof ist kein DDR- Auto. Die Schlangen vor den Einkaufsmöglichkeiten belasten auch unsere Menschen. Und sie ertragen es, gutwillig. Sie haben mehr zur Einheit, zum Zusammenwachsen der Menschen beigetragen als jemand, der vom Rheinland oder von Stuttgart aus kluge Reden hält. Ich muß das leider so sagen. Deshalb glaube ich, daß sie jetzt auch ein Recht darauf haben, daß die Infrastruktur in dem Raum zwischen den beiden Staaten in Ordnung gebracht wird. Ich habe die herzliche Bitte an die Kolleginnen und Kollegen, die nicht im Zonenrandgebiet wohnen und vielleicht nicht so genau wissen, was da an Belastungen auf uns zugekommen ist, daß sie mithelfen, daß das eine oder andere Projekt des Verkehrsausbaus, Bundesbahn und Straße, im Binnenland etwas zurückgestellt und dort, wo die Nation wieder zusammenwachsen wird, das Nötige für die Zukunft unseres Landes getan wird.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122610800
Das Wort hat der Abgeordnete Scheu.

Gerhard Scheu (CSU):
Rede ID: ID1122610900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute ist ein großer Tag. Am 3. Oktober 1990 wird die Flagge des Unrechts und der Spaltung über dem Brandenburger Tor niedergeholt und vereinigen sich die Deutschen unter dem SchwarzRot-Gold des Grundgesetzes der Bundesrepublik — demokratisch, sozial und frei — zum wieder gemeinsamen Rechtsstaat. 57 Jahre, nachdem und seit diese Freiheit mit dem 30. Januar 1933 verloren und die düsterste Nacht unserer Geschichte angebrochen war.
Manche, meine Damen und Herren, haben Mühe, diesen Umsturz zu akzeptieren. War die „Wiedervereinigung" doch schon so vielen, Herr Kollege Büchler, zur „Lebenslüge" geworden, daß sie nun fassungslos vor den Trümmern der eigenen Illusion stehen,

(Günther [CDU/CSU]: Und hier Rechtfertigungsreden halten!)

obwohl es im Sommer 1989 nach Öffnung des Eisernen Vorhangs zwischen Ungarn und Österreich eigentlich schon zu ahnen war. Theo Waigel hatte schon zuvor gesagt: Die deutsche Frage klopft an die Tür. Man mußte nur hören wollen.
Deshalb, meine Damen und Herren, sollte eine in diese eigene Lebenslüge verstrickte Sozialdemokratische Partei sich Zügel anlegen und nicht dem Bundesminister der Finanzen jetzt eine Steuerlüge unterstellen. Theo Waigel hat es sich mit der Wahrheit noch nie leicht gemacht.

(Lachen bei der SPD)

Bleiben Sie in der SPD dabei, sich nicht zu verleugnen und bekennen Sie: Auch wir freuen uns! Sie machen es sich zu leicht mit Aussagen über Wahrheit und Unwahrheit.
CDU und CSU hatten die Hoffnung nie aufgegeben.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Wir waren vorbereitet geblieben, den Tag und die Gunst der Stunde, wenn sie denn kämen, dann auch ohne Wenn und Aber zu nutzen; denn Gelegenheiten in Raum und Zeit der Geschichte wiederholen sich nicht. In entscheidenden Stunden ist Realismus das oberste Gebot und darf der Staatsmann sich das Mögliche nicht entwinden lassen. Helmut Kohl hat dies auf große, im Buch der Geschichte zu vermerkende Weise getan.
Die Wiedervereinigung der Bundesrepublik, der DDR und ganz Berlins in Frieden, souveräner Freiheit und, erstmals in der Geschichte seit 1648, mit Zustimmung der großen Mächte und aller Völker in Europa ist ein so hoher friedenstiftender Wert, daß er nicht verspielt werden darf.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dies und unsere Verantwortung vor den kommenden deutschen Geschlechtern begründen das Ja zum Einigungsvertragsgesetz, das CDU und CSU heute aussprechen werden.
Sie wissen, meine Damen und Herren, worum unsere Fraktion schwer mit sich ringen mußte.

(Dr. Vogel [SPD]: Die ringen noch!)

Die Zustimmung zum Vertrag, dessen Präambel die „territoriale Souveränität aller Staaten in Europa" betont, beinhaltet auf Ebene der Verfassung auch die Bestätigung, daß die dann zwischen dem vereinten Deutschland und der Republik Polen entlang Oder und Neisse verlaufende Grenzlinie die endgültige Grenze zwischen Deutschland und Polen bleiben und vom wiedervereinigten Deutschland nicht mehr in Frage gestellt werden wird.
Meine Damen und Herren, sähen wir einen anderen Weg, wir gingen ihn, um uns diesen Schmerz zu ersparen. Ich war betroffen, daß sich, als der Bundeskanzler nach langem Zögern hier das Wort von der Endgültigkeit ausgesprochen hatte, auf gewissen Bänken Beifall erhob. Der definitive Verlust von immerhin eines Viertels Deutschlands in den Grenzen von Versailles geht das ganze Volk und nicht nur die Heimatvertriebenen an. Dem Kanzler war in diesem Augenblick schwer zumute, wie vorher nicht in seinem Leben.
Ich selbst — gestatten Sie mir dieses Wort insofern, weil es exemplarisch für viele Deutsche in ähnlicher Lage steht — habe zu viele Bindungen an dieses nun verlorene deutsche Land, mein Vater ist in Stettin geboren, die Schwiegermutter ist eine Niederschlesierin, um diesen Schmerz nicht, „Als wär's ein Stück von mir" , als den eigenen zu empfinden, auch wenn für mich Oberfranken meine Heimat ist. Dort bin ich aufgewachsen, die Wege zur Schule gegangen, und dort haben sich erste Freunde gefunden. Und wenn ich zufällig wieder an einer der wenigen Stellen vorbeikomme, die bis heute so geblieben sind, wie sie das



Scheu
Gedächtnis des Knaben vertraut in Erinnerung hat, dann sticht es mich ins Herz: Heimat!
Zögen wir in das alte Land zurück, meine Familie packte in wenigen Wochen unwiderstehliches Heimweh. Wir müßten unter Menschen mit fremder Sprache und in einem ja weithin von Deutschen entvölkerten Lande leben. Ich z. B. vermißte die romantische Fränkische Schweiz, Bamberg, die „Traumstadt der Deutschen", unsere Menschen und deren unverwechselbares fränkisches Wesen. Kurzum: Ich könnte es dort nicht aushalten, es sei denn durch die Umstände gezwungen.
Meine Damen und Herren, so oder ähnlich erginge es den meisten Abkömmlingen der Heimatvertriebenen, die im nun geeinten Deutschland aufgewachsen sind, hier oft „eingeheiratet" haben, und deren Kinder wiederum hier und nirgendwo sonst heimatliche Wurzeln geschlagen haben. Heimat ist der vertraute Bereich, in dem die Jugend zu Hause war.
Jedenfalls diese Generation wollte und könnte ganz überwiegend nicht zurück — und noch dazu, in welches Land? Ost- und Westpreußen, Schlesien und Pommern sind weithin nicht mehr, was sie waren, als die Deutschen dort gelebt haben. Sie wieder dazu zu machen, ginge wohl über all unsere Kraft. Die große Seele des weiten deutschen Ostens ist verschollen. Bis auf Inseln deutscher Wohnstätten legen allein noch die Steine und Gräber das Zeugnis seiner Geschichte ab. Wir wären dort „eli-lendi", in des Wortes Elend ursprünglichstem Sinne: im fremden Land. Zur Heimat gehören auch Menschen, die einen erwarten, Gesichter, die aufleuchten im Wiedererkennen.
Müßten also schon Millionen Deutsche hier ihre eigentliche Heimat preisgeben, wollten wir tatsächlich im großen Maßstab in die Ostprovinzen zurück, so ginge es den heute dort in zweiter und dritter Generation neubeheimateten Polen nicht anders. Die deutschen Vertriebenen haben immer feierlich erklärt, altes Unrecht könne nicht durch neues Unrecht aus der Welt geschafft werden, und sie haben deshalb jeder neuen Vertreibung ausdrücklich abgeschworen.
Es gibt ganz wenige — keiner unter uns — , die so weit gehen wie die Zeitschrift „Der Schlesier" in ihrer Ausgabe vom 3. September 1990, wo man unverhohlen die Stimme der Rückvertreibung zu Wort kommen und fragen läßt — Zitat — :
Wie sonst wollen die Vertriebenen denn diese Gebiete wiederbekommen, wenn die Polen dort sitzenbleiben dürfen ... und wenn wir uns nicht ein paar Millionen dort inzwischen angesiedelter Polen einverleiben wollen (und das hätte uns gerade noch gefehlt!).
Als Ausweg empfehlen sie — wie auch jener Herr „Ich war dabei" — eine Art Ost-Rückverschiebung Polens.
Erschreckend daran ist nicht nur die Unversöhnlichkeit, sondern mehr noch die Vorstellung, daß erwachsene Menschen die Lektionen des Nationalhasses schon wieder so weit vergessen haben.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Es kann in Polen regieren, wer will: Wer und wann
immer eine Rückvertreibung versuchen wollte, es
gäbe erneut Krieg, und wir hätten ausnahmslos alle Mächte und Völker Europas gegen uns.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Sicherlich, noch reden nur ganz wenige so. Aber wenn wir den Haß nicht besiegen, könnten es mehr und dann zu viele werden. Das Unheil fängt immer klein an.
Meine Damen und Herren, die Vertreibung der Ostdeutschen aus ihrer angestammten Heimat bleibt eines der großen Verbrechen gegen die Humanität in der neuzeitlichen Geschichte des Chauvinismus. Mit keinem Wort und durch nichts bringen wir zum Ausdruck, die Vertreibung sei Rechtens oder entschuldbar gewesen. Ausdrücklich und vor aller Welt erklären wir, „Millionen Deutschen" sei „großes Unrecht" zugefügt worden. Wir geben unsere Ehre nicht preis. Aber eine Grenzrevision und eine Wiederbesiedlung nach 45 Jahren wären ausschließlich im Einverständnis mit den Menschen polnischer Nationalität möglich, die heute dort leben. Das ist bitter und durch keine deutsche Politik mehr zu ändern.
Manche sagen, das Opfer der Grenzbestätigung sei nicht nötig, sei doch nach nur einigen Jahren des Zuwartens niemand mehr imstande, dann beides — die deutsche Einheit plus Ostgebiete — aufzuhalten. Meine Damen und Herren, verkennen wir nicht alle Realität! Die Einheit erlangen wir nur, wenn wir sie jetzt — 1990 — vollenden. Den Deutschen in der Noch-DDR zu antworten: Wir bedauern, von Herzen gern lebten wir mit Euch geeint in einem Staat, aber noch geht das nicht, weil das bloß ein „amputiertes Rumpfdeutschland" — „Kleinstdeutschland" , wie beinahe verächtlich gesagt wird — wäre, — unsere von dieser Absage bitter enttäuschten Landsleute müßten erwidern: Ihr im Wohlstand und in der Freiheit, ihr vielleicht könntet noch Jahrzehnte warten; wir in dieser „DDR" können es nicht, und wir müssen dann notgedrungen eben den dritten deutschen Staat errichten, den einige bei uns ohnehin wollten und was die übrige Welt eigentlich viel lieber sähe als die Wiedervereinigung. Das Ergebnis wäre eine DDR als zweites Österreich, und die Welt wäre hochzufrieden. In der Bundesrepublik säßen wir fortan im Wartebahnhof der Geschichte, gequält vom Selbstzweifel: Wären wir 1990 doch auf dem Boden geblieben! Zugleich hätte die Bundesrepublik an innerer Bindung verloren, weil sie ihren Auftrag verraten hätte. Wer wollte sich in diesem sinnentleerten Gehäuse noch Wohlfühlen?
Nein, wir haben 45 Jahre gewartet. Jetzt ist die Stunde da, die nicht wiederkommen wird, wenn wir die Eisen erkalten lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, nur in diesem Sinne — erstens durch den Zwang zum Frieden und zweitens durch die Unvermeidlichkeit, jetzt dieses Wort sagen zu müssen, weil sonst die Einheit nicht möglich wäre — können wir die deutsche Ostgrenze als Faktum, als Erbe der Geschichte annehmen. Jede andere Begründung ist und wäre nicht akzeptabel.



Scheu
Verletzung ihrer Interessen kann eine Nation verzeihen, nicht aber Verletzung ihrer Ehre durch Benutzung der angeblichen „Ethik" als Mittel des Rechthabens oder gar irgendwelcher „gerechten Sühne". Aus Unrecht kann nicht Recht werden. Wohl aber können lange zurück unrechtmäßig gesetzte Tatsachen sich so vollenden, daß ihre Rückgängigmachung dann selbst wieder Unschuldigen schweres Leid antäte. Und dann versagt das Rechtsprinzip.
Meine Damen und Herren, 50 Jahre Geschichte lassen sich nicht zurückdrehen, wenn Friede sein soll. Breslau, Gleiwitz, Allenstein, Königsberg, Kolberg und Stettin bleiben für uns weit zurück und tief hinunter hallende Namen, untilgbar in der deutschen Geschichte. Die Dämonen können nur gebannt, Europa kann nur werden, wenn alle Völker ihre Ruhelage in einer Heimat finden, aus der sie nicht mehr fürchten müssen vertrieben zu werden.
„Es ist nicht gut, keine Heimat zu haben" — so beschließt Jean Améry, der jüdische Emigrant aus Österreich, seinen Essay „Wieviel Heimat braucht der Mensch?". Die Vernunft spricht zum verwundeten Herz: „Grenzen müssen unumstritten bleiben. " Wir wissen, daß diese Aussage Gefühle verletzen wird. Wer könnte das Herz tadeln, das sich nicht von der Vernunft brechen lassen will?
Menschenunwürdige Vertreibung aus der Heimat ist ein so traumatisches Erlebnis, daß es jederzeit wieder dem Gedächtnis entsteigen und wie als gegenwärtig nacherlebt werden kann, sobald daran gerührt wird.
Allein, meine Damen und Herren, es gibt keine offenen Auswege mehr, und retten kann uns daraus nur der Entschluß zur endgültigen Neubeheimatung, zum „Bleiben" in diesem nun wiedervereinigten Deutschland, zu dessen Wiederaufbau die Heimatvertriebenen einen so großartigen, unverzichtbaren Beitrag geleistet haben.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie des Abg. Dr. Mechtersheimer [GRÜNE])

Nichts an diesem vereinigten Deutschland ist mehr „Provisorium", nichts.

(Beifall der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE])

Auch die Politik muß sich dem zuwenden, was sie an gemeinsamer Zukunftshoffnung stiften kann. Denn wenn es eine politische Schuld gibt, dann die: anstatt sich um das zu kümmern, was das politische Denken angeht, die Zukunft und die Verantwortung vor ihr, sich in unaustragbare Fragen der Vergangenheit zu verstricken.
Dieser Satz — meine Damen und Herren, auch das muß ausgesprochen werden — gilt beiden Seiten. Der Schlußstrich muß auf beiden Seiten gezogen werden, soll unser Tun nicht vergebens sein. Irgendwelche noch länger aus nun Vergangenheit gewordenem Geschehen abgeleiteten sogenannten „Ansprüche" Polens würden und müßten die Wunde immer nur wieder aufs neue aufreißen. Sie wissen, was ich meine — alle „Fragen" müssen nun zur Ruhe kommen. Gerade das Volk der Polen, das sich über Jahrhunderte hinweg behauptet hat, sollte das ermessen und vor der Größe des deutschen Opfers verstummen können.
Meine Damen und Herren, unser Bemühen geht dahin, die Beziehungen zu Polen auf ein neues Verhältnis der guten Nachbarschaft, der Verständigung und künftig möglichst auch der Freundschaft zu stellen.
Ob und wann dieses erreicht wird, scheint mir in erster Linie davon abzuhängen, wie Polen seine „Rückkehr nach Europa" versteht: als Anknüpfen eher an die Gedankenwelt des alten Kontinents oder als Fortschreiten in jenem neuen westeuropäischen Geist der Offenheit, wie er unter den Völkern Westeuropas in langen Jahrzehnten gewachsen und wie er nur möglich ist, wenn und weil keiner dem anderen zumutet, was er nicht selbst zugemutet haben möchte.
Wir haben die unzerstörbare Hoffnung, daß wir zu wirklicher Partnerschaft kommen können. Auch die deutsch-polnische Brücke wird eines Tages tragen und verbinden. Wir glauben an die gemeinsame europäische Zukunft.
Meine Damen und Herren, wir wollen jetzt, greifbar vor uns und dankbar, daß wir dieses erleben dürfen, in die Tat umsetzen und vollenden, was die Geschichte uns immerhin übriggelassen hat: die Nation, den Staat, die Freiheit und das Recht. Wir Deutsche in Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und — jawohl, auch — im Saarland

(Dr. Vogel [SPD]: Das war überflüssig, nicht wahr!)

freuen uns auf die nun gemeinsame Zukunft mit unseren Landsleuten in Ganz-Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, vereint in Freiheit und Gerechtigkeit.
Daß nicht das ganze Deutschland, wie es war, zurückgewonnen werden kann, füllt uns mit Trauer. Die Provinzen des früheren deutschen Ostens waren mehr als 700 Jahre lang deutsches Land. Sie sind und bleiben unvergessen in der Erinnerung. „Die Erinnerung ist", nach einem Wort des Franken Jean Paul, „das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können".
Meine Damen und Herren trotz allem: Der Schmerz über diesen nun endgültigen Verzicht darf uns nicht entzweien und nicht überwältigen. Das Leben und die Aufgaben der Zukunft fordern ihr Recht, und wir haben nach dem 3. Oktober 1990, dem großen Tag der Wiedervereinigung, noch so viele, wahrlich nicht leichte Tage gemeinsam zu schaffen.
Bekennen wir uns zu diesem deutschen Nationalstaat und seiner europäischen Bestimmung, und gestatten wir niemandem, ihn je wieder aufs Spiel zu setzen! Schenken wir dem — ohne Blut und Eisen — neugeborenen Vaterland jene Zuneigung, wie sie fast jede Nationalhymne der Welt besingt! Geliebt werden kann nur, was nicht vollkommen ist. Das wiedererstandene Deutschland hat einen so schicksalhaften Verlust zu tragen, daß es alle unsere Liebe braucht und verdient, um als Heimat fürderhin aller Deut-



Scheu
schen, frei und einig in demokratischer Rechtsstaatlichkeit, gedeihen und dem Frieden einer in ihren Fugen knirschenden Welt dienen zu können.
Wir wünschen dem Bundeskanzler, dem Kanzler der Deutschen Einheit, Kraft und Erfolg. Wir sind auf einem guten Wege, auf dem Wege der europäischen Verständigung und Versöhnung. Meine Damen und Herren, der 20. September 1990 verheißt uns Hoffnung: Blühe ganzes deutsches Vaterland!
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122611000
Das Wort hat Frau Abgeordnete Wollny.

Lieselotte Wollny (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1122611100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es fällt mir schwer, nach diesen eindrucksvollen Worten auf den Boden ganz gewöhnlicher Tatsachen zurückzukommen. Es ist hier heute unheimlich viel über Geld, über Wirtschaft und über andere wichtige Dinge gesprochen worden. Was mir den ganzen Tag gefehlt hat, waren Worte über den Umweltschutz in der DDR. Darüber möchte ich ein bißchen reden.
Es sind hier mehrmals freundliche Worte in Richtung der Menschen ausgesprochen worden, die drüben den Umsturz bewirkt haben. Es waren auch Umweltgruppen, die dazu beigetragen haben. Sie haben es trotz massiver Repressalien gewagt, auf die Zustände in der DDR hinzuweisen und Tatsachen zu benennen, die unter dem Regime der SED als Staatsgeheimnisse behandelt wurden. Die Menschen drüben haben eine Revolution gemacht, nicht nur weil sie mehr Geld wollten, sondern auch weil sie in einer gesunden Umwelt leben möchten.
Dem Verdienst dieser Leute, der Umweltgruppen, hat die Volkskammer mit einer Verordnung vom 13. September 1990 Rechnung getragen. Sie hat den Bürgerkomitees und -initiativen ein Recht auf alle Informationen und ein Mitspracherecht bei den Genehmigungen aller Anlagen zugebilligt. Ablehnungen der Standpunkte der Bürgergruppen sollten schriftlich begründet werden.
Statt diese wirkliche Demokratisierung zu begrüßen und zu unterstützen, wird z. B. im Hinblick auf das Immissionsschutzgesetz die Beteiligung der Öffentlichkeit eingeschränkt, indem man verlangt, daß Einwendungen schriftlich eingereicht werden, Entscheidungen dagegen grundsätzlich nur durch öffentliche Bekanntmachungen erfolgen. Statt die Bürgerinitiativen und Bürgergruppen zu beteiligen, sollen die Behörden der DDR nun Verwaltungshilfe bei den Behörden der Bundesrepublik suchen und deren Stellungnahmen berücksichtigen. Wenn man bedenkt, daß diese Behörden hierzulande noch nicht einmal in der Lage sind, geltende Umweltvorschriften durchzusetzen, kann man sich leicht vorstellen, was dabei herauskommt.
Für die Regionen der DDR wäre es dringend geboten, Umweltschutzämter zu installieren, die unter der Beteiligung und Mitarbeit der Umweltgruppen bei Entscheidungen mitzureden hätten. Diese Ämter müßten verpflichtet werden, in Zusammenarbeit mit
den örtlichen Initiativen schnellstens Konzepte zur Erfassung, Sicherung und Sanierung von Altlasten zu erstellen und für deren Durchführung zu sorgen. Für diese Aufgabe brauchen sie Geld, und das muß ihnen zur Verfügung gestellt werden.
Die Beseitigung der Altlasten wurde im Umweltrahmengesetz noch als wichtiges Ziel genannt. Im Einigungsvertrag kommt dieser Begriff nur noch insofern vor, als Käufer von Altanlagen dafür nicht zuständig sind. Das kann und darf doch nicht heißen, daß die Lösung dieses Problems jetzt auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird.
Ein weiterer Punkt unterlassener Hilfeleistung betrifft die Landwirtschaft der Noch-DDR. Jeder weiß, daß durch die Mißwirtschaft der Produktionsgenossenschaften mit ihrem enormen Einsatz von Giften und Düngemitteln, mit der unvorstellbaren Massentierhaltung Boden und Wasser hochgradig vergiftet sind. Aus klaren Seen wurden Gülleseen; das Grundwasser der DDR ist flächendeckend nitratverseucht. Statt die gegebenen Möglichkeiten in Richtung einer grundlegenden Neuorientierung hin zu einer artgerechten Tierhaltung und einer eigenständigen bäuerlichen Agrarstruktur zu nutzen, läßt man die Landwirtschaft in ein Chaos stürzen und läßt als einzigen Ausweg das Fortleben einer agrarindustriellen Struktur im veränderten Gewand. Der Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln wird nicht gebremst. Ja, es wird sogar ermöglicht, weiterhin Gifte zu verwenden, die in der BRD längst verboten sind. Diesem Vorgehen muß Einhalt geboten werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Zumindest die BRD-Gesetze, die ja auch nicht berauschend sind, müssen sofort Anwendung finden.
Nächster Punkt: Energiewirtschaft — ein weiteres Beispiel einer verpaßten Chance für eine umweltverträgliche Politik! Obgleich sich längst erwiesen hat, daß die westdeutsche Monopolwirtschaft der Möglichkeit zu einem sparsamen Umgang mit Elektrizität den Weg verbaut und daß auf diese Art keine umweltverträgliche Energieerzeugung zustande kommt, hat diese Regierung nicht den Mut, sich der Begehrlichkeit der übermächtigen EVUs entgegenzustellen, sondern wirft ihnen auch noch das Gebiet der DDR in ihren gefräßigen Rachen. In vorauseilendem Gehorsam ebnet sie ihnen alle Wege, auch wenn dabei Gesetze wie das Kommunalverfassungsgesetz und das Kommunalvermögensgesetz, ja, sogar das Grundgesetz den Bach heruntergehen.
So werden die DDR-Kommunen, die gerade in den Besitz ihrer eigenen Stadtwerke gekommen sind, zugunsten der westdeutschen Monopole noch einmal enteignet, indem man ihnen 51 % ihres Besitzes gleich wieder abnimmt. Außerdem werden sie verdonnert, 70 % ihres Bedarfs bei den Monopolisten zu decken.
Daß dies alles nicht Rechtens sein kann, war sogar den EVUs bekannt. Weshalb hätten sie sonst verlangt, den Klageweg auszuschließen, auch dann — so wörtlich —, wenn durch den Vertrag Gesetze verletzt werden? Wo gibt es denn so was, meine Damen und Herren? Sie sollten sich überlegen, ob Sie das wirklich mitmachen wollen. Wir haben dazu heute noch ein-



Frau Wollny
mal einen Antrag eingebracht, und Sie sollten diesem Antrag zustimmen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Nächster Punkt: Atomenergie. — Da findet man in der DDR AKWs vor, bei deren Anblick jedem Experten das Grausen kommt, aber unser Herr Minister traut sich nicht zu sagen „Schluß, aus damit, ein für allemal", sondern er baut Bestandsgarantien, verlängert die Genehmigung um fünf Jahre für AKWs und für Anlagen wie das Endlager Morsleben und die Betriebe der Wismut sogar um zehn Jahre. „Warum tut er das? '' , fragt man sich, wo er doch sogar von einer besonderen Verantwortung spricht, die er da hat.
Dies alles wird nur verständlich, wenn damit für die EVUs eine Brücke gebaut werden soll, um in diesen fünf Jahren zumindest für die in Bau befindlichen Reaktoren Konzepte zum Weiterbau vorzulegen, wobei dann ja nicht einmal eine Überprüfung und Genehmigung für die Gesamtanlagen vorgesehen ist, sondern nur eine für die zusätzlichen Einbauten. Eine Öffentlichkeitsbeteiligung wird es laut Herrn Töpfer nur voraussichtlich geben. Das kann doch nur bedeuten, daß man noch überlegt, wie man diese Öffentlichkeitsbeteiligung vermeiden kann.
Die Blöcke 1 bis 4 Greifswald liegen zur Zeit still. Aber es gibt im Ostblock eine große Zahl gleichartiger Blöcke. Siemens und KWU machen sich Hoffnungen auf Milliarden- und Millionenaufträge dort zur Nachrüstung. Deshalb darf man nicht sagen: Die Blöcke 1 bis 4 müssen endgültig stillgelegt werden. — Das würde nämlich ein Signal setzen, und, meine Damen und Herren, das kann diese Regierung diesen Firmen doch nicht antun, daß sie ihnen damit einen solchen Verdienst vermasselt. Dafür muß man doch Verständnis haben.
Gleiches gilt für Morsleben. Der Zustand ist unhaltbar. Es bestehen Verbindungen zu Schächten, in denen schon jetzt das Wasser steht. Die Art der Einlagerung widerspricht allen internationalen Standards. Morsleben ist eine Altlast. Es muß geschlossen und saniert werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Oder braucht man es möglicherweise als Manövriermasse für den Fall, daß Konrad nicht genehmigt wird?
Es gäbe noch einiges zu Wismut zu sagen, wo die Leute unter Umständen leben, die man ihnen wirklich nicht zumuten kann. Sie leben unter einer katastrophalen radioaktiven Belastung. Da wird die Strahlenschutzverordnung der Bundesrepublik außer Kraft gesetzt, damit sie noch eine Weile da wohnen können und man sich nicht darum zu kümmern braucht.

(Zuruf von den GRÜNEN: Ungeheuerlich!)

Alle diese Dinge — das waren nur einige Beispiele in Kürze — sind Gründe genug, um den Vertrag in der vorliegenden Form abzulehnen. Ich möchte sagen, daß ich persönlich das sehr bedauere. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten einen Vertrag gehabt, dem man mit gutem Gewissen hätte zustimmen können.
Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122611200
Meine Damen und Herren, ich habe die Freude, das Ergebnis der Abstimmung der Volkskammer über den Vertrag zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland über die Herstellung der Einheit Deutschlands bekanntgeben zu können. Das Ergebnis lautet: Ja-Stimmen 299,

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

80 Nein-Stimmen und eine Enthaltung.

(Beifall bei den Abgeordneten der GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Weng.

Dr. Wolfgang Weng (FDP):
Rede ID: ID1122611300
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jetzt liegt es wirklich nur noch an uns. Ich glaube, es muß uns bewußt sein, daß sich die große Stunde der deutschen Einheit tatsächlich nähert.
Ich will, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit beginnen, daß ich darauf hinweise, daß Frau Kollegin Hamm-Brücher heute zum letztenmal in diesem Hause das Wort ergriffen hat. Sie hat uns mit ihrer Rede wie immer in den zurückliegenden Jahren nachdenklich gemacht. Wir wissen auch, daß es immer ihr Ziel war, Nachdenklichkeit zu erregen, jeden von uns an seine Pflichten zu erinnern und dadurch zu wirken, daß sie persönliche Positionen darstellte.

(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen — Bindig [SPD]: Wann hat die FDP danach gehandelt?)

Sie wird als aufrechte, streitbare Liberale ihren Platz in der Geschichte dieses Parlaments haben. Dafür danken wir ihr.

(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen — Roth [SPD]: Wenn nur 10 % auf Sie abfärben würden!)

In der heutigen Debatte zum Einigungsvertragsgesetz ist nicht die Stunde des Haushalts, wenn Sie erlauben, daß ich auf meinen Fachbereich überschwenke und den ausdrücklich dummen Zwischenruf des Kollegen Roth hier nicht beachte. Die Verantwortlichen aus Regierung, Parlament und Verwaltung waren jetzt über lange Monate gefordert, einen Rahmen zu schaffen. Sie haben dies in bewundernswerter Weise geleistet. Ihnen gilt unser besonderer Dank. Die Bedingungen, die sich jetzt im wirtschaftlichen und im finanziellen Bereich auf Grund dieses Rahmens entwickeln werden, setzen dann die Eckdaten des künftigen Haushalts.
Zweierlei mache ich hier und heute für die FDP- Fraktion deutlich. Erstens. Unsere Politik sparsamen und soliden Haushaltens,

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Schuldenregierung!)

unsere Politik bestmöglicher staatlicher Zurückhaltung und bestmöglicher Stützung privater Initiative



Dr. Weng (Gerlingen)

wird auch in Gesamtdeutschland konsequent fortgesetzt.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dies betrifft auch den notwendigen Umfang des künftigen öffentlichen Dienstes in Gesamtdeutschland und in den neuen Bundesländern.
Zum zweiten: All diejenigen, die glauben, unter dem Stichwort deutsche Einheit unberechtigterweise öffentliche Mittel erhalten zu können, werden auf unseren Widerstand stoßen.
Die Defizite im künftigen gemeinsamen Haushalt dürfen nicht ins Uferlose wachsen. Wir werden den politischen Mut haben, entstehende Lasten tatsächlich zu tragen und sie nicht durch unnötige Schuldenaufnahme zu verschieben,

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Wo denn?)

wenn die augenblickliche Sondersituation beendet ist. Die FDP befindet sich in guter Gesellschaft mit der Deutschen Bundesbank, wenn sie fordert, daß öffentliche Sparsamkeit mit Schwerpunktverlagerung bei den öffentlichen Investitionen — hier blicken wir auf den Teil Deutschlands, der jetzt wieder dazukommt — und möglichst raschem Abbau der bisherigen teilungsbedingten Kosten verbunden sein muß.
In der jetzigen ungesicherten Haushaltssituation trägt manches an der Diskussion über die Höhe künftiger Steuern eher lächerliche Züge. Ich glaube, man kann hier auf den Kommentar von Herrn MaierMannhart in der gestrigen „Süddeutschen Zeitung" hinweisen, der dies richtig ausdrückt. Ich sage allerdings einschränkend: Natürlich müssen demokratische Parteien auch und gerade in Wahlkämpfen deutlich machen, welches ihre politischen Ziele sind. Hier ist eben bei der FDP der Wille vorhanden, ohne Steuererhöhungen auszukommen, während andere Parteien Steuererhöhungen für den richtigen Weg halten. Aber, meine Damen und Herren, „ohne Steuererhöhungen" heißt niemals: ohne Lasten. Sparsamkeit, Umschichtungen, Subventionsabbau sind für Betroffene ebenfalls belastend.

(Bindig [SPD]: Die FDP fällt doch wieder um! — Frau Matthäus-Maier [SPD]: Wann haben Sie denn gespart? Einmal nur!)

Ich meine, wir sollten wirklich froh sein, wenn wir in der Lage sind, die künftigen Probleme ohne Wohlstandsverzicht zu leisten. Wir sollten nicht den Wohlstandsverzicht predigen,

(Bindig [SPD]: Die Häuslebauer haben schon Wohlstandsverzicht!)

sondern uns darum bemühen, das Ziel, so anzusteuern, wie wir es vorhaben. Ich finde auch, daß dies in Anbetracht der Größe des Themas, über das wir heute debattieren, an sich ziemlich kleine Dinge sind, denn die Probleme im finanziellen und im Haushaltsbereich werden wir relativ leicht lösen.
Ich meine, meine Damen und Herren, daß wir mit wachsender Kenntnis der Stasi-Aktivitäten in erschreckender Weise wahrnehmen, was für ein Staat in der seitherigen DDR stattgefunden hat, wie illiberal, wie repressiv und letztlich unmenschlich dieser Staat
gewesen ist. Ich halte mir vor Augen, daß jetzt und in Zukunft 16 Millionen mehr Deutsche frei atmen können, daß insbesondere junge Menschen jetzt ihr Leben frei von staatlicher Gängelei gestalten können. Das ist doch der eigentliche Wert der Veränderung, die wir heute debattieren, die wir heute auch in unserer Abstimmung zu einem guten Abschluß bringen werden.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die FDP und ihre Bundestagsfraktion, der Freiheit und dem menschlichen Individuum verpflichtet, wird ein wachsamer Gestalter und Begleiter der künftigen Entwicklung sein.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122611400
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehrenberg.

Dr. Herbert Ehrenberg (SPD):
Rede ID: ID1122611500
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die Mehrheit dieses Hauses hat mit Recht — wie ich finde, hatte sie guten Gewissens Anlaß dazu — bei der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses in der Volkskammer Beifall gespendet. Ich nehme das als gutes Omen, daß dieser Deutsche Bundestag gleich nicht hinter dem Ergebnis dort zurückbleiben wird.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Mit dem hier vorliegenden Einigungsvertrag wird die Sehnsucht der Deutschen nach einem einigen Vaterland erfüllt. Aber die Freude darüber, daß der mit der friedlichen Revolution vor fast einem Jahr ausgelöste Prozeß jetzt seinen Abschluß findet, die Freude darüber, daß zusammenwächst, was zusammengehört, darf uns nicht die Augen davor verschließen lassen, welch große ökonomische und soziale Probleme schon enstanden sind und noch stärker vor uns liegen.
Meine Damen und Herren, im August 1990 — fünf Monate nach der Bildung der ersten demokratisch gewählten Regierung dort, zwei Monate nach Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion —361 000 Arbeitslose,

(Hornung [CDU/CSU]: Das Erbe des Kommunismus!)

1,4 Millionen Kurzarbeiter und ein Produktionsrückgang von mehr als 40 % im Vergleich Juli zu Juli, das ist ein böses Signal für die künftige Entwicklung. Das ist eine Entwicklung, die vorauszusehen war. Selbstverständlich hat der Zwischenrufer recht, der wie viele andere sagt: Dies ist das Ergebnis von 40 Jahren SED-Mißwirtschaft.

(Spilker [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Aber daß die SED-Mißwirtschaft vorhanden war, das wußten wir in diesem Hause auch schon im Februar und im März. Da wäre es Zeit gewesen, etwas zu tun, statt bis jetzt zu warten.

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)




Dr. Ehrenberg
— Ich bitte Sie! Wir hätten im März anfangen können, die Infrastruktur zu finanzieren. Da war die Stasi aufgelöst. Da gab es die neue, demokratisch gewählte Regierung. Die Stasi war so aufgelöst wie jetzt.
Wenn Sie noch immer nicht glauben, daß es sich lohnt, dann dürfen Sie das auch jetzt nicht tun; denn an der Stasi-Vergangenheit und an dem Stasi-Netz, sofern es da ist, hat sich zwischen März und heute nichts geändert. Ihr Zwischenruf besagt: Wir dürfen auch das nicht.
Aber Sie sollten bitte in Ihren Kopf hineinnehmen, daß die noch größeren Probleme für die Beschäftigung erst auf uns zukommen: in Ost-Berlin mit der Auflösung der Ministerien und anderer Behörden und in regionalen Schwerpunkten mit der Reduzierung der NVA. Es gibt Standorte mit 10 000 bis 20 000 Beschäftigten, von denen keiner weiß, was er morgen tun wird.
Die Auflösung muß trotzdem geschehen. Nur, wir sind auf diese Situation bisher sehr unzulänglich vorbereitet. Die Fehleinschätzungen dieser Situation, darf man, glaube ich, nicht der noch amtierenden DDR-Regierung anlasten. Die gröbsten Fehleinschätzungen gab es hier bei der Bundesregierung.

(Widerspruch bei der CDU/CSU) Ich will Ihnen nur drei nennen:

Erstens. Die von der FDP durchgesetzte Leitlinie für die Regelung der Vermögensfragen — Rückgabe vor Entschädigung — hat in allen Kommunen zur völligen Blockade des Immobilienmarktes geführt. Ich bin inzwischen fast vier Monate Tag für Tag dort unterwegs gewesen und habe eine Vielzahl von Zuschriften und Ansprachen westdeutscher Investoren — von der Großindustrie bis zum Mittelstand — bekommen, die alle gesagt haben: Wir würden gerne investieren, aber kein Bürgermeister traut sich, über vorhandene Flächen zu verfügen, weil er eine eventuell bevorstehende Rückgabe befürchtet.
Wir haben in diesem Einigungsvertrag endlich diese Regelung — nicht rechtzeitig, sondern endlich! Es wäre auch schon im ersten Staatsvertrag möglich gewesen, die jetzt im Einigungsvertrag stehende Regelung aufzunehmen. Das haben Sie leider nicht gewollt. Die Investitionsblockade ist das Verschulden der Regelung im ersten Staatsvertrag.

(Beifall bei der SPD)

Zweitens. Der Bundeswirtschaftsminister hat im ersten Staatsvertrag eine Investitionszulage von 12 bzw. 8 °A) vorgesehen, während im Zonenrandgebiet eine Förderung von 23 % erfolgte. Es konnte doch niemand im Ernst erwarten, daß diese Investitionsanreize Investitionen hervorlocken. Das, was jetzt geschehen ist, nämlich die Zonenrandförderung plus Investitionszulage, hätten wir schon im Juli gebraucht, Herr Haussmann, nicht erst jetzt.

(Beifall bei der SPD)

Daß bisher nur wenige bundesdeutsche Unternehmen dort investiert haben, beruht nicht auf einer Investitionsunwilligkeit der Unternehmen. Das liegt an der falschen vermögensrechtlichen Konzeption des ersten Staatsvertrages und an dem falschen Förderungskonzept des Bundeswirtschaftsministers. Dort liegt die Verantwortung und nirgendwo anders.

(Beifall bei der SPD — Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Immerhin ist die Regelung jetzt rückwirkend!)

— Gott sei Dank, nur sind jetzt drei Monate verloren, die schon psychologisch und materiell die Situation verbessert hätten, wenn es nicht nur rückwirkend, sondern gleich geschehen wäre. Trotzdem, die Rückwirkung ist gut und richtig.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Vor drei Monaten ging es Ihrer Partei noch viel zu schnell!)

— Ich habe diese Förderung schon im Februar gefordert, laut und vernehmlich, verehrter Herr Kollege.
Drittens. Die Finanzansätze für die öffentlichen Haushalte und erst recht für die Sozialversicherungsträger waren zu gering bemessen, und die Konstruktion ging an der Wirklichkeit vorbei. Es war einfach nicht professionell, sondern ideologisch vorbelastet, den Versuch zu unternehmen, in wenigen Monaten die gegliederte Krankenversicherung dort überstülpen zu wollen. Das kann nicht klappen, und das wird nicht klappen.

(Hornung [CDU/CSU]: Das funktioniert ab 1. 1. 91!)

— Warten wir ab, was dann funktioniert.
Die neue Finanzverwaltung mit dem Einzug der Beiträge zu beauftragen — was hier, langerprobt, die Allgemeinen Ortskrankenkassen tun — , konnte nicht klappen, und das hat auch nicht geklappt.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Das ist leider wahr!)

Das Defizit dort ist zu einem wesentlichen Teil ein Inkassodefizit auf Grund nicht funktionierender Verwaltung.

(Hornung [CDU/CSU]: Von wem?)

— Von Ihnen so aufgestülpt.

(Hornung [CDU/CSU]: Von wem denn?)

— Ich bitte Sie, wer ist denn für die Finanzverwaltung verantwortlich? Wir vielleicht oder der Bundesfinanz - minister?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir doch wohl nicht!

Vor diesem Hintergrund halte ich es für eine sehr merkwürdige bundesdeutsche Wirtschaftswundermentalität, wenn jemand wie der bayerische Ministerpräsident den Ministerrat dort mit dem Begriff Laienspielschar zu diskriminieren versucht.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122611600
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Cronenberg?

Dr. Herbert Ehrenberg (SPD):
Rede ID: ID1122611700
Wenn es mir von der Redezeit nicht abgezogen wird, ja.




Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122611800
Nie im Leben würde ich das wagen.

(Heiterkeit)

Herr Kollege Cronenberg.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1122611900
Herr Kollege Ehrenberg, ich komme noch einmal auf Ihre, wie ich meine, richtige Feststellung zurück, daß es ganz erhebliche Inkassoprobleme gibt. Wenn das aber der Fall ist, ist es dann nicht falsch, wenn von Kollegen Ihrer Fraktion behauptet wird, das Defizit in den Sozialversicherungen — das Defizit ist ja etwas Endgültiges; etwas noch nicht kassiert zu haben, kann ja korrigiert werden — sei unerträglich groß? Ist es dann nicht richtig, zu warten, bis man das Defizit — wenn es überhaupt vorhanden ist — festgestellt hat, und dafür zu sorgen, daß das Inkasso ordentlich klappt?

Dr. Herbert Ehrenberg (SPD):
Rede ID: ID1122612000
Herr Cronenberg, es ist heute schon erkennbar, daß es zumindest in der Krankenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung — ich glaube, nicht in der Rentenversicherung — , ein wesentliches Defizit geben wird, das über das Inkassodefizit hinausgehen wird. In bezug auf die Rentenversicherung bin ich etwas optimistischer.
Das Inkassodefizit ist nun wirklich auf eine mangelnde organisatorische Vorbereitung des Bundesfinanzministers zurückzuführen. Ich möchte hier aber in aller Offenheit und in aller Öffentlichkeit ein großes Lob für die Bundesanstalt für Arbeit aussprechen. Präsident Franke hat schon im Mai 500 Bedienstete abgeordnet, die dort in jedem Arbeitsamt vor Ort bei der Einführung des neuen Rechts geholfen haben. Inzwischen sind es 800. Es sind alles Freiwillige, die sich mit großem Engagement dieser Aufgabe unterziehen. Ich glaube, dieser Einsatz verdient ein öffentliches Wort der Anerkennung.
Die Finanzverwaltung hat sich bis zum Juli auf theoretische Unterweisungen beschränkt und fängt jetzt, nachdem das Inkassodefizit vorliegt, endlich an, auch vor Ort zu helfen. Das ist viel zu spät und — es tut mir leid, das noch einmal sagen zu müssen — nicht professionell.
Erlauben Sie mir, noch ein Wort zur „Laienspielschar" des bayerischen Ministerpräsidenten anzufügen. Wenn ich diese Formulierung aufnehmen darf, dann möchte ich hier sagen: Gemessen an der Professionalität des Bundesaußenministers und auch des Bundesinnenministers wäre für die Ressortchefs, die für den ökonomischen Ansatz der Finanzhilfen und für den sozialpolitischen Ansatz bei der Krankenversicherung zuständig sind, der Begriff Amateur schon fast eine plumpe Schmeichelei. Auch bei Amateuren gehören sie nur auf die Reservebank.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, der Einigungsvertrag hat diese beiden Punkte, die die größten Investitionsblockaden seit dem 1. Juli gebildet haben, glücklicherweise dank Einsatz des Bundesrates geheilt. Ich glaube, daß von daher jetzt wirklich die Chance besteht, voranzukommen und den lange erwarteten und bitter notwendigen Wirtschaftsaufschwung dort in Gang zu setzen. Er wird aber nicht von allein kommen. Er wird nur dann kommen, wenn wir den Mut hab en , ein gesamtdeutsches Beschäftigungskonzept mit einem überzeugenden Sofortprogramm in der DDR in Gang zu setzen.
Ich muß leider noch etwas zur Professionalität in bezug auf die Debatte vorhin nachschieben, weil wir nicht nur Professionalität, sondern auch Redlichkeit brauchen. Der Bundesarbeitsminister hat sich hier vorhin gerühmt, es gebe die höchsten Reserven der Sozialversicherung in seiner Regierungszeit. Ich darf Ihnen die amtlichen Zahlen vorlesen: 1975 hatten wir Rücklagen in Höhe von 42,9 Milliarden DM, 1981 in Höhe von 21,7 Milliarden DM, 1984 von 9,7 Milliarden DM und inzwischen von 25,8 Milliarden DM. Also, von den höchsten Reserven kann hier weiß Gott keine Rede sein.
Ähnlich „professionell" waren leider die Finanzansätze für die DDR.

(Beifall des Abg. Peter [Kassel] [SPD])

Meine Damen und Herren, bei allem, was jetzt geschieht, muß eine bessere Finanzausstattung der Kommunen Vorrang haben, weil nur dort die nötigen Investitionen vor Ort zu veranlassen sind. Ich würde den Bundesverteidigungsminister, aber auch den Wirtschafts- und den Arbeitsminister herzlich bitten, darüber nachzudenken, ob es nicht Organisationsformen gäbe, um das zumindest bei den Bautrupps der Pioniereinheiten der NVA vorhandene erstklassige Baugerät in kommunale Trägerschaft zu überführen und dort mit den Menschen, die es bedienen können, in großflächig angelegten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Stadtsanierung und zum Landschaftsschutz einzusetzen.

(Beifall bei der SPD)

Darüber lohnt es sich nachzudenken und entsprechende Organisationsformen zu finden.
Im übrigen muß ich den kritischen Beobachtern dieser Entwicklung und noch mehr jenen, die darauf bauen, der Markt wird das schon richten, ins Gedächtnis rufen, wie denn eigentlich in unserer Republik der Start in die Soziale Marktwirtschaft begonnen hat.

(Doss [CDU/CSU]: Bei uns hat es geklappt!)

Er begann mit einem ganzen Bündel öffentlicher Maßnahmen. Ich darf Ihnen nur die wichtigsten nennen: Den Marshallplan, mit dem 6 1/2 Milliarden DM innerhalb von drei Jahren in die Bundesrepublik geflossen sind. Bezogen auf das heutige Sozialprodukt wären das 45 Milliarden DM, die uns jährlich zur Verfügung gestellt worden sind.
Gleich danach kommen die Begünstigungen der Exporte und die Erschwerung der Importe durch den Wechselkurs der D-Mark von 4,20 DM zu einem Dollar, der den Kaufkraftparitäten überhaupt nicht entsprach. Dann sind zu nennen das Investitionshilfegesetz und die einkommensteuerrechtliche Begünstigung der nicht entnommenen Gewinne. Und, meine Damen und Herren, der Wiederaufbau der Schlüsselindustrien begann ab 1947 nach den Regeln der Montan-Mitbestimmung, während die Treuhand mit ihrer Schlüsselrolle heute nach rein kapitalistischen Grund-



Dr. Ehrenberg
sätzen konstruiert ist. Das ist ein Kernfehler dieser Entwicklung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Lassen Sie mich zum Schluß noch eine Bemerkung machen: Wir tun zur Zeit so — vor dem Hintergrund der Entwicklung in der DDR — , als wäre in der Bundesrepublik alles in Ordnung. Nur muß ich Ihnen leider sagen: 1,8 Millionen Arbeitslose im Sommer 1990 und 3,3 Millionen Sozialhilfeempfänger sind kein Ruhmesblatt für einen Sozialstaat.

(Beifall bei der SPD — Rauen [CDU/CSU]: Und 2 Millionen Arbeitsplätze mehr!)

Wir haben allen Anlaß, ein gesamtdeutsches Beschäftigungskonzept für die DDR und für die Bundesrepublik gleichzeitig zu verabschieden. Sonst dürfte der künftige deutsche Staat eine Republik minderer sozialer Qualität sein.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122612100
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Langner.

Dr. Manfred Langner (CDU):
Rede ID: ID1122612200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Ehrenberg, schade, daß Sie, der Sie doch so viel Vernünftiges in der DDR tun, daß Sie, der Sie in dem einen oder anderen, was Sie gesagt haben, Praxisnähe erkennen ließen, die Pflichtübungen à la Lafontaine doch nicht sein lassen konnten. Schade vor allen Dingen, daß Sie uns noch ein Beschäftigungsprogramm andienen wollen, mit dem Sie jahrelang gescheitert sind.

(Beifall des Abg. Hornung [CDU/CSU])

Einige Bemerkungen zum Rechtsstaat. Wieder eine Nation zu sein ist ein großes Glück für die Deutschen. Die Ausweitung des Rechtsstaates über die Elbe ist dabei das Wichtigste. Der Einigungsvertrag legt die Grundlagen, doch Stichworte wie Stasi, Rehabilitierung, Amnestie machen klar, welche Herausforderung noch zu bewältigen ist.
Auch die Eigentums- und Vermögensfragen bereiten Kopfzerbrechen. Die Grundregeln enthält der Vertrag, die deutsche Geschichte vor und nach 1945 lastet auf ihnen. Ausgleich muß bewirkt werden. Das ist ein Gebot des Rechtsstaates.
Zum intakten Rechtsstaat gehört aber auch der intakte Finanzstaat. Keine Ausgleichsforderung darf die Leistungsfähigkeit des deutschen Gemeinwesens überziehen. Intakte Staatsfinanzen ohne blühende Wirtschaft gibt es nicht.
Wirtschaftliche Investitionen hängen von der Sicherheit in Fragen von Grund und Boden ab. Deshalb ist es richtig, daß Art. 41 Abs. 2 des Einigungsvertrages den Vorrang der Investitionen vor der langwierigen Klärung offener und komplizierter Eigentumsfragen normiert. Was Herr Lafontaine, wie er uns heute morgen mitteilte, im Gespräch mit einem Mittelständler erfahren haben will, ist im Vertrag längst geregelt. Volkswirtschaftlich förderungswürdige Investitionen dürfen nicht behindert werden und werden nicht behindert.
Die Entschädigung des früheren Eigentümers aber ist zwingend. In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober tritt das Grundgesetz in ganz Deutschland in Kraft. Der Eigentumsschutz des Art. 14 des Grundgesetzes gilt dann uneingeschränkt. Damit ist aber gleichzeitig auch gesagt, daß die Grundrechte des Grundgesetzes erst ex nunc, nicht ex tunc gelten. Unter Hitler, Stalin, Ulbricht und Honecker galten sie eben nicht. Kein Staat und kein Mensch kann ungeschehen machen, was da verbrochen wurde. Den Menschen, die von der ideologisch-motivierten — man muß schon sagen: sogenannten — Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone betroffen wurden, den Tausenden von Landwirten, Firmeninhabern und Hauseigentümern, die enteignet wurden, ist bitteres Unrecht geschehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dagegen hat u. a. Andreas Hermes, einer der Gründungsväter der Union in Deutschland, leidenschaftlich und tapfer gekämpft. Ernst Lemmer, ein Zeitzeuge, faßt diesen Kampf wie folgt zusammen:
Wogegen er — Hermes —
sich auflehnte, war die Zerstörung des Eigentumsbegriffs, der Versuch, die Ehre der betroffenen Landwirte in Frage zu stellen. Und was ihn empörte, war die Verfolgung dieser Männer, die von den Höfen und Gütern ihrer Heimat durch die kommunistische Bodenreform vertrieben wurden.
Nun fragen viele Bürger — auch solche, die nie einen Quadratmeter Grund und Boden in der DDR besessen haben — : Warum wird vertraglich, warum wird verfassungsrechtlich abgesichert, daß diese Enteignungen nicht mehr rückgängig zu machen sind? Die erste Antwort auf diese Frage gibt die Gemeinsame Erklärung der deutschen Regierungen vom 15. Juni 1990 selbst. Diejenigen, die die Regierungsgewalt in der DDR bis zum 2. Oktober ausüben, sehen keine Möglichkeit der Revision. Wer Verträge schließt, kennt die Erfahrung, daß es für Vertragspartner Positionen gibt, von denen sie nicht abgehen.
Konnte, durfte die Bundesregierung diese Forderung des Vertragspartners akzeptieren?, ist die nächste Frage, die gestellt wird. Die Antwort ist: Der Handlungsspielraum war durch Art. 23 Satz 2 des Grundgesetzes gegeben. Übergangs- und Überleitungsregelungen beim Beitritt zum Staat des Grundgesetzes sind erforderlich; der Handlungsspielraum hierbei ist notwendigerweise groß.
Die nächste Frage lautet: Aber ist denn der Vertragspartner des Einigungsvertrages, die Bundesrepublik Deutschland, nicht schon beim Vertragsschluß an das Grundgesetz gebunden? Die Antwort ist ja.
Dieser Verfassungsbindung war sich die Bundesregierung wohl bewußt, denn sie hält in der Gemeinsamen Erklärung fest, daß sie einen sozial verträglichen Ausgleich unterschiedlicher Interessen schaffen will, daß sie Rechtssicherheit, Rechtseindeutigkeit haben will und daß sie sich von dem Recht auf Eigentum leiten läßt.



Dr. Langner
Liest man nun im Lichte der Präambel die Nr. 1 der Gemeinsamen Erklärung der beiden deutschen Regierungen, so ist festzuhalten:
Erstens. Die Regelungen des Einigungsvertrages schließen lediglich aus, daß die Enteignungen rückgängig gemacht werden. Es darf also keinen actus contrarius, kein Aufhebungsgesetz geben, das die Enteignungen für null und nichtig erklärt. Kein redlicher Zweit- oder Dritterwerber braucht um sein Eigentum zu bangen. Das ist der Sinn der Regelungen.
Zweitens. Ausgleichsleistungen aber liegen in der Logik dieser Präambel. Doch wird jedermann, auch die betroffenen Enteigneten, verstehen, daß eine Entschädigung auf den Ausgleich nach Billigkeit zu beschränken ist.
Drittens. Bei der Privatisierung des Finanzvermögens der öffentlichen Hand in der DDR sind auch die Interessen der enteigneten Eigentümer in angemessener Weise zu berücksichtigen. Ausgleichsleistungen kann ich mir im Einzelfall auch als Übereignung von Grund und Boden oder in der Form der Einräumung von Vorkaufsrechten vorstellen, natürlich immer nur im Werte eines Teils des Verlorenen.
Die Sowjetunion kann dagegen eigentlich nichts haben, denn sie läßt das Volk ja selbst über die Bodenreform in der Sowjetunion abstimmen. Zeitung vom Dienstag: „Gorbatschow: Volk soll über die Landreform abstimmen" . Solche Übereignung von Grund und Boden entlastet auch den Finanzminister bei den Ausgleichsleistungen. Wo die Ausgleichsmaßnahmen in dieser Form zu lebensfähigen Betrieben führen, womöglich noch zu Betrieben, die vom Eigentümer selbst geführt werden, da entspricht das der Philosophie der Marktwirtschaft und unserer Eigentumsordnung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Viertens. Auf den Gesetzgeber, der den Gesetzesauftrag aus der Nr. 1 der Gemeinsamen Erklärung zu erfüllen hat, kommt eine schwere Aufgabe zu, die er in der 12. Wahlperiode zügig anpacken muß. Bei der Regelung von Kriegsfolgen verfügt die Bundesrepublik Deutschland über reiche Erfahrungen. Auch die neuen Regelungen können auf manches bewährte Rechtsinstitut, etwa aus dem Lastenausgleich, zurückgreifen. Eine Gleichbehandlung mit anderen Kriegsfolgeregelungen ist ohnehin geboten.
Ganz allgemein wird sich der künftige Gesetzgeber bei der Umsetzung der Eckwerte der Gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni dieses Jahres am Gleichheitssatz orientieren müssen, und die einzelnen Tatbestände, auch in der Erklärung vom 15. Juni 1990, müssen im Lichte des Gleichheitssatzes harmonisiert werden.
Soweit Besatzungsrechtsmaßnahmen als sachlicher Anknüpfungspunkt für unterschiedliche Regelungen dienen, sollte eine genaue historische Bestandsaufnahme vorausgehen. Dazu gehört auch die Frage: Was haben die Befehle Nr. 124 vom 30. Oktober 1945 bis zum Befehl Nr. 64 vom 17. April 1948 der sowjetischen Militäradministration wirklich abgedeckt? Eine wichtige Frage, zeitlich und sachlich.
Weil noch eine Menge Detailarbeit zu leisten ist, konnte nicht alles mit dem Einigungsvertrag erledigt werden. Der Gesetzgeber von heute und auch der künftige wissen sich an die Gemeinsame Erklärung vom 15. Juni gebunden, in der es heißt — ich wiederhole das, weil es mir so wichtig ist — : Sozial verträglicher Ausgleich unterschiedlicher Interessen, Rechtssicherheit, Rechtseindeutigkeit, aber auch — das halte ich für wesentlich — Recht auf Eigentum.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122612300
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122612400
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum Abschluß noch ein paar Worte zur Außenpolitik. Der Vorgang der Vereinigung hat einen entscheidenden außenpolitischen Aspekt. Am 3. Oktober bekommen wir, die NochBundesrepublik, einen neuen, den historisch alten Nachbarn Polen, und Polen bekommt einen neuen, den historisch alten Nachbarn Deutschland, eine Nachbarschaft mit tiefer historischer Verschuldung und doch auch mit hoffnungsvollen Perspektiven für die Zukunft. Es ist, so denke ich, sehr wichtig, wie diese gemeinsame Zukunft von Anfang an gestaltet wird. Natürlich überstrahlt Zwei-plus-Vier, Art. 1 alles, aber es sind doch auch Nebentöne da, die wieder auf alte Insensibilitäten der Bundesregierung hinweisen, die ich hier ansprechen möchte, hielt die Bundesregierung es doch für nötig, noch Anfang September eine Abänderung der Verordnung der Alliierten Kommandantur über den freien Zugang polnischer Bürger nach West-Berlin vornehmen zu lassen — dies am 1. September, zum 51. Jahrestag des Überfalls auf Polen, dies einen Monat und drei Tage, bevor diese spezielle Regelung ohnehin hinfällig wird.
Es macht die Sache auch nicht besser, daß es der Innensenator einer rot-grünen Regierung war, der dies ursprünglich angeregt hatte. Man sage auch nicht, er habe die Anregung schon im Mai gegeben und es sei Schuld der Mühlen der Bürokratie, daß der Vorgang erst Anfang September verkündigungsreif wurde. Man sage auch nicht, es seien ja nur noch ein paar Wochen. — Weshalb diese Aufregung?
Nein, ich denke, der Vorgang ist in sich so unglaublich, daß eine Rückkehr zum alten Zustand, und wenn es auch nur für einige Tage wäre, unbedingt notwendig ist, und zwar aus Gründen symbolischer und einer Politik des Anstands. Deshalb haben wir unseren Antrag eingebracht. Wir bitten um Unterstützung, indem das Haus genau dies fordert.
Hinzu kommt ein Zweites. Wir begrüßen sehr, daß in Art. I des Schlußdokuments der Zwei-plus-VierGespräche die deutsch-polnische Grenze nun endlich in völkerrechtlich verbindlicher Form geregelt wird. Allerdings bedauern wir eines: Es scheint so, als wollte die Bundesregierung dem zukünftigen gemeinsamen Parlament zusammen mit dem Ergebnis der Zwei-plus-Vier-Gespräche noch nicht den vertraglich vereinbarten deutsch-polnischen Grenzvertrag zur Ratifikation vorlegen, obwohl der Kerninhalt dieses Vertrags durch die gemeinsame Entschließung



Dr. Lippelt (Hannover)

dieses Hauses und der Volkskammer längst formuliert ist.
Man bedenke: Schon einen Tag nach der Unterzeichnung des Zwei-plus-vier-Dokuments war unser Außenminister in der Lage, in Moskau den deutschsowjetischen Generalvertrag zu unterzeichnen. Man bedenke weiter, daß nach dem Grenzvertrag auch ein deutsch-polnischer Generalvertrag folgen wird. Wir alle wissen, daß das nicht so schnell geht, sondern wegen der Kompliziertheit der Materie lange dauern wird.
Wäre es nicht um so dringlicher gewesen, jetzt eine gemeinsame Ratifizierung mit dem Grenzvertrag vorzunehmen? Wir leben nicht mehr in der Zeit von Rapallo. Ich gehöre zu denen, die in Polen jedem solchen Vorwurf entgegentreten. Aber muß man denn immer wieder Gelegenheit für solche Befürchtungen geben? Das ist etwas, was wir nicht verstehen.
Geht man nun den Gründen nach, warum es der Regierung nicht möglich war, genauso vorzugehen, so stößt man auf eine merkwürdige Doktrin, nämlich auf die, diese Regierung habe erst ab 3. Oktober das Mandat für die textlichen Feststellungen. Diese Regierung hat aber die Aufhebung der Zugangsrechte nach West-Berlin nicht etwa selber notifiziert, sondern sie hat sich dazu des DDR-Außenministeriums bedient. Und der Gedanke, da nun jemanden mitzunehmen und den Text für den Grenzvertrag festzustellen, sollte so ferngelegen haben?
Ich denke, tatsächlich war es weniger ein Problem des Außenministeriums. Dazu haben wir viel zuviel Gerüchte gehört, daß manche Leute aus innenpolitischen Gründen daran interessiert seien, diesen Vertrag so weit nach hinten zu schieben, daß er ungefähr mit dem Generalvertrag zusammenfällt.
Dieses Haus ist genau solchen Bemühungen mit der Resolution entgegengetreten, in der wir gesagt haben: bitte einen eigenständigen Grenzvertrag so schnell wie möglich.
Deshalb bitten wir mit unserem zweiten Antrag, daß dieses Haus die Regierung auffordern möge, zur Ratifizierung des Zwei-plus-Vier-Dokuments auch den Grenzvertrag fertig zu haben und mit vorzulegen. Das ist nicht zuviel verlangt. Im Kern ist der Grenzvertrag längst fertig. Wir haben es hier beschlossen. Deshalb, so denke ich, sollten wir die Regierung zu dieser Prozedur auffordern. Darum bitte ich um Ihre Zustimmung.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122612500
Das Wort hat Frau Abgeordnete Unruh.

Gertrud Unruh (GRÜNE):
Rede ID: ID1122612600
Frau Präsidentin! Werte Volksvertreterinnen und werte Volksvertreter! Wir Alten — ob hier in der Bundesrepublik Deutschland oder in der Deutschen Demokratischen Republik — freuen uns, daß dieser Einigungsvertrag jetzt unter Dach und Fach ist. Ich könnte hier jetzt natürlich Tiraden loslassen,

(Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)

was alles noch zu ändern wäre; das ist doch selbstverständlich. Nur, daß man hier meint, es sei alles so wunderbar, wie der Herr Sozial- und Arbeitsminister Dr. Blüm nach draußen verkündet hat, das hat mich natürlich gereizt, zwar nicht etwas ganz Geschichtliches, Heroisches jetzt von mir zu geben, aber doch einfach zu fragen: Herr Dr. Blüm, warum geben Sie in der DDR dermaßen an, wie gut es uns Rentnern hier geht?
Herr Ehrenberg, auch Sie stellen sich hier genauso hin, obwohl unter Ihrer Ara die erste „Abdynamisierung" der kleinen Rentner stattgefunden hat. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis — und das wissen Sie auch — : Die Pflichtversicherten in der Bundesrepublik Deutschland — und zukünftig in der DDR — haben keine Lobby. Ich hoffe, daß sich die SPD ändern wird, nämlich die Anpassungsgrenzen — —

(Zurufe von der CDU/CSU)

— Ja, dann tun Sie von der CDU es doch. Mir ist es doch egal, wer es tut. Hauptsache, den Pflichtversicherten geht es besser. Denn die Renten — das wissen Sie doch, Herr Dr. Blüm — der Rentner und Rentnerinnen, die Altersbezüge nur über die Pflichtversicherung beziehen, betragen auch nach 40 Jahren im Schnitt nur 1 320 DM pro Monat;

(Hornung [CDU/CSU]: Und dann lehnen Sie die Sozialhilfe ab!)

die Witwe kriegt davon 60 %.
Sie haben es mit Ihrem christlichen Herzen nicht geschafft, eine Mindestrente à la DDR — immer in Anpassung an die Lebensverhältnisse — zu schaffen.

(Zuruf von der CDU/CSU: So niedrig?!)

In der DDR haben die armen Rentner — im wesentlichen Frauen — mit ihren 450 Mark existieren können. Nur, die alten Frauen in der Bundesrepublik, die über 65 Jahre alt geworden sind, die Deutschland mit aufgebaut haben, sind nicht mit einer Mindestrente versorgt worden, wenn sie arm geblieben sind. Und davon gibt es Millionen!

(Hornung [CDU/CSU]: Bei uns ist das Niveau doch höher als drüben!)

Also, Gesamtdeutschland: Die Lobby der Grauen wird kommen; ist doch wohl selbstverständlich. Die Grauen Panther werden das bringen. Gesamtdeutschland: Die erste Aufgabe ist, die Altersarmut in Gesamtdeutschland abzuschaffen. Mit weniger als 1 200 DM kann kein alter Mensch in dieser Bundesrepublik Deutschland in Würde leben, auch in der DDR nicht.
Das zweite ist natürlich, daß wir für eine Volksversicherung streiten werden. Was heißt hier denn immer „sozialer Ausgleich"? Was heißt denn: Nach unserem Grundgesetz müssen wir gleiche Lebensverhältnisse haben? Warum braucht ein Bundeskanzler, wenn er in Pension geht, meinetwegen 20 000 oder 28 000 DM? Und warum braucht ein anderer, wenn er in Pension geht, in Altersrente geht, nur 1 200 DM? Warum haben wir ein Berufsbeamtensystem — das Sie dort ja sofort einführen wollen — ohne ein Stück eigene Einzahlung? Mindestpension: 1 730 DM. Meinen Sie, das versteht ein Schichtarbeiter, der malochen muß, bis er



Frau Unruh
umfällt, der an Berufskrankheiten oder an sonstwas leidet?
Und da kommt ja der Punkt: Es gibt bei den Grauen nicht nur die Reform der Rentenreform, sondern es gibt auch die Reform der Gesundheitsreform; das ist ja wohl selbstverständlich. Denn wer hat denn unter dieser Reform am meisten gelitten? Soll ich es Ihnen um die Ohren hauen, Herr Minister?!

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Nein, bitte nicht! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU — Zurufe von der SPD: Ja!)

Darauf sind Sie noch stolz?
Sie haben den Alten ihr Sterbegeld genommen. Dadurch sind 1989 880 Millionen DM eingespart worden. Die AOK — das muß man sich vorstellen — geht jetzt hin und bietet denen, die aus der Sterbegeldversicherung nichts mehr kriegen, oder denen, die jetzt nur noch 1 100 DM bekommen, über eine Förderungsgesellschaft billige Sterbegeldversicherungen an. Ja, in welcher Welt lebe ich denn? In einer staatlich verwalteten gesetzlichen oder in einer freiheitlichen? Den Arbeitern in diesem Land verwehren Sie ihr Stück Freiheit, überhaupt zu bestimmen, in welche Krankenkasse sie wollen.
Dann haben Sie den kleinen Leuten die Möglichkeit genommen, Taxi zu fahren; früher haben sie fünf Mark bezahlt und konnten zu ihrem Hausarzt fahren. Und wie sieht es heute aus? Heute mußt du überlegen: Rufst du an? Wenn du schon schwer krank bist, einen Herzinfarkt hast, kommt das große Sanitätsauto. Das kostet 300, 400 DM. Hast du aber Pech gehabt und das Krankenhaus schickt dich wieder nach Hause, bezahlst du das alles selbst. Und das nennen Sie sozial verantwortlich. Das glauben Sie alles selbst nicht.

(Beifall der Abg. Frau Wollny [GRÜNE] — Zurufe von der CDU/CSU)

— Genau. Daß wir Alten die dritten Zähne brauchen, ist doch wohl klar. Wie sieht es denn damit aus? Das sind doch keine sozialen Schutztaten, das ist eine soziale Auslieferung in einem freiheitlichen Rechtsstaat, der aber nicht geneigt ist, eine gleichwertige soziale Ordnung im nächsten Gesamtdeutschland zu gestalten.
Sie von NRW können Ihre Wahlkampfgelder noch so erhöhen wollen, die stammen ja auch aus dem Steueraufkommen. Überlegen Sie sich einmal, was es da an Geldern gibt. Bei 0,5 % Stimmenanteil gibt es 1 Million DM Wahlkampfkostenrückerstattung. Diese Zahlen muß man sich mal vorstellen. Und NRW ist immer noch nicht zufrieden. Jetzt muß es ja 6,25 DM geben. Ich bin überzeugt, daß dieses Haus bald nachziehen wird.
Weil erkannt ist, daß wir im Berufsbeamtentum mit Privilegien, die kein Arbeiter, kein „kleiner" Angestellter mehr verstehen kann, ersticken, bin ich überzeugt, daß wir Grauen mit unserem bißchen Geld
— wir haben nur 300 000 DM für unseren Wahlkampf —,

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Aber Sie!)

aber mit unserem Idealismus die Leute überzeugen werden, daß die einzige politisch bewegende Kraft im nächsten Parlament nur die Grauen sein können.

(Zurufe von der CDU/CSU: Die Grauen! Die Grauen!)

— Jetzt hört auf! — Die Grauen Panther haben es gezeigt.
Es werden viel mehr Frauen hier im Parlament sitzen. Wir haben 50 % Frauenquote.

(Bohl [CDU/CSU]: Sie verschlechtern sich um 50 % ! Jetzt haben Sie 100 % weibliche Graue Panther!)

Dann werden hier Frauen aus dem Leben heraus Politik mitgestalten können. Dann sind Sie Herr Bohl, und Sie, Herr Schäuble — ich nehme Ihnen ja ab, daß Sie es gut meinen, daß der Wirtschaftsminister es gut meint; ich werde die nächste Altenministerin, ist ja klar — —

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Der graue Star!)

Sie meinen es alle gut, nur handeln Sie politisch immer verkehrt. Deshalb wird es so kommen.
Liebe Sozialdemokraten, ich warne euch vor der FDP.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Die FDP bringt es nicht. Helft uns Grauen, daß wir zu einer politischen Macht werden, daß wir über 5 kommen. Dann haben wir das Regulativ — dann werden wir so hüpfen wie ihr FDP-ler —,

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

damit es den „kleinen" Leuten in dieser Bundesrepublik Deutschland besser geht.
Ich sage noch etwas: Der Wahlvertrag ist ja wunderbar. Aber was haben wir zu leisten? Wir müssen auch noch in den fünf DDR-Ländern und in Ost-Berlin die Unterschriften sammeln. Überlegen Sie sich das mal alle. Das nennen Sie Gleichheit vor unserem Grundgesetz, vor unserem Parteiengesetz.
Mein Gott, verehrte liebe

(Zuruf von der CDU/CSU: Trude!)

— was denn, ist der Präsident böse?; nein — Volksvertreterinnen und Volksvertreter, Sie hätten es menschlicher gestalten können, auch die SPD; die hatte nur Schiß vor der PDS. Die PDS kommt so oder so, ob ihr wollt oder nicht.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Aber dann hätten wir die erste gesamtdeutsche Wahl auch richtig freiheitlich, demokratisch, ohne Zwänge, ohne Fünfprozentklausel einmal riskieren können.

(Beifall bei den GRÜNEN)

In diesem Sinne: Riskieren Sie auch mal etwas, und schaffen Sie vielleicht noch vor der Bundestagswahl die Altersarmut doch einfach ab. Was sind denn 1 200 DM aufgestockt? Was hier alles rausgeschmissen wird an Milliarden, Milliarden und nochmals Mil-



Frau Unruh
harden. Das Geld ist da, der politische Wille der Grauen Panther ist auch da. Und damit geht's rund!

(Beifall bei den GRÜNEN — Lachen bei der SPD und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1122612700
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.

(Unruhe bei der CDU/CSU — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Nein! Zuerst brauchen wir eine Erholungspause, Frau Präsidentin! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe. Es dauert nur noch viel länger, wenn Sie ihn nicht zum Reden kommen lassen. — Bitte, Herr Abgeordneter Wüppesahl, Sie haben das Wort.

Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1122612800
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, Sie verwechseln mich mit der Kollegin Unruh.
Die Situation des Deutschen Bundestages beim Eintritt in die zweite Lesung des Einigungsvertrages stellt sich mir so dar: Maßgebliche Kräfte der GRÜNEN versuchen, die Partei durch provozierende Äußerungen über die künftige militärische Weltmachtpolitik der Bundesrepublik nach der Reinwaschung von nationalsozialistischer Vergangenheit von fortschrittlich denkenden Menschen, z. B. aus der Friedensbewegung, zu säubern, um ihren Frieden mit der Macht, gegen deren Arroganz sie einst antraten, zu schließen. Damit dies ungestört passieren kann, werden Abweichler diszipliniert und wird der innerparteilichen Diskussion der Garaus gemacht.
Nach den provozierenden Äußerungen des GRÜNEN Knapp gab es beruhigende Distanzierungen, den scheinbaren Rückzug. Doch in der „Frankfurter Rundschau" vom letzten Wochenende konnte dann Antje Vollmer den Linken bei den GRÜNEN den nächsten Schlag versetzen. Ihren christlichen Imperialismus brachte sie in direkte Verbindung mit der außerparlamentarischen Opposition, die doch den Anspruch hatte, eine antiautoritäre Gesellschaft zu entwickeln.
Sicherlich wird es auch da wieder „Klarstellungen" geben. Doch der Weg, den die GRÜNEN gehen, der Weg in die Anpassung, ist der Kollegin Vollmer nicht erst auf dem Londoner Flughafen eingefallen; die GRÜNEN gehen ihn schon seit längerem. Das laute Nachdenken von Udo Knapp und Antje Vollmer ist nur ein weiterer wesentlich verschärfter Schritt.
Die Sozialdemokratie, in der unbestimmten Gewißheit, die Bundestagswahl 1990 schon verloren zu haben, bevor der Wahlkampf richtig begann, bettelt um Gehör für ihr Konzept des ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft. Die Sozialdemokratie hätte hier in der zweiten Lesung dieses Anklatschvertrages eine Möglichkeit, sich für ihre Vorstellungen Gehör zu verschaffen und ihre Vorstellungen durch konkludentes Abstimmungsverhalten anzuzeigen. Doch sie nutzt diese Chance nicht, vielleicht weil sie weiß, daß man ihr sowieso keinen Glauben mehr schenkt; dazu sind die Versäumnisse der Sozialdemokratie während des Einigungsprozesses zu groß.
Die Sozialdemokratie macht den Amoklauf in die Einheit, mit dem der Bundeskanzler von einem zum anderen historischen Moment vorprescht, mit. Sie winselt geradezu, auch zustimmen zu dürfen, obwohl die Regelungen im Anklatschvertrag widersprüchlich und fehlerhaft und die Konsequenzen gar nicht zu übersehen sind. Doch der SPD fehlt der Mut zur Opposition. Statt dessen erträgt sie lieber alle nur möglichen Demütigungen, z. B. die des Kohl-Zöglings de Maizière. Dieser mußte die SPD aus der Ostberliner Volkskammerkoalition geradezu herausprügeln. Als diesem dann nichts anderes mehr einfiel, als SPD- Minister zu entlassen, feierten die Ostsozialdemokraten dies auch noch als den Ausstieg aus der Koalition der Aufmüpfigen.
In der DDR ist die sozialdemokratische Opposition längst zerfallen. Die West-SPD übernimmt einen Scherbenhaufen, der sich nach dem Ausstieg Ibrahim Böhmes aufzutürmen begann. Dabei werden alle Grundsätze einer soliden Haushaltspolitik beiseite gestellt. Das Tempo, in dem die Bundesregierung die Einheit vollzieht, stellt den Bund vor die Aufgabe, in kürzester Zeit rund 160 Milliarden DM zu akquirieren. Ein verlangsamter Einigungsprozeß hätte diesen ökonomischen Kraftakt auf ein für die Bürger erträgliches Maß reduziert. So aber werden die Steuerzahler zur Einheit gebeten wie früher zum Aderlaß — mit Zustimmung der SPD, auch wenn man sich verbal ständig zu distanzieren versucht.
Auf eine solide Haushaltspolitik zu drängen, das Tempo der Einheit zu verlangsamen wäre Aufgabe der Opposition gewesen. Das kann man nicht von einem Kanzler erwarten, der sich selbst als Reichseiniger in die Nachfolge Bismarcks stellen will,

(Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Hör doch auf!)

und nicht von einer Partei, die ihren propagandistisch verbrämten Willen zum Machterhalt allen hauswirtschaftlichen Grundsätzen opfert.
In dieser verheerenden parlamentarischen Situation wird über einen Vertrag beraten, der das soziale, innenpolitische und wirtschaftliche Klima auf Jahre bestimmen wird, der selbst vor dem Grundgesetz der Bundesrepublik keinen Halt macht und der die Beschäftigung dieses Bundestages für die nächsten vier bis acht Jahre vorprogrammiert, um die hier in den Verträgen gemachten Fehler zu korrigieren.
Der Vertragstext, so wie er jetzt zur Beratung vorliegt, offenbart die Bereitschaft der Regierung, durch die anstehenden sozialen Konflikte mit der Brechstange zu marschieren, anstatt den betroffenen Bürgern mit sozialen Hilfestellungen zur Seite zu stehen.
Dabei ist sich die CDU/CSU-FDP-Regierung nicht zu schade, sich zu Nutznießern der ehemaligen Stasi zu machen und schon einmal vorsorglich deren Akten unter ihre Fittiche zu nehmen, um gegebenenfalls darauf zurückzugreifen, wie wir aus den Innenausschußsitzungen bezüglich der Carlos-Akten beim BKA wissen.
Das akute Problem der Stasi-Akten — wobei ich der Überzeugung bin, daß sie in die Verantwortung der neuen Länder der DDR und somit den Bürgern, über die sie geführt wurden, gehören — zeigt auf ein wei-



Wüppesahl
teres Versäumnis des Einigungsvertrags. Man kann doch nicht ernsthaft glauben, daß das Bemühen der Bundesregierung um die Stasi-Akten darauf gründet, sie einer ökologischen Abfallverwertung zukommen lassen zu wollen. Inzwischen wissen wir auch, daß nicht ausgeschlossen ist, daß die an das Bundesamt für Verfassungsschutz gegebenen Daten an den Bundesnachrichtendienst weitergegeben werden können. Auch das sollte man den Menschen, vor allen denen in der DDR, deutlich sagen.
Obgleich das Grundgesetz in diesem Einigungsvertrag angetastet wird — zu seinem Nachteil, wie ich schon ausgeführt habe —, bequemt sich die Bundesregierung nicht, die Möglichkeit wahrzunehmen, die Probleme, die die Autoren des Grundgesetzes nicht absehen konnten, verfassungsrechtlich und zum Wohl der Bürger zu regeln.
Es fehlt eine Ergänzung der Verfassung um das Problem des Datenschutzes, der Erhebung von Daten, deren Weitergabe und Verwendung sowie deren Speicherung. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches der DDR ist auch in dieser Hinsicht vorbildlich. Statt dessen wurde das Datenschutzgesetz in dieser Woche durchgepeitscht, das die bisherige rechtswidrige Praxis unserer Dienste auf legalisierte Grundlagen stellen soll.
Aber dies ist auch nicht gewollt, gilt es doch, sich sicherheitstechnisch auf die neuen sozialen Probleme einzuschießen, anstatt sie von vornherein zu verhindern bzw. entstandene Probleme durch wirtschaftliche und soziale Maßnahmen zu lindern. Viele warten jetzt auf den Moment, in dem der BGS in die DDR geschickt wird, um aufkommende Streiks und andere soziale Unruhen kaltzustellen. Hier wäre wiederum die Sozialdemokratie gefordert gewesen.
Warum streitet die Sozialdemokratie nicht für ein Arbeitsvertragsrecht in einem übersichtlichen Gesetzeswerk, damit die antiquierten Bestimmungen des bundesdeutschen Rechtes abgelöst werden?
Warum besteht die SPD nicht auf der Streichung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes — des AntiStreikparagraphen — , gegen den sie vor Jahren noch vehement wetterte? Warum nutzt sie nicht die Möglichkeit, die sich bietet? Denn die Regierungskoalition ist für die Verabschiedung des Einigungsvertrages auch auf die Stimmen der sozialdemokratischen Fraktion angewiesen.
Warum streitet sie nicht öffentlich dafür, daß der Umweltschutz als Grundrecht in das Grundgesetz aufgenommen wird? Statt dessen werden wir morgen wahrscheinlich diese Staatszielbestimmung verankern. Hier könnte doch Herr Lafontaine seinen Ideen des ökologischen Umbaus endlich Gültigkeit verschaffen.
Ist der Sozialdemokratischen Partei und der Fraktionsführung in den Hinterzimmergesprächen mit der Regierungskoalition zum Einigungsvertrag die Puste ausgegangen, so daß sie nicht mehr deutlich machen konnte, was mit der Sozialdemokratie geht und was nicht? Vielleicht weiß sie es inzwischen zum Teil selbst nicht mehr. Oder hat die Sozialdemokratie die Essentials ihres Spitzenkandidaten und damit ihn selbst schon fallengelassen?
Doch der Daten- und Umweltschutz ist keine Domäne der SPD, sondern auch ein ehemaliges Grundanliegen der GRÜNEN. In einer Art vorweggenommenen rosagrünen Gesamtopposition hat sich die ehemalige Partei der Aufmüpfigkeit, der konstruktiven Opposition, in Spekulationen über eine zukünftige gesamtdeutsche Weltpolizei verflüchtigt.
Der von der Regierungskoalition vorgelegte Einigungsvertrag macht eine Unzahl von Änderungsanträgen notwendig. — Sie brauchen jetzt nicht aufzuschrecken; es liegen keine Aktenordner im Vorraum, wie Sie inzwischen wissen — , Änderungsanträge, die der neuen sozialen und politischen Situation Rechnung tragen und z. B. die Einführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung beinhalten müßten; die Einführung des Verbots der Diskriminierung der Frau, die Abschaffung des politischen Strafrechts, eine Reform des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes, die Sicherung des sozialen Besitzstandes und anderes mehr.
Die Bundesregierung wäre gut beraten gewesen, hätte sie sich der Empfehlung angenommen, die Vereinigung in einem Zeitraum von einem bis zwei Jahren zu vollziehen. Man hätte in angemessener Zeit die DDR-Gesellschaft analysieren können, den Restbestand an wirtschaftlichen Betriebseinheiten sichten und entwickeln, die sozialen Errungenschaften der DDR prüfen und eventuell übernehmen können. Doch dazu hätte es einer Regierung bedurft, die das Parlament als solches achtet und nicht umgekehrt. Dazu hätte es einer Opposition bedurft, die genau darauf beharrt und durch eigenes Profil und eigene Programmatik die Diskussion bereichert.
Aber die Eitelkeit der CDU-Vordersten ließ dies nicht zu. Die CDU fand in der Opposition einen willigen Erfüllungsgehilfen. Wie die Bürger mit dem, was hier beschlossen wird, leben sollen, scheint sie nicht zu scheren. Der Ernstfall ist dann gegeben, wenn die Bürger der DDR begreifen, in welches soziale Elend sie durch die überstürzte Einigung gestoßen werden; wenn sie sich dagegen wehren — wie es z. B. schon während des Streiks der Bediensteten der Ostberliner Abfallwirtschaft geschah oder wie kürzlich während der Bauernproteste.
Diesem Notstand wird im Einigungsvertrag verfassungsrechtlich vorgebaut. Dort heißt es ausdrücklich, daß Recht in dem beigetretenen Teil Deutschlands längstens bis Ende 1991 von Bestimmungen des Grundgesetzes abweichen kann. Daß mit den Abweichungen die Grundrechte gemeint sind, belegt der eindeutige Verweis des Art. 4 Abs. 5 des Einigungsvertrages auf Art. 19 des Grundgesetzes, der mit „Einschränkung von Grundrechten" überschrieben ist.
Doch auch die Sozialdemokratie läßt sich da nicht lumpen. Ihr Fraktionsmitglied und gleichzeitig Vorsitzender der IG Chemie, der Kollege Rappe, fordert, daß alle PDS-Mitglieder aus der IG Chemie ausgeschlossen werden. Hier wird eine innergewerkschaftliche Zensur gefordert, welcher der sonst postulierte Pluralismus der Gewerkschaften hohnspricht.
Als sich ein langjähriger Funktionär der IG Metall und Mitglied der SPD zur Linken Liste/PDS bekannte, wurde er aus seinem Amt geschmissen. Die SPD macht das weiter, was sie mit ihrem unseligen Radi-
17882 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung. Bonn. Donnerstag. den 20. September 1990
Wüppesahl
kalenerlaß angefangen hatte, Repression gegen fortschrittliche linke Menschen.
Alle gesetzgeberischen Maßnahmen der Deutschen Demokratischen Republik, welche die sozialen Folgen der Einheit abfedern könnten, z. B. das Recht auf einen Kindergartenplatz, damit auch Frauen in der Lage sind, sich in der kapitalistischen Marktwirtschaft frei zu orientieren, werden kurzerhand abgeschafft; und die Sozialdemokratie macht mit.

(Spilker [CDU/CSU]: Uns reicht es jetzt!)

Letzter Satz. Es gibt faktisch kein Korrektiv zum bundesregierlichen Amoklauf in eine ungewisse Einheit, jedenfalls nicht durch die beiden Oppositionsfraktionen im Bundestag. Helmut Kohl, des Wahlsieges im Dezember schon jetzt sicher — wahrscheinlich zu Recht —, wird sich sicherlich noch bei der Opposition bedanken können.
Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit einer Linken Liste/PDS im nächsten Deutschen Bundestag ist überdeutlich geworden, nicht nur durch diese Ausführungen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Zurufe von der CDU/CSU: Sie sollten sich schämen! — Schämen Sie sich! — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Ein Opportunist! Nur um sein Mandat zu retten, geht er mit ihnen!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122612900
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über die Entschließungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN, die sich auf die Erklärung der Bundesregierung beziehen.
Der Entschließungsantrag auf Drucksache 11/7912 wurde zurückgezogen.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7910? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? —

(Lachen bei der SPD)

Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU-FDP-Koalition bei einer großen Zahl von Enthaltungen der SPD-Fraktion abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7913? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der GRÜNEN abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7949? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist mit gleichem Stimmenergebnis abgelehnt worden.
Tagesordnungspunkt 3 b. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom 31. August 1990 und der Vereinbarung vom 18. September 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands.
Ich rufe auf die Art. 1 bis 8, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind gegen die Stimmen der GRÜNEN und bei zwei Enthaltungen angenommen.

(Unruhe und Widerspruch bei der SPD — Zurufe von der SPD: Da drüben bei der CDU waren es eine ganze Menge! — So nicht!)

— Ich überprüfe noch einmal die Gegenstimmen. —

(Zuruf von der SPD: Es sind sogar mehr als drei!)

— Entschuldigen Sie. Die aufgerufenen Vorschriften sind gegen die Stimmen der GRÜNEN und bei Gegenstimmen aus der CDU/CSU-Fraktion sowie der Gegenstimme des Abgeordneten Wüppesahl angenommen.
Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Wir treten in die
dritte Beratung
ein. Hierzu liegt mir zuerst die Wortmeldung des Abgeordneten und Vizepräsidenten Herrn Stücklen
'VOL

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1122613000
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie wir heute aus der Volkskammer erfahren haben, hat sie dem Einigungsvertrag mit großer Mehrheit zugestimmt.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Mit der dritten Lesung und der anschließenden Abstimmung wird der Deutsche Bundestag den Schlußstein für die Einheit Deutschlands setzen. Damit ist der Verfassungsauftrag des Grundgesetzes erfüllt, und wir sind mit Freude und mit Stolz von dieser Entscheidung tief berührt.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

In meiner Rede anläßlich der Bundesversammlung im Jahre 1979 habe ich die Hoffnung ausgesprochen, daß uns die Gnade der Einheit zuteil werde. Diese Gnade der Einheit Deutschlands ist uns zuteil geworden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN)

In dieser Stunde möchte ich eines langjährigen Mitglieds dieses Hauses gedenken, das in seiner ganzen Zeit unbeirrt, hartnäckig und unverzagt für die Einheit Deutschlands gewirkt hat, aber nicht mehr unter uns ist: Das ist Franz Josef Strauß.

(Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. Mischnick [FDP] — Bindig [SPD]: Gradl hätten Sie erwähnen sollen!)

Wir von der CDU/CSU haben am Verfassungsauftrag
festgehalten, und dies auch zu einer Zeit, als andere



Stücklen
schon die Hoffnung aufgegeben hatten und dabei waren, sich mit dem SED-Regime zu arrangieren.

(Dr. Vogel [SPD]: Das war die Sache mit dem Kredit über eine Millarde!)

Es gab sogar Bestrebungen, den Verfassungsauftrag aus der Präambel des Grundgesetzes zu streichen. Meine Damen und Herren von der Fraktion DIE GRÜNEN, Sie können diesen Teil der Präambel des Grundgesetzes streichen; denn er ist erfüllt.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Wir haben den Honecker nicht eingeladen!)

Meine Damen und Herren, wir alle sind sporadisch auch Fernsehzuschauer. Viele werden sich wohl noch daran erinnern können, als Herr Honecker in Erwartung des Generalsekretärs Gorbatschow auf dem Flughafen in Ost-Berlin auf und ab stolzierte und in frivoler Weise davon sprach: Die Mauer steht noch in 50 und in 100 Jahren. Herr Gorbatschow hat ihm postwendend die Antwort gegeben und hat ihm erklärt, daß, wer zu spät kommt, vom Leben bestraft wird. Damit war das politische Ende Honeckers und der SED eingeleitet. Die russisichen Panzer und Bajonette standen nicht mehr wie am 17. Juni 1953 zur Niederwerfung des Volksaufstandes zur Verfügung.
Die Menschen in der DDR haben den grundgesetzlichen Auftrag übernommen. Zu Hunderttausenden haben die Frauen und Männer auf den Straßen von Leipzig und anderswo in der DDR die ungeliebte, ja, gehaßte Machtstruktur des SED-Staates in den Grundfesten erschüttert, obwohl zu dieser Zeit die Tyrannisierung durch die Staatssicherheit noch ungebrochen war, obwohl die Betriebskampfgruppen und die Volkspolizei bis an die Zähne bewaffnet waren. Der Mut der Menschen hat sie in friedlicher Weise in die Knie gezwungen, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das waren die Helden, die wahren Helden der Revolution, und so werden sie auch in die Geschichte eingehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mit dem 3. Oktober 1990 geht ein Abschnitt unserer Nachkriegsgeschichte zu Ende. Ein neuer Abschnitt in einem wiedervereinigten Deutschland beginnt, baut auf der Grundlage der Politik der vergangenen 40 Jahre auf und entwickelt sie im gemeinsamen Deutschland weiter fort. Lassen Sie mich als einen, der vom ersten Tag dieses Geschehens an im Deutschen Bundestag dabei war, aus meiner Sicht und meiner Bewertung einige politische Entscheidungen in Kürze aufzeigen.
1949 standen wir insbesondere vor zwei großen Aufgaben. Wir mußten zum einen das anvertraute Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland aus den Trümmern wiederaufbauen, und wir hatten zum anderen den Auftrag der Präambel des Grundgesetzes zu erfüllen, die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
Wie fast alle Kollegen von damals waren wir der Meinung, die Trennung würde nur für eine kurze
Übergangszeit Bestand haben, der Auftrag zur Einheit ließe sich relativ schnell erfüllen. Ich erinnere daran — es sind ja auch einige andere da, die sich noch daran erinnern können — , daß Professor Carlo Schmid damals den Vorschlag gemacht hat, man sollte an der Zonengrenze Baracken bauen, denn es würde ja nur ganz kurze Zeit dauern, bis wir wieder in Berlin tagen können.

(Dr. Vogel [SPD]: Und jetzt wollt ihr nicht!)

Die Beseitigung des ungeheuren Ausmaßes an Trümmern, Not und Elend kam uns dagegen unendlich schwieriger vor.
Die Entwicklung verlief, wie wir wissen, anders. Die Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich schon bald zu einem wirtschaftlich gesunden und international geachteten Gemeinwesen. Gestatten Sie mir, aus meiner Sicht fünf Faktoren dafür aufzuzählen:
Zum einen haben die Schöpfer des Grundgesetzes die schwerwiegenden Konstruktionsfehler der Weimarer Reichsverfassung vermieden und so der staatlichen Ordnung einen stabilen Rahmen gegeben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Zum zweiten hat die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft, für die der Name Ludwig Erhard steht, die Basis für einen raschen und steilen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung geschaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei der FDP)

Zum dritten hat Konrad Adenauers eindeutige Politik der Westintegration der jungen Bundesrepublik zu Freiheit und Sicherheit in einer Werte- und Verteidigungsgemeinschaft des Westens verholfen. Unter dem Schutz dieses Bündnisses, das uns Sicherheit und Frieden garantierte, konnten der friedliche Ausbau einer erfolgreichen Wirtschafts- und Sozialordnung und die weitere Integration Europas fortgesetzt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ohne den Schutz des NATO-Bündnisses hätten wir die Abwehr des Berlin-Ultimatums von Chruschtschow 1958 wohl nicht heil überstanden.
Natürlich kamen Adenauer die außenpolitische Lage und die ihm wohlgesonnenen Verhandlungspartner wie McCloy oder John Foster Dulles zugute. Entscheidend aber war, daß Adenauer die Chancen, die ihm das Bündnis bot, erkannte und im Interesse der Bundesrepublik und Europas nutzte. Das zeichnet einen Staatsmann aus: die Chancen zu erkennen und zu nutzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. Mischnick [FDP])

Insoweit können Sie sich, Herr Bundeskanzler

(Zurufe: Jetzt ist er weg! — Er kommt gleich wieder!)

— dann bitte ich, ihm das zu übermitteln —, als politischer Enkel Adenauers bezeichnen; denn Sie erkennen die Chancen und nutzen die Chancen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)




Stücklen
Zum vierten konnte sich die parlamentarische Demokratie dank ihrer Verwurzelung in der Bevölkerung schnell stabilisieren und fest verankern.
Der fünfte Faktor, den ich für den wichtigsten für die schnelle Aufbauleistung nach dem Kriege halte, waren Fleiß und Tatkraft der Bürgerinnen und Bürger, die ohne Zögern gemeinsam ans Werk gegangen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Meine Damen und Herren, dieser Zeitabschnitt unserer deutschen Geschichte wurde von der Opposition nicht nur kritisch begleitet, sondern teilweise hart bekämpft, unter anderem mit dem Vorwurf, daß diese Politik Adenauers die Wiedervereinigung Deutschlands verhindere. Daß dies nicht zutraf, beweist der Fortgang der Geschichte.
Ebenso, Herr Kollege Brandt — leider ist auch er im Augenblick nicht da — , haben wir, als wir in der Opposition waren, die von Ihnen und Ihrer Regierung sowie von Ihrem Nachfolger Schmidt verfolgte Ostpolitik bekämpft, weil wir in diesen Verträgen eine Zementierung der Teilung Deutschlands gesehen haben. Auch hier beweist der Lauf der Geschichte — durch die veränderte Politik der Sowjetunion unter Gorbatschow — , daß die Befürchtung unbegründet war.
Das gleiche gilt für das KSZE-Abkommen von Helsinki, jenes Abkommen, das für die Weiterentwicklung Europas, nicht nur des westlichen Europa, sondern des ganzen Europa, eine feste Grundlage der Zusammenarbeit bildet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

Meine Damen und Herren, es gehört zu meinen Lebenserfahrungen — insbesondere in der Politik, aber auch sonst, und diese Erfahrung hat sich schon beinahe zu einer Tugend bei mir entwickelt — : Der eine hat nicht immer Recht, und der andere hat nicht immer Unrecht. Die Politik einer Regierung muß nicht immer richtig sein und die Gegenposition der Opposition nicht immer falsch.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] — Dr. Vogel [SPD]: Sehr wahr!)

Das ist die Lebenserfahrung, die Sie, wenn Sie sie noch nicht gemacht haben, sicherlich noch machen werden, und das wäre sehr begrüßenswert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland vielfach in aller Öffentlichkeit mit großem Nachdruck gelobt. Ich habe die Sicherung des Friedens in Freiheit hervorgehoben, das Erreichen eines hohen Maßes an individuellem Wohlstand und eines dem Ziel der Gerechtigkeit doch nahe kommenden Systems sozialer Sicherheit: Aber ich habe auch immer auf die schmerzliche Wunde der Teilung unseres Vaterlandes hingewiesen, die mit aller Kraft und Konsequenz und so bald wie möglich beseitigt werden müsse. Ich darf wohl für die CDU/CSU und auch für mich selbst in Anspruch nehmen, daß wir über die gesamte Zeit die
entschiedensten Verfechter der deutschen Einheit gewesen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Sie werden verstehen, daß der 3. Oktober 1990 auch für die CDU/CSU und für mich persönlich ein Tag der großen Freude und Genugtuung ist, und dies sollte er für alle Deutschen sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn in 13 Tagen die staatliche Einheit vollzogen wird, so kann ich getrost sagen, daß die wesentlichen politischen Aufgaben meiner Generation erfüllt sind. Dazu über 40 Jahre in den verschiedensten Funktionen beigetragen zu haben, läßt mich in voller Zufriedenheit aus der aktiven politischen Arbeit scheiden.
Welchen Anteil hat die Politik der letzten 40 Jahre an der Entwicklung im Herbst 1989? Den Beitrag sehe ich in erster Linie in unserer aktiven Mitwirkung im westlichen Bündnis, in der festen Haltung dieses Bündnisses auch in kritischen Situationen, im Fortschritt der europäischen Einigung und der wirtschaftlichen Prosperität in Deutschland und in Europa. Ich sehe auch in den Verträgen mit Osteuropa, insbesondere in den Ergebnissen der Konferenz von Helsinki, einen wesentlichen Bestandteil dieser Entwicklung.
Die Hauptursache der Wende liegt nach meiner Meinung allerdings viel tiefer. Es ist der Sieg der Freiheit über den real existierenden Sozialismus.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Freiheit, Entfaltung der Persönlichkeit und Selbstverwirklichung liegen in der Natur des Menschen. Unterdrückung, Bevormundung und Gängelung widersprechen ihr. Deshalb war, als Panzer, Militär und sonstige Machtinstrumente nicht mehr zur Verfügung standen, der Niedergang des Kommunismus nur noch eine Frage der Zeit. Deshalb werden — davon bin ich fest überzeugt — totalitäre Systeme langfristig nirgendwo in der Welt eine Chance gegen freiheitliche Demokratien haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Neben der Freude in diesen Tagen bewegt mich in erster Linie Dankbarkeit. Dankbarkeit gegenüber allen, die zum Prozeß der deutschen Einigung beigetragen und ihn gefördert haben. Die friedliche Revolution in der DDR habe ich bereits erwähnt. Dank gilt Präsident Gorbatschow für seine Politik der Perestroika, Ungarn für sein historisch bleibendes Verdienst, als erstes Land Osteuropas Mauer und Stacheldraht durchbrochen zu haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dank auch der westlichen Werte- und Verteidigungsgemeinschaft für ihre Festigkeit und Entschlossenheit und nicht zuletzt den Alliierten und allen, die für die rasche Klärung der komplizierten außenpolitischen Zusammenhänge verantwortlich waren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ganz besonders danken möchte ich im Namen meiner Fraktion der Bundesregierung für ihre vom Be-



Stücklen
pinn im November 1989 an verantwortungsvolle Gestaltung des Einigungsprozesses,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

vom Zehn-Punkte-Programm am 28. November 1989 hier im Deutschen Bundestag bis zum Abschluß der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen am 12. September 1990. Herzlichen Dank dem Bundeskanzler und seinem Außenminister,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

allen Bundesministern, insbesondere den Kollegen Dr. Waigel, Dr. Schäuble und Seiters,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sowie allen ihren Mitarbeitern und Helfern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dank sage ich auch — ich komme darauf zurück — allen Abgeordneten, die in diese Verhandlungen immer im Geist der Einheit Deutschlands gegangen sind und sie zum Erfolg geführt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In Freude und Dankbarkeit mischen sich aber auch Schmerz und Trauer über zahlreiche Tote und Verletzte an der drei Jahrzehnte lang bestehenden unmenschlichen Grenze, über die Opfer eines Systems von Unfreiheit und Unrecht, von Unterdrückung und materieller Not. Daß Millionen Deutschen in Europa 40 Jahre lang solches Leid zugefügt werden konnte, ist überwunden und heute kaum noch verständlich.
Gestatten Sie mir, daß ich noch einen abschließenden Blick in die Zukunft des geeinten Deutschland richte, und sehen Sie mir bitte nach, daß ich in meiner wohl letzten Rede in diesem Hause nach 41 Jahren die eine oder andere Hoffnung als Bemerkung dazu zum Ausdruck bringe.
Ich gehöre einer Generation an, die nicht nur das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg miterlebt und miterlitten hat. Als ich 1949 in den ersten Deutschen Bundestag gewählt wurde, war ich immerhin schon 33 Jahre alt, und ich brachte eine lebhafte Vorstellung von der Weimarer Republik mit.
Aus dieser Erfahrung ein Wort zu unserer Verfassung: Durch das Verfahren des Beitritts gemäß Art. 23 des Grundgesetzes gilt das Grundgesetz mit einigen unumgänglichen Änderungen im geeinten Deutschland weiter. Selbstverständlich wäre es legitim, im neuen gesamtdeutschen Parlament über einzelne Artikel oder auch über die Verfassung insgesamt eine Diskussion zu führen. Gleichwohl hielte ich es für gefährlich, wenn man meinen würde, die in das Grundgesetz reichhaltig und stabilisierend eingeflossenen Erfahrungen von Weimar mit zunehmendem zeitlichen Abstand vernachlässigen zu können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir sollten nie vergessen, daß sich das Grundgesetz, das wir haben, in den letzten 40 Jahren in hervorragender Weise bewährt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir hatten noch nie eine bessere Verfassung.
Nun muß ich mich zur Frau Präsidentin wenden. Für die letzte Rede wurde meiner Kollegin Frau HammBrücher ein Bonus gewährt. Ich vermute, daß Sie außerdem dem Kollegen Westphal, wenn er spricht und ein bißchen länger braucht — das ist ebenfalls seine letzte Rede im Bundestag — , einen Bonus gewähren — und mir bitte auch.

(Zustimmung)

Meine Damen und Herren, nun noch ein Wort zum Parlamentarismus. Ich möchte in diesem Zusammenhang beileibe nichts über das Dauerthema „Parlamentsreform" sagen. Aber ich wünsche dem neuen, größeren Parlament ein Selbstverständnis und einen Stil, wie sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in den vergangenen 41 Jahren im Deutschen Bundestag gepflegt worden sind.
Das Parlament ist der Ort der Auseinandersetzung, der Suche nach dem richtigen Weg. Dabei wird die Oppostion — ganz gleich, wer sie stellt — in der Kritik immer führend sein. Das Parlament insgesamt muß aber im Interesse des Ganzen fähig sein, sich zumindest in den großen Entscheidungen um einen Konsens zu bemühen. Als Beispiel dafür sehe ich das Aufeinanderzugehen bei den Vertragsverhandlungen um die Einheit Deutschlands an.
Die parlamentarische Demokratie braucht gerade in schwierigen Zeiten einen Bestand an wesentlichen Gemeinsamkeiten, einen Grundkonsens über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg.

(Beifall bei Abgeordenten der CDU/CSU)

Bei den Verhandlungen um die Verträge hat sich die parlamentarische Demokratie, der Parlamentarismus, bewährt.
Meine Damen und Herren, zum Abschluß noch kurz zu den Aufgaben, die nach der Verabschiedung der Verträge auf uns zukommen.
Nun haben wir am 3. Oktober die Einheit Deutschlands. Wir sind wieder ein Staat, und alle sind für alle verantwortlich. Die Vereinigung beider Teile Deutschlands hat ja nicht nur die Aufgabe der Zusammenführung der Menschen in einem einheitlichen Staat, sondern auch die, die Lebensverhältnisse anzugleichen. Ohne jeden Zeitverlust müssen wir unter Ausschöpfung aller zukunftsträchtigen Möglichkeiten an die Lösung der Probleme im Gebiet der bisherigen DDR gehen.
Wir wissen, die Lage in der DDR ist zutiefst besorgniserregend. Der augenblickliche Zustand der DDR muß nüchtern und realistisch gesehen werden. Weder Häme noch Anklage sind am Platze. Weder blinder Optimismus noch Miesmacherei sind gefragt. Gefragt sind Selbstvertrauen, Hoffnung, Mut — und auch Geduld.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Denn was sich in 40 Jahren an Mißständen aufgebaut hat, kann nicht in wenigen Monaten aufgearbeitet werden. Aber gemeinsam werden wir es schaffen!
Lassen Sie mich aus dem Text einer Hymne zitieren, die im eigenen Lande, im eigenen Staat nicht mehr gesungen werden durfte:
17886 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990
Stücklen
Alle Not gilt es zu zwingen, und wir zwingen sie vereint.
So, wie die Soziale Marktwirtschaft nach 1948/49 aus einem riesengroßen Trümmerhaufen das florierende Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland entstehen ließ, wird es unter vergleichsweise günstigeren Umständen auch im anderen Teil Deutschlands sein. Es ist ja bezeichnend, daß uns das Ausland nicht wegen unserer gegenwärtigen Probleme bedauert, sondern uns um unsere zukünftigen Chancen beneidet. Dafür ist aber eine gemeinsame Anstrengung aller notwendig und angesichts der großen Chancen auch lohnend.
In 13 Tagen wird es kein Wir und kein Ihr, kein Hüben und kein Drüben mehr geben. Alle Probleme werden unsere gemeinsamen Probleme sein, alle Chancen unsere gemeinsamen Chancen.
Mein Blick nach vorn ist nach alledem von großer Zuversicht geprägt. Nach der Verabschiedung des Einigungsvertrages wird die Einheit Deutschlands mit dem Beitritt am 3. Oktober vollzogen. Nach den erfolgreichen Verhandlungen mit den vier Siegermächten erhält Deutschland die Souveränität zurück. Mit dem deutschsowjetischen Partnerschaftsvertrag wird eine dauerhafte Friedensordnung eingeleitet, die für uns und für die nachfolgenden Generationen die Vision einer langen Periode des Friedens in Freiheit eröffnet.
Noch nie in der Geschichte Deutschlands hat unsere Jugend so viele Zukunftschancen gehabt, wie sie in den kommenden Jahrzehnten der Weltoffenheit, der Freiheit und des Friedens gegeben sein werden. Wenn alle solidarisch zusammenstehen und gemeinsam die vor uns liegenden Aufgaben anpacken, werden nach meiner festen Überzeugung auch die schwierigen Übergangsprobleme in absehbarer Zeit überwunden sein. Dann werden wir Deutschen in unserem geeinten Vaterland und in einem einigen Europa einer blühenden Zukunft entgegengehen.
Ich bin dem Schicksal dankbar, daß ich auch noch dem ersten gesamtdeutschen Bundestag angehören werde, der am 4. Oktober dieses Jahres zum erstenmal zusammentreten wird. Lassen Sie mich ohne jedes Pathos sagen: Ich halte dies für den Höhepunkt meines politischen Lebens.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Nun ein persönliches Wort des Abschieds. Nach 41 Jahren Zugehörigkeit zu diesem Hohen Hause verabschiede ich mich mit dem Dank an Sie alle, die Sie mich in den verschiedensten Funktionen mit allen meinen Ecken und Kanten so geduldig und nachsichtig ertragen haben.

(Heiterkeit)

Ich wünsche dem Parlament des einigen Deutschland, immer zu bedenken, was zur Teilung Deutschlands geführt hat.
Diese Stunde, meine Damen und Herren, ist eine Stunde des Abschieds ohne Wehmut und ohne Schmerz, des Abschieds mit vielen Erinnerungen. Verlassen Sie sich darauf, ich komme öfter einmal wieder zu Ihnen zurück.
Alles Gute für die Zukunft!

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN sowie auf der Regierungsbank)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122613100
Lieber Herr Kollege Stücklen, Sie haben gerade den sehr intensiven Dank des Hauses vernommen. Es ist heute sicherlich noch nicht der Augenblick, um von Ihnen Abschied zu nehmen. Aber ich denke, wir haben Ihnen als demjenigen, der diesem Hause am längsten angehört, ganz, ganz herzlich zu danken.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Ich erteile nun das Wort dem Abgeordneten und Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Heinz Westphal.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122613200
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Stücklen, lassen Sie mich Ihnen auch von hier aus — ich denke, ich tue dies auch im Namen meiner Fraktion — unseren Respekt für das erweisen, was sie gesagt haben und für das engagierte Parlamentarierleben, das Sie nun nicht in dem Sinne beenden, daß Sie von uns gehen, sondern daß Sie nur hier ausscheiden.
Wir waren unterschiedliche Typen; wir haben uns trotzdem gut verstanden. Aber Sie werden merken, daß wir doch aus unterschiedlichen Lagern kommen, und zwar nicht nur an meiner Rede, die ich gleich halten werde und die wahrscheinlich am Ende nicht den Beifall des ganzen Hauses finden wird,

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Man kann es nie wissen!)

sondern auch an folgendem kleinen Beispiel: Sie haben — Sie haben gute Gründe dafür — unter denjenigen, die nicht mehr miterleben, wofür sie gekämpft haben, den Namen von Franz Josef Strauß erwähnt. Mir sind Kurt Schumacher und Herbert Wehner eingefallen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Es ist noch nicht einmal ein Jahr seit dem Tag her, an dem Gorbatschow Erich Honecker das Ende klargemacht hat — „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" — , an dem in einem Pfarrhaus eines kleinen Ortes in der Mark Brandenburg — noch illegal — die Sozialdemokraten ihre Partei in der DDR neu gründeten, an dem in Leipzig und dann in vielen Städten der DDR die kritischen Bürgergruppen das schützende Dach der Kirchen verließen und auf Straßen und Plätzen in friedlicher, waffenloser Revolution die Einparteienherrschaft der SED zuschanden machten. Da stehen wir nun kurz vor dem 3. Okotober 1990, an dem sich der Auftrag des Grundgesetzes, in Frieden und Freiheit die Einheit Deutschlands zu vollenden, erfüllt.
Man brauchte einen Zeitraffer, um in einer Rede all die gravierenden deutschen und europäischen Ereignisse dieses Jahres auch nur aufzuzählen, die in der Folge der Politik Michail Gorbatschows in ganz Europa östlich der Elbe und auf der Basis der Entspannungspolitik möglich wurden. Aber die Erinnerungen sind bei uns allen noch frisch.



Westphal
Warum sollten wir abstreiten, daß die meisten von uns hin und her gerissen wurden zwischen dem Wunsch nach dem ruhigen Ablauf vernünftig und durchdacht gestalteter Prozesse einer schwierigen Aufeinander-zu-Entwicklung und andererseits dem Drang nach immer schnellerer Abfolge der Entscheidungen auf dem Weg zum Vollzug der Einheit?
Bevor wir Sozialdemokraten unser überzeugtes Ja zur Einheit und unser geschlossenes Ja, das diesen Einigungsvertrag möglich macht, wiederholen und in der Abstimmung unterstreichen, ist es vielleicht gut, noch einmal einen Blick auf die Lage und auch auf die Denkweise der Bürgerinnen und Bürger in den beiden Teilen unseres Landes zu werfen, um dies nicht mit Pathos oder mit illusionären Vorstellungen, die wir in dieser Debatte ja ebenfalls gehört haben, zu überdekken. Wir haben doch noch im Ohr, wie glücklich die Menschen drüben waren, als die Mauer fiel und als alle frei reisen konnten. Es wurde gejubelt, als der alte Machtapparat der SED mit seinen Freiheitseinschränkungen, miesen Formen der Abhängigkeit und Unterdrückungsmethoden einstürzte. Die meisten haben mit der Freude über möglich gewordene Einheit die Hoffnung auf ein besseres Leben verbunden. Gewiß, das würde nicht von heute auf morgen gehen, aber das Aufwärts würde doch gleich erkennbar sein.
Jetzt klingt das anders. Jetzt ist Angst um die Zukunft weit verbreitet. Viele sind schon arbeitslos oder sehen, daß ihnen das bevorsteht. Die Zukunft der Betriebe ist unsicher. Die LPGs können ihre Produkte nicht absetzen. Die Aufstockung der Kleinstrenten ist zwar erfolgt. Aber wird das reichen, wenn die Mieten und die Energiekosten steigen? Die westübernommenen Kombinate stoßen die Kinderkrippen und Kindergärten ab, ohne daß die Gemeinden das Geld haben, diese weiterführen zu können. Und vieles mehr an Mißständen, an Problemen und Ungerechtigkeiten, die diese sich schamlos sozialistisch nennende Herrschaftspartei uns allen hinterließ.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Aber — das hat die heutige Debatte gezeigt — es müssen auch die in der Verantwortung der Bundesregierung gemachten Fehler genannt werden, die es mit zu betrachten gilt, wenn man die Lage einschätzt. Es ist alles zu Bruch gegangen: nicht nur der Unrechtsstaat, das verhaßte politische System und die uneffektive Wirtschaftsordnung, sondern eben auch die privaten Zukunftsplanungen fast jedes einzelnen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN)

Die Lähmung muß nun überwunden werden. Das ist die gestellte Aufgabe, zumal die hoffnungsvollen Erwartungen bei den Menschen geblieben sind.

(Dr. Vogel [SPD]: Richtig!)

Wenn wir nicht wollen, daß sich für längere Zeit eine Zweiklassengesellschaft festfrißt — der arme Osten und der reiche Westen in einem Land — , dann müssen wir helfen. Das kann doch jeder erkennen.
Die nationale Frage, die Einheit, ist die soziale Frage:

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

die Erreichung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse.
Dazu gehört auch, Respekt zu zeigen vor dem Mut der Menschen, die drüben einen neuen Anfang in schwieriger Zeit machen. Wir können diesen Mut unterstützen. So wie wir uns damals aus den Trümmern des Krieges aufgerappelt haben mit dem Fleiß der Arbeitnehmer, dem Mut zum Engagement der Unternehmer und mit Unterstützung des Marshallplans, so kann das auch in den fünf neuen Bundesländern gehen. Nichts steht Fleiß und Risikobereitschaft entgegen. Nur muß und kann an die Stelle des damaligen amerikanischen Geldes wie selbstverständlich das private und öffentliche finanzielle Engagement von hier treten.
Unsere Vorschläge, was zu tun ist, sind am heutigen Tage dargelegt worden. Unsere Kritik an den Unzulänglichkeiten des Vertrages wurden vorgetragen. Ich brauche das nicht zu wiederholen.
Die Lage drüben aber und die Notwendigkeit eines starken helfenden Engagements von hier treffen — ich möchte gern ehrlich sein; das ist manchmal bei verschiedenen Rednern heute angeklungen — bei unseren Mitbürgern in der bisherigen Bundesrepublik auf ein nach meinem Eindruck sehr verworrenes und sehr unterschiedliches Denken und Verhalten. Ich will offen sagen, daß ich nicht nur betrübt, sondern manches Mal wirklich böse geworden bin über ausgesprochen egoistische Einstellungen und mangelnde Bereitschaft zum Teilen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Es wäre falsch, das zu verallgemeinern. Es gab und gibt durchaus Hilfsbereitschaft. Sie ist sicher breiter als die hier genannten negativen Reaktionen. Wir haben heute auch hierzu Beispiele gehört. Doch drückt das Plakat, auf dem die Union zwei gutaussehende junge Leute in einen schwarz-rot-goldenen Schal wikkelt und das Ganze mit der Unterschrift versieht „Wir freuen uns auf Deutschland",

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Zurufe von der CDU/CSU: Ist gut!)

das aus, was unsere Mitbürger empfinden?

(Zurufe von der CDU/CSU: Ja!)

Macht es nicht vielmehr den Mangel an dieser Freude bewußt und läßt uns nicht über die Ursachen darüber nachdenken?

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Sicher, die Distanz, die gerade auch bei jüngeren Leuten zu spüren ist, ist auch eine Frage des Alters.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Lafontaine läßt grüßen!)

Die Jüngeren sind in einer Zeit aufgewachsen, als die Teilung unseren Landes geschichtliche Tatsache und nicht mehr der schmerzhafte und empörende Prozeß war, als den wir Älteren die Teilung in den 50er und 60er Jahren empfunden haben. Die Jüngeren erkann-



Westphal
ten nur allzu deutlich, daß die Forderung nach der deutschen Einheit gerade bei denen zur Leerformel verkommen war, die sie am lautesten und bei jeder Gelegenheit im Munde führten,

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!)

in der praktischen Politik aber manchmal ganz anders handelten und obendrein die Entspannungspolitik Willy Brandts, ohne die die Einheit gar nicht möglich geworden wäre, als Absage an die deutsche Einheit diffamierten.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Gravierender aber ist die entsolidarisierende Wirkung der Politik dieser Bundesregierung,

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Für eine Abschiedsrede töricht!)

die — als Umkehrschluß zu dem Slogan „Leistung muß sich wieder lohnen" — soziale und wirtschaftliche Schwäche als Mangel an Leistung verächtlich machte und berechtigte Forderungen nach sozialem Ausgleich als Sozialneid brandmarkte. Kann es da verwundern, daß diese Haltung nun auch den Deutschen in der bisherigen DDR manchmal entgegenschlägt? Und das um so mehr, als die Bundesregierung den Prozeß der Einheit nicht als Aufgabe für alle darstellt, für deren Lösung allen erhebliche Anstrengungen abverlangt werden, sondern als ein Vorgang, der allen wohl und niemandem weh tun würde.
Es ist doch wirklich so, daß auch hier bei uns nicht jeder genügend hat, um teilen zu können, und daß es für viele in diesem Teil unseres Landes Grund gibt, skeptisch zu fragen, wer die Lasten tragen soll, die die Herstellung vergleichbarer Lebensumstände mit sich bringen.

(Zustimmung bei der SPD)

Es ist doch ein offenes Geheimnis, daß keiner unserer Bürger Herrn Kohl und Herrn Waigel mehr glaubt, daß dies alles ohne Steuererhöhungen finanziert werden könnte.

(Zustimmung bei der SPD)

Sie reden uns immer noch zu, daß dies alles glatt und ohne Steuererhöhungen vor sich gehen könnte. Nein, hier ist Offenlegung gefragt. Die Bürger der Bundesrepublik können doch nur ja zur Übernahme von Belastungen durch die deutsche Einheit sagen, wenn man sie einbezieht, wenn man sie mitdenken läßt, wenn man ihnen sagt, was wir gemeinsam zu tragen haben.

(Beifall bei der SPD, bei Abgeordneten der GRÜNEN und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Hier im Westen des dann gemeinsamen Landes gibt es seit Mitte 1982 eine ansteigende Konjunktur, die zu schlicht abenteuerlichen Gewinnen und Rückumschichtungen des Volksvermögens geführt hat.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

— Ja, sagen wir ruhig, in welche Richtung: Sie führte
zu einer Rückübertragung, zu einer Umschichtung
des Volksvermögens in Richtung auf die Reichen. Das ist wohl eindeutig.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — von Schmude [CDU/CSU]: Unwürdig ist das!)

Wir haben eine Regierung, die es nach acht Jahren noch immer nicht geschafft hat, unter die Zahl von 1,8 Millionen Arbeitslosen zu kommen,

(Dr. Schwörer [CDU/CSU]: Die wir von Ihnen übernommen haben!)

die es an dem Tage, als Helmut Schmidt das Amt des Bundeskanzlers verlassen mußte, gerade gegeben hatte.
Trotz des relativen Wohlstandes vieler im Vergleich zu früheren Jahrzehnten und vor allem im Vergleich zu den Menschen in den fünf neuen Bundesländern geht es hier eben nicht allen Leuten gleich gut. Es ist also notwendig, beim Teilen zugunsten der Bürger drüben auch hier zu unterscheiden, wer viel und wer wenig und wer gar nichts abgeben kann.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Nur mit Entscheidungen, die beim Verteilen der Lasten die Schwächeren schonen, kann die Bereitschaft zu solidarischem Verhalten erreicht werden.

(Beifall bei der SPD)

Wir Sozialdemokraten sind es und wollen es bleiben, die darauf aufpassen, wir sind es, die sich schützend vor die Schwächeren stellen, hier und drüben.

(Beifall bei der SPD)

Das ist gemeint, wenn wir die nationale Frage die soziale Frage nennen.
Nun noch ein paar Worte zum europäischen und zum internationalen Aspekt der deutschen Einheit. Jedem von uns ist klar, daß wir die Zustimmung unserer Nachbarn für die Verwirklichung der Einheit unseres Landes brauchen, die Zustimmung der Nachbarn in Ost und West. Fast nehmen wir es schon wie selbstverständlich hin, daß die Antworten von draußen so positiv sind. Dies sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß es Ängste vor einem größeren, noch stärkeren Deutschland um uns herum gibt. Unsere feste Entschlossenheit, ein friedlicher Teil eines zusammenwachsenden Europas zu sein, bedarf des ständigen Nachweises durch uns alle, durch unsere Regierungen und unser Volk.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Wollny [GRÜNE])

Nationales Pathos paßt nicht mehr in unsere Zeit. Die Elemente des europäischen Zusammenwachsens und die Hilfe für die Dritte Welt müssen deutlich erkennbar werden. Es geht nicht um die Rekonstruktion eines Nationalstaates, sondern um die Konstruktion des mittleren Teils eines zusammenwachsenden Europas.

(Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und bei Abgeordneten der FDP)

Meine Damen und Herren, was ist nun das Fazit all dieser Überlegungen?

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Eine echte, gute Frage! — Zuruf von der CDU/ CSU: Das fragen sich alle! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)




Westphal
— Das ist möglicherweise nicht das gleiche, was Sie meinen. — Ich finde, es gibt erhebliche Gründe für Freude über diese Entwicklung, die ich — wie Sie gehört haben — sehr realistisch und nüchtern dargestellt habe: über diese Entwicklung in Europa, über das Ende des Kalten Krieges, in unserem Land über einer erfolgreiche friedliche Revolution, über die Chance, gemeinsam eine neue, sozial gerechte Ordnung des menschlichen Zusammenlebens in Freiheit und Demokratie zu gestalten, über die Aufgabe, sich in der Solidarität für die Schwächeren zu engagieren und sich selbst die Genugtuung zu schaffen, beim Teilen zugunsten Schwächerer entsprechend der eigenen Leistungsfähigkeit beteiligt zu sein, schließlich für uns Ältere und die ganz Alten, die unter Hitlers Diktatur und möglicherweise auch danach von Ulbricht verfolgt wurden, darüber, auf der richtigen Seite gekämpft und endlich Erfolg zu haben.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Lassen Sie mich persönlich hinzufügen: Wenn man zu denjenigen gehört, die damals in Berlin 1945, 1946, 1947 usw. dabei waren im Kampf gegen die Entstehung einer neuen Einparteienherrschaft durch die Kommunisten, wenn man, als die Mauer gebaut wurde, nicht aufgab, sondern statt der schal gewordenen Parolen den neuen Weg zur Einheit der Deutschen über die Politik der Entspannung einschlug, der nun als die Voraussetzung für den Erfolg der friedlichen Revolution selbst von den damaligen Gegnern anerkannt wird, dann hat man tatsächlich Grund zur Freude über das nun erreichte Ziel der deutschen Einheit und — um das auch ganz klar zu sagen — über den in diesem Zusammenhang erreichten endgültigen Sieg des demokratischen Teils der Arbeiterbewegung.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Ich habe Ihnen nicht den Gefallen tun können, eine Rede zu halten, die aller Zustimmung findet.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Sie sind sich aber treu geblieben!)

— Ich bin mir treu geblieben.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei den GRÜNEN)

Wir Sozialdemokraten stimmen diesem Vertrag zu.

(Anhaltender Beifall bei der SPD, bei Abgeordneten der GRÜNEN und der FDP — Abg. Dr. Vogel [SPD] beglückwünscht Abg. Westphal [SPD] zu seiner Rede — Abg. Brandt [SPD] und Abg. Dr. Vogel [SPD] beglückwünschen Abg. Stücklen [CDU/CSU] zu seiner Rede — Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122613300
Herr Westphal, Sie haben wie Herr Stücklen heute Ihre letzte Rede im Parlament gehalten. Sie gehören diesem Parlament seit sieben Wahlperioden an. Sie haben es in der Ihnen
eigenen streitenden und streitbaren Weise getan, wissend, daß Sie Widerspruch auslösen.

(Duve [SPD]: Das ist parlamentarisch!)

Mit diesem Dank möchte ich gleichzeitig den Dank verbinden für die Gesten, die gerade ausgetauscht wurden, für den parlamentarischen Stil unseres ältesten Mitglieds im Parlament und für den Austausch zwischen den Fraktionen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Wir kommen nun zur Abgabe von Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung. Es liegen mir mehrere Wortmeldungen vor. Ich darf auf Grund der vorgerückten Stunde darum bitten, daß Sie sich kurz halten, damit wir dann zur namentlichen Abstimmung kommen.
Als erstem erteile ich das Wort dem Abgeordneten Jahn (Marburg).

Gerhard Jahn (SPD):
Rede ID: ID1122613400
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion gebe ich zur Abstimmung in der dritten Lesung folgende Erklärung ab. Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt dem Einigungsvertrag zu. Mit dem Einigungsvertrag ist sichergestellt, daß die DDR nicht einfach angegliedert wird, sondern daß Besonderheiten und Ausnahmen für die DDR befristet weitergelten. Dafür haben sich die Sozialdemokraten in Ost und West mit Erfolg eingesetzt.
Unsere Zustimmung erfordert aber auch eine Klarstellung. Wir verbinden damit nicht die Zustimmung zu den Entscheidungen und Mehrheitsbeschlüssen der Koalition in den vergangenen Jahren, denen wir in der Sache entgegengetreten sind und die wir abgelehnt haben, die aber auf Grund des Vertrages künftig in der bisherigen DDR weitergelten sollen. Wir halten an unseren politischen Entscheidungen fest. Das werden wir im neuen Bundestag durch Anträge und geeignete andere parlamentarische Schritte auch weiterhin deutlich machen.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122613500
Darf ich noch einmal darauf hinweisen, daß es sich um persönliche Erklärungen handeln muß.
Als nächstem erteile ich das Wort dem Abgeordneten Herrn Carstens (Emstek).

Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1122613600
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist das erste Mal, daß ich nach fast 18 Jahren Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag vor dem Deutschen Bundestag eine persönliche Erklärung abgebe. Ich möchte ausdrücklich erwähnen, daß ich damit das Recht eines Abgeordneten für mich in Anspruch nehme.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Seit wann muß man das denn betonen?)

Ich werde dem Einigungsvertrag nicht zustimmen. Diese Entscheidung ist mir wahrlich nicht leichtgefallen, zumal ich die Vereinigung Deutschlands sehr begrüße und von Herzen auch wünsche. Ja, ich freue mich über die Vereinigung Deutschlands und über die
17890 Deutscher Bundestag — 11. Wahiperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990
Carstens (Emstek)

vor einem Jahr noch für undenkbar gehaltenen Umstände und Wege, die sie ermöglichten. Ich anerkenne die insgesamt bewundernswerte politische Leistung, die in der Frage der deutschen Vereinigung erbracht wurde, insbesondere die des Bundeskanzlers.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der alleinige Grund für meine Ablehnung ist die im Einigungsvertrag vereinbarte Abtreibungsregelung.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Ach Gott!)

Gesetze oder Verträge, die der Fristenregelung den rechtlichen Rahmen geben, werden weder heute noch irgendwann meine Zustimmung erhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das gilt für zeitlich begrenzte Regelungen ebenso wie für Quasi-Fristenregelungen, welcher Art auch immer. Das sagen mir mein Verstand, mein Empfinden und mein Gewissen.

(Frau Nickels [GRÜNE]: Ihr Mann-Sein!)

Das Leben eines Menschen, ob schon gebrechlich oder noch nicht geboren, darf nirgendwo und nirgendwann einer freien Verfügung überlassen werden,

(Beifall bei der CDU/CSU)

in welchem Zusammenhang und aus welchem Anlaß das auch immer vorgesehen werden mag. Ganz im Gegenteil: Ihm gebühren Schutz und Hilfe des Staates und jedes einzelnen.
Mein Glaube sagt mir, daß der Schöpfer allen Lebens Gott ist und daß Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung nicht Vorrang vor von Gott gewolltem menschlichen Leben haben oder auch nur gleichwertig wären, zu keiner Zeit, an keinem Ort.

(Zuruf von der SPD: Gilt das auch für die mißhandelten Kinder?)

Er sagt mir, daß das Leben aller Menschen eine einzigartige Bestimmung hat und auf Ewigkeit angelegt ist. Das zieht ungeheure Folgerungen und Konsequenzen für jeden Menschen nach sich, ob er es wahrhaben will oder nicht. Aus diesem Grunde sehe ich in dieser Frage keine Kompromißmöglichkeit.
Ich werde mich bemühen, daran mitzuwirken, das Bewußtsein unseres Volkes und die Gesetze unseres Landes zugunsten der ungeborenen Kinder zu verändern.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Eine andere Sozialpolitik hätten Sie machen sollen!)

Mein Wunsch ist, daß viele im Lande und im Deutschen Bundestag mitmachen.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Der nimmt sich aber sehr wichtig!)

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche unserem Volk und Land eine gute, gemeinsame Zukunft, den Segen Gottes und — so füge ich ganz persönlich hinzu — auch den Schutz der Gottesmutter.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122613700
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte uns bitten, bei Fragen, die Gewissensentscheide betreffen, den notwendigen Respekt gelten zu lassen und uns entsprechend zu verhalten.

(Lebhafter Beifall bei allen Fraktionen)

Das Wort zu einer persönlichen Erklärung hat die Abgeordnete Frau Flinner.

Dora Flinner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122613800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, eine kurze Erklärung zur Abstimmung abzugeben. Bei der Debatte um den Einigungsvertrag soll es uns um das Wohl des deutschen Volkes gehen. Das schließt das Eintreten für elementare Grundrechte und Menschenrechte ein. Dazu gehört auch das Recht auf Leben, das Lebensrecht der ungeborenen Kinder. Es darf nicht sein, daß auf dem Weg zur Einigung Deutschlands das Blut unschuldiger, wehrloser Kinder vergossen wird. Das ist für mich mit ein wichtiger Grund, den Einigungsvertrag abzulehnen.
Ich sehe mich aber auch nicht in der Lage, das mitzutragen, was unser GRÜNEN-Antrag zum Bereich des Lebensrechts und zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs fordert. Ich muß ihn daher ablehnen.
Wenn nur das absolut gesetzte, vielfach falsch verstandene Selbstbestimmungsrecht von Frauen, verfälscht als Abtreibungsrecht, zum Maßstab politischer Regelung werden soll, wenn mit keinem Wort die ungeborenen Kinder, um die es hier geht, erwähnt werden, kann ich eine Unterstützung vor meinem Gewissen nicht verantworten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich will nicht Wegbereiterin für eine Liberalisierung der Abtreibung werden, ich kann es auch nicht. Das heißt nicht, daß ich eine Kriminalisierung betroffener Frauen gutheiße.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Aha!)

Doch das Rechtsbewußtsein, das interessierte gesellschaftliche Gruppen versuchen zu untergraben, muß bewahrt bleiben. Jede Abtreibung ist ein Eingriff mit dem Ziel der Tötung, auch wenn viele diese Tatsache wegdiskutieren wollen. Deshalb kann eine Abtreibung nie gutgeheißen werden.
Die Welt wäre vollkommener, wenn wir ohne Strafbestimmungen auskämen. Das gilt auch für den § 218. Es muß ein konstruktiver Weg beschritten werden, der die Probleme von Frauen während und nach der Schwangerschaft löst. Daran arbeite ich gern mit. Der Antrag der GRÜNEN leistet dies leider nicht. Deshalb lehne ich ihn ab.
Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN und der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122613900
Das Wort hat der Abgeordnete Höpfinger.

Stefan Höpfinger (CSU):
Rede ID: ID1122614000
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands erfüllt uns mit Freude. An dieser



Höpfinger
Stelle gilt unser Dank all denjenigen, die immer an die Wiedervereinigung geglaubt und danach ihr politisches Handeln ausgerichtet haben.
Wenn wir, Alfons Müller, Peter Keller und ich, dem Einigungsvertrag aus Gewissensgründen nicht zustimmen können, liegt dies einzig und allein an der für uns nicht annehmbaren Regelung im Zusammenhang mit dem Schutz des ungeborenen Menschen. Im Gebiet der bisherigen DDR bleibt die dort gültige Fristenregelung zunächst bis zum 31. Dezember 1992 in Kraft. Eine bindende Frist für ihr Außerkrafttreten ist nicht vereinbart. Die Indikationsregelung bei uns in der Bundesrepublik kann infolge dieser Rechtslage noch leichter unterlaufen werden. Im vereinigten Deutschland besteht damit auf nicht absehbare Zeit ein gespaltenes Lebensrecht.
Die in Art. 31 Abs. 4 des Einigungsvertrages in Aussicht gestellte gesetzliche Neuregelung läßt durch eine Vielzahl schriftlicher und mündlicher Stellungnahmen die begründete Sorge aufkommen, daß die Entscheidungsbefugnis über das ungeborene Leben der werdenden Mutter allein überantwortet werden soll. Dies bedeutet, selbst wenn eine Beratungspflicht gesetzlich verankert wird, nichts anderes als eine verbrämte Fristenregelung. Damit wird den ungeborenen Kindern, den hilfsbedürftigsten Menschen in unserer Gesellschaft, der ihnen zustehende rechtliche Schutz der staatlichen Gemeinschaft versagt. Das widerspricht ganz klar dem Grundgesetz und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Februar 1975.
Durch die getroffene Regelung wird das Rechtsbewußtsein gegenüber dem ungeborenen Leben negativ verändert. Die unbedingte Achtung vor seiner Menschenwürde, vor seinem Recht auf Leben und vor seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit wird so verändert, daß wir das nicht mitverantworten können. Solche preisgegebenen Rechtspositionen sind kaum mehr rückholbar. Wie sollen je die Schleusen geschlossen werden, die hier aufgetan werden?
Unser Bestreben in der politischen Arbeit war und ist es, die Familienpolitik positiv zu gestalten. Entscheidende familienpolitische Leistungen sind durch diese Bundesregierung Wirklichkeit geworden. Wir alle wissen, daß weitere Aufgaben in diesem Bereich gelöst werden müssen. Wir wollen aber nichts tun, was unserer Meinung nach das Lebensrecht des ungeborenen Menschen schmälert. Dies ist für uns eine Gewissensentscheidung. Wir können deshalb dem Einigungsvertrag unsere Zustimmung nicht geben.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein persönliches Wort hinzufügen. Es gibt Entscheidungen, denen kann der eine gerade noch zustimmen, der andere kann es gerade nicht mehr. Beide liegen nicht weit auseinander. Die Freundschaft wird dadurch nicht verletzt, und in Freundschaft will ich aus dem Deutschen Bundestag ausscheiden. Dank allen, die ich auf diesem Weg begleiten durfte; Dank allen, die mich auf diesem parlamentarischen Weg begleitet und unterstützt haben. Allen, die wieder, und allen, die neu in den Deutschen
Bundestag gewählt werden, gilt mein herzliches Glückauf!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122614100
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Conradi.

Peter Conradi (SPD):
Rede ID: ID1122614200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich gebe für eine Reihe von SPD-Kolleginnen und -Kollegen eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung ab. Die Namen gebe ich hier zu Protokoll.
Wir freuen uns, daß mit diesem Vertrag die Voraussetzungen für den Beitritt der DDR nach Artikel 23 geschaffen werden. Der Vertrag enthält wichtige Regelungen. Einige sind gegenüber dem ersten Entwurf durch die SPD geändert und verbessert worden. Das erleichtert uns die Zustimmung. Andere sind nach unserer Auffassung unzureichend. So ist es bei Kompromissen.
Schwer erträglich ist für uns die unzureichende parlamentarische Behandlung des Vertrags.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Der Bundestag und seine Ausschüsse hatten nicht die Möglichkeit, das Vertragswerk mit seinen zahlreichen Anlagen gründlich und sachgerecht zu prüfen. Kein Ausschuß, kein Abgeordneter hatte die Möglichkeit, auf die Gestaltung der Gesetze, die in diesem Vertrag eingeschlossen sind, Einfluß zu nehmen, beispielsweise durch Änderungsanträge in der zweiten Lesung. Hier werden in einem beispiellosen Schnellverfahren Gesetze verabschiedet, deren Folgen keiner von uns heute übersehen kann.
Der Vertrag enthält eine Reihe von Regelungen, die jetzt getroffen werden mußten, die aber eine gründlichere Beratung verdient hätten. Er enthält zahlreiche andere Regelungen, die auch später in einem geordneten Gesetzgebungsverfahren hätten beschlossen werden können, z. B. die Grundgesetzänderung über die Stimmenzahlen der Länder im Bundesrat.
Der Vertrag enthält schließlich einige unnötige Regelungen. Er zeigt die Ordnungswut der deutschen Bürokratie, die es nicht ertragen kann, daß die Ordensfrage, die Brennrechte aus Zuckerrübenmelasse und die Kennzeichnung vom Papageien einige Wochen ungeregelt bleiben.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Wir fürchten, wir müssen vieles, was heute hier beschlossen wird, im kommenden gesamtdeutschen Bundestag prüfen und gegebenenfalls ändern.
Bei allem Respekt vor den großen Leistungen der Bürokratie, der Beamten, die diesen Vertrag ausgearbeitet haben: Es ist nicht gut, daß sich die Regierungsbürokratie zum Gesetzgeber macht. Das gilt umso mehr, als es sich ja hierbei nicht um einen Vertrag zwischen zwei gleichberechtigten Partnern handelt; denn wir wissen alle, daß auf der anderen Seite eine Regierung ohne parlamentarische Mehrheit sitzt, und daß für diese Regierung ja sehr oft Beamte verhandelt haben, die aus Bonn eingeflogen wurden. Dies war



Conradi
keine parlamentarische Gesetzgebung. Es war vielmehr eine Gesetzgebung durch die Bundesregierung, durch Vertreter der Länder und durch Spitzengespräche der Parteiführungen, eine Gesetzgebung am Parlament vorbei.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Ihr wart aber gut vertreten!)

— Daran habe ich keinen Zweifel, ich habe ja vorhin gelobt, was wir erreicht haben, Herr Kollege Bötsch.
Aber die deutsche Einigung ist leider nicht zur Stunde des Parlaments geworden, sondern die Stunde der Exekutive. Und es ist kein gutes Omen, daß diese deutsche Einigung, an deren Anfang das Wort stand „Wir sind das Volk!" , nun mit einer Schwächung der Volksvertretung beginnt.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Es geht ja in der Demokratie nicht nur um den Streit der Parteien um die politische Macht, es geht auch um die Machtverteilung zwischen den demokratischen Institutionen.
Was der Deutsche Bundestag in diesen Wochen von seinen verfassungsmäßigen Rechten und Pflichten nicht ausüben konnte, das müssen wir uns in den kommenden Jahren durch harte gesetzgeberische Arbeit zurückholen, wenn wir dem Anspruch, den das Grundgesetz und unsere Wähler an uns, die Volksvertretung, stellen, wieder gerecht werden wollen.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122614300
Ich möchte aus gegebenem Anlaß noch einmal darauf verweisen, daß wir hier nicht in neue Sachdebatten eintreten sollen, sondern daß es sich um Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung handelt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Als nächste hat die Abgeordnete Frau Garbe das Wort.

Charlotte Garbe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122614400
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe, daß Sie mich gut genug kennen, um mir bei der Abgabe dieser persönlichen Erklärung, die ich zu meinem Abstimmungsverhalten — nun zum Einigungsvertrag — abgeben möchte, keine Effekthascherei zu unterstellen.
Lassen Sie mich daran anknüpfen, was mich am 22. Juni bewog, dem Staatsvertrag zuzustimmen, nämlich die Einlösung des elementaren Grund- und Menschenrechts, in einer gesunden Umwelt aufwachsen und leben zu können. Diese politische Aufgabe, sehr verehrter Herr Vizepräsident Stücklen, ist mitnichten gelöst worden.
Ich verkenne nicht — vielmehr: ich begrüße es sehr — , daß inzwischen Fortschritte beim Umweltschutz in der DDR gemacht wurden, vor allem bei den Großverschmutzern — Carbo-Chemie, Carbid-Öfen und Verschwelungsanlagen.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Na also!)

Aber ich erkenne auch Verschlechterungen gegenüber den Ansätzen im Umweltrahmengesetz, das dem Einigungsvertrag im Art. 34 zugrunde liegt. Und es gibt mehr als mißverständliche Formulierungen wie z. B. bei den Verordnungen über die Festsetzungen von Nationalparks, Naturschutzgebieten usw., wo es dann heißt: „Die Verordnungen gelten mit der Maßgabe, daß sie auf den Ausbau und die Unterhaltung von Bundesverkehrswegen keine Anwendung finden. "
Und es gibt eine Nichtbeachtung eines gewaltig großen Problemfeldes: Nach übereinstimmender Meinung von Fachleuten aus beiden Teilen Deutschlands ist das Altlastenproblem eines der ganz großen Risiken unserer Zeit. Die bisherige Politik, die Altlasten den Ländern an den Hals zu hängen, löst noch nicht einmal hier in der Bundesrepublik die Probleme. Dieses politische Fehlverhalten nun der DDR aufzuoktroyieren, ist völlig unmöglich, da die Länder ja noch gar nicht geboren sind, schon gar nicht laufen können, das Problem also vor sich herschieben werden.

(Bohl [CDU/CSU]: Das ist doch ein Sachbeitrag, den sie leistet, und keine persönliche Erklärung!)

Meine verehrten Kollegen und Kolleginnen, bei meinen Überlegungen überall die Belange, die im Einigungsvertrag behandelt wurden, und bei meiner persönlich großen Freude über die Vereinigung kann ich mich angesichts der geschilderten positiven und negativen Ergebnisse lediglich enthalten, in der stillen Hoffnung, daß sich doch alles zum Guten fügen möge.
Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN und der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122614500
Da Sie unruhig werden und fragen, ob das so richtig ist, sage ich noch einmal: Wir haben diese Regel im Dezember beschlossen, und wir sind jetzt daran gebunden.

(Dr. Vogel [SPD]: Das ist doch richtig so!)

Als nächstes hat der Abgeordnete Werner das Wort.

Herbert Werner (CDU):
Rede ID: ID1122614600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Obwohl ich in den vergangenen Jahren immer wieder, gerade in der Deutschlandpolitik, mitgestritten habe, kann ich heute aus Gewissensgründen und aus — wie ich meine — konsequentem Gehorsam gegenüber unserer Verfassung diesem Vertrag nicht zustimmen. Ich habe, wie Sie wissen, in den vergangenen Jahren immer wieder deutlich gemacht, daß ich aus meiner Glaubensüberzeugung heraus und aus Achtung vor dem Lebensrecht und der Würde eines jeden Menschen gegen jede Form des nicht medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruchs bin. Für mich ist jede Abtreibung ein Todesurteil über einen ungeborenen Menschen, der nicht in der Lage ist, sein Lebensrecht zu verteidigen.
Zum Rechtlichen: Das Verfassungsgericht, meine Damen und Herren, hat bereits einmal gesprochen. Hieran sollten wir uns orientieren. Die in Art. 4 Nr. 5 des Staatsvertrages enthaltene Neufassung des



Werner (Ulm)

Art. 143 Grundgesetz sieht Abweichungen von der grundgesetzlichen Ordnung unter der Einschränkung vor, daß diese nicht gegen Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz und Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz verstoßen.
Art. 31 Abs. 4 des Staatsvertrages verstößt meines Erachtens genau gegen diese Einschränkung. Denn er legt fest, daß die in der DDR geltende Fristenregelung bis zum 31. Dezember 1992, und gegebenenfalls darüber hinaus, fortgilt. Bis dahin sollen Beratungsstellen geschaffen werde, die nach meiner Auffassung schon längst hätten geschaffen werden können! Durch dieses Abweichen wird im Bereich des Menschenrechts auf Leben im neuen deutschen Staat für eine Übergangszeit zweierlei Recht entstehen, obwohl sich die fünf neuen Bundesländer laut Art. 3 Staatsvertrag dem Grundgesetz unterstellen.
Art. 31 Abs. 4 Staatsvertrag verstößt in mehrfacher Hinsicht gegen Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes, der den Wesensgehalt der Menschen- und Grundrechte schützt. Wenn Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 1 und Art. 2 des Grundgesetzes in einem unauflöslichen Zusammenhang stehen und einen Sinn haben, dann ist die Anwendung unterschiedlichen Rechts im Staat des Grundgesetzes nur unterhalb der Schwelle des Art. 19 Abs. 2 GG möglich.
Zweitens. Die DDR-Fristenregelung verstößt eindeutig gegen die Aussage des Verfassungsgerichts von 1975, wonach Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes gebieten, den prinzipiellen Schutz des menschlichen Lebens durch den Staat für keinen Zeitraum außer Kraft zu setzen.
Drittens. Auch mit einer Zweidrittelmehrheit kann die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes durch den Gesetzgeber in diesem Hause nicht beseitigt werden. Denn sonst stünden alle Menschenrechte zur Disposition einer wie auch immer zustandegekommenen Zweidrittelmehrheit. Derartiges widerspräche den Menschenrechtskonventionen, aber auch dem Wortlaut und Sinn des Grundgesetzes und dem Willen des Parlamentarischen Rates.
Viertens führt der erwähnte Art. 31 Abs. 4 Staatsvertrag zu einer Verschlechterung des Lebensschutzes für die Ungeborenen auch hier in der Bundesrepublik Deutschland für eine Übergangszeit. Zum einen wird auf diese Weise während der Übergangszeit praktisch die Fristenregelung durch die Hintertür eingeführt. Zum anderen kann im Rahmen dieser Regelung eine Schwangere, die sich vom Boden der Bundesrepublik Deutschland auf den Boden der Noch- DDR begibt und dort abtreiben läßt, für diese grundgesetzwidrige Handlung — nach der allerdings umstrittenen Rechtsauffassung des Bundesversicherungsamtes — auch die Kosten durch die gesetzliche Krankenkasse erstattet bekommen. Dies leistet der Auffassung Vorschub, daß Abtreibungen generell keine Tötungshandlungen sind, die in besonderem Maße unter das Unwertsurteil fallen.
Meine Damen und Herren, ich werde mich gleichwohl der Stimme enthalten, um damit deutlich zu machen, daß nach meiner Auffassung der Vertrag im wesentlichen notwendige und richtige Regelungen
enthält. Ich will damit deutlich machen, daß ich die erfolgreiche Deutschlandpolitik unserer Bundesregierung voll und ganz bejahe.
Ich bedauere deswegen, daß der von mir in meiner Fraktion gemachte Vorschlag eines Überleitungsgesetzes nicht zum Tragen kommen konnte. Hier hätte die Möglichkeit bestanden, in diesem Haus am konkreten Fall offen abzustimmen und unter Umständen dann das Ergebnis einer Überprüfung zu unterstellen.
Meine Damen und Herren, so wie die Diskussion in unserem Lande verläuft, befürchte ich, daß Art. 31 Abs. 4 des Staatsvertrages den Ansatzpunkt für eine weitere Verschlechterung des Lebensschutzes der Ungeborenen selbst gegenüber der heutigen Situation in der Bundesrepublik Deutschland bilden wird.
Heute am Tag des Kindes hoffe ich gleichwohl, daß wir im geeinten Deutschland eines Tages doch noch ein Gesetz bekommen werden, das den rechtlichen und sozialen Schutz für die Ungeborenen wie die Geborenen in umfassendem Maße garantiert.
Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122614700
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Knabe.

Dr. Wilhelm Knabe (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1122614800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde! Bei der Abstimmung zum Staatsvertrag im Juni stand ich vor der schwierigen Entscheidung, ja zu sagen auf Grund meiner Biographie, meiner Verbundenheit zu den Menschen meiner Heimat oder nein zu sagen wegen der berechtigten Kritik der GRÜNEN am Vertragstext und ihrer völlig ungenügenden Beteiligung an der Formulierung.
So hatte ich bei meiner Erklärung zur Abstimmung bis zuletzt den Schluß offengelassen, weil ich die Debatte anhören wollte und mir nicht sicher war. Ich ließ die Stationen meines Lebens an mir vorbeiziehen, und alles zielte auf ja.
Dann sah ich meine GRÜNEN-Freundinnen und -Freunde da unten sitzen, wie ein kleines Häuflein eingeklemmt zwischen den großen Parteien, und das Volk hatte anders entschieden, als sie es gedacht hatten. Den sozialistischen Träumen war durch Gorbatschows Schwenk zur Marktwirtschaft plötzlich die Grundlage entzogen. Trotzdem war eure Kritik am Vertrag als solche richtig. So siegte bei mir damals die Solidarität zu den politischen Freundinnen und Freunden, mit denen ich zehn Jahre lang für eine bessere Umwelt gekämpft habe. Ich stimmte mit Nein.
Heute ist das anders. Wenn heute eine Mehrheit mit Nein stimmte, würde die DDR als abgeschnürtes Glied, von ihren eigenen Bürgern bereits aufgegeben, kaum noch dahinvegetieren können. Die Mehrheit ist zwar gesichert, aber ich will mich nicht hinter einer Mehrheit von CDU oder SPD verstecken, ich muß selbst entscheiden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie der Abg. Frau Garbe [GRÜNE])




Dr. Knabe
Ich möchte meinen Verwandten in der DDR und meiner Frau, mit der ich geflüchtet bin, noch in die Augen sehen können. Ich weine diesem Staat der DDR keine Träne nach. Er hat die Chance eines humanen Sozialismus kläglich verspielt.

(Beifall bei der SPD)

Er hat mich jahrzehntelang bespitzelt, von Mutter und Geschwistern 13 Jahre lang getrennt, meinen Neffen und Nichten die Oberschule verweigert, den Kommilitonen die Karriere verbaut. Nein, dieser Staat hatte seine Chance verspielt; seine Zeit ist abgelaufen,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

aber nur dann, wenn das Parlament dem Einigungsvertrag heute zustimmt. Für eine neue Verhandlung fehlt ein selbstbewußter Partner. Das kann nur das neue Parlament leisten.
Ich stimme zu, beispielhaft für die Menschen, die DIE GRÜNEN wegen der Umwelt wählen wollen, es aber wegen der Ablehnung der Einigung nicht mehr tun zu können glauben. So ist meine Abstimmung auch ein Test bezüglich der Toleranz der GRÜNEN. Ich stimme zu, weil wir uns der Realität stellen müssen. Natürlich brauchen wir eine neue Verfassung, natürlich brauchen wir bessere Gesetze, da hat Gerald Häfner recht. Wir brauchen das Recht auf Akteneinsicht, Volksabstimmung und vieles andere. Eine Änderung kann aber nur innerhalb des neuen gemeinsamen Staates bewirkt werden. Zu diesem Staat müssen GRÜNE und Bürgerbewegungen in Ost und West für eine zivile, soziale und ökologische Gesellschaft eintreten. Änderungen auch bei uns sind dringend nötig, aber auf einer neuen Basis.
Meine Aufgabe wird es sein, im vereinigten Deutschland eine ökologisch fundierte Politik durchzusetzen und — ich sage das sehr bewußt — Nationalismus und Großmachtwahn zu verhindern. Ich kenne genug Menschen, die dabei helfen wollen.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122614900
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Nickels.

Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122615000
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mehrere Gründe, dem Vertrag nicht zuzustimmen, und einer ist die Regelung zu § 218, zum Abtreibungsrecht.
Es ist so, daß für einige Zeit zweierlei Recht geschaffen wird. Ich finde zuerst einmal dies unerträglich, und zweitens finde ich die Regelung selbst im Sinne der Frauen und auch des ungeborenen Lebens nicht tragbar.
Ich möchte im Gegensatz zu allen Kolleginnen und Kollegen, die vor mir gesprochen haben und denen das ungeborene Leben ebenso am Herzen liegt wie mir, hier klarstellen, daß das ungeborene Leben im Gegensatz zu allen anderen Lebensformen erst in das Leben treten kann, allein lebensfähig werden kann, wenn eine Frau ein höchstpersönliches Ja zu diesem Leben spricht, mit ihrem ganzen Körper dafür eintritt,

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN sowie der SPD)

es neun Monate in sich wachsen und sich entwickeln läßt, es zur Welt bringt und dann ein Leben lang dafür Verantwortung übernimmt und dafür sehr oft alleingelassen wird. Das kann man meiner Meinung nach mit keiner anderen Schwierigkeit vergleichen.
Wenn ein Mensch geboren ist, können Menschen persönlich eintreten, kann staatliche Gemeinschaft eintreten. Das aber, was eine Frau tut, wenn sie das Ja zu einem Kind spricht, kann ihr niemand abnehmen, und ich möchte auch nicht, daß es abgenommen wird. Das ist eine Grundbedingung des menschlichen Daseins.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Weil das so ist, bin ich der Auffassung, daß das Strafrecht in diesem Bereich nichts zu suchen hat,

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN und der SPD)

daß einer Frau nicht mit der Knute des Strafrechts solch ein Ja abgetrotzt werden kann, wenn sie es innerlich gar nicht sagen kann. Das ist das eine.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN und der SPD)

Der Staatsvertrag hat aber nicht festgeschrieben, daß während der Übergangsfrist das Ziel sein soll, das Strafrecht abzulösen und andere Möglichkeiten der Unterstützung für Kinder und Frauen verbindlich vorzusehen.

(Widerspruch bei der SPD)

— Das ist nicht absehbar, das wissen wir nicht genau. Es gibt Willenserklärungen in den Parteien dazu, aber im Staatsvertrag ist keine Zielbestimmung enthalten.
Folgendes finde ich besonders bedenklich: Wenn wir immer vom Schutz des Lebens sprechen — ich spreche auch von der Unterstützung der Frauen, die entsprechende Bedingungen haben müssen — , dann finde ich es besonders empörend, daß hier im Staatsvertrag niedergelegt ist, daß die besseren Mutterschutzfristen für Frauen in der DDR, die 20 Wochen nach der Entbindung ausmachen, abgelöst werden sollen und daß die schlechteren Mutterschutzfristen von acht Wochen, die wir haben, gelten sollen. Ferner gibt es keinen Rechtsanspruch auf Kindergärten oder auf vernünftige Kinderbetreuung.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122615100
Frau Nickels, Sie sprechen jetzt nicht im Sinne einer persönlichen Erklärung,

(Frau Nickels [GRÜNE]: Doch!) sondern im Sinne einer Sachdebatte.


(Widerspruch bei den GRÜNEN und der SPD)


Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122615200
Nein, Frau Präsidentin. Das ist etwas, was mich zutiefst berührt, daß nämlich hier immer vom Schutz des ungeborenen Lebens gesprochen wird, dem ich auch verpflichtet bin, daß aber gleichzeitig das, was den Frauen helfen könnte, ja zu sagen, abgebaut wird und

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)




Frau Nickels
daß nach einer Übergangsfrist von einem Jahr — bis Ende 1991 will man die Infrastruktur für die Kinderbetreuung noch sicherstellen — diese Form der Unterstützung auf die Gemeinden übergehen soll. Woher sollen die denn das Geld nehmen? Ich habe sehr große Angst, daß von allem, was hier immer vom Schutz des ungeborenen Lebens und von der Unterstützung der Frau geredet wird, nichts mehr übrigbleibt. Dann können sie zur Beratungsstelle gehen, anstatt ihr Kind in der Kinderkrippe abgeben zu können. Sie haben keine Wohnung, keinen Anspruch mehr auf einen Arbeitsplatz, sie stehen ganz allein da. Es bleiben nur die Beratungsstelle und die Knute des Strafrechts. Das kann ich nicht ertragen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122615300
Als letzte hat die Abgeordnete Frau Vollmer das Wort.

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122615400
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte im Rahmen meiner Erklärung Abstimmung als erstes sagen, daß ich immer sehr gut verstanden habe, daß für viele in diesem Hause und für eine ganze Politikergeneration der Tag der deutschen Einheit der Höhepunkt ihres Politikerlebens ist. Das hat Herr Präsident Stücklen gesagt. Ich habe auch verstanden, daß das für viele, für eine ganze Generation von Nachkriegspolitikern, überhaupt ein Motiv war, Politik zu machen, und daß das Moment der Beschämung, das sie im Ende dieses Krieges erlebt haben, eines der Motive war, überhaupt Politiker zu werden und etwas ändern zu wollen. Ich finde, daß Sie eigentlich sehr glückliche Menschen sind, wenn Sie das Ziel, das Sie sich gesetzt haben, nun als erreicht ansehen können.
Das aber ist genau der Grund, warum unser Nein kommt: weil nämlich alle die Ziele, die wir uns in der Politik gesetzt haben, mit dieser Einheit überhaupt erst anfangen und ich nicht weiß, ob wir für unsere Ziele jemals einen solchen Endpunkt annehmen können, wie Sie ihn offenbar für Ihre Ziele jetzt erreicht haben.
Damit hat zu tun, daß dieser Prozeß der Herstellung der Einheit ungeheuer viele Ängste ausgelöst hat. Das haben Sie, Herr Westphal, sehr richtig gespürt. Diese Ängste drücken sich auch in unserem Nein aus. Vielleicht wäre manche Debatte in diesem Haus gerade in dieser Frage tiefer verlaufen, wenn Sie sich einmal bemüht hätten, etwas neugierig auf den Grund dieser Ängste zu sein, und nicht immer nur gesagt hätten, die GRÜNEN lehnten sowieso stets alles ab. Es hätte uns geholfen.
Wir haben nichts dagegen, daß Menschen zusammenkommen. Wie könnten wir das angesichts des Begriffes von Freiheit, den wir haben, der Befreiung der Menschen in der DDR, die wir merken, und des Begriffes von Unwürde, die die erlebt haben, die unter diktatorischen Systemen leben mußten? Aber es hätte uns sehr geholfen, wenn in der Präambel

(Zurufe von der CDU/CSU: Persönliche Erklärung!)

nicht nur deshalb, weil Herr Galinski und der Zentralrat der Juden darauf bestanden haben, sondern auch
unseretwegen ein eindeutiger Hinweis auf die NS-
Verbrechen gestanden hätte und deutlich gesagt wäre, daß so etwas nie wieder von diesem Land ausgehen darf.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN und der SPD)

Es hätte uns ausgesprochen geholfen, nicht nein zu sagen, wenn Sie eines berücksichtigt hätten, nämlich das Motiv derer, die die Revolution gemacht haben, und das war vor allen: die Stasi zu zerschlagen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Es ist von hoher symbolischer Bedeutung, daß während wir diese Debatte führen, diese meinen, daß ihre Ziele nicht erreicht werden, und jetzt wieder in der Normannenstraße sitzen.
Ich möchte versuchen, Ihnen die Angst, die wir historisch begründen, wenigstens in dieser Situation einmal zu erklären.
Wir haben immer darunter gelitten, daß dieses Land bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht mutig genug war, den Tatsachen ins Auge zu sehen, daß es offensichtlich keine andere Möglichkeit gegeben hat, innergesellschaftliche Befriedung hinzukriegen, als zu sagen: Wir müssen vieles zudecken.
Ich weiß, daß in den Stasi-Akten eine Art von Bedrohung von innergesellschaftlichem Frieden liegt, die in mancher Hinsicht noch weit über dem liegt, was in den NS-Akten ist.

(Zuruf von der CDU/CSU: Frau Präsidentin!)

Ich weiß, daß der, der da hineinguckt, möglicherweise nicht mehr Freunde und Verwandte hat

(Bohl [CDU/CSU]: Das ist doch keine persönliche Erklärung!)

und daß die Menschen außerordentlich viel Mut brauchen, um überhaupt den Blick in diese Akten zu wagen.

(Bohl [CDU/CSU]: Debattenbeitrag!)

Jeder Blick von anderen Stellen, von Nachrichtendiensten oder vom Verfassungsschutz, müßte unterbunden werden, weil in diesen Akten —

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122615500
Frau Vollmer, Sie gehen jetzt in eine Sachdebatte hinein!

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122615600
— eine solche Hypothek von möglichem Herrschaftswissen liegt, daß Menschen über Jahrzehnte davor Angst haben können. Das ist nicht endgültig ausgeschlossen.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: In diesem Parlament macht offensichtlich jeder, was er will! Das ist doch wirklich wahr! — Zuruf von der CDU/CSU: Unverschämtheit! Bundesminister Dr. Schäuble [CDU/CSU]: Es gibt zweierlei Recht!)

Wegen dieser beiden Begründungen

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Grün muß man sein, dann kann man offensichtlich alles machen, unter jedem Paragraphen der Geschäftsordnung!)




Frau Dr. Vollmer
sage ich für mich persönlich — auch angesichts meines Motivs, Politik zu machen — nein zu diesem Vertrag.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122615700
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben eben meine Intervention bei Frau Nickels moniert. Ich muß Ihnen sagen: Ich halte § 31 der Geschäftsordnung für auslegungsbedürftig. Wenn wir in Zukunft so wie heute danach verfahren wollen, kommen wir nicht zu vernünftigen Vereinbarungen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

Es muß geklärt werden, wann zu einem von dem Votum der Fraktion abweichenden Votum gesprochen und wann eine Erklärung für die Fraktion abgegeben wird. Ich sage dies nur, weil es für die Zukunft zu klären ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich teile mit, daß außerdem eine Reihe von schriftlichen Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung abgegeben worden ist. Die Namen der Abgeordneten, die eine solche Erklärung abgegeben haben, bitte ich dem Stenographischen Protokoll zu entnehmen. *)
Meine Damen und Herren, nach Art. 79 des Grundgesetzes bedarf ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Deutschen Bundestages. Das sind 346 Stimmen.
Zur Schlußabstimmung ist gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung namentliche Abstimmung verlangt worden. Ich eröffne die Abstimmung. —
Kolleginnen und Kollegen, wir zählen nach dieser Abstimmung die Stimmen aus. Ich sage schon jetzt, daß danach noch zwei weitere namentliche Abstimmungen folgen. —
Ist noch jemand im Saal, der seine Stimme nicht abgegeben hat? — Meine Damen und Herren, ich schließe die Abstimmung, und ich bitte die Schriftführer und Schriftführerinnen, mit der Auszählung zu beginnen. —
Meine Damen und Herren, ich gebe das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom 31. August 1990 und der Vereinbarung vom 18. September 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands bekannt. Abgegebene Stimmen: 492. Davon ungültige Stimmen: keine. Mit ja haben gestimmt: 442.

(Die Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der SPD spenden stehend anhaltenden lebhaften Beifall)

*) Anlage 2 (Namen alphabetisch geordnet) Mit Nein haben gestimmt: 47.

(Beifall bei den GRÜNEN) Enthaltungen: 3.

Gemäß § 48 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung stelle ich fest, daß die erforderliche Zweidrittelmehrheit der Mitglieder des Hauses erreicht ist. Das Gesetz ist damit angenommen.

(Die Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der SPD erheben sich und singen die Nationalhymne — Die Abgeordneten der GRÜNEN verlassen den Plenarsaal)

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 490; davon
ja: 440
nein: 47
enthalten: 3
Ja
CDU/CSU
Dr. Abelein
Frau Augustin Austermann
Dr. Bauer Bayha
Dr. Becker (Frankfurt) Dr. Blank
Dr. Blens Dr. Blüm
Böhm (Melsungen) Börnsen (Bönstrup)
Dr. Bötsch Bohl
Bohlsen Borchert Breuer
Brunner
Bühler (Bruchsal) Buschbom
Carstensen (Nordstrand) Dr. Daniels (Bonn) Daweke
Frau Dempwolf
Deres
Dörflinger
Dr. Dollinger
Doss
Dr. Dregger
Echternach
Ehrbar
Eigen
Engelsberger
Eylmann
Dr. Faltlhauser
Feilcke
Fellner
Frau Fischer
Fischer (Hamburg) Francke (Hamburg)
Dr. Friedrich
Fuchtel
Ganz (St. Wendel)

Frau Geiger
Dr. von Geldern Gerstein
Gerster (Mainz)

Glos
Dr. Göhner
Gröbl
Dr. Grünewald
Günther
Dr. Häfele
Harries
Frau Hasselfeldt
Haungs
Hauser (Esslingen)

Hauser (Krefeld)

Hedrich
Freiherr Heereman von Zuydtwyck
Frau Dr. Hellwig
Helmrich Dr. Hennig
Herkenrath
Hinrichs Hinsken Höffkes Hörster Dr. Hoffacker
Dr. Hornhues
Hornung
Frau Hürland-Büning
Dr. Hüsch
Dr. Jahn (Münster)

Dr. Jenninger
Dr. Jobst
Jung (Limburg)

Jung (Lörrach)

Kalb
Dr.-Ing. Kansy
Dr. Kappes
Frau Karwatzki
Kiechle Kittelmann
Klein (München)

Dr. Köhler (Wolfsburg)

Dr. Kohl Kossendey
Kraus
Krey
Kroll-Schlüter
Dr. Kronenberg
Lamers
Dr. Lammert
Dr. Langner
Lattmann
Dr. Laufs
Lenzer
Frau Limbach
Link (Diepholz)

Link (Frankfurt)

Linsmeier
Lintner
Dr. Lippold (Offenbach) Louven
Lummer



Präsidentin Dr. Süssmuth
Maaß
Frau Männle Magin
Dr. Mahlo
Marschewski
Dr. Meyer zu Bentrup Michels
Dr. Möller
Müller (Wadern) Nelle
Dr. Neuling
Neumann (Bremen)

Dr. Olderog
Oswald
Pesch
Petersen
Pfeffermann Pfeifer
Dr. Pfennig
Dr. Pohlmeier Dr. Probst
Rauen
Rawe
Reddemann Regenspurger Repnik
Dr. Riedl (München)

Dr. Riesenhuber
Frau Rönsch (Wiesbaden) Frau Roitzsch (Quickborn) Dr. Rose
Rossmanith
Roth (Gießen) Rühe
Dr. Rüttgers Ruf
Sauer (Salzgitter)

Sauer (Stuttgart) Frau Schätzle Dr. Schäuble Scharrenbroich Schartz (Trier) Schemken
Scheu
Schmidbauer
Frau Schmidt (Spiesen) Schmitz (Baesweiler)
von Schmude
Dr. Schneider (Nürnberg) Schneider (I.-Oberstein) Freiherr von Schorlemer Schreiber
Dr. Schroeder (Freiburg) Schulhoff
Dr. Schulte

(Schwäbisch Gmünd) Schwarz

Dr. Schwarz-Schilling
Dr. Schwörer Seehofer
Seesing
Seiters
Spilker
Spranger
Dr. Sprung
Dr. Stark (Nürtingen)

Dr. Stavenhagen
Dr. Stercken Dr. Stoltenberg Straßmeir
Strube
Stücklen
Frau Dr. Süssmuth Susset
Tillmann
Dr. Todenhöfer Dr. Uelhoff Uldall
Dr. Unland
Frau Verhülsdonk
Vogel (Ennepetal)

Vogt (Duren)

Dr. Voigt (Northeim)

Dr. Vondran Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Dr. Waigel
Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warnke
Dr. Warrikoff
Dr. von Wartenberg
Frau Will-Feld
Frau Dr. Wilms
Wilz
Wimmer (Neuss)

Frau Dr. Wisniewski Wissmann
Dr. Wittmann
Würzbach Dr. Wulff Zeitlmann Zierer
Zink
SPD
Dr. Ahrens Amling
Andres
Antretter Dr. Apel Bachmaier Bahr
Bamberg
Becker (Nienberge)

Frau Becker-Inglau Bernrath
Bindig
Frau Blunck
Dr. Böhme (Unna) Börnsen (Ritterhude) Brandt
Brück
Büchler (Hof)

Büchner (Speyer)

Dr. von Bülow
Frau Bulmahn
Buschfort Catenhusen
Conradi
Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser
Dr. Diederich (Berlin) Diller
Dreßler
Duve
Egert
Dr. Ehmke (Bonn)

Dr. Ehrenberg
Dr. Emmerlich
Erler
Esters
Ewen
Fischer (Homburg)

Frau Fuchs (Köln)

Frau Fuchs (Verl)

Gansel
Dr. Gautier
Gerster (Worms)

Gilges
Dr. Glotz
Frau Dr. Götte
Graf
Großmann Grunenberg
Dr. Haack Haack (Extertal)

Haar
Frau Hämmerle
Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz
Häuser
Heimann
Heistermann
Herberholz
Heyenn
Hiller (Lübeck)

Dr. Holtz Horn
Huonker Ibrügger Jahn (Marburg)

Jaunich Dr. Jens
Jung (Düsseldorf) Jungmann (Wittmoldt) Frau Kastner
Kastning Kiehm
Kirschner Kißlinger Dr. Klejdzinski
Klose
Kolbow Koltzsch Koschnick Kretkowski
Dr. Kübler
Kühbacher
Frau Kugler
Kuhlwein Lambinus Leidinger Lennartz Leonhart Lohmann (Witten)

Lutz
Frau Luuk
Frau Matthäus-Maier Menzel
Dr. Mertens (Bottrop) Meyer
Müller (Düsseldorf) Müller (Pleisweiler) Müller (Schweinfurt) Müntefering
Nagel
Nehm
Frau Dr. Niehuis
Dr. Niese Niggemeier
Dr. Nöbel
Frau Odendahl Oostergetelo
Opel
Dr. Osswald
Paterna
Dr. Penner
Peter (Kassel)

Pfuhl
Dr. Pick Porzner Poß
Purps
Reimann Frau Renger
Reschke Reuschenbach
Reuter
Rixe
Roth
Schanz
Dr. Scheer
Schluckebier
Schmidt (München)

Frau Schmidt (Nürnberg) Schmidt (Salzgitter)
Dr. Schmude
Dr. Schöfberger Schreiner
Schröer (Mülheim) Schütz
Frau Schulte (Hameln) Seidenthal
Frau Seuster
Sielaff
Singer
Frau Dr. Skarpelis-Sperk
Dr. Soell
Frau Dr. Sonntag-Wolgast
Dr. Sperling Stahl (Kempen)

Steiner
Frau Steinhauer
Stiegler
Stobbe
Dr. Struck Frau Terborg Tietjen
Frau Dr. Timm Toetemeyer Urbaniak
Vahlberg
Verheugen Dr. Vogel
Voigt (Frankfurt)

Vosen
Waltemathe Walther
Wartenberg (Berlin)

Frau Dr. Wegner
Weiermann Frau Weiler Weisskirchen (Wiesloch)

Dr. Wernitz Westphal
Frau Weyel Dr. Wieczorek
Wieczorek (Duisburg)

Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspütz
von der Wiesche
Wimmer (Neuötting)

Dr. de With Wittich
Würtz
Zander
Zeitler
Zumkley
FDP
Frau Dr. Adam-Schwaetzer Baum
Beckmann Bredehorn Cronenberg (Arnsberg)

Eimer (Fürth)

Engelhard
Dr. Feldmann
Frau Folz-Steinacker
Funke
Gallus
Gattermann Genscher Gries
Grünbeck Grüner
Frau Dr. Hamm-Brücher
Dr. Haussmann
Heinrich Dr. Hirsch Dr. Hitschler
Hoppe
Dr. Hoyer Irmer
Kleinert (Hannover)

Kohn
Dr.-Ing. Laermann
Lüder
Mischnick Möllemann Neuhausen Nolting
Paintner Richter
Rind
Ronneburger



Präsidentin Dr. Süssmuth
Frau Dr. Segall
Frau Seiler-Albring
Dr. Solms Dr. Thomae Timm
Frau Walz
Dr. Weng (Gerlingen) Wolfgramm (Göttingen) Frau Würfel
Zywietz
DIE GRÜNEN
Dr. Knabe
Dr. Mechtersheimer Frau Wilms-Kegel
Fraktionslos Frau Unruh
Nein
CDU/CSU
Carstens (Emstek)

Dr. Czaja Dewitz
Geis
Dr. Götz
Höpfinger Graf Huyn Jäger
Keller
Müller (Wesseling) Niegel
Sauter (Epfendorf) Windelen
DIE GRÜNEN
Frau Beck-Oberdorf
Frau Beer
Dr. Briefs
Dr. Daniels (Regensburg)

Eich
Frau Eid
Frau Flinner Frau Frieß
Häfner
Frau Hensel Frau Hillerich Hoss
Hüser
Frau Kelly Kleinert (Marburg)

Frau Kottwitz Kreuzeder
Dr. Lippelt (Hannover) Frau Nickels
Frau Oesterle-Schwerin Dr. Roske
Frau Rust
Frau Saibold Frau Schilling
Frau Schmidt (Hamburg) Stratmann-Mertens
Such
Frau Teubner Frau Vennegerts
Frau Dr. Vollmer
Volmer
Weiss (München)

Frau Wollny
Fraktionslos Wüppesahl
Enthalten
CDU/CSU Werner (Ulm)

SPD
Frau Adler
DIE GRÜNEN Frau Garbe

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122615800
Ich denke, der Deutsche Bundestag hat mit dieser Abstimmung seine Beratungen zu einem Vertrag von einzigartiger Bedeutung für die Zukunft unseres Landes abgeschlossen. Nachdem heute nachmittag die Volkskammer dem Vertragswerk ebenfalls zugestimmt hat, ist der Weg zur deutschen Einheit, soweit es von den Parlamenten abhängt, frei. Die künftige gemeinsame staatliche Ordnung der Deutschen kann dauerhaft nur auf Konsens gegründet sein. Es war deshalb wichtig und richtig, daß wir gemeinsam um gute Lösungen gerungen haben.
Der Weg zum Einigungsvertrag war schwierig. Er hat viel Kraft und Einsatz gefordert.
Heute nachmittag ist schon gesagt worden: Dank allen, die sich für das Zustandekommen dieses Vertrages eingesetzt und daran mitgewirkt haben. Herzlichen Dank an alle!

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Es folgt jetzt die namentliche Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7947.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich das Wort an Herrn Abgeordneten Jahn.

Gerhard Jahn (SPD):
Rede ID: ID1122615900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird sich zu diesem Antrag der Stimme enthalten.
In der Sache stimmen wir mit den Zielen, die der Antrag verfolgt, überein. Wir sind aber sicher, daß die Form, die hier gewählt wird, nicht geeignet ist, diese Ziele zu erreichen. Neue Verhandlungen zu diesem Zweck sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr möglich. Der Vertrag ist abgeschlossen, und er ist ratifiziert.
Das, was in der Sache für notwendig gehalten wird, nämlich eine vernünftige Regelung im Hinblick auf die Kommunalverfassung und das Kommunalvermögensgesetz in der DDR, muß weiter verfolgt werden. Das werden wir auf andere Weise und mit den Mitteln machen, die uns in diesem Hause zu Gebote stehen. Deswegen enthalten wir uns bei der Abstimmung über diesen Antrag der Stimme.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1122616000
Wir kommen jetzt zur namentlichen Abstimmung. Ich eröffne die Abstimmung. —(Vorsitz : Vizepräsident Cronenberg)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1122616100
Ich mache das Haus darauf aufmerksam, daß es anschließend noch eine namentliche Abstimmung gibt. Sie erfolgt unmittelbar nach dieser Abstimmung. Die Schriftführer werden gebeten, sich bereitzuhalten.
Ich frage die Fraktionen, ob wir die namentliche Abstimmung schließen können. Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, das seine Stimme nicht abgegeben hat? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung.' )
Meine Damen und Herren, ich eröffne nunmehr die namentliche Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der GRÜNEN auf Drucksache 11/7947.
Meine Damen und Herren, es gibt viel Arbeit. Vorher sind noch einfache Abstimmungen durchzuführen. Diese einfachen Abstimmungen können wir nur durchführen, wenn die Damen und Herren wieder Platz nehmen. Es hilft nichts.
Ich erkläre die Situation noch einmal, nachdem in diesem Umfang bereits abgestimmt worden ist: Die jetzt laufende Abstimmung bezieht sich auf die Drucksache 11/7780. Ich nehme aus Gründen der Vereinfachung die Abstimmung über die Entschließungsanträge, über die mündlich abgestimmt werden soll, später vor. Es läuft also die namentliche Abstimmung über die Drucksache 11/7780. — Es können nur
*) Ergebnis Seite 17901A



Vizepräsident Cronenberg
die Urnen links und rechts benutzt werden, weil sich hier vorne keine Urne befindet. —

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Worüber stimmen wir ab?)

— Um es noch einmal zu sagen: Wir stimmen über den Entschließungsantrag auf der Drucksache 11/7780 ab.

(Zuruf des Abg. Dr. Vogel [SPD])

— Ich wiederhole noch einmal: Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN vor, und zu diesem Änderungsantrag ist namentliche Abstimmung verlangt worden, und zwar handelt es sich um die Drucksache 11/7955.

(Dr. Vogel [SPD]: Die ist identisch mit Drucksache 11/7780!)

Ich muß bedauerlicherweise auch noch einmal bekanntgeben, daß nur in den hinteren Urnen abgestimmt werden kann. — Es ist uns gelungen, auch hier vorne eine Urne zu besorgen, so daß jetzt auch hier abgestimmt werden kann.
Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, daß wir auch noch über die Entschließungsanträge, über die nicht namentlich abgestimmt werden soll, abstimmen müssen.
Das hier ist die dritte namentliche Abstimmung, die letzte namentliche Abstimmung. Gleich muß noch kontrovers über verschiedene Entschließungsanträge abgestimmt werden, aber nicht in namentlicher Abstimmung. — Ich darf in Richtung FDP fragen, ob ich die Abstimmung schließen kann. — CDU/CSU! Herr Bohl, kann ich die Abstimmung schließen? — Herr Abgeordneter Jahn, kann ich die Abstimmung schließen? — Ja. — Fraktion DIE GRÜNEN! — Ja. — Meine Damen und Herren, ist noch jemand im Saal, der noch nicht abgestimmt hat? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Damit schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. *)
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Entschließungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN, über die nicht namentlich abgestimmt werden soll.
Zunächst kommen wir zum Entschließungsantrag auf Drucksache 11/7906. Hierzu verlangt die Fraktion DIE GRÜNEN getrennte Abstimmung.
Wir stimmen nunmehr also getrennt ab. Wer stimmt für Ziffer 1 des Entschließungsantrags? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Dann ist die Ziffer 1 mit den Stimmen der Koalitionssfraktionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt worden.
Wir stimmen nunmehr über Ziffer 2 des Entschließungsantrags ab. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Dann ist die Ziffer 2 mit der gleichen Mehrheit abgelehnt.
Wir stimmen nunmehr über Ziffer 3 des Entschließungsantrags ab. Wer ist dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist die Ziffer 3 mit der gleichen Mehrheit abgelehnt.
*) Ergebnis Seite 17902D
Wir stimmen nun über die Ziffer 4 dieses Entschließungsantrags ab. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Mit der gleichen Mehrheit abgelehnt.
Wir stimmen nunmehr über Ziffer 5 des Entschließungsantrags ab. Wer stimmt für die Ziffer 5 des Entschließungsantrags? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Wiederum mit der gleichen Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen nun zu Ziffer 6 des Entschließungsantrags. Wer stimmt für die Ziffer 6? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist die Ziffer 6 ebenfalls mit der gleichen Mehrheit abgelehnt. Damit ist auch der ganze Entschließungsantrag mit dieser Mehrheit abgelehnt.

(Hüser [GRÜNE]: Das lag nicht an uns!)

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7907. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Dann ist dieser Entschließungsantrag mit der gleichen Mehrheit abgelehnt worden, bei Enthaltung der SPD-Fraktion.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag auf Drucksache 11/7908? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Dann ist dieser Entschließungsantrag ebenfalls mit der gleichen Mehrheit abgelehnt worden.
Wir kommen nunmehr zum Entschließungsantrag auf Drucksache 11/7909. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Dieser Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, CDU/CSU und FDP abgelehnt worden.
Wir kommen nunmehr zum Entschließungsantrag auf Drucksache 11/7911. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Entschließungsantrag mit der gleichen Mehrheit wie der Antrag auf Drucksache 11/7909 abgelehnt worden.
Wir stimmen nunmehr über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7919 ab. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Entschließungsantrag ebenfalls mit der gleichen Mehrheit abgelehnt worden.
Wir kommen zum Entschließungsantrag auf Drucksache 11/7922. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU und einigen Stimmen aus der SPD-Fraktion abgelehnt worden, bei Enthaltung des überwiegenden Teils der SPD-Fraktion.
Wir kommen zum Entschließungsantrag auf Drucksache 11/7933. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Entschließungsantrag wiederum mit den Stimmen der CDU/ CSU, der FDP und SPD abgelehnt.
Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag auf Drucksache 11/7946 ab. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/ CSU-Fraktion, der FDP-Fraktion und einigen Stim-



Vizepräsident Cronenberg
men aus der SPD-Fraktion bei überwiegender Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt worden.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 3 c, zunächst über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Deutsche Einheit auf Drucksache 11/7931. Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. 2 der Beschlußempfehlung, den Antrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 11/7718 für erledigt zu erklären. Wer stimmt der Beschlußempfehlung des Ausschusses zu? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Dann ist das einstimmig beschlossen.
Der Ausschuß empfiehlt weiter unter Nr. 2, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der Ihnen auf Drucksache 11/7719 vorliegt, für erledigt zu erklären. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Der Ausschuß empfiehlt darüber hinaus unter Nr. 2, den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7724 ebenfalls für erledigt zu erklären. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. 2, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/7793 für erledigt zu erklären. Wer stimmt dem zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung ebenfalls einstimmig angenommen.
Der Ausschuß Deutsche Einheit empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlußempfehlung, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7764 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung, also der Ablehnung, zu? — Wer stimmt dagegen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung angenommen worden, und zwar mit den Stimmen der SPD, einer Stimme aus der Fraktion DIE GRÜNEN sowie mit den Stimmen der CDU/CSU und der FDP.
Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. 3, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7765 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung, also Ablehnung, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen worden.
Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. 3, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7766 (neu) abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der gleichen Mehrheit angenommen worden.
Wir kommen nunmehr zu der Empfehlung des Ausschusses unter Nr. 3, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/7792 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU und der FDP gegen die Stimmen der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.
Der Ausschuß Deutsche Einheit empfiehlt in Nr. 4 auf Drucksache 11/7931 die Annahme einer Entschließung. Wer dieser Empfehlung des Ausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP angenommen worden.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 3 d, zunächst zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurf eines Sechsten Überleitungsgesetzes. Dieses Sechste Überleitungsgesetz liegt Ihnen auf Drucksache 11/7824 vor. Die Beschlußempfehlung und den Bericht des Innenausschusses finden Sie auf Drucksache 11/7936.
Ich rufe die §§ 1 bis 5, Einleitung und Überschrift mit den vom Ausschuß empfohlenen Änderungen auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Dann ist das Gesetz mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.
Wir kommen nunmehr zu Tagesordnungspunkt 3 e, zunächst zur Einzelberatung und Abstimmung über die von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP und gleichlautend von der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes über den Aufenthalt alliierter Streitkräfte in Deutschland. Es handelt sich um die Drucksachen 11/7763, 11/7915 und 11/7916.
Ich rufe die Art. 1 bis 6, Einleitung und Überschrift sowie die Präambel in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind diese Vorschriften bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN mit Zustimmung der anderen Fraktionen angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieses Gesetz mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Ich komme nunmehr zum Zusatztagesordnungspunkt 4. Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses Deutsche Einheit auf Drucksache 11/7914 zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung ab: Die Gemeinschaft und die Deutsche Einigung — Auswirkungen des Staatsvertrages. Wer



Vizepräsident Cronenberg
stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der SPD, CDU/ CSU und FDP gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Meine Damen und Herren, ich bedauere, daß ich nun einen Moment warten muß, bis ich das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7955 vorliegen habe. Ich hoffe, daß es jeden Moment kommt.
Ich darf die Sitzung für einen kurzen Augenblick unterbrechen.

(Unterbrechung der Sitzung von 20.32 bis 20.33 Uhr)

So, meine Damen und Herren, ich kann die unterbrochene Sitzung wieder eröffnen.
Ich gebe nunmehr zunächst das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7947 bekannt. Abgegebene Stimmen: 481; ungültig: keine. Mit Ja haben 37, mit Nein 282 gestimmt. Enthaltungen: 162.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 479; davon
ja: 36
nein: 281
enthalten: 162
Ja
DIE GRÜNEN
Frau Beck-Oberdorf Frau Beer
Dr. Briefs
Dr. Daniels (Regensburg) Eich
Frau Eid
Frau Flinner Frau Garbe
Häfner
Frau Hensel Frau Hillerich Hoss
Hüser
Frau Kelly
Kleinert (Marburg)

Dr. Knabe
Frau Kottwitz Kreuzeder
Dr. Lippelt (Hannover) Dr. Mechtersheimer Frau Nickels
Frau Oesterle-Schwerin Dr. Roske
Frau Rust
Frau Saibold Frau Schilling Stratmann-Mertens
Such
Frau Teubner Frau Vennegerts Frau Dr. Vollmer Volmer
Weiss (München) Frau Wilms-Kegel
Frau Wollny
Fraktionslos Wüppesahl
Nein
CDU/CSU
Dr. Abelein Frau Augustin Austermann Dr. Bauer Bayha
Dr. Becker (Frankfurt) Dr. Blank
Dr. Blens Dr. Blüm
Böhm (Melsungen) Börnsen (Bönstrup)
Dr. Bötsch Bohl
Bohlsen
Borchert Breuer
Brunner
Bühler (Bruchsal) Buschbom Carstens (Emstek)
Carstensen (Nordstrand) Dr. Czaja
Dr. Daniels (Bonn) Daweke
Frau Dempwolf
Deres
Dewitz
Dörflinger Dr. Dollinger
Doss
Dr. Dregger Echternach
Ehrbar Eigen
Engelsberger
Eylmann
Dr. Faltlhauser
Feilcke Dr. Fell Fellner Frau Fischer
Fischer (Hamburg) Francke (Hamburg)
Dr. Friedrich
Fuchtel
Ganz (St. Wendel) Frau Geiger
Geis
Dr. von Geldern Gerstein
Gerster (Mainz)

Glos
Dr. Göhner
Dr. Götz Gröbl
Dr. Grünewald Günther
Dr. Häfele
Harries
Frau Hasselfeldt Haungs
Hauser (Esslingen) Hauser (Krefeld) Hedrich
Freiherr Heereman von
Zuydtwyck
Frau Dr. Hellwig Helmrich
Dr. Hennig
Herkenrath
Hinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger
Hörster
Dr. Hoffacker
Dr. Hornhues
Hornung
Frau Hürland-Büning Graf Huyn
Dr. Hüsch
Jäger
Dr. Jahn (Münster)

Dr. Jenninger
Dr. Jobst
Jung (Limburg)

Jung (Lörrach)

Kalb
Dr.-Ing. Kansy
Dr. Kappes
Frau Karwatzki
Keller
Kiechle Kittelmann
Klein (München)

Dr. Köhler (Wolfsburg) Kossendey
Kraus
Krey
Kroll-Schlüter
Dr. Kronenberg
Lamers
Dr. Lammert
Dr. Langner
Lattmann Dr. Laufs Lenzer
Frau Limbach
Link (Diepholz)

Link (Frankfurt)

Lintner
Dr. Lippold (Offenbach)

Louven
Lowack
Lummer
Maaß
Frau Männle
Magin
Dr. Mahlo Marschewski
Dr. Meyer zu Bentrup
Michels
Dr. Möller Müller (Wadern)

Müller (Wesseling)

Nelle
Dr. Neuling Neumann (Bremen)

Niegel
Dr. Olderog Oswald
Pesch
Petersen Pfeffermann Pfeifer
Dr. Pfennig Dr. Pinger Dr. Pohlmeier
Dr. Probst Rauen
Rawe
Reddemann Regenspurger
Repnik
Dr. Riedl (München)

Dr. Riesenhuber
Frau Rönsch (Wiesbaden)

Frau Roitzsch (Quickborn)

Dr. Rose
Rossmanith Roth (Gießen)

Rühe
Dr. Rüttgers Ruf
Sauer (Salzgitter)

Sauer (Stuttgart)

Sauter (Epfendorf)

Frau Schätzle
Scharrenbroich
Schartz (Trier)

Schemken Scheu
Schmidbauer
Frau Schmidt (Spiesen) Schmitz (Baesweiler)
von Schmude
Dr. Schneider (Nürnberg) Schneider (I.-Oberstein) Freiherr von Schorlemer Schreiber
Dr. Schroeder (Freiburg) Schulhoff
Dr. Schulte

(Schwäbisch Gmünd) Schwarz

Dr. Schwarz-Schilling
Dr. Schwörer
Seehofer Seesing
Seiters
Spilker
Spranger Dr. Sprung
Dr. Stark (Nürtingen)

Dr. Stavenhagen
Dr. Stoltenberg
Straßmeir Strube
Stücklen
Frau Dr. Süssmuth
Susset
Tillmann
Dr. Todenhöfer
Dr. Uelhoff
17902 Deutscher Bundestag — 11. Wahiperiode — 226. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990
Vizepräsident Cronenberg Uldall
Dr. Unland
Frau Verhülsdonk
Vogel (Ennepetal)

Vogt (Duren)

Dr. Voigt (Northeim)

Dr. Vondran Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Dr. Waigel
Graf von Waldburg-Zeil
Dr. Warnke Dr. Warrikoff
Dr. von Wartenberg Werner (Ulm)

Frau Will-Feld
Frau Dr. Wilms
Wilz
Wimmer (Neuss)

Windelen
Frau Dr. Wisniewski Wissmann
Dr. Wittmann
Würzbach Dr. Wulff Zeitlmann Zierer
Zink
SPD
Dr. Ahrens Bamberg Dr. Böhme (Unna)

Dr. Ehrenberg
Esters
Frau Fuchs (Köln) Grunenberg
Dr. Haack Nagel
Porzner
Schmidt (München)

Frau Schulte (Hameln) Seidenthal
Stahl (Kempen)

Steiner
Würtz
FDP
Frau Dr. Adam-Schwaetzer Baum
Beckmann Bredehorn
Cronenberg (Arnsberg) Eimer (Fürth)
Engelhard
Dr. Feldmann
Frau Folz-Steinacker Funke
Gallus
Gattermann Genscher Gries
Grünbeck Grüner
Frau Dr. Hamm-Brücher Dr. Haussmann
Heinrich
Dr. Hirsch Dr. Hitschler Hoppe
Dr. Hoyer Irmer
Kleinert (Hannover)

Kohn
Dr.-Ing. Laermann
Lüder
Mischnick Möllemann Neuhausen Nolting
Richter
Rind
Ronneburger
Frau Dr. Segall
Frau Seiler-Albring
Dr. Sohns
Dr. Thomae
Timm
Frau Walz
Dr. Weng (Gerlingen) Wolfgramm (Göttingen) Frau Würfel
Zywietz
Enthalten
SPD
Frau Adler Amling
Andres
Antretter Bachmaier Bahr
Becker (Nienberge)

Frau Becker-Inglau Bernrath
Bindig
Frau Blunck
Börnsen (Ritterhude) Brandt
Brück
Büchler (Hof)

Dr. von Bülow
Frau Bulmahn
Buschfort Conradi
Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser
Dr. Diederich (Berlin)

Diller
Dreßler
Duve
Egert
Dr. Ehmke (Bonn)

Dr. Emmerlich
Ewen
Fischer (Homburg)

Frau Fuchs (Verl)

Gansel
Dr. Gautier
Gerster (Worms)

Gilges
Dr. Glotz
Frau Dr. Götte
Graf
Großmann Haack (Extertal)

Haar
Frau Hämmerle
Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz
Häuser
Heimann Heistermann
Herberholz
Heyenn
Hiller (Lübeck)

Dr. Holtz Horn
Huonker Ibrügger Jahn (Marburg)

Jaunich Dr. Jens
Jung (Düsseldorf) Jungmann (Wittmoldt)
Frau Kastner
Kiehm
Kirschner Kißlinger Dr. Klejdzinski
Kolbow
Koltzsch
Koschnick
Kretkowski Dr. Kübler
Kühbacher
Frau Kugler Kuhlwein
Lambinus
Leidinger
Lennartz
Leonhart
Lohmann (Witten)

Lutz
Frau Luuk
Frau Matthäus-Maier Menzel
Dr. Mertens (Bottrop) Meyer
Müller (Düsseldorf)

Müller (PleisweilerOberhofen)

Müller (Schweinfurt) Müntefering
Nehm
Frau Dr. Niehuis Dr. Niese
Niggemeier Dr. Nöbel
Frau Odendahl Oostergetelo Opel
Dr. Osswald Paterna
Dr. Penner
Peter (Kassel) Pfuhl
Dr. Pick
Poß
Purps
Reimann
Frau Renger Reschke
Reuschenbach Reuter
Rixe
Roth
Schanz
Schluckebier
Frau Schmidt (Nürnberg) Schmidt (Salzgitter)
Dr. Schmude Dr. Schöfberger
Schreiner
Schröer (Mülheim)

Schütz
Frau Seuster Sielaff
Singer
Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Soell
Frau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. Sperling
Frau Steinhauer
Stiegler
Stobbe
Dr. Struck Frau Terborg Frau Dr. Timm Toetemeyer Urbaniak
Vahlberg
Verheugen Dr. Vogel
Voigt (Frankfurt)

Vosen
Waltemathe Walther
Wartenberg (Berlin)

Frau Dr. Wegner Weiermann
Frau Weiler Weisskirchen (Wiesloch) Dr. Wernitz
Westphal
Frau Weyel Dr. Wieczorek
Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspütz
von der Wiesche
Wimmer (Neuötting)

Dr. de With Wittich
Zander
Zeitler
Zumkley
DIE GRÜNEN
Frau Frieß
Frau Schmidt (Hamburg)

Damit ist der Antrag abgelehnt.
Ich gebe jetzt auch das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7955 bekannt. Abgegebene Stimmen: 488; ungültig: keine. Mit Ja haben 39, mit Nein 444 gestimmt. Enthaltungen: 5.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 480; davon
ja: 39
nein: 436
enthalten: 5
Ja
SPD
Koschnick
DIE GRÜNEN
Frau Beck-Oberdorf Frau Beer
Dr. Briefs
Dr. Daniels (Regensburg) Eich
Frau Eid
Frau Flinner Frau Frieß Frau Garbe Häfner
Frau Hensel Frau Hillerich Hoss
Hüser
Frau Kelly



Vizepräsident Cronenberg
Kleinert (Marburg)

Dr. Knabe
Frau Kottwitz Kreuzeder
Dr. Lippelt (Hannover)

Dr. Mechtersheimer
Frau Nickels
Frau Oesterle-Schwerin Dr. Roske
Frau Rust
Frau Saibold Frau Schilling
Frau Schmidt (Hamburg) Stratmann-Mertens
Such
Frau Teubner Frau Vennegerts
Frau Dr. Vollmer
Volmer
Weiss (München)

Frau Wilms-Kegel
Frau Wollny
Fraktionslos Wüppesahl
Nein
CDU/CSU
Dr. Abelein Frau Augustin Austermann Dr. Bauer
Bayha
Dr. Becker (Frankfurt)

Dr. Blank
Dr. Blens
Dr. Blüm
Böhm (Melsungen)

Börnsen (Bönstrup)

Dr. Bötsch Bohl
Bohlsen
Borchert
Breuer
Brunner
Bühler (Bruchsal) Buschbom Carstens (Emstek)
Carstensen (Nordstrand) Dr. Czaja
Dr. Daniels (Bonn) Daweke
Frau Dempwolf
Deres
Dewitz
Dörflinger
Dr. Dollinger Doss
Dr. Dregger Echternach Ehrbar
Eigen
Engelsberger Eylmann
Dr. Faltlhauser Feilcke
Dr. Fell
Fellner
Frau Fischer Fischer (Hamburg) Francke (Hamburg)
Dr. Friedrich Fuchtel
Ganz (St. Wendel)

Frau Geiger Geis
Dr. Geißler
Dr. von Geldern
Gerstein
Gerster (Mainz)

Glos
Dr. Göhner
Dr. Götz Gröbl
Dr. Grünewald
Günther Dr. Häfele
Hames
Frau Hasselfeldt Haungs
Hauser (Esslingen) Hauser (Krefeld) Hedrich
Freiherr Heereman von
Zuydtwyck
Frau Dr. Hellwig Helmrich
Dr. Hennig
Herkenrath
Hinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger
Hörster
Dr. Hoffacker
Dr. Hornhues
Hornung
Frau Hürland-Büning Graf Huyn
Dr. Hüsch
Jäger
Dr. Jahn (Münster)

Dr. Jenninger
Dr. Jobst
Jung (Limburg)

Jung (Lörrach)

Kalb
Dr.-Ing. Kansy
Dr. Kappes
Frau Karwatzki
Keller
Kiechle Kittelmann
Klein (München)

Dr. Köhler (Wolfsburg) Kossendey
Kraus
Krey
Kroll-Schlüter
Dr. Kronenberg
Lamers
Dr. Lammert
Dr. Langner
Lattmann
Dr. Laufs
Lenzer
Frau Limbach
Link (Diepholz)

Link (Frankfurt)

Lintner
Dr. Lippold (Offenbach) Louven
Lowack Lummer Maaß
Frau Männle
Magin
Dr. Mahlo Marschewski
Dr. Meyer zu Bentrup Michels
Dr. Möller
Müller (Wadern) Müller (Wesseling) Nelle
Dr. Neuling
Neumann (Bremen) Niegel
Dr. Olderog
Oswald Pesch
Petersen
Pfeffermann Pfeifer
Dr. Pfennig Dr. Pinger
Dr. Pohlmeier Dr. Probst
Rauen
Rawe
Reddemann Regenspurger Repnik
Dr. Riedl (München)

Dr. Riesenhuber
Frau Rönsch (Wiesbaden) Frau Roitzsch (Quickborn) Dr. Rose
Rossmanith Roth (Gießen) Rühe
Dr. Rüttgers Ruf
Sauer (Salzgitter)

Sauer (Stuttgart) Sauter (Epfendorf)
Frau Schätzle Scharrenbroich Schartz (Trier) Schemken
Scheu
Schmidbauer
Frau Schmidt (Spiesen) Schmitz (Baesweiler)
von Schmude
Dr. Schneider (Nürnberg) Schneider (I.-Oberstein) Freiherr von Schorlemer Schreiber
Dr. Schroeder (Freiburg) Schulhoff
Dr. Schulte

(Schwäbisch Gmünd) Schwarz

Dr. Schwarz-Schilling
Dr. Schwörer Seehofer
Seesing
Seiters
Spilker
Spranger
Dr. Sprung
Dr. Stark (Nürtingen)

Dr. Stavenhagen
Dr. Stoltenberg Straßmeir
Strube
Stücklen
Frau Dr. Süssmuth
Susset
Tillmann
Dr. Todenhöfer Dr. Uelhoff
Uldall
Dr. Unland
Frau Verhülsdonk
Vogel (Ennepetal)

Vogt (Duren)

Dr. Voigt (Northeim)

Dr. Vondran Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Dr. Waigel
Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warnke
Dr. Warrikoff
Dr. von Wartenberg Werner (Ulm)

Frau Will-Feld Frau Dr. Wilms Wilz
Wimmer (Neuss) Windelen
Frau Dr. Wisniewski Wissmann
Dr. Wittmann
Würzbach Dr. Wulff Zeitlmann Zierer
Zink
SPD
Frau Adler Dr. Ahrens Amling
Andres
Antretter Bachmaier Bahr
Bamberg
Becker (Nienberge)

Frau Becker-Inglau
Bernrath Bindig
Frau Blunck
Dr. Böhme (Unna)

Börnsen (Ritterhude)

Brandt
Büchler (Hof)

Dr. von Bülow
Frau Bulmahn
Buschfort Conradi
Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser
Dr. Diederich (Berlin)

Diller
Dreßler
Duve
Dr. Ehmke (Bonn)

Dr. Ehrenberg
Dr. Emmerlich
Esters
Ewen
Fischer (Homburg)

Frau Fuchs (Köln)

Frau Fuchs (Verl)

Gansel
Dr. Gautier Gerster (Worms)

Gilges
Dr. Glotz
Frau Dr. Götte
Graf
Großmann Grunenberg
Dr. Haack Haack (Extertal)

Haar
Frau Hämmerle
Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz
Häuser
Heimann Heistermann
Herberholz
Heyenn
Hiller (Lübeck)

Dr. Holtz Horn
Huonker Ibrügger Jahn (Marburg)

Jaunich Dr. Jens Jung (Düsseldorf)

Jungmann (Wittmoldt)

Frau Kastner
Kiehm
Kirschner Kißlinger Dr. Klejdzinski
Klose
Koltzsch
17904 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 226. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 20. September 1990
Vizepräsident Cronenberg Kretkowski
Dr. Kübler Kühbacher Frau Kugler Kuhlwein Lambinus Leidinger Lennartz Leonhart
Lohmann (Witten)

Lutz
Frau Luuk
Frau Matthäus-Maier Menzel
Dr. Mertens (Bottrop) Meyer
Müller (Düsseldorf)

Müller (PleisweilerOberhofen)

Müller (Schweinfurt) Müntefering
Nagel
Nehm
Frau Dr. Niehuis
Dr. Niese Niggemeier
Dr. Nöbel
Frau Odendahl Oostergetelo
Opel
Dr. Osswald
Paterna
Dr. Penner Peter (Kassel)

Pfuhl
Dr. Pick
Porzner
Poß
Purps
Reimann Frau Renger
Reschke Reuschenbach
Reuter
Rixe
Roth
Schanz
Dr. Scheer Schluckebier
Schmidt (München)

Frau Schmidt (Nürnberg) Schmidt (Salzgitter)
Dr. Schmude
Dr. Schöfberger
Schreiner
Schröer (Mülheim)

Schütz
Frau Schulte (Hameln) Seidenthal
Frau Seuster
Sielaff
Singer
Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Soell
Frau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. Sperling
Stahl (Kempen)

Steiner
Frau Steinhauer
Stiegler
Stobbe
Dr. Struck Frau Terborg
Frau Dr. Timm Toetemeyer Urbaniak Vahlberg Verheugen
Dr. Vogel
Voigt (Frankfurt)

Vosen
Waltemathe Walther
Frau Dr. Wegner Weiermann
Frau Weiler Weisskirchen (Wiesloch) Dr. Wernitz
Westphal
Frau Weyel Dr. Wieczorek Wiefelspütz
von der Wiesche
Wimmer (Neuötting)

Dr. de With Wittich
Würtz
Zander
Zeitler
Zumkley
FDP
Frau Dr. Adam-Schwaetzer Baum
Beckmann Bredehorn
Cronenberg (Arnsberg) Eimer (Fürth) Engelhard
Dr. Feldmann
Frau Folz-Steinacker Funke
Gallus
Gattermann Genscher
Gries
Grünbeck
Grüner
Dr. Haussmann
Heinrich
Dr. Hirsch Dr. Hitschler Hoppe
Dr. Hoyer
Irmer
Kleinert (Hannover)

Kohn
Dr.-Ing. Laermann
Lüder
Mischnick Möllemann Neuhausen Nolting
Richter
Rind
Ronneburger Frau Dr. Segall
Frau Seiler-Albring
Dr. Solms
Dr. Thomae Timm
Frau Walz
Dr. Weng (Gerlingen) Wolfgramm (Göttingen) Frau Würfel
Zywietz
Enthalten
SPD
Egert
Kolbow
Frau Wieczorek-Zeul
FDP
Frau Dr. Hamm-Brücher
Fraktionslos Frau Unruh
Der Antrag ist damit abgelehnt.
Nachdem ich nunmehr das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN bekanntgegeben habe, können wir über einen noch verbleibenden Teil der Beschlußempfehlung des Ausschusses Deutsche Einheit auf Drucksache 11/7931 abstimmen.
Der Ausschuß empfiehlt Ihnen unter Ziffer 3, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7780 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung, den Antrag der GRÜNEN abzulehnen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der SPD- Fraktion, der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie die Zusatztagesordnungspunkte 5 bis 7 auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Abschlußgesetzgebung zum Lastenausgleich
— Drucksache 11/7436 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß (federführend)

Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Such, Frau Dr. Vollmer, Frau Nickels, Häfner und der Fraktion DIE GRÜNEN
Beendigung von GenomAnalysen durch Strafverfolgungsbehörden
— Drucksache 11/6092 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß (federführend)

Innenausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Brahmst-Rock, Weiss (München) und der Fraktion DIE GRÜNEN
Baustopp für den Weiterbau der A 49 BorkenLumda
— Drucksache 11/1521 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Umsetzung des Konzepts für die Förderung von Frauen in Entwicklungsländern
— Drucksache 11/6126 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit (federführend)

Innenausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung



Vizepräsident Cronenberg
Achter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung
— Drucksache 11/7313 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zum Thema „Der entwicklungspolitische Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen"
— Drucksachen 11/7352, 11/7627 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
g) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof
Bericht des Bundesrechnungshofes gemäß § 99 BHO über die Sicherheit der Informationsverarbeitung in Rechenzentren der Bundesverwaltung
— Drucksache 11/7691 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend) Haushaltsausschuß
ZP5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit
— Drucksache 11/7903 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend) Innenausschuß
Finanzausschuß
ZP6 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Durchführung einer Repräsentativstatistik über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt (Mikrozensusgesetz) und des Gesetzes über die Statistik für Bundeszwecke (Bundesstatistikgesetz)
— Drucksache 11/7768 —
Überweisungsvorschlag :
Innenausschuß (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
ZP7 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen bei der Durchführung des Mikrozensusgesetzes vom 10. Juni 1985
— Drucksache 11/1756 —Überweisungsvorschlag :
Innenausschuß (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden, oder ergeben sich Änderungsanträge? — Das ist nicht der Fall. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 5 a bis 5 d und 5 f bis 51 auf:
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 160 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 25. Juni 1985 über Arbeitsstatistiken
— Drucksache 11/5316 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß)

— Drucksache 11/7917 —
Berichterstatter: Abgeordneter Hoss

(Erste Beratung 173. Sitzung)

b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Wiener Übereinkommen vom 21. März 1986 über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen oder zwischen internationalen Organisationen
— Drucksache 11/5728 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß)

— Drucksache 11/7790 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Vogel (Ennepetal) Voigt (Frankfurt)
Irmer
Dr. Lippelt (Hannover)


(Erste Beratung 194. Sitzung)

c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluß der Generalversammlung des Internationalen Ausstellungsbüros vom 31. Mai 1988 zur Änderung des Abkommens über Internationale Ausstellungen vom 22. November 1928
— Drucksache 11/7188 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)

— Drucksache 11/7799 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Unland

(Erste Beratung 216. Sitzung)

d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom



Vizepräsident Cronenberg
29. August 1989 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und einiger anderer Steuern
— Drucksache 11/6530 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuß)

— Drucksache 11/7888 —
Berichterstatter: Abgeordnete Glos Poß

(Erste Beratung 199. Sitzung)

f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN
Zur Verbesserung der kulturellen Lage der Deutschen in der Sowjetunion
— Drucksachen 11/4755 (neu), 11/6477 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Czaja Duve
Frau Dr. Hamm-Brücher Dr. Lippelt (Hannover)

g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (10. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Sauter (Epfendorf), Carstensen (Nordstrand), Herkenrath, Kalb, Kroll-Schlüter, Michels, Niegel, Freiherr von Schorlemer, Susset, Bayha, Eigen, Schartz (Trier) und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paintner, Bredehorn, Frau Folz-Steinacker, Frau Walz und der Fraktion der FDP
Intensivierung und Koordinierung der Agrarforschung für die Dritte Welt und in der Dritten Welt
— Drucksachen 11/4211, 11/6635 —
Berichterstatter: Abgeordneter Sielaff
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

Übersicht 17
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
— Drucksache 11/7862 —
Berichterstatter: Abgeordneter Helmrich
i) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 09 05 Titel 681 01 — Entschädigungsleistungen im
Rahmen eines Ausfuhrgenehmigungsverfahrens —— Drucksachen 11/7734, 11/7863 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Rossmanith Dr. Weng (Gerlingen) Esters
Frau Vennegerts
j) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1990 bei Kapitel 10 02 Titel 656 54
—Zuschüsse zur Sicherung der späteren Altersversorgung als Arbeitnehmer bei Abgabe landwirtschaftlicher Unternehmen (Nachentrichtungszuschüsse)

— Drucksachen 11/7438, 11/7864 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Strube Diller
Frau Vennegerts
k) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß) Sammelübersicht 176 zu Petitionen
— Drucksache 11/7855 —
1) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß) Sammelübersicht 177 zu Petitionen
— Drucksache 11/7856 —
Es handelt sich um eine Reihe von Vorlagen ohne Aussprache, über die abgestimmt werden muß.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung zu dem Übereinkommen Nr. 160 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 25. Juni 1985 über die Arbeitsstatistiken. Das liegt Ihnen auf den Drucksachen 11/5316 und 11/7917 vor.
Ich rufe das Gesetz mit den Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift entsprechend der Ausschußempfehlung auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist das Gesetz in der zweiten Lesung mit den Stimmen der SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Ich muß jetzt noch in der Schlußabstimmung über das Gesetz als Ganzes abstimmen lassen. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieses Gesetz mit der eben genannten Mehrheit angenommen worden.
Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 5 b.
Ich lasse abstimmen über den von der Bundesregierung eingebrachten Vertragsgesetzentwurf zu dem Wiener Übereinkommen vom 21. März 1986 über die völkerrechtlichen Verträge bei Beteiligung internationaler Organisationen. Das liegt Ihnen auf den Drucksachen 11/5728 und 11/7790 vor.



Vizepräsident Cronenberg
Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift entsprechend der Ausschußempfehlung auf. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist das Gesetz in der zweiten Lesung mit den Stimmen der SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.
Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Dann ist dieses Gesetz mit den Stimmen der SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der GRÜNEN angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 5 d übernimmt nunmehr der Kollege Vizepräsident Stücklen.

(V o r sitz : Vizepräsident Stücklen)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1122616200
Wir stimmen ab über den Vertragsentwurf der Bundesregierung zum Doppelbesteuerungsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika — Drucksachen 11/6530 und 11/7888. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich rufe das Gesetz mit den Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ist mit Mehrheit angenommen.
Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit großer Mehrheit bei Stimmenthaltung der GRÜNEN angenommen. 5 c! Ich lasse abstimmen über den von der Bundesregierung eingebrachten Vertragsentwurf zum Abkommen über Internationale Ausstellungen vom 22. November 1928 — Drucksachen 11/7188 und 11/7799. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich rufe das Gesetz mit den Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer wünscht zuzustimmen? — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Einstimmig angenommen.
Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 f. Wir stimmen ab über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/6477 zu dem interfraktionellen Antrag zur Verbesserung der kulturellen Lage der Deutschen in der Sowjetunion.
Wer stimmt der Beschlußempfehlung zu? — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 g auf.
Ich lasse abstimmen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 11/6635. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP auf Drucksache 11/4211 unverändert anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. — Enthaltungen?
— Bei vier Enthaltungen aus der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 h auf.
Wir stimmen ab über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 11/7862. Das ist die Übersicht 17 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Die Gegenprobe! — Keine Gegenstimme. Enthaltungen?
— Keine Enthaltungen. Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 i und 5 j auf. Ich lasse abstimmen über die Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses auf den Drucksachen 11/7863 und 11/7864 zu überplanmäßigen Ausgaben, Ausfuhrgenehmigung und Altersversorgung.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Die Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Damit sind diese Beschlußempfehlungen einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 k und 51 auf. Wir stimmen ab über die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 11/7855 und 11/7856. Das sind die Sammelübersichten 176 und 177.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Wer stimmt dagegen? — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Zwei Enthaltungen aus der Fraktion DIE GRÜNEN. Damit sind diese Beschlußempfehlungen mit großer Mehrheit angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines
Umwelthaftungsgesetzes — UmweltHG
— Drucksachen 11/6454, 11/7104 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

— Drucksache 11/7881 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Bachmaier Häfner
Dr. Hüsch
Kleinert (Hannover)


(Erste Beratung 198. und 214. Sitzung)

b) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Bachmaier, Dr. Gautier, Kiehm, Dr. Pick, Schäfer (Offenburg), Dr. Schöfberger, Schütz, Singer, Dr. de With, Dr. Däubler-Gmelin, Dr. Hauff, Klein (Dieburg), Schmidt (München), Stiegler, Wiefelspütz, Blunck, Conrad, Dr. Hartenstein, Lennartz, Müller (Düsseldorf), Reuter, Stahl (Kempen), Weiermann, Amling,



Vizepräsident Stücklen
Becker-Inglau, Dr. Böhme (Unna), Gerster (Worms), Gilges, Dr. Götte, Jaunich, Rixe, Schmidt (Salzgitter), Seuster, Wittich, Schanz, Conradi, Fischer (Homburg), Jansen, Koltzsch, Dr. Martiny, Menzel, Reimann, Waltemathe, Adler, Bamberg, Bernrath, Buschfort, Dr. Dobberthien, Egert, Dr. Emmerlich, Großmann, Haack (Extertal), Dr. Hauchler, Heyenn, Ibrügger, Kretkowski, Schmidt (Nürnberg), Tietjen, Traupe, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Reform des Umwelthaftungsrechts — Drucksachen 11/2035, 11/7881 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Bachmaier Häfner
Dr. Hüsch
Kleinert (Hannover)

Zum Gesetzentwurf liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf der Drucksache 11/7925 vor.
Im Ältestenrat ist eine Aussprache von einer Stunde vorgesehen worden. Sie wissen, Sie müssen nicht unbedingt eine ganze Stunde einhalten, aber Sie dürfen nicht darüber hinausgehen. Wer mit dieser Regelung einverstanden ist, den bitte ich um Zustimmung. — Ich sehe keine gegenteilige Meinung. Es wird so verfahren.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hüsch.

Dr. Heinz Günther Hüsch (CDU):
Rede ID: ID1122616300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Sorge, die natürlichen Grundlagen unseres Lebens seien bereits endgültig zerstört, die Sorge, eine solche Zerstörung drohe zumindest, wenn nicht umgehend und umfassend gehandelt werde, und die Sorge, daß solche Umweltverletzungen bereits eingetreten seien und zu schwerwiegenden Schäden geführt haben, bestimmt das Denken und vielfach auch das Handeln unserer Mitbürger. Es gibt nicht wenige, nein, es gibt sehr viele in unserem Lande, die unter Einflüssen leiden, die zurückhaltend als Umwelteinflüsse bezeichnet werden, die aber in Wirklichkeit bereits Folgen tiefgreifender ökologischer Veränderungen sind. Ungezählte Erkrankungen stehen in bewiesenem oder zumindest in vermutetem Zusammenhang mit der Störung der Umwelt.
Umfrageergebnisse beweisen, daß unsere Mitbürger den Kampf um die Wiederherstellung einer gesunden Natur als eines der wichtigsten Ziele werten. Für einen Abgeordneten bedarf es dazu aber gar keiner Umfrage. In den täglichen Gesprächen mit unseren Mitbürgern, an Informationsständen, in den Sprechstunden, bei Begegnungen, aus Versammlungen und aus dem Schriftwechsel wissen wir das ebensogut. Die Diskussion ist breit angelegt. Sie hat nicht etwa erst mit den GRÜNEN begonnen und wird auch von diesen gar nicht allein und keineswegs wegweisend geführt.
Man mag zu den Aktionen stehen, wie man will, die Grundprinzipien beispielsweise von Greenpeace und anderen international anerkannten Organisationen verdienen Respekt. Das alles ist gut so, denn die Wiederherstellung einer gesunden Natur ist nicht und kann nicht Anliegen und Aufgabe alleine des Gesetzgebers sein. Es geht nur im Zusammenwirken aller
Beteiligten: des Gesetzgebers, der Verwaltung, der Rechtsprechung und der Staatsbürger, die durch ihre Beteiligung eine gesunde Umwelt als ihre eigene Sache und ihre eigene Aufgabe begreifen.
Es geht nur mit dem Staatsbürger, der auch bereit ist, Einschränkungen hinzunehmen, sich in die Disziplin einzufügen und in seinem persönlichen Bereich vorausschauend, dem Gemeinwohl dienend zu handeln, um so die Aufgabe der Umweltbewahrung zum Gesamterfolg zu führen.

(Dr. Laufs [CDU/CSU]: So möge es sein!)

Wir können mit Genugtuung feststellen, daß es zahlreiche Anreize, Bestrebungen, Bemühungen und Erfolge auf diesem Weg gibt: Verantwortungsvoller Umgang mit den beschränkten Ressourcen dieser Welt, die vielen freiwilligen Sammelaktionen, das Recycling von Abfallstoffen sind nur Beispiele einer in weiten Teilen doch sehr ermutigenden Änderung des Bewußtseins unserer Gesellschaft, jedenfalls des Anfangs. Auch die oftmals gescholtene Industrie hat zahlreiche konstruktive Beispiele gegeben.
Das heute dem Bundestag vorliegende Umwelthaftungsgesetz hat große Bedeutung im Rahmen notwendiger gesellschaftlicher Verhaltensweisen, sozialer Ordnungen, politischer Absichten, gesetzgeberischer Entscheidungen, richterlicher Sprüche und Urteile und des Verwaltungshandelns. Es geht bei diesem Gesetz um die Erweiterung des zivilen Haftungsrechtes, bei dem Lücken bestehen und für das sich neue Notwendigkeiten herausgestellt haben.
Drei Ziele stehen dabei im Vordergrund. Wer durch eine umweltschädigende Maßnahme zu einem Schaden gekommen ist, muß finanzellen Ausgleich erhalten. Die Grundlage dieses Ausgleichs muß verbreitert und der Weg, diesen Ausgleich zu erstreiten, muß nachhaltig verbessert werden. Dazu dienen im Gesetzentwurf folgende Maßnahmen: Für die Umweltmedien Boden und Luft wird eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung neu eingeführt. Für Wasser war sie bereits im Wasserhaushaltsgesetz gesetzliche Grundlage. Die Gefährdungshaftung bezieht sich auf den Betrieb bestimmter Anlagen. Ihre Liste ist im wesentlichen in Anlehnung an das Bundes-Immissionsschutzgesetz erarbeitet. Die Gefährdungshaftung umfaßt auch den Normalbetrieb. Sie betrifft solche Schäden, die sich im störungsfreien, behördlich genehmigten Normalbetrieb ergeben — allerdings unter Einschränkungen. Die Gefährdungshaftung selbst orientiert sich am traditionellen Schadensbegriff.
Das zweite Ziel liegt darin, das zivilrechtliche Haftungsrecht als ein Mittel zu nutzen, die Umweltvorsorge zu stärken. Ein marktkonformes Mittel ist eine Maßnahme, die auf das übliche und natürliche Verhalten der Mitmenschen eingeht, dieses Verhalten so bewertet und die Konsequenzen so ansetzt, daß diejenigen, die einen Haftungsgrund setzen können, von vornherein veranlaßt werden, ihr Verhalten auf die Verhinderung des Schadensfalles auszurichten.
Es darf nicht länger hingenommen werden, daß die Verursachung eines Umweltschadens billiger ist als



Dr. Hüsch
die Vorsorge zum Schutz von Boden, Wasser und Luft.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Eine alte Forderung von uns!)

Es darf nicht länger hingenommen werden, daß sich Verursacher von Umweltschäden auf verfahrensrechtliche Vorschriften, auf Beweislastregelungen, auf den Hinweis auf Mitverschulden oder Mithandeln Dritter zurückziehen können. Es soll künftig unterbunden werden, daß sie die Umweltverletzung vornehmen oder zumindest in Kauf nehmen, weil sie billiger ist als die vom Gesetzgeber gewollte, bessere Vorsorge.
Dem dienen die gesetzlichen Beweisregelungen zugunsten der Geschädigten, um die Ursächlichkeit einer bestimmten Umweltwirkung nachzuweisen. Dem dienen auch die Auskunftsansprüche gegen die Inhaber der Anlagen und gegen Behörden. Für künftige Schadensfälle muß finanzielle Deckungsvorsorge getroffen werden. Ebenso gehören hierzu die Vorschriften über den Gerichtsstand am Ort der Anlage, der insbesondere bei zu befürchtenden Massenprozessen wichtig ist, wie auch der Zwang, einen Zustellungsbevollmächtigten an diesen Ort zu bestellen.
Schließlich geht es darum, im Gesetz bestehende Lücken zu schließen. Hierhin gehört insbesondere, daß sich der Schädiger bei ökologischen Schäden nicht wie bisher darauf berufen darf, daß die Wiederherstellung unverhältnismäßig teuer sei. Damit leistet das Umwelthaftungsgesetz einen neuen Beitrag zu einem Umweltschutz, der erfolgreicher sein wird als bisher.
In diesem Zusammenhang sei an zwei Leitsätze des Bundesverfassungsgerichtes erinnert: Erstens. Die Grundrechte sind objektive Elemente für alle Rechtsbereiche, also auch für den Umweltschutz. Zweitens. Das Sozialstaatsprinzip verbietet es, etwas als Schicksal hinnehmen zu müssen, was rechtlich änderbar ist. Davon haben sich die Urheber des Gesetzentwurfes leiten lassen. Seine Regelungen sind Ausfluß eines allgemeinen Gerechtigkeitsprinzips. Dieses Gerechtigkeitsprinzip wird einerseits vom Staat, andererseits vom Gemeinwohl, aber auch von den individuellen Rechten der Betroffenen und Geschädigten und den Rechten dessen bestimmt, der den Schaden verursacht haben kann.
Das Umweltrecht kann allerdings auch anders konzipiert werden als im vorliegenden Gesetzentwurf, kann aber auch in den Anforderungen zu weit gehen. Man kann die Rechtsstaatsprinzipien verletzten und den Schädiger in eine ruinöse Haftung treiben oder zu einer unangemessenen Deckungsvorsorge zwingen und auf der anderen Seite den Geschädigten von der Mitwirkung, ja sogar von der Auskunftserteilung freistellen. Solche Elemente enthält der SPD-Antrag, dem wir deshalb nicht folgen können.

(Zuruf von der SPD: Sehr traurig!)

Es muß gehandelt werden. Wir haben lange genug beraten. Deshalb knüpfe ich an die heutige Beratung auch die Werbung gegenüber der SPD, den Bundesrat und seine andere Mehrheit als die im Bundestag nicht
dafür zu nutzen, ein neues Haftungsrecht gänzlich zum Scheitern zu bringen.
Nicht zuletzt: Das Umwelthaftungsrecht bringt eine erhebliche Verschärfung der Haftung überhaupt. Es erhöht die Risiken für die Betreiber von Anlagen. Ob solche Betreiber in der DDR überhaupt in der Lage sein werden, dem schon jetzt geltenden scharfen westdeutschen Recht gerecht zu werden, ist eine offene Frage. Sie muß im Lichte des deutschen Einigungsprozesses und in der Notwendigkeit der Verfassungsforderung gesehen werden, daß Überforderungen, die letztendlich zur Erdrosselung oder zum Zusammenbruch führen könnten und müßten, vermieden bleiben.
Deshalb ist in der jetzigen Situation die vorliegende Regelung im Gesetzentwurf in dieser Form und bei gleichzeitigem Verzicht auf weitergehende Verschärfung für das gesamte Deutschland der bessere Weg als ein Scheitern des Gesetzes einerseits oder die Erfüllung anderer Forderungen, die weder finanziell noch wirtschaftlich den Realitäten insbesondere in der DDR gerecht werden können.
Selbst wenn es für die DDR zu Überleitungsregelungen käme, wären diese nur befristet und könnten mit dem Ziel der Rechtsangleichung auch nur befristet bleiben. Jeder, der anders will als die Vorlage, muß dies bedenken.
Dieses Umwelthaftungsgesetz, das wir heute zu verabschieden haben, ist ein weiterer Schritt nach vorn. Es ist ein gutes, in sich schlüssiges Gesetz. Es ist durchsetzbar. Es ist auf beiden Seiten erträglich, und es ist nützlich. Deshalb verdient dieses Gesetz die Zustimmung des gesamten Hauses.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. Kleinert [Hannover] [FDP] — Zuruf von der SPD: Dem Geschädigten hilft es immer noch nicht!)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1122616400
Das Wort hat Herr Abgeordneter Bachmaier.

Hermann Bachmaier (SPD):
Rede ID: ID1122616500
Verehrter Herr Hüsch! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Worte waren schön. Nur die Realität des Gesetzes sieht anders aus. Aus den vielfältigen, jahrelangen und wortreichen Ankündigungen der Regierung zum Umwelthaftungsrecht ist ein äußerst dürftiges Machwerk geworden, dessen Titel „Umwelthaftungsgesetz" bereits eine Irreführung, ja eine Anmaßung darstellt.
Davon, daß dieses Gesetz dem Verursacherprinzip im Haftungsrecht zum Durchbruch verhelfen würde, kann nicht im entferntesten die Rede sein. Sachverständigenanhörungen und Beratungen im Rechtsausschuß haben meine Einschätzung bei der ersten Lesung voll bestätigt: Dieser Gesetzentwurf der Regierungskoalition gibt den Geschädigten Steine statt Brot.

(Sehr wahr! bei der SPD — Kleinert [Hannover] [FDP]: Es ist immer schön, wenn man sich selbst bestätigt!)




Bachmaier
Von einer substantiellen Verbesserung, verehrter Herr Kleinert, der Situation der Umweltgeschädigten sind wir weiter denn je entfernt. Es wird auch in Zukunft so bleiben, daß die Geschädigten den ihnen zugefügten umweltbedingten Schaden weitestgehend selbst zu tragen haben.

(Dr. Hüsch [CDU/CSU]: Falsch!)

Ihr Gesetzentwurf, verehrter Herr Hüsch, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, enthält keine Regelungen für den weitaus größten Teil der Umweltschäden, also die durch die Luftverschmutzung bedingten Gesundheits-, Wald- und Gebäudeschäden.
Diejenigen Sachverständigen werden wohl Recht behalten, die davon ausgehen, daß der Regierungsentwurf nur einige wenige Prozent der Umweltschäden überhaupt einer Regelung der Schadenersatzfrage zuführt. Die Luftverschmutzungsgeschädigten bleiben von vornherein auf ihren Schäden sitzen. Sie haben überhaupt keine Chance. Sie sind in diesem Gesetz überhaupt nicht berücksichtigt.

(Dr. Hüsch [CDU/CSU]: Stimmt auch nicht!)

Es wird wohl dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleiben, diesem unerträglichen Zustand ein Ende zu bereiten und dem Gesetzgeber Beine zu machen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist denn Ihr Gesetzentwurf?)

Dabei könnte ein verursachergerechtes und der Struktur der Schäden angemessenes Haftungsrecht ein wirksames Instrument einer verbesserten Umweltvorsorge sein. Wenn diejenigen, die unserer Umwelt zu ihrem eigenen Vorteil tagtäglich unermeßliche Schäden zufügen, damit rechnen müßten, daß sie für diese Schäden in vollem Umfange geradezustehen hätten, dann wäre es sehr bald um die Qualität unserer Lebensgrundlagen weitaus besser bestellt, als dies heute der Fall ist.

(Beifall bei der SPD)

Selbst für die eng begrenzten Schadensbereiche aber, die der Regierungsentwurf verfaßt, wurden nur Lösungen gewählt, die den Umweltverschmutzern überhaupt nicht weh tun werden. Im Gegenteil, dieses Gesetz zieht engmaschige Schutzzäune um die potentiellen Schädiger, so daß auf Grund dieser gesetzlichen Vorgaben Geschädigte kaum jemals zu ihrem Recht kommen dürften. Lediglich — meine Damen und Herren, das sei eingeräumt — bei der Deckungsvorsorge und beim sogenannten ökologischen Schaden sind ganz geringfügige Verbesserungen zu erkennen.

(Dr. Hüsch [CDU/CSU]: Also haben Sie doch Teile des Entwurfes gelesen!)

Die so groß angekündigte verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung soll lediglich für eine begrenzte Anzahl von Anlagen eingeführt werden. Auch nur für eine begrenzte Zahl besonders emissionsträchtiger Anlagen ist eine obligatorische Deckungsvorsorge, also in aller Regel eine Haftpflichtversicherung, vorgesehen. Aber selbst die nur sehr zaghaft eingeführte verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung verpufft völlig in ihrer Wirkung, wenn die Beweislastregelung beim Kausalitätsbeweis — Herr Hüsch, davon haben Sie überhaupt nicht gesprochen — nicht grundlegend zugunsten der Geschädigten verbessert wird.

(Dr. de With [SPD]: Sehr wahr!)

Das von der Koalition vorgelegte Umwelthaftungsgesetz wird über den gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung hinaus — dies hat die Anhörung des Rechtsausschusses klar bestätigt — keine gravierenden Verbesserungen der Beweislastregeln zugunsten der Geschädigten bringen.

(Dr. de With [SPD]: So ist es!)

Beim Regelfall des sogenannten Normalbetriebes werden die Geschädigten nach wie vor die volle Beweislast für den ihnen entstandenen Schaden zu tragen haben.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: Das muß man immer wieder sagen!)

Diesen schwierigen Beweis zu führen wird bei den meisten Geschädigten schon am immensen Kostenrisiko, das damit verbunden ist, scheitern. Dazu kommt noch, daß der sogennante bestimmungsgemäße Normalbetrieb, der die Schädiger im Beweisrecht entlastet, in aller Regel auch noch zugunsten der Anlagenbetreiber vermutet wird.
Der Anwendung des Verursacherprinzips im Beweisrecht spricht diese Regel geradezu Hohn. Es müßte doch eine Selbstverständlichkeit sein, daß diejenigen, die aus dem Betrieb ihrer Anlagen ökonomische Vorteile haben, auch verpflichtet sind, das Beweisrisiko dann zu tragen, wenn es naheliegt, daß andere aus dem Betrieb dieser Anlagen Schaden erleiden. Dabei hat die Frage völlig zurückzutreten, ob der Schaden beim bestimmungsgemäßen Betrieb der Anlage oder im Zusammenhang mit einer Betriebsstörung entstanden ist. Die dringend gebotene Beweislastverlagerung gerade beim Kausalitätsnachweis vom Geschädigten hin zum Schadensverursacher aber bleibt der Schlüssel für ein verbessertes Umwelthaftungsrecht.
Geradezu grotesk ist die Regelung der Auskunftsansprüche. Wer weiß, wie weit hierzulande Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse gehen, der weiß auch, daß kaum jemals Geschädigte an substantiell verwertbares Wissen herankommen werden. Es bleibt lediglich die Hoffnung, daß die Rechtsprechung dem berechtigten Verlangen der Geschädigten auf Auskunft einigermaßen, wenigstens ein Stück weit weiterhelfen wird.

(Zuruf des Abg. Dr. Hüsch [CDU/CSU])

— Die Rechtsprechung, nicht Ihr Gesetz; das verbarrikadiert geradezu solche Ansprüche.

(Dr. Hüsch [CDU/CSU]: Ohne Gesetz gibt es keine Rechtsprechung!)

Um Umweltgeschädigten erst recht die Geltendmachung ihrer Schadensersatzansprüche zu verleiden, hat man sich dann noch etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Über den Gesetzentwurf der Regierung hinaus verlangen nunmehr die Koalitionsfraktionen noch ein eigenständiges, weitgehendes Auskunfts-



Bachmaier
recht, man höre und staune: der Anlagenbetreiber gegenüber den Geschädigten.

(Kleinert [Hannover] [FDP]: Das ist ganz normal!)

— Das werden Sie sonst im zivilen Schadensersatzrecht nirgendwo sehen, Herr Kleinert. Hier wird in Mechanismen des zivilprozessualen Schadensrechtes massiv eingegriffen.
Noch ein Punkt.

(Zurufe von der CDU/CSU und des Abg. Kleinert [Hannover] [FDP])

— Ich werde es Ihnen sagen, wenn Sie sich beruhigt haben. — Anders als im übrigen zivilrechtlichen Schadensersatzrecht wird bei Umwelthaftungsschäden, die sich aus dem sogenannten Normalbetrieb ergeben, auch noch das bewährte Institut der sogenannten gesamtschuldnerischen Haftung abgeschafft. Während in den übrigen Bereichen des Schadensersatzrechtes der Grundsatz gilt, daß ein Ersatzpflichtiger zunächst einmal für den gesamten Schaden aufzukommen hat und es dann diesem Schädiger obliegt, sich bei anderen Schadensmitverursachern entsprechend deren Anteil schadlos zu halten, hat der Geschädigte auf der Basis Ihres Umwelthaftungsgesetzentwurfs getrennt gegen die einzelnen Schädiger entsprechend deren Schadensanteil vorzugehen.

(Dr. Hüsch [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)

Der Geschädigte steht also vor Schadensabgrenzungsproblemen, die er kaum jemals wird bewältigen können. Prozeßrisiken steigen geradezu ins Unermeßliche.

(Dr. Hüsch [CDU/CSU]: Sie verbreiten Falschmeldungen!)

Ein klassischer Grundsatz im Schadensersatzrecht wird ausgerechnet beim Umwelthaftungsrecht zum Nachteil der Geschädigten schlichtweg über Bord geworfen.
Während der Regierungsentwurf offensichtlich seine Aufgabe darin sieht, Umweltschädiger vor berechtigten Schadensersatzansprüchen der Geschädigten abzuschirmen, haben wir Sozialdemokraten zu diesem Gesetzentwurf Änderungsanträge vorgelegt, die in den angesprochenen Punkten und darüber hinaus zu entscheidenden Verbesserungen zugunsten der Geschädigten führen würden. Solche Regelungen sind überfällig.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen ist — dabei bleibe ich — zutiefst unseriös.

(Beifall bei der SPD)

So traurig es ist: Nach dem Willen der Regierungsmehrheit werden auch in Zukunft ökologische Risiken bei uns weitestgehend von den Geschädigten und nicht von denjenigen getragen, die diese Risiken verursachen und in die Welt setzen. Von einem verursachergerechten Schadensersatzrecht, meine Damen und Herren, sind wir weiter denn je entfernt. Deshalb werden wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen.

(Beifall bei der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1122616600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert.

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1122616700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Es wäre ja schön gewesen, Herr Bachmaier, wenn wir bei dieser Gelegenheit einmal auf der Basis Ihrer wirklichen Fähigkeiten miteinander hätten diskutieren können. Aber den Genuß haben Sie uns leider nicht gegönnt.

(Heiterkeit — Zurufe von der SPD)

Es ist ja wohl eigentümlich, wenn Sie von klassischen Grundsätzen des Rechts sprechen und Ihre Rede davon durchzogen ist, daß Sie ununterbrochen total un-klassische und ganz neumodische Erfindungen in das Bürgerliche Gesetzbuch einführen wollen,

(Wiefelspütz [SPD]: Herr Bachmaier ist postmodern!)

die ganz woanders hingehören.
Wir wären ja gern bereit, uns mit Ihnen auf der Basis auseinanderzusetzen, daß wir fragen, was es denn eigentlich mit dem Verursacherprinzip auf sich hat, wer denn Verursacher ist, wer denn in diesem Zusammenhang überhaupt die Parteien sind. Wenn wir am Anfang etwas sauberer dächten, würden wir dann schließlich auch zu systemgerechter Einordnung der Schlußfolgerungen kommen. Was Sie hingegen vortragen, folgt dem einfachen Modell, das die GRÜNEN in dieses Haus eingeführt haben: Die Wirtschaft ist immer schuld, alle Leute lebten ohne die Wirtschaft viel besser, weil es ja gar nicht darauf ankommt, woher das Geld kommt, da es durch geheimnisvolle Verdichtungsvorgänge in der oberen Stratosphäre immer kurz vor dem Ersten eines Monats entsteht.

(Heiterkeit — Häfner [GRÜNE]: Das haben Sie schon 1984 gesagt! Sie haben wohl das Manuskript verwechselt?)

Auf diese Weise seien alle Menschen in diesem Lande Gegner der Wirtschaft, von der wir alle leben und die wir selbst sind. Dagegen haben die Sozialdemokraten eigentlich eine stolze Tradition des Verständnisses für das,

(Häfner [GRÜNE]: Herr Kleinert, wir berufen Sie in unsere Programmkommission!)

was die Wirtschaft braucht, und des darauf beruhenden Verständnisses dafür, was die Arbeitnehmer brauchen oder was auch diejenigen brauchen, deren Umwelt geschützt werden muß,

(Häfner [GRÜNE]: Ja, was brauchen die denn? — Zuruf von der SPD: Das sind wir alle!)

und im Ausgleich bekommen müssen. Dies aber geht unter, weil Sie hier versuchen, solchen seltsamen grünen Gedanken nachzueifern. Da kommen Sie dann in den Bereich — —
Sie verlassen sich jetzt auf das Bundesverfassungsgericht. Ich warne Neugierige! Das Bundesverfassungsgericht hat zu Art. 105 des Grundgesetzes am 6. November 1984, nämlich zum Investitionshilfegesetz, sehr schöne und klare Ausführungen gemacht über die Art, in der der Staat versucht, an anderer Leute Geld zu kommen, ohne das ehrlich als Steuer



Kleinert (Hannover)

auszuweisen, indem nämlich kolossale Dinge erfunden werden wie Distanzschäden und Summationsschäden. Distanzschäden und Summationsschäden, das bedeutet nichts anderes als einen Griff in die Kasse von Leuten, denen man nichts beweisen kann, nur um dem Steuerzahler vorzugaukeln, man könne ihm Wohltaten verschaffen, ohne daß er selbst bezahlen muß. Alles, was Sie hier verkünden, wird vom Steuerzahler, vom Endverbraucher, vom kleinen Mann bezahlt.

(Zuruf von der SPD: Eben nicht!)

Wenn Sie dafür noch dreimal neue Etiketten erfinden, dann sind Sie immer noch falsch beraten. Wir hoffen, daß es uns gelingt, Ihrer angeblichen oder tatsächlichen Klientel deutlich zu machen, daß Sie hier ein Gaukelspiel betreiben,

(Zuruf des Abg. Bachmaier [SPD]) ein richtiges Gaukelspiel.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie tun so, als wären die Leute, die von dieser Wirtschaft unseres Landes leben — das glücklicherweise nicht allzuschlecht —,

(Bachmaier [SPD]: Dagegen haben wir nichts einzuwenden!)

der Gegner dieser Wirtschaft und Sie wären der Anwalt der Gegner. So kann man doch eine Gesellschaft, so kann man doch ein Land nicht verstehen, in dem wir alle miteinander leben müssen.
Verursacherprinzip heißt: Der Staat möchte gern unheimlich viel Steuern einnehmen,

(Zuruf von der SPD: Was?) und zwar u. a. deshalb,


(Zuruf von der SPD: Sie wollen doch Staatshaftung!)

weil Ihre Leute in Niedersachsen inzwischen so viele Stellen schaffen, daß man aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommt;

(Zuruf von der SPD: Wir reden nicht von Stellenschaffung!)

Stellen schaffen, daß man aus dem Staunen nicht mehr herauskommt! Dann versuchen Sie, den Leuten klarzumachen, daß Sie dafür keine Steuern brauchen, sondern daß Sie das über Summations- und Distanzschäden regeln.

(Zurufe von der SPD: Sachschäden! — Und das Wattenmeer?)

Der eigentliche Kern der Sache ist der: Im Laufe der Beratungen ist es gelungen, den Versuch eines nur mühsam mit rechtlichen Vorwänden bemäntelten Griffs in die Kasse von Leuten, die mit der Sache nicht mehr zu tun haben als alle anderen auch — dazu hat sich das Bundesverfassungsgericht in der von mir zitierten Entscheidung geäußert — — Die Leute, die Sie da in Anspruch nehmen wollen, sind genausosehr und genausowenig beteiligt wie alle anderen auch. Uns ist es gelungen, diesen Teil unserer gemeinsamen — das sollten sie jedenfalls sein — Bemühungen um einen effizienten Umweltschutz auf die Regeln, auf die aus
wichtigen Gründen stringenten Regeln des bürgerlichen Rechts zurückzuführen.
Was Sie hier alles von Beweislastumkehr sagen —

(Bachmaier [SPD]: Sie geben zu, daß Sie einschränken?)

— Selbstverständlich haben wir eingeschränkt, weil das, was Sie wollen, eine Sache von mehr Steuern wäre oder

(Zuruf von der CDU/CSU: Uferlos!) eine Sache


(Zuruf von der SPD: Staatshaftung!)

von irgendwelchen ganz anderen Abgaben oder von Strafbestimmungen oder von Bestimmungen des öffentlichen Rechts. Dies alles in das bürgerliche Recht hineinzumogeln

(Zuruf von der CDU/CSU: Das geht nicht!)

ist eine zutiefst unredliche Sache, die Sie da betreiben. Das können Sie nur Laien eine Zeitlang zu erklären versuchen, Fachleuten nicht. Es gehört wenn nicht Schuld, so doch mindestens Kausalität zu einer Verantwortlichkeit, und diesen Zusammenhang wollten Sie völlig auflösen — völlig auflösen! — und wollten dann noch mit dem faulen Trick, der neuerdings so modisch geworden ist, nämlich der Beweislastumkehr, das alles ins uferlose aufschwemmen und ausschwemmen lassen.
Wir brauchen einen Rechtsstaat, in dem man einigermaßen ahnen kann, was vor Gericht bei den Ansprüchen herauskommt.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122616800
Herr Abgeordneter — —

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1122616900
Da waren wir früher sehr häufig einig, und ich hoffe, daß wir auch wieder einig werden und daß Sie nicht wieder versuchen, sich an richtig klaren Regelungen des bürgerlichen Rechts in der Weise zu vergreifen, daß Sie dem Volk vielleicht erzählen, Sie nähmen nicht zusätzliche Steuern für Ihre Wohltaten ...,

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122617000
Herr Abgeordneter — —

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1122617100
... sondern Sie nähmen nur die Bösen aus der Wirtschaft zur Brust ...,

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122617200
Herr Abgeordneter — —

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1122617300
... obwohl das wir alle sind.
Danke schön.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122617400
Mancher braucht für seinen Schlußsatz eine ganze Menge Sätze.
Der nächste Redner ist Herr Häfner. Bitte schön, Sie haben das Wort.

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122617500
Nach diesen merkwürdigen Verdichtungsvorgängen in der unteren Stratosphäre, bei der Sie irgendwo fernab in der Wirtschaftspolitik —



Häfner
aber „Wirtschaft" jetzt in einem anderen Wortsinn — gestartet sind, in Niedersachsen gelandet sind und uns wieder einmal Einblick in Ihre Philosophie gewährt haben, Herr Kleinert, ist es vielleicht möglich, zum Thema zurückzukehren.

(Kleinert [Hannover] [FDP]: Ausgerechnet Sie!)

— Ausgerechnet ich.
In der ersten Beratung dieses Gesetzes hat — da haben Sie auch gesprochen — die Präsidentin Frau Renger darauf hingewiesen, dieser Entwurf könne ja im Ausschuß noch verbessert werden. Für diesen Hinweis hatte sie allen nur denkbaren Grund.

(Bachmaier [SPD]: Er ist verwässert worden!)

Allerdings — Herr Bachmaier nimmt es mir vorweg — ist der Gesetzentwurf nicht verbessert, er ist verwässert worden; er ist schlecht gewesen, und er ist noch schlechter geworden.
Das Umwelthaftungsrecht spielt im Zeitalter verseuchter Böden und Gewässer, sterbender Wälder und zunehmender umweltbedingter Krankheiten, Schädigungen und Allergien in der Rechtspolitik eine ganz entscheidende Rolle. Das Umwelthaftungsrecht, wenn es richtig gestaltet würde, könnte zwei wesentliche Wirkungen entfalten. Die erste ist die unmittelbare Wirkung für den Geschädigten, der die Möglichkeit hat, den Schädiger vor Gericht zu stellen und von ihm einen Ausgleich zu verlangen. Die zweite, vielleicht noch wichtigere Wirkung ist das vorbeugende Element, das darin liegt, daß jeder Schädiger weiß, daß er für die von ihm verursachten Schäden einzustehen hat und deshalb Umweltgefahren und Umweltbelastungen vermeiden wird. Diesen großen Anforderungen an ein solches Gesetz kommt der Entwurf in keiner Weise nach.
Das Umwelthaftungsgesetz hätte die große Gelegenheit geboten, unser Recht, das noch immer auf dem Stand des klassischen Privatrechts ist, endlich wirklich weiterzuentwickeln, und zwar den Aufgaben der Zeit gemäß.

(Kleinert [Hannover] [FDP]: Aha, das haben Sie verstanden!)

— Aber genau das ist das, wogegen Sie sich so sträuben, Herr Kleinert. — Dieses Recht schützt nur den wirtschaftlich Starken und dessen Privateigentum.

(Kleinert [Hannover] [FDP]: Ein großer Irrtum.)

Nur wo ein Schaden am Privateigentum vorliegt, kann geahndet werden, und dort, wo kein Privateigentum betroffen ist, versagt seine Schutzwirkung. Das heißt, daß der Ersatz ökologischer Schäden nach Ihrem Gesetzentwurf so gut wie ausgeschlossen ist. Schäden an Naturgütern müssen überhaupt nicht ersetzt werden, sofern sie nicht einem privaten Rechtsträger zugeordnet sind. Damit ist die Chance zum Durchbruch im Recht vertan — auf Kosten der Umwelt und auf Kosten der Menschen. Denn ein modernes Umweltrecht muß gerade die ökologischen Schäden erfassen, oder es hat den Namen „Umweltrecht" nicht
verdient. Dies betrifft ökologische Schäden im Wald, an Gebäuden usw.
Die Mehrheit im Rechtsausschuß hat deshalb den Entwurf der EG-Kommission einer Beratung überhaupt nicht für würdig gefunden, der hier sehr viel großzügigigere

(Heiterkeit)

— späte Uhrzeit; also: großzügigere — und weitergehende Regelungen vorsieht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Späte Uhrzeit? — Zurufe von der SPD: Na, na! — Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Wie war das mit der unteren Stratosphäre? — Dr. Hüsch [CDU/CSU]: So ein junger Mann, und dann „spät" ! Da war doch noch so etwas Nettes, was Sie gesagt hatten! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der SPD)

— Gut, dann will ich das so auffassen.
Herr Engelhard hat heute in einer Pressemitteilung wieder versucht, sich als großen Reformator des Umweltrechts darzustellen. Er ist ein Verhinderer des Umweltrechts. Wenn es darauf ankommt, konkrete Gesetzesformulierungen mit Rechtsansprüchen für Bürgerinnen und Bürger auszustatten, dann bleiben nur noch Unverbindlichkeiten übrig.
Die Entwürfe der GRÜNEN sind im Ausschuß noch nicht einmal diskutiert worden. Das gilt für diesen und das gilt für die weitergehenden Entwürfe für ein Akteneinsichtsrecht und ein Verbandsklagerecht.
Sie haben in ganz wesentlichen Punkten alle Anforderungen, die an ein Umwelthaftungsrecht heute zu stellen wären, in den Wind geschlagen. Nehmen wir § 6 des Entwurfs, die Ursachenvermutung. Da beginnt es in Abs. 1 noch recht vielversprechend — wörtlich — :
Ist eine Anlage nach den Gegebenheiten des Einzelfalles geeignet, den entstandenen Schaden zu verursachen, so wird vermutet, daß der Schaden durch diese Anlage verursacht ist.
Recht so! Hätten Sie es dabei belassen, wäre aus dem Vorhaben vielleicht doch noch etwas geworden. Die nachfolgenden Einschränkungen jedoch sind von solcher Art, daß sie die Formulierungen umdrehen und auf den Kopf stellen und daß für die Geschädigten bei der Durchsetzung ihres Schadensersatzanspruches so gut wie alles beim alten bleibt. Sie lassen die Vermutung, daß der Anlagenbetreiber den Schaden verursacht hat, dann nicht gelten, wenn die Anlage bestimmungsgemäß betrieben wurde, als ob es für den Schaden und für den Geschädigten irgendeinen Unterschied machen würde, ob der Betrieb bestimmungsgemäß war oder nicht — entscheidend ist, daß der Schaden hervorgrufen wurde und eingetreten ist — ,

(Dr. Hüsch [CDU/CSU]: Sie haben es noch immer nicht begriffen!)

und als ob nur bestimmungsgemäß betriebene Anlagen Schäden verursachen würden. Die schlimmsten



Häfner
Schäden entstehen — das wissen auch Sie — oftmals durch genehmigte Emissionen.

(Beifall bei den GRÜNEN — Kleinert [Hannover] [FDP]: Was ist denn mit der Verantwortung der Genehmiger?)

Vollends entwertet wird Ihre Beweisregelung durch § 7 des Entwurfs zum Umwelthaftungsgesetz, wo die Vermutung bereits dann ausgeschlossen ist, wenn auch andere Umstände als der Anlagenbetrieb geeignet erscheinen, den Schaden zu verursachen. Sie haben dabei sogar völlig übersehen, daß den Betreiber umweltgefährdender Anlagen auch ohne behördliche Anordnung Schutzpflichten treffen. Die Betreiber solcher Anlagen müssen voll verantwortlich bleiben und sich nicht durch Kumpanei mit den Genehmigungsbehörden aus ihrer Verantwortung gegenüber den Menschen, gegenüber Kindern und Kranken herauskungeln dürfen.
Wer Luft, Wasser und Böden für seine Anlagen in Anspruch nimmt, der muß für die sich daraus ergebenden Gefahren einstehen. Es geht nicht an, daß ein Geschädigter nur deshalb leer ausgeht, weil ein behördliches Genehmigungsschreiben vorliegt.
Ich habe den Eindruck, Ihnen geht es in Wahrheit nicht darum, daß mehr Menschen als bisher ihre Rechte geltend machen, eher das Gegenteil. Auf die Spitze getrieben haben Sie dieses Verhinderungsprinzip und die Umkehr dessen, worum es geht, dort wo Sie im Gesetzentwurf schreiben, im Interesse der Waffengleichheit der Beteiligten solle nun auch der Inhaber, der beklagte Anlagenbetreiber, einen Auskunftsanspruch gegen den Geschädigten bekommen. Das stellt die Dinge wirklich auf den Kopf.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Das ist richtig!)

Zusammenfassend, meine Damen und Herren, möchte ich sagen: Es handelt sich nicht um ein Gesetz, das uns weiterbringt.

(Schütz [SPD]: Das stimmt!)

Im Gegenteil: Es handelt sich um ein Placebo-Gesetz. Placebo-Gesetze lehnen wir ab.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122617600
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.

Hans A. Engelhard (FDP):
Rede ID: ID1122617700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ziel unserer Arbeit war es, erstens die Chancen der Geschädigten, einen finanziellen Ausgleich zu erlangen, nachhaltig zu verbessern, zweitens die Präventionsfunktion des Haftungsrechts als marktkonformes Mittel der Umweltvorsorge nach Möglichkeit zu nutzen, um so zu einem weiteren und verstärkten Schutz von Wasser, Boden und Luft zu gelangen, und drittens war darauf zu achten, daß die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen im internationalen Vergleich nicht durch überzogene Haftungsvorschriften über Gebühr beansprucht wird.
Ich meine, insgesamt gesehen ist es gelungen, diese unterschiedlichen Interessen in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen. Ich möchte Ihr etwas harsches und hartes Wort „unseriös" aufgreifen.
Meiner Meinung nach haben sich die Bundesregierung und die Koalition bemüht, wichtige Ziele seriös anzugehen und einer Lösung zuzuführen. Daß dabei ein anderes Ergebnis herauskommen mußte als das, was Sie sich so vorstellen, Herr Kollege Bachmaier, dies mag schon sein. Aber hier hat der Kollege Kleinert bereits Gelegenheit genommen, Ihnen mit der gebotenen Deutlichkeit alle diese Gesichtspunkte nahezubringen.
Aber ich nehme noch einen Punkt auf. Sie sagten, nahezu skandalös — oder welchen Ausdruckes Sie sich bedient haben — sei es, daß hier, was die Rechtsstellung des Geschädigten angehe, keinesfalls eine Verbesserung eingetreten sei. Die hieran geübte Kritik ist meist unseriös; denn es wird z. B. der Auskunftsanspruch kritisiert, weil der Inhaber einer Anlage angeblich unter Hinweis auf Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse Informationswünsche des Geschädigten ohne weiteres abblocken könne. Man sehe sich einmal den Entwurf und die Begründung an und lese aufmerksam, dann wird man feststellen, daß genau das Gegenteil zutreffend ist. Grundsätzlich hat der Geschädigte einen Auskunftsanspruch. Erst wenn ein Gericht feststellt, daß bestimmte Vorgänge geheimgehalten werden müssen, wird das Auskunftsrecht eingeschränkt. Aber selbst wenn tatsächlich schützenswerte Betriebsgeheimnisse vom Gericht anerkannt werden, wird der Geschädigte die notwendigen Informationen erhalten, dann allerdings möglicherweise unter Einschaltung eines seinerseits zur Verschwiegenheit verpflichteten Sachverständigen.
Ich glaube, man muß mit aller Deutlichkeit sagen — da sind wir uns doch einig — : Wer ganz zu Recht immer wieder antritt und sagt, wir wollen den gläsernen Bürger nicht, der kann nicht auf der anderen Seite unter Einschluß aller Betriebsgeheimnisse plötzlich den gläsernen Unternehmer hinnehmen oder gar wünschen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Zweifellos müssen die gemeinsamen Anstrengungen weitergehen. Die Distanz- und Summationsschäden konnten hier nicht angepackt werden.

(Schütz [SPD]: Warum nicht?)

Sie müssen aber einer Lösung zugeführt werden. Ich will Ihnen sagen, warum diese sehr schwierige Frage noch nicht geregelt ist.

(Häfner [GRÜNE]: Dann nehmen Sie doch unseren Gesetzentwurf dazu; der ist besser!)

Um den Umfang dessen, was an Entschädigungen zu leisten ist, überhaupt zu erkennen, bedarf es umfangreichsten Zahlenmaterials,

(Häfner [GRÜNE]: Das liegt vor!)

das uns bis dato — für den Herbst dieses Jahres angekündigt — aus den verschiedenen Quellen, aus denen wir es beziehen müssen, noch nicht in der notwendigen Vollständigkeit zugänglich gemacht wurde.
Nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit muß das Umwelthaftungsgesetz auch im Gebiet der dann früheren DDR gelten. Die Menschen in den neuen Bundesländern haben einen Anspruch darauf,



Bundesminister Engelhard
nicht mit einem Recht zweiter Klasse bedient zu werden. Wir wollen auch im Gebiet der neuen Bundesländer wie bei uns eine moderne Industrie und zugleich den Umweltschutz fördern. Dazu gehört auch ein einheitliches, den Bedürfnissen der modernen Industriegesellschaft angepaßtes Haftungsrecht.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Dr. Rüttgers [CDU/CSU])

Dieses Haftungsrecht bringt der vorliegende Gesetzentwurf, um dessen Unterstützung ich Sie bitte.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122617800
Das Wort hat der Abgeordnete Schütz.

Dietmar Schütz (SPD):
Rede ID: ID1122617900
Nach dieser spannenden Rede habe ich es natürlich wesentlich schwerer, meine Damen und Herren, Herr Präsident. Ich erinnere mich noch, daß wir vor vier Jahren vor dem Hintergrund dieser Problematik, nämlich nach dem Sandoz-Brand, einen Wahlkampf geführt haben. Seitdem diskutieren wir über das Umwelthaftungsrecht. Das von uns geforderte Instrument der verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung liegt nun vor; das ist der einzige Fortschritt.
Die im Immissionsrecht und Wasserhaushaltsrecht beantragte Haftungsregelung, die sich an den § 22 des Wasserhaushaltsgesetzes anlehnt, werden Sie — da bin ich kein allzu großer Prophet — gleich ablehnen. Diese Regelung ist in unserem Antrag enthalten. Diesen von uns geforderten verschuldensunabhängigen Gefährdungstatbestand sollten wir durchsetzen.

(Zuruf von der FDP: Man kann nicht alles auf einmal haben!)

Hinsichtlich der Haftung bleibt nach wie vor der Bruch zwischen den verschiedenen Umweltmedien Luft und Wasser bestehen, wenn Sie diesen Entwurf heute beschließen. Die Haftungsnorm im Wasserhaushaltsgesetz, die sich jahrzehntelang bewährt hat und durch die Rechtsprechung konkretisiert wurde, wird von Ihnen nicht übernommen. Die bewährte Kombination von Handelndenhaftung und von Anlagenhaftung wäre auch für das Medium Luft geeignet und hätte hier eingeführt werden sollen.
Wir haben das in unserem Antrag, wie Sie gesehen haben, vorgeschlagen. Auf diese Weise würden wir jedes Verhalten, das auf die Umwelt schädigend einwirkt, unabhängig von der Art und Weise der Einbringung, grundsätzlich erfassen können. Alle Verschmutzer, ob Privatmann oder Gewerbetreibender, und alle Verschmutzungsquellen, auch Kraftfahrzeuge und Heizungsanlagen, wären in diesen Haftungsrahmen einbezogen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122618000
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Göhner? — Bitte schön.

Dr. Reinhard Göhner (CDU):
Rede ID: ID1122618100
Herr Kollege Schütz, da Sie hier den Eindruck erwecken, als ob die Vorschrift des § 22 WHG durch dieses Gesetz geändert würde, darf ich Sie fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der § 22 WHG in seiner bewährten Form
unangetastet erhalten bleibt und selbstverständlich konkurrierend zu den anderen Regelungen einem Geschädigten als Anspruchsgrundlage zur Verfügung steht?

Dietmar Schütz (SPD):
Rede ID: ID1122618200
Herr Göhner, es wäre noch schöner — so höre ich gerade —, wenn Sie auch in bezug auf Wasser diesen Haftungstatbestand einführen wollten.

(Beifall des Abg. Wiefelpütz [SPD])

Wir möchten ihn aber auch für die Luft haben um so gemeinsam in allen Medien den gleichen Haftungstatbestand zu haben. Wir können nicht gespaltene Haftungstatbestände, einen für das Wasser und einen für die Luft, haben. Das ist der Punkt, den Sie nicht durchsetzen.

(Zuruf des Abg. Dr. Göhner [CDU/CSU])

— Ich glaube, das, was ich gesagt habe, ist richtig. Sie gehen nicht weit genug. Das andere Bewährte wollen wir so lassen.
Im Regierungsentwurf wird lediglich die Anlagenhaftung und eben nicht die Handelndenhaftung wie im § 22 durchgesetzt. Zum Glück gilt diese aber immer noch für den Normalbetrieb.
Ich frage Sie, Herr Göhner und Herr Jahn, warum finden wir, wenn in unterschiedlichen Medien unterschiedliche Haftungstatbestände auftreten, nicht die Kraft, dies zusammenzuführen und einen Haftungstatbestand aus einem Guß für alle Medien einzuführen? So, wie er jetzt ist, bleibt der Regierungsentwurf unzureichend.
Meine Damen und Herren, ich habe schon bei der ersten Lesung darauf hingewiesen, daß die Beweiserleichterungen unzureichend sind. Die Ursachenvermutung gilt in dem Fall, in dem eine Anlage nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet ist, den entscheidenden Schaden zu verursachen. Es wird dann vermutet, daß der Schaden durch diese Anlage verursacht worden ist. Aber für den Normalbetrieb wird diese Ursachenvermutung durch den zweiten Absatz wieder aufgehoben. Die Kastration der Ursachenvermutung bringt den Geschädigten, der allzu häufig Schädigungen im Normalbetrieb erfährt, in eine schier aussichtslose Beweisposition. Er bekommt Steine statt Brot.
Für den Ausnahmefall, nämlich für den Störfall, den er wesentlich eher von außen bemerken kann, braucht er nicht primär unsere Hilfestellung; diese braucht er vielmehr vor allem für den durch den Normalbetrieb verursachten Schaden. Das ist der Punkt, um den wir uns immer wieder streiten.
Was der Gesetzgeber hier festschreibt, hat die Rechtsprechung z. B. schon im Kupolofen-Fall gewährt. Ich will hier nicht erklären, daß wir keinen Regelungsbedarf haben. Das, was die Rechtsprechung sagt, sollten wir als Gesetzgeber auch ab und zu aufgreifen und dann festschreiben. Aber nichts Neues; wir machen hier nichts Neues.

(Dr. de With [SPD]: Das ist nur kodifizierte Rechtsprechung!)




Schütz
Meine Damen und Herren, ich bleibe weiter bei der Beweissituation. Der Koalitionsentwurf hat konsequenterweise nach der Beweislastregelung das Problem der Ausgestaltung der Auskunftsrechte behandelt; Herr Bachmaier hat darauf hingewiesen. Seit der ersten Lesung haben wir darüber diskutiert. Es ist keine Besserung dazu eingetreten. a
Ich wiederhole mich an dieser Stelle: Wir bräuchten eigentlich in einem Umwelthaftungsrecht derartige Auskunftsregelungen nicht, wenn die erforderlichen Daten durch generelle Informationszugangsrechte erhältlich wären, Herr Kleinert. Dies fehlt in unserer Rechtsordnung bisher vollkommen. Es bleibt dem Geschädigten — den Geschädigten müssen wir auch einmal betrachten —

(Beifall bei der SPD)

nach wie vor nie eine Chance, an seine Beweise heranzukommen. Er stochert mit der Stange im Nebel, um den schädigenden Emittenten zu erfassen.
Die dem Regierungsentwurf vorschwebende Fallkonstruktion ist der benachbarte Emittent, der plötzlich einen Störfall hat. In diesem Fall kann ich mit dem vorliegenden Gesetz meine Ansprüche einigermaßen durchsetzen.
Was mache ich aber, wenn ich die mich verletzenden Stoffe in der Nachbarschaft gar nicht kenne? Auf welche Daten greife ich zurück, um überhaupt erst mit dem Anspruch und der Ursachenermittlung zu beginnen? Ich muß in der Lage sein, unter einer Vielzahl von Emittenten und Emissionen meinen Schädiger zu ermitteln.
Also, die Beweislast- und die Ursachenvermutungsregelung sind weiße Salbe auf der Wunde der Emissionsgeschädigten. Da hier keine psychischen Schäden vorliegen, sondern in der Regel sehr konkrete physische Schäden auftreten, nutzt, Herr Häfner, der Placebo-Effekt der weißen Salbe überhaupt nichts. Durch dieses Gesetz wird den Waldbesitzern, den emissionsgeschädigten Hauseigentümern, den Pseudokrupp-verdächtigen Kindern und den Allergiekranken nicht viel mehr an die Hand gegeben als das, was sie schon jetzt haben.

(Dr. de With [SPD]: Es ist gelbe und schwarze Salbe!)

Die Kernproblematik der diese Diskussion auslösenden Ereignisse — ich habe vorhin auf den Sandoz-Unfall hingewiesen — , nämlich der Hilfe bei weiter entfernt auftretenden und über einen längeren Zeitraum sich hinziehenden Schadensereignissen, wird nicht gelöst. Für diese sogenannten Summations- und Distanzschäden reicht weder das bisherige juristische Handwerkszeug aus, noch wird überhaupt die Möglichkeit zur finanziellen Hilfe geboten. Diese Schadensgruppen sind nach wie vor nicht kleiner geworden. Obwohl wir einen Waldschadensbericht diesmal nicht vorgelegt bekommen haben, kann man immer noch davon ausgehen, daß wir pro Jahr in diesen Bereichen einen Schaden von 50 bis 100 Millionen DM haben. Das wird sich nicht ändern.
Ich will noch auf das eingehen, was Sie, Herr Kleinert, gesagt haben. Sie haben hier das Problem des In-die-Tasche-Greifens genannt und haben gemeint,
wir würden das durch Steuern bezahlen müssen. Genau Ihre Konstruktion würde das verursachen: wenn Sie nämlich zur Staatshaftung greifen. Wenn wir durchsetzen könnten, einen Fonds einzurichten, in den eingezahlt wird, wird gerade vermieden, daß wir solche Schäden durch Steuergelder bezahlen, weil nämlich die Schädiger bzw. Verursacher bezahlt haben. Wenn wir eine andere Konstruktion wählen, wie z. B. der BGH im Waldschadensurteil erwägt, nämlich eine Staatshaftung, dann erst könnten wir eher dazu kommen, so etwas mit Steuergeldern zu zahlen.

(Dr. Hüsch [CDU/CSU]: Aber das läßt sich mit diesem Gesetz überhaupt nicht vereinbaren!)

— Wir haben dazu noch gar nichts gemacht. Denn Sie haben die Distanz- und Summationsschäden noch gar nicht geregelt, die Sie schleunigst regeln müssen.

(Kleinert [Hannover] [FDP]: Das ist ein ungerechter und unsystematischer Irrtum! — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: So ist es! Und das nehmen Sie sofort zurück! — Heiterkeit)

— Der Herr Bötsch weiß gar nicht, in welchem Dampfer er sich befindet, aber er muß einen Zwischenruf machen.
Meine Damen und Herren, die Koalitionsfraktionen haben angedeutet, sie wollten den Gesamtkomplex wegen der — zugegebenen — Kompliziertheit der Materie in der nächsten Legislaturperiode regeln. Wir haben diesen Antrag schon heute zur Abstimmung gestellt. Wir haben nämlich den Antrag gestellt, Prüfaufträge zu vergeben, um die Fondsschadensdiskussion überhaupt in die Wirtschaft einzuführen. Wir warten ab, ob Sie zumindest diesem Antrag von uns zustimmen, um wenigstens Ihre Absicht zu zeigen, Summations- und Distanzschäden zu regeln.

(Stiegler [SPD]: Die haben nicht einmal die Absicht!)

Bisher haben Sie nichts vorgelegt. Was Sie vorgelegt haben, ist absolut unzureichend.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Häfner [GRÜNE])


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122618300
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zuerst zur Einzelberatung und Abstimmung über den Entwurf eines Umwelthaftungsgesetzes in der Ausschußfassung. Das sind die Drucksachen 11/6454, 11/7104 und 11/7881.
Ich rufe Art. 1 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 11/7925 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Die Fraktion der SPD verlangt hierzu getrennte Abstimmung.
Ich rufe zunächst die Nr. 1 auf. Wer stimmt für Nr. 1 auf Drucksache 11/7925? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist Nr. 1 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Wer für Nr. 2 des Änderungsantrages auf Drucksache 11/7925 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? —



Vizepräsident Westphal
Nr. 2 ist mit der gleichen Stimmenmehrheit abgelehnt worden.
Wer stimmt für die Nr. 3 auf der gleichen Drucksache? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Auch diese Nummer ist mit der gleichen Mehrheit abgelehnt worden.
Wer stimmt nun für die Nr. 4 des Änderungsantrags auf Drucksache 11/7925? — Wer stimmt dagegen? — Auch das ist mit der gleichen Mehrheit abgelehnt worden.
Damit ist der Änderungsantrag der Fraktion der SPD insgesamt abgelehnt.
Wir stimmen nun über Art. 1 in der Ausschußfassung ab. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist Art. 1 mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Ich rufe die Art. 2 bis 6, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Auch diese Vorschriften sind mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Bevor wir in die dritte Beratung eintreten, möchte ich Ihnen mitteilen, daß es eine Erklärung zur Abstimmung über das Umwelthaftungsgesetz gibt von den Abgeordneten Josef Grünbeck und Dieter-Julius Cronenberg, die beide ihre Gründe erklären, warum sie dem Entwurf nicht zustimmen können.

(Schütz [SPD]: Der geht schon zu weit!)

Ich bitte, den Inhalt der Erklärung im Protokoll nachzulesen.*)
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Gesetzentwurf mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Ich lasse über Punkt 6 b der Tagesordnung abstimmen, und zwar über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses auf der Drucksache 11/7881. Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. 2 der Beschlußempfehlung, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2035 abzulehnen. Dabei geht es um die Reform des Umwelthaftungsrechts. Wer für die Beschlußempfehlung zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist die Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.
Damit ist Punkt 6 der Tagesordnung abgeschlossen.
Ich rufe nun Punkt 7 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
*) Anlage 3
wurfs eines Gesetzes zu den Zusatzprotokollen I und II zu den Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949
— Drucksache 11/6770 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß)

— Drucksache 11/7882 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Vogel (Ennepetal) Verheugen
Irmer
Frau Kelly

(Erste Beratung 210. Sitzung)

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/7927 sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7948 vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Vogel (Ennepetal).

Friedrich Vogel (CDU):
Rede ID: ID1122618400
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um Verständnis dafür, daß wir Wert darauf gelegt haben, darüber eine Debatte zu führen, bei der wir uns bemühen wollen, sie kurz zu halten. Wir haben heute sicherlich historisch wichtigere Entscheidungen getroffen, aber wir dürfen nicht übersehen, daß es sich auch hier um eine wichtige Entscheidung bei der Fortentwicklung des humanitären Kriegsvölkerrechts handelt.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Ich bin sehr zufrieden, daß wir es geschafft haben, noch vor Ende der Legislaturperiode — ich füge hinzu: endlich — der Ratifizierung der Zusatzprotokolle zum Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949 zustimmen zu können. Ich möchte mich bei allen, die dazu beigetragen haben, herzlich bedanken. Es ist ja nicht gerade auf das Drängen von seiten der Bundesregierung zurückzuführen, daß wir heute in der Lage sind, zustimmen zu können, sondern es ist dem engagierten Drängen einer Reihe von Kollegen aus allen Fraktionen zu verdanken, daß es heute zur Schlußabstimmung über den Entwurf kommen kann.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Damit geht — das darf man sagen — ein Weg voller Beschwerlichkeiten zu Ende, der mit der Zeichnung der beiden Protokolle durch die Bundesrepublik Deutschland am 23. Dezember 1977 begonnen hat.
Ich möchte etwas zu den Inhalten der Zusatzprotokolle sagen, um deutlich zu machen, worin die Bedeutung dieser Zusatzprotokolle besteht, wobei ich das nur in Form einiger weniger Bemerkungen machen kann. Ich möchte mich auf das Zusatzprotokoll I über den Schutz der Opfer internationaler Konflikte beschränken.
In diesem Zusatzprotokoll werden unterschiedslos wirkende Angriffe, insbesondere Flächenbombarde-



Vogel (Ennepetal)

ments, Terrorangriffe und Repressalien gegen die Zivilbevölkerung verboten. Wie aktuell das ist, sehen wir im Nahost-Konflikt.
Erstmalig werden Regeln für einen umfassenden und wirksamen Schutz für Frauen und Kinder aufgestellt.
Zum erstenmal in der Geschichte des humanitären Völkerrechts überhaupt wird die Funktion des Zivilschutzes anerkannt und werden dazu Schutzvorschriften festgelegt.
Ebenfalls zum erstenmal wird ein Mindestkatalog von Menschenrechten für die in den Händen einer Konfliktpartei befindlichen Personen aufgestellt. Das völkerrechtswidrige Vorgehen des Irak gegen die in seiner Hand befindlichen Ausländer unterstreicht die große Bedeutung des in Art. 75 des Zusatzprotokolls enthaltenen Mindestkatalogs. Verboten sind danach Angriffe auf das Leben, die Gesundheit oder das körperliche oder geistige Wohlbefinden von Personen, die Beeinträchtigung der persönlichen Würde, Geiselnahme, Kollektivstrafen und vor allen Dingen auch die Androhung solcher Handlungen.
Das Zusatzprotokoll enthält darüber hinaus weiter verbesserte und effektiv wirkende Schutzvorschriften für Sanitätstransporte, insbesondere Sanitätsflugzeuge. Hätten alle diese Regeln in der Vergangenheit Geltung gehabt, meine Kolleginnen und Kollegen, vielen Tausenden, wenn nicht sogar Hunderttausenden von Zivilisten hätte das Leben gerettet werden können.
Einiges möchte ich zu der von der Bundesregierung beabsichtigten sogenannten Nuklearerklärung sagen. Es ist die einizige hier im Parlament strittig gebliebene Frage und die eigentliche Ursache für die lange Hinauszögerung der Ratifizierung der beiden Zusatzprotokolle. Wir haben dazu einen Änderungsantrag der SPD und einen Entschließungsantrag der GRÜNEN vorliegen.
Die Bundesregierung führt in ihrer Denkschrift aus, weshalb dieses Zusatzprotokoll nicht für nukleare Waffen gedacht gewesen ist; wir haben darüber bei früherer Gelegenheit gesprochen. Ich hätte ganz gern — die Zeit erlaubt es nicht — dazu die Denkschrift noch einmal zitiert. Wichtig ist, daß die Auffassung, die dazu von den westlichen Zeichnerstaaten vertreten wird, auch von der Sowjetunion anerkannt ist, obwohl die Sowjetunion selbst ohne Nuklearerklärung ratifiziert hat.
Die vom I. Zusatzprotokoll eingeführten Bestimmungen über den Einsatz von Waffen sind also aufgestellt worden, um auf konventionelle Waffen Anwendung zu finden. In Übereinstimmung damit haben so wichtige NATO-Bündnispartner wie Belgien, Italien, die Niederlande und Spanien bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde eine sogenannte Nuklearerklärung abgegeben. Norwegen und Dänemark haben zwar keine Interpretationserklärung abgegeben, aber in ihren innerstaatlichen Verfahren eine entsprechende Erklärung abgegeben. Bei der Ratifizierung durch Kanada und Portugal ist ebenfalls mit einer Nuklearerklärung zu rechnen. Großbritannien prüft noch, hat aber ebenso wie die USA und Frankreich bereits bei der Zeichnung der beiden Zusatzprotokolle erklärt, daß sich das Protokoll nicht auf nukleare Waffen beziehe. Lediglich Griechenland, Island und Luxemburg haben ohne Nuklearerklärung ratifiziert.
Ich habe schon in einer früheren Debatte darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, daß gerade bei uns auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland, wo Stationierungsstreitkräfte anderer NATO-Mitgliedstaaten sind, ein gleiches Verständnis vom Inhalt der Zusatzprotokolle besteht.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Viele Schwierigkeiten, vorhergesehene und überraschende, mußten ausgeräumt werden, bis die Ratifikation in Reichweite kam. Manchmal geriet über alledem der eigentliche humanitäre Wert der Genfer Zusatzprotokolle an den Rand der Betrachtung. Er betrifft die unzähligen peripheren, „kleinen" Kriege und Konflikte außerhalb des atomaren Pakts, deren zahllosen Opfern die Verträge mit Schutz beistehen wollen. Im Interesse dieser täglich und stündlich betroffenen Menschen ist es zu begrüßen, daß nun die Ratifikation nach langem Zögern in Ost und West kräftig in Gang gekommen ist.
Ich bitte Sie, der Beschlußempfehlung zuzustimmen, und ich bitte Sie gleichzeitig, den Änderungsantrag der Fraktion der SPD und den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN abzulehnen.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122618500
Das Wort hat der Abgeordnete Verheugen.

Günter Verheugen (SPD):
Rede ID: ID1122618600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße für meine Fraktion, daß es heute endlich so weit ist, daß die Genfer Zusatzprotokolle zu den Rotkreuz-Abkommen ratifiziert werden können, 13 Jahre nach der Unterzeichnung durch die Bundesregierung, ein in der Tat ungewöhnlicher und eigentlich auch bedenklich stimmender Rekord. Kollege Vogel hat bereits darauf hingewiesen, warum es so lange gedauert hat, bis es zu dieser Ratifizierung kommen kann; ich muß darauf gleich noch einmal eingehen.
Ich möchte zunächst aber sagen, daß für uns diese Genfer Zusatzprotokolle einen ganz wesentlichen, wichtigen Fortschritt im Völkerrecht darstellen, obwohl ich wohl weiß, daß man die Frage stellen kann, ob es überhaupt möglich ist, den Krieg zu zivilisieren. Wenn man mal ganz unvoreingenommen die Bestimmungen dieses Protokolls liest, dann kommen einem ja Fragen, ob diese Materie, die hier geregelt werden soll, was im Krieg erlaubt ist und was im Krieg nicht erlaubt ist, der menschliche Verstand noch fassen kann.
Aber ich glaube, man muß den Versuch machen. Die bisherigen Erfahrungen mit dem Kriegsvölkerrecht zeigen auch, daß allen Bedenken und aller Kritik zum Trotz die Bemühungen, bestimmte Begrenzungen und Regeln einzuführen, doch erfolgreich gewesen sind. Das segensreiche Wirken des Roten Kreuzes z. B. in vielen Kriegen, Bürgerkriegen und kriegsähn-



Verheugen
lichen Auseinandersetzungen wäre ja ohne diese Regelungen nicht möglich.
Ich möchte ganz besonders dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und auch dem Deutschen Roten Kreuz danken, das sich viele Jahre intensiv und engagiert dafür eingesetzt hat, daß diese Protokolle zustande kamen, das uns immer wieder darauf gestoßen und aufmerksam gemacht hat, daß das nicht liegenbleiben darf, daß wir diese Protokolle ratifizieren müssen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Frage, über die wir jetzt seit vielen Jahren im Zusammenhang mit diesen Protokollen streiten, ist in der Tat die Frage, ob sie auf alle Waffenwirkungen und Waffenarten angewendet werden oder nicht. Die Bundesregierung beabsichtigt, eine Erklärung abzugeben, in der sie sagt, daß nach ihrem Verständnis die neu eingeführten Bestimmungen dieser Protokolle nur für konventionelle Waffen gelten sollen. Das bedeutet, daß die gefährlichsten Waffen, die heute zur Verfügung stehen, aus dem Schutzbereich der Protokolle herausgenommen werden sollen.
Das ist nun wieder dadurch eingeschränkt, daß man von den „eingeführten Bestimmungen" redet. Damit ist gemeint, daß es unbeschadet dieses Protokolls bereits ältere, unbestritten gültige Regeln des Völkerrechts gibt, die bei jeder Art von Kriegsführung zu beachten sind. Neu eingeführt sind nach dem übereinstimmenden Verständnis der Bundesregierung und der Fraktionen hier im Hause das Verbot der Umweltkriegsführung, die Präzisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Angriffen und das Repressalienverbot. Das sind die neu eingeführten Bestimmungen.
Ich muß jetzt noch einmal fragen: Welchen Sinn kann es überhaupt machen, bei diesen Bestimmungen zu sagen, sie gelten für Atomwaffen nicht, sondern nur für konventionelle Waffen, wenn daneben ausdrücklich z. B. der unterschiedslose Angriff und der Angriff verboten sind, der vermeidbare Leiden der Zivilbevölkerung herbeiführt? Der ist verboten, unbeschadet der Protokolle.
Wenn wir uns das Schreckliche einen Augenblick vor Augen führen und vorstellen, es könnte passieren: Wie soll eine Kriegführung mit atomaren Mitteln möglich sein, bei der zwar der unterschiedslose Angriff vielleicht vermieden wird, aber die Zivilbevölkerung und die Umwelt geschont werden? Wie ist das vor allem im dichtbesiedelten Europa überhaupt denkbar und möglich? Dieser Nuklearvorbehalt ist schon insoweit in sich unlogisch und widersprüchlich. Er kann in der Praxis überhaupt nicht funktionieren.
Ich muß sehr präzise darauf bestehen: Die Auffassung der Bundesregierung, es habe beim Abschluß des Vertrags sozusagen Einverständnis darüber geherrscht, daß die Bestimmungen für Atomwaffen nicht gelten, können wir nicht teilen. Ich sage das nicht so einfach daher. Wir haben uns viel Mühe gegeben, das herauszufinden. Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode ein ausführliches Hearing veranstaltet. Wir haben dazu Völkerrechtler gehört, die von verschiedenen Seiten an den Verhandlungen beteiligt
gewesen sind, auch die damaligen Völkerrechtsberater der Delegation der Bundesrepublik Deutschland.
Aus alledem, was uns auch die damaligen Delegationsmitglieder gesagt haben, geht eindeutig hervor, daß weder die Vertragsgeschichte noch der Vertragstext die Interpretation zulassen, die Protokolle seien auf Nuklearwaffen nicht anwendbar.

(Zuruf von den GRÜNEN: Goldene Worte!)

Meine Damen und Herren, ich muß Sie noch auf einen Punkt aufmerksam machen. In den Jahren, in denen wir diese Frage diskutiert haben, hat der sicherheitspolitische Kontext natürlich eine große Rolle gespielt. Wir haben diese Frage selbstverständlich im Zusammenhang mit der gültigen NATO-Strategie der flexiblen Erwiderung diskutiert, in der ja nun ausdrücklich die Option auf den nuklearen Ersteinsatz vorgesehen war, wie ich fast sagen möchte. Aber noch ist diese Strategie nicht aufgehoben, noch gilt sie.
Nun hat diese Frage heute sicherlich nicht mehr die Bedeutung, die sie noch vor zwei oder drei Jahren hatte. Diese Strategie ist — das weiß jeder — obsolet geworden. Die Bedrohungssituation in Europa ist eine völlig andere. Die Sicherheitslage hat sich völlig verändert. Wir sehen die Gefahr einer militärischen Ost-West-Auseinandersetzung — vielleicht sogar mit nuklearen Mitteln ausgetragen — im Augenblick sicher nicht.
Aber es stellt sich auch die Frage, ob es unter diesen Bedingungen und in dieser Zeit politisch klug sein kann, daß das sich gerade jetzt vereinigende Deutschland im Zusammenhang mit der Ratifizierung eines Protokolls, das einen humanitären Fortschritt darstellen soll, ausdrücklich an der Option nuklearer Kriegführung festhält. Diese Protokollerklärung der Bundesregierung bedeutet nämlich, daß an der Option der nuklearen Kriegführung festgehalten wird.
Das halten wir in der gegebenen Situation — auch unter Abwägung der politischen Bedingungen, unter denen wir uns heute befinden — nicht für vertretbar. Ich appelliere wirklich an Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, noch einmal darüber nachzudenken, ob Sie das vor denjenigen verantworten und vertreten können, die von uns erwarten, daß wir alles tun, was wir tun können, um den Frieden in der Welt zu bewahren — auch dazu tragen die Protokolle bei —, und daß wir alles tun, was wir tun können, um denjenigen zu helfen, die immer wieder die unschuldigen und leidenden Opfer von Konflikten sind.
Meine Damen und Herren, wie aktuell diese Problematik, über die wir heute diskutieren, ist, ist mir vor wenigen Tagen erst wieder klargeworden, als wir die Meldungen — sicher auch Sie alle — zur Kenntnis genommen haben, daß der Stabschef der amerikanischen Luftwaffe vom amerikanischen Verteidigungsminister entlassen worden ist. Sie werden sich fragen, warum. Dieser Stabschef hatte öffentlich darüber geredet, daß er vorschlagen würde, im Falle eines Krieges mit dem Irak strategische Bombardierungen vorzunehmen. Die strategische Bombardierung ist mit das Schrecklichste, was dieses Jahrhundert erfunden hat. Ich denke an Coventry, ich denke an Dresden. Und jetzt hat einer davon geredet, so etwas mit Bagdad zu machen. Er wurde dafür rausgeschmissen. —



Verheugen
Nach den Regeln dieses Protokolls, das die Vereinigten Staaten von Amerika zwar unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert haben, wäre das völlig unmöglich, in jeder Hinsicht verboten.
Es ist also notwendig, auch diejenigen, die sich mit militärischer Planung und Ausbildung beschäftigen, mit den Inhalten dieses Protokolls vertraut zu machen. Sie müssen ihr Denken in alten militärischen Kategorien überwinden. Sie müssen, auch als Militärs, an das denken, was das Völkerrecht erlaubt oder nicht.
Ich bitte Sie deshalb sehr herzlich, meine sehr verehrten Damen und Herren, dem Änderungsantrag der SPD-Fraktion zuzustimmen. Wir haben keinen anderen Weg gefunden als einen Änderungsantrag zum Gesetz, um das, um was es uns geht, deutlich zu machen. Die Nuklearerklärung, die die Bundesregierung abgeben will, ist nicht Inhalt des Gesetzes. Sie steht auch im Bundestag nicht zur Abstimmung. Es liegt in der alleinigen Verfügungsgewalt der Bundesregierung, eine solche Erklärung abzugeben oder nicht.
Der einzige Weg also, das zu erreichen, was wir wollen, die Ratifizierung des Gesetzes und den Verzicht auf die Nuklearerklärung, ist der, daß wir es der Bundesregierung im Gesetz ausdrücklich verbieten, diese Nuklearerklärung abzugeben.

(Zuruf des Abg. Vogel [Ennepetal] [CDU/ CSU])

Das ist der Grund für diesen Antrag. — Herr Kollege Vogel, es handelt sich nicht um eine Änderung des Vertrages, sondern nur um eine Änderung des Zustimmungsgesetzes.

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Aber um einen Eingriff in die außenpolitische Kompetenz der Bundesregierung!)

— Nein, die Kompetenz der Bundesregierung bezieht sich ausdrücklich nur auf den völkerrechtlichen Vertrag. Das Zustimmungsgesetz, das wir verabschieden, ist unsere Sache. Ich darf Sie daran erinnern, daß der Bundestag bei anderen wichtigen völkerrechtlichen Verträgen z. B. Präambeln beschlossen hat, in denen er seine politische Meinung zum Inhalt des Vertrages zum Ausdruck gebracht hat. Diese Frage kann man, glaube ich, klar beantworten.
Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zu unserem Antrag und um Zustimmung zur Ratifizierung des Gesetzes.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122618700
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1122618800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren ! Es ist ja nicht ohne Reiz, darüber nachzudenken, daß gerade heute, an diesem historischen Tag, nach 13 Jahren ein weiterer Schritt in der Entwicklung des Völkerrechts gegangen werden kann. Darum muß man, Herr Kollege Verheugen, darüber nachdenken, was die Wurzeln des Völkerrechts sind. Es entwickelt sich eben nur langsam und schrittweise. Es gibt keinen Gesetzgeber, der bestimmen könnte, was Rechtens ist. Es gibt allenfalls nach
einem Krieg ein Gericht, das die Handlungsweise eines Staates beurteilen könnte. Nur, es ist schwierig, eine Völkergemeinschaft, einen Staat dazu zu gewinnen, sich für den Kriegsfall, also hinsichtlich der Existenzfrage, an Konventionen zu binden. Und tatsächlich: Wenn wir die geschichtliche Entwicklung der letzten 100 Jahre verfolgen, dann müssen wir feststellen, daß wir über die Haager Landkriegsordnung bis zu den Genfer Konventionen nicht wesentlich hinausgekommen sind.
Die heute zu ratifizierenden Zusatzprotokolle zur Genfer Konvention unternehmen den darüber hinausgehenden Versuch, militärische Entscheidungen rechtlich zu binden und am Schutz der Zivilbevölkerung zu orientieren. Wenn man das liest, so finde ich es nach wie vor erstaunlich, daß eine solche Vereinbarung vor 13 Jahren überhaupt zustande gekommen ist.
Die Verhandlungspartner hatten damals den mehr oder weniger deutlich geäußerten Vorsatz, diese Vereinbarung nicht auf Nuklearwaffen, sondern nur auf konventionelle Waffen anzuwenden, auch wenn der Text zwischen verschiedenen Waffenarten nicht unterscheidet.
Die Bundesrepublik ratifiziert, nachdem der Text eines Nuklear-Vorbehalts abgestimmt worden ist. Das kann man bedauern, aber es ist die Wirklichkeit. Über viele Jahre galt eben die Drohung mit dem Einsatz atomarer Waffen als die einzige Friedensgarantie. Nur so kann man es verstehen, daß es die Vereinigten Staaten überhaupt wagen können, dieses Abkommen zum Schutz der Zivilbevölkerung überhaupt nicht zu ratifizieren. Und nur so sind die vielfältigen Diskussionen zu rechtfertigen, die bei uns über eben diese Frage geführt worden sind, ob eine Nuklearerklärung abgegeben werden soll oder nicht.
Wir halten es für wichtig, daß die Protokolle überhaupt ratifiziert werden. Die Bundesregierung hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß sie die Ratifizierung für wichtig hält und daß sie sie will.
Es ist auch verständlich, finden wir, daß wir uns innerhalb der NATO nicht isolieren wollen, sondern uns in einer abgestimmten Weise vor allem mit unseren engsten Nachbarn verhalten wollen.
Das Rechtsbewußtsein der Völkerrechtsgemeinschaft entwickelt sich in kleinen Schritten. Das muß man ertragen, wenn man größere Schritte versucht hat. Es ist besser, sich auf gesichertem Boden zu bewegen und hoffen zu können, daß wenigstens diese Vereinbarungen eingehalten werden. Vor allem bin ich sicher, daß die Politik der Abschreckung zu einem Ende kommt. Das ist nicht eine Folge besserer Einsicht, sondern der ökonomischen Überforderung der Völker mit immer größeren und immer komplizierteren Waffensystemen.
Wir haben keine andere Wahl, als — ich finde es —, wenn wir uns nicht isolieren wollen, mit dem Nuklearvorbehalt zu ratifizieren. Aber wir werden nicht aufhören, uns um die Weiterentwicklung des Kriegsvölkerrechts zu bemühen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)





Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122618900
Das Wort hat der Abgeordnete Eich.

Tay Eich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122619000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zusatzprotokolle wurden auf Initiative des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zwischen 1972 und 1976 ausgehandelt und 1977 paraphiert. Damit sollten Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts u. a. an die umfassende Vernichtungswirkung moderner Massenvernichtungswaffen angeglichen werden. Internationaler Rechtskonsens ist, daß mit Ratifikation nach Art. 51 des Zusatzprotokolls I ein Atomwaffeneinsatz völkerrechtswidrig würde. Besonders die Atomwaffenstaaten zögerten daher mit der Ratifikation. Immerhin, die Sowjetunion hat 1989 unterschrieben.

(Verheugen [SPD]: Ratifiziert!) — Ja, richtig: ratifiziert.

Die NATO-Staaten dagegen befürchteten zu Recht, daß mit der Ratifizierung auch die NATO-Strategie mit ihrer Drohung eines Ersteinsatzes von Atomwaffen völkerrechtswidrig würde. Daher einigten sie sich auf eine Zusatzerklärung, die besagt, daß nach Verständnis der NATO-Staaten diese Ergänzungen zum humanitären Kriegsvölkerrecht für Atomwaffeneinsätze nicht gälten.
Eine solche Interpretation ist eine politische Frechheit. Sie widerspricht der Grundabsicht, mit der diese Zusatzprotokolle überhaupt geschaffen wurden.
Nach überwiegender Rechtsmeinung ist diese Interpretation nicht haltbar. Mein Kollege von der SPD hat darauf vorhin noch einmal hingewiesen. Aber daß Sie heute hier immer noch auf Ihrer Ausklammerung von Atomwaffeneinsätzen beharren, wirft ein bezeichnendes Licht auf die jüngsten Beschlüsse der NATO, die den Atomwaffeneinsatz in Eskalationsszenarios weiter nach hinten schieben. Sie zumindest scheinen das nicht ernst zu nehmen.
Die Zusatzprotokolle ächten u. a. die unterschiedlose Kriegführung, eine Kriegführung ohne Rücksicht, wer Kombattant und wer Zivilist ist. Und Sie besitzen die Unverfrorenheit, den großen „Gleichmacher" Atombombe als nicht gemeint zu bezeichnen, — das größte Massenvernichtungsmittel unserer Zeit.
Diese offensichtliche juristische Unhaltbarkeit ist es wohl auch gewesen, die 1987 Präsident Reagan zu der Entscheidung brachte, zwar das Zusatzprotokoll II, nicht aber das Zusatzprotokoll I zu ratifizieren.
Aber die Bundesregierung schreibt auf der letzten Seite ihrer Drucksache einen solchen Atomwaffenvorbehalt fest — ich zitiere —:
Nach dem Verständnis der Bundesrepublik Deutschland sind die vom I. Zusatzprotokoll eingeführten Bestimmungen über den Einsatz von Waffen in der Absicht aufgestellt worden, nur auf konventionelle Waffen Anwendung zu finden...
Warum, bitte schön, muß die BRD so etwas erklären, wo sie doch angeblich gar kein Atomwaffenstaat ist

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Was war das gerade: „BRD"?)

— Sie haben richtig gehört; das sollten Sie in langer parlamentarischer Tradition gelernt haben — und bei „ZweiplusVier" und der Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag Verzichte bezüglich Massenvernichtungsmittel abgegeben hat? Hiermit wird nicht nur die NATO-Strategie geschützt, sondern auch die Rechtmäßigkeit einer Drohung mit eigenen Atomwaffen offengehalten.
Meine Damen und Herren, die beste Maßnahme, um Ihre atomare Unschuld zu beweisen, ist: Folgen Sie den Anträgen der Opposition, ziehen Sie den Nuklearvorbehalt zurück.
Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122619100
Das Wort hat die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Frau Dr. AdamSchwaetzer.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1122619200
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Wichtigkeit der Zusatzprotokolle zum Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949 ist hier ja nicht umstritten. Die Protokolle bestätigen geltendes humanitäres Völkerrecht und entwickeln es in vielen Bereichen fort. Sie stärken den Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten, sie beschränken Mittel und Methoden der Kriegführung zur Verringerung der Leiden der Kombattanten und verbessern den Schutz von Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen.
Angesichts des Konsenses in diesem Haus für die Ratifizierung der Zusatzprotokolle möchte ich mich auf einige wenige Aspekte grundsätzlicher Art beschränken. Ich denke, eines ist ganz sicher: Ein Krieg, auch ein konventioneller Krieg mit modernen Waffen, darf nie für führbar gehalten werden. Ein Krieg mit modernen Mitteln hat schreckliche Konsequenzen. Deswegen kann und muß es vorrangige Aufgabe jeder Regierung sein, die Wahrung und Festigung des Friedens zu bewirken.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir sollten allerdings auch die Bemühungen um die Begrenzung von Kriegsfolgen und Wahrung grundlegender humaner Bedingungen gleichwohl nicht geringachten und ihnen sichtbar die Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland geben. Es muß deutlich werden, daß sogenannte militärische Notwendigkeiten Grenzen haben, die nicht überschritten werden dürfen. Dies ist angesichts der Konflikte in anderen Teilen der Welt besonders wichtig.
Mit der Ratifizierung der Zusatzprotokolle unterstützen wir die Forderung nach Einhaltung von Regeln in solchen internationalen oder internen bewaffneten Konflikten.
Aus diesem Grunde will die Bundesregierung auch eine weitere Erklärung abgeben, wodurch sich die Bundesrepublik Deutschland der Kontrolle einer internationalen Ermittlungskommission zur Untersuchung von Verstößen unterwirft. Da es bisher 19 Unterwerfungen dazu gibt, könnte unsere Unterwerfung die 20ste sein, die nach Artikel 90 des ersten Zusatz-



Staatsminister Frau Dr. Adam-Schwaetzer
protokolls die Einrichtung der Kommission, die Verstöße untersuchen soll, ermöglicht.
Damit wird es erstmals ein unabhängiges Organ zur Kontrolle vertraglicher Verpflichtungen im Bereich des humanitären Völkerrechts geben.
Die weitere Erklärung der Bundesregierung, daß die Bestimmungen der Zusatzprotokolle über den Einsatz von Waffen, soweit die Regeln neu sind und nicht nur bestehendes Völkerrecht bestätigen, in der Absicht aufgestellt worden sind, nur auf konventionelle Waffen Anwendung zu finden, ist nur verständlich auf dem Hintergrund der bisher in Europa gültigen sicherheitspolitischen Anschauungen, nämlich auf dem Hintergrund der Abschreckungspolitik, die bisher gegolten hat.
Die Begrenzung der Geltung der Zusatzprotokolle ist, das geben wir zu, angesichts der Auswirkungen moderner Kriegführung, unbefriedigend.
Wir müssen jedoch den begrenzten Ansatz der Ergebnisse der 1977 abgeschlossenen Genfer Kodifikationskonferenz zur Kenntnis nehmen. Die Nuklearmächte Frankreich, Großbritannien und USA haben auf der Konferenz ausdrücklich die Nichtanwendbarkeit auf Nuklearwaffen erklärt. Hierüber herrschte Konsens.

(Zuruf von der SPD: Wir sind doch keine Nuklearmacht!)

Die Sowjetunion hat uns dies als ihre offizielle Position bestätigt. Sie hat deshalb auch keine Einwände gegen die von anderen NATO-Staaten bereits abgegebene Klarstellung erhoben.
Auf Ihren Einwurf, Herr Kollege, möchte ich nur sagen: Wir sind Mitglied der NATO.
Der NATO-Gipfel Anfang Juli hat ausdrücklich eine Überprüfung der Konzeption, der eigenen Vorstellungen der NATO in sicherheitspolitischen Fragen beschlossen. Darauf werden wir zurückkommen. Aber wir sind Mitglied der NATO, und dies gilt es auch im Zusammenhang mit der Ratifikation der Zusatzprotokolle zu beachten.
Angesichts der Übereinstimmung des Inhalts der beabsichtigten Erklärung mit der Verhandlungsgeschichte dient die jetzt abzugebende Erklärung der Rechtssicherheit.
Nun ist hier gesagt worden, daß sich die Bundesregierung mit dieser Erklärung den Einsatz von Atomwaffen offenzuhalten gedenke.

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Auf so einen Quatsch braucht man gar nicht einzugehen!)

Ich möchte deshalb darauf hinweisen, daß wir mit einer Erklärung, die die Bundesregierung und auch die Regierung der DDR im Rahmen des Abschlusses der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen abgegeben haben, ausdrücklich unseren Verzicht auf die Herstellung, den Besitz und die Verfügung von atomaren Waffen, biologischen Waffen und chemischen Waffen verbindlich erklärt haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deshalb, meine Damen und Herren, bitte ich Sie, nicht nur den Antrag der SPD, sondern auch den Entschließungsantrag der GRÜNEN abzulehnen. Der Weg zur Beseitigung der nuklearen Bedrohung geht nicht über den Kunstgriff einer durch die Verhandlungsgeschichte nicht gerechtfertigten extensiven Auslegung der Zusatzprotokolle; er geht vielmehr über Abrüstungsverhandlungen. Diese Politik, die die Bundesregierung in der Vergangenheit erfolgreich betrieben hat, wird sie nach der deutschen Einigung am 3. Oktober fortsetzen.
Meine Damen und Herren, zum Schluß noch ein Wort der Klarstellung, damit der Gesetzentwurf keinen falschen Eindruck erweckt. Ergebnis des Außenministertreffens am 12. September in Moskau war auch, daß die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes in Kürze suspendiert werden sollen. Die Berlinklausel in Art. 3 des Vertragsgesetzes wird dann gegenstandslos.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122619300
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Vertragsgesetzentwurf zu den Zusatzprotokollen I und II zu den Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949. Das sind die Drucksachen 11/6770 und 11/7882.
Ich rufe die Art. 1 bis 3 des Gesetzes auf. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Art. 1 bis 3 sind einstimming angenommen.
Ich rufe Art. 4 des Gesetzes auf. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/7927 vor. Wer stimmt für diesen Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Art. 4 entsprechend der Ausschußempfehlung. Wer stimmt für Art. 4? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Ausschußempfehlung und damit der Art. 4 bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN von den anderen Fraktionen mit Mehrheit angenommen worden.
Wer dem Gesetz nun als Ganzem einschließlich Einleitung und Überschrift zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7948 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Entschließung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer, Kleinert (Marburg) und der Fraktion DIE GRÜNEN



Vizepräsident Westphal
Errichtung einer nationalen Gedenkstätte in Hadamar für die Opfer der NS-„Euthanasie"Verbrechen
— Drucksache 11/7329 —
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer, Frau Beer, Dr. Lippelt (Hannover), Meneses Vogl, Frau Nickels, Such und der Fraktion DIE GRÜNEN
Rehabilitierung und Entschädigung der unter der NS-Herrschaft verfolgten Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und „Wehrkraftzersetzer"
— Drucksache 11/7754 —
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Nickels, Frau Schoppe, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Errichtung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte im ehemaligen Konzentrationslager Salzgitter-Drütte
— Drucksachen 11/786, 11/6517 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Gerster (Mainz) Tietjen
Lüder
Such
Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu — ich betone: bis zu! — zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Zuerst will Herr Abgeordneter Lüder etwas als Berichterstatter sagen.

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1122619400
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag des Innenausschusses, der heute vorliegt, ist vordergründig nur in einem Punkt zeitlich überholt. Wir nehmen hier darauf Bezug, daß die Bundesregierung Eigentümer des Werkes in Salzgitter sei. Wir wissen, die Bundesregierung ist nicht mehr Eigentümer. Die Berichterstatter haben sich verständigt, den Antrag hier unverändert zur Abstimmung zu stellen mit der Maßgabe, daß die Bundesregierung in ihrer Eigenschaft als ehemaliger Eigentümer politisch verpflichtet bleibt.
Deswegen bitte ich im Namen der Fraktionen in der Beschlußempfehlung des Innenausschusses — Drucksache 11/6517 — auf Seite 3 in Absatz 3 zu berichtigen:
Er bittet die Bundesregierung, dazu in geeigneter Weise als ehemaliger Eigentümer der Stahlwerke Peine-Salzgitter AG tätig zu werden.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122619500
Jetzt kann ich die Aussprache eröffnen. Frau Dr. Vollmer ist die erste Rednerin.

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1122619600
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als im Jahre 1949 diese Republik daranging, die Bilanz von Krieg und Diktatur zu ziehen, ist politisch offensichtlich eine Grundentscheidung gefallen. Diese Grundentscheidung war
die, daß die Entschädigung materieller Verluste an Haus und Hof und materieller Güter Vorrang vor der Entschädigung von Opfern haben sollte, die Schädigungen an ihrer Gesundheit, an ihrer Menschenwürde und oft genug an ihrer Seele erhalten haben. Es ist eine Wiedergutmachungsgesetzgebung beschlossen worden, die zu eng angelegt war. Ein Grund dafür, daß wir hier immer und immer wieder mit neuen Anträgen anfangen müssen, lag genau darin, daß man damals eine viel zu enge Regelung vorgesehen hatte.
So sind wir denn auch heute mit unseren drei Anträgen wieder einmal dabei, ein weiteres Kapitel in dem Buch „Die unendliche, traurige Geschichte der Wiedergutmachung" aufzuschlagen. Ich meine übrigens, daß wir aus dieser falschen Vorrangstellung, Entschädigung von materiellen Gütern in Form von Lastenausgleich politisch großzügiger zu behandeln als die Entschädigung der Opfer, eindeutig lernen sollten. Denn wir werden eine zweite Welle von Opfern, diesmal von Stasi-Opfern, vor uns haben. Es scheint, daß die Politik wiederum den falschen Vorrang festlegt.
Unser einer Antrag behandelt die Entschädigung von Kriegsdienstverweigerern, Deserteuren und sogenannten Wehrkraftzersetzern des Zweiten Weltkriegs. Hunderttausende waren es, die sich dem völkischen Angriffs- und Vernichtungskrieg der Nazis verweigert hatten. Ein Verband dieser Verfolgten wird erst zur Zeit gegründet. Dank muß man dabei den vielen Deserteursinitiativen sagen, die — allerdings unter großen Schwierigkeiten — versucht haben, z. B. in Form eines Denkmals an die Deserteure des Zweitens Weltkriegs zu erinnern. Wir wollen, daß nach 45 Jahren auch die Opfer von Militärjustiz und auch die psychiatrisch Verfolgten — denn viele wurden in die psychiatrischen Anstalten eingewiesen — für das ihnen geschehene Unrecht anerkannt werden. Wir haben bewußt eine sehr ausführliche Begründung unseres Antrages erarbeitet, um das Ausmaß der Verfolgung und die beschämende Rechtsprechung der Entschädigungspraxis zu dokumentieren. Ich möchte Sie bitten, das einmal in Ruhe zu lesen.
Nach neueren, übrigens bisher nicht widerlegten Untersuchungen fällte die Militärjustiz des Dritten Reiches 22 750 Todesurteile wegen Fahnenflucht und 5 000 bis 6 000 Todesurteile wegen sogenannter Wehrkraftzersetzung. Etwa 20 000 von diesen Urteilen wurden vollstreckt, gegen Kriegsende am meisten in Schnell- und Standgerichten. Der berüchtigte Volksgerichtshof — er ist überall bekannt — verhängte von 1937 bis 1945 in insgesamt 5 243 Fällen Todesurteile und über 20 000 Todesurteile gegen sogenannte Wehrkraftzersetzer.
Da ist nun immer die Frage aufgetaucht — mit der müssen wir uns in allen Bereichen herumschlagen — : War das nun typisches NS-Unrecht? Das ungeheure Ausmaß der Verfolgung und damit ihre Charakterisierung als NS-Unrecht wird besonders deutlich im Vergleich zu anderen Staaten. In den USA wurden im Zweiten Weltkrieg 146 Todesurteile vollstreckt, nur eines wegen Fahnenflucht. Im gleichen Zeitraum wurden in Großbritannien 40 Todesurteile gefällt, 36 davon wegen Mordes.



Frau Dr. Vollmer
Die Bundesregierung aber behauptet, auch in anderen Staaten sei Desertion strafbar gewesen. Deswegen handle es sich bei den 20 000 Todesurteilen nicht um typisches NS-Unrecht. Deshalb könnten diese Verfolgten nicht als NS-Opfer anerkannt werden.
Diese Feststellung ist geradezu skandalös. Außerdem ist es doch wohl, wie die Evangelische Kirche in Deutschland zutreffend festgestellt hat, ein Unterschied, ob sich jemand in einem Rechtsstaat der Abwehr eines verbrecherischen Krieges oder in einem diktatorischen Staat der Führung eines solchen entzieht.
Mehr als 25 000 verurteilte Wehrmachtsangehörige wurden in die Emslandlager deportiert. Tausende der sogenannten Moorsoldaten überlebten die unmenschlichen Haftbedingungen nicht. Ungezählte Kriegsunwillige fielen der folternden Psychiatrie in die Hände. Rechtsstaatliche Maßstäbe wurden in den Strafverfahren nicht eingehalten, sondern grundsätzlich mißachtet. Eine Berufung war nicht möglich.
Die Militärjustiz stand ganz im Dienst des NS-Regimes. Ihre erste Devise war, die NS-Kriegsmaschinerie in Gang zu halten. Verschärfte Sonderverordnungen, Führer- und Wehrmachtserlasse trugen dazu bei, daß die Flucht von der Fahne ungeheuren Mut erforderte. Die Vorgabe kam von Adolf Hitler selbst, der zugleich Oberbefehlshaber der Wehrmacht war und bereits 1934 gesagt hat:
Es muß der Deserteur wissen, daß seine Desertion gerade das mit sich bringt, was er fliehen will. An der Front kann man sterben, als Deserteur muß man sterben.
Die durch das NS-Regime derart gnadenlos Verfolgten treten nun aus dem Schatten ans Licht der Öffentlichkeit — und das ist sehr spät — , einer Öffentlichkeit, die sie bisher als „Feiglinge", „Drückeberger" oder „Vaterlandsverräter" stigmatisiert hatte, einer Öffentlichkeit, in deren Namen die Gerichte sie aus der Entschädigung ausgegrenzt haben, indem sie die Entscheidungen der Kriegsgerichte anerkannten, oder indem jahrzehntelang eine gewaltige Widerstandshandlung verlangt wurde, der noch nicht einmal alle Männer des 20. Juli genügen würden. Das heißt, man forderte gerade von denen eine besonders große Dokumentation, daß es sich wirklich um Widerstand gehandelt habe, obwohl doch die Tatsache, daß sie sich entzogen — wie Adolf Hitler richtig gesagt hatte — hieß, daß sie sicher sterben mußten.
Die Härteregelungen aus dem Jahre 1988 sind keinesfalls ausreichend, da hierin die reguläre Verurteilung nach der Kriegssonderstrafrechtsverordnung nicht grundsätzlich als NS-Unrecht anerkannt wird. Unzumutbare Fristen und Beweislasten tun ein übriges, um die Verbannung aus dem Entschädigungsrecht zu konstatieren.
Wir fordern deshalb in unserem Antrag: Den genannten Opfern ist grundsätzlich NS-Unrecht widerfahren; das ist anzuerkennen. Die Betroffenen sind umgehend zu entschädigen und zu rehabilitieren. Für die Auszahlung der vorzusehenden laufenden Leistungen ist eine Bundesstiftung unter Beteiligung der Verfolgtenverbände einzurichten.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Ich komme nun noch kurz zu den beiden anderen Anträgen zu den Gedenkstätten. Gedenkstätten haben für die Erinnerung einen hohen Stellenwert. Dies ist der Grund dafür, daß wir — übrigens schon in der letzten Legislaturperiode — den Antrag eingebracht haben, die Gedenkstätte Salzgitter-Drütte einzurichten. Was nicht sehr häufig ist: In einem breiten Bündnis vor Ort wurde dieses Begehren unterstützt.
Nun hat es auch der Innenausschuß — auch das ist ja nicht sehr häufig — mit den Stimmen aller Fraktionen nach Jahren geschafft, einer solchen Stätte zuzustimmen. Allein, der Kern des Anliegens wurde dabei verfehlt: Die Dokumentations- und Gedenkstätte muß an dem authentischen Ort errichtet werden, dort, wo die Hochstraße des KZ Drütte heute noch intakt ist, wo die Verbrechen damals geschehen sind. Für die Zwangsarbeiter der ehemaligen Hermann-GöringWerke ist genau dies der Ort, an dem das Symbol ihres Leidens in Erinnerung bleiben sollte. So wurde es auch im Gutachten einer unabhängigen Expertenkommission gesagt — ich zitiere — :
Das KZ Drütte ist aus Gründen der Authentizität und des Erhaltungszustands der ideale Ort für eine Gedenkstätte.
Der entscheidende Widerstand gegen die Einrichtung der Gedenkstätte auf dem Werksgelände kam durch den Vorstand der Peine-Salzgitter-AG. Dieser Konzern war als Nachfolger der Hermann-GöringWerke fest in der Hand des Bundes. Auch der hat sich übrigens geweigert, unsere andere Initiative, nämlich die Entschädigung von Zwangsarbeitern, überhaupt nur zu berücksichtigen, wo er doch an dieser Stelle wirklich selbst ein Vorbild hätte setzen können, auch für die anderen Firmen.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Sehr richtig!)

Inzwischen sind die Salzgitter-Werke verkauft, und vom neuen Eigentümer wissen wir nicht, ob er bereit ist, aus der Tradition seiner Vorgänger auszutreten.
Wenn wir bei der Beschlußvorlage des Innenausschusses heute mit „Enthaltung" stimmen, wollen wir damit anerkennen, daß der Bundestag hier überhaupt der Errichtung einer solchen Gedenkstätte zugestimmt hat. Wir haben auch vernommen, daß der Haushaltsausschuß nach längerem Widerstand nunmehr bereit ist, dafür einen finanziellen Beitrag zur Verfügung zu stellen. Dies sollte im Nachtragshaushalt berücksichtigt werden.
Ich habe jetzt nur noch wenig Zeit, auf den dritten Antrag einzugehen. In ihm geht es um die NS-Euthanasieverbrechen. Wir haben der Bundesregierung das Anliegen vorgetragen, eine Gedenkstätte in Hadamar einzurichten. Der Minister hat sich sehr lange Zeit gelassen zu antworten und trägt nun vor, die Anerkennung der Gedenkstätte in Hadamar als nationale Gedenkstätte sei eine Aufgabe des gesamtdeutschen Parlaments. Das ist eine eigenartige Begründung; das hat es bei Bergen-Belsen nicht gegeben. Wir haben also den Eindruck, hier soll wieder etwas verzögert und verschoben werden. Das ist sehr lange meine Erfahrung in dieser Arbeit gewesen, weswegen ich manchmal auch denke, daß ich, wenn ich überhaupt



Frau Dr. Vollmer
wieder in den Bundestag zurückkommen sollte, lieber in den Haushaltsausschuß möchte.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122619700
Das Wort hat Frau Dr. Wisniewski.

Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (CDU):
Rede ID: ID1122619800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon ein bemerkenswertes zeitliches Zusammentreffen, daß heute, am Tag der Verabschiedung des Einigungsvertrags durch den Deutschen Bundestag, über drei Vorlagen beraten wird, die sich mit natinalsozialistischem Unrecht und seiner Wiedergutmachung befassen. Wiedergutmachung, Entschädigung und Rehabilitierung sind auch im Einigungsvertrag angesprochen — Zeichen dafür, daß auch für das gesamtdeutsche Parlament die nationalsozialistischen Unrechtstaten weiterhin bedrückender und verpflichtender Gegenstand politischen Handelns sein werden, Zeichen aber auch dafür, daß mit der DDR erneut ein Unrechtssystem auf deutschem Boden endet.
Daraus erwachsen neue Verpflichtungen für alle politischen Kräfte; denn das in der DDR geschehene Unrecht kann ebensowenig wie das vor 40 Jahren begangene Unrecht aus dem Gedächtnis getilgt werden. Wir haben die Verpflichtung, dieses Unrecht wiedergutzumachen, so wenig das letzlich wirklich möglich ist, aber auch zu dokumentieren, zu welchen Taten ideologische Verblendung führen kann, und immer erneut darauf hinzuweisen, daß die Menschen in der Bundesrepublik und seit mehreren Monaten nun auch dank einer bewunderungswürdigen friedlichen Revolution die Menschen in der Noch-DDR sich von diesen Ideologien abgewandt haben und voller Abscheu zur Kenntnis nahmen und nehmen, was von 1933 bis 1945 und, wenn auch in anderer Dimension, in der DDR von 1945 bis 1989 auf deutschem Boden an Unrecht geschah und wozu politische Macht mißbraucht wurde.
In diesem Sinne und aus diesem Streben heraus untersützt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion das Vorhaben der Stadt Salzgitter, eine Gedenk- und Dokumentationsstätte für die Opfer und Verfolgten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu errichten. Es handelt sich um eine Gedenkstätte für mehr als 100 000 Menschen verschiedener Nationen, die zwischen 1939 und 1945 als Arbeitskräfte in den Reichswerken Hermann Göring, einem der größten Rüstungsbetriebe des Dritten Reiches, eingesetzt waren. Deutsche, unter ihnen rassisch Verfolgte und politische Häftlinge, Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion, aus Polen, aus Frankreich, aus den Niederlanden mußten unter teilweise unmenschlichen Bedingungen dort leben und arbeiten.
Zur Errichtung der Gedenkstätte liegt ein Gutachten vor. Dessen Vorschläge sollten rasch verwirklicht werden. Wie dies im einzelnen geschehen kann, muß dem Land und der Kommune überlassen bleiben. Der Deutsche Bundestag kann und will diesen beiden Körperschaften keine Konzeption aufzwingen, sondern beschränkt sich auf die Bitte an die Bundesregierung, im Rahmen ihrer Kompetenz dieses Anliegen zu fördern. Dazu besteht für die Bundesregierung als der
früheren Eigentümerin des Nachfolgewerkes der Hermann-Göring-Werke eine besondere Verpflichtung.

(Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: So ist es!)

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwartet, daß die Bundesregierung alsbald Bemühungen in dieser Sache aufnimmt.
Neu eingebracht wurde von der Fraktion DIE GRÜNEN ein Antrag zur Errichtung einer nationalen Gedenkstätte in Hadamar für die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasieverbrechen. Auch mir scheint es richtig, daß diese Stätte, über der auf einem Obelisk die Mahnung „Mensch, achte den Menschen" geschrieben steht, zu einer nationalen Gedenkstätte wird, handelt es sich doch um die Dokumentation einer Denk- und Handlungsweise, die sich befugt fühlte, Menschen als „lebensunwert" zu klassifizieren und zu töten.
Die Landesheil- und Pflegeanstalt Hadamar wurde am 1. November 1940 zur Stätte der Durchführung des geheimen Euthanasie-Befehls Adolf Hitlers bestimmt. Dieser Befehl war auf den 1. September 1939, auf den Tag des Beginns des Zweiten Weltkriegs also, datiert und hatte die Massenvernichtung „lebensunwerten Lebens" zum Ziel.
Körperlich und geistig behinderte Menschen, die durch eine Meldeaktion in allen deutschen Heil- und Pflegeanstalten erfaßt worden waren, wurden in Hadamar durch Vergasung ermordet. Als sich heftiger Protest von kirchlicher Seite erhob, wurde diese Aktion, die sich nicht geheimhalten ließ, nach einigen Monaten wieder eingestellt. Aber die Tötungen wurden fortgesetzt: durch Medikamente, Injektionen oder auch durch Aushungern. Insgesamt wurden in Hadamar zwischen 1941 und 1945 wahrscheinlich mehr als 15 000 Menschen getötet.
Ich glaube, es ist richtig, daß Bundestag und Bundesregierung nach einem Weg suchen, die Gedenkstätte in Hadamar zu einer nationalen Gedenkstätte auszubauen und sie durch eine institutionelle Förderung dauerhaft zu sichern. Dieses Mahnmal ist notwendig, weil es uns alle dazu verpflichtet, jenen Menschen besonderen Schutz angedeihen zu lassen, die ihr Recht auf Leben nicht oder nur schwer durchzusetzen vermögen.
Die GRÜNEN haben ferner einen Antrag auf Rehabilitierung und Entschädigung der unter der nationalsozialistischen Herrschaft verfolgten Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und sogenannten Wehrkraftzersetzer eingereicht und haben darin Eckdaten für einen Gesetzentwurf vorgelegt. Er erinnert an das Unrecht und das Leid, das z. B. allein dadurch entstehen konnte, daß Menschen von ihrer — damals verbotenen — Meinungsfreiheit Gebrauch machten und wegen Äußerungen, die politisch nicht genehm waren, oder wegen des Abhörens ausländischer Rundfunksender drangsaliert, verfolgt und bestraft wurden. Auch dieser Antrag wird in den Ausschüssen sorgfältig beraten werden müssen.
Die Berechtigung eines eigenen Gesetzes erscheint mir allerdings bei der ersten Durchsicht zweifelhaft, weil die bisherigen Entschädigungsgesetze und Här-



Frau Dr. Wisniewski
teregelungen diesen Personenkreis bereits mit erfassen.

(Lambinus [SPD]: Aber nicht die Rechtsprechung!)

So läßt sich aus statistischen Angaben des Bundesfinanzministeriums erkennen, daß nach den AKG- Richtlinien von 1988 bis zum 31. Dezember 1989 bei den Oberfinanzdirektionen in den Ländern der Bundesrepublik insgesamt 53 Anträge auf Einmalleistungen aus diesem Personenkreis eingingen, wovon allerdings bisher nur 7 positiv entschieden werden konnten, 28 dagegen negativ; 18 sind noch in Bearbeitung.
Diese Zahlen können und sollen zunächst nur besagen, daß dieser Personenkreis bei der Wiedergutmachungsfrage nicht generell ausgeklammert ist. Sorgfältige Einzelfallprüfungen erscheinen in diesen Fällen erforderlich. Generalisierende Erfassung erscheint äußerst schwierig. Es muß geprüft werden, ob spezielle rechtliche Regelungen über die bestehenden hinaus tatsächlich erforderlich sind.
Die Thematik, meine Damen und Herren, die wir hier behandeln müssen, mischt Trauer und Erbitterung in diesen Tag der Freude über den vollzogenen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur deutschen Einheit. Auch die gemeinsame Zukunft des gesamten Deutschland wird überschattet sein von einer Vergangenheit, die in vielen Opfern politisch motivierter Unrechtstaten immer noch gegenwärtig ist. Uns bleibt die Verpflichtung, dieses politische Erbe in Verantwortung zu tragen und die Folgen so weit wie möglich zu beseitigen oder doch wenigstens zu mildern.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122619900
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lambinus.

Uwe Lambinus (SPD):
Rede ID: ID1122620000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag auf Drucksache 11/7329, der die Bundesregierung auffordert, die Gedenkstätte Hadamar für die Opfer der NS- „Euthanasie"-Verbrechen in den Rang einer nationalen Gedenkstätte zu erheben und für eine angemessene und dauerhafte Finanzierung zu sorgen, entspricht den Intentionen der SPD-Bundestagsfraktion. Wir werden dies in den Ausschußberatungen deutlich machen. Hier stimmen wir der Überweisung wie vom Ältestenrat vorgeschlagen zu.
Die Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 11/6517, die die Errichtung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte im ehemaligen Konzentrationslager Salzgitter-Drütte betrifft, ist so unverbindlich, daß sie unsere Zustimmung nicht finden kann. Wir wollten und wollen eine klare Aufforderung an die Bundesregierung, zu verhindern, daß z. B. durch eine Beseitigung des Lagers in der Hochstraße des Betriebsgeländes der Peine-Salzgitter-AG irreversible Fakten geschaffen werden. Uns Sozialdemokraten geht es darum, auf den Vorstand der Firma dahin einzuwirken, daß die Gedenkstätte nicht außerhalb des Werksgeländes errichtet wird. Drütte ist nach unserer Auffassung ein idealer Ort für die Gedenkstätte. Dies sagt auch das Gutachten der Expertenkommission aus.
Die Beschlußempfehlung des Innenausschusses gibt diese unsere Meinung nicht wieder. Aus diesem Grunde enthalten wir uns bei der Abstimmung über diese Beschlußempfehlung der Stimme.
Lassen Sie mich nun einige Gedanken zu dem dritten Antrag vortragen. Während die Vereinigten Staaten von Amerika über 100 000 Deserteure des Vietnamkrieges unter der Regierung Carter amnestierten — nicht rehabilitierten —, wurde dieser Akt der Versöhnung den deutschen Deserteuren, Kriegsdienstverweigerern und sogenannten Wehrkraftzersetzern des Zweiten Weltkrieges bis heute nicht zuteil. Hier haben wir Geschichte aufzuarbeiten und, soweit dies bei diesem Thema überhaupt möglich ist, emotionslos festzustellen, was war.
Wir sind uns heute in der Beurteilung der Hitlerschen Vernichtungsfeldzüge weitgehend einig und, um unseren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zu zitieren, einig in der Beurteilung des „menschenverachtenden Systems der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft". Was macht es uns dann eigentlich so schwer, diejenigen, die sich dieser verbrecherischen Kriegsmaschinerie entzogen, ebenso zu würdigen wie diejenigen, die von eben jenem System zu Opfern und vielfach zugleich auch zu Tätern gemacht wurden? Was macht es uns dann eigentlich so schwer, das heute für uns alle selbstverständliche Grundrecht, den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern zu können, rückwirkend auch jenen zuzubilligen, denen das verbrecherische Naziregime dieses Recht verweigerte? Wir ehren die Männer des 20. Juli, Offiziere und Zivilisten — zu Recht, wie ich meine —, lassen aber Tausende von Soldaten, die sich auf ihre Art weigerten, Hitlersche Eroberungs- und Vernichtungsfeldzüge mitzumachen, mit dem Makel der Kriegsgerichts- und Standgerichtsverurteilungen belastet. Wie gehen wir mit dem Gedenken an über 20 000 deutsche Deserteure um, von denen über 15 000 erschossen wurden?
Dies sind Fragen, die an uns gerichtet werden, die wir aber auch selbst an uns zu richten haben. Die Antwort gebe sich jede und jeder zunächst selbst. Aber wir werden auch öffentlich antworten müssen. Durch Schweigen und Verschweigen, durch Verdrängen und Verschieben werden wir dem Opfer dieser Männer nicht gerecht. Ja, ich sage „Opfer" , denn viele wußten, daß sie ihre Weigerung, dem Verbrecherregime zu dienen, unter Umständen mit dem Leben bezahlen müssen.
Es ist deshalb an der Zeit, dem Opfer dieser Männer gerecht zu werden; dies nicht nur im Interesse der Witwen, Kinder und Enkel, sondern auch im Interesse unserer eigenen Glaubwürdigkeit. Unsere Verurteilung der Naziherrschaft bleibt hohl und für viele unglaubwürdig, solange wir nicht allen, die diesem System — gleich, auf welche Art — , Widerstand entgegensetzten, Gerechtigkeit, wenn auch späte, entgegenbringen. Wir müssen der leider noch immer verbreiteten Denkart des ehemaligen Kriegsgerichtsrates im späteren Ministerpräsidentenrang, der da meinte, „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein", politisches Handeln entgegensetzen. Gerade in



Lambinus
diesen Tagen und Wochen, in denen wir die Bewältigung der jüngeren Vergangenheit zu leisten haben, mußte — ich spreche, um niemanden zu verletzen, im Plural — jedem von uns klar werden, wie unhaltbar diese Geisteshaltung im Grunde genommen ist.
Wir Sozialdemokraten schlagen vor, über folgende Punkte zu diskutieren:
Erstens über eine Neubewertung und Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung und der sogenannten Wehrkraftzersetzung aus Gewissensgründen während der Zeit der Nazi-Herrschaft als Widerstand, abweichend von der bisherigen Rechtsprechung, durch Parlamentsbeschluß.
Zweitens. Die Opfer und ihre Angehörigen müssen Entschädigung erhalten. Familien, die betroffen sind, wollen wir ermutigen, sich trotz ihrer Verbitterung oder erlittenen Ausgrenzung zu ihren Vätern oder Großvätern, die von der Nazi-Fahne gingen, zu bekennen.
Drittens. Wir brauchen eine Forschungsstelle, die dem Schicksal der Betroffenen nachgehen kann. Die Förderung dieser Forschung entspricht dem Geist der Rede, die unser Bundespräsident am 8. Mai 1985 gehalten hat. Wir haben ja schließlich auch ein militärgeschichtliches Forschungsamt.
Viertens. Die mit diesen Wiedergutmachungsmaßnahmen verbundenen Kosten könnten im Rahmen der von uns vorgeschlagenen Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht" berücksichtigt werden.
Fünftens. Schließlich sollten wir uns als Deutsche der Weltkriegsdeserteure und -verweigerer nicht länger schämen, sondern sie ebenso ehren und behandeln wie die Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft.
In diesem Sinne werden wir den Antrag auf Drucksache 11/7754 in den zuständigen Ausschüssen beraten. Wir stimmen der Überweisung wie vom Ältestenrat vorgeschlagen zu.
Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122620100
Das Wort hat der Abgeordnete Lüder.

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1122620200
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Daß wir heute abend die Reden nicht zu Protokoll geben konnten, hat nur eine Institution zu verantworten: Die Bundesregierung. Wir hätten, wenn wir das Wort der Bundesregierung bekommen hätten, wie es seit Jahr und Tag eingefordert wurde, heute abend zur Kenntnis nehmen können, daß hier etwas geschieht. Aber nein!
Ich darf daran erinnern: Ich habe in der ersten Lesung zum Antrag der GRÜNEN zur Errichtung der Gedenkstätte Salzgitter-Drütte gesagt: Wir wünschen, daß dies kommt, und zwar bald. Das war im November letzten Jahres. Im Dezember letzten Jahres, lange bevor wir uns hier in diesem Haus überhaupt mit Wiedervereinigungshoffnungen konkret beschäftigen konnten, war sich der Innenausschuß darüber einig, daß wir eine Gedenkstätte brauchen
und haben wollen und daß wir von der Bundesregierung, der damals dieses Unternehmen noch gehörte, erwarten, daß eine Gedenkstätte für das KZ Salzgitter-Drütte dort errichtet wird. Nichts geschah! Bis heute ist nichts geschehen. Verkauft worden ist die Firma Salzgitter; das war richtig. Aber errichtet worden ist die Gedenkstätte nicht, und das bleibt falsch.
Wenn heute abend, Herr Staatssekretär Carstens — ich weiß, daß Sie nicht reden dürfen, nicht reden können, nicht reden wollen; ich lasse das einmal offen —, die Bundesregierung nicht in der Lage ist, zu sagen, wann die Salzgitter-Gedenkstätte kommt, dann bleibt sie hier in der Schuld, und zwar in einer Schuld, die heute im Einigungsvertrag festgeschrieben ist. Ich halte es für ein unmögliches Verfahren, daß die Bundesregierung über ein Jahr lang geschwiegen hat,

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Richtig!) Über ein Jahr lang nichts getan hat.

Es ging nicht um Geld. Herr Pieper, den ich angesprochen habe — nicht die Bundesregierung, sondern ich habe ihn angesprochen — , hat erklärt: Natürlich gibt das Unternehmen Geld dazu; aber natürlich ist das Unternehmen nicht der einzige Verantwortliche, nicht der einzige, der etwas dazugeben will. Der Landtag hat erklärt, er gibt etwas dazu; aber natürlich will er nicht allein sein. Die Stadt Salzgitter hat gesagt: Natürlich geben wir etwas dazu; aber wir wollen nicht allein sein.
Das einzige, was fehlte, war die Wegweisung durch die Bundesregierung. Dies bleibt hier heute abend anzuprangern, gerade zu Beginn des neuen Jahres der jüdischen Bevölkerung, auf die wir uns hier heute nachmittag berufen haben.
Wir können nicht sagen, wir hätten Mitgefühl mit Israel, wir können nicht sagen, wir hätten Mitgefühl mit dem jüdischen Volk, wenn wir ein Jahr lang so etwas liegenlassen.
An dieser Stelle bleibt einzufordern, daß die Bundesregierung etwas tut, um diese Gedenkstätte zu errichten.

(Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜNEN)

Ich habe es als beschämend empfunden, daß wir nicht etwa durch die Bundesregierung informiert wurden, welche Vorstellungen es zur Ausgestaltung der Gedenkstätte von Salzgitter-Drütte gab, sondern daß Herr Pieper als Vorsitzender eines Privatunternehmens, das damals im Eigentum des Bundes stand, uns im Innenausschuß den Weg wies, wie man eine Gedenkstätte errichten könnte. Erst durch Herrn Pieper, erst durch die Salzgitter AG haben wir erfahren, was in Salzgitter gedacht wurde — nicht etwa von der Bundesregierung.
Dies bleibt an der Bundesregierung haften. — Entschuldigung, Herr Staatssekretär, Sie sind hier anwesend; aber das Bundeskanzleramt, das Bundesinnenministerium und das Bundesfinanzministerium bleiben in gleichem Maße für diesen Sündenfall der Aufbereitung deutscher Geschichte verantwortlich.



Lüder
Deswegen kann ich nur die dringende Bitte äußern, daß Sie allen Ihren Einfluß im politischen Bereich geltend machen, daß wir spätestens zur Konstituierung des nächsten Deutschen Bundestages eine Grundentscheidung haben, in Salzgitter eine Gedenkstätte zu errichten.
Ähnlich war es übrigens bei Hadamar. Wiederum waren es die GRÜNEN, die darauf hingewiesen haben, die uns das schlechte Gewissen gebracht haben. Dann kam der Haushaltsausschuß. Nicht etwa die Bundesregierung hat gesagt: Gib uns Geld, liebes Parlament. Nein, der Haushaltsausschuß hat gesagt: Liebe Bundesregierung, verdammt nochmal, gib Geld für diese Verpflichtung aus. Wenn wir das Thema „Hadamar" weiter behandeln, sollten wir aus den Untätigkeiten in der Vergangenheit, aus der Zeit der Untätigkeit dieser Bundesregierung, Lehren ziehen.
Ich bitte, daß wir den Antrag betreffend Hadamar überweisen. Ich hoffe, daß wir noch in diesem Bundestag den Rücklauf aus dem Innenausschuß bekommen.
Ich habe nicht ohne Grund gestern darum gebeten, daß es in diesem Zusammenhang keine Verzögerungen bei der Errichtung von Gedenkstätten geben sollte. Ich weiß, daß wir über Gedenkstätten, was das gesamte deutsche Gebiet betrifft, nachdenken müssen. Wir werden auch in den neuen Bundesländern Gedenkstätten brauchen. Aber ich möchte nicht, daß wir wieder vertagen, daß wir wieder zurückstellen, daß wir wieder „z. d. A. " geben. Das darf nicht sein!
Ein letzter Punkt: Wir haben einen dritten Antrag. Frau Vollmer, ich bin nicht sicher, ob ich für diesen Antrag mit dem gleichen Engagement sprechen kann. Ich sage nur zu, daß wir ihn gründlich prüfen werden.
Ich bitte darum, daß der Bundestag heute dem Antrag des Innenausschusses folgt und das Vorhaben in Salzgitter-Drütte unterstützt, damit dort endlich etwas geschieht.
Wenn die Anträge überwiesen werden, bitte ich, daß der Innenausschuß, was Hadamar betrifft, noch in dieser Wahlperiode Klartext redet.
Wir müssen uns unserer Verantwortung bewußt sein, anders als es bisher von seiten der Bundesregierung geschehen ist.
Danke.

(Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122620300
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Herr Carstens.

Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1122620400
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat nicht vorgesehen gewesen, daß ich hierzu das Wort ergreife. Ich bin durchaus der Ansicht, daß man das Thema noch einmal im Ausschuß vertiefen kann. Aber ich will doch sagen, daß die Aussichten, die Behandlung dieses Themas mit
Erfolg abschließen zu können, nicht so schlecht sind, wie hier der Eindruck erweckt wurde.
Der Haushaltsausschuß hat vor etwa einem Dreivierteljahr dieses Thema behandelt; ich war selbst dabei. Er hat zum Ausdruck gebracht, daß er sich imstande sehe, auch Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, wenn es ein unter den Beteiligten — oder wie auch immer er sich ausgedrückt hat — abgestimmtes Konzept gebe.
Wir haben ja bislang mit der Schwierigkeit zu kämpfen gehabt, daß sich die Peine-Salzgitter AG nicht in der Lage gesehen hat, die Zustimmung für die Errichtung eines Denkmals, eines Museums, einer Gedenkstätte auf dem Werksgelände — da, wo das eigentlich errichtet werden sollte — zu erteilen. Nun scheint sich abzuzeichnen — mehr kann ich nicht sagen — , daß man an anderer Stelle, wo ebenfalls ein Lager gewesen ist, zu einer solchen Lösung kommen könnte. Wenn das bestätigt wird, wenn wir das als ein unter den Beteiligten abgestimmtes und beschlossenes Konzept bezeichnen können, sehe ich durchaus die Chance der Realisierung. Das sollten wir bis zur Ausschußsitzung klären können. Dann sehen wir weiter.
Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1122620500
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt zu Tagesordnungspunkt 8 a und b die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 11/7329 und 11/7754 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Beim Tagesordnungspunkt 8 c lasse ich zunächst über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 11/6517, und zwar in der geänderten Fassung, abstimmen.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Was heißt denn „geänderte Fassung"?)

— Es ist wohl unter den Obleuten abgesprochen worden, den zweiten Absatz der Beschlußempfehlung folgendermaßen zu formulieren:
Er bittet die Bundesregierung, dazu in geeigneter Weise als ehemaliger Eigentümer der Stahlwerke Peine-Salzgitter AG tätig zu werden.
Das Wort „ehemaliger" wird eingefügt.

(Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Das muß an mehreren Stellen eingefügt werden!)

— Dies gilt also für all die Stellen, an denen die Änderung erfolgen müßte.
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/786 in der geänderten Ausschußfassung anzunehmen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung so angenommen worden.



Vizepräsident Westphal
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes
— Drucksache 11/391 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (13. Ausschuß)

— Drucksache 11/7928 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Link (Diepholz)

b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/
Berichterstatter: Abgeordnete

(Erste Beratung 149. Sitzung)

Interfraktionell ist vereinbart worden, die Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die dafür erforderliche Mehrheit vorhanden, und es ist so beschlossen. *)
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes in der Ausschußfassung. Das sind die Drucksachen 11/391 und 11/7928.
Ich rufe Art. 1 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 11/7929 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion der GRÜNEN ist der SPD-Änderungsantrag von den Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Wer für Art. 1 in der Ausschußfassung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist Art. 1 in der Ausschußfassung gegen die Stimmen von SPD und GRÜNEN angenommen.
Ich rufe die Art. 1 a bis 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Mit der gleichen Mehrheit sind diese Vorschriften angenommen worden. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Gesetzentwurf mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
*) Anlage 4
Ich rufe nun Zusatzpunkt 11 zur Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Frau Augustin, Dr. Blank, Börnsen (Bönstrup), Breuer, Clemens, Fischer (Hamburg), Fuchtel, Ganz (St. Wendel), Glos, Harries, Herkenrath, Hinsken, Hörster, Krey, Dr. Laufs, Lenzer, Lintner, Louven, Lummer, Magin, Müller (Wesseling), Nelle, Neumann (Bremen), Pesch, Frau Rönsch (Wiesbaden), Rossmanith, Schemken, Dr. Stark (Nürtingen), Tillmann, Zeitlmann und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hirsch, Lüder, Richter, Baum, Kleinert (Hannover), Irmer, Funke, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts
— Drucksache 11/7834 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuß)

— Drucksache 11/7935 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Dr. Sonntag-Wolgast Meneses Vogl
Fellner
Dr. Hirsch

(Erste Beratung 224. Sitzung)

Auch hier, meine Damen und Herren, ist interfraktionell vereinbart worden, die Redebeiträge zu Protokoll zu geben. Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist das mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen. *)
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts, Drucksache 11/7834 und 11/7935. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich rufe Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der SPD- Fraktion angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Gesetzentwurf ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der SPD angenommen worden.
*) Anlage 5



Vizepräsident Westphal
Ich rufe die Zusatzpunkte 8 und 9 der Tagesordnung auf:
ZP8 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Beteiligung der Soldaten und der Zivildienstleistenden (Beteiligungsgesetz — BG)

— Drucksachen 11/7323, 11/7550 —
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß (federführend)

Innenausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
ZP9 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Personalvertretungsgesetzes und anderer Vorschriften
— Drucksache 11/7471 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend) Verteidigungsausschuß
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Beiträge zu diesen Punkten zu Protokoll zu geben. Sind Sie auch mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen. *)
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Druckachen 11/7323, 11/7550 und 11/7471 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Damit sind wir am Schluß unserer heutigen langen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 21. September 1990, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.