Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Frau Kollegin Conrad hat am 31. Mai 1990 auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als ihre Nachfolgerin hat Frau Abgeordnete Kugler am 1. Juni 1990 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Sehr verehrte Frau Kollegin, ich begrüße Sie herzlich und wünsche Ihnen alles Gute in diesem Hause.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunkteliste aufgeführt:1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ewen, Faße, Büchner , Buschfort, Egert, Graf, Haack (Extertal), Heistermann, Hiller (Lübeck), Kißlinger, Dr. Klejdzinski, Kolbow, Dr. Kübler, Leidinger, Müller (Pleisweiler), Müller (Schweinfurt), Müntefering, Dr. Niehuis, Opel, Reimann, Reuter, Scherrer, Schutz, Seidenthal, Dr. Skarpelis-Sperk, Stiegler, Terborg, Tietjen, Wimmer (Neuötting), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD: Reisen und Behinderte — Drucksache 11/7425 —2. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz über die neunzehnte Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz sowie zur Änderung weiterer sozialrechtlicher Vorschriften (KOV-Anpassungsgesetz 1990 — KOVAnpG 1990) — Drucksachen 11/6760, 11/7079, 11/7343, 11/7402 —3. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Energiegesetzes — Drucksache 11/7322 —4. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deutsche Stiftung Umwelt" — Drucksachen 11/6931, 11/7208 —Zugleich soll von der Frist für den Beginn der Beratung, soweit erforderlich, abgewichen werden.Darüber hinaus ist interfraktionell vereinbart worden, Punkt 1 f der Tagesordnung später aufzurufen und die Punkte 9 c bis e der Tagesordnung zusammen mit Punkt 2 der Tagesordnung ohne Beratung aufzurufen.Des weiteren besteht interfraktionelles Einvernehmen, die bereits überwiesenen Gesetzentwürfe zurÄnderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes auf den Drucksachen 11/7103 und 11/7193 zusätzlich dem Verteidigungsausschuß zur Mitberatung zu überweisen. — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann haben wir das beschlossen.Ich rufe Punkt 1 a bis 1 e sowie 1 g bis 1 n der Tagesordnung auf:Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik— Drucksache 11/7350 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß Deutsche Einheit
Auswärtiger AusschußInnenausschußSportausschußRechtsausschußFinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung VerteidigungsausschußAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für VerkehrAusschuß für Post und TelekommunikationAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauAusschuß für innerdeutsche BeziehungenAusschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Bildung und WissenschaftAusschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GOb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Wirtschaftsplan des ERPSondervermögens für das Jahr 1990
— Drucksache 11/7320 —
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16984 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Vizepräsidentin RengerÜberweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauAusschuß für innerdeutsche BeziehungenAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GOc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Änderung vom 19. Januar 1989 des Übereinkommens vom 3. September 1976 über die Internationale Seefunksatelliten-Organisation
— Drucksache 11/6554 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Post und Telekommunikation
Auswärtiger Ausschußd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluß der Generalversammlung des Internationalen Ausstellungsbüros vom 31. Mai 1988 zur Änderung des Abkommens über Internationale Ausstellungen vom 22. November 1928— Drucksache 11/7188 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschafte) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anderung des Gesetzes über den Deutschen Wetterdienst— Drucksache 11/7100 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitg) Erste Beratung des von den Abgeordneten Glos, Spilker, Dr. Meyer zu Bentrup, Dr. Daniels , Dr. Faltlhauser, Dr. Fell, Jung (Lörrach), Dr. Grünewald, Frau Dr. Hellwig, Schulhoff, Uldall, Dr. Vondran, Frau Will-Feld, Dr. Schroeder (Freiburg) und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Feldmann, Gattermann, Rind, Dr. Solms, Dr. Hitschler, Grünbeck, Zywietz und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Bausparkassen— Drucksache 11/7424 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebauh) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Knabe, Volmer und der Fraktion DIE GRÜNENSofortmaßnahmen zum Schutz der Penan vor den katastrophalen Folgen des kommerziellen Holzeinschlags auf Sarawak— Drucksache 11/7114 — Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Wirtschaft
Auswärtiger AusschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheiti) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kübler, Kolbow, Adler, Bachmaier, Blunck, Dr. Hartenstein, Kastner, Kiehm, Koschnick, Lennartz, Müller , Nagel, Reuter, Schäfer (Offenburg), Schütz, Dr. Soell, Dr. Timm, Dr. Wegner, Weiermann, Weisskirchen (Wiesloch), Dr. Wernitz, Dr. Wieczorek, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDBeendigung der Nutzung des Standortübungsplatzes Viernheimer/Lampertheimer Wald in Hessen— Drucksache 11/7153 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitj) Beratung des Antrags der Abgeordneten Weiermann, Schäfer , Lennartz, Dr. Hartenstein, Adler, Bachmaier, Bernrath, Blunck, Dr. Böhme (Unna), Dr. von Bülow, Conradi, Fischer (Homburg), Gilges, Dr. Hauchler, Kastner, Dr. Kübler, Kiehm, Menzel, Müller (Düsseldorf), Rappe (Hildesheim), Reimann, Reuter, Dr. Schöfberger, Schütz, Stahl (Kempen), Tietjen, Waltemathe, Dr. Wernitz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDBetriebsbeauftragte für Umweltschutz— Drucksache 11/7202 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitk) Beratung des Antrags des Bundesministers der FinanzenEinwilligung in die Veräußerung des Bundesanteils am „Unteren Mundatwald" gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung— Drucksache 11/7144 —Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß1) Beratung des Antrags des Präsidenten des BundesrechnungshofesRechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1989 — Einzelplan 20 —— Drucksache 11/7316 —Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschußm) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Schilling, Frau Schoppe und der Fraktion DIE GRÜNEN
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 16985
Vizepräsidentin RengerZur Schließung des Luft-Boden-Übungsplatzes „Nordhorn-Range"— Drucksache 11/6866 —Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuß Auswärtiger Ausschußn) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oostergetelo, Dr. Däubler-Gmelin, Andres, Börnsen , Bulmahn, Dr. Emmerlich, Ewen, Faße, Dr. Gautier, Götte, Graf, Haack (Extertal), Dr. Hauchler, Heistermann, Hiller (Lübeck), Kiehm, Koltzsch, Kühbacher, Müller (Pleisweiler), Niehuis, Pauli, Rixe, Dr. Sonntag-Wolgast, Sielaff, Scherrer, Schmidt (Salzgitter), Schütz, Dr. Struck, Terborg, Tietjen, Waltemathe Schließung des Luft-Boden-Übungsplatzes „Nordhorn-Range"— Drucksache 11/7264 —Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuß Auswärtiger AusschußInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Kein Widerspruch. Auch dies ist so beschlossen.Ich rufe die Punkte 2 sowie die Punkte 9 c bis 9 e der Tagesordnung auf:2. Beratungen ohne Aussprachea) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 1. Dezember 1987 über die wasserwirtschaftliche Zusammenarbeit im Einzugsgebiet der Donau— Drucksache 11/6943 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 11/7380 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Friedrich
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Ernährungssicherstellungsgesetzes— Drucksache 11/6156 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 11/7403 —Berichterstatter:Abgeordneter Sauter
c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ernährungsvorsorgegesetzes
— Drucksache 11/6157 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 11/7404 —Berichterstatter:Abgeordneter Sauter
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses
zu dem Antrag der Fraktion der SPDAufstockung des Härtefonds für Nationalgeschädigte beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationenzu der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht über Härtefonds für Nationalgeschädigte beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen— Drucksachen 11/4841, 11/6287, 11/7044 —Berichterstatter:Abgeordnete Frau Dr. Wisniewski LambinusLüderSuche) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu dem Antrag der Fraktion der SPDTransporte gefährlicher Güter durch Militärfahrzeuge— Drucksachen 11/1379, 11/7132 —Berichterstatter: Abgeordneter Richterf) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Abgeordneten Susset, Michels, Eigen, Bayha, Carstensen (Nordstrand), Herkenrath, Kalb, Kroll-Schlüter, Niegel, Sauter (Epfendorf), Schartz (Trier), Freiherr von Schorlemer, Dr. Schwörer, Borchert, Fellner, Fuchtel, Dr. Göhner, Seesing, Freiherr Heereman von Zuydtwyck, Dr. Kunz (Weiden), Dr. Meyer zu Bentrup, Scheu, Frau Schmidt (Spiesen), Schmitz (Baesweiler), Frau Will-Feld und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paintner, Heinrich, Bredehorn und der Fraktion der FDPzum Getreidepreis— Drucksachen 11/6472, 11/7203 —Berichterstatter: Abgeordneter Pfuhlg) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
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16986 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Vizepräsidentin RengerVorschlag für eine Verordnung des Rates mit veterinärrechtlichen Vorschriften für die Beseitigung, Verarbeitung und Vermarktung von tierischen Abfällen sowie zum Schutz von Futtermitteln gegen Krankheitserreger— Drucksachen 11/6285 Nr. 2.5, 11/7210 —Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Weyelh) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Verordnung des Rates über die Veterinärbedingungen für den innergemeinschaftlichen Handel mit frischem Fleisch von Geflügel und Zuchtfederwild und für die Einfuhr dieses Fleisches aus Drittländern— Drucksachen 11/6285 Nr. 2.6, 11/7225 —Berichterstatter: Abgeordneter Häuseri) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 987/68 zur Festlegung der Grundregeln für die Gewährung einer Beihilfe für Magermilch, die zu Kasein und Kaseinaten verarbeitet worden ist— Drucksachen 11/6629 Nr. 2.5, 11/7265 —Berichterstatter: Abgeordneter Schartz
j) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Siebenundsechzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung —— Drucksachen 11/6759, 11/7181 —Berichterstatter: Abgeordneter Kittelmannk) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Sechste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung— Drucksachen 11/6853, 11/7341 —Berichterstatter: Abgeordneter Kittelmann1) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Einhundertelfte Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste — Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz —— Drucksachen 11/6954, 11/7342 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Gautierm) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungWeitere außerplanmäßige Ausgabe und außerplanmäßige Verpflichtungsermächtigung im Haushaltsjahr 1990 bei Kapitel 60 04 apl. Titel 885 01— Aufstockung des ERP-Sondervermögens zugunsten der DDR und ERP-Wirtschaftsplan apl. Kapitel 6 Titel 868 01— Finanzierungshilfen für Investitionen in der DDR und Berlin —— Drucksachen 11/6887, 11/7296 —Berichterstatter:Abgeordnete Roth Frau Seiler-AlbringDr. StruckFrau Vennegerts9. c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung— Drucksache 11/6939 —Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses
— Drucksache 11/7307 —Berichterstatter:Abgeordnete Roth Frau Seiler-AlbringWieczorek
Frau Vennegerts
d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes— Drucksache 11/6940 —Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses
— Drucksache 11/7308 —Berichterstatter:Abgeordnete Roth Frau Seiler-AlbringWieczorek
Frau Vennegerts
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 16987
Vizepräsidentin Rengere) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Esters, Dr. Däubler-Gmelin, Matthäus-Maier, Kühbacher, Horn, Conrad, Diller, Jungmann , Nehm, Purps, Sieler (Amberg), Dr. Struck, Waltemathe, Walther, Dr. Wegner, Wieczorek (Duisburg), Zander, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs einesVierten Gesetzes zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung— Drucksache 11/5009 —Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses
— Drucksache 11/7309 —Berichterstatter:Abgeordnete Roth ZywietzWieczorek
Frau Vennegerts
Wir kommen zur Abstimmung über Punkt 2 a der Tagesordnung, und zwar über den Vertragsentwurf der Bundesregierung über die wasserwirtschaftliche Zusammenarbeit im Einzugsgebiet der Donau auf den Drucksachen 11/6943 und 11/7380. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist mit großer Mehrheit bei Enthaltung der GRÜNEN angenommen.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über Punkt 2 b der Tagesordnung, und zwar über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Ernährungssicherstellungsgesetzes auf den Drucksachen 11/6156 und 11/7403. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift mit den vom Ausschuß empfohlenen Änderungen auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN mit der Mehrheit der übrigen Fraktionen angenommen.Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN mit der Mehrheit der übrigen Fraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 2 c: Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ernährungsvorsorgegesetzes, Drucksachen 11/6157 und 11/7404. Ich rufe die §§ 1 bis 18, Einleitung und Überschrift mit den vom Ausschuß empfohlenen Änderungen auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung derGRÜNEN ist der Gesetzentwurf angenommen. Die zweite Beratung ist damit abgeschlossen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf. Wer dem Gesetzentwurf im ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist mit der selben Mehrheit bei Enthaltung der GRÜNEN angenommen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 2 d, zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 11/7044. Es handelt sich um Vorlagen zum Härtefonds für Nationalgeschädigte beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Tagesordnungspunkt 2 e: Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr auf der Drucksache 11/7132. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1379 für erledigt zu erklären. Wird dieser Beschlußempfehlung zugestimmt? — Das ist der Fall.Tagesordnungspunkt 2 f: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 11/7203. Der Ausschuß empfiehlt, dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 11/6472 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dem wird bei Enthaltung der GRÜNEN mit großer Mehrheit zugestimmt.Tagesordnungspunkt 2 g: Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf der Drucksache 11/7210 zu einer Vorlage der Europäischen Gemeinschaften. Es handelt sich um veterinärrechtliche Vorschriften. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Beschlußempfehlung haben alle zugestimmt.Tagesordnungspunkt 2 h: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 11/7225 zu einer weiteren Vorlage der Europäischen Gemeinschaften. Es handelt sich um Veterinär-b edingungen für den innergemeinschaftlichen Handel. Wer stimmt dem zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist mit allen Stimmen des Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 2 i: Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf der Drucksache 11/7265. Es handelt sich um die Beihilfe für Magermilch. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen.Tagesordnungspunkt 2 j bis 21: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Wirtschaft auf den Drucksachen 11/7181, 11/7341 und 11/7342. Es handelt sich hierbei um Verordnungen der Bundesregierung zur Außenwirtschaftsverordnung und zur Änderung der Ein-
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16988 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Vizepräsidentin Rengerfuhrliste. Die Beschlußempfehlungen sind im Ausschuß einstimmig verabschiedet worden. Ich lasse daher über die Vorlagen gemeinsam abstimmen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen auf den Drucksachen, die ich gerade aufgerufen habe? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind angenommen.Tagesordnungspunkt 2 m: Wir stimmen ab über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 11/7296. Es geht um das ERP-Sondervermögen und um ERP-Wirtschaftsplanhilfen für die DDR. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit angenommen.Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 9 c, zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung, Drucksachen 11/6939 und 11/7307. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer dem zuzustimmen wünscht, bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN sind diese Vorschriften angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf im ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Bei Enthaltung der GRÜNEN ist der Gesetzentwurf angenommen.Tagesordnungspunkt 9 d: Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes auf den Drucksachen 11/6940 und 11/7308. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer diesen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN ist der Gesetzentwurf angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf im ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN ist der Gesetzentwurf angenommen.Tagesordnungspunkt 9 e: Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung auf den Drucksachen 11/5009 und 11/7309. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/7309 die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion der SPD.Auch in diesem Fall ist nach ständiger Praxis über die Ursprungsvorlage abzustimmen. Deswegen rufe ich jetzt die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften entgegen der Ausschußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt. Deshalb unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 a bis 3 c auf:a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zum Antrag der Abgeordneten Lenzer, Maaß, Engelsberger, Gerstein, Dr. Götz, Hauser (Esslingen), Linsmeier, Magin, Dr. Neuling, Dr. Rüttgers, Seesing, Dr. Voigt (Northeim) und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr.-Ing. Laermann, Kohn, Neuhausen, Dr. Thomae, Timm und der Fraktion der FDPNaturmedizin erforschen und anwenden— Drucksachen 11/1960, 11/6372 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Voigt Frau BulmahnTimmWetzelb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zum Antrag der Abgeordneten Dr. Scheer, Vosen, Dr. Hauff, Roth, Jung (Düsseldorf), Andres, Bachmaier, Dr. Böhme (Unna), Börnsen (Ritterhude), Frau Bulmahn, Catenhusen, Fischer (Homburg), Frau Ganseforth, Grunenberg, Frau Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Lennartz, Lohmann (Witten), Nagel, Meyer, Müller (Düsseldorf), Reschke, Reuter, Seidenthal, Frau Simonis, Schäfer (Offenburg), Schreiner, Stahl (Kempen), Stiegler, Vahlberg, Dr. Klejdzinski, Dr. Soell, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDForschungs- und Entwicklungsprogramm Solarenergie und Wasserstoff— Drucksachen 11/1175, 11/6857, 11/7392 —Berichterstatter:Abgeordnete Engelsberger Dr. ScheerDr.-Ing. LaermannDr. Daniels
c) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungFaktenbericht 1990 zum Bundesbericht Forschung 1988— Drucksache 11/6886 —
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 16989
Vizepräsidentin RengerÜberweisungsvorschlag:Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung VerteidigungsausschußAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitDer Ältestenrat hat für die gemeinsame Beratung 90 Minuten vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. — Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zuerst der Herr Abgeordnete Lenzer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist für mich natürlich eine sehr schwierige Aufgabe, von diesen Tagesordnungspunkten — wir haben uns vorher u. a. mit der Magermilchbeihilfe beschäftigt — überzuleiten. Ich glaube aber, wir sind wie üblich in einem elitären Kreis, der es gewohnt ist, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen.Ich möchte, von diesen drei Punkten nur zu einem einzigen Punkt einige Bemerkungen machen, nämlich zum Faktenbericht. Ich bin der Auffassung, daß dieser Bericht der Bundesregierung, der uns vorliegt, wegen seiner Aktualität — er ist von 1990 — nicht nur eine nüchterne Zahlenbilanz ist, sondern in gleicher Weise auch eine eindrucksvolle Erfolgsbilanz der CDU/CSU-FDP-gestützten Bundesregierung und nicht zuletzt auch des Forschungsministers, unseres Kollegen Dr. Riesenhuber.
Wir können heute feststellen, daß sich viele pessimistische Stimmen Anfang der 80er Jahre, was die Forschung und die technologische Entwicklung betrifft, nicht bewahrheitet haben. In dieser letzten Dekade sind entscheidende Durchbrüche erzielt worden. Es geht mir dabei nicht allein um die Fortschritte etwa im Bereich der Verbreitung und Anwendung der Mikroelektronik oder der zunehmenden Vernetzung und Zusammenführung der verschiedenen Technologien, z. B. der Informationstechnik und der Fertigungstechnik, die für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Maschinenbauindustrie sehr wichtig waren. Es geht vielmehr auch darum, daß die Innovationszyklen im allgemeinen wesentlich schneller geworden sind und daß die Hochtechnologieprodukte mittlerweile einen höheren Anteil an der gesamten volkswirtschaftlichen Wertschöpfung haben. Darauf haben wir zu reagieren.Wir können auch mit Befriedigung feststellen, daß die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1987 — das sind die letzten verläßlichen Zahlen, die nicht auf Schätzungen beruhen — auf dem Weltmarkt bei den Hochtechnologieprodukten einen sehr guten Anteil hatte — etwa 20,6 % —, und zwar leicht vor Japan und eine ganze Ecke vor den USA.Neben diese Konkurrenz auf der einen Seite tritt auf der anderen Seite auch etwas, das wir in den letzten Jahren besonders beobachten können, nämlich die zunehmende Kooperation in Forschung und Technologie zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, aber auch international zwischen großen sowie kleinen und mittleren Unternehmen, so daß man sagen könnte: Die Forschungs- und Technologiepolitik, die Forschung und Technologie und die Wirtschaft generell der westlichen Industrieländer haben eine neue Dimension erreicht. Sie sind dafür gerüstet, sich den Herausforderungen der 90er Jahre zu stellen. Dabei werden sie es zunehmend mit neuen Schlüsseltechnologien zu tun haben. Ich denke nur z. B. an die Informationstechnik, an die Biotechnologie, aber auch an neue Materialien.Die Bundesrepublik Deutschland — das ist die erste Feststellung, die ich jetzt treffen möchte — hat im internationalen Vergleich der Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen weiterhin eine Spitzenstellung. Wenn wir es mit dem Bruttoinlandsprodukt vergleichen, so stellen wir fest, daß wir für das Jahr 1989 bei 2,9 % liegen. Das kann sich sehen lassen, was aber nicht heißt, daß es nicht noch ausbaufähig wäre.Zweitens. In den 80er Jahren ist eine sehr hohe Steigerung der Forschungs- und Entwicklungsausgaben zu verzeichnen gewesen. Das Forschungsbudget der Bundesrepublik Deutschland ist in diesem Zeitraum auf 66,7 Milliarden DM angewachsen. Dieses ist ein erheblicher Zuwachs, nämlich um ganz genau 77 gegenüber dem Jahre 1981.Drittens. Das Entscheidende ist — das entspricht auch unserem Selbstverständnis —, daß sich die Wirtschaft mittlerweile bei der Finanzierung der Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen zu zwei Dritteln beteiligt. Die Wirtschaft baut also ihren Finanzierungsanteil am FuE-Budget zügig aus. Auch bei der Durchführung der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten ist der Anteil der Wirtschaft mittlerweile auf 71 % gestiegen. Ich glaube, es ist in einer sozialmarktwirtschaftlichen Ordnung auch nicht mehr als recht und billig,
daß sich der Staat auf seine ureigenen Aufgaben beschränkt und die Wirtschaft im wohlverstandenen Eigeninteresse hier den Vortritt hat.
Viertens. Auch das Forschungs- und Entwicklungspersonal ist mit den zunehmenden Aufgaben gewachsen. 1987 waren etwa 420 000 Menschen in Forschung und Entwicklung beschäftigt. Das ist ein Anstieg um 18 000 in nur zwei Jahren. Auch von daher sind wir gut auf die zukünftigen Aufgaben vorbereitet.Ein besonders starkes Gewicht bei der staatlichen Forschungs- und Technologieförderung hat die Grundlagenforschung. Sie ist ja die ureigene Domäne der Institutionen des Bundes, der Länder, der öffentlichen Hand sozusagen. Der Anteil der Grundlagenforschung an den Gesamtausgaben des Bundes liegt bei etwa 29 %. Der BMFT, der uns natürlich in vielerlei Hinsicht immer in besonderer Weise ans Herz gewachsen ist,
hat hier einen Anteil von genau 38,9 %. Obwohl damitimmer noch nicht alle Wünsche erfüllt werden kön-
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16990 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Lenzernen, können die Träger der Grundlagenforschung in der Bundesrepublik Deutschland damit wirklich sehr zufrieden sein. Dieser hohe Anteil war in der Vergangenheit noch nie zu verzeichnen. Das gilt, was das Aufkommen der Mittel anbetrifft, sowohl für die MaxPlanck-Gesellschaft als auch für die Fraunhofer-Gesellschaft als auch für andere Institutionen.Meine Damen und Herren, als Zukunftsaufgabe sieht die CDU/CSU-Fraktion jetzt z. B. eine verstärkte Förderung der Verbreitung von neuen Schlüsseltechnologien. Wir denken dabei an die Unterstützung der Anwendung, wie das einmal als gutes Beispiel — das möchte ich durchaus sagen — mit dem Programm „Mikroelektronik in kleinen und mittleren Unternehmen der Wirtschaft" zu verzeichnen war. Dazu zählen wir ebenfalls die Demonstrationsprogramme, z. B. das 100-MW-Windenergie-Programm, oder auch die vielfältigen Verbundforschungsprojekte — die sich dadurch auszeichnen, daß sie eine enge Kooperation der Wissenschaft mit der Wirtschaft darstellen, und es gerade auch einem kleinen oder mittleren Unternehmen ohne eigene Forschungs- und Entwicklungskapazität ermöglichen, auf die Erkenntnisse der Wissenschaft zurückzugreifen — bis schließlich hin zu einer Reformierung und Neuordnung des Stiftungsrechtes.Wir freuen uns darüber, daß die Bundesregierung — ich glaube,es ist am 20. April dieses Jahres gewesen — dem Bundesrat einen Gesetzentwurf für eine steuerliche Neuorientierung und Neugestaltung des Stiftungsrechtes zugeleitet hat. Wir wollen uns bemühen, das noch in dieser Legislaturperiode, wie es auch zugesichert war, zu verabschieden.Die Frage, ob wir darüber hinaus über adäquate Instrumentarien verfügen, um unseren staatlichen Beitrag bei Forschung und Entwicklung zu leisten, möchte ich so beantworten: Im Bereich der steuerlichen Forschungs- und Entwicklungsförderung hat es einige Umorientierungen gegeben. Ich hätte es begrüßt — wir hätten das als Fraktion gern gesehen; das sage ich in aller Deutlichkeit —, wenn das sehr erfolgreiche Personalkostenzuschußprogramm oder etwa das Programm „Technologieorientierte Unternehmensgründungen", auch in seiner ursprünglich breit angelegten Fassung, hätte weitergeführt werden können. Ich glaube, das hat sich als sehr erfolgreich erwiesen. Es hat vor allen Dingen unter Beweis gestellt, daß es manchmal viel wichtiger ist, Einstellungen und Qualifizierungen von in Forschung und Entwicklung tätigem Personal zu fördern als das eine oder andere Forschungsprojekt zu unterstützen, dessen Beurteilung im Einzelfall oft sehr große Schwierigkeiten bereitet und was — nebenbei bemerkt — auch immer mit einem erheblichen bürokratischen Aufwand verbunden ist.Aber letztlich können wir sagen, daß die Steuerreform mit ihren drei Stufen in den Jahren 1986, 1988 und 1990 sowie die beabsichtigten Reformen im Bereich der Unternehmensbesteuerung tendenziell dahin führen, daß die Unternehmen aus eigenen Erträgnissen auf Grund der geminderten steuerlichen Belastung ihre Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen finanzieren können.Was die programmatischen Schwerpunkte betrifft, kann man, glaube ich, sagen, daß sie im Rahmen derMöglichkeiten im Bundesministerium für Forschung und Technologie, das eine wichtige Pilotfunktion im Bereich staatlicher Aktivitäten hat, richtig gesetzt sind.
Ich denke an die Biotechnologie und insbesondere an die Gentechnik und ihre Möglichkeiten als Basistechnologie, z. B. allein schon für Diagnose und Therapie im medizinischen Bereich. Ein anderes Beispiel ist die ökologische Forschung; denn Gefahren für die Umwelt müssen zunächst einmal in ihren wissenschaftlichen Wirkungszusammenhängen untersucht und erkannt werden, bevor man sich der Therapie, dem Entwickeln und Bereitstellen der entsprechenden Umweltschutztechnologien z. B. bei der Klimaforschung, bei der Sanierung der Altlasten oder bei Abf allbeseitigung — eine Jahrhundertaufgabe — widmen kann.
Ich möchte auch die Programme der Weltraumforschung in aller Offenheit ansprechen. In diesem Bereich gibt es natürlich erhebliche Finanzierungsrisiken; darüber muß gesprochen werden.
Je größer ein Programm ist — das zeichnet übrigens nicht nur diese Bundesregierung aus, das war bei den Vorgängern genauso —, desto schwieriger ist es, wenn es über einen längeren Zeitraum geht, sich damit insgesamt zu beschäftigen. Hier hat es aber wichtige organisatorische Voraussetzungen gegeben. Ich denke nicht nur an die Umstrukturierung in der deutschen Wirtschaft durch die Schaffung der deutschen Aerospace, sondern auch im quasi staatlichen Bereich durch die Gründung der Deutschen Agentur für Raumfahrtangelegenheiten.
Ich glaube, hier sind gute Voraussetzungen geschaffen worden, um in einer nüchternen und sachgerechten Bewertung auch zu guten Entscheidungen zu kommen. Aber jeder soll wissen, daß das Argument, wegen des besonderen Schwerpunktes der Weltraumforschung werde der gesamte Haushalt gefährdet, nicht zutrifft.Zum Abschluß bleibt also die Feststellung: Natürlich ergeben sich durch die veränderte Ost-West-Situation auch für die Forschungs- und Technologiepolitik neue Herausforderungen. Wir versuchen, ihnen gerecht zu werden, indem wir, gerade was die DDR betrifft, mit unseren Kolleginnen und Kollegen in der Volkskammer, die in diesem Bereich tätig sind, enge Kontakte unterhalten. So wird es heute zum erstenmal eine gemeinsame Ausschußsitzung des Bundestagsausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung und dem zuständigen Ausschuß der Volkskammer geben. Die Arbeitsgruppen der Fraktionen arbeiten bereits seit geraumer Zeit eng zusammen .Wir können allerdings bei der Umstrukturierung der Forschungslandschaft in der DDR nicht die Hand führen. Wir denken auch nicht daran — wie wir es ja auch schon erklärt haben — , mit der Gießkanne durch
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 16991
Lenzerdas Land zu laufen und in jede ausgestreckte Hand entsprechende Beträge hineinzulegen. Die Arbeit muß zunächst einmal in eigener Kompetenz, was etwa die Umorientierung der Akademie der Wissenschaften und der anderen beiden Akademien betrifft, geleistet werden. Wir wollen dazu unseren Beitrag leisten.Insgesamt können wir sagen: Wir haben allen Grund, optimistisch in die Zukunft zu schauen. Das soll uns nicht den Blick vor den Problemen und vor den Herausforderungen verschließen, die sich uns stellen. Aber genauso wie die Pessimisten verstummt sind, die uns Anfang der 80er Jahre einige Horrorszenarien angeboten haben, so wird es auch — dieser festen Überzeugung sind wir — in der Zukunft nicht anders sein. Ich fordere Sie alle auf: Lassen Sie uns gemeinsam an diese Aufgabe herangehen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Bulmahn.
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Die Bundesregierung zeichnet — genauso wie Herr Lenzer in seiner Rede — mit großem Pathos im Faktenbericht 1990 ein geradezu überschwengliches, makelloses Bild von der Entwicklung der bundesdeutschen Ressourcen für Forschung und Technologie in den 80er Jahren.Mit der Realität hat dieses Bild allerdings sehr wenig zu tun. Die Bundesrepublik liegt zwar mit einem Anteil der FuE-Ausgaben in Höhe von 2,9 % am Bruttosozialprodukt gleichauf mit Japan und den USA. Dieser Vergleich verdeckt jedoch, daß die FuE-Aufwendungen von 1981 bis 1987 in den USA um 76,4 und vor allem in Japan um 90,4 % gestiegen sind. Damit sind sie rascher und nachhaltiger als in der Bundesrepublik gestiegen, die einen Anstieg um 60,6 % zu verzeichnen hatte.Hätte die Dynamik der deutschen FuE-Ausgaben mit derjenigen Japans mitgehalten, hätten wir allein 1987 10,6 Milliarden DM mehr für Forschung und Entwicklung ausgeben müssen, als dies tatsächlich der Fall war.Von einer besonders dynamischen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland kann daher überhaupt keine Rede sein. Es gibt gar keinen Grund, sich selbstzufrieden in seinem Sessel zurückzulehnen, Herr Lenzer,
sondern es gibt allen Grund, die FuE-Anstrengungen in der Bundesrepublik zu intensivieren. Dies hat die Bundesregierung in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt. Sie hat die Position der Bundesrepublik als Forschungsland verschlechtert.
— Die Zahlen stammen von Herrn Probst und Herrn Minister Riesenhuber.
— Da müssen Sie Ihre eigenen Kollegen fragen.Die Bundesregierung hat die Haushaltsaufwendungen für Forschung und Entwicklung von 1982 bis 1988 mit 14,7 % völlig unzureichend gesteigert. Real — unter Zugrundelegung der FuE-Preisindices der EG für die Bundesrepublik — gingen die FuE-Ausgaben des Bundes um 7,3 %, die zivilen sogar um 11,7 % zurück. Jede neunte D-Mark — meine Damen und Herren, das sollten Sie sich hinter die Ohren schreiben: jede neunte Mark! — hat diese Bundesregierung innerhalb von nur sechs Jahren im Forschungs- und Entwicklungsbereich weggespart. Die Hymnen des Faktenberichts auf die herausragende Bedeutung von Forschung und Entwicklung für die Behauptung im internationalen Wettbewerb, für die Lösung der drängenden ökologischen Fragen und die Verbesserung der Lebensbedingungen entpuppen sich angesichts dieser Zahlen als bloße Lippenbekenntnisse.
Weltweit häufen sich die alarmierenden Klimasignale. Und was tut die Bundesregierung? Sie streicht ausgerechnet die Mittel für die Erforschung der erneuerbaren Energien und der Energieeinspartechniken zusammen. 637,7 Millionen DM hat die Bundesregierung allein im Zeitraum von 1983 bis 1988 in diesem Förderschwerpunkt gegenüber dem Ausgabenniveau von 1982 eingespart.Was nützt es, Herr Riesenhuber, wenn Sie im gleichen Zeitraum die Mittel für die Klimaforschung um 120 Millionen DM erhöhen? Wir müssen jetzt handeln und können nicht warten, bis die Ozonschicht zerstört und der Treibhauseffekt unumkehrbar ist.Was sind Ihnen eigentlich die Menschen in diesem Lande wert? Wenn ich mich diesen Zahlen zuwende, ist das Bild noch erschreckender. Ganze 0,9 % des Forschungshaushaltes werden für die Humanisierung der Arbeitswelt zur Verfügung gestellt, 3,7 % für die Gesundheitsforschung, 0,7 % für die Ernährungsforschung und 0,8 % für die Bildungsforschung, aber 22,7 % für die Rüstungsforschung und 15,5 % für die Luftfahrt- und Weltraumforschung.Die Menschen mit ihren Problemen sind in Ihrem Haushalt, Herr Minister Riesenhuber, nur noch ein störender Restfaktor.
Von einem Gleichgewicht ökologischer, sozialer und ökonomischer Ziele ist in Ihrem Faktenbericht, in Ihrer Politik nichts, aber auch gar nichts zu spüren.Die angebliche Konzentration der staatlichen FuEMittel auf die Vorsorgeforschung findet durch die im Faktenbericht vorgelegten Zahlen keine Bestätigung. Mißt man den Zuwachs der als Vorsorgeforschung zusammengefaßten FuE-Bereiche an dem anderer Bereiche, so fällt er eher kläglich aus. Während nämlich die Anteile der Rüstungsforschung und der Weltraumforschung am Forschungshaushalt von 1982 bis 1988 um 47,2 % bzw. 38,7 % stiegen, mußte sich die Vorsorgeforschung mit einem Anstieg von 12,3 % begnügen.Die Aufwendungen für die Vorsorgeforschung sind aber nicht nur in quantitativer Hinsicht völlig unzureichend; sie werden auch den Ansprüchen einer tat-
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16992 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Frau Bulmahnsächlichen Vorsorgepolitik nicht gerecht. Die Bundesregierung verfolgt keine Strategie der vorausschauenden Vermeidung von Technikrisiken durch Technikgestaltung. Sie beschränkt sich weitgehend auf eine nachträgliche Beseitigung von Technikfolgen, auf Reparaturforschung und auf die Förderung von End-ofPipe-Technologien.Immer dann, wenn es an das Handeln geht, wenn es an die Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse geht, ist die Forschungspolitik am Ende der Fahnenstange angekommen.
So sorgt die Bundesregierung weder dafür, daß die Ergebnisse der Humanisierungsforschung im Alltag durchgesetzt werden, noch nutzt sie die Umweltforschung zur Begründung und Ausgestaltung einer wirksamen Umweltpolitik.
Die Vernachlässigung der Vorsorgeforschung geht einher mit einer Vergeudung der öffentlichen Mittel für Sackgassentechnologien.
Gut siebeneinhalbmal so viel für die Kernenergie wird von Ihnen ausgegeben wie für die Erforschung erneuerbarer Energiequellen und die rationale Energieverwendung;
siebenmal so viel für Spaziergänge im All wie für die Bewältigung der Verkehrsprobleme auf der Erde; fünfeinhalbmal so viel für die Entwicklung neuer Waffen wie für die Bewahrung unserer Lebensgrundlagen.Thematisiert oder begründet wird diese forschungspolitisch verfehlte Prioritätensetzung nirgendwo im Faktenbericht. Statt dessen tut die Bundesregierung alles, um das Ausmaß dieser beispiellosen und unverantwortlichen Verschwendung zu verschleiern.Wie, Herr Minister Riesenhuber, ist es zu erklären, daß der Finanzplan für das laufende Jahr Ausgaben für die Kernforschung in Höhe von 2,16 Milliarden DM ausweist, im Faktenbericht aber gerade 40 % dieser Summe erscheinen, nämlich 883,3 Millionen DM? Wo, Herr Minister, haben Sie die restlichen Beträge versteckt? Halten Sie es etwa für redlich, die Ausgaben für das neu errichtete Bundesamt für Strahlenschutz ausgerechnet dem Förderschwerpunkt „Ökologische Forschung" zuzuschlagen? Warum buchen Sie die Mittel für „Sanger" nicht im Förderbereich „Weltraumforschung und Weltraumtechnik" ab, sondern bei der Luftfahrtforschung? Warum, Herr Minister Riesenhuber, läßt der Faktenbericht die Öffentlichkeit über den tatsächlichen Umfang der Rüstungsforschung im unklaren und gibt für 1990 Ausgaben in Höhe von 3,4 Milliarden DM an, wohingegen die gerade eingegangene Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion zeigt, daß sie bei mindestens 4,4 Milliarden DM liegen?Selbst wenn man sich auf die im Faktenbericht ausgewiesenen Zahlen für die Rüstungsforschung beschränkt, wird deutlich, in welchem Ausmaß die Bundesregierung die Schwerpunkte in der Forschungsförderung zugunsten der militärischen Forschung verschoben hat. 79 % der im Zeitraum von 1983 bis 1988 über das Niveau von 1982 verausgabten Mittel flossen in die Rüstungsforschung. Im laufenden Jahr sollen die Ausgaben mit 3,4 Milliarden DM um rund 200 % über dem Stand von 1982 liegen.Die Versöhnung von Natur und Technik, meine Herren und Damen, und die Schaffung einer ökologischen Kreislaufwirtschaft sind die zentralen Herausforderungen unserer Zeit. Auf diese Herausforderungen müssen wir unsere Anstrengungen konzentrieren. Aber davon findet sich in Ihrer Politik nicht viel wieder.Was ebenfalls fehlt, ist die Einbindung der Forschungspolitik in ein Gesamtkonzept zur ökologischen und sozialen Erneuerung unserer Industriegesellschaft.
Sie versäumen die Mobilisierung marktwirtschaftlicher Kräfte für die ökologische Erneuerung unserer Industriegesellschaft. Warum eigentlich? Haben Sie so wenig Vertrauen in die Innovationsfähigkeit unserer Wirtschaft? — Ich bin da etwas optimistischer.Bei der Förderung von Forschung und Entwicklung in der gewerblichen Wirtschaft sind Sie völlig perspektivlos. Es fehlt die langfristige Orientierung, der lange Atem, und den braucht man gerade in der Forschungspolitik. Entgegen allem Phrasendreschen von der Subsidiarität der Forschungspolitik, der Konzentration auf die Rahmenbedingungen und der angeblich besonderen Förderung des Mittelstandes subventioniert die Bundesregierung vor allem anwendungsbezogene Großprojekte mit geringen Spin-off-Effekten und vernachlässigenswerter volkswirtschaftlicher Breitenwirkung.Diese Politik, meine Herren und Damen, ist wettbewerbsverzerrend, da sie einseitig einige Großunternehmen begünstigt. Sie ist zudem innovationshemmend, da Sie hauptsächlich solche Projekte fördern, die wenig aussichtsreich sind oder ohnehin durchgeführt werden.Ausgerechnet bei den Klein- und Mittelbetrieben haben Sie, meine Herren und Damen von den Regierungsparteien, zum Kahlschlag angesetzt.
Während der Stuttgarter Stern nämlich jährlich mehr als 2 Milliarden DM an Forschungsmitteln erhält, soll die Forschungsförderung für die Klein- und Mittelbetriebe von 1982 noch 830,8 Millionen DM auf in diesem Jahr 678 Millionen DM und 1993 sogar auf 389,1 Millionen DM zusammengestrichen werden.
„Stärkung von Forschung und Entwicklung in kleinen und mittleren Unternehmen" heißt das dann schlicht und ergreifend im Faktenbericht. „Verhinderung von Forschung" sollte es besser heißen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 16993
Frau BulmahnVerzerrt und beschönigt wird in dem Faktenbericht auch die Entwicklung der Hochschulforschung. Wenn es darin heißt, die Hochschulen hätten ihre Position verbessert und seien bevorzugt behandelt worden, so steht dies in krassem Gegensatz zu dem tatsächlichen Trend. Von 1981 bis 1989 verringerte sich der Anteil der Hochschulen an den Gesamtausgaben in der Bundesrepublik für FuE um 15,5 %. Die Hochschulen verzeichneten nur noch einen Zuwachs der institutionellen Fördermittel des Bundes von 11,1 %, die Großforschungseinrichtungen dagegen einen Zuwachs von 36,6 %. Von bevorzugter Behandlung also keine Spur!Vernachlässigt haben Sie auch die Förderung der freien, erkenntnisorientierten und nicht an politische und wirtschaftliche Vorgaben gebundenen Grundlagenforschung. Es ist richtig, Herr Lenzer, daß die Ausgaben für Grundlagenforschung insgesamt gestiegen sind.
Aber die Förderung der freien Grundlagenforschung an Hochschulen und Trägerorganisationen nahm an diesem Zuwachs nur unterproportional teil.
Ihr Anteil an den für die Grundlagenforschung bereitgestellten Mitteln sank drastisch von 40,3 % auf 33,2 %. Die wachsende Bedeutung der Grundlagenforschung im Forschungshaushalt ist mithin kein Zeichen besonderer Wissenschaftsfreundlichkeit. Wenn mit 62,9 % die Ausgaben für die Grundlagenforschung in keinem Bereich so stark wie bei der Technologie- und Innovationsförderung gestiegen sind, so ist dies ein Indiz für die Verwischung der Trennung zwischen angewandter und Grundlagenforschung.So notwendig der Ausbau der Grundlagenforschung in ökonomisch orientierten branchenübergreifenden Technologien ist, so problematisch sind die Festlegung der Grundlagenforschung auf wenige Großprojekte und die Verengung auf politische und wirtschaftliche Ziele.
Sie bergen eine große Gefahr in sich. Der nötige Freiraum, den gerade die Grundlagenforschung braucht, kann nur durch eine entsprechende Absicherung der freien und ungebundenen Grundlagenforschung und einer ausreichenden Grundfinanzierung der Hochschulen gewährleistet werden. Dies hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren versäumt.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Laermann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß einmal versuchen, das Kunststück zu vollziehen, in der mir zur Verfügung stehenden Redezeit gleich alle drei Tagesordnungspunkte, die hier anstehen, abzuhandeln. Es wird nicht ganz einfach sein. Ich bitte dafür um Verständnis. Ich bleibe dann auch in der Reihenfolge der Tagesordnung.Ich möchte zuerst zur Naturmedizin, zum Antrag „Naturmedizin erforschen und anwenden", sprechen. Es ist die traditionelle Politik der FDP, die Pluralität der Therapierichtungen im Gesundheitswesen zu gewährleisten. Dazu gehört, daß sowohl die Schulmedizin als auch die Naturheilkunde auf eine solide, wissenschaftliche, anwendungsorientierte Grundlage gestellt werden, die es Patienten und Ärzten ermöglicht, Chancen und Risiken zu erkennen und gegeneinander abzuwägen. Dies betrifft sowohl die Anwendung alternativer naturheilkundlicher Methoden als auch die Abwägung, welche Therapierichtung generell die geeignete ist. Für uns Liberale ist die Vielfalt der Therapierichtungen somit ein wichtiges Mittel, um der Individualität der Krankheitsbilder auch eine entsprechende Individualität der Therapie entgegenstellen zu können. Dabei darf es kein Gegeneinander der einen oder anderen Richtung geben. Was wir vielmehr brauchen, ist ein Miteinander zugunsten des Patienten; um den muß es bei allen unseren Bemühungen gehen.
Deshalb haben wir wenig Verständnis, wenn sich medizinische Fakultäten noch immer dagegen sträuben, daß in ihren Bereichen naturheilkundliche Lehrstühle eingerichtet werden. Dies ist Kennzeichen eines falschen, egozentrischen Denkens, das der Vergangenheit angehören sollte.Die Koalitionsfraktionen hatten bereits im September 1985 einen Antrag eingebracht, der darauf abzielte, die wissenschaftliche Durchdringung von Naturheilverfahren und ihre systematische, wissenschaftliche Begründung durch Forschung zu fördern. Eine Aufnahme der Naturmedizin in den Lernzielkatalog der medizinischen Ausbildung sollte erfolgen, und die Einrichtung entsprechender Lehrstühle sollte erreicht werden. Darüber hinaus sollte es um laufende Überprüfungs- und Zulassungsverfahren für Naturheilmittel beim Bundesgesundheitsamt gehen. Diese sollten unterstützt werden, um die Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen zu verbessern bzw. zu gewährleisten.Einen guten Erfolg haben wir inzwischen zu verzeichnen: Ich darf mit Befriedigung feststellen, daß die Approbationsordnung „Ärzte" ab 1993 Naturheilverfahren als Prüfungsstoff im zweiten Abschnitt der ärztlichen Prüfung vorsieht.
Wir meinen auch, daß ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung mit der vierten Novelle des Arzneimittelgesetzes getan wurde. Ich möchte an dieser Stelle nicht auf Details des abgeschlossenen Gesetzgebungsverfahrens zurückkommen; nur soviel: Wir haben in der vierten Novelle die Grundlagen geschaffen, um im Arzneimittelbereich die Vielfalt der Therapierichtungen zu sichern. Ich denke, daß dies ein ganz wichtiger Schritt in Richtung auf mehr und bes-
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Dr.-Ing. Laermannsere Anerkennung der Naturmedizin und der Naturheilkundeverfahren ist.
Ich möchte nun zu dem Thema „Forschungs- und Entwicklungsprogramm Solarenergie und Wasserstoff" kommen.
In den energiepolitischen Diskussionen spielen die Fragen der Verfügbarkeit, der Sicherheit und der Wirtschaftlichkeit und in besonderer Weise die Frage nach den Wirkungen des Energieverbrauches auf die Umwelt und das Klima eine dominierende Rolle. Dabei gilt es vor allem, sich mit der Fortentwicklung von Energiegewinnungs-, Energieumwandlungsund Energieverbrauchstechniken im Hinblick auf eine wachsende Weltbevölkerung und einen steigenden Energiebedarf und -verbrauch der Schwellen- und Entwicklungsländer zu befassen.Energieversorgungskonzepte sind zu entwickeln, die alle denkbaren technisch realisierbaren und sicherheitstechnisch verantwortbaren Möglichkeiten erfassen. Dazu gehört nach heutiger Kenntnis die Sonnenenergie, und zwar ihre direkte und ihre mittelbare Nutzung.Wir haben bereits heute einen hohen Entwicklungsstand im Bereich der dezentralen Kleinversorgungsanlagen, aber auch bei Solarturm- und Aufwindkraftwerken. In diesem Bereich brauchen wir — darüber wird heute nachmittag noch zu reden sein — in erster Linie Markteinführungshilfen
— nun warten Sie es doch ab, Herr Vosen; ja, gut —, damit wir in die Serienproduktion kommen und damit wir vor allen Dingen von den Kosten herunterkommen, also eine Kostendegression erreichen. Dies ist das Ziel. Darüber werden wir heute nachmittag reden.Ich möchte — auch im Hinblick auf Ihre Ausführungen, Frau Kollegin Bulmahn — feststellen, daß wir gerade im Bereich der erneuerbaren Energien mit unseren Aufwendungen weltweit an der Spitze liegen.
Kein Land erbringt höhere Aufwendungen, prozentual und absolut. Das muß man doch einmal sagen! Erkennen Sie doch an, daß vom Forschungsminister ein 100-MW-Windprogramm aufgelegt worden ist — es ist auf 200 MW aufgestockt — und daß das Tausend-Dächer-Programm Solarenergie in Angriff genommen worden ist! Dies muß man doch einmal zur Kenntnis nehmen. Tun Sie doch nicht immer so, als ob nichts passiert wäre!Aber ich denke, das zentrale Anliegen der vorliegenden Beschlußempfehlung zu dem Entwicklungsprogramm Solarenergie und Wasserstoff faßt ja beides zusammen. Wir haben uns dafür eingesetzt, daß wir uns interfraktionell einigen. Ich finde es gut, daß denAntrag jetzt alle Fraktionen gemeinsam tragen; ich gehe jedenfalls davon aus.Es geht um großtechnische Nutzung von Sonnenenergie im Zusammenhang mit der Wasserstofftechnologie. Hier gibt es sicherlich noch erheblichen Forschungs- und Entwicklungsbedarf. Er kann nur in enger Kooperation sowohl zwischen europäischen Staaten, insbesondere den Südländern, aber auch international gedeckt werden. Es geht um Technik. Es geht um die Entwicklung von Systemen. Es geht um Energieversorgungsstrukturen und Energieversorgungsstrategien, und es geht um die Klarstellung und die Schaffung politischer und administrativer Rahmenbedingungen.Dafür treten folgende Fragenkomplexe von meines Erachtens besonderer Bedeutung auf, die ich in Ergänzung zu der vorliegenden Beschlußempfehlung hier vortragen möchte:Erstens. Wie kann das natürlicherweise zeitlich ungleichmäßige Energiedargebot infolge Sonneneinstrahlung verstetigt werden, wie kann also das Speicherproblem gelöst werden?Zweitens. Wenn Wasserstoff über photovoltaisch gewonnenen Strom, durch Elektrolyse erzeugt, ein geeignetes Speichermedium ist, wie kann dieses bei großtechnischer Nutzung vorwiegend im Sonnengürtel der Erde sicher in die wesentlichen Verbrauchsgebiete transportiert werden?Drittens. Welche Verbrauchstechniken — das möchte ich besonders betonen — zum Einsatz des Wasserstoffs als Energieträger stehen zur Verfügung, welche Forschungs- und Entwicklungsarbeiten sind hier noch zu leisten? Gleichzeitig sind, meine ich, Sicherheitsaspekte und umweltrelevante Wirkungen zu untersuchen.Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir sollten der Beschlußempfehlung zustimmen.Ich habe nun noch einige Anmerkungen zum Faktenbericht zu machen.
Ihre Ausführungen, Frau Kollegin Bulmahn, bringen mich natürlich etwas aus dem Konzept, denn Sie haben hier mit Prozentzahlen operiert, wohl wissend, daß Sie prozentuale Anteile aus dem Forschungshaushalt, d. h. dem Haushalt des BMFT, mit Ansätzen des Gesamthaushaltes, des Bundesetats, vermischt haben. Ich finde, das ist eine unredliche Argumentation, die Sie hier vorgelegt haben.
Ich will mich deshalb auf diese Zahlenspielereien hier überhaupt nicht einlassen, denn Sie wissen ganz genau, welche Belastungen eigentlich vorhanden waren. Forschungspolitik ist nicht etwas, was sich allein in einer vierjährigen Legislaturperiode abspielt, sondern hier ist Kontinuität gefordert, und hier muß man Dinge, die vor eineinhalb Jahrzehnten angefangen worden sind, auch mit Anstand zu Ende bringen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 16995
Dr.-Ing. LaermannDaran sollten Sie sich einmal halten, und darüber sollten Sie sich informieren.
— Wer hat uns den denn eingebrockt?
Sie wissen doch ganz genau, wer eigentlich die Vereinbarung getroffen hat: Bundeskanzler Schmidt hat mit dem damaligen französischen Staatspräsidenten 1972, 1974 und 1975 diese Festlegung getroffen,
und die Folgen haben wir heute noch auszubügeln.
Sie sagen, die Hochschulen seien in der Grundlagenforschung nicht genügend gefördert worden. Nun, in erster Linie liegt die Kompetenz bei den Ländern, und hier kann der Forschungsminister überhaupt nicht direkt eingreifen. Hier liegen auch Kompetenzen beim Bildungsministerium, was nämlich die DFG, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, betrifft. Bitte betrachten Sie alles in der Gesamtheit, und holen Sie nicht irgendwo Blöcke heraus, an denen Sie dann Ihre Argumentation festmachen! Das ist wirklich unredlich.
Sie behaupten, man müsse sich jetzt auch noch um die Umsetzung der Ergebnisse, etwa aus dem Programmb ereich der Humanisierung des Arbeitslebens und der Forschung im Dienste der Gesundheit, kümmern. Hier liegen Ergebnisse vor, und diese Ergebnisse müssen natürlich von denen, die sie angehen, aufgenommen werden.
Das ist doch nicht mehr eine Sache der Regierung! Wir setzen nicht nur auf den Staat. Der Staat hat Initiativen zu setzen, Initiativen zu fördern, und dann muß dies allerdings von der Gesellschaft, von der Wirtschaft aufgenommen und umgesetzt werden, und das kann kein Staatsapparat machen. Dagegen sind wir; das ist nicht unsere liberale Position.
Ich muß einen Blick auf die Uhr werfen. Ich denke, der Faktenbericht 1990 zum Bundesbericht Forschung, den die Bundesregierung dem Parlament vorgelegt hat, demonstriert in der Tat in eindrucksvoller Weise nach Maß und Zahl die Leistungen, die in Wissenschaft, Forschung und Entwicklung in der Bundesrepublik im vergangenen Jahrzehnt erbracht worden sind.
Der Bericht ist ein Spiegelbild für unsere weit gefächerte Forschungslandschaft mit ihren Universitäten, Hoch- und Fachschulen, Großforschungseinrichtungen, den traditionellen Förder- und Trägerorganisationen, Institutionen der „blauen Listen" sowie sonstigen öffentlichen und privaten Einrichtungen und den internationalen Organisationen.Auch das muß man einmal sagen: Wie hoch sind eigentlich die Aufwendungen für Forschung und Wissenschaft in der Bundesrepublik insgesamt? Da gehen wir immer vom Haushalt des BMFT aus, aber wir wissen, daß die Gesamtaufwendungen im Bundeshaushalt um 100 % höher sind. Sie liegen bei über 14 Milliarden DM. Auch die anderen Ressorts müssen Sie doch mit einbeziehen. Die Gesamtaufwendungen, — das, was aus Stiftungen, was aus privaten Bereichen, was aus Industriebereichen kommt — machen noch einmal einen Großteil aus, so daß wir insgesamt auf knapp 60 Milliarden DM Aufwendungen pro Jahr für Forschungen in den Universitäten, in den Forschungseinrichtungen und in der Industrie kommen. Ich meine, das sind beachtliche Zahlen, die Sie auf der Welt noch einmal suchen dürfen. Wir sind hier nicht in Japan; in Japan sind die Strukturen völlig anders, und deswegen können Sie die nicht vergleichen .Und freie Grundlagenforschung?
Ich weiß gar nicht, was das ist. Grundlagenforschung ist Grundlagenforschung, und wir wehren uns dagegen, daß es da eine besondere „freie" geben soll.
Lassen Sie mich zu dem Faktenbericht noch eine Anmerkung machen. Hier stimme ich mit dem Kollegen Lenzer in weiten Strecken überein: Aktuell sind wir aufgerufen, einander nicht in Prozentzahlen etwas um die Ohren zu hauen, sondern darüber nachzudenken, welche Empfehlungen wir im Rahmen der sich vollziehenden Vereinigung der deutschen Staaten den Kollegen in der Volkskammer geben sollen, wenn sie uns nach geeigneten Strukturen für die Forschungslandschaft in der DDR fragen. In wenigen Monaten sind wir vielleicht schon ein gesamtdeutsches Parlament. Das muß sich mit den Strukturproblemen der Forschungslandschaft insgesamt in diesem Land auseinandersetzen. Denn die staatlich gesteuerte Forschung in der DDR ist mit den Strukturen in der Bundesrepublik nicht kompatibel.Für uns in der FDP ist die Zielperspektive in dieser Frage klar. Die Grundstrukturen der Forschungslandschaft in der Bundesrepublik mit den genannten Systemmerkmalen habe ihre Leistungsfähigkeit unbestreitbar unter Beweis gestellt. Über Jahrzehnte hin waren Sie daran beteiligt. Eine staatliche gelenkte Forschung kommt für uns Liberale nicht in Frage. Ich denke, es wird eine künftige Schwerpunktaufgabe sein, einander nicht — ich wiederhole es — Prozente um die Ohren zu hauen, sondern uns gemeinsam mit den Kollegen aus der DDR um die Lösung der anstehenden Probleme im gesamten Land, in beiden Teilen Deutschlands zu bemühen. Ich denke, das sollten wir dann fraktionsübergreifend tun, und wir sollten uns hier nicht in parteipolitischen Querelen ergehen, die in der Sache nichts nützen und uns nicht weiterbringen.
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16996 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Dr.-Ing. LaermannIch danke, Frau Präsidentin, für Ihre Geduld.
Meine Damen und Herren, vielleicht darf ich unseren Gästen zwischendurch sagen: Sie wundern sich sicher, daß bei einem so wichtigen Thema so wenige Abgeordnete hier sind. Aber es tagen in dieser letzten Sitzungswoche acht Ausschüsse des Deutschen Bundestags parallel und der Ausschuß Deutsche Einheit in Berlin. Ich erwähne das, damit Sie bitte Verständnis haben.
Jetzt geht es weiter. Herr Dr. Briefs, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister, erlauben Sie mir vorweg einen kleinen Rat. Ich denke, Sie sind gut beraten, wenn Sie künftig nicht den Faktenbericht oder den Forschungsbericht vorlegen, sondern irgendeinen anderen Bericht, meinetwegen den Wetterbericht oder den Erntestandsbericht. Denn Sie schießen mit diesen Berichten ein Eigentor. Der Faktenbericht 1990 legt ein weiteres Mal die grundlegenden Fehlentwicklungen der Forschungs- und Technologiepolitik dieser Bundesregierung offen. Dazu zählt insbesondere die zunehmende Konzentration der Förderung auf sogenannte Schlüsseltechnologien, was immer das ist. Während die FuE-Ausgaben des Bundes insgesamt von 1982 bis 1990 nur um ein Siebentel gestiegen sind, sind die Aufwendungen für die Förderung der Biotechnologien auf das 2,2fache, die für Fertigungstechnik auf das 2,3fache, die für Informationstechnologien auf das 1,6fache und die für die Luft- und Raumfahrt auf mehr als das Doppelte gestiegen. Die Förderung der Umwelttechnologien dagegen hat noch nicht einmal um ein Drittel zugenommen. Das ist ein lächerlicher Anstieg angesichts des nach wie vor geringen Volumens dieser Förderungsart
und ein völlig unzureichender Anstieg angesichts der zunehmenden Umweltbelastungen und Umweltzerstörungen
und insbesondere angesichts der drohenden Klimakatastrophe.Die Berichte, die Sie uns vorlegen, enthalten im Grunde einen technologiepolitischen und gesellschaftspolitischen Offenbarungseid.
Warum, Herr Bundesminister Riesenhuber, klotzen Sie bei Technologien, die zwangsweise als Großtechnologien die Umwelt weiter zerstören? Warum dagegen kleckern Sie z. B. bei der Humanisierung des Arbeitslebens — Anstieg nur um 6 % — oder bei der Frauenforschung, die überhaupt nur einen Bruchteil der FuE-Aufwendungen der Bundesregierung umfaßt?
— Sie ressortiert anderswo; aber ich denke, hier geht es auch um die Forschungs- und Förderungspolitik der Bundesregierung insgesamt.Ihre Politik ist durch einen soliden Grundzug politischer Mißwirtschaft gekennzeichnet.
Allein die Förderung der Weltraumtechnik, konzentriert vor allem auf drei Großprojekte, umfaßt inzwischen ca. 20 % Ihres Etats. Sie strangulieren in der Zukunft damit Ihren eigenen Etat. Sie entziehen sich selber und auch dem BRD/DDR-Gebilde der Zukunft
den Boden für Forschungs- und Entwicklungsmaßnahmen, die die Umwelt schützen und bewahren, für Maßnahmen, die dringliche soziale Lösungen bereitstellen. Der Welt droht die Klimakatastrophe, und Sie haben nichts anderes zu tun, als teure und überflüssige Großprojekte im Weltraum zu fördern.Sie bringen Forschungs- und Entwicklungspolitik damit in ein Zwielicht und entmotivieren Forscher und Forscherinnen,
sich für ökologische und sozial nützliche Forschungsprojekte zu interessieren. Sie unterminieren damit zugleich die Freiheit der Wissenschaft, indem Sie mit der einseitigen Orientierung an schädlichen und zum Teil abseitigen Großtechnologien auch die Wissenschaft immer mehr in Verruf bringen.Ihre Forschungs- und Entwicklungspolitik ist vor allem eine Politik der Förderung von Schlüsseltechnologien. Aber was verstehen Sie darunter? Technologien, die Marktanteile und Wettbewerbsfähigkeit sichern und ausbauen sollen, Technologien, die das wirtschaftliche Wachstum durch Innovationen weiter beschleunigen sollen. Zugleich fördern Sie Prozeßinnovationen, z. B. die Informations- und Kommunikationstechnologien, die ein Wachstum ohne zusätzliche Arbeitsplätze ermöglichen. In jedem Fall tragen Sie mit Ihrer einseitigen Orientierung an wirtschaftlichen Zielen wie Wachstum, Absatz, Umsatz, Markteroberung, internationaler Konkurrenz zur weiteren Zerstörung der Umwelt bei.
Sie tragen damit auch zur weiteren Ausbeutung der ,,Dritten Welt" bei und verschärfen im deutsch-deutschen Umbruch die Benachteiligung der DDR-Bevölkerung.Ihre Forschungs- und Entwicklungspolitik ist Wirtschaftspolitik, nicht umsichtige, kluge, ausgewogene Förderung — nach Gebrauchswert oder ähnlichen Gesichtspunkten — von Forschungs- und Entwicklungsbereichen, die ökologische und soziale Kriterien beinhalten.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 16997
Dr. BriefsTrotz der Entspannung im Ost-West-Verhältnis: Ein Viertel der FuE-Ausgaben ressortiert zudem im Bundesministerium der Verteidigung.
1982 waren es erst 15 v. H.
Wichtige Forschungsaufgaben wie die des Datenschutzes und des Schutzes der informationellen Selbstbestimmung der Bürger und Bürgerinnen — angesichts der zunehmenden Informatisierung der Gesellschaft unerläßlich — führen dagegen in der FuEPolitik der Bundesregierung ein Kümmerdasein. Technologiefolgenabschätzung, ökologisch und sozial orientierte Wirkungs- und Gestaltungsforschung erhalten nur einen kleinen Bruchteil der FuE-Aufwendungen, die an die Großwirtschaft für Großtechnologien gehen.
Überhaupt: Nach unserer Einschätzung ist die Forschungs- und Entwicklungspolitik dieser Bundesregierung so etwas wie praktizierte Stamokap-Politik.
Ihre FuT-Politik wird scheitern, u. a. deshalb, weil das Bundesministerium für Forschung und Technologie — obwohl die Bundesregierung den Wettbewerb verbal propagiert — real die Konzentration fördert. Ihre Forschungs- und Technologiepolitik wird scheitern, wie die Mittagsche Politik der Konzentration auf ähnliche Schlüsseltechnologien zum politischen Scheitern der DDR beigetragen hat.
Eine Umkehr ist notwendig. Auch deshalb muß alles getan werden, um in der Gesellschaft und im Parlament eine Mehrheit für eine ökologische und soziale Neuorientierung der Forschungs- und Technologiepolitik zu schaffen. Dem Druck der Wirtschaftsinteressen standzuhalten, statt ihnen — halb zog es ihn, halb sank er hin — , nachzugeben, das ist Ihre Aufgabe!Wir GRÜNE fordern insbesondere auch die wissenschaftliche Gemeinschaft auf, der ökologisch und sozial schädlichen — weil rein wirtschafts- und wachstumsorientierten — Forschungs- und Entwicklungspolitik dieser Bundesregierung Widerstand zu leisten und eine Um- und Neuorientierung durchzusetzen. Wissenschaft und Forschung sind etwas viel zu Spannendes und Wichtiges, als daß wir sie Buchhaltern und Managern in Großkonzernen — oder auch wildgewordenen Studienräten oder Ingenieuren — und Bürokraten im Bundesministerium für Forschung und Technologie überlassen sollten.
Ich danke Ihnen.
— Aber — im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kollege — qualifizierter Dank!
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Voigt .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde hier zu den Fragen der Naturmedizin sprechen. Dieser Punkt ist, glaube ich, innerhalb des gesamten Hauses ziemlich unstrittig.Wir, die Fraktionen von CDU/CSU und FDP, haben dazu einen Antrag eingebracht, weil wir der Auffassung sind, daß — dies wurde seitens der FDP schon gesagt — die wissenschaftliche Durchdringung in diesem Bereich der Therapierichtungen gefördert werden muß und wir darauf hinwirken sollten, daß auch diese Frage Eingang in die Ausbildungsrichtlinien der Ärzte findet.Die öffentliche Diskussion, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist gerade in dieser Frage in den letzten Jahren sehr intensiviert worden. Sie hat eine Kontroverse zwischen der Naturheilkunde und der Schulmedizin ausgelöst. Diese Diskussion hat einen sehr breiten Raum eingenommen. In vielen Punkten scheint sie mir künstlich und für den Außenstehenden nicht immer nachvollziehbar.Die gleiche Diskussion findet statt — sie hat unmittelbar etwas damit zu tun — , wenn es um die Begriffe Krankheit und Gesundheit geht. Lassen Sie mich da anfangen, um dann aufzuzeigen, weshalb ich glaube, daß der Naturmedizin und den besonderen Therapierichtungen in Zukunft eine besondere Funktion zukommt.Die Gesundheit ist, wenn man es genau betrachtet, nach meiner Auffassung kein Kapital, das man aufzehren kann, sondern die Gesundheit muß ständig neu geschaffen werden. Wenn wir die Gesundheit langfristig erhalten wollen, müssen wir die Bedeutung der psychischen und sozialen Zusammenhänge einbeziehen.Diese Definition berücksichtigt die Einsicht der modernen Biologie, daß lebende Systeme eben selbstaufbauende, selbstorganisierte Systeme sind, die auf den verschiedensten Ebenen ständig Teile ihrer Umgebung in ihren Bestand aufnehmen oder aber nicht brauchbare Elemente ausscheiden. Die moderne Molekularbiologie hat uns gezeigt, daß Leben nur dadurch möglich ist, daß offene biochemische Prozesse miteinander korrespondieren und Informationsaustausch praktizieren. Tote Materie unterscheidet sich von lebenden Organismen eben dadurch, daß jede einzelne Entscheidung eingebunden ist in ein Geflecht von Folgeentscheidungen.Das bedeutet für die Medizin — jetzt komme ich auf den wesentlichen Punkt — , daß im kurativen Bereich die Einwirkung einzelner therapeutischer Schritte mit unmittelbarer kausaler Wirkung immer abgewogen werden muß gegenüber den in der Folge ausgelösten nachgeordneten Reaktionen, also gegenüber den Nebenwirkungen. Die seriöse Erfahrungsmedizin — auch Schulmedizin ist fast immer Erfahrungsmedi-
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Dr. Voigt
zin; das wird in der Diskussion leider vergessen — trägt genau diesem Grundgedanken Rechnung, indem sie die ganzheitliche Behandlung des Menschen in den Mittelpunkt ihrer Therapierichtung stellt. Die Schulmedizin hat sich mit großer Energie bestimmten Gebieten zugewandt und dabei große Erfolge erzielt. Ich erinnere an die Hygiene, an das Impfwesen, an die Infektiologie, an die Leukämiebehandlung im Kindesalter und vieles mehr.Aber andere Gebiete wie Gesundheitserziehung, Psychosomatik, Phytotherapie, physikalische Medizin und Präventivmedizin wurden demgegenüber vernachlässigt. Es ist nur verständlich, daß bei chronisch nicht akut lebensbedrohlichen Erkrankungen oder Krankheitsbildern wie z. B. beim Asthma Alternativmethoden gesucht und angewandt werden. Allerdings wird unter dem Deckmantel Naturmedizin oder Alternativmethode manches angeboten, was erwiesenermaßen unwirksam ist bzw. dem eine Wirkung niemals nachgewiesen werden kann.
Hiervor sind Patienten und Bevölkerung zu schützen.Andererseits verfügt die traditionelle Medizin über einen großen Schatz von Erfahrungen, auf die die moderne Schulmedizin immer wieder zurückgreifen konnte und zurückgegriffen hat. Dieser Erfahrungsschatz sollte in Zukunft besser genutzt und von uns gefördert werden.Aus diesem Grunde fordern wir die Bundesregierung auf, erstens die wissenschaftliche Aufarbeitung, Durchdringung und Weiterentwicklung der Naturheilverfahren und Homöopathie weiter zu fördern; zweitens der auf Erfahrung beruhenden Naturheilkunde einen gebührenden Platz in Forschung und Lehre und bei der Ausbildung des medizinischen Nachwuchses einzuräumen; drittens die fächerübergreifende Zusammenarbeit im Interesse der Aufarbeitung der Defizite auf dem Gebiet der Naturheilverfahren zu fördern; viertens Methoden zu entwickeln, um unvertretbare Heilmethoden auch als solche kennzeichnen zu können; fünftens bei den etablierten Förderern der Forschung die Bildung einer interdisziplinär zusammengesetzten Studienkommission als Basis für weiterführende wissenschaftliche Dialoge anzuregen.Mit großer Befriedigung, meine sehr verehrten Damen und Herren, können wir feststellen, daß die Diskussion über die Erfahrungsmedizin und Naturmedizin in der Fachöffentlichkeit zugenommen hat und ernstgenommen wird. Für den Göttinger Onkologen Prof. Dr. Nagel z. B., den Präsidenten der Deutschen Krebsgesellschaft, ist die Krebstherapie in das „Zeitalter der biologischen Medizin eingetreten". Darin sieht er den Versuch, diese Krankheit über die körpereigenen Regulationssysteme wie etwa das Abwehrsystem mit biologischen Mitteln zu bekämpfen. Dazu gehören eben auch die aus der Erfahrungsmedizin stammenden Pflanzen- und Organpräparate.In vielen Fällen wird gegen den Einsatz von Erfahrungsmedizin und Naturheilverfahren das Argument der Nichtwissenschaftlichkeit vorgetragen. Wenn wir uns aber an dem Gedanken orientieren, daß die Lebensqualität das Wichtigste ist und wir mit bestimmten Therapieformen die Lebensqualität des Patienten, des Kranken, verbessern können, so sollte dieses Argument im Vordergrund stehen und das andere erst nachrangig behandelt werden.Ich glaube, wir müssen in Zukunft der psychosomatischen und psychoimmunologischen Frage wesentlich mehr Aufmerksamkeit schenken.Ich bedanke mich für Ihr Zuhören.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Ganseforth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Endlich ist es nun so weit, daß der Antrag zur Naturmedizin verabschiedet wird. Schon in der letzten Legislaturperiode hat ein ähnlicher Antrag vorgelegen, der aber nicht mehr abschließend behandelt wurde. Auch jetzt wäre es beinahe nicht mehr dazu gekommen.Wir begrüßen, daß wir diesen Antrag heute behandeln. Allerdings muß man sagen, daß der eigentliche Erfolg des Antrags die Anhörung war, die wir vor etwa einem Jahr zu diesem Thema durchgeführt haben. Dort prallten die unterschiedlichen Auffassungen zwischen den Vertretern der Schulmedizin einerseits und denen der Naturheilkunde andererseits mit einer Heftigkeit aufeinander, die jedem deutlich machte, daß es in diesem Bereich überhaupt keinen Dialog gibt. Es wurde auch deutlich, wie wichtig ein Dialog und ein Miteinander wären, um Barrieren abzubauen. Wir können es uns nicht weiterhin leisten, auf die Erfahrungen und Erkenntnisse eines Medizinzweiges so völlig zu verzichten, wie es da den Anschein hatte, nur weil die Vertreter der Schulmedizin und hier allen voran die Bundesärztekammer, also die Standesorganisation der Ärzte, nichts davon hält. Gerade weil die Schulmedizin nachweislich in vielen Bereichen an ihre Grenze stößt und immer gestoßen ist — das ist kein neues Phänomen — und weil die Naturmedizin nachweislich durchaus auch Erfolge hat, wäre es unverantwortlich, diese nicht zu nutzen. Allerdings ist die Abgrenzung von der Scharlatanerie eine wichtige und schwierige Sache.Ein bißchen erinnerte die Diskussion an die „Halbgötter in Weiß", die Angst haben, vom Thron gestoßen zu werden, oder Angst vor Konkurrenz haben. Aber darum geht es gar nicht. Wir von der Politik müssen hier Ausgleich schaffen, d. h. auch Mittel und Freiraum zur Verfügung stellen. Welchen Stellenwert dieses Thema hat, merkt man, wenn man sich den Faktenbericht des Forschungsministers anguckt. Daraus ersehen wir, daß wir nur über ein ganz kleines Randgebiet reden, das einen ganz geringen Stellenwert für diese Regierung oder für dieses Ministerium hat.Wenn wir der Naturmedizin Raum geben, müssen wir darauf achten — diese Gefahr sehe ich nach der Diskussion in der Anhörung — , daß es nicht nur zu einer Kontrolle der Medizin, zu einer Einverleibung oder Ausgrenzung durch die Schul- und Apparatemedizin kommt. Diese Gefahr deutete sich nämlich
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Frau Ganseforthsehr stark an. Es ist im Gegenteil nötig, auch diesen Zweig der Medizin in die Ausbildung der Mediziner und Medizinerinnen und Apotheker und Apothekerinnen einzubeziehen. Erste Erfolge scheint es auch zu geben. Die Diskussionen, die wir darüber hatten, waren durchaus hilfreich.Andere Länder, übrigens auch die DDR, sind in dieser Beziehung sehr viel weiter. Wir brauchen Lehr-und Forschungskapazität auch auf diesem Gebiet, ganz zu schweigen von den Erfahrungen und anderen Akzenten, die die Medizinentwicklung beispielsweise in asiatischen Kulturen setzt. Auch davon können wir eine Menge lernen.Lassen Sie mich zum Schluß sagen, daß es nicht nur in diesem Bereich darauf ankommt, andere Forschungszweige zuzulassen, sondern das bezieht sich genausogut auf andere Bereiche der Forschung, in denen die traditionellen Forschungszweige auch eifersüchtig darauf achten, andere Bereiche nicht zuzulassen. Ich will zwei Beispiele nennen — über das eine werden wir heute noch diskutieren — : Das eine sind Solarenergie und Wasserstoff. Aber auch die Frauenforschung ist ein Bereich, der von der traditionellen Forschung und von den Hochschulen mit äußerster Heftigkeit an den Rand gedrängt wird. Es wäre wichtig, auch diesen Bereich einzubeziehen. Es ist zu vermuten, daß es überall dieselben Mechanismen sind, die versuchen, die Randgebiete nicht einzubeziehen, zum Schaden von uns allen. Deswegen ist der vorliegende Antrag richtig. Wir stimmen ihm zu.Schönen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Daniels.
: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte kurz zu dem Naturmedizin-Antrag sprechen. Wir plädieren dafür, daß alternative Heilmethoden und die Schulmedizin gleichberechtigt nebeneinander stehen und auch so von den Krankenkassen bezahlt werden.Die Kritik am vorliegenden Antrag konzentriert sich darauf, daß dieser Antrag wiederum einseitig auf die naturwissenschaftliche Forschung ausgerichtet ist. Erfahrungsmedizin läßt sich nicht immer rein naturwissenschaftlich beweisen. Angesichts des Versagens der Schulmedizin ist es also notwendig, für diesen Bereich wesentlich mehr zu tun, also die Naturmedizin zu stärken. Deswegen werden wir uns bei diesem Antrag enthalten.Ich möchte den Schwerpunkt meiner Ausführungen jetzt allerdings auf den solaren Wasserstoff legen: Wir haben im Verlaufe der Diskussion im Ausschuß eine Reihe von Verbesserungen erreichen können, die Teile der ursprünglichen Mängel des Antrags weitgehend behoben haben. Damit ist gewährleistet, daß der Antrag mehr als nur eine Ansammlung unverbindlicher Absichtserklärungen ist. Dafür wäre der Gegenstand auch zu wichtig, auch wenn sich auf den solaren Wasserstoff Hoffnungen konzentrieren, die dieser insbesondere unter den heutigen energiewirtschaftlichen Bedingungen in absehbarer Zeit mit Gewißheit nicht erfüllen wird.Die Faszination des solaren Wasserstoffs besteht sicher darin, daß er wegen seiner Eigenschaften scheinbar zum neuen universell einsetzbaren und gleichzeitig umweltfreundlichen Energieträger werden könnte. Wir unterstützen deshalb mit Nachdruck das in der Beschlußempfehlung vorgeschlagene Forschungsprogramm Solarenergie und Wasserstoff. Wir dürfen aber nicht dabei stehenbleiben oder uns ungerechtfertigten Illusionen hingeben; denn angesichts des drohenden Klimakollapses stehen wir vor einem Handlungsbedarf, der heute verwirklichbare Alternativen zu unserer Energieversorgung fordert. Beim Solarwasserstoff müssen wir aber realistisch sehen, daß wir nicht vor 50 Jahren auf dessen massiven Einsatz rechnen können.
Forschen heißt meist, heute noch lange nicht anwenden.Hier setzt auch unsere Kritik am ursprünglichen SPD-Antrag an, der die Markteinführungshilfen für regenerative Energien unberücksichtigt ließ. Hier sind wir im Forschungsausschuß mit der Übereinkunft, geeignete Finanzierungs- und Markteinführungshilfen für Sonnenenergietechniken zu entwikkeln und bereitzustellen sowie administrative Hemmnisse für den Einsatz solarer Energieversorgungssysteme zu beseitigen, gemeinsam einen erheblichen Schritt weitergekommen. Insofern führen wir heute abend die entscheidendere Debatte, bei der sich zeigen wird, ob die Mehrheitsfraktionen dieses Hauses tatsächlich bereit sind, eine entschiedene Weichenstellung zugunsten der Förderung regenerativer Energiequellen vorzunehmen und den privaten Einspeisern von Strom aus regenerativen Energiequellen faire Konditionen einzuräumen oder ob sie weiterhin den Schulterschluß mit den monopolistischen Energieversorgungsunternehmen suchen.Bei allen Zukunftsvisionen dieses Hauses müssen wir immer bedenken, daß wir es in der Bundesrepublik — und dasselbe steht auch bald für die DDR zu befürchten — mit einer hochzentralisierten, absatzorientierten Energiewirtschaft zu tun haben, der es bislang gelungen ist, Eingriffe in den von ihr beanspruchten Geschäftsbereich weitestgehend zu unterbinden. Hier bedarf eine ökologische Forschungspolitik der Unterstützung durch eine ökologische Wirtschaftspolitik.Heute wird Wasserstoff überwiegend in der chemischen Industrie verwendet. Die Ammoniaksynthese vor allem zur Kunstdüngerherstellung verbraucht fast die Hälfte des jährlichen Weltbedarfs. Die Verarbeitung von Rohöl verbraucht ein weiteres Viertel. Der Rest wird u. a. von Teilen der chemischen und pharmazeutischen Industrie benötigt. Daran wird sich in absehbarer Zeit nichts ändern. Wir sehen dabei, daß die Verwendung von solarerzeugtem Wasserstoff noch nichts mit Ökologie zu tun haben muß.Zu bedenken ist auch, daß Wasserstoff keine Energiequelle ist, sondern nur ein Energiespeicher. Er kann deshalb nur eingebettet in eine vernünftige energiewirtschaftliche Struktur, die ökologischen Ansprüchen genügt, sinnvoll genutzt werden. Um dorthin zu gelangen, muß energie- und wirtschaftspolitisch jedoch die erste Priorität dem Energiesparen, der
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Dr. Daniels
rationellen Energienutzung und der Deckung des Restenergiebedarfs aus regenerativen Quellen gehören.Um den Einsatz der herkömmlichen Rohstoffe soweit wie möglich zu verringern, ist eine optimale Nutzung der unerschöpflichen Energiespender, Sonne, Wind, Wasser und Biogas, erforderlich. Ferner müssen durch Dezentralisierung kleine Versorgungseinheiten geschaffen werden. Diese kleinen Einheiten können dann optimal mit Blockheizkraftwerken versorgt werden.Schließlich müssen unsere Städte und Gemeinden die Energieversorgung wieder in die eigenen Hände nehmen, statt sie riesigen unkontrollierbaren Konzernen zu überlassen.
Nach wie vor gilt: Wegen ihrer unberechenbaren Gefahren ist die Nutzung der Atomenergie unverantwortbar, ein sofortiger Ausstieg nötiger denn je.Erst wenn die erneuerbaren Energien die gesamte Grundlastnachfrage decken, muß über eine Speicherung nachgedacht werden. Dies geschieht auch in ehrgeizigen Szenarien frühestens in 30 bis 40 Jahren. Für die mögliche Selbstversorgung der europäischen Staaten mit erneuerbaren Energien werden mindestens 50 Jahre vergehen. Bis dahin können andere Stromspeichertechnologien effizienter sein. Heutige Technologien sind dann in jedem Fall veraltet. Unbestritten bleibt also die Notwendigkeit, die weitere Grundlagenforschung für Speichertechniken fortzuführen. Heute auf eine zukünftige Wasserstoffwirtschaft zu hoffen und nichts für die dringend notwendige Umstrukturierung der Energiewirtschaft und unseres Energiesystems zu tun, ist fatal. Klima- und Nuklearkatastrophen werden die großen Energiemonopolisten überrollen, und die Zeche werden mal wieder die Bürger bezahlen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Engelsberger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Gedanke, einen immer wieder regenerierbaren Kraftstoff zu finden, der Energie abgibt, ohne die Umwelt zu belasten, ist ebenso aktuell wie faszinierend. In Form des Wasserstoffs haben wir bereits einen solchen Energieträger gefunden, dessen Verwendung unter ökologischen Gesichtspunkten geradezu als ideal angesehen werden kann; denn Wasserstoff verbrennt mit Sauerstoff gänzlich schadstofffrei und mit Luft lediglich mit geringem Stickoxidanteil. Grenzen sind dem großtechnischen Einsatz des Wasserstoff als Energieträger allerdings dadurch gesetzt, daß Wasserstoff in der Natur im Gegensatz zu Kohle, 01 und Erdgas nicht vorkommt und erst durch den Einsatz anderer Energieträger gewonnen werden muß, was seinerseits wieder erhebliche Probleme aufwirft.Die sauberste Art der Wasserstoffgewinnnung ist die Elektrolyse, wobei Wasser mit Hilfe des elektrischen Stromes in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt wird. Allerdings ist die Wirkungsgradrechnung der Elektrolyse, Speicherung und Rückverwandlung in einer Wärmekraftmaschine dabei so verlustreich, daß nur ein sehr geringer Teil der für die Wasserstoffgewinnung aufgewandten Energie zurückgewonnen werden kann.Wir brauchen also eine Ausgangsenergie, die es ermöglicht, den umweltfreundlichen Energieträger Wasserstoff zu einem wirtschaftlich attraktiven Preis zur Verfügung zu stellen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob der solare Wasserstoff tatsächlich jenes universelle Energiepotential darstellt, von dem der Kollege Hermann Scheer behauptet, daß damit der gesamte Energiebedarf auch einer wachsenden Weltbevölkerung befriedigt werden kann.Ist es wirklich realistisch anzunehmen, daß uns der solare Wasserstoff schon in absehbarer Zeit in die Lage versetzen könnte, auf Kernkraft, Öl und Kohleverbrennung zu verzichten? Oder ist diese vom Kollegen Scheer als Wirklichkeit ausgegebene Vision nicht vielmehr eine Illusion?
So verlockend es ist, die Sonne als nie ermüdenden Energieträger einzusetzen, verursacht der solar gewonnene Wasserstoff selbst dort noch hohe Kosten, wo die Sonne mehr als dreitausend Stunden im Jahr scheint und ihre Intensität sehr viel größer ist als bei uns.Angesichts der langjährigen weltweiten Bemühungen um die Solarenergie muß deshalb festgestellt werden, daß sich wünschenswert höhere Wirkungsgrade auch durch hohen finanziellen und personellen Einsatz nicht beliebig steigern lassen.
So stößt beispielsweise der großtechnische Einsatz von Solaranlagen in der Sahara auf das gravierende Problem, daß dabei allein für eine Anlage von 1 000 Megawatt, also für eine Kapazität eines Kernkraftwerks, 200 Tonnen reinsten Wassers pro Stunde und dazu noch einmal das Hundertfache an Kühlwasser benötigt werden.
Das heißt mit anderen Worten, für den Betrieb eines solarbetriebenen 1 000 MW-Kraftwerkes bedürften wir 20 200 cbm Wasser pro Stunde. Ich habe das einmal durchgerechnet; das entspricht einer Fließmenge von 6 Kubikmetern in der Sekunde, so etwa der durchschnittlichen Wasserführung der Sieg, und das in der Wüste, meine Damen und Herren.
— Herr Kollege Scheer, Sie wissen ja, daß ich für den Wasserstoff eingestellt bin; aber ich muß doch auch einmal praktische Fakten und nicht nur Zukunftsvisionen in dieser Debatte zum Ausdruck bringen.Solange diese und andere gravierende Probleme wie ein möglicherweise risikoreicher weiträumiger Transport des gewonnenen Wasserstoffs über fremde
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EngelsbergerTerritorien nicht gelöst sind, halte ich es für illusorisch, sich von dem Einsatz des solaren Wasserstoffes praktisch die Lösung der Weltenergieprobleme zu versprechen.
— Frau Kollegin Ganseforth, meine Redezeit reicht zwar nicht aus, um auf Ihren Zwischenruf umfassend zu antworten, aber ich muß doch sagen: Die meisten Kernkraftwerke sind unter einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung gebaut worden, ja, die Kernenergie überhaupt ist unter einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung eingeführt worden.
Das haben Sie sich nicht rechtzeitig überlegt.Selbst einer der engagiertesten Verfechter der Solar-Wasserstoff-Technik, Professor Bölkow, hat für den wirtschaftlichen Einsatz einen Zeithorizont von mindestens 30 Jahren vorgesehen.Es wäre deshalb wesentlich naheliegender, die solare Energie zunächst bevorzugt in den Regionen einzusetzen, die über die erforderlichen klimatischen Voraussetzungen verfügen, und den dadurch gewonnenen elektrischen Strom direkt an Ort und Stelle zu verbrauchen. Dadurch könnten weitere wertvolle Erfahrungen gesammelt werden; zugleich könnte der Verbrauch wertvoller Ölreserven eingeschränkt werden.Damit will ich keineswegs einem weiteren Attentismus das Wort reden. Im Gegenteil, angesichts der bedrohlichen Umweltbelastung durch CO2 müssen wir alles in unseren Kräften Stehende tun, um den Einsatz fossiler Brennstoffe einzuschränken. Dazu ist die Wasserstofftechnologie für uns eine wichtige Alternative — allerdings nicht als universelle Energiequelle, die es in dieser Form wohl niemals geben wird — , sondern durch den gezielten Einsatz von Wasserstoff im Verkehrsbereich für den Antrieb von Kraftfahrzeugen und Flugzeugen, deren Schadstoffausstoß längst ein bedrohliches Ausmaß angenommen hat.Genauso falsch wäre es, die Wasserstofftechnologie allein auf die Solarenergie zu beschränken, zumal die Kernenergie und die Wasserkraft erhebliche Potentiale bereithalten, die als Ausgangsenergien bei der Wasserstoffherstellung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gegenwärtig noch attraktiver als die Solarenergie erscheinen. Herr Kollege Scheer, wir wollten die großen kanadischen Wasserkraftwerke einmal besichtigen und studieren, wie man den Wasserstoff nach Europa bringen kann.
Meine Damen und Herren, wir müssen leider davon ausgehen, daß keine Art der Energiegewinnung sowohl ökologisch als auch ökonomisch zum Nulltarif zu haben ist.Wir werden der Beschlußempfehlung unsere Zustimmung geben.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Scheer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann mir die Bemerkung nicht verkneifen, daß der Altestenrat des Bundestages offensichtlich einen Forschungskurs zu dieser Thematik braucht, weil er die heutige Debatte so zusammengewürfelt hat, statt das Forschungs- und Entwicklungsprogramm Solarenergie und Wasserstoff mit den Anträgen über die Markteinführungshilfen für regenerative Energien zu verbinden.
Das hätte zusammengepaßt; man hätte nicht so verfahren dürfen, wie es am heutigen Vormittag vorgesehen ist.Ich möchte zunächst einmal mit der Feststellung beginnen, daß kein Zweifel daran besteht, daß das Potential der solaren Energien — das ist eben nicht nur die solare Strahlung, sondern dazu gehören auch Windkraft und Wasserkraft und Biomasse — absolut ausreicht, um die gesamte Menschheit und sogar künftige Generationen mit Energie zu versorgen. Daran besteht kein ernsthafter Zweifel.Es besteht kein Zweifel, daß die solaren Energien keine irreversiblen Globalschäden hervorrufen, was natürlich bedeutet, Herr Laermann, daß man auch eine sorgsame Technologiefolgenabschätzung vornimmt. Diese Technik ist einführbar, ohne daß es zu irreversiblen Globalschäden käme.Angesichts der Gefahren durch fossile Energien und die Kernkraft und der Akzeptanzprobleme, die bei beiden herkömmlichen Energieträgern zunehmen, ist die Solarenergie in Verbindung mit Wasserstoff in der Tat die große Hoffnung. Der Antrag, der hier vorliegt, bezieht sich nicht einzig und allein auf Wasserstoff. Er bezieht sich vielmehr auf die Solarenergie und auf Wasserstoff. Wie schnell diese Technik einführbar ist, wie schnell andere Energieträger durch Solarenergie substituiert werden können, hängt in erster Linie davon ab, welcher politische und wirtschaftliche Input in diese Entwicklung investiert wird. Das geht natürlich nicht allein mit Forschung und Technologie; das ist gar keine Frage.Das gilt auch für die Frage des Wasserstoffs. Ich persönlich halte die Diskussion, die davon ausgeht, ein großes Projekt in der Sahara, bei dem mittels photovoltaischer Prozesse Solarkraft in elektrische Energie umgewandelt und dann Wasserstoff produziert wird, sei die eigentliche solare Wasserstoff-Perspektive, für nicht ausreichend. Ich halte es für zweifelhaft, in erster Linie dort anzusetzen. — Ich bin der Meinung, man muß — gerade weil es ein Kostenhindernis zu überwinden gilt — beim solaren Wasserstoff mit den billigsten regenerativen Energien ansetzen — das sind heute Biomasse, Wasserkraft und Windkraft —, um damit Wasserstoff herzustellen. Dann braucht man nicht sofort in die Sahara zu gehen, Herr Laermann.
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Dr. ScheerDann hat man auf jeden Fall die Möglichkeit, schneller zu einem Wasserstoffansatz zu kommen, weil Windkraft, Biomasse und Wasserkraft zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehr viel billiger sind als Photovoltaik.Das Problem ist, daß mit Biomasse hergestellter Wasserstoff heute 27 Pfennig pro Kubikmeter — um ein Beispiel zu nennen —, und mit Photovoltaik hergestellter Wasserstoff gegenwärtig 6,80 DM kostet. Natürlich fängt man bei der Einführung mit den billigsten Möglichkeiten an; das ist das, was ich an dieser Stelle hervorheben wollte. Dann hat man auch geringere Infrastrukturausgaben zu tätigen als wenn man an die erste Stelle das umständlichste und langwierigste Projekt setzt, was nicht besagen soll, daß man in dieser Richtung nicht trotzdem forschen soll.Die Einführungszeit hängt also davon ab, welcher politische Input insgesamt auf der nationalen und auf der internationalen Ebene gegeben wird. Deswegen sollte man sehr skeptisch sein gegenüber all den wissenschaftlichen Vermutungen, in denen von Einführungszeiten von 30 Jahren, 40 Jahren, 50 Jahren die Rede ist. Das hängt nämlich, wie gesagt, immer von Initiativen ab.
Würde ein einziges Mal — das ist es nicht allein, aber das ist ein wesentlicher Faktor; das gilt für die Bundesrepublik, das gilt für die Sowjetunion, das gilt für die USA und für andere; ich will hier doch überhaupt nicht polemisch reden, deswegen verstehe ich manche Zwischenrufe nicht — in diesen Ansatz so viel Geld hineingesteckt, wie in der Vergangenheit und bis zum heutigen Tage völlig selbstverständlich in große Militärprojekte an Forschung und Entwicklung hineingesteckt worden ist, nämlich viele, viele Milliarden auf einen Schlag, dann wären wir sehr viel weiter.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Selbstverständlich, Herr Kollege Engelsberger.
Herr Kollege Scheer, sind Sie wirklich der Ansicht, wie Sie in verschiedenen Veröffentlichungen dargelegt haben, daß das Weltenergieproblem mit der Wasserstofftechnologie in absehbarer Zeit gelöst werden könnte, und, wenn ja, welche Zeitspanne verstehen Sie unter „in absehbarer Zeit"?
Ich halte es für politisch denkbar, daß in den industrialisierten Ländern bis zum Jahre 2010 25 To der Energieversorgung mit solaren Energien einschließlich Wasserstoff abgedeckt werden können; 25 %!
Wenn wir solche Größenordnungen erreichten, dann bedeutete dies, daß die ganze Sache anschließend noch sehr viel schneller laufen könnte. Ich halte es prinzipiell für möglich — ich kann es an dieser Stelle auch mangels Zeit nicht ausführen — , daß bis zurMitte des nächsten Jahrhunderts die gesamte Weltenergieversorgung mit solaren Energien einschließlich Wasserstoff getätigt wird. Das setzt aber voraus, daß nicht nur die Forschung und Technologie, sondern auch die Wirtschaftspolitik und die Entwicklungspolitik, und zwar nicht nur die der Bundesrepublik, hier wirklich einen zentralen Schwerpunkt setzen. Das ist die Voraussetzung.Ich komme zu den Zweifeln, die geäußert werden. Diese lauten, die Technologie sei noch nicht so weit, und man müsse deswegen noch in erster Linie Forschung und Entwicklung betreiben. Der zweite Zweifel lautet, auf absehbare Zeit sei das alles noch zu teuer; die Zeit sei also noch nicht reif für eine Markteinführung.Ich möchte hier folgendes hervorheben: Forschungsförderung und Markteinführung sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden, wie sehr viele das oft tun. Forschung und Entwicklung werden einerseits immer weitergehen müssen — das ist selbst beim hochentwickelten Automobil bis heute der Fall —, und die Markteinführung, die Marktreife andererseits, können nicht allein durch Forschung und Entwicklung erreicht werden. Das ist auch nicht möglich. Das ist nur möglich durch industrielle Praxis und Markteinführung selbst sowie durch eine Verbindung zwischen Forschung und Entwicklung einerseits und Umsetzungspraxis im wirtschaftlichen Feld andererseits, die gegenwärtig noch nicht in ausreichendem Maße existiert.Nun sagt das Bundesforschungsministerium, es habe das höchste Budget im Bereich der Solarenergieforschung im internationalen Vergleich.
Dieses stimmt. Ich will jetzt nicht von den Fadenrissen reden, die Anfang der 80er Jahre nicht nur in der Bundesrepublik stattgefunden haben. Ich möchte nur fragen: Ist die Aussage, daß wir gegenwärtig das höchste Budget haben, gleichbedeutend mit der Aussage, daß genug getan werde?Der Antrag, der nach Empfehlung des Ausschusses gemeinsam verabschiedet werden soll, besagt, daß Solarenergie künftig einen „hervorragenden Stellenwert" haben soll. Der ursprüngliche Text lautete: „Solarenergie soll Priorität in der deutschen und europäischen Forschungs- und Entwicklungspolitik haben. " — Auch wenn wir nur von einem hervorragenden Stellenwert reden, bedeutet dies: Auch wenn andere noch weiter zurückliegen, als es bei uns der Fall ist, kommt man natürlich unweigerlich zu dem Punkt, die Prioritätenüberlegung anzustellen, ob es richtig ist, daß für Weltraumforschung zehnmal soviel ausgegeben wird wie für Solarenergieforschung. Diese Frage müssen wir uns alle stellen.In der Europäischen Gemeinschaft — wobei ich anerkenne, daß die Bundesregierung gegenwärtig zu den wenigen Regierungen gehört, die den Forschungshaushalt in der EG für Solarenergie hochtreiben wollen; andere sind noch lange nicht soweit — geht es genauso um einen stärkeren Nachdruck für eine Prioritätenänderung; denn im Moment gibt die EG für Fusionsforschung etwa zehnmal soviel aus wie
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Dr. Scheerfür Solarenergieforschung, obwohl Solarenergie heute einführbar ist, heute zur Verfügung steht. Die technologischen Probleme sind wesentlich geringer, als es bei der Fusionsenergie der Fall ist. Das sind Punkte, die hervorgehoben werden müssen, wenn wir vom Budget und von Leistungen reden.Weil es uns mit diesem Antrag darum geht, die Sache weiterzutreiben, versuche ich jetzt, herauszuarbeiten, wo die Probleme liegen. Das BMFT sagt, jedes sinnvolle Projekt werde gefördert. Unser Antrag gibt Anregungen, wo in der Zukunft Schwerpunkte zu setzen sind: in bezug auf Energiespeicherung, inklusive Wasserstoff, in bezug auf die Förderung praxisnaher Systemtechniken und vor allem in bezug auf die Verbundforschung von Wissenschaft und Industrie, um die Sache praxisnäher zu machen.Der gemeinsame Antrag des Ausschusses spricht von den Umsetzungsnotwendigkeiten. Hier haben wir doch in der Tat ganz eklatante Probleme. Ich darf nur ein Beispiel hervorheben: Es gibt einen sehr guten Ergebnisbericht des BMFT über Niedrigenergiehäuser, in dem aufgezeigt wird, daß schon heute, selbst in unseren Breitengraden, Hauser mit geringfügigen Mehrinvestitionskosten gebaut werden können, die nur 5 % der herkömmlichen Heizenergie verbrauchen. Die Bauprogramme der Bundesregierung, der Landesregierung und der Kommunen aber lassen vollständig vermissen, daß irgendeine Konsequenz aus diesen Forschungsergebnissen gezogen wird. Dies ist ein riesiges Problem.
— Herr Laermann, Sie brauchen doch gar nicht unbedingt zu widersprechen. Ich habe generell von Bundesländern und von Kommunen gesprochen. Dort gibt es, wie bekannt, unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse.Hier besteht doch ganz offenkundig ein Problem, und das beginnt schon innerhalb der Bundesregierung. Das sehe ich schon, wenn ich Forschungserkenntnisse, die öffentlich gefördert worden sind, mit der Umsetzungspraxis in anderen Ressortzuständigkeiten vergleiche. An dem Problem kommen wir leider nicht vorbei. Wir müssen dies verdeutlichen.Es gibt ein weiteres Problem, wenn es heißt, jedes Projekt werde gefördert. Wir können nicht überprüfen, ob alle Projekte, die sinnvoll sind, gefördert werden oder nicht. Da ist das Parlament überfordert. Das Problem ist ein völlig anderes. Man darf die Aussage, daß gefördert wird, nicht mißverstehen als eine Aussage, es werde gewissermaßen in der gesamten Breite allen Möglichkeiten Genüge getan. Das ist offensichtlich spätestens dann nicht der Fall, wenn wir an den gesamten Bereich der Dritten Welt denken. Da heute offenkundig ist, daß Solarenergie am ehesten dort einführbar ist, wo es um Neuinvestitionen geht und vorhandene Anlagen nicht abgeschrieben werden müssen, wo es um Inselversorgung geht, wo also nicht eine breite Netzversorgung zur Verfügung steht und wo Einzeltechniken in entlegenen Gebieten bereitgestellt werden müssen, ist klar, daß heute vor allem in der Dritten Welt, in der der größte Energiebedarfszuwachs bevorsteht,
Solarenergie gewissermaßen zwingend eingeführt werden muß. Das ist eine der großen Hoffnungen, wenn es darum geht, die Treibhausgefahren zu reduzieren.
— Herr Laermann, ich will doch nur auf etwas hinweisen, was wir gemeinsam im Antrag stehen haben. Verstehen Sie doch bitte nicht jeden Satz gleich als Angriff.
Da sind doch manchmal ganz andere Leute angesprochen.Das Problem ist, daß bereits heute in der gesamten Dritten Welt, in jedem Land der Welt die Solarenergien zur Verfügung stehen müßten, in jedem Land also das gesamte Spektrum von Demonstrationsanlagen, Pilotanlagen, Forschungsinstitutionen, wissenschaftlichem Personal zur Verfügung stehen müßte, um überhaupt diese Technologien annehmen und umsetzen zu können. Hier besteht ein großer Bedarf, und hier ist unsere große Aufgabe, die die Bundesrepublik allerdings nicht allein für die gesamte Welt wahrnehmen kann — das ist völlig klar —, die wir aber zusammen mit der Europäischen Gemeinschaft, mit den industrialisierten Ländern wahrnehmen müssen. Dieses ist eine spezielle Forschungs- und Entwicklungsaufgabe, die natürlich im Zusammenhang mit der gesamten Enwicklungspolitik gesehen werden muß.Dann hebt das BMFT hervor — das ist meine abschließende Bemerkung — , daß es im Bereich der Markteinführungshilfen etwas tut, und zwar mit dem Windkraftprogramm und mit dem jetzt neu angekündigten 1 000-Dächer-Programm. Gestatten Sie mir, dazu noch ein Wort zu sagen.Normalerweise müßte man erwarten, daß solche Markteinführungshilfen von dem dafür zuständigen Ressort kommen und damit auch von vornherein breiter angelegt sind. Das heißt: Das ist eigentlich eine wirtschaftspolitische Aufgabe.
Ich will auf einen Punkt hinweisen, der z. B. das 1 000-Dächer-Programm berührt, weil ich hier eine Ambivalenz feststelle. So begrüßenswert diese Programme sind, so sehr ist doch an Hand des neuen Programms heute festzustellen, daß sehr, sehr viele, die sich ohnehin entsprechend ausgerüstet hätten,
jetzt abwarten, bis das gesamte Genehmigungsverfahren unter Dach und Fach ist, und das dauert dann bis ins Jahr 1991 hinein. Das heißt: Ein Programm, das zur Förderung angelegt ist, Herr Minister, hat gegen-
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Dr. Scheerwärtig die Funktion, daß es einen Fadenriß auf dem Markt der Photovoltaik hervorruft.
Genau das kann ja nicht beabsichtigt gewesen sein. Deswegen ist es von hohem Stellenwert, daß solche Programme ihre Ambivalenz verlieren, d. h. daß sie wirklich fördern
und nicht im Zusammenhang mit der Förderung gleichzeitig andere gewissermaßen zu einer abwartenden Haltung treiben, die sie sonst nicht an den Tag legen würden.
Ich bitte Sie, bei der gesamten Verfahrensabwicklung eine drastische Beschleunigung zu erreichen, damit dieses Programm wirklich seine gewünschte Wirkung hat.Vielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister für Forschung und Technologie, Herr Dr. Riesenhuber.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Herr Scheer, um bei dem letzten Punkt anzuknüpfen: Wir haben das Programm als ein gemeinsames Bund-Länder-Programm angelegt. Der Beitrag des Bundes ist größer als der der Länder, sogar erheblich größer. Es gibt Länder, die jetzt schon erklärt haben, daß sie bereit sind, die Anträge entgegenzunehmen — da läuft es — , während andere das nicht getan haben. Das heißt, ob die Sache startet und wie schnell sie dann gegebenenfalls startet, hängt im wesentlichen davon ab, wie schnell die Länder ihre Infrastruktur aufbauen können. Ich möchte jetzt keine Namen von Ländern, die sich bereit erklärt haben, und von solchen, die noch nicht so weit sind, nennen. Aber ich kann sie nur alle herzlich zur Mitarbeit einladen.
Wenn wir hier also über Attentismus sprechen, dann muß ich Ihnen sagen: Er liegt nicht beim Bund. Das Programm ist richtig und vernünftig. Die finanzielle Vorsorge ist getroffen. Im übrigen zeigen die Statistiken über den Absatz von Solardächern in den letzten Jahren, daß der Attentismus nicht sehr groß sein kann; denn die Nachfrage war vor unserem Programm nicht erheblich.Die Schwierigkeit, die nun in der Debatte besteht, ist in mehreren Redebeiträgen angesprochen worden. Wir haben drei völlig verschiedene Themen. Wir müßten eigentlich über das zuletzt angesprochene Thema ausführlich diskutieren, über Solarenergie, über Wasserstoffwirtschaft. Die Strategie, die wir angelegt haben, liegt vor aller Augen offen. Es ist vom Kollegen Scheer bestätigt worden: Wir haben international ein herausragendes Programm. Zur Photovoltaik — um diese Spezialfrage zu nehmen — gibt es weltweit kein Programm, das größer als das unsrige ist. Wir hatten in den vergangenen Jahren zweistellige Zuwachsraten. Das reicht von der Grundlagenforschung, vom Einkristallin bis Mikrokristallin, über verschiedene Systeme, Dünnschicht — und Tandemzellen in verschiedenen Kombinationen bis hin zu großtechnischen Anlagen, bei denen Verfahren kombiniert werden, in Saudi-Arabien oder in Bayern. Wir können das hier nicht im einzelnen ausdiskutieren.Ich stimme den Zielen, die Herr Scheer ansprach, zu. Ich halte sie für ungemein attraktiv. Ich bin sehr optimistisch, was die Zeiten betrifft. Aber unsere Aufgabe ist nicht, die Zukunft zu prognostizieren, sondern in Wissenschaft und Technik die Voraussetzungen so zu schaffen, daß sie möglich wird. Genauso sind unsere Programme angelegt, und ich bin zuversichtlich, daß sie laufen werden.
Wir müßten die Diskussion über die Erfahrungsmedizin, die Naturmedizin, führen. Ich habe sehr gerne, Herr Kollege Voigt, zugehört, als Sie dargestellt haben, in welch grundsätzlicher Weise die Erfahrungsmedizin und die sogenannte klassische Medzin eigentlich einander bedingen und daß sie aus der gleichen Quelle entstanden sind.Ich erinnere mich an Diskussionen, die wir 1980/81 geführt haben, als es darum ging, unkonventionelle Krebstherapien durchzuführen. Ich weiß, daß wir damals über alle Fraktionen des Deutschen Bundestages eine gemeinsame Strategie angelegt haben.Ich glaube, aus diesem Geist heraus ist es eine Aufgabe, bei der das Parlament eine wichtige Rolle spielen kann. Den Bereich zu erweitern, in dem man arbeiten kann. Denn klassischerweise sind wir in dem Begutachtungsverfahren Kriterien unterworfen, bei denen viele Vertreter der Naturmedizin die Sorge haben, daß ihre Anliegen nicht gerecht behandelt werden.Das Ziel muß dabei sein, nicht mechanistisch auf einzelne Symptome hinzuarbeiten, sondern — wie Sie es dargestellt haben, Herr Voigt — den Menschen als ein Ganzes zu betrachten, der Verantwortung für seine Gesundheit trägt. Ziel ist nicht in erster Linie die Heilung von Krankheiten, sondern eine vernunftgemäße Lebensführung, die in der eigenen Verantwortung des einzelnen auch die Grundlage seines persönlichen Lebensvollzugs rational begründet. Wenn wir die Aufgabe aus diesem Geist angehen, haben wir über ein „technisches" Programm eine andere Einstellung zum Leben und zur Verantwortung erreicht.Ich möchte sehr gerne auf den Faktenbericht eingehen, der insgesamt darstellt, was in den letzten vier Jahren lief. Es ist der zweite Faktenbericht unter dieser Regierung; wir decken mit zwei Faktenberichten acht Jahre ab. Es ist wahrscheinlich der letzte Faktenbericht über die Bundesrepublik Deutschland.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17005
Bundesminister Dr. RiesenhuberWir werden den nächsten Faktenbericht und den nächsten Bundesforschungsbericht unter völlig anderen Bedingungen vortragen.
Die Bilanz ist außerordentlich beeindruckend und erfreulich. Die letzten acht Jahre sind für Wissenschaft und Technik in Deutschland, aber auch für die Erforschung der Bedingungen einer gefährdeten Umwelt und für die Umsetzung der Forschungsergebnisse eine außerordentliche und umfassende ungemein erfreuliche Erfolgsstory.
Ich kann Ihnen nicht alles nennen, was die Bundesregierung in diesem Zusammenhang tut. Die Bundesregierung schafft Voraussetzungen in der Forschungspolitik, aber die Forschung selbst betreibt die Wissenschaft. Die Bundesrepublik schafft Voraussetzungen für die Technik, aber die Unternehmen entwickeln die Technik.Ich möchte einmal auf einige Fakten hinweisen: Es ist offenkundig, daß wir in den letzten sechs Jahren so viele Nobelpreisträger hatten wie in den 30 Jahren vorher.
— Ich habe gerade ausdrücklich gesagt, daß dieses nicht allein ein Verdienst der Bundesregierung ist. Ich sage, daß dies eine ausgezeichnete Zeit war. Wenn ich dazunehme, daß viele der Nobelpreisträger junge Wissenschaftler sind, dann zeigt das, daß wir ein Maß an Dynamik haben, das richtig und gut ist.
Schauen wir uns jetzt die Märkte an: Wir haben vor zehn Jahren darüber philosophiert, ob 700 oder 900 kleine und mittlere Unternehmen forschen. Heute wissen wir, es sind mehr als 25 000. Gut, man kann sagen: Es wird genauer erfaßt. Aber hier hat sich eine Dynamik ausgebreitet, mit der nicht zu rechnen war. In Bereichen, wo unsere mittelständischen Unternehmen von den Weltmärkten abgeschlagen erschienen, haben wir plötzlich wachsende und sehr starke Weltmarktanteile. Maschinenbau ist der größte mittelständische Bereich, den wir in der Industrie haben.
— Ja, aber schauen Sie die Prognosen an, und vergegenwärtigen Sie sich, wie es im Bereich des Werkzeugmaschinenbaus 1982 aussah. Nachdem er unter der Regierungsverantwortung anderer, die Ihnen wohlbekannt sind, Jahr für Jahr Weltmarktanteile verloren hat, haben wir in bezug auf den Mittelstand einiges angelegt. Von 1984 an haben wir bei den Werkzeugmaschinen aufgeholt. 1987 und 1988 haben wir die Japaner eingeholt. Wir haben den Vorsprung 1989 ausgebaut. Dies ist eine Strategie, für die sich nicht der Mittelstand bei der Bundesregierung bedanken müßte, sondern für die wir uns beim Mittelstandbedanken, weil die neuen technischen Chancen von kompetenten Unternehmern ergriffen worden sind.
Man kann jetzt hier weitergehen und über die Patentanmeldungen sprechen. Auf dem Markt für Patente in den USA, dem größten Markt, haben weltweit alle Marktanteile an die Japaner, die mit großer Dynamik vorangegangen sind, verloren; die Deutschen nicht.
— Ich habe Ihnen gesagt, ich spreche hier über einen Faktenbericht. Der Faktenbericht zeigt, was wir alle erreicht haben. Selbst die Opposition — so unwahrscheinlich das klingt — mag hier ihren kompetenten Verdienst haben; diesen will ich ihr gar nicht absprechen. Aber wir wollen die Erfolge doch einmal zeigen und feststellen, was wir erreicht haben. Wenn man nicht bereit ist, Erfolge zu zeigen, wird niemand den Mut haben, an neue Aufgaben heranzugehen und neue Erfolge zu erkämpfen.
Es ist hier einiges über die Vernachlässigung der Grundlagenforschung gesagt worden. Frau Bulmahn, das sind faszinierende Aussagen. Ich darf jetzt einmal die Grundlagenforschung im internationalen Vergleich und in der deutschen Entwicklung darstellen. Insgesamt ist es so: Die USA und Japan haben etwa 12 bis 13 % ihres Forschungsbudgets für die Grundlagenforschung eingesetzt; die Bundesrepublik hat 19 % eingesetzt, nicht 12 oder 13 %, sondern 19 %. Im Haushalt des Forschungsministers gibt es keinen Bereich, der so stark gewachsen ist wie die Grundlagenforschung; im übrigen ist auch der Bereich der Weltraumforschung nicht so stark gewachsen.
— „Zwangsweise" heißt, daß wir Entscheidungen gefällt haben.
— Überhaupt nicht. Bei Ihnen waren es 26 %; bei uns sind es fast 40 %. Wir haben diesen Bereich weit überproportional gesteigert; ich halte das auch für richtig.
— Ich mußte überhaupt nicht. Ich habe dies als ein Ziel der Politik erklärt. Ich habe einen Bereich, den Sie über Jahre systematisch vernachlässigt haben — zugunsten einer Förderung sehr großer Unternehmen —, hochgezogen. Ich habe die Förderung von Großunternehmen für marktorientierte Technik halbiert. Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und meiner Politik.
Ich will hier auch einmal das Beispiel der Universitäten anführen. Es wurde gesagt, wir hätten die Universitäten schrecklich vernachlässigt. Herr Briefs hat darauf hingewiesen, daß mein Haushalt um 15 % gewachsen sei. Wenn wir einmal von dem Nachtragshaushalt 1982 absehen, der eine zusätzliche Leistung dieser Regierung war, ist der Haushalt um etwa 25 % gestiegen. Die Förderung von Universitäten ist seit-
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Bundesminister Dr. Riesenhuberdem aber um weit über 100 % gestiegen. Wir lagen im letzten Jahr bei 644 Millionen DM. 1982 waren es 312 Millionen DM. Wir werden in diesem Jahr weit über 700 Millionen DM liegen. Warum? Weil wir glauben, daß hier großartige Chancen für die Wissenschaften liegen und weil wir in einer Zeit helfen wollen, in der die Wissenschaft an den Universitäten durch die Überlast bedrängt werden könnte, da es Länder gibt, die nicht in der gleichen Weise mit den Leistungen nachgezogen haben, wie es die Situation und die große Zahl der Studenten tatsächlich erfordert hätten. Das ist die Lage.
— Wenn Sie fragen, in welche Länder ich das meiste Geld schicke
— pro Kopf, vielen Dank — , dann fordere ich Sie auf— es wurde unter Ihrer Regierung immer vom SüdNord-Gefälle gesprochen — , sich einmal anzuschauen, wie Bremen und Hamburg dastehen.
Sie stehen nämlich in Spitzenpositionen. Und warum? Weil wir diese Sache in einer Situation vorangebracht haben, in der wir alle Chancen so erschließen müssen, daß in allen Teilen Deutschlands bestmögliche Bedingungen für die Wissenschaft entstehen. Eine Strategie kann nicht darin bestehen, die Wissenschaft nur in einem Teil Deutschlands zu konzentrieren. Wir müssen als kleines, aber auf dem Weltmarkt starkes Land alle Chancen, die wir haben, nach besten Kräften nutzen. Das ist die Politik der Regierung, und diese weist sich in den Zahlen aus.
— Auch dies trifft nicht zu.
— Entschuldigen Sie, das ist ja alles nachlesbar. Von Baden-Württemberg — ich sage es nicht gerne — habe ich vor kurzem eine herbe Kritik erfahren, weil die Zahlen ausweisen, daß der Anteil Baden-Württembergs am Forschungshaushalt in den letzten Jahren ständig geschrumpft ist.
— Ich spreche vom Anteil; danach war gefragt worden. Ich führe ja hier eine Debatte und predige nicht das Volk an. Ich nehme auf, was hier kompetent oder auch nicht kompetent vorgetragen wird.Es wurde hier darüber gesprochen, daß die Geisteswissenschaften und die Sozialwissenschaften vernachlässigt würden. Der Bund hat hier von Haus aus nur eine außerordentlich begrenzte Zuständigkeit. Aber in den Bereichen, wo wir diese Zuständigkeit haben, haben wir die Mittel weit überproportional gesteigert. Die Mittel für Auslandsforschungen auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften haben wir verdreifacht. Wir haben die Aufwendungen für die Geisteswissenschaften insgesamt um mehr als 70 % gesteigert.
Wir haben im Bereich der Sozialwissenschaften neue Schwerpunkte gesetzt, dies aber nicht von uns aus, sondern aus einer Zielsetzung der Wissenschaft heraus, die sich ihre neuen Paradigmen gesucht hat.Ich könnte das gleiche — wir haben es aber schon oft diskutiert — für die Bereiche Umwelt- und Klimaforschung sagen. Es hieß hier, diese Bereiche seien vernachlässigt worden, es werde nichts umgesetzt. Das ist alles natürlich grober Unfug. Bei der Klimaforschung haben wir allein im Haushalt des BMFT in einer Zeit, in der der Zuwachs insgesamt 25 % betrug— Herr Briefs sagte es — , die Aufwendungen um mehr als 700 % gesteigert, im Haushalt der Bundesregierung insgesamt um fast 500 %.
Dann zur Umsetzung: Gerade vor 10 Tagen haben wir im Kabinett die Beschlüsse zur CO2-Reduktion gefaßt. Es gibt weltweit kein Programm, das so ehrgeizig wie das Programm der Bundesregierung auf eine CO2Reduktion hingeht. Wir gehen nicht nur an die Forschung heran — dies auch, und zwar sehr schnell —, sondern wir setzen dies auch so schnell um, wie es überhaupt geht.
Genau das ist das Ziel. In der Vergangenheit wurde das etwas vernachlässigt.Wenn ich mir ansehe, wie lange Sie damals bei den Kraftwerken über eine S02-Reduktion geredet haben, und wenn ich mir ansehe, was dann geschehen oder nicht geschehen ist, bis wir im Februar 1983 die Großfeuerungsanlagen-Verordnung verabschiedet haben, dann habe ich die realen Relationen vor Augen. Diese erbaulichen Reden stimmen damit nicht überein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe jetzt hier leider nicht die Möglichkeit — —
— Er ist überhaupt noch nicht angeschaltet. Reden Sie doch kompetent.
Wir haben in der Umweltforschung — ich habe es an Beispielen gezeigt — , wir haben in den Schlüsseltechnologien, in der Grundlagenforschung Voraussetzungen für eine sehr große Dynamik und auch für ein Wachstum, das hier anders prägt, geschaffen. Es ist davon gesprochen worden, daß die Welt immer schwieriger oder problematischer würde. Schauen Sie sich die Zahlen an: Was in diesen Jahren geschieht, ist das, was Erhard Eppler — ohne es eigentlich zu verstehen — Ende der 70er Jahre diskutiert hat. Er sprach
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17007
Bundesminister Dr. Riesenhuberdavon, daß wir ein qualitatives Wachstum haben sollten, das nicht Umwelt und nicht Energie und nicht Rohstoffe verbraucht.
Was wir hier haben, ist ein Wachstum, das intelligenzintensiv ist, ist ein Wachstum, das mehr in die Forschung und die Entwicklung, in die Ausbildung und in die Patente steckt als in die Hardware und in die Gebäude. Das ist ein Wachstum, das eine vernünftige und verantwortliche Arbeit in einer begrenzten Welt erlaubt, in der die Probleme zunehmend gelöst und deren Lösung nicht erschwert wird.Dies ist etwas, was über den wirtschaftlichen Erfolg hinaus die Marktwirtschaft auch für die Länder des Ostens so attraktiv macht, die aus einer alten, gemeinsamen Geschichte wieder hin zu einer gemeinsam gestalteten Zukunft finden, und zwar nicht aus einer Konvergenz der Systeme, über die geredet worden ist, sondern aus dem Geist der Freiheit. Auf der KSZEFolgekonferenz war eine der eindrucksvollsten Aussagen, daß die alten RGW-Länder gesagt haben: Wir wollen Marktwirtschaften aufbauen, wir wollen Wissenschaft und Technik und Zukunft auf dem Geist der Freiheit in einem einheitlichen und gemeinsamen Europa aufbauen.
Zu diesem Geist beizutragen ist Aufgabe jeder Politik — der Forschungspolitik, der Wirtschaftspolitik — , ist Aufgabe jeder Arbeit, die wir anzulegen haben. Aber die einzigartige Chance, daß Deutschland jetzt mitten in Europa liegen wird — nicht als mögliches Konfliktfeld am Rand — , daß es Brücke sein kann in einem Europa, das sich aus dem gemeinsamen Geist der Freiheit auf die Zukunft hin orientiert, das ist etwas, zu dem wir in der Forschung beitragen können.
Das ist die Aufgabe, der wir uns in den 90er Jahren stellen. Ich sehe mit großer Zuversicht auf die Arbeit, die wir gemeinsam anzugehen haben. Voraussetzungen dafür haben wir mit großer Stärke in den 80er Jahren geschaffen. Wir werden die Voraussetzungen in eine gemeinsame europäische Arbeit einbringen, in einen weltweiten Prozeß, in dem jeder seinen Beitrag zu leisten hat und die Starken vielleicht etwas mehr beizutragen haben. Wir werden dies aus dem Geist der Freiheit und aus dem Geist der Verantwortung mit allen Kräften tun.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zuerst zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 11/6372. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? Ich bitte um das Handzeichen. — Gegenprobe. — Keine Gegenstimmen. — Stimmenthaltungen? — Keine Enthaltungen. Das ist also einstimmig.
— Meine Damen und Herren, meine Frage zur Abstimmung war eindeutig. Aber wenn sie Wert auf die Feststellung legen, daß Sie sich der Stimme enthalten — —
— Ich habe nicht zu schnell gesprochen und auch ohne Dialekteinfluß auf meine Sprache. Das war durchaus verständlich.
Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 11/6857 ab. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. — Enthaltungen? Eine Enthaltung. Diese Beschlußempfehlung ist mit großer Mehrheit angenommen.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 11/6886 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Damit ist diese Überweisung beschlossen.
— Wollen Sie etwas zur Geschäftsordnung oder zum nächsten Tagesordnungspunkt sagen?
Ich möchte noch eine Erklärung zur Abstimmung abgeben. Bei der Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 11/1960 betreffend Naturmedizin enthält sich die Fraktion der GRÜNEN. Das ist eben nicht deutlich geworden.
Es wird zu Protokoll genommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 und Zusatztagesordnungspunkt 1 auf:4. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ewen, Engelsberger, Dr. Feldmann, Dr. Olderog, Bamberg, Bernrath, Biehle, Bredehorn, Börnsen , Büchner (Speyer), Bühler (Bruchsal), Carstensen (Nordstrand), Dörflinger, Egert, Frau Faße, Feilcke, Frau Folz-Steinacker, Fuchtel, Frau Geiger, Graf, Grünbeck, Dr. Grünewald, Dr. Haack, Frau Hämmerle, Frau Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Heistermann, Frau Dr. Hellwig, Herkenrath, Hiller (Lübeck), Hinsken, Dr. Hoyer, Dr. Hüsch, Graf Huyn, Ibrügger, Dr. Jobst, Jung (Limburg), Kalisch, Kißlinger, Kittelmann, Dr. Klejdzinski, Kolbow, Kretkowski, Dr. Kunz (Weiden), Leidinger, Lennartz, Louven, Maaß, Magin, Dr. Müller, Müller (Pleisweiler), Müller (Schweinfurt), Müller (Wadern), Müller (Wesseling), Müntefering, Nelle, Frau Dr. Niehuis, Dr. Nöbel, Oswald, Frau Pack, Paintner, Reimann, Reuter, Frau Rönsch
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17008 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Vizepräsident Stücklen
, Rossmanith, Ruf, Sauer (Salzgitter), Scherrer, von Schmude, Schütz, Schulze (Berlin), Frau Dr. Segall, Frau Seiler-Albring, Frau Dr. Skarpelis-Sperk, Dr. Sprung, Dr. Stark (Nürtingen), Stiegler, Frau Terborg, Tietjen, Tillmann, Dr. Uelhoff, Dr. Unland, Vahlberg, Frau Weiler, Weiß (Kaiserslautern), Wilz, Wimmer (Neuötting), Wolfgramm (Göttingen), Zeitlmann, Zierer und der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP
Binnenmarkt und Fremdenverkehr— Drucksachen 11/4932, 11/6546 —b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Saibold, Frau Teubner, Brauer, Weiss , Stratmann und der Fraktion DIE GRÜNENUmwelt- und sozialverträglicher Tourismus in der Bundesrepublik Deutschland— Drucksache 11/ 6254 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauZP1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ewen, Faße, Büchner , Buschfort, Egert, Graf, Haack (Extertal), Heistermann, Hiller (Lübeck), Kißlinger, Dr. Klejdzinski, Kolbow, Dr. Kübler, Leidinger, Müller (Pleisweiler), Müller (Schweinfurt), Müntefering, Dr. Niehuis, Opel, Reimann, Reuter, Scherrer, Schütz, Seidenthal, Dr. Skarpelis-Sperk, Stiegler, Terborg, Tietjen, Wimmer (Neuötting), Dr. Vogel und der Fraktion der SPDReisen und Behinderte— Drucksache 11/7425 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für VerkehrAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauHierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/ 7424 vor.Meine Damen und Herren, der Ältestenrat hat für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich stelle Zustimmung fest. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Olderog. Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle sind Zeitzeugen tiefgreifender Veränderungen in Europa. Wo liegen für uns als Tourismuspolitiker die größten Herausforderungen?Erstens. Wir alle haben die Pflicht, unseren Landsleuten in der DDR beim Aufbau ihrer Tourismuswirtschaft zu helfen. Das ist zuallererst vordringlich: eine umfassende Planungs- und Beratungshilfe. Beispielhafte Initiativen haben bereits einzelne Verwaltungen, auch der Deutsche Reisebüro-Verband, DRV, und der Arbeitskreis Selbständiger Reiseunternehmen, asr, ergriffen.
Es fehlt an fast allen erforderlichen Vorarbeiten für Raumordnung und Bauplanung. Keinesfalls darf — unter dem zu erwartenden Druck westlicher Investoren — planlos, zufallsbedingt und ökologisch verfehlt eine Entwertung reizvoller Landschaften erfolgen. Solange eine fundierte Entwicklungs- und Landschaftsplanung nicht vorliegt, muß notfalls eine vorübergehende Veränderungssperre Fehlentscheidungen vermeiden. Wir müssen vor allem kleine und mittlere Betriebe fördern. Wir müssen verhindern, daß die großen das Feld unter sich allein aufteilen.
Zweitens. Wir müssen einer verfehlten EG-Tourismuspolitik in Brüssel entgegentreten. Die europäischen Initiativen lassen weder ein umfassendes Konzept noch vernünftige ordnungspolitische Grundsätze erkennen. Sie sind bürokratisch-reglementierend, siehe Pauschalreiserichtlinie,
ohne ausreichende Vorbereitung, siehe „Europäisches Jahr des Tourismus", mißachten den Grundsatz der Subsidiarität, siehe Vorstellungen zur räumlichen Entzerrung des Fremdenverkehrs, und Brüssel subventioniert Bettenburgen statt Umweltschutz und Infrastruktur, wie dies mit EG-Strukturfonds und integrierten Mittelmeerprogrammen leider geschieht.Drittens. Der Binnenmarkt bietet zusätzliche Chancen, aber er verschärft — ebenso wie neue Angebote in Osteuropa — auch den Wettbewerb.Was müssen wir wo zur Stärkung unserer Wettbewerbskraft tun? Ich plädiere für eine Modernisierungskampagne, besonders bei kleinen und mittleren Beherbergungsbetrieben sowie Privatquartieren. Wir brauchen eine zweite Investitionsphase für naturnahe und vor allem wetterunabhängige Gemeinschaftseinrichtungen für Spaß, Sport und Gesundheit. In den mittleren Hotels und in den Kurverwaltungen müssen leitende Positionen stärker mit professionellen Kräften besetzt werden.Ich plädiere weiter nachdrücklich dafür, die Leistungs- und Organisationskraft des Deutschen Fremdenverkehrsverbandes, DFV, zu stärken. Wir warten dringend auf die Umsetzung der Konzeptionen für ein umfassendes Informations- und Reservierungssystem sowie für eine zentrale Werbung für Urlaub in Deutschland. Seine Regionalverbände müssen den DFV mit mehr Kompetenzen, mehr Geld und mehr Mitarbeitern ausstatten. Der Bund wird dabei nicht abseits stehen. Wir unterstützen den Plan der Deutschen Fremdenverkehrs- und Tourismuswirtschaft,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17009
Dr. Olderogeine gemeinsame Vertretung in Brüssel einzurichten.
Viertens. Ursprüngliche Natur, schöne Landschaft und historische Bauten sind das Fundament des Fremdenverkehrs. Größere Fremdenverkehrsprojekte darf es ohne Landschaftsplanung und Umweltverträglichkeitsprüfung nicht mehr geben.
Der Fremdenverkehr muß mit Umweltschützern, Naturfreunden und Denkmalschutz eng zusammenarbeiten. Das gilt auch für das Ausland. Dort stehen auch die in der Verantwortung, die als große Reiseveranstalter Marktmacht und damit Einfluß haben. Ich fordere alle Reiseveranstalter auf, Hotels und Ferienorte, die z. B. ihre Abwässer ungeklärt ins Meer kippen oder sich sonst an der Umwelt versündigen, rigoros aus ihren Verträgen und Angeboten zu streichen.
Viele Umweltbelastungen, z. B. der Nordsee, haben ihren Ursprung in Umweltverschmutzungen in der DDR und in Osteuropa. Statt bei uns mit hohen Investitionen nur noch geringfügige Verbesserungen zu erzielen, sollten für eine begrenzte Zeit im Rahmen der deutschen Umweltunion und eines Umwelt-Marshallplanes für Osteuropa dort effektiver Maßnahmen eingeleitet werden.
Fünftens. Die wirtschaftliche Bedeutung von Fremdenverkehr und Tourismus in der Bundesrepublik Deutschland wird noch immer unterschätzt.
Hier liegen mehr als 1,5 Millionen Arbeitsplätze. Das sind 6 % aller Erwerbstätigen in der Bundesrepublik.Mit der Gründung des Unterausschusses Fremdenverkehr haben Fremdenverkehr und Tourismus bei Bundestag und Bundesregierung einen höheren politischen Stellenwert erhalten. Wir sollten diesen Weg weitergehen. Auch mit Blick auf die DDR plädiere ich für einen Vollausschuß im neuen gesamtdeutschen Parlament, einen Ausschuß für Fremdenverkehr, Tourismus und Freizeit.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ewen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte gibt Gelegenheit, auf die fremdenverkehrspolitischen Aspekte des europäischen Binnenmarktes einzugehen. Im größeren Europa — auch gen Osten in Zukunft weithin ohne nennenswerte Grenzbarrieren — wird dieReiseintensität der Menschen noch weiter zunehmen. Die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik im Herzen Europas sind von dieser Entwicklung mehrfach betroffen:Erstens. Deutschland ist touristisches Zielland für Einheimische und für Gäste aus aller Welt gleichermaßen.Zweitens. Deutschland ist Durchgangsland sowohl für den Nord-Süd- als auch für den Ost-West-Tourismus.Drittens. Deutschland entsendet ein beachtliches Urlauberpotential in alle anderen Länder. Das ist auch gut so. Der Ansatz, den Outgoing-Tourismus durch Urlaub in Deutschland zurückzudrängen, schadet nicht allein unseren Reiseveranstaltern und Reisebüros. Er würde vielmehr auch unsere Handelsbilanz ohne jede Not in eine gefährliche Schieflage bringen.Die von uns allen gewünschte Steigerung für den Urlaub in Deutschland muß zum einen aus dem Potential derjenigen stammen, die bislang noch nicht oder nur selten verreisen, und zum anderen aus dem derjenigen, die einen zusätzlichen Urlaub im Jahr verbringen wollen und können.Dies alles geschieht im Wettbewerb sowohl mit anderen Ländern wie innerhalb Deutschlands zwischen den vielfältigen Angeboten der Urlaubsregionen von Ostfriesland bis Ostbayern einerseits und von der Saar bis an die Oder andererseits. Dabei spielen die Wettbewerbsbedingungen innerhalb der EG eine besondere Rolle. Die Bundesregierung muß daher in Brüssel darauf drängen, wie in unserem Entschließungsantrag gefordert, Störungen des Wettbewerbs und Verzerrungen durch unterschiedliche Rechtsnormen schnellstmöglich abzubauen.
Dies gilt im besonderen für das Wettbewerbsrecht, das Reiserecht, das Steuerrecht, Sozialrecht, Umweltrecht und das Niederlassungsrecht. Die Besteuerung touristischer Leistungen muß hinsichtlich der Besteuerungsgrundlagen ebenso vereinheitlicht werden wie bei den Steuersätzen. Weitere wichtige und für eine gesunde und vernünftige Entwicklung des Tourismus in Deutschland und der gesamten EG notwendige Aufgaben sind in unserem Entschließungsantrag aufgeführt.Am 13. dieses Monats hat der Verbraucherrat nunmehr endgültig die umstrittene Pauschalreiserichtlinie verabschiedet. Und noch immer bleibt der Schwarztouristik Tür und Tor geöffnet, und noch immer handelt es sich um eine Minimal-Richtlinie. Das Ziel, zu einer EG-einheitlichen Regelung auf hohem Niveau zu gelangen, ist wieder einmal verfehlt worden. Und all dem hat die Bundesregierung offensichtlich ohne Not und wider besseres Wissen zugestimmt.Ein hoher Standard auf dem Gebiet der Trinkwasserversorgung und auf dem der Abwasserbeseitigung sind dringend notwendig, und zwar überall.
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17010 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
EwenNicht nur Hotels müssen über diese Anlagen verfügen, sondern auch die Gemeinden. Es nützt nichts, wenn Hotels die Anlagen haben und Großstädte gleich neben den Badestränden keinerlei Abfallbeseitigungsanlagen haben.
Hier ist Europa gefordert, wenn die Länder es nicht selbst können, und nicht bei der Ausweitung der Bettenburgen.Verkehrsbeziehungen sind grenzüberschreitend zu planen und dann unter Berücksichtigung touristischer Notwendigkeiten national durchzuführen. Dies gilt insbesondere für alle Schienenverbindungen. Es ist unerträglich, überall Verspätungen im Flugverkehr hinnehmen zu müssen, weil ein europäisches Flugsicherungskonzept nicht durchgesetzt wird und nicht einmal auf leistungsfähige Bahnen ausgewichen werden kann.
Meine Damen und Herren, dies sind nur ganz wenige Punkte aus einem ganzen Katalog, die eine Abstimmung über nationale Grenzen hinweg erfordern. Wir Sozialdemokraten haben nicht den Eindruck, daß die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien über den engen Kreis der Tourismuspolitiker hinaus bereit sind, ihre Verantwortung für einen so bedeutenden Teil der deutschen Volkswirtschaft wahrzunehmen.
— Du bist doch Tourismuspolitiker.
Immerhin sind rund 1,5 bis 1,7 Millionen Menschen durch den Tourismus in Arbeit und Brot. Fast 5 % des Bruttosozialprodukts werden schon heute im Tourismus erwirtschaftet, und alle Prognosen weisen darauf hin, daß dieser Anteil noch steigen wird.
Die Verbände des Tourismus, die der Reisebüros, der Reiseveranstalter, der Gastronomie, des Omnibusgewerbes, der Verkehrsträger und des einheimischen Fremdenverkehrs, sie alle haben ihre Forderungen gegenüber Bundesregierung und Parlament artikuliert. Die Bundesregierung antwortet nicht, oder, wenn sie es denn doch einmal tun muß — wie bei der Großen Anfrage, über die wir hier debattieren —, weicht sie aus, wo immer es nur geht.Einige Beispiele für diese, wie ich sagen möchte, Tarnaktionen: Die Tourismuswirtschaft nicht allein in der Bundesrepublik, sondern EG-weit ist auf aussagefähiges statistisches Material angewiesen, will sie nicht Gefahr laufen, am Markt vorbei zu planen. Auf unsere diesbezügliche Anfrage verweist die Bundesregierung auf die vor drei Jahren eingesetzte Arbeitsgruppe „Tourismus-Statistiken" beim Statistischen Bundesamt, aber sie vergißt zu erwähnen, daß noch immer kein besseres Zahlenmaterial vorliegt, auf EGEbene schon gar nicht.
— Wir haben aber auch den Mikrozensus noch nicht verändert, Herr Kollege Hinsken.
— Ja, gut, aber es müssen auch mal Ergebnisse kommen.Wir haben die Bundesregierung gefragt, welche konkreten Schritte sie bereits unternommen hat, um auf EG-Ebene ein tourismuspolitisches Rahmenprogramm zu erarbeiten. Die Antwort, die Mitteilung der Kommission, Vorgehen der Gemeinschaft im Bereich des Fremdenverkehrs, aus dem Jahre 1986, lasse „nicht erkennen, daß Tourismuspolitik bei der EGKommission in ihrer vollen Dimension als Querschnittaufgabe ... behandelt wird", wirft die Frage auf, warum denn die Bundesregierung jetzt immerhin vier Jahre nach dieser Feststellung noch keine Verbesserung durchgesetzt hat.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Grünbeck?
Herr Grünbeck, bitte sehr.
Herr Kollege, teilen Sie meine Auffassung, daß durch eine europäische Statistik der europäische Tourismusmarkt nicht maßgebend beeinflußt werden kann, sondern daß er durch die von dem Herrn Kollegen Olderog geforderten profihaften Eingriffe in die Entwicklung der Märkte unter Berücksichtigung ökologischer Grundsätze maßgebend beeinflußt wird?
Herr Kollege Grünbeck, ich bin einverstanden, daß private Initiativen auch im ökologischen Bereich helfen können, den Tourismus weiterzuentwickeln. Aber wenn die statistischen Grundlagen nicht da sind, kann es zu Fehlallokationen kommen. Und die wollen wir eigentlich vermeiden helfen. Wir haben eine große Grau- bis Schwarzzone für den Tourismus überall, und das führt dann zu falschen Investitionen.
— Wenn ich Zeit hätte, könnte ich Ihnen jetzt ein konkretes Beispiel sagen. Wenn die durchschnittliche Belegungszeit in der Statistik 78 Tage beträgt, glaubt die Gemeinde, sie muß durch Werbeanstrengungen und Verbesserungen der Infrastruktur dafür sorgen, daß 200 Tage erreicht werden, damit die Leute von der Vermietung leben können. Wenn man mit den Vermietern selber redet, sagen die: Na, unter 200 Tage haben wir nichts.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17011
Ewen— Nein.
— Weil wir unter neun nicht erfassen. Das weißt du doch.Also die Gefahr einer Ausflaggung bundesdeutscher Busunternehmen und Fluggesellschaften wird gar nicht erst zur Kenntnis genommen. Leider ist die Bundesregierung auch beim Tourismus auf dem sozialpolitischen Ohr taub. Wie ist sonst die Antwort zu verstehen, eine Angleichung der unterschiedlichen arbeitsrechtlichen und sozialrechtlichen Systeme in den einzelnen EG-Mitgliedstaaten sei nicht geplant? Niemand verlangt einen Eingriff in die Tarifautonomie. Aber wer den europäischen Sozialraum realisieren will, kommt um eine möglichst weitreichende Harmonisierung in diesem Bereich auf hohem Niveau auf lange Sicht nicht herum.Es ist schon fast eine Binsenweisheit, daß der Fremdenverkehr nur dann langfristig die Grundlagen seiner Existenz sichern kann, wenn auf die berechtigten Belange der Umwelt und der Natur Rücksicht genommen wird.
Dieser generellen Feststellung verschließt sich auch die Bundesregierung erfreulicherweise nicht. Aber dann sollte sie auch bereit sein, sich für die Einführung eines europaweiten Systems zur Bewertung der Umweltqualität von Stränden und offenen Badegewässern einzusetzen.
So sehr die Förderung der im europäischen Umweltjahr erstmals durchgeführten Aktion „Blaue EuropaFlagge" für umweltbewußte Strandgemeinden und Sportboothäfen durch EG und Bundesregierung zu begrüßen ist: Das allein ist nicht genug.Das von einer sozialdemokratischen Landesregierung geführte Schleswig-Holstein
zeigt an konkreten Beispielen, was man weiter verbessern könnte.
— Das haben sie jetzt beschlossen, vorgestern beschlossen.
— Ja.
— Da bin ich Gott sei Dank auf neuestem Stand.
In der am 7. Mai 1990 durchgeführten Anhörung wurde noch einmal von Vertretern der Wissenschaft, der Verbraucher und der Wirtschaft betont, daß genau hier, in der praktischen Durchführung, der Schuh drückt.Was für andere wichtige Politikfelder sind, gilt auch für den Fremdenverkehr. Die Bundesregierung verfügt über keine klare Konzeption für den gemeinsamen europäischen Binnenmarkt. Probleme werden nicht erkannt, notwendiger Harmonisierungsbedarf wird verneint, und alles andere wird für bereits erledigt befunden.So geht es nicht. Die Wirtschaft, die Verbraucher, die Umwelt und die im Tourismus Tätigen haben ein Recht darauf, daß auf ihre berechtigten Belange Rücksicht genommen wird.
Darum bitte ich hier und heute um Zustimmung zu unserem Entschließungsantrag, der alle Probleme, die wir in der Vergangenheit gemeinsam mit den Verbänden erörtert haben, aufgegriffen hat.
— Das geht bei Entschließungen nicht. Oder?
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Feldmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Tourismus in Europa ist mehr als Sonne und Erholung. Der grenzüberschreitende Tourismus ist ein entscheidender Beitrag zur Völkerverständigung und Überwindung nationaler Vorurteile. Völkerverständigung ist das politische Programm des Tourismus.Der Tourismus war und ist auch ein entscheidender Motor der westeuropäischen Integration und wird diese Rolle auch bei der gesamteuropäischen Einigung spielen.
Der Tourismus hat aber auch eine marktwirtschaftliche Rolle. Der Tourismus hat für die marktwirtschaftliche Umgestaltung Mittel- und Osteuropas eine Pionierfunktion.Der Tourismus ist in der EG aber nicht nur Motor der politischen Integration, sondern auch Motor der wirtschaftlichen Entwicklung. Denn bereits heute trägt die Tourismusbranche 5,5 % zum Bruttoinlandsprodukt der Gemeinschaft bei und bietet Millionen Arbeitsplätze. Bis zur Jahrtausendwende — so eine Prognose des EG-Parlaments — kann der Tourismus zum wichtigsten Wirtschaftszweig in der Gemeinschaft werden.
Die wirtschaftlich schwächeren Mitgliedsländer schöpfen aus dem Tourismus wichtige Einnahmen, die für den Aufbau leistungsfähiger Volkswirtschaften und damit für die Abschwächung des Wirtschafts- und Wohlstandsgefälles in der Gemeinschaft unverzichtbar sind. Selbst im Industrieland Bundesrepublik
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Dr. Feldmannist die Gast- und Reisebranche mit 1,8 Millionen direkt und indirekt Beschäftigten größter Arbeitgeber. Trotzdem fehlen ihr Arbeitskräfte. Arbeitskräftemangel ist das größte Problem im Deutschen Hotel- und Gaststättengewerbe, dem Standbein des Fremdenverkehrs.
Die FDP begrüßt die Absicht der Bundesregierung, den Anwerbestopp für Nicht-EG-Ausländer teilweise aufzuheben, und die bereits erfolgte Lockerung des Beschäftigungsverbots für Asylbewerber. Das sind richtige Schritte in die richtige Richtung.
— Ja, hoffentlich. Ich würde mich freuen, wenn das gemeinsame Auffassung wäre.
Also, ich bin da etwas vorsichtiger und bezeichne das zunächst einmal als den ersten Schritt in die richtige Richtung. Der Kollege Dörflinger hat ja von Staatssekretär Seehofer eine Antwort in dieser Richtung bekommen; dies habe ich dann mit meinen Anfragen noch vertieft.
— Für Fairneß sind wir immer zu haben.Der Schlüssel für eine erfolgreiche Tourismuspolitik in der EG sind Liberalisierung und Abbau protektionistischer Behinderungen. Hier liegt die Bedeutung des Binnenmarktes: Was der Abbau der Paßkontrollen für die Bürger Europas ist, ist die Einführung des Binnenmarktes und der Dienstleistungsfreiheit für die Unternehmen.Die Tourismuspolitik der EG-Kommission trägt dem allerdings nicht in erforderlichem Maße Rechnung. — Herr Kollege Ewen, da kann ich Ihren Aufzählungen nicht widersprechen. — Sie weist bedauerlicherweise sogar dirigistische und zentralistische Elemente auf und errichtet dadurch neue Wettbewerbshindernisse. Statt subsidiär tätig zu werden, versucht die Kommission, zu regeln, wo nichts zu regeln ist, und übersieht andererseits, wo gemeinschaftliches Handeln dringend erforderlich ist.
Der erste Entwurf für eine Pauschalreise-Richtlinie der Gemeinschaft war ein klassisches Beispiel für praxisferne Politik. Es geht nicht an, daß die Kommission und der Ministerrat immer mehr Kompetenz erhalten, die Möglichkeiten demokratischer Mitsprache und Kontrolle aber immer weiter zurückfallen. Es ist Aufgabe der Politik, dies schnellstmöglich zu korrigieren.
Gefordert ist auch die deutsche Fremdenverkehrswirtschaft. Sie muß am Sitz der Kommission präsent sein, um mit ihren Argumenten frühzeitig — vor Ort, in Brüssel — eingreifen zu können; da stimme ich Ihnen, Herr Kollege Olderog, zu. Bei Vorlage eines klaren Konzeptes für ein „Haus des deutschen Fremdenverkehrs" in Brüssel müßte auch über eine Anschubfinanzierung gesprochen werden können.
— Das hoffe ich; denn Sie haben es ja selbst erwähnt.Ich darf zum Schluß feststellen — ich bin mir da der Unterstützung hier im Hause sicher — : Eine intakte Umwelt ist das Grundkapital des Tourismus. Das touristische Wachstum darf nicht weiter zu Lasten der Umwelt gehen. Hier ist gemeinschaftliches Handeln gefordert. Denn nationale Maßnahmen werden der weltweiten Dimension dieses Problems nicht gerecht.Die FDP fordert, Fehlentwicklungen zu korrigieren und sanfte, umweltschonende Urlaubsformen mit Nachdruck zu fördern. Die FDP fordert darüber hinaus eine EG-Umweltverträglichkeitsprüfung für alle touristischen Großprojekte.
— Also, in erster Linie ist die EG den Beweis ihrer Handlungsfähigkeit in der Umweltpolitik noch schuldig; da werden Sie mir wohl nicht widersprechen, Herr Kollege.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hinsken.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Präsident, gestatten Sie, daß ich zunächst ein Wort des Grußes in Richtung Tribüne richte, und zwar an die Vorsitzende des Ausschusses für Handel und Tourismus in der DDRVolkskammer, Frau Noack. Ich hoffe, daß Sie diesem Parlament hier möglichst bald angehören.
Meine Damen und Herren, wir haben heute eine Debatte zu führen — ich freue mich, hier als Redner auftreten zu dürfen — , in der es um die schönste Jahreszeit für jeden Mitbürger geht. Diese Debatte findet in einer Situation statt, in der die Bundesregierung darauf verweisen kann, daß sie finanzielle Grundlagen dafür geschaffen hat, daß sich die meisten Mitbürger überhaupt einen Urlaub leisten können.
Ich darf als zweites vermerken: Das Jahr des europäischen Tourismus ist natürlich auch prädestiniert, auf die Bedeutung des Fremdenverkehrs, des weltweit bei über 100 Millionen Beschäftigten größten Arbeitgebers, aufmerksam zu machen. Allein im Jahre
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Hinsken1989 gab es 32,6 Millionen Auslandsreisen, und zwar fünf Tage und länger. In diesem Jahr werden die Bundesbürger vermutlich 47 Milliarden DM für Urlaubsreisen im Ausland ausgeben.
Der europäische Binnenmarkt ab 1. Januar 1993 wird diese Entwicklung tendenziell voraussichtlich noch steigern. Der Abbau der faktischen Grenzkontrollen im EG-Reiseverkehr ist bereits fortgeschritten.Hier auch ein Kompliment an die Bundesregierung, vertreten durch Herrn Staatssekretär Beckmann, daß Gott sei Dank in den letzten Tagen erreicht wurde, daß in Zukunft Kontrollen und Sichtvermerke im grenzüberschreitenden Verkehr mit Frankreich und den Benelux-Staaten im Urlaub keinen Hinderungsgrund mehr darstellen.
Es ist zu vermuten, daß der innerdeutsche Tourismus erheblich zunehmen wird. Dies gilt vor allen Dingen, was den Tourismus anbelangt, auch in Richtung Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Ich denke, daß sich beispielsweise der Verzicht auf die Sichtvermerkserteilung und den Zwangsumtausch positiv auf den Tourismus insbesondere in die CSFR und nach Ungarn sowie in umgekehrter Richtung auswirken wird. Insbesondere das ideale ostbayerische Fremdenverkehrsgebiet wird davon profitieren.Allerdings — das sollte uns allen zu denken geben — dürften hier wohl Kapazitätsengpässe einem allzu heftigen Emporschnellen der Zahlen entgegenwirken. Insbesondere in der DDR reichen die Kapazitäten bei weitem noch nicht aus, um den neuen Ansturm zu bewältigen.Aus Erfahrungen der Vergangenheit sollten wir allerdings lernen: Es wäre ungut, meine Kolleginnen und Kollegen, wenn zum Nachteil des Mittelstands in Ost und West westliche Kapitalgeber den Bau von Bettenburgen sowohl in der DDR als auch in der CSFR finanzieren würden.
Da müssen wir gegenhalten. Wir müssen uns die Interessen des Mittelstands in diesen Fremdenverkehrsgebieten vor Augen halten.Der Fremdenverkehr ist ein Wirtschaftszweig von erheblicher Bedeutung. Kollege Dr. Olderog hat bereits in wenigen Sätzen darauf verwiesen. 7,5 Millionen EG-Bürger, d. h. 6 % aller in der EG Beschäftigten, sind im Tourismus tätig. 5,5 % des Bruttoinlandsprodukts der EG und 8 % des gesamten privaten Verbrauchs entfallen auf diesen arbeitsintensiven Sektor. Der gemeinsame Binnenmarkt bringt zusätzliche Chancen, z. B. durch die Absatzpotentiale. Er bedeutet auch eine Herausforderung durch verschärften Wettbewerb und birgt die Gefahr von Billigangeboten.Aber gerade die Fremdenverkehrsbranche, die allein in der Bundesrepublik mit über 4 % zum Volkseinkommen einschließlich der Verkehrsleistungen beiträgt und von der indirekt oder direkt ca. 2 Millionen Arbeitsplätze abhängen, braucht die internationale Konkurrenz nicht zu scheuen, da sie sich schon seit Jahren in einem harten internationalen Wettbewerb befindet. Diese hohe Zahl von Arbeitsplätzen, zum großen Teil in strukturschwachen, aber landschaftlich reizvollen Gegenden, ist beredter als alle Worte.Übrigens: Eine Erhöhung der Mineralölsteuer, wie Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sie in letzter Zeit mehr und mehr fordern, in Höhe von 0,50 DM pro Liter Kraftstoff würde bedeuten, daß jeder einzelne finanziell so stark zu Kasse gebeten wird, daß er sich beispielsweise in meinem Urlaubsgebiet, im Bayerischen Wald, bei einer Kilometerleistung von 2 000 Kilometern in seiner schönsten Zeit, nämlich im Urlaub, über acht Schweinebraten weniger leisten kann. Das würde ihm nach den Plänen der SPD durch die Erhöhung der Mineralölsteuer gestohlen.
Ihnen von den GRÜNEN möchte ich sagen: Sie sind noch viel schlimmer, wenn Sie fordern, den Benzinpreis auf 5 DM pro Liter anzuheben.
Haben Sie sich überlegt, was das bedeutet?
Das bedeutet, liebe Frau Kollegin Saibold, daß Sie den einzelnen zusätzlich mit bis zu 1 000 DM belasten, wenn sein Urlaubsziel 1 000 Kilometer entfernt liegt. Das heißt, Sie stehlen einer vierköpfigen Familie durch das Geld, das Sie ihr durch eine Benzinsteuererhöhung abnehmen wollen, acht Tage Urlaub, die sie sich sonst leisten könnte.
Meine Damen und Herren, hier gäbe es natürlich noch Verschiedenes auszuführen. Ich meine, daß hier vor allen Dingen darauf verwiesen werden kann, daß die Voraussetzung für eine vernünftige Entwicklung des Tourismus in der EG die Chancengleichheit ist. Daher sind Bestrebungen, eine eigene EG-Tourismuspolitik zu betreiben, mit Skepsis zu betrachten. Die Mittel der Strukturfonds in der EG wurden verdoppelt. Sie sollen vornehmlich in wirtschaftlich rückständigen Gebieten eingesetzt werden. Das sind nicht zuletzt die Tourismusgebiete in den südlichen Mitgliedstaaten. Zum Ausgleich besonderer Belastungen aus der Süderweiterung der EG erhalten ferner bestimmte Gebiete in Frankreich, Italien und Griechenland Mittel im Rahmen der integrierten Mittelmeerprogramme. Ich meine, daß es wichtiger wäre, das Augenmerk auf verpflichtende soziale Mindeststandards in der EG zu legen. Wettbewerbsverzerrungen müssen auf alle Fälle abgebaut werden.
Meine Damen und Herren, man kann sicherlich auch über die zeitliche Entzerrung des Fremdenverkehrs nachdenken, wenn vermehrt gefordert wird, die
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HinskenFeriengestaltung in das EG-Geschehen zu integrieren.
Aber man sollte den Brüsselern nicht zu sehr zugestehen, uns etwas abzuverlangen, sondern die einzelnen Staaten sollten weiterhin die Möglichkeit haben, ihren Weg und ihre Ferienzeit selbst zu bestimmen.
Lassen Sie mich aus aktuellem Anlaß zum Schluß noch begrüßen, daß der 19. Rahmenplan zur Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" , Herr Staatssekretär Dr. Beckmann, die Abschaffung gesonderter Fremdenverkehrsgebiete vorsieht. Somit ist es künftig möglich, in allen strukturschwachen Regionen den Ausbau von Fremdenverkehrseinrichtungen, insbesondere auch von Beherbergungskapazitäten, zu fördern. Ich halte es auch für legitim und wichtig, unsere deutschen Landsleute zu animieren, den Urlaub verstärkt im eigenen Land zu verbringen. Die landschaftliche Schönheit und interessante Kulturgüter sollten auch den jüngeren Mitbürgern nahegebracht werden. Alle Verantwortlichen sind aufgefordert, in diesem Sinne ihren Beitrag zu leisten.
— Herr Opel, Sie sind genauso eingeladen. Ich gestatte Ihnen sogar, den Urlaub in meiner Heimat zu verbringen, wenn Sie bereit sind, dafür zu bezahlen.Herzlichen Dank.
Herr Abgeordneter Hinsken, ich hätte schon gedacht, daß Sie eine Einladung, vielleicht in begrenztem Umfang, für unsere Landsleute drüben aussprechen, die ab 1. Juli noch nicht so viele Mittel haben, um in den Bayerischen Wald zu fahren.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Saibold.
: Herr Präsident! Sie merken ja, daß es dem Herrn Hinsken nur darum geht, den Umsatz im Fremdenverkehr zu steigern. Und das geht bei den DDR-Leuten nicht so sehr.
Sehr geehrte Damen und Herren! Wer kennt es nicht, das drängende Gefühl, raus zu müssen: aus der Stadt, aus dem Trott, aus Streß und Ärger, und in die Sonne zu fahren, in die Berge oder ans Meer!?
Machbar ist es ja geworden. Die Last-Minute-Angebote verführen geradezu dazu, diesem Drang nachzu-geben. Wer denkt dann schon über die Ursachen und die Auswirkungen dieser Flucht auf Natur und Mitwelt nach, oder wer denkt daran, daß bei jedem Jumbo-Start allein vier Zentner Giftstoffe herunterprasseln?
Bedenken werden zerstreut durch Argumente wie: Das Flugzeug fliegt sowieso, und: Am Zielort kriegen sie doch mein Geld, und außerdem: Ich als einzelne, was macht das schon? Leider denken so Millionen von Menschen.Das Problematischste an der ganzen Tourismusdebatte ist die Tatsache, daß mit vorhandenen, allerdings meist künstlich hervorgerufenen Bedürfnissen der Menschen viel Geld verdient wird, dabei aber unsere eigenen Lebensgrundlagen und damit gleichzeitig das Kapital der Tourismuswirtschaft zerstört werden. Sie kennen doch die Zusammenhänge. Sie tun aber so, als ob Sie niemals etwas davon gehört hätten.Alle aktiv Beteiligten verschlossen die Augen und Ohren, bis die Algen auf der Haut saßen bzw. die Umsatzzahlen zurückgingen. Das immer massivere Aufbegehren gegen den Massentourismus der Menschen in den Dritte-Welt-Ländern wird verheimlicht. Nur wenigen Gruppen, z. B. den Goanern, gelingt es, ihren Protest in den Industrienationen hörbar zu machen.
Keiner der am Tourismus in irgendeiner Form Beteiligten kann heute noch sagen, er wisse nichts von den zahlreichen Problemen. André Heller erklärte:Das freie Reisen gehört zwar zu den größten Errungenschaften der Demokratie, aber die demokratischen Grundrechte verlieren ihre Priorität, wo sie zur Zuhälterei des Weltuntergangs ausarten.Wer zur Problemlösung und Erhaltung der Reisemöglichkeiten
— bitte, hören Sie doch zu — die demokratischen Grundrechte nicht einschränken will und auch nicht mit dem Mittel Geld Reisen zu einem Privileg nur für Reiche machen will, muß den schwierigen Weg der Ursachenbekämpfung und der Bewußtseinsveränderung beschreiten. Pure Wachstumseuphorien, wie ich sie hier gehört habe, sind das letzte Mittel, das zum Erfolg führen wird.
Seit Jahren wird von Tourismuskritikern und Umweltschützern nach neuen Formen gesucht. Unter dem Schlagwort „sanfter Tourismus" wurde in den letzten Jahren eine theoretische Grundlage für eine andere Tourismuspolitik und für einen anderen Tourismus geschaffen.
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Frau SaiboldIn vielen Regionen wie zum Teil im Bayerischen Wald, im Saarland oder in Schleswig-Holstein gibt es bereits beachtenswerte Versuche.
Wer heute, insbesondere wenn er aus der Tourismusbranche kommt oder gar der Bundesregierung angehört, immer noch behauptet, „sanfter Tourismus" sei ein schwammiger Begriff, mit dem man nichts anfangen könne, stellt sich selbst ein Armutszeugnis aus.
— Lesen Sie doch die Antwort auf unsere Kleine Anfrage. — Er verrät gleichzeitig seine Unwissenheit über ökologische Zusammenhänge und seine mangelnde Bereitschaft, sich mit diesem Thema in der notwendigen Form auseinanderzusetzen.Die gewünschten Rezeptbücher und Checklisten existieren allerdings nicht. Für komplexe Probleme gibt es keine einfachen Lösungen. Ich habe hier heute sehr wenig an Lösungsvorschlägen gehört. Wer aber nicht auf Lösungen hinarbeitet, ist selbst das größte Problem.
Richtig ist allerdings, daß das Schlagwort vom „sanften Tourismus" insbesondere in letzter Zeit unheimlich mißbraucht wird. Umwelt- und sozialverantwortlicher Tourismus beschränkt sich nicht auf das Pflanzen von Bäumchen oder die Einrichtung eines Waldlehrpfades.
Frau Abgeordnete Saibold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Olderog?
Ja, wenn sie mir nicht auf die Zeit angerechnet wird.
Bitte schön.
Frau Kollegin Saibold, können Sie bestätigen, daß wir uns in einer ausgezeichneten Zusammenarbeit aller Fraktionen im Unterausschuß Fremdenverkehr intensiv um die Stärkung des Umweltschutzes im Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr bemühen?
Es ist richtig, daß wir in unseren Diskussionen sehr viel darüber reden und daß wir in ziemlich vielen Punkten übereinstimmende Meinungen haben. Nur, wenn ich mir dann anhöre, was hier von Ihren Kollegen gesagt wird oder was die Konsequenzen aus diesen verbalen Bekundungen sind, dann ist mir das zuwenig.
Noch eine Zusatzfrage, bitte?
Ich weiß nicht, ob wir hier die Diskussion fortsetzen sollten. Aber gut.
Haben Sie verfolgt, daß jeder der Redner von seiten der Koalition die hohe Bedeutung des Umweltschutzes im Zusammenhang mit Fremdenverkehr nachdrücklich unterstrichen hat?
Ja, das ist das Übliche. Ich sagte auch: Es wird sehr viel Mißbrauch mit diesem Begriff getrieben. „Sanften Tourismus" und Umweltschutz muß man natürlich vertreten. Ihre Kollegen können das besonders gut.
— Ihnen selber glaube ich auch, daß Sie davon überzeugt sind. Das streite ich Ihnen gar nicht ab. Nur, hören Sie sich doch die anderen Aussagen an.
Jetzt möchte ich noch einmal darauf eingehen, was echter sanfter Tourismus wirklich bedeutet, weil es offensichtlich nach wie vor nicht bekannt ist. Echter „sanfter Tourismus" bedeutet, die ökologische Belastbarkeit der Natur als oberste Prämisse anzuerkennen und nicht einfach Steigerung um Steigerung zu betreiben. Er bedeutet auch, die Interessen der Bevölkerung verstärkt zu berücksichtigen.
Eine breitgefächerte Wirtschaftsstruktur ist anzustreben, um einseitige Abhängigkeiten vom Tourismus zu vermeiden. Für die Hotels sind eine Versorgung aus der Region sowie Energie- und Wassersparmaßnahmen etc. obligatorisch. Das Einheimische und Regionstypische zu betonen und zu kultivieren ist besonders im Zeichen des Binnenmarkts notwendig.Damit aber — und jetzt passen Sie auf — eine zukunftsträchtige Tourismuspolitik gelingen kann, sind Veränderungen der Arbeits- und Lebensverhältnisse der Menschen an ihrem Wohnort unerläßlich. Gleichzeitig muß die Umstrukturierung der gesamten Politik, insbesondere der Wirtschaft, des Verkehrswesens, der Landwirtschaft, der Energieversorgung etc., auf umweltverträgliche Formen vorangetrieben werden, weil der Tourismus von den Schäden durch unsere Wirtschaftsform ebenfalls benachteiligt ist. Eine konsequente Naturschutz- und Umweltpolitik muß betrieben werden. Änderungen allein im Tourismusbereich können die heute erkennbaren negativen Entwicklungen und Auswirkungen nicht beseitigen.Wirklich erschreckend jedoch ist die Tatsache, daß den vielen umweltpolitischen Lippenbekenntnissen auf Bundes- und EG-Ebene viel zuwenig Taten folgen. Es reicht nicht, das Wort Ökologie buchstabieren zu können. Wer Ökologie verstanden hat, muß endlich Konsequenzen ziehen. Es fehlt jedoch noch immer an tourismuspolitischen Konzepten, sowohl auf Bundesebene wie im EG-Bereich. Eine ressortübergreifende Zusammenarbeit muß endlich erfolgen. Wo
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Frau Saiboldist das Umweltministerium? Niemand von der Regierung ist da.
— Außer vom Wirtschaftsministerium. Es geht hier eben nur um die wirtschaftlichen Interessen. Das ist richtig.
— „Von Wirtschaft", sehr richtig.Die Förderung des Tourismus muß endlich eingestellt werden bzw. sich an den ökologischen und sozialen Erfordernissen orientieren. Die DZT erhält z. B. 40 Millionen DM, die Arbeitsgemeinschaft „Tourimus mit Einsicht" erhält nichts. Aus Fehlern wird offensichtlich wirklich nicht gelernt. Wie sonst ist es möglich, daß ausgerechnet in Spanien die Errichtung eines neuen Zentrums für 32 000 Touristen am Guadalquivir geplant wird, das ein unersetzliches Naturschutzgebiet zerstören wird? Wo ist denn die viel gepriesene Verantwortung der Touristikunternehmen, wenn es um die Erschließung der Türkei oder anderer Länder geht? Auch der DDR droht die Zerstörung durch den Tourismus.
In diesem Falle nützen keine beschwörenden Appelle, sondern Taten sind gefragt. Die 10 % der Fläche, die in der DDR als Naturschutzgebiete ausgewiesen sind, sind unbedingt zu erhalten. Im Verkehrsbereich muß die Weichenstellung pro Schiene ausfallen, statt für Straße und für Luft.
— Dalyan, das waren die GRÜNEN, also, ich bitte Sie.
— Jetzt einen Moment, ich muß leider noch fertig werden. — Der bisherige Todesstreifen muß als Naturschutz- und Naherholungsgebiet ausgewiesen werden. Das ist eine einmalige Chance. Es ist sicherzustellen, daß touristische Erschließungen nur mit umfassender Umweltverträglichkeitsprüfung sowie vor allen Dingen unter Einbeziehung der Bevölkerung durchgeführt werden. Die „Runden Tische" sind noch längst nicht überflüssig geworden; im Gegenteil, sie müssen auf das Bundesgebiet ausgeweitet werden, und die Bundesregierung muß das in Form von Modellprojekten unterstützen und fördern. Nur so können für die komplexen Fremdenverkehrsprobleme zukunftsorientierte Lösungen gefunden werden.In unserem Antrag auf Drucksache 11/6254 haben wir eine ganze Reihe von notwendigen Maßnahmen aufgeführt, auf die ich nicht mehr eingehen kann.
Sie reichen von der Erstellung einer Ökobilanz für den Tourismusbereich über konkrete Maßnahmen zur Einschränkung des Fremdenverkehrs bis hin zu einer konzertierten Aktion mit Ländern und Kommunen. Die Bevölkerung bitte ich allerdings, in diesem Jahr nicht in die DDR zu fahren. Ich empfehle einen Urlaub vom Stau und einen ganz exklusiven Urlaub, den Urlaub auf Balkonien.Vielen Dank.
— Natürlich, seit Jahren.
Ich erteile das Wort dem Herr Parlamentarischen Staatssekretär Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Dem Tourismus kommt in einem stärker zusammenwachsenden Europa, dem Europäischen Binnenmarkt, der enger werdenden Zusammenarbeit mit den EFTA-Staaten wie auch dem Zusammenwachsen mit der DDR und der Öffnung der Staaten Osteuropas eine herausragende Bedeutung zu.
Die Anliegen eines weltoffenen und liberalen Tourismus und der Politik dazu muß es sein, ins Bewußtsein zu rufen, daß das geographische Europa gerade aus touristischer Sicht eine Gesamtheit darstellt, die es zu bewahren gilt, eine Gesamtheit in Vielfalt, über alle politischen Grenzen und ideologischen Gräben hinweg. Es wird schon jetzt deutlich, daß sich die Reiseströme in Europa in den 90er Jahren erheblich verändern werden, und sie werden auch Europa verändern. Die Bedeutung des Wirtschaftsfaktors Tourismus wird deshalb in den nächsten Jahren erheblich zunehmen.
So wurde für die Bundesrepublik Deutschland in einer wissenschaftlichen Studie der gesamte relevante Tourismusumsatz mit mehr als 140 Milliarden DM pro Jahr festgestellt. Meine Vorredner haben schon auf die volkswirtschaftliche Bedeutung des Tourismus für die Bundesrepublik hingewiesen.
Weltweit, meine Damen und Herren, ist nach Schätzungen der Welttourismusorganisation der Tourismus heute drittgrößter Exportbereich und repräsentiert über 25 % des Handels mit Dienstleistungen.
Es darf dabei allerdings nicht übersehen werden, daß der Wettbewerb hier auch besondere Anstrengungen notwendig macht. Die Bundesregierung hat für das Haushaltsjahr 1991 deshalb bei der Auslandswerbung durch die Deutsche Zentrale für Tourismus wieder eine Aufstockung vorgesehen, so daß die Zu-
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Parl. Staatssekretär Beckmannwendungen dann voraussichtlich über 42 Millionen DM ausmachen werden.
Diese Mittel, meine Damen und Herren, kommen der mittelständischen Fremdenverkehrswirtschaft ebenso zugute wie die Maßnahmen zur Förderung der Leistungssteigerung im Fremdenverkehr, die für 1991 mit 2,2 Millionen DM veranschlagt sind. Zugunsten der DDR kommen noch die Maßnahmen zur Förderung der mittelständischen Wirtschaft der DDR und zur Stärkung der innerdeutschen Wirtschaftsbeziehungen hinzu, die zu einem großen Teil für den Aufbau des Fremdenverkehrs vorgesehen sind. Bereits heute können die Stützungsmaßnahmen für den wirtschaftlichen Erneuerungsprozeß in der DDR mit Hilfe von ERP-Krediten und Eigenkapitalhilfe greifen.Meine Damen und Herren, der besondere Stellenwert des Tourismus im Rahmen der innerdeutschen Wirtschaftsbeziehungen kommt auch darin zum Ausdruck, daß die Fachgruppe Tourismus der deutschdeutschen Wirtschaftskommission Anfang Juni 1990 bereits zum dritten Mal zusammengetreten ist. Seit dem ersten Treffen am 9. Januar wurden hier die Weichen für eine marktwirtschaftliche Grundlage und die Förderung der Tourismusentwicklung gestellt. Die im Staatsvertrag vorgesehenen Maßnahmen gilt es nun sofort und ohne Einschränkung umzusetzen.Ich will auch gleich dazusagen, Frau Kollegin Saibold: Die Bedeutung des Umweltschutzes für den Tourismus steht auch im Mittelpunkt der Beratungen im Rahmen der Fachgruppe Tourismus. Neben der Übernahme des Umweltrechts der Bundesrepublik durch die DDR geht es jetzt vordringlich darum, ökonomische Anreize zu schaffen, damit umweltfreundliche Investitionen und auch umweltfreundliche Projekte ermutigt werden. Auch im innerdeutschen Tourismus sind die Touristenströme durch den Markt- und Preismechanismus z. B. mit Vor- und Hauptsaisonpreisen zu beeinflussen, was auch mit der Entzerrung von Ferienzeiten unterstützt werden kann.Ziel unserer politischen und wirtschaftlichen Bemühungen muß sein, das Reiseland Deutschland sowohl für seine Bürger als auch für die Touristen aus aller Welt als attraktives Reiseziel und Erholungsgebiet darzustellen und auszubauen. Das gilt besonders für die Integration in ein größeres Europa, in dem die Attraktivität des Tourismus in der Vielfalt der Regionen, der Kulturkreise und der klimatischen Voraussetzungen liegt.Dabei werden vom europäischen Binnenmarkt erhebliche Impulse auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung in ganz Europa ausgehen. Die Bundesregierung wird sich auf dem Weg in den gemeinsamen Binnenmarkt mit Nachdruck für eine möglichst weitgehende Deregulierung, Entbürokratisierung und Abschaffung hemmender Eingriffe in den Tourismus, für die Sicherung des Wettbewerbs als zentrale Kraft für das weitere Zusammenwachsen der Märkte in der Gemeinschaft und schließlich für die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips und damit der gewachsenen föderalistischen Strukturen einsetzen.
— Ja, dazu komme ich noch.Nachdem auch die EG-Kommission diese grundsätzlichen Orientierungen zur Ausrichtung einer gemeinschaftlichen Tourismuspolitik vorgesehen hat und die Mitgliedstaaten im Frühjahr 1990 beim informellen Ministertreffen unter irischer Präsidentschaft das weitgehend unterstützen, geht es jetzt um die Lösung konkreter Vorhaben. Ich will einige nennen:Erstens. Nach der soeben erfolgten Verabschiedung der EG-Pauschalreiserichtlinie durch den Verbraucherrat ist die Umsetzung in nationales Recht vorzunehmen. Für den Verbraucherschutz in der Bundesrepublik Deutschland bedeutet das keine Umwälzungen, da unser Reiserecht im europäischen Vergleich ohnehin einen hohen Standard aufweist.Zweitens. Die EG-Tourismusstatistik bedarf der Vereinheitlichung und Verbesserung, wobei allerdings noch zahlreiche Fragen offen sind.Drittens. Die Bemühungen zur zeitlichen Entzerrung der touristischen Nachfrage, insbesondere durch eine geeignete Abstimmung der Schul- und Betriebsferien, sind europaweit voranzubringen.
Viertens. Die am 7. Mai 1990 beschlossene Errichtung einer Europäischen Umweltagentur wird zusammen mit dem Gesetz zur Umsetzung der EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei der Errichtung von größeren Ferienkomplexen zur stärkeren Beachtung eines umweltfreudlichen Tourismus beitragen.Für die Tourismuspolitik der 90er Jahre gibt es keinen Gegensatz zwischen dem engagierten Bemühen, den Integrationsprozeß in der EG zu fördern, und dem weitergehenden Ziel des gemeinsamen Baus eines europäischen Hauses. Mit dieser größeren europäischen Perspektive im Tourismus muß es gelingen, in ganz Europa weltoffene und marktwirtschaftliche Voraussetzungen zu schaffen, die dann auch die Grundlage für einen weltweit wachsenden Tourismus bedeuten werden.Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen im Unterausschuß Fremdenverkehr des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages ein Dankeschön sagen für die sehr konstruktive und offene Zusammenarbeit in den vergangenen Monaten. Ich hoffe sehr auf eine Fortsetzung dieser Zusammenarbeit.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rossmanith.
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17018 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Begriff des Reiselandes Deutschland erhält eine neue deutschdeutsche Dimension, die Politik und Wirtschaft gleichermaßen verpflichtet. Die ersten Schritte sind getan — wir haben es gerade auch wieder vom Parlamentarischen Staatssekretär gehört — , und die Voraussetzungen für finanzielle und administrative Hilfen sind durch den Nachtragshaushalt 1990 und durch die Arbeit der Fachgruppe Tourismus im Rahmen der deutsch-deutschen Wirtschaftskommission geschaffen worden.Ich bin der Meinung, daß am Ende all dieser Bemühungen das Ziel stehen muß, Deutschland für seine Bürger und für die Besucher aus aller Welt als ein attraktives Reiseland und Erholungsziel darzustellen und weiter auszubauen. Selbstverständlich gilt dies in besonderem Maße auch für ein künftiges schrankenloses Europa.
Daß die Politik weiterhin gefordert sein wird, ist selbstverständlich. Wir müssen dafür sorgen, daß Reglementierungen und wettbewerbsverzerrende Subventionierungen möglichst wegfallen und wieder Hilfe zur Selbsthilfe geleistet wird.
Ich glaube, daß gerade wir in der Bundesrepublik Deutschland auf eine sehr bewährte Förderungsstruktur zurückgreifen können, die, wenn notwendig, auf ihre Übertragbarkeit auf den anderen Teil Deutschlands, aber auch auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden muß. Hier rechne ich selbstverständlich mit den Mechanismen des Marktes und mit den Kräften des Wirtschaftsfaktors Tourismus, die es bereits bisher zuließen, die staatliche Hilfe zu beschränken. Frau Kollegin Saibold, lassen Sie sich gesagt sein, daß wir unter diesen Mechanismen nicht allein die ökonomische Dimension, sondern natürlich auch die ökologische Dimension verstehen. Ich darf Sie daran erinnern, daß wir — auch das war ja einstimmig — eine ganztägige Anhörung allein zu diesem Thema hatten, eine, wie ich finde, eine sehr gute und eine sehr konstruktive Anhörung, die uns sicherlich ein Stück weiterbringen wird, wenn wir die Ergebnisse, die wir dort gesammelt haben, entsprechend umsetzen.In der Förderung des Fremdenverkehrs im Inland hat sich eine durch unseren föderativen Staatsaufbau bedingte Aufgabenteilung entsprechend bewährt. Ich möchte nur drei Punkte anführen, und zwar erstens die Förderung grundsätzlicher und überregionaler Aufgabenstellungen durch den Bund mit jährlich 2,2 Millionen DM, Beratungshilfen für die weitgehend mittelständisch strukturierte Fremdenverkehrsbranche, branchenübergreifende Fort- und Weiterbildung, Forschung und Grundlagenarbeit als Orientierungsrahmen für die Fremdenverkehrswirtschaft insgesamt. Ich möchte als Beispiele nennen: Wirtschaftsfaktor Tourismus, Urlaub in Deutschland, Informations- und Reservierungssysteme im deutschen Fremdenverkehr.Als zweites nenne ich die Regionalförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur" . Herr StaatssekretärBeckmann hat schon darauf hingewiesen, daß kürzlich der 19. Rahmenplan beschlossen worden ist. Ich möchte mit Dankbarkeit feststellen, daß seit Bestehen dieser Gemeinschaftsaufgabe unter anderem auf dem gewerblichen Sektor mehr als 14 000 Fremdenverkehrsbetriebe gefördert worden sind. Damit war die Schaffung von 45 000 neuen Arbeitsplätzen verbunden; rund 10 000 gefährdete Arbeitsplätze konnten erhalten werden. Ich glaube, auch das ist ein ganz wesentlicher Faktor, der mit berücksichtigt werden muß.
Dieses Förderinstrumentarium wird wohl auch weiterhin eine besondere Bedeutung haben.Ich möchte besonders hinweisen — das ist der dritte Punkt in diesem Zusammenhang — auf die unmittelbare Förderung des Fremdenverkehrs durch die Länder und durch die Kommunen. Hier wurden nach Finanzkraft und wirtschaftspolitischer Schwerpunktsetzung eigene Förderprogramme entwickelt. Ich möchte in diesem Zusammenhang als Beispiel nur auf die Maßnahmen des Freistaats Bayern hinweisen, die es Vermietern von Privatzimmern und Ferienwohnungen ermöglichen, ihr Angebot den veränderten Anforderungen der Nachfrage durch Modernisierung und Qualitätssteigerung anzupassen.
— Ich bedanke mich, sehr geehrter Herr Kollege Olderog, dafür, daß das auch im Norden unserer Republik so gesehen wird.Als letztes lassen Sie mich noch kurz etwas zur Werbung im Ausland für unsere Fremdenverkehrsregionen sagen, die insbesondere als eine Maßnahme zur Unterstützung der mittelständischen Fremdenverkehrswirtschaft ergriffen wurde und der weiterhin besondere Bedeutung zukommen wird. Ich möchte hier den Ausbau der Deutschen Zentrale für Tourismus ansprechen. Wir haben in den letzten zehn Jahren die Mittel von 29 Millionen DM — dies hat die DZT damals erhalten — auf 45,7 Millionen DM im Jahr 1990 steigern können. Ich glaube, daß damit eine Maßnahme getroffen wurde, um die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Incoming-Tourismus weiterhin zu gewährleisten.Ich möchte als letzten Satz sagen, daß diese Maßnahmen meines Erachtens geeignet sind, dem ständig steigenden touristischen Nachfragebedarf gerecht zu werden. Verehrte Frau Kollegin Saibold, er ist vorhanden. Seien wir doch froh und dankbar, daß wir in einer Wohlstandsgesellschaft leben, in der auch die Bezieher der sogenannten kleinen Einkommen heute in die Lage versetzt werden, Urlaub zu machen, einmal außerhalb ihres Balkons zu kommen.
Daß wir dabei den umweltpolitischen Aspekt nicht nur sehen, sondern auch entsprechend handeln, haben wir, glaube ich, in unserer politischen Arbeit und hat auch die Fremdenverkehrswirtschaft durch ihre Arbeit und ihr Handeln immer wieder bewiesen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17019
Ich bedanke mich.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Faße.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Urlaub machen, verreisen — allein, zu zweit, mit der Familie, in der Gruppe — ist für viele heute selbstverständlich. Ich denke, das ist auch richtig so. Zum Langzeiturlaub sind häufig mehrere Kurzurlaube getreten. Jeder kann sich sein Ziel nach seinen Wünschen aussuchen.Aber ich habe mich gefragt, ob diese allgemeinen Formulierungen wirklich korrekt sind. Es gibt keine genauen statistischen Zahlen, die aussagen, wie viel Personen, wie viel Familien sich bisher keine Reise leisten konnten oder vielleicht nur alle zwei oder drei Jahre eine Reise angetreten haben. Ich denke, in einer tourismuspolitischen Debatte dürfen wir diese Gruppe unserer Bevölkerung nicht vergessen.
Das kommerzielle touristische Angebot ist in vielen Fällen noch nicht ausreichend auf Familien ausgerichtet und von Familien mit mehreren Kindern oft nicht zu bezahlen. Vor allen Dingen haben Familien mit mehreren kleinen Kindern und Alleinerziehende Schwierigkeiten, einen Urlaub zu finanzieren. Um so richtiger und wichtiger ist es, die gemeinnützigen Familienferienstätten zu erhalten. Ich denke, gerade hier hat auch der Bund eine besondere Verpflichtung.Nicht nur materielle Schwierigkeiten sind aber zu bedenken, wenn man mit Kindern auf Reisen geht, sondern auch äußere. Es ist in der Regel sicherlich einfacher, mit großen Kindern zu verreisen als mit kleinen. Wer häufig mit kleinen Kindern unterwegs war und ist, kann sicherlich auch ein Lied von all den Schwierigkeiten singen, mit denen man dabei zu tun hat. Ich denke, hier sind bundesweit gravierende Unterschiede vorhanden, im Angebot wie auch im Verhalten vieler Erwachsener.Der vom Bund ausgeschriebene Wettbewerb „Familienferien in Deutschland" ist sicher e i n richtiger Weg, die Verantwortlichen auf allen Ebenen anzuregen, ihr Angebot zu überprüfen und es noch familiengerechter zu gestalten.Meine Damen und Herren, auch Behinderte sind immer noch vielfältigen Hindernissen bei der Reiseplanung und -durchführung ausgesetzt. Ich will hier nicht in Frage stellen, daß sich zahlreiche Verbände und Initiativen mit dem Thema „Behinderte und Reisen" auseinandergesetzt haben.
Ihre Arbeit ist zu würdigen, aber leider nur teilweise erfolgreich. Ca. 6 Millionen behinderte Mitbürger und Mitbürgerinnen haben wie wir ein Recht auf Reisen. Ihre unterschiedlichen Behinderungen verlangen von uns unterschiedliche Lösungen. Viele von uns denken bei dem Wort „Behinderte" in erster Linie an die Rollstuhlfahrer. Aber der Rollstuhlfahrer ist es nicht allein, der Schwierigkeiten hat, seinen Urlaub zuplanen und durchzuführen. Wir alle dürfen bei unseren Überlegungen die geistig Behinderten, die Sehschwachen und Blinden, die Gehörlosen, die Rheuma- und Dialysepatienten nicht vergessen.
Über eines müssen wir uns im klaren sein: Alles, was für Behinderte getan wird, ist für alle Menschen, ist für alle Reisenden gut und richtig, für den alten Menschen genauso wie für Eltern mit Kinderwagen. Immer mehr ältere Menschen werden auch in Zukunft ihr Recht auf Reisen nutzen wollen, und sie haben auch einen Anspruch darauf.
Ziel muß es sein, bei Transportmitteln, bei Bauten, bei Angeboten und Informationen menschenfreundlich zu planen und zu handeln.Wir wollen erreichen, daß behinderte Menschen mit uns verreisen, daß Angebote für sie in den üblichen Katalogen zu finden sind, nicht nur in Spezialkatalogen. Wir wollen erreichen, daß auch ein Rollstuhlfahrer die Möglichkeit hat, überhaupt in ein Reisebüro zu gelangen, um dort sach- und fachkundig informiert zu werden.Wir wollen erreichen, daß durch geeignete Leitund Informationssysteme Gehörlose und Sehbehinderte ihren Weg finden können.Wir wollen erreichen, daß alle Transportmittel menschenfreundlich ausgestaltet werden. Das betrifft den Bus, die Bahn, das Flugzeug genauso wie das Schiff. Zu- und Abgänge sind behindertenfreundlich zu gestalten. Technisch ist dies heute alles möglich.Wir wollen erreichen, daß im Zusammenwirken mit den Ländern die DIN 18024 für alle öffentlichen Neubauten verbindlich vorgeschrieben wird. Dies gilt dann für das Postamt genauso wie für ein Kongreßzentrum.Wir wollen erreichen, daß Bauauflagen für die Hotels geändert werden und die Verpflichtung zum Einbau einer bestimmten Anzahl von behindertengerechten Zimmern und Fahrstühlen selbstverständlich wird.Wir wollen EG-weit erreichen, daß Begleitpersonen bei der Bundesbahn nicht nur in der Bundesrepublik kostenlos fahren können, sondern auch über die Grenzen hinweg.
Unsere 6 Millionen behinderten Mitbürger und Mitbürgerinnen haben ein Recht darauf, Urlaub wie alle anderen zu machen. Wir sind in der Pflicht, ihnen dies zu ermöglichen. Lückenlose Transportketten von A nach B, Betreuung vor Ort, z. B. durch Sozialstationen, müssen unser großes Ziel sein.Die älteren Menschen, deren Zahl steigt, haben ein Recht darauf, nicht diskriminiert zu werden, darauf, daß es ihnen nicht so geht wie einem älteren Ehepaar aus Bremerhaven, dem der Aufenthalt in einem Hotel auf Grund der Gehbehinderung verweigert wurde. Dies geschah vor wenigen Wochen in einem deut-
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Frau Faßeschen Kurort. Ich frage mich, ob dies ein Einzelfall war oder ob sich viele andere Betroffene gar nicht an die Presse wenden.Unser Ziel muß sein, daß Fremdenverkehrsorte mit dem Begriff, mit dem Zeichen „behindertenfreundlich" werben, ohne befürchten zu müssen, nichtbehinderte Gäste abzuschrecken.Unser Ziel muß sein, daß ein Hotel seinen Stern nur erhält, wenn es behindertenfreundlich, menschenfreundlich ist.
Unser Ziel muß sein, daß Behinderte und ihre Verbände bei Neuplanungen und Umplanungen rechtzeitig einbezogen werden. Dadurch ließen sich viel Ärger, viel Arbeit und viel Geld sparen.Unser Ziel muß sein, mitzuhelfen, daß die Gesellschaft mit Behinderten lebt, Urlaub macht und nicht beschämt zur Seite sieht.Wir haben gemeinsam mit allen Veränden und Vereinen, mit Veranstaltern und Anbietern noch einen weiten Weg vor uns. Eines dürfen wir alle nicht verdrängen: Auch uns könnte es morgen treffen; auch wir könnten morgen behindert sein.Unser Antrag, den wir heute einbringen, ist ein richtiger und wichtiger Schritt. Ich muß Ihnen ehrlich sagen: ich bedaure, daß es nicht gelungen ist, daraus einen interfraktionellen Antrag zu machen.
— Ich nehme Ihren Einwand mit Freude zur Kenntnis.
Ich glaube, gerade in diesem Bereich, Herr Dr. Olderog, täte es allen Parteien gut, heute ein Zeichen zu setzen, das die Verbände und Behinderteneinrichtungen ermutigt, ihren Weg weiterzugehen, ein Zeichen dafür, daß sich Anbieter und Veranstalter diesem Problem stellen müssen.
Urlaub machen, verreisen, ist eine Selbstverständlichkeit für viele, nicht für alle. Ich denke, es ist eine Selbstverständlichkeit, heute auch an die zu denken, die nicht frei haben, die nicht Urlaub haben, wenn wir Urlaub genießen. Viele Männer und Frauen arbeiten im touristischen Bereich und erbringen Dienstleistungen für uns. Auch an sie sollten wir heute denken.Weltweit verdienen über 100 Millionen Menschen ihren Lebensunterhalt im Fremdenverkehr. Dabei darf nicht außer acht gelassen werden, daß bisher die Arbeitsbedingungen häufig erhebliche Defizite aufweisen. Dazu gehören lange und ungünstige Arbeitszeiten, Teildienst, Wechselschicht, Arbeit an Wochenenden und Feiertagen, Saisonarbeit, flexible, sozial nicht abgesicherte Arbeit sowie hohe Streßbelastungen. Alleine mit dem Thema Asylbewerber läßt sich die Problematik nicht lösen. Vielmehr denke ich an eine Erhöhung der Attraktivität dieses Berufszweigs, von der Bezahlung bis zum familienfreundlichen Wochenende.Touristische Berufe haben es im Stellenwert unserer Gesellschaft noch sehr schwer. Ich weiß auch, daß diese Forderungen Geld kosten, Geld, das in der Regel der Gast zu zahlen hat. Aber ich frage Sie ernsthaft: Wer von uns ist nicht bereit, für einen guten Service auch eine Mark mehr zu zahlen?
„Sanfter Tourismus — Tourismus mit Einsicht", „Binnenmarkt und Fremdenverkehr" , auch die von mir angesprochenen Bereiche gehören dazu und dürfen nicht in den Hintergrund gedrängt werden.Wir werden uns in den Ausschüssen mit den einzelnen Anträgen im Detail befassen. Ich hoffe gerade bei dem SPD-Antrag auf eine ganz besondere Einigkeit.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Dörflinger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Allgemeiner Umweltschutz ist eine Existenzfrage des Fremdenverkehrs." Auf diese einfache, einprägsame, aber auch überzeugende Formel hat der Fremdenverkehrsverband Schwarzwald vor wenigen Tagen in einer vielbeachteten Resolution das Thema gebracht, nämlich das Spannungsfeld zwischen Tourismus und Ökologie; das ich zum Abschluß noch etwas vertiefen will. Sie haben das, liebe Frau Kollegin Saibold, nach meinem Dafürhalten etwas oberflächlich, ziemlich selbstgerecht und auch polemisch dargestellt.
Sie gestatten eine Zwischenfrage?
Ja, natürlich. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
Herr Dörflinger, haben Sie wirklich noch nicht verstanden, daß eine langfristige Sicherung des Fremdenverkehrs und auch der Fremdenverkehrswirtschaft damit zusammenhängt, daß man die Grundlagen, das Kapital der Fremdenverkehrswirtschaft, die Natur und die Kultur, erhält, daß es also sehr kurzsichtig ist, immer nur auf Steigerung aus zu sein?
Frau Kollegin, ich bin am Anfang dessen gewesen, was ich sagen wollte. Vielleicht hätten Sie mir zuhören sollen. Ich habe mich
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Dörflingerzunächst einmal nur mit Ihrem Debattenbeitrag auseinandergesetzt und sage Ihnen folgendes:
Ich nehme Ihnen persönlich ab, daß Sie diese Sensibilität haben und auch auf Balkonien Ferien machen. Nur dürfen Sie als Vertreterin einer Fraktion dies hier nicht als allgemeines Programm für eine Fraktion darstellen, die in ihren Forderungen an Staat und Wirtschaft alle anderen Fraktionen in diesem Hause übertrifft; darum geht es.
Es geht um das Auflösen des Widerspruchs zwischen einer verbal bekundeten Bescheidenheit einerseits und Forderungen an Wirtschaft und Staat andererseits; darum ist es mir gegangen.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß es Sie überzeugt, was ich jetzt ausführe: Wir stehen in Deutschland vor einer doppelten Herausforderung. In bereits entwickelten Regionen stößt der Tourismus an Grenzen, obwohl der Tourismus als Grundphilosophie eigentlich das Grenzenlose beinhaltet. In der DDR sehen wir im Tourismus einerseits die Chance zu einer schnellen notwendigen wirtschaftlichen Entwicklung, andererseits aber auch die Gefahr, daß planlos in doppeltem Sinne vorgegangen wird, nämlich daß das Bestreben, zu schnellen wirtschaftlichen Ergebnissen zu kommen, zu einer zu lockeren Genehmigungspraxis bei Einzelvorhaben führt und daß man den Gesamtzusammenhang zwischen Ökonomie und Ökologie nicht beachtet.Meine Damen und Herren, was ist zu tun? Die allgemeine Sensibilität ist erfreulich. Aber sie darf nicht nur von dort kommen, wo bereits kollapsartige Situationen eingetreten sind, etwa durch das Ausufern von Ferienwohnungen. Wir müssen aber auch aufpassen, daß Parolen wie die vom sanften Tourismus nicht zum Schlagwort verkommen oder daß sie gar ausgenutzt werden, wie es der Autor eines bemerkenswerten Aufsatzes in der „Stuttgarter Zeitung" formuliert hat, indem nämlich das Pauschalangebot mit einem Ausflug zu Laichplätzen kombiniert wird. Das wäre genau der falsche Weg.Ebenso wäre es aber auch illusionär, angesichts geringerer Arbeitszeit, steigender Einkommen und erhoffter wirtschaftlicher Entwicklung in der EG etwa als Alternative anzubieten, einfach zu Hause Urlaub zu machen.
Frau Kollegin Saibold, ich komme aus einem Gebiet, in dem es eine rot-grün regierte Stadt gibt; sie heißt Freiburg. Wenn ich mir an einem Sonntag nachmittag auf der vielbefahrenen Bundesstraße 31 anschaue, wer da von Schluchsee und Titisee zurückfährt, und wenn ich aus den Autoaufklebern ein Stück politischer Philosophie herauslese, dann sehe ich den Anteil Ihrer Anhänger überproportional vertreten.Das ist genau der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Meine Damen und Herren, realistisch und notwendig sind folgende Dinge:Wir brauchen eine verstärkte personale Sensibilität und personale Verantwortung. Wir brauchen infrastrukturelle Rahmenbedingungen z. B. im Verkehr, um zu umweltfreundlicheren Gestaltungsformen zu kommen. Angesichts der großen wirtschaftlichen Bedeutung des Fremdenverkehrs, auch was die Arbeitsplätze angeht, sollten wir uns zu dem schwierigen Balanceakt bekennen, der darin besteht, einen touristischen Grundbestand zu sichern, aber einer uferlosen Expansion mit Landschaftsverbrauch entschieden entgegenzutreten. Das ist der Balanceakt.
Meine Damen und Herren, das Instrumentarium steht zur Verfügung, im Planungsrecht und in der Umweltverträglichkeitsprüfung. Die Gemeinden müssen diese Instrumente anwenden; sie müssen sie aus Einsicht einsetzen.Meine Damen und Herren, ein letzter Satz zur Situation in der DDR. Die formale Übernahme der Gesetze der Bundesrepublik in der DDR genügt nicht. Wir brauchen Politik und Verwaltung, die ab dem 1. Juli 1990 die Intentionen unserer Umweltgesetze und unseres Planungsinstrumentariums voll anwenden und dabei probieren, die wirtschaftliche Notwendigkeit in einen vernünftigen Einklang mit der ökologischen Vernunft zu bringen. Dann braucht vielleicht die DDR manches Lehrgeld, das wir zahlen mußten, nicht zu zahlen, und sie beginnt bei der von uns gewünschten ausgewogenen Balance zwischen Ökonomie und Ökologie.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Wir kommen zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/7427. Es ist beantragt worden, diesen Entschließungsantrag zur Federführung an den Ausschuß für Wirtschaft und zur Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, an den Ausschuß für Verkehr, an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe Zustimmung. Es ist so beschlossen.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/6254 und 11/7425 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Drucksache 11/6254 soll zusätzlich an den Ausschuß für Verkehr und den Umweltausschuß überwiesen werden. Sind Sie auch damit einverstanden? — Haben Sie weitere Vorschläge?
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Vizepräsident Stücklen— Sie soll auch noch an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist es so beschlossen.Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines Elften Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes— Drucksache 11/7426 —ÜbAusschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß Rechtsausschuß Finanzausschuß Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GOMeine Damen und Herren, der Ältestenrat hat für die Debatte 30 Minuten vorgesehen. — Das Haus ist damit einverstanden; ich stelle dies fest. Es wird so verfahren.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Becker.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Uns liegt zur Beratung in erster Lesung der Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, FDP und SPD für ein Zwölftes Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und für ein Elftes Gesetz zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes vor. Dieser Gesetzentwurf basiert auf dem Bericht der Präsidentin des Deutschen Bundestages nach § 30 des Abgeordnetengesetzes. Die Frau Präsidentin hat diesen Bericht fristgemäß zum 31. Mai 1990 vorgelegt und zur Angemessenheit der Entschädigung für Abgeordnete im Sinne des Art. 48 Abs. 3 des Grundgesetzes Stellung genommen.
Der Vorschlag der Präsidentin, die Entschädigung für Abgeordnete um 4,8 % und die Kostenpauschale um 3,2 % zu erhöhen, ist von den Koalitionsfraktionen und der SPD im vorliegenden Gesetzentwurf übernommen worden. Wir bleiben mit der Übernahme dieses Vorschlages im Augenblick auch erheblich unter den in der Wirtschaft vereinbarten Tarifverträgen zur Anhebung der Löhne und Gehälter.
Das Verfahren zur Ermittlung und Anhebung der Bezüge und der Kostenpauschale gegenüber den Vorjahren wurde nicht geändert. Das heißt, wir bringen in diese Überlegungen das ein, was für Arbeitslose, was für Sozialhilfeempfänger, was in den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes und in den Tarifverträgen der Wirtschaft gezahlt bzw. abgeschlossen wird. Wir berücksichtigen bei der Festlegung der Anhebung der Entschädigung der Abgeordneten diese Entwicklung in Wirtschaft und Verwaltung sicherlich in diesem Jahr genauso wie in den Jahren vorher.
Der Deutsche Bundestag hat am 9. November des vorigen Jahres beschlossen:
Es wird bei der Präsidentin des Deutschen Bundestages angeregt, zu einer Überprüfung der für
die Mitglieder des Deutschen Bundestages bestehenden materiellen Regelungen und Bestimmungen, einschließlich der Grundsätze bei der Vorbereitung des gemäß § 30 Abgeordnetengesetz vorzulegenden Vorschlages zur Anpassung der Entschädigung, den Rat von unabhängigen, fachkundigen und erfahrenen Persönlichkeiten aus allen gesellschaftlichen Gruppierungen einzuholen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird immer wieder der Vorwurf erhoben, daß die Abgeordneten über ihre Bezüge selber entscheiden. Aber wir haben nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts keine andere Möglichkeit als so zu verfahren.
Deswegen haben wir uns nun einmal den Rat Sachverständiger aus Wirtschaft und Verwaltung eingeholt.
Diese Persönlichkeiten haben jetzt ihren Bericht vorgelegt. Sie schlagen für die Zukunft ein geändertes Berechnungsverfahren vor, wobei gleichzeitig das Datum für den Bericht der Präsidentin vom 31. Mai auf den 30. September verlegt wird. Dem stimmen wir zu. Dann hat man nämlich eine bessere Übersicht darüber, was sich im Laufe des Jahres in den verschiedenen Bereichen von Wirtschaft und Verwaltung an Veränderungen bei Bezügen ergeben hat.
Im übrigen kommt in dem Bericht der Berater zum Ausdruck, daß die Anpassung der Bezüge in den zurückliegenden Jahren sehr maßvoll war und eher ein Nachholbedarf besteht. Trotzdem werden wir auch jetzt Augenmaß behalten und die Lage anderer Bevölkerungsgruppen gemessen an ihrer Situation bzw. an ihren Tätigkeiten bei der Veränderung der Entschädigung und der Kostenpauschale im Auge behalten.
Wir haben nichts zu verbergen. Alles ist offengelegt. Das gibt es nur bei sehr wenigen Gruppen der Bevölkerung. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann prüfen, daß Leistung und Bezahlung bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von bis zu 80 Stunden in einem angemessenen Verhältnis stehen. Bei einer ehrlichen Prüfung können wir dem jetzt vorgelegten Vorschlag vor der Öffentlichkeit voll bestehen.
Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt der Überweisung des Gesetzentwurfs an die vorgesehenen Ausschüsse zur weiteren Beratung zu.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute in erster Lesung das Zwölfte Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes zu beraten. Wie in den zurückliegenden Jahren folgt der von CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachte Gesetzentwurf dem Vorschlag der Präsidentin, der diesmal eine Erhöhung der Entschädigung um 4,8 % und der Kostenpauschale um 3,2 %
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Bohlvorsieht. Dieser Vorschlag reiht sich nahtlos in die der früheren Jahre ein und ist angemessen.Die Kritik an früheren Änderungen des Abgeordnetengesetzes war nicht zuletzt ein Grund dafür, daß bei der letzten Änderung des Abgeordnetengesetzes im November vergangenen Jahres eine unabhängige Kommission berufen wurde, die sich mit den bestehenden materiellen Regelungen und Bestimmungen der Abgeordnetenentschädigung befassen sollte.Dieser Anregung folgend, hat die Präsidentin eine Reihe namhafter Persönlichkeiten mit dieser Aufgabe betraut. Ich darf sie hier noch einmal nennen: Professor Baring, Ernst Breit, damals Vorsitzender des DGB, Dr. Erdmann, Mitglied des Präsidiums der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Lothar Haase, ehemaliger Kollege und ehemaliger Vizepräsident des Europäischen Rechnungshofes, Ludwig Hönle, Vizepräsident des VdK, Georg Leber, Bundesminister a. D., Dr. Giesela Niemeyer, Bundesverfassungsrichterin a. D., Dr. Heinrich Reiter, Präsident des Bundessozialgerichts, Professor Schneider, Paul Schnitker, Präsident der Handwerkskammer Münster, und Erhard Senninger, Präsident des Deutschen Anwaltvereins.Die Namen dieser Damen und Herren sind, wie ich meine, Garant und Beleg dafür, daß es nun wahrlich nicht darum ging, ein Gefälligkeitsgutachten zu erhalten.
Ich möchte allen Mitgliedern der Kommission schon heute für ihre wertvolle Arbeit danken, die sie mit dem inzwischen vorgelegten Bericht erbracht haben.Wenn darüber auch erst zu Beginn der nächsten Wahlperiode entschieden werden soll und für den diesjährigen Bericht noch das bisherige Verfahren zugrunde gelegt wird, so will ich doch bereits heute kurz auf den einen oder anderen Punkt dieses Berichtes eingehen, da er mir zur Beurteilung und Bewertung auch des heutigen von uns eingebrachten Gesetzentwurfs von Gewicht erscheint.So stellt die Kommission bezüglich der Rechtsstellung und der Aufgaben der Abgeordneten fest, daß mit zwingender Notwendigkeit die Abgeordnetenentschädigung ihrer Höhe und ihrem Leistungsumfang nach so zu bemessen ist, „daß die Übernahme eines Mandats im Prinzip jedermann möglich ist, den nicht selbständig Tätigen ebenso wie den Freiberuflern, den Bürgerinnen und Bürgern in jedem Alter und in jeder Lebenssituation" . Diese Feststellung mag für viele von uns wie eine Selbstverständlichkeit klingen. Trotzdem sollten wir uns ruhig einmal kritisch fragen und prüfen, ob diese Feststellung für alle Berufe und alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes bereits heute tatsächlich zutrifft.Ebenso interessant ist sicherlich die Feststellung, daß auf Grund der Komplexität der Lebensverhältnisse von Abgeordneten heutzutage ein besonders hohes Maß an Professionalität und auch fachlicher Spezialisierung verlangt wird, damit das Parlament seiner Kontrollfunktion im Rahmen der Gewaltenteilung entsprechen kann. Die Feststellung der Kommission, daß viele Mandatsträger auf 80 und mehr Wochenstunden kommen, sei hier nur der Vollständigkeit halber noch einmal erwähnt.Vor diesem Hintergrund kommen die Damen und Herren von der Kommission zu dem Ergebnis, daß die Annahme eines Mandats nicht zu einem nennenswerten Absinken des Lebensstandards führen darf. Oder, anders ausgedrückt: Der Abgeordnete darf nicht in eine Situation gebracht werden, in der er aus finanziellen Gründen in eine parlamentsfremde Abhängigkeit geraten könnte.Unter Berücksichtigung dieser sowie einer Reihe weiterer Gesichtspunkte, für die mir hier die Zeit fehlt, sie im einzelnen zu erwähnen, kommen die unabhängigen Persönlichkeiten zu dem Ergebnis, daß die angemessene Entschädigung auch heute noch um 30 bis 40 % höher liegen müßte als die derzeit gezahlte Abgeordnetenentschädigung. Bezüglich der Kostenpauschale wird die schlichte Feststellung getroffen, „daß die Kostenpauschale in der jetzigen Höhe nicht mehr ausreicht, die mandatsbedingten Kosten zu dekken" .In ihren abschließenden Thesen kommt die Kommission deshalb u. a. zu dem Ergebnis:Erstens:Die derzeitige Kostenpauschale als Kern der Amtsausstattung wird im Hinblick auf die tatsächliche Preisentwicklung ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht, die mandatsbedingten Ausgaben zu decken. Auf Grund der veränderten Struktur des mandatsbedingten Aufwandes ist eine Überprüfung notwendig, welche Art von Ausgaben in welcher Höhe typischerweise bei einem Abgeordneten heute anfallen.Zweitens:Eine dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Angemessenheit entsprechende Abgeordnetenentschädigung liegt um derzeit mindestens 3 000 DM monatlich über der jetzigen Entschädigung. Es ist Sache des Deutschen Bundestages, darüber zu beschließen, in welcher Zeit und in welcher Form der bestehende Rückstand aufgeholt werden soll.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann nun sicher nicht unsere Aufgabe sein, auf der Basis dieses, wie ich noch einmal feststellen möchte, unabhängigen und wertvollen Berichtes in einen Wettlauf zur Verwirklichung dieser Vorschläge zu verfallen. Das ist mit Sicherheit nicht unser Ziel.
Unabhängig davon tun wir aber sicherlich gut daran, zu Beginn der nächsten Wahlperiode in eine intensive Diskussion dieses Berichtes einzusteigen, der auch, so finde ich, manch nachdenkenswerte Ausführungen zum Thema „Selbstverständnis eines Abgeordneten" enthält.Abschließend möchte ich noch einmal feststellen, daß auch vor dem Hintergrund dessen, was ich Ihnen soeben aus dem Bericht vermitteln durfte, der diesjäh-
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Bohlrige Vorschlag der Präsidentin des Deutschen Bundestages, dem wir mit unserem Gesetzentwurf gefolgt sind, angemessen ist und keine irgendwie geartete Privilegierung der Abgeordneten darstellt.In diesem Sinne hoffe ich, daß wir in den Ausschüssen gute Beratungen haben werden und zu vernünftigen und sinnvollen Ergebnissen kommen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hüser.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen! In steter Regelmäßigkeit wird hier diese Debatte und auch fast immer mit denselben Argumenten geführt.
Wenn man sich auf solch eine Debatte vorbereitet, dann liest man die Reden vom letzten und vorletzten Jahr. Es ist wirklich immer dasselbe,
und auch unsere Argumente gegen eine Erhöhung werden sich mit Sicherheit nicht grundsätzlich von unseren schon letztes Jahr oder in den Jahren davor genannten Argumenten unterscheiden, weil ja immer dasselbe Thema ansteht. Da wir aber dieses Spiel hier so betreiben und das in der Öffentlichkeit diskutiert werden soll, will ich kurz einige Punkte nennen, die von Ihnen angeführt worden sind.Ein Hauptargument, warum die Diäten oder die Bezüge der Abgeordneten erhöht werden sollen, welches auch durch die Kommission sozusagen unterlegt worden ist, ist daß wir Abgeordneten uns von der allgemeinen Einkommensentwicklung abgekoppelt haben. Das ist natürlich eine Frage des Blickwinkels. Da wir eine unabhängige Expertenkommission hatten, bei der man mit Sicherheit feststellen kann, daß, ich glaube, fast alle Mitglieder dieser Expertenkommission durchaus mehr verdienen als wir Abgeordnete, relativiert dies natürlich den Blickwinkel. Wenn man diese Kommission anders zusammengesetzt hätte, sähe die Empfehlung vielleicht etwas anders aus.Die Frage ist natürlich auch, welche Bezugsgröße man für die Argumentation heranzieht. In diesem Bericht sind Tabellen aufgeführt. Bürgermeister werden angeführt, die 15 000 DM im Monat verdienen. Es werden leitende Angestellte, Vorstandsvorsitzende, Ärzte und Freiberufler angeführt, die alle ein Vielfaches oder doch erheblich mehr als Abgeordnete verdienen. Jedoch ist gar nicht in Frage gestellt worden, ob denn überhaupt die Bezugsgröße stimmt, ob es überhaupt korrekt ist, daß es in unserer Gesellschaft so große Einkommensunterschiede gibt, ob es überhaupt korrekt ist, daß ein Bürgermeister 15 000 DM verdient, oder ob es korrekt ist, daß Chefärzte einige hunderttausend DM verdienen. Von Vorstandsvorsitzenden großer deutscher Aktiengesellschaften will ich überhaupt nicht reden. Ich will hier keine Neiddiskussion anführen. Allerdings, denke ich, ist dies nicht die Bezugsgröße, auf die wir uns einlassen sollten.Von daher können wir nicht nachvollziehen, daß wir der allgemeinen Einkommensentwicklung hinterherhinken. Ich denke vielmehr, daß die Bezahlung der Abgeordneten durchaus ausreichend ist, um dieses Amt verantwortungsvoll auszufüllen. Ich glaube auch, die Differenz des Gehaltes, das z. B. die Vorstandsmitglieder großer deutscher Geldhäuser oder Aktiengesellschaften haben, zu dem, was wir haben, entspricht durchaus der Differenz des Einflusses, den wir und den diese haben.Der andere Punkt ist, daß natürlich auch Sozialhilfe kein Maßstab sein kann. Allerdings stimmt es doch bedenklich, wenn der Betrag, den wir uns jetzt nur als Erhöhung beschließen wollen, mehr ist, als wir prozentual den Sozialhilfeempfängern gewähren. Ich denke, unsere Erhöhung sollte sich — wenn schon — daran messen, was wir den Schwächsten unserer Gesellschaft zubilligen, und keine anonyme Durchschnittsgröße sein. Die vorgeschlagene Erhöhung von 4,3 % entspricht mit Sicherheit nicht diesem Argument.Ein anderes Argument, das gefallen ist, ist der immense Arbeitsaufwand, den wir haben. Es ist durchaus richtig, daß viele 60, 70 oder 80 Stunden in der Woche arbeiten, aber ganz so doll kann es damit doch nicht sein. In dem Handbuch Verhaltensregeln, § 3, wo aufgeführt ist, welche Nebentätigkeiten viele von uns noch haben, steht, daß einige nebenher noch Bürgermeister, andere Landräte sind, daß viele noch ihre Anwaltspraxis aufrechterhalten, Geschäftsführer von Firmen sind, bis hin zum Vorsitzenden eines der größten Gewerkschaftsbünde; ich glaube, der DGB ist sogar der größte Gewerkschaftsbund dieser Erde. Das geht also auch noch alles nebenher.
Daher kann ich dem nicht immer glauben, daß die Arbeitsbelastung so doll ist.Wenn es sich hierbei um die Zahl derjenigen unter uns handeln sollte, die Workaholic genannt werden können, wovon es bestimmt viele gibt, läßt sich dieses Problem nicht durch Geld lösen, sondern dann sollte man gucken, wie man das Geld vielleicht für eine Therapie einsetzt, daß man sich nicht für ganz so unersetzlich hält und vielleicht noch etwas mehr Zeit für die Familie hat.Genausogut könnte ich mir vorstellen, daß man dieses Geld auch zur Prüfung der Frage einsetzt, wie man unsere Arbeitsbelastung reduzieren, aufteilen könnte, und hierfür vielleicht eine Expertenkommission einsetzen könnte, um uns hier nicht ganz so sehr von der allgemeinen Welt abzukoppeln. Das sind einige Argumente, die man im Ausschuß vielleicht noch vertiefen könnte.
— Herr Kollege, ich nehme mein Mandat sehr ernst. Nur bin ich auch der Auffassung, daß man sich sehr von dem, was draußen geschieht, abkoppelt, wenn man 80 Stunden arbeitet. Ich glaube, Frau Seiler-Al-
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Hüserbring hat in der letzten Sitzung gesagt, daß man nach Hause kommt, den Hund streichelt, die Frau oder den Mann küßt und dann zum nächsten Termin hastet. Ich denke, wir sollten uns überlegen, wie man dieses abstellen könnte, und wir sollten uns nicht sagen: Wir haben so viel zu tun, wir brauchen auch mehr Geld dafür.Ein anderer Punkt ist vielleicht die Einführung eines Sockelbetrages. Darüber könnte man auch reden, was die GRÜNEN bei Tarifverhandlungen immer fordern.Wir sollten uns im Ausschuß auch mal darüber unterhalten, ob es vielleicht möglich ist, daß wir eine Initiative gemeinsam starten, daß die Europaabgeordneten endlich mal selber das Recht bekommen, für sich zu sorgen. Gerade wo Europa immer mehr zusammenrückt, wäre dies eine richtige Initiative.Den Wunsch, daß der Bericht zum 30. September vorgelegt werden soll, können wir unterstützen. Ich denke, das ist nur eine Marginalie.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoyer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich kurz darauf eingehen, daß der Kollege Hüser einen interessanten Bogen geschlagen hat, von der Frage der Diäten und der Pauschalen zu der Frage der Überlastung der Abgeordneten. Das ist natürlich ein attraktiver Gedanke, zu fragen, ob wir uns nicht eine Kommission leisten sollten, die uns Hinweise darauf gibt, wie man vielleicht mit weniger als einer 80- oder 90-Stunden-Woche auskommt. Aber das dadurch zu lösen, daß man die Tätigkeit des Abgeordneten von der finanziellen Seite her ganz besonders unattraktiv macht, wäre, denke ich, doch der falsche Weg. Insofern denke ich, daß wir diese beiden Themenkomplexe doch trennen müssen.
Ich habe fünf Anmerkungen zu machen.
Das erste ist der Dank an die Präsidentin für den vorgelegten Bericht und den Antrag. Wir stimmen natürlich der Überweisung an die genannten Ausschüsse zu.
Zum zweiten verweise ich in der Tat — da kann ich dem Kollegen Hüser zustimmen — auf meine Rede, die ich zu dem Thema beim letzten Mal gehalten habe und von der ich kein Wort zurücknehme.
Zum dritten möchte ich feststellen, daß dieser Vorschlag, den wir hier heute einbringen, maßvoll, angemessen und auch erforderlich ist. Er steht in der Tat in der Kontinuität dessen, was wir in den letzten Jahren hier getan haben.
Das bringt mich — viertens — zu dem Bericht der Kommission, den intensiv zu lesen, zu studieren, zu diskutieren wir alle noch nicht die Gelegenheit hatten. Das werden wir noch ausführlich tun. Aber hiermit kommen wir natürlich zum erstenmal in die Situation, daß wir die Kontinuität gegebenenfalls auch brechen müssen, weil die Kommission, wenn ich das auf den ersten Blick richtig sehe, den Finger genau richtig auf die Wunde legt. Wir haben es halt einmal zugelassen, daß die Abkopplung erfolgt ist und für einen längeren Zeitraum die Anpassung nicht in der entsprechenden Weise erfolgt ist.
— In der Tat. Das ist etwas, was wir jetzt mit viel Mühe und auch mit viel Mut gegenüber der Öffentlichkeit korrigieren müssen. Ich hoffe, daß wir es gemeinsam schaffen.
Darüber hinaus weist die Kommission sehr deutlich darauf hin, daß wir die Bezugsgrößen in der Tat richtig wählen müssen und daß wir vor allem von unserem Selbstbewußtsein und Selbstverständnis als Parlamentarier ausgehen müssen und aufpassen müssen, daß wir hier nicht irgendeine Funktion im öffentlichen Dienst zur Richtschnur für die Tätigkeit des Parlamentariers machen.
Der fünfte und zugleich letzte Punkt. Da bleiben wir wieder bei der Frage stehen: Was für einen Bundestag wollen wir eigentlich; was für eine Struktur der Mitglieder dieses Hauses wollen wir eigentlich? Ich habe mir einmal sehr aufmerksam die Mitgliederstruktur und auch die Altersstruktur der Volkskammer angesehen.
Wir haben diese Übersicht in den letzten Tagen bekommen. Ich kann die Kolleginnen und Kollegen in der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik zu ihrer Struktur nur beglückwünschen. Was sich dort an Berufen findet, die den Weg in den Deutschen Bundestag zum großen Teil schon längst nicht mehr finden, und was sich dort an Verjüngung des Parlaments findet, ist bemerkenswert und beeindrukkend. Ich kann den Kolleginnen und Kollegen nur wünschen, daß sie das beibehalten können, daß die entsprechenden Voraussetzungen auch dort geschaffen werden und daß sie, wenn sie demnächst dem Deutschen Bundestag in großer Zahl angehören werden, mehr frischen Wind auch hier hineinbringen werden.
Politik macht Spaß. Aber auch mein Beruf macht mir sehr viel Spaß. Ich denke, es wäre unverantwortlich, jemanden aus der beruflichen Sphäre deshalb nicht in den Bundestag zu holen, weil die Tätigkeit im Deutschen Bundestag, verglichen mit der beruflichen Tätigkeit, unattraktiv oder wenig abgesichert ist.
Ich bedanke mich.
Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 11/7426 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es wei-
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17026 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Vizepräsident Stücklentere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.Interfraktionell ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 6 — Jahresabrüstungsbericht — nach den Tagesordnungspunkten 9 a und 9 b gegen 16 Uhr aufzurufen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe Zustimmung. Es ist so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Beer, Frau Vennegerts und der Fraktion DIE GRÜNENEinsetzung eines Untersuchungsausschusses — Drucksache 11/6637 —Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Beer.
Herr Präsident! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Notwendigkeit eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Untersuchung der RabtaAffäre und der Verantwortung der Bundesregierung ist dringender als je zuvor. Der Ihnen vorliegende Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN entstand, nachdem durch eine Sendung des Nachrichtenmagazins „Panorama" bekannt geworden war, daß die deutscheBotschaft in Moskau bereits im Juli 1985 durch einen Salzgitter-Manager über die Beteiligung des Staatskonzerns Salzgitter am Bau einer Chemiewaffenfabrik in Libyen unterrichtet worden war.Die damalige Enthüllung war brisant. Die Bundesregierung hatte bis zu dem Zeitpunkt dieser Sendung immer angegeben, daß die entscheidende Information der deutschen Botschaft durch eine „nicht-östliche" Quelle erfolgt sei; da man aber nichts Genaueres über die von der Botschaft an das Auswärtige Amt gemeldete Beteiligung eines „Staatskonzerns" gewußt habe, sei die Sache beim BND und beim Bundesamt für Wirtschaft im Sande verlaufen.Als der damalige Kanzleramtsminister am 15. Februar 1989 hier im Plenum Bericht erstattete, verschwieg er, daß der Botschaftsangehörige Lingemann persönlich mit dem Moskauer Salzgitter-Repräsentanten gesprochen hatte und daß dieser seine Informationen vom Salzgitter-Manager Sobotta hatte.Mit unbeschreiblicher Ingnoranz hat sich das Bundeskanzleramt über den zweimal im Auswärtigen Ausschuß Anfang 1990 einstimmig gefaßten Beschluß, den „Schäuble-Bericht" fortzuschreiben und zu korrigieren und alle bis dahin nicht genannten Firmen offen anzugeben, hinweggesetzt. Obwohl neue BND-Berichte vorlagen und neue Hinweise öffentlich wurden, daß als Ersatz für Rabta jetzt eine neue Fabrik in Sheba gebaut wird, sind die Ausschüsse nicht unterrichtet worden.Die Bundesregierung hofft, sich durch Änderungen des Außenwirtschaftsgesetzes, die Ende Mai 1990 hier diskutiert und verabschiedet wurden, der AffäreRabta zu entledigen. Diese Änderungen des Außenwirtschaftsgesetzes waren eine Scheinoperation. Die Freiheit des Außenhandels ist und bleibt eine heiligeKuh in diesem Staat.Der von uns beantragte Untersuchungsausschuß soll das Übel an der Wurzel packen. Er soll klären, warum das Auswärtige Amt, der Bundesnachrichtendienst und andere Regierungsstellen damals keinen Kontakt zum Salzgitter-Konzern oder zur Moskauer Botschaft aufgenommen haben, um damit das Schlimmste verhindern zu können.Es muß ebenfalls geklärt werden, warum die Bundesregierung erst am 15. Februar 1989, also erst an dem Tag, als Herr Schäuble hier „Bericht ablegte", die Staatsanwaltschaft eingeschaltet hat, obwohl das Auswärtige Amt bereits vier Wochen vorher von Herrn Lingemann informiert worden war. Durch diese Verzögerung hat der staatseigene Konzern Salzgitter vier Wochen lang Zeit gehabt, belastendes Material verschwinden zu lassen.Mit der überraschenden Aussage des Angeklagten Jürgen Hippenstiel-Imhausen in der vergangenen Woche hat der Verdacht gegen Salzgitter neue Nahrung erhalten. Gerade heute ist es zu einer Zeugenaussage gekommen, die den Salzgitter-Konzern erneut verstärkt belastet. Ich zitiere:... daß Dr. Sobotta frühzeitig über die Giftgaspläne in Libyen unterrichtet war. Und überhaupt sei es bei Salzgitter ein offenes Geheimnis gewesen, daß es um eine Giftgasfabrik in Libyen ging.Salzgitter/Preussag-Chef Pieper, zugleich enger Freund des SPD-Vorsitzenden Vogel, hat jedoch im-mer wieder angegeben, daß kein SIG-Mitarbeiter jemals etwas über Rabta gewußt habe, bevor der Skandal an die Öffentlichkeit gelangt sei.Der von uns beantragte Untersuchungsausschuß soll klären, wie es eigentlich möglich war, daß der bundeseigene Salzgitter-Konzern immer wieder an dubiosen Waffengeschäften beteiligt war — siehe auch die U-Boot-Lieferungen nach Südafrika, siehe jetzt Libyen — , und wer zu welchem Zeitpunkt davon gewußt hat. Ist es vorstellbar, daß führende Salzgitter-Manager bei einem derart brisanten Geschäft mit Libyen tatsächlich auf eigene Faust gehandelt haben? Oder war auch der damalige Bundesfinanzminister Stoltenberg frühzeitig eingeweiht, wie in der U-Boot-Affäre?Schließlich muß mit Nachdruck darauf gedrängt werden, zu klären, wann und wie oft die Bundesregierung Hinweise von US-Behörden über die Beteiligung des Salzgitter-Konzerns erhalten hat und was daraufhin von der Bundesregierung unternommen worden ist.Die Fraktion DIE GRÜNEN kann einen Untersuchungsausschuß aus eigener Kraft nicht einsetzen. Notwendig hierzu ist die Unterstützung der SPD.
Wenn Mitglieder der SPD in dieser Woche öffentlich sagen, Rabta sei reif für einen Untersuchungsausschuß, die SPD-Fraktion unserem Antrag heute aber nicht zustimmen sollte, dann muß vermutet werden,
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Frau Beerdaß nicht nur die Regierungsparteien Angst vor einer Aufklärung haben, sondern auch die SPD Angst davor hat, daß bei ihr Leichen im Keller entdeckt werden.Wir appellieren an Sie, nicht nur moralisch zu diskutieren und zu kritisieren, sondern der Aufklärung auch Unterstützung durch Zustimmung zu unserem Antrag zu geben.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hüsch.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme an, daß zu den Verdächtigungen, Vermutungen,
die die Sprecherin der GRÜNEN in bezug auf den Vorsitzenden der SPD-Fraktion geäußert hat — und die Herr Verheugen schon als Tatsachen bezeichnet hat —, Herr Vogel selbst Stellung nehmen wird. Ich möchte mich dazu nicht äußern.Was jedenfalls die erneute haltlose Verdächtigung des jetzigen Herrn Verteidigungsministers und früheren Bundesfinanzministers Stoltenb erg betrifft, so reiht sich das in die Kette jener versuchten Ehrabschneidungen ein, mit denen das Ansehen eines angesehenen Politikers demontiert werden soll — ungeachtet dessen, was passiert.
Und nun, verehrte Frau Kollegin: Was Rabta, die Beteiligung deutscher Unternehmen an Rabta angeht, so gibt es dafür überhaupt keine Sympathie. Es steht fest, daß sie sowohl gegen das alte Gesetz verstoßen haben als auch gegen das neue verstoßen würden. Sie müssen daher zur Rechenschaft gezogen werden. Und wenn bundeseigene Unternehmen dabei tätig waren, darin verwickelt sind, dann müssen sie ebenso zur Rechenschaft gezogen werden.
Gesetz und Recht gelten für jedermann
und werden keineswegs so einseitig angewendet, wie es der Rechtsauslegung der GRÜNEN entspräche. Es gibt also weder Sympathie noch Deckung, noch gibt es irgend etwas zu verheimlichen.Aber das, was Sie hier jetzt anstreben, ist ein ungeeigneter Versuch.
— Sie sind sich über die Bedeutung eines Untersuchungsausschusses offensichtlich nicht im klaren. Sie wissen nicht, was für ein Verfahren da abläuft, was seine Aufgabenstellung ist.Zum ersten: Wenn Sie die drei von Ihnen umrissenen Fragenkomplexe wirklich ernsthaft beantwortet wissen wollten, dann haben Sie dazu eine Reihe parlamentarischer Möglichkeiten; die nutzen Sie nicht.
— Also, ich will mit Ihnen gar nicht streiten. Sie haben sowieso immer unrecht; es lohnt sich deshalb nicht.
Zweitens. Ihre drei Fragen erschöpfen den Sachverhalt nicht einmal. Wenn die Untersuchung auf diese drei Fragen beschränkt bliebe, wäre es ein unzulängliches Untersuchungsergebnis. Das Instrument ist also ungeeignet.Drittens. Wenn Sie das Instrument wirklich gewollt hätten, hätten Sie es vor Monaten machen können.
Aber Sie wollen einen bestimmten Vorgang instrumentalisieren, um ihn im Wahlkampf wahlweise gegen den SPD-Vorsitzenden und, wie Sie sagen, seinen Freund Pieper zu benutzen oder gegen Herrn Stoltenberg oder wen auch immer.Der Mißbrauch der Untersuchungsausschüsse für solche vordergründigen propagandistischen Absichten ist so durchsichtig, daß man dem nicht nachgehen darf.
Viertens. Wenn Sie es ernsthaft auf die Lösung ankommen lassen wollten, hätte der Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses eine Perspektive beinhalten müssen, etwa in Richtung Gesetzgebung. Das ist aber nicht der Fall; kein Wort von Konsequenzen.
Fünftens. Wenn Sie anfragen, was die Bundesregierung getan habe, dann ist das für mich das Resultat der Tatsache, daß Sie überhaupt nicht an den Plenarsitzungen teilnehmen. Noch vor etwa drei Wochen hat sich der Bundestag ausführlich mit zwei Novellierungen des Außenwirtschaftsgesetzes und mit einer Novellierung des Kriegswaffenkontrollgesetzes befaßt.
Wir haben zur Kenntnis genommen und auch dankbar anerkannt, daß der Bundeswirtschaftsminister zuvor unter Mitwirkung des Parlaments sechs Änderungsverordnungen zur Außenwirtschaftsverordnung durchgesetzt hat. Das waren alles umfangreiche Maßnahmen.Es gab im Wirtschaftsausschuß eine ausführliche Diskussion zu den Themen, die Sie unter Ziffer III jetzt der erstaunten Öffentlichkeit in Form eines Antrags auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses propagandistisch aufgemotzt vorführen wollen. Wenn Ihr
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Dr. HüschAnliegen auch nur den Funken der Glaubwürdigkeit hätte, säße mindestens Ihre Fraktion vollständig hier.
— Sie sind die Antragsteller, nicht wir, Sie wollen den Untersuchungsausschuß. Sie müssen ein Viertel der Mitglieder des Bundestags für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses in den Plenarsaal bringen. Von den über 50 Mitgliedern Ihrer Fraktion schaffen Sie gerade die Anwesenheit von zwei Kollegen. Dann können Sie ja wohl nicht erwarten, daß die anderen Ihnen die Mehrheit verschaffen für dieses unsinnige, unverständliche, unrichtige und propagandistische Unternehmen.Wir werden Ihren Antrag nicht unterstützen, was Sie ja nicht überrascht.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es fällt mir nicht schwer, zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses vorab zu sagen: Das Grundanliegen der Fraktion DIE GRÜNEN ist berechtigt. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dann war es die Rede meines Kollegen Hüsch.Die Ereignisse um den Bau der Giftgasfabrik im libyschen Rabta sind in allen ihren Verzweigungen wirklich reif für einen Untersuchungsausschuß;
denn vieles ist bisher im dunkeln geblieben. Es ist z. B. im dunkeln geblieben, was die Bundesregierung im Jahre 1985 mit den Informationen gemacht hat,
die ein Moskauer Mitarbeiter der Salzgitter AG an die dortige Botschaft gegeben hat. Auch die Verdächtigungen meiner Kollegin in diesem Bereich sind nicht unberechtigt.Es ist bisher ungeklärt, ob jemand und wer damals und im späteren Verlauf von diesen Informationen Kenntnis gehabt hat. Die Frage ist deshalb wichtig, weil zum damaligen Zeitpunkt wirklich noch Schaden hätte abgewendet werden können.Es ist nach wie vor im dunkeln geblieben, wer bei dem damaligen Bundesunternehmen Salzgitter AG und der Tochterfirma Salzgitter Industriebau GmbH was zu welchem Zeitpunkt gewußt hat.Heute früh hat im Prozeß in Mannheim ein Zeuge berichtet, unter den Mitarbeitern der Salzgitter Industriebau GmbH sei schon 1986 darüber gesprochen worden, es handele sich um eine Giftgasfabrik. Man hat teilweise fälschlicherweise angenommen, es gehe um den Irak.
— Das wäre auch nicht besser gewesen.Was hat die Konzernspitze gewußt, was hat der BMF gewußt? Dies sind berechtigte Fragen. Es ist nach wie vor im dunkeln, warum die Bundesregierung als Aufsichtspflichtige und Eigentümerin der Salzgitter AG 1985 und später nicht tätig geworden ist. Es ist schließlich bisher auch im dunkeln geblieben, ob und wie die Bundesregierung die Staatsanwaltschaft bei der Aufklärung in Sachen Salzgitter behindert hat.
Wir haben reiflich überlegt und auch geschwankt, ob wir wegen dieser Unklarheiten — das ist gelinde ausgedrückt — dem Antrag der GRÜNEN nicht doch zustimmen sollten. Wir sind schließlich dazu gekommen, dem Antrag nicht zuzustimmen. Ich möchte das wie folgt begründen, und ich bitte das auch zu akzeptieren.Wir stehen jetzt vier Monate vor dem Ende der Legislaturperiode und mitten in einem uns alle fordernden Einigungsprozeß in Deutschland. Ein Untersuchungsausschuß würde so in den nächsten Monaten eher Alibicharakter gewinnen. Er würde in der öffentlichen Aufmerksamkeit hinter den deutschen Einigungsprozeß und den Wahlkampf zurücktreten und würde untergehen. Wir haben zudem im U-Boot-Untersuchungsausschuß die bittere Erfahrung machen müssen, daß die Koalitionsmehrheit eine laufende staatsanwaltschaftliche Untersuchung zum Anlaß nimmt, die Aufklärung zu blockieren und zu behindern.
Die Regierungsparteien würden auch in einem Untersuchungsausschuß zur Affäre Rabta den Vorsitz übernehmen und würden ihre Mehrheit auch mit Hinweis auf die laufenden staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen ausnutzen, um eher zuzudecken als aufzuklären.Wir vertrauen deshalb in diesem Fall eher darauf, daß die Staatsanwaltschaft alle Verdächtigen und den genauen Tathergang ermitteln wird. Das Teilgeständnis von Herrn Hippenstiel-Imhausen im Mannheimer Prozeß deutet darauf hin, daß das gelingen könnte.
Wir denken, daß wir auf diesem Wege schneller weiterkommen als mit einem Untersuchungsausschuß.Es sei den GRÜNEN zugestanden, daß das eine eher pragmatische Abwägung ist. Bei dieser Gelegenheit weise ich ausdrücklich den Vorwurf zurück, wir wollten mit unserer Haltung irgend jemanden decken. Es ist wirklich das Gegenteil der Fall. Wir sind an rascher staatsanwaltschaftlicher und gerichtlicher Aufklärung interessiert.Die Sache insgesamt ist damit keinesfalls vom Tisch. Wir werden aufmerksam beobachten, was in
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Müller
Mannheim und anderswo auf den Tisch kommt. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß wir uns im September hier im Plenum mit neuen Ergebnissen der Ermittlungen befassen müssen. Ich finde, daß diese Kombination aus parlamentarischer Kontrolle und Begleitung hier und dem, was im Prozeß und bei der Staatsanwaltschaft ansonsten läuft,
uns in der jetzigen Phase wirklich weiterbringt als die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden den Antrag der GRÜNEN auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses wegen der Vorkommnisse bei den Firmen Imhausen Chemie und Salzgitter Industriebau GmbH im Zusammenhang mit der Giftgasfabrik in Libyen ablehnen. Alle Fragen, die mit dem Aufbau dieser Giftgasfabrik zusammenhängen, sind öffentlich intensiv beraten und diskutiert worden. Die zuständigen Ausschüsse des Deutschen Bundestages
haben von der Bundesregierung die Auskünfte erhalten, die zur Aufklärung dieses Falles erforderlich waren.
— Die Bundesregierung hat die Fragen in den Ausschüssen durchaus beantwortet.
Es geht den GRÜNEN auch gar nicht darum, weiteren Aufklärungsbedarf zu decken, sondern sie wollen offensichtlich die verbrecherischen Machenschaften von Privaten dazu nutzen, die Bundesregierung in ein angeblich schiefes Licht zu bringen.
Wir haben keinen Überwachungsstaat, der jede Handlungsweise von Unternehmen, ob sie nun gut oder schlecht ist, kontrolliert. Wir haben allerdings mit der Verabschiedung des Außenwirtschaftsgesetzes und des Kriegswaffenkontrollgesetzes die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß in Zukunft die Ausfuhr von Produkten, die der A-, B- oder C-Waffen-Herstellung dienen könnten, verschärft kontrolliert wird. Wir haben die Strafen gegen Verstöße nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz und dem Außenwirtschaftsgesetz verschärft und die Anforderungen an die Prüfungspflichten der Unternehmen erheblich erhöht.
All das, was durch einen Untersuchungsausschuß herauskommen könnte und durch einen Untersuchungsbericht festgestellt würde, hat die Bundesregierung von sich aus zur Aufklärung beigetragen
und mögliche Schlußfolgerungen, die aus dem Untersuchungsbericht herauskommen könnten, durch eine entsprechende verschärfende Gesetzesnovelle schon gezogen.
— Das ist ja das Problem bei den GRÜNEN: mal hü, mal hott.
Hinzu kommt, daß durch das Verfahren vor dem Landgericht Mannheim — darauf hat Kollege Müller zu Recht hingewiesen — gegen den Unternehmer Jürgen Hippenstiel-Imhausen die Öffentlichkeit über weitere Vorkommnisse im Zusammenhang mit der Giftgasfabrik Rabta weitestgehend informiert wird. Wenn sich dann etwas Neues ergeben sollte, was zu einer Belastung führen könnte, wird man erneut darüber reden müssen, ob hier in der Tat ein Untersuchungsausschuß notwendig ist.
Wir sind stets bereit, Untersuchungsausschüsse dort einzusetzen, wo etwas zu untersuchen ist.
Aber dort, wo alles offenbar ist und die Bundesregierung ihren Aufklärungspflichten nachkommt, werden wir einen Untersuchungsausschuß nicht mit einsetzen.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses auf Drucksache 11/6637. Dieser Antrag wird nicht von einem Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages unterstützt. Deswegen muß ich förmlich abstimmen lassen — Art. 44 unseres Grundgesetzes.Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Drei Stimmen aus der Fraktion DIE GRÜNEN. Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Eine Enthaltung aus der Fraktion der SPD. Damit ist dieser Antrag mit großer Mehrheit abgelehnt.Meine Damen und Herren, auf der Tribüne hat der Ausschuß für Abrüstung und Verteidigung der Volkskammer Platz genommen. Ich heiße die Damen und Herren Mitglieder dieses Ausschusses recht herzlich im Deutschen Bundestag willkommen.
Ich möchte Sie auch informieren: Der Tagesordnungspunkt, der Sie sicherlich am meisten interessiert, wird
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17030 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Vizepräsident Stücklenerst um 16 Uhr aufgerufen werden. Ich bitte also, noch so lange bei uns zu bleiben.Bevor wir in die Mittagspause eintreten, möchte ich noch mitteilen, daß wir mit dem Tagesordnungspunkt 8 um 14 Uhr die Sitzung fortsetzen werden.Die Sitzung ist unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses
Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahre 1989
— Drucksache 11/7130 —
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat hat eine Aussprache von einer Stunde vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Pfennig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Petitionsausschuß stellt Ihnen seinen Bericht für das Jahr 1989 vor. Dieser Bericht ist noch weitgehend geprägt von der bundesdeutschen Wirklichkeit des Jahres 1989. Er deutet aber auch schon an — nicht zuletzt durch den Anstieg der Eingaben auf über 13 600 —, daß sich die politischen Veränderungen im anderen Teil Deutschlands seit Herbst 1989 auch auf die Arbeit des Petitionsausschusses auswirken. Uns gehen jetzt täglich zahlreiche Eingaben von Bürgerinnen und Bürgern z. B. aus Leipzig, Magdeburg oder Schwedt an der Oder ein. Ich bin als Ausschußvorsitzender vor allem in der Zeit, bevor die Volkskammer einen eigenen Petitionsausschuß bildete, von zahlreichen Organisationen, Verbänden und Stellen bis hin zu NVA-Einheiten eingeladen gewesen.Die Währungsunion, die Anpassung von Löhnen, Gehältern und Renten sowie Fragen der Eigentumsordnung von Grundstücken sind ständiger Inhalt von Zuschriften aus dem anderen Teil Deutschlands. Gleichzeitig äußerten sich auch zahlreiche Bundesbürger in ihren Briefen zu diesen Problemen. Dies macht deutlich, welch große und aktuelle Bedeutung diese Fragen haben.Mit den Fortschritten in der deutschen Wiedervereinigung kommen jetzt auch erstmalig Eingaben, die sich auf Probleme der alten Ostgebiete des Deutschen Reiches beziehen. Polnische Bürger bitten um Hilfe bei der Durchsetzung von Rentenansprüchen, deutsche Bürger um Hilfe bei der Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen für z. B. in Ostpreußen zurückgelassenen Familienbesitz für den Fall, daß die Oder-Neiße-Grenze von einem gesamtdeutschen Parlament endgültig als Westgrenze Polens bestätigt wird.Die Anrufung des Ausschusses zeigt, daß die Institution Petitionsausschuß die wichtige demokratische und parlamentarische Funktion erfüllt, unmittelbarer Ansprechpartner für die Bürger mit ihren Sorgen und Wünschen zu sein.Seit die Volkskammer einen eigenen Petitionsausschuß gebildet hat, gibt es eine enge Zusammenarbeit beider Ausschüsse. Die Vorsitzenden und leitenden Ausschußmitarbeiter haben wechselseitig im Bundestag und in der Volkskammer an Ausschußsitzungen teilgenommen. Wir sind dem Wunsch des Ausschusses in Ost-Berlin gern nachgekommen, technische Hilfestellung beim Aufbau eines Ausschußdienstes zu leisten.Den Kolleginnen und Kollegen dort ist durchaus bewußt, daß sie vor einer schwierigen Aufgabe stehen, solange fast alles noch Staatsaufgabe ist und demnach auch Gegenstand von Petitionen sein kann. Zudem fehlen bisher Landtage und deren Petitionsausschüsse. Die Zahl der Eingaben ist daher weit höher als beim Petitionsausschuß des Bundestages, ohne daß zu ihrer Bewältigung ein so großer und guter Mitarbeiterstab wie hier zur Verfügung steht.In der DDR gab es zwar ein Eingabenrecht für die Bürger und ein Eingabengesetz, es war jedoch eher ein Ersatz für fehlenden individuellen Rechtsschutz bei Verwaltungsgerichten. Erwünscht waren nur gesellschaftlich nützliche und politisch genehme Eingaben. Das Eingabengesetz legte fest, daß durch gewissenhafte Bearbeitung der Eingaben das Vertrauen der Bürger zu den Staatsorganen gestärkt werden sollte. Dieses Eingabenrecht war also primär ein sozialistisches Mitwirkungsrecht, nicht aber das traditionelle Beschwerde- und Petitionsrecht. Ein positives Ergebnis für den Bürger war nur zu erwarten, wenn die Aufdeckung von Mißständen im Staats- und Wirtschaftsapparat im ideologischen Interesse der SED lag.Der Petitionsausschuß der Volkskammer hat sein Verfahren bereits jetzt im wesentlichen den Verfahrensgrundsätzen unseres Ausschusses angepaßt. Dies erleichtert die Zusammenarbeit. Vor allem werden Petitionen, die in die Zuständigkeit des jeweils anderen Parlaments fallen, zur unmittelbaren Bearbeitung an dieses abgegeben.Beim Rückblick auf die Tätigkeit des Ausschusses im Jahre 1989 ist vielleicht am bemerkenswertesten, daß die Zahl der Unterschriften auf Sammeleingaben auf über 300 000 gestiegen ist. Davon forderten allein 200 000 Petenten die Einstellung militärischer Tiefflüge aus Gründen des Lärmschutzes, der Absturzgefahr und des Umweltschutzes. Weitere Inhalte solcher Sammelpetitionen waren Forderungen nach einer generellen Wende im Naturschutz und der Novellierung des Naturschutzgesetzes, aber etwa auch Proteste gegen die geplante Schnellbahn.Aber nicht nur Fragen des Umwelt- und Naturschutzes veranlaßten die Bürger zu mehr Engagement. Mehr als 10 000 Petenten forderten die Verminderung des Umfangs des Verteidigungsetats. Mehr als 5 000 forderten die Übernahme von Leistungen für künstliche Befruchtung durch die Krankenkassen.
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Dr. Pfennig27 500 Petenten protestierten gegen die Privatisierung des Salzgitter-Konzerns.Der größte Teil der 13 607 Einzeleingaben betraf — wie im Vorjahr — das Ressort des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Über 3 500 Petenten und Petentinnen forderten eine weitere Reform des Gesundheits-Reformgesetzes, baten um Hilfe in Rentensachen, beschwerten sich über die Arbeitsverwaltung und auch über das Wohngeldgesetz. Bei der Bagatellgrenze für die Auszahlung von Wohngeld konnten wir helfen: Die Auszahlungsgrenze ist von der Bundesregierung auf 10 DM heruntergesetzt worden.Wie auch in den vergangenen Jahren hat sich der Ausschuß nachdrücklich für die Anliegen zur Integration behinderter Menschen eingesetzt. Der Tätigkeitsbericht enthält zahlreiche Beispiele dafür.Bezüglich der übrigen Geschäftsbereiche möchte ich nur auf einen Fall hinweisen, der zu einem Novum bei der Überweisung von Petitionen an die Exekutive geführt hat. Erstmalig wurde dem Bundesrechnungshof eine Petition als Prüfungsanregung zugeleitet. Das ist eine Auswirkung der neuen Verfahrensgrundsätze, die sich — das kann man nach der kurzen Dauer schon sagen — im großen und ganzen bewährt haben und im Anhang zum Tätigkeitsbericht abgedruckt sind.Ich möchte mich bei den Petitionsausschüssen der Länder und dem Petitionsausschuß des Europäischen Parlaments für die gute und erfolgreiche Zusammenarbeit im Berichtsjahr bedanken. Bei einer gemeinsamen Sitzung der Vorsitzenden der Petitionsausschüsse der Länder und des Bundestages auf meine Einladung hin Anfang November 1989 in Berlin ergab sich die Möglichkeit, Kontakte zu vertiefen und zu vereinbaren, in welchen Fällen Petitionen gemeinsam behandelt werden können, z. B. wenn sie sich gegen Bundes- und Landesexekutive richten.Allen Mitgliedern des Ausschusses, die durch die Doppelbelastung im Petitionsausschuß und in den Fachausschüssen ein besonders großes Arbeitspensum zu bewältigen hatten, möchte ich ganz herzlich für ihre Mitarbeit danken. Zugleich möchte ich auch im Namen der Obleute den Mitarbeitern des Ausschußdienstes herzlich danken.
Den Bürgern, die sich — wie in den vergangenen Jahren — mit ihren Sorgen an den Petitionsausschuß gewandt haben, möchte ich versichern, daß der Ausschuß nicht in seinem Bemühen nachlassen wird, berechtigte Interessen der Petenten engagiert und energisch zu vertreten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete von der Wiesche.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zunächst eine Anmerkung. Ich möchte es nicht versäumen, den Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Hennig hier recht herzlich zu begrüßen.Erlauben Sie mir aber gleichzeitig eine Anmerkung anderer Art: Ich bedaure es außerordentlich — gescholten werden immer dienenigen, die anwesend sind; ich möchte Sie eigentlich auch nicht schelten, sondern einfach nur die Tatsache feststellen — , daß die Bundesregierung scheinbar wenig Anteil an der Arbeit des Petitionsausschusses nimmt,
die ja die Ministerien ganz besonders angeht.
Der vorliegende Jahresbericht des Petitionsausschusses macht wieder einmal deutlich, welche zusätzlichen Arbeiten neben den normalen parlamentarischen Arbeiten notwendig sind, um den Nöten, den Beschwerden und Sorgen der Bürgerinnen und Bürger gerecht zu werden. Wir merken, daß Bürgerinnen und Bürger einen immer stärkeren Druck und Einfluß auf Verwaltung und Gesetzgebung ausüben. Dies ist im Petitionsausschuß besonders gut festzustellen. Wenn allein im Jahre 1989 wiederum mehr als 13 600 Eingaben eingegangen sind, dann kann man daran sehr deutlich sehen, wie diese Dinge von draußen an uns herangetragen werden.Durch diese Eingaben wird aber auch klar, wo Lükken im politischen Handeln sind, wie die Bürger Politik verstehen und was sie vom Gesetzgeber erwarten. Dieses politische Stimmungsbarometer, dieses Spiegelbild der politischen Meinung wird leider viel zuwenig beachtet. Daß dies so ist, wie es ist, wird durch die Zahl der Petitionen, die in der Zukunft eher zu- als abnehmen wird, deutlich.Ohne ein beachtlich gut besetztes Petitionsbüro wäre unsere Arbeit allerdings schier nicht zu leisten. Deshalb möchte ich bereits an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unseres Büros für ihre so tatkräftige Hilfe recht herzlich danken.
Ihr Fach- und Sachverstand, gepaart mit der politischen Bewertung durch die Mitglieder des Petitionsausschusses, haben wirklich zu einer ganzen Reihe von Erfolgen geführt.Ich will auch bekennen, daß wir nicht immer einer Meinung waren. Das gilt sowohl für die Mitglieder des Petitionsausschusses untereinander als auch für die Meinungsbildung zwischen dem Bereich der Administration und den Mitglieder des Ausschusses. Ich will aber auch bekennen, daß wir immer einen vernünftigen, einen guten Weg gefunden haben.In 13 Fällen gab es Änderungsanträge der Fraktionen zu Sammelübersichten, über die im Plenum noch einmal diskutiert und danach entgültig entschieden wurde. So waren z. B. Fragen zum Ausländerrecht, zum Pflanzenschutz, zum Atomrecht, zur Wehrforschung, zur Versicherungspflicht, zur Seuchenbekämpfung zu behandeln, um nur einige Themen zu nennen.Nach eingehender Beratung und entsprechender Vorarbeit stehen die Beschwerde und damit der Pe-
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von der Wieschetent in jedem Fall im Vordergrund all unserer Beratungen. So ist es zu verstehen, daß der weitaus größte Teil der Petitionen im Deutschen Bundestag und zuvor auch im Petitionsausschuß einstimmig beschlossen wurde. Wir merken daran, daß es hier über die Grenzen der parteipolitischen Querelen hinweg darum ging, den Menschen, die mit Sorgen und Nöten zu uns kommen, zu ihrem Recht zu verhelfen.Die neuen Verfahrensgrundsätze — der Kollege Pfennig hat sie bereits angesprochen — sind dafür natürlich auch ein ganz vorzügliches Arbeitsinstrument.
Allerdings muß ich sagen: Noch ist die Tatsache der Existenz dieser neuen Verfahrensgrundsätze nicht zu allen Bereichen durchgedrungen. Im Anhang zum Petitionsbericht wird klargelegt, wie die Wertigkeit der Voten beschaffen ist.Den Ministerien kann ich leider nicht in jedem Fall den Dank aussprechen, den ich dem Petitionsbüro aussprechen konnte. Nach dem Jahresbericht des Petitionsausschusses für das Jahr 1989 hat es die Bundesregierung im Jahre 1989 bei 68 Petitionen abgelehnt, dem Votum des Deutschen Bundestages auf Berücksichtigung oder Erwägung zu entsprechen. Bei 108 Petitionen, die der Bundesregierung vor dem 1. Januar 1989 oder im Laufe des Jahres 1989 zur Berücksichtigung oder zur Erwägung überwiesen wurden, hatte sie die Bearbeitung am 31. Dezember 1989 noch nicht abgeschlossen.Schon diese Zahlen bestätigen, daß die Exekutive den Petitionsentscheidungen des Deutschen Bundestages nicht durchgängig den Respekt entgegenbringt, der nach unserer Auffassung erforderlich ist. Ich möchte sogar sagen: Ich habe den Eindruck, daß sich die Ministerien bei den Rückführungen der Eingaben ungenügend mit den Petitionen befaßt haben; denn sie haben weitestgehend keinen Weg danach gesucht, wie dem Petenten geholfen werden kann.Die Begründungen, die bei der erneuten Ablehnung gegeben wurden, waren in vielen Fällen mit den Aussagen ihrer Stellungnahme im Vorverfahren der Petitionen identisch. Dies reicht uns nicht aus. Ich bitte die Ministerien sehr herzlich darum, in Zukunft Petitionen mehr Wert beizumessen.
Ich empfehle den Beamten in den Ministerien dringend die Lektüre der neuen Verfahrensgrundsätze.Der Petitionsbericht kann natürlich nur ein Querschnitt unserer gemeinsamen Arbeit sein. Er kann die Probleme nur beispielhaft darstellen. Ich will dem Beispiel folgen und auf ein paar Petitionen besonders aufmerksam machen. Mit fast 200 000 Unterschriften wurde die Forderung nach Einstellung der militärischen Tiefflüge aus Gründen des Lärmschutzes, der Absturzgefahr der Flugzeuge und des Umweltschutzes erhoben. Nach § 109 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages war der Petitionsausschuß gehalten, diese Petitionen an den Fachausschuß zur weiteren Behandlung zu überweisen.Dieser wiederum hat die Petitionen an einen eigens dazu eingerichteten Unterausschuß weitergeleitet.Dort schmort leider dieser gesamte Petitionsbereich. Er konnte bisher nicht abgeschlossen werden, obwohl dies dringend notwendig ist.Wir haben also darauf zu achten, daß der § 109 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in der Zukunft nicht zu einer Verhinderungsbestimmung zur Erledigung von Petitionen wird. Statt dessen müssen wir unter Umständen diese Petitionen, wenn mit einer Erledigung in kürzester Zeit nicht gerechnet werden kann, wieder zu uns zurückholen und sie selbst bis zur Erledigung behandeln.
Zum Bereich des Umweltschutzes sind fast 1 000 Petitionen eingegangen. Dazu gab es nicht weniger als rund 20 000 Unterschriften. Wir sehen, daß auch im Bereich des Umweltschutzes die Bürger wesentlich aktiver geworden sind. Ich will auf Einzelheiten in diesem Bereich nicht weiter eingehen. Wir haben einen Großteil dieser Petitionen positiv erledigt. Ich meine, daß wir damit als Petitionsausschuß auch einen guten Beitrag zum Umweltschutz geleistet haben.Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung steht an der Spitze der Ministerien, die mit Eingaben bedacht worden sind. 3 517 Eingaben sind allein zu Fragen, die dem BMA zugeordnet werden, eingegangen. Dabei handelt es sich überwiegend um Einzelpetitionen. Ich will dies nur noch einmal deutlich sagen, weil vorher der Eindruck entstehen konnte, wir behandelten überwiegend Massenpetitionen. Ich möchte noch einmal ganz deutlich sagen, daß dies so nicht ist. Die Einzelpetitionen überwiegen. Ich will auf zwei, drei solcher Petitionen eingehen.Helfen konnte der Petitionsausschuß einer Petentin, die nach dem 1980 eingetretenen Versicherungsfall von der BfA eine Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von nur 259 DM monatlich bezog. Auf Bitte des Ausschusses regte das Bundesversicherungsamt bei der BfA an, diesen Versicherungsfall noch einmal zu überprüfen. Dabei wurde festgestellt, daß die Petentin bereits seit 1974 nur noch eingeschränkt leistungsfähig gewesen ist. Der Eintritt des Versicherungsfalles war deshalb entsprechend vorzuverlegen. Ihre Rente wurde neu berechnet, und dabei kam für diese Petentin ein Betrag von DM 1 020 im Monat heraus. Überdies erhielt sie eine Nachzahlung von 45 000 DM. Dies kommt fast einem Lottogewinn gleich.Ein weiterer Fall ist zwischenzeitlich — nach Bekanntwerden des Petitionsberichts — von der Presse aufgegriffen worden, aber meines Erachtens nicht klar genug dargestellt worden. Ein Arzt hat den Petitionsausschuß um Unterstützung seines Antrages an die Krankenkasse gebeten, für eine Petentin die Kosten für eine operative Brustkorrektur zu übernehmen. Die junge Frau litt an einer angeborenen Unterentwicklung einer Brust. Die Krankenkasse hatte die Kostenübernahme zunächst abgelehnt. Sie konnte sich auf ein fachärztliches Gutachten stützen, das der Petentin keine Erkrankung im versicherungsrechtlichen Sinne attestierte. Nach Intervention des Ausschusses verlangte das Bundesversicherungsamt
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von der Wiesche— die Aufsichtsbehörde der Krankenkasse — , daß ein weiteres fachärztliches Gutachten eingeholt wird. Auf Grund der Ergebnisse dieses Gutachtens teilte die Krankenkasse mit, daß sie nunmehr bereit sei, die Kosten für die erforderliche Behandlung zu übernehmen.Ich will es mit diesen Beispielen bewenden lassen; es gäbe noch eine ganze Anzahl von Beispielen, die es auch wert wären, genannt zu werden.Ich will noch einmal kurz auf die zwischenzeitlich wirklich sehr gute Zusammenarbeit zwischen dem Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages und den Petitionsausschüssen der Länder sowie dem Petitionsausschuß des Europäischen Parlaments hinweisen. Dies ist eine vorzügliche Einrichtung, weil hierbei über den kurzen und kleinen Dienstweg Petitionen, die nach der Zuständigkeit anders eingeordnet werden müssen, versandt werden, ohne daß der Petent noch besondere Anstrengungen unternehmen muß. Das ist für ihn eine Erleichterung.Ich will aber auch noch einmal deutlich machen, daß der Petitionsausschuß gleichzeitig die Funktion eines Ombudsmannes wahrnimmt. Dies zeigt sich besonders deutlich darin — das können wir feststellen —, daß der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages im europäischen Ombudsmanninstitut und bei der internationalen Arbeit der Ombudsmänner ein gewichtiges Wort mitredet.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bin nun seit 1980 auf eigenen Wunsch in diesem Petitionsausschuß. Ich war mir von vornherein im klaren über die Aufgabe und die zusätzliche Arbeit, die auf mich zukommen würde. Ich muß heute gestehen: Ich habe diese Arbeit immer mit Freude getan,
weil sie die einzige Möglichkeit ist, einzelnen Bürgern oder Gruppen von Bürgern zu helfen und ihren Wünschen zu entsprechen.Nun scheide ich nach Ende dieser Legislaturperiode auf eigenen Wunsch aus dem Deutschen Bundestag aus. Ich werde also dem 12. Deutschen Bundestag nicht mehr angehören.
— Da sind die Würfel gefallen. — Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um allen Kolleginnen und Kollegen des Petitionsausschusses heute an dieser Stelle für die wirklich vorzügliche und kollegiale Zusammenarbeit Dank zu sagen, die über die Fraktionsgrenzen hinaus erfolgt ist. Wir haben miteinander immer nur das Wohl der Petenten im Auge gehabt, nie aber parteipolitische Querelen.
Kein Petent kann sich darüber beschweren, daß wir seine Anliegen nicht mit vollem Ernst behandelt und schließlich auch beschieden haben.Es ist mehrfach kundgetan worden: Der Petitionsausschuß ist kein Gesetzgebungsausschuß. Er ist auch kein Überausschuß. Trotzdem haben wir miteinander eine ganz Menge bewegt. Die Mithilfe des Büros möchte ich auch in diesem Zusammenhang besonders erwähnen. Ich möchte mich dafür nochmals herzlich bedanken.Dem neuen Petitionsausschuß der 12. Legislaturperiode wünsche ich eine genauso gute, vertrauensvolle Zusammenarbeit, wie sie es bisher gegeben hat. Sorgen Sie mit dafür, daß der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages nicht nur Kummerkasten der Nation, sondern auch Anwalt der Bürger ist. Dann haben wir den richtigen Terminus gefunden.Der künftigen gemeinsamen Arbeit wünsche ich ein herzliches Glückauf.
Gestatten Sie mir zum Abschluß, diese kollegiale Zusammenarbeit folgendermaßen zu untersützen: Ich habe noch zwei Minuten Redezeit, aber ich habe meinem Kollegen Haungs versprochen, daß er von meiner Redezeit eine Minute bekommt. Die ist jetzt angebrochen.
Ich erlaube mir, für diese so kollegiale Rede, die Sie eben gehalten haben, und für Ihre aufopfernde Arbeit auch von hier aus Dank zu sagen. Aber wir sehen uns, Herr Kollege, zumindest noch in der Sommerpause; davon gehe ich aus. Es ist noch ein halbes Jahr Zeit. Vielen herzlichen Dank.
Jetzt hat der Abgeordnete Funke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Recht eines jeden Bundesbürgers, sich mit seinem Anliegen an den Deutschen Bundestag zu wenden, ist in Art. 17 des Grundgesetzes geregelt. Damit ist der Petitionsausschuß einer der wenigen Ausschüsse, die direkt im Grundgesetz ihre Erwähnung finden. Er ist deswegen nicht etwa ein Überausschuß. Er ist jedoch im Gegensatz zu den anderen Ausschüssen des Deutschen Bundestages fachübergreifend tätig. Schließlich kommen die Petitionen aus der Bevölkerung aus allen Sachgebieten, mit denen sich der Bundestag mit seinen verschiedenen Ausschüssen in irgendeiner Weise zu befassen hat.Stärke, aber auch Schwäche des Petitionsausschusses ist es, daß die Beschlüsse des Petitionsausschusses — um es einmal juristisch auszudrücken — nicht mit einer Zwangsvollstreckungsklausel versehen werden können. Dennoch sehe ich hierin auch eine Stärke des Petitionsausschusses, weil er gezwungen ist, durch seine Argumente und seine Überzeugungskraft die Bundesregierung oder auch den Deutschen Bundestag dazu zu bringen, die Beschlüsse des Petitionsausschusses zu berücksichtigen.Auch wenn gelegentlich von den Kollegen bemängelt wird, daß die Bundesregierung in einigen Fällen den Beschlüssen nicht gefolgt ist, kann insgesamt jedoch mit Befriedigung gesagt werden, daß der weitaus größte Teil der Beschlußempfehlungen auch umgesetzt worden ist.In diesem Zusammenhang will ich jedoch nicht verhehlen, daß einige Bundesländer im Zuge der Auf-
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Funketragsverwaltung, z. B. beim Bau der Bundesfernstraßen und der Bundesautobahnen, dem Petitionsausschuß nicht unerhebliche Sorge bereitet haben. Ich erwähne die Position des Freistaates Bayern zu dem geplanten Bau der A 94/B 12 von München über Mühldorf nach Simbach durch das Isental. Die Landesregierung des Freistaates Bayern hatte sich auf eine Trassenführung versteift, die nach Meinung des Petitionsausschusses unter ökologischen Gesichtspunkten nicht zu vertreten war, weil das Isental dadurch zerschnitten und wesentliche Biotope und landschaftlich reizvolle Gegenden zerstört worden wären.Der Petitionsausschuß, der sich sehr viel Mühe mit dieser Frage gegeben hat und dazu eine Ortsbesichtigung durchgeführt hat, favorisierte — auch nach Anhörung von Sachverständigen — eine Trassenführung über die sogenannte Haaglinie, die die Nachteile der Trassenführung über Dorfen nicht gehabt hätte.Die Landesregierung des Freistaates Bayern hat in sehr massiver Weise versucht,
die Beschlußfassung des Petitionsausschusses zu beeinflussen, um es sehr vornehm auszudrücken.
Dies ist nicht gelungen; das sage ich auch mit einigem Stolz für alle Mitglieder in diesem Petitionsausschuß. Wir haben uns gegen diese Versuche, uns auf den rechten Pfad der bayerischen Tugend zu führen, gewehrt.
In diesem Zusammenhang liegt mir sehr daran, darauf hinzuweisen, daß die Mitglieder des Petitionsausschusses fernab von ideologischen und parteipolitisch festgesetzten Grundsätzen entscheiden. Hier gibt es keine festgelegten Abstimmungsverhalten — auf der einen Seite Regierungskoalition und auf der anderen Seite Opposition — , sondern im Ausschuß wird von jedem Abgeordneten nach bestem Wissen und Gewissen entschieden, und zwar mit unterschiedlichstem Abstimmungsverhalten. Der heutige Tag war ein typisches Beispiel: Da gab es Koalitionen unter allen Parteien, und gelegentlich haben die Mitglieder der jeweiligen Parteien auch noch unterschiedlich abgestimmt, was ich ausdrücklich begrüße.
Ich halte das für eine gute demokratische und parlamentarische Übung. Sie sollte vielleicht auch einmal im Plenum angewandt werden.
Nur müssen wir hier gelegentlich ja die Bundesregierung stützen.Der Bundesminister für Post- und Fernmeldewesen hat uns insbesondere im Hinblick auf die Petitionen zur Breitbandverkabelung das Leben nicht immer leicht gemacht. Es handelt sich um Petitionen, weil die Deutsche Bundespost zu Beginn der Breitbandverkabelung intensiv mit Subskriptionspreisen geworben hat und diese Vergünstigung später bei Einführung zusätzlicher Programme am liebsten kassieren wollte, ohne daß bei der früheren Werbung auf eine spätere Rücknahmemöglichkeit hingewiesen worden wäre.Auch das sogenannte Inkassoverfahren bei der Innenhausverkabelung z. B. von größeren Wohneinheiten war Gegenstand mehrerer Petitionen. Zu Recht haben die Bürger nicht eingesehen, daß eine Mietpartei oder der Vermieter für das gesamte Haus das Inkasso für die Post vornehmen sollte. Hier kann der Post durchaus zugemutet werden, sich so zu verhalten wie bei den Telefonanschlüssen. Dort wird ja ebenfalls nicht der Hauseigentümer das Inkasso für sämtliche Mietparteien übernehmen.
Di hohe Zahl der eingegangenen Petitionen zeugt von der Mündigkeit des Bürgers, der das Parlament freimütig auf seine Anregungen und Bedenken und auch auf seine subjektive Betroffenheit hinweist.Für ein Mitglied des Petitionsausschusses ist es schon befriedigend, daß man in vielen Einzelfällen, auch in Notlagen, helfen kann. Dies macht die Arbeit in diesem Ausschuß besonders erfreulich. Der Kollege von der Wiesche, dem ich an dieser Stelle ganz besonders herzlich für die kollegiale und freundschaftliche Zusammenarbeit in diesem Ausschuß danken möchte, hat hierauf bereits hingewiesen.Natürlich bleibt es auch nicht ganz aus, daß es eine Reihe von Petitionen gibt, bei denen wir nicht abhelfen können. Dies gilt z. B. bei größeren Gesetzesvorhaben; ich nenne die Gesundheitsreform, die Steuerreform und die Rentenreform. Wenn wir hier im Plenum entschieden haben, kommen wenige Wochen darauf Petitionen, in denen man sich über ein Gesetzeswerk beklagt, und dann ist es allzu natürlich, daß diesen Petitionen nicht entsprochen werden kann, nachdem wir hier im Deutschen Bundestag darüber gerade gründlich beraten haben.Der Bericht des Petitionsausschusses enthält noch vergleichsweise wenige Fälle, die die deutsch-deutsche Annäherung betreffen. Aber in diesem Jahr sind schon viele Petitionen eingetroffen, die sich mit den veränderten Verhältnissen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR befassen. Mit der deutschen Einheit werden sicherlich noch mehr Petitionen auf das gesamtdeutsche Parlament zukommen. Diese Petitionen werden sich mit sozialen Problemen, mit Eigentumsfragen und mit Fragen der unterschiedlichen Rechtsstrukturen beschäftigen.Ich glaube, daß die Bedeutung des Petitionsausschusses im Zuge der neuen deutschen Staatlichkeit ganz erheblich zunehmen wird. Viele menschliche Probleme und Rechtsfragen werden auf uns zukommen. Ich bin sicher, daß die Arbeit im Petitionsausschuß zwar noch schwieriger, aber auch noch interes-
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Funkesanter wird als bisher. Ich kann daher den Kollegen nur empfehlen, sich in der nächsten Legislaturperiode verstärkt um die Mitgliedschaft im Petitionsausschuß zu bewerben.
— „Kollegen" sind bei mir auch „Kolleginnen".
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, den Mitarbeitern des Büros für die engagierte, fleißige und sachkundige Unterstützung unserer Arbeit und den Kollegen im Petitionsausschuß für die faire, freundschaftliche und an der Sache orientierte Art und Weise der Arbeit zu danken. — Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Nickels.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Anwesende! Ich habe noch einmal die ganzen Debatten über die letzten Jahresberichte nachgelesen. Dabei habe ich gemerkt, daß wir jedes Jahr ein Stück weit die alte Leier spielen und das alte Lied absingen, und das ist zum Teil auch ein Katzenjammerlied. Wir beklagen uns immer über die leere Regierungsbank — heute sind ja einige da; die letzten beiden Jahre war zunächst einmal niemand da — , und wir beklagen uns jedesmal darüber, daß die Bundesregierung die Voten, die wir mit viel Mühe erarbeitet haben, mißachtet. Wir drohen auch alle Jahre wieder damit, daß wir uns das nicht mehr gefallen lassen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es wird Zeit, daß wir diesen starken Worten auch einmal Maßnahmen und entsprechende Instrumente folgen lassen.
Ich möchte doch wirklich darum bitten, daß wir uns im Petitionsausschuß einmal Gedanken darüber machen, wie wir diesen Klagen sozusagen Zähne verschaffen und wie wir der Regierung für den Fall, daß sie nicht bereit ist, in unserem Sinne voranzuschreiten, Beine machen können, denn es handelt sich ja schließlich um Voten des gesamten Bundestages.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kühbacher?
Wenn Sie es bitte nicht anrechnen, Frau Präsidentin.
Auf keinen Fall, Frau Kollegin.
Frau Kollegin, was die Instrumente gegenüber der Regierung angeht: Denken Sie etwa an den Vorschlag zur Abwahl von Parlamentarischen Staatssekretären?
Herr Kühbacher, wir können ja eine Vorschlagssammlung anlegen und uns einmal überlegen, was uns geeignet erscheint.Ich glaube, daß es auch sehr wichtig und eigentlich auch ganz einfach wäre, dafür zu sorgen, daß die Debatten über den Jahresbericht nicht mehr wie bisher Verfügungsmasse sind und hin und her geschoben werden, wie es gerade paßt. Wir haben ja Zeiten, die sehr bewegt sind, und in denen wird dann die Debatte über die Bürgeranliegen als Manövriermasse benutzt. Heute hat man die Debatte über den Jahresbericht des Petitionsausschusses auch wieder eine Stunde vorgezogen; ein anderes Mal wurde sie eine Stunde zurückgeschoben. Ich glaube, dem könnte man abhelfen, wenn wir uns für das nächste Jahr einen — wir haben ja im Parlament mittlerweile viele „Ombudsstellen" — „Ombudstag" vornehmen würden: einen ganzen Tag, fest eingeplant,
an dem wir über den Bericht der Ausländerbeauftragten, einen Bericht der Kinderbeauftragten des Deutschen Bundestages, den Bericht des Datenschutzbeauftragten, den Bericht des Wehrbeauftragten und den Jahresbericht des Petitionsausschusses debattieren.
Dazu könnte man gezielt auch Bürgerrechtsinitiativen, Verbände und andere interessierte Leute einladen. Ich glaube, ganz egal, was die große Politik dann gerade abfeiert, das wäre für die Bevölkerung, die interessierten Leute und uns im Blick auf diese Bürgerbelange ein sehr interessanter Plenartag.
Die Probleme und die Klagen, die wir haben, spiegeln sehr stark wider, daß die Reform und Verbesserung der Petitionsmöglichkeiten sowie die Parlamentsreform untrennbar miteinander verbunden sind. Wir können den Petitionen und den Menschen, die sich an uns wenden — der Petitionsausschuß, der Verfassungsrang hat, bietet ihnen ja die einzige direkte Zugangsmöglichkeit zum Parlament — , nur dann angemessenes Gewicht zukommen lassen, wenn wir uns als Parlament selber ernst genug nehmen und auch die Würde und den Rang, den der Petitionsausschuß hat, offensiv ernst nehmen, einklagen und durchsetzen.
Ich möchte, wenn man schon immer wehklagt, eine Liste mit Soll und Haben aufmachen und möchte dabei mit dem Haben anfangen. In den letzten zwei Legislaturperioden hat sich im Bereich des Petitionswesens etliches verändert. Das ist nicht laut durch die Republik gegangen, aber es waren im Interesse der Petentinnen und Petenten sehr wichtige Veränderungen. Noch 1983 war es so, daß — trotz Verfassungsrang — alle Petitionen in riesengroßen Sammelübersichten versackten, egal, ob negativ oder positiv ausgegangen, und hier im Parlament konnte niemand, auch nicht jemand, der im Petitionsausschuß gearbeitet hat, sagen, über was er nun eigentlich abstimmte. Es war ein großes Sammelsurium. Die Petitionen hat-
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Frau Nickelsten kein Gesicht, keine Stimme mehr; unsere Arbeit war auch nicht sichtbar.Wir haben durchgesetzt — anfangs gegen erhebliche Widerstände eigener Kolleginnen und Kollegen; es hat in den vergangenen Jahren da auch ein Bewußtseinsprozeß stattgefunden — , Einzelpetitionen aufrufen und debattieren zu können und damit das Petitionsanliegen und die Petenten und Petentinnen sichtbar zu machen. Wir haben zweitens — was auch ganz neu ist — erreicht, daß Änderungsanträge zu einzelnen Petitionen gestellt werden können, womit die besonderen Anliegen dann noch einmal geltend gemacht werden können. Wir haben drittens erreicht, daß Anträge und Petitionen mit anderen Sachdebatten des Parlaments in verbundener Debatte verhandelt werden können. Ich erinnere an die Haushaltsdebatte des letzten Jahres, bei der im Rahmen der Debatte über den Verteidigungshaushalt Petitionen zum Jäger 90 mitberaten wurden. Das ist wichtig, damit die Abgeordneten und die Regierung auch zur Kenntnis nehmen, daß sich die Bürgerinnen und Bürger hier einmischen, und deren Anliegen in ihre Willensbildung mit einbeziehen.Wir haben — auch das ein Novum — im letzten Jahr zum erstenmal eine namentliche Abstimmung über eine Petition herbeigeführt. Das finde ich auch wichtig, weil die vielbeschäftigten Kolleginnen und Kollegen die Arbeit mit den Anliegen der Bevölkerung gern uns, dem Strafbataillon Petitionsausschuß, zustecken, das morgens um halb acht tagt und arbeitet, und weil wir über das Instrument der namentlichen Abstimmung unsere Kolleginnen und Kollegen einmal für diese Petenten in Bewegung gesetzt haben. Auch das ist eine Aufgabe, die wir haben.
Auf der Sollseite müssen wir, glaube ich, die Petitionsreform, die wir letztes Jahr ein Stück weitergetrieben haben, unbedingt wieder aufgreifen. Es ist eine steckengebliebene Reform. Hier ist besonders wichtig, daß Minderheitenrechte im Ausschuß verankert werden. Dies soll nicht geschehen, weil man mit den Kollegen und Kolleginnen um des Streitens willen streiten will. Aber es gibt im Petitionsausschuß natürlich, Herr Kollege Funke, auch fraktions- und koalitionsbedingte Widersprüche zwischen den Mitgliedern. Darum ist es im Interesse der Petenten und Petentinnen wichtig, im Ausschuß Rechte für eine qualifizierte Minderheit zu schaffen sowie eine Gleichstellung der Bitten und Beschwerden vorzunehmen.Ich finde das aus folgendem Grund — Herr Dr. Pfennig, Sie haben auch schon darauf Bezug genommen — besonders wichtig: Wir leben in einer Zeitenwende. Ich glaube, daß wir den Jahresbericht des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages der Bundesrepublik Deutschland, so wie er jetzt ist, dieses Jahr wahrscheinlich zum letztenmal behandeln.
Wahrscheinlich werden im nächsten Jahr die DDR und auch die Bundesrepublik nicht mehr so bestehen, wie sie sind.
Schwierigkeiten haben im Moment sicher auch viele Bürgerinnen und Bürger der DDR, die ein Stück weit neue Errungenschaften anstreben, sich über den Staatsvertrag aber auch eines Großteils ihrer Rechte begeben; auf sie kommen große Probleme zu.Hier wird der Petitionsausschuß eine ganz wichtige Rolle haben. Der Petitionsausschuß wird der erste Adressat für brennende Probleme aus ganz wichtigen Bereichen, auch in Eigentums- und Entschädigungsfragen, sein. Die Petitionen, die wir schon jetzt bekommen haben, lassen streckenweise Böses ahnen. Darunter sind Petitionen, in denen bundesdeutsche Bürgerinnen und Bürger in einer Art und Weise, die ich bestürzend finde, ihr damals bei Flucht und Vertreibung zurückgelassenes oder durch Enteignung verlorenes Eigentum zurückverlangen. Das finde ich unerträglich.
Der Petitionsausschuß tut gut daran, wenn er bei diesen Petitionen seine Befugnisse wahrnimmt, diese Petitionen — auch über Anhörungen — aufbereitet und den Kolleginnen und Kollegen zur Kenntnis gibt, damit das, was uns im Ausschuß zuerst und ganz direkt angetragen wird, nicht erst im Nachklappen — vielleicht zehn oder fünfzehn Jahre später — geheilt werden kann.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Haungs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei aller Einigkeit, die wir hier über die Beratungen des Petitionsausschusses haben, muß man doch in den Punkten widersprechen, die nicht den Tatsachen entsprechen. Frau Kollegin Nickels, wir haben über die Verfahrensgrundsätze ja sehr lange und sehr ausgiebig beraten. Wir haben in diesem Jahr auch nach diesen Verfahrensgrundsätzen gearbeitet.
— Aber wir werden daran nichts ändern.
Wir haben uns in diesen Verfahrensgrundsätzen zu den Minderheitsrechten, aber auch zu den parlamentarisch gerechtfertigten Mehrheitsentscheidungen bekannt. Ich verstehe überhaupt nicht, warum jetzt hier wieder in so einer Art Auflistung das, was zu den nicht gelungenen Dingen gehört, aufgeführt wird. Wir waren übereinstimmend der Meinung, daß wir einen Kompromiß, mit dem wir arbeiten können und mit dem wir auch als Parlament und als Ausschuß gegen-
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Haungsüber der Bundesregierung auftreten können, gefunden haben, wobei wir ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Minderheitsrechten und Mehrheitsrechten haben. Es soll hier in diesem kleinen Kreis der Eingeweihten sicherlich nicht der Eindruck entstehen, als ob da noch irgend etwas nachzuarbeiten oder nachzubessern wäre. Wir haben wirklich sehr viel Zeit investiert. Wir haben die notwendigen Instrumente, um unserer Arbeit nachzugehen.Wir haben früher bedauert, daß die Bundesregierung nicht vertreten war. Natürlich wäre es besser, wenn noch mehr Regierungsvertreter da wären. Aber ich stelle fest: Es sind ein paar hundert Prozent Verbesserung erreicht. Ich darf dies begrüßen. Vor allem — gestatten Sie mir das — darf ich begrüßen, daß unser ehemaliger Petitionskollege Jagoda bei uns ist, der unsere Arbeit lange Jahre begleitet hat. Ich hoffe, daß gerade die Fälle aus seinem Ministerium so behandelt werden, daß wir nicht sagen müssen: Die Voten werden mißachtet.Lassen Sie mich zu diesem letzten Satz folgendes sagen: Natürlich müssen das Parlament und der Petitionsausschuß darauf achten, daß das, was die Bürger an uns herangetragen und was wir mehrheitlich oder einstimmig beschlossen haben, durchgesetzt wird. Aber wir beschließen wesentlich öfter als früher: zur Berücksichtigung, zur Erwägung. Wir gehen also ein kalkuliertes Risiko ein und müssen dann wohl auch anerkennen, daß es Fälle gibt, wo wir sagen: „Na ja, wir hätten das gerne, aber so ganz genau wissen wir auch nicht, wie wir es machen" ,
daß wir also nicht immer alles durchbekommen.Ich möchte beide Dinge betonen: Wir werden auch in Zukunft die Interessen der Bürger mit noch mehr Erwägungs- und Berücksichtigungsbeschlüssen vertreten; aber wir müssen als faire Partner dann auch ab und zu einmal anerkennen, daß wir nicht auf der Siegerseite stehen. Dies bitte ich bei einem gleichgewichtigen Bild doch zu beachten.Trotz des Anstiegs der Zahl der Eingaben, der für uns natürlich mit Mehrarbeit verbunden ist, freuen wir uns, daß sich die Bürger an uns wenden. Wir sind tatsächlich oftmals die letzte Anlaufstelle, um individuelle Probleme zu lösen. Wir sind auch, wie Kollege von der Wiesche und andere sagten, ein sehr gutes Stimmungsbarometer. Ich persönlich brauche nicht an sehr viele Stammtische zu gehen. Ich bekomme über den Petitionsausschuß besser als über jedes Meinungsumfrageinstitut die Meinungen von Tausenden von Bürgern. Dies, so denke ich, ist sowohl für einen Abgeordneten der Koalition als auch für einen Abgeordneten der Opposition sehr wichtig; denn es sind tatsächlich die Dinge, die unsere Bürger bewegen. Es ist die Stimmungslage der Bevölkerung. Es spiegeln sich die aktuellen politischen Fragen wider, z. B. in diesem Jahr die Aussiedler- und die Übersiedlerfrage, wozu mein Kollege Jung nachher ausführlich sprechen wird.Lassen Sie mich auf zwei Dinge eingehen, die wir hier als Beispiele für unsere Arbeit darlegen können. Vor dem Hintergrund der grundlegend geänderten sicherheitspolitischen Lage in Europa wollen zahlreiche Petenten nicht mehr einsehen, daß die Bundeswehr — über Tiefflüge wurde gesprochen — und die alliierten Stationierungsstreitkräfte ihre Infrastrukturplanung, die überwiegend auf dem Konzept der Vorneverteidigung basiert, weiterverfolgen. Sie fordern deshalb, diese Vorhaben wegen ihrer schädlichen Auswirkung auf die Umwelt sowie als Zeichen des guten Willens für weitere Entspannung in Europa entweder ganz aufzugeben oder ruhen zu lassen. Der Bundesminister der Verteidigung hat hier überall Überprüfung zugesagt. Die Planung ruht; Baumaßnahmen werden nicht mehr weiterverfolgt oder auf mehrere Jahre hinausgeschoben.Eine weitere Zunahme — das ist das letzte Beispiel— gab es erneut im Bereich des Bundesverkehrsministeriums. Hier geht es um Lärmschutzfragen — auch eine aktuelle Problemlage in der Bevölkerung — oder um Auswirkungen des Straßengüterverkehrs hinsichtlich der Öffnung des europäischen Binnenmarktes, weil wir das Problem haben, daß all die vielen Vorschriften eben nicht in die Realität umgesetzt werden.Als letztes Beispiel eine Petition, der wir nicht gerecht werden konnten — aber das war auch überhaupt nicht notwendig — : Es gab eine Petition, die unsere heutige Nationalhymne als frauendiskriminierend und als unserem heutigen Demokratieverständnis nicht mehr entsprechend ansah. Nach Ansicht des Petitionsausschusses, ebenfalls mit Mehrheit so beschlossen, betont gerade das Deutschlandlied die Kontinuität demokratischer Tradition in Deutschland, einer Tradition, der heute wieder besondere Bedeutung zukommt.
Meine Damen und Herren, jeder der beiden folgenden Kollegen von der CDU/ CSU hat noch vier Minuten Redezeit.
Herr Abgeordneter Jung, Sie haben das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden". Dieser Grundsatz ist in Art. 17 unseres Grundgesetzes verankert und damit auch die Grundlage für unsere Arbeit. Der Petitionsausschuß hat die Aufgabe, diesen Bitten und Beschwerden gewissenhaft nachzugehen und, wenn möglich, zu helfen, und er tut dies sehr intensiv und auch quer durch die Fraktionen. Es ist vorhin schon darauf hingewiesen worden, daß gerade die Sitzung heute morgen dafür ein beredtes Beispiel ist.Wir haben 1989 24 Sitzungen gehabt und haben daneben auch unsere Aktivitäten im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit verstärkt. Ich weise auf die Messen hin, wo der Petitionsausschuß und das Referat vertreten waren. Ich habe selbst in diesem Jahr in Elz in meinem Wahlkreis bei einer solchen Verbraucherausstellung erleben können, wie wichtig der direkte Kon-
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Jung
takt zu den Bürgern ist und daß wir ihn verstärken sollten.Im vergangenen Berichtsjahr wurden über 13 600 Eingaben an den Ausschuß gerichtet, von denen 9 483 den Bund betrafen; das ist ein leichter Anstieg. Neben den zumeist ernsten Eingaben erreichten den Ausschuß auch einige Kuriositäten. Eine süddeutsche Petentin trug den inständigen Wunsch nach einer Privataudienz bei der Queen im Buckingham-Palast an den Ausschuß heran, und ein 82jähriger Rentner sendet dem Petitionsausschuß seit einigen Jahren Gedichte, die er dem überaus teuren Vater Staat widmet.Aber diese geschilderten Fälle stellen die Ausnahme dar. Die meisten Eingaben, nämlich knapp 40 %, betrafen wiederum den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Von besonderem Interesse sind sicherlich die Bereiche Auswärtiges und Innerdeutsches, da sich hier Entwicklungen widerspiegeln. Beim Auswärtigen Amt gab es 342 Eingaben. Zirka ein Viertel der Eingaben enthielt Probleme bei Aussiedlung und Familienzusammenführung deutscher Volkszugehöriger aus dem osteuropäischen Raum. Außerdem gab es hier Anliegen deutscher Touristen im Ausland, die über mangelnde Betreuung durch die Botschaft klagten, und es gab Petitionen von Ausländern, die die Nichterteilung von Einreisevisa durch deutsche Auslandsvertretungen rügten.Besonders erfreulich und Spiegelbild der politischen Lage ist die Entwicklung der Eingaben bei den Familienzusammenführungen. Sie nahmen an Zahl deutlich ab. Die politische Entwicklung und die hohe Zahl genehmigter Ausreisen sind hierfür die Ursachen.Erheblich zugenommen hat leider die Zahl der Zuschriften, in denen gegen die Aussiedler polemisiert wird. Diese Petenten werden auf den verfassungsrechtlich verankerten Anspruch deutscher Volkszugehöriger auf Einreise und Aufnahme hingewiesen. Der Petitionsausschuß ist der Meinung, daß dieser Personenkreis neben dem rechtlichen auf Grund der oft erlittenen Schikanen und Nöte auch einen moralischen Anspruch hat.Eine besonders positive Entwicklung gab es auch im Bereich der innerdeutschen Beziehungen. Die Zuschriften mit Übersiedlungsanliegen nahmen an Zahl ab und konnten durch die Entwicklung, die wir alle kennen, jetzt praktisch auf Null reduziert werden. Dagegen steigt die Zahl der Zuschriften von Bundesbürgern, die sich gegen die weitere Aufnahme von Übersiedlern wenden. Auch hier gibt es die entsprechende Rückäußerung.Zugenommen hat auch die Zahl der Zuschriften zivilrechtlicher Art. Es machen Bundesbürger — darauf wurde schon hingewiesen — , die früher ihren Wohnsitz in der DDR hatten, Ansprüche auf Wiedererlangung ihres Grundeigentums geltend. Hier werden wir in den nächsten Monaten sicherlich noch eine erhebliche weitere Zunahme haben.Ich möchte abschließend sagen, daß der Petitionsausschuß mit sehr vielfältigen aktuellen Problemen zu tun hatte und daß er über die Grenzen der Parteien hinweg bereit war, zu helfen und zur Abstellung bestimmter Zustände beizutragen. Dieser Aufgabe wird er sich auch in Zukunft widmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Grünewald.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Kummerkasten der Nation sehr gefragt" , das war das Schlagwort, unter dem eine Bonner Tageszeitung über unsere Diskussion zum letzten Jahresbericht informierte. Nun, die Briefbox dieses Kummerkastens war im heute anstehenden Berichtszeitraum noch etwas mehr gefüllt als im Jahr zuvor.Wohlgemerkt, wir beklagen das trotz aller Arbeitsmehrbelastung nicht. Denn es ist gut zu sehen und dankbar anzuerkennen, daß das Petitionsrecht und der Petitionsausschuß im Bewußtsein unserer Bürger fest verwurzelt sind und daß inzwischen offensichtlich wie ganz selbstverständlich von diesem Recht breit Gebrauch gemacht wird.Der Bereich des Bundesministers für Finanzen bildete mit über 12 Prozent der eingegangenen Petitionen auch 1989 wieder einen Schwerpunkt unserer Arbeit. Die Petitionen aus dem Bereich des BMF bezogen sich vor allem auf das Steuerrecht, die Zollverwaltung, die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes, das Kriegsfolgenrecht sowie das Versicherungs- und Kreditwesen.Lassen Sie mich einige Beispiele aus diesem Geschäftsbereich anführen:Gleich mehrere Petenten hatten die ihrer Ansicht nach unzureichende steuerliche Förderung schadstoffarmer Pkw mit einem Hubraum von unter 1 400 ccm beanstandet. Diese Petitionen wurden der Bundesregierung zur Berücksichtigung überwiesen. Im Rahmen der großen Steuerreform haben wir daraus die Konsequenz gezogen und auch die steuerlichen Erleichterungen für die Autos unter 1 400 ccm, wenn sie den allgemeinen Bestimmungen über die Abgasminderung entsprachen, zugelassen. Das war sowohl im Interesse der Umwelt als auch unter dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsgrundsatzes ganz sicher eine notwendige Korrektur.Ein Petent forderte eine einkommensteuerrechtliche Berücksichtigung seines Sohnes über die Vollendung des 27. Lebensjahres hinaus, weil sich dessen Berufsausbildung durch Ableistung des Grundwehrdienstes verzögert hatte. Dem Petenten konnten wir im Einzelfall, weil sein Sohn aus der Ausbildung herausgewachsen war, zwar nicht helfen, aber wir haben die Konsequenz ebenfalls in der Steuerreform gezogen und für die Zukunft zugelassen, daß ein Ausbildungsfreibetrag bis zum Alter von 29 Jahren gewährt werden kann.Mehr als 200 Petenten baten um Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche gegenüber privaten Versicherungsunternehmen oder um Schlichtung bei Streitigkeiten mit Kreditinstituten.Insbesondere auf Grund unzureichender Beratung durch Kreditinstitute trafen viele Kreditnehmer sehr
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Dr. Grünewaldweitreichende Vermögensdispositionen in zwar juristisch einwandfreien Verträgen, ohne aber auf die daraus folgenden Belastungen und Risiken ausreichend hingewiesen worden zu sein. Der Ausschuß hat zwar sehr deutlich die Beratungsmängel der Kreditinstitute moniert; leider zeigen sich hier aber auch die Grenzen seiner Möglichkeiten. Denn in der Regel hat der Ausschuß in solchen Fällen keine direkte Einflußmöglichkeit, weil eine Überprüfung durch das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen in der Mehrzahl der Petitionen wegen fehlender Voraussetzungen ausschied.Zum Schluß lassen Sie mich noch kurz auf den Bereich der Zusatzversorgung des Bundes und der Länder zu sprechen kommen, weil uns gerade aus diesem Bereich eine Vielzahl von Petitionen erreicht hat.Die Zusatzrente ist der flexible Bestandteil des Gesamtversorgungssystems. Dem Versorgungsberechtigten steht nach dem System der Gesamtversorgung als Zusatzrente jedoch nur der Betrag zu, um den eine vergleichbare Beamtenpension die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung übersteigt. Da sich zum 1. Juli zwar die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhöhte, die Gesamtversorgung aber unverändert blieb, war die Zusatzrente um den Betrag der Rentenerhöhung zu kürzen. Die Altersversorgung insgesamt hat sich dadurch also nicht verschlechtert — aber zum Unverständnis der Petenten auch nicht erhöht.Wir haben versucht, das in unseren Begründungen den Petenten klarzumachen. Ich bin guter Hoffnung, daß diese Begründungen die Petenten erreicht haben. Denn unsere Bürger sind ganz überwiegend einsichtig und fair. Darin liegt ja auch der Nutzen, daß wir die Petenten nicht enttäuscht haben; denn die fachlichen und sachlichen Stellungnahmen haben sie in aller Regel mit Verständnis aufgenommen. Gerade solches Verständnis zu finden und dadurch wieder verstärkt Vertrauen in das System der parlamentarischen Demokratie zu gewinnen, das ist eine der Hauptaufgaben des Petitionsausschusses.
Damit ist diese Debatte beendet.
Meine Damen und Herren, wir kommen zum nächsten Tagesordnungspunkt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1987 — Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes —
zu der Unterrichtung des Bundesrechnungshofes
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 1989 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung
— Drucksachen 11/3750, 11/5383, 11/7112 —
Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Vennegerts
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Präsidenten des Bundesrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 1988 — Einzelplan 20 —— Drucksachen 11/4599, 11/7111 —
Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Dr. Wegner
Im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vereinbart worden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe der Frau Abgeordneten Vennegerts — gleichzeitig als Berichterstatterin — das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Rechnungsprüfungsausschuß und der Haushaltsausschuß haben auf Vorschlag des Rechnungshofes die Entlastung für das Haushaltsjahr 1987 auf Grund der Bundeshaushaltsrechnung, einschließlich der Bundesvermögensrechnung, einstimmig erteilt. Die im Haushaltsplan veranschlagte Nettokreditaufnahme wurde zwar um ca. 5 Milliarden DM überschritten, lag aber unter dem Investitionssoll — im Gegensatz zum Haushalt 1988.Der neue Vorsitzende des Rechnungsprüfungsausschusses, Karl Deres, hat die Geschäfte seines Vorgängers, Bernhard Friedmann, im fliegenden Wechsel übernommen. Für seine faire Verhandlungsführung möchte ich ihm danken.
Dem Bundesrechnungshof, der zwischen Parlament und Regierung angesiedelt ist, kommt innerhalb der Finanzkontrolle eine zentrale Bedeutung zu, wobei seine Unabhängigkeit die Voraussetzung für eine glaubwürdige Finanzkontrolle ist. Die Prüfung muß sich auf die gesamte Haushalts- und Wirtschaftsführung der Bundesverwaltung erstrecken. Es darf keine prüffreien Tabuzonen, Reptilienfonds und dergleichen geben. Dort, wo noch administrative Schutzzäune existieren, müssen diese abgebaut werden.
Der Bundesrechnungshof schlägt die Entlastung der Bundesregierung vor. In dieser Rolle ist der Bundesrechnungshof wohlgelitten — gerade auch von den Regierungsfraktionen. Heute wird von dieser Seite sicher wieder das große Loblied auf den Rechnungshof angestimmt. Tatsache ist jedoch, daß einerseits die Prüfungsaufträge für den Bundesrechnungshof von der Menge und vom Umfang her zunehmen, daß die Koalitionsparteien aber andererseits gleichzeitig die Einrichtung einer Abteilung für den Bundesrechnungshof in Bonn abgelehnt haben. Das paßt nicht zusammen, meine Lieben!Für eine effektive Finanzkontrolle halte ich die Beratungstätigkeit des Bundesrechnungshofs für unerläßlich. Durch die Beratungsmöglichkeit könnte gewährleistet werden, daß der unparteiische Sachverstand des Bundesrechnungshofs frühzeitig in den par-
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Frau Vennegertslamentarischen Beratungsprozeß einfließt. Ich betone das Wörtchen „könnte " ; denn was mit den Ergebnissen und Vorschlägen des Bundesrechnungshofs letztlich geschieht, steht auf einem anderen — oftmals wenig rühmlichen — Blatt.So hat der Bundesrechnungshof anläßlich der Beschaffung des Jäger 90 eine ausführliche Stellungnahme über die technischen und finanziellen Risiken erstellt, ohne daß dies bei den Koalitionsparteien im Haushaltsausschuß zu einer Änderung ihrer Beschaffungsentscheidung geführt hätte.
Dieser Vorgang ist beileibe kein Einzelfall und wirft ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis von Bundesrechnungshof und parlamentarischen Kontrollgremien.Ein namhafter Staatsrechtler der Bundesrepublik hat versucht, die Ursachen für das Kontrolldefizit der staatlichen Finanzkontrolle ausfindig zu machen. Das Ergebnis, zu dem er kommt, ist für die Mitglieder des Parlaments im allgemeinen und die Mitglieder des Rechnungsprüfungsausschusses im besonderen wenig schmeichelhaft. Da der Bundesrechnungshof keine eigenen politischen und administrativen Entscheidungsbefugnisse besitze, sei er darauf angewiesen, daß seine Beanstandungen von den Parlamentariern aufgegriffen werden. Es zeige sich jedoch, so sagt er, daß das Parlament weitgehend finanzkontrollunwillig sei und von den durch den Bundesrechnungshof eröffneten Möglichkeiten nicht in hinreichendem Maße Gebrauch mache. Das ist ein Urteil, das in seiner Zuspitzung vielleicht übertrieben ist, aber im Kern, denke ich, ist es richtig.Mangelhafte Finanzkontrolle ist also nicht das Ergebnis eines unfähigen oder unwilligen Rechnungshofes, sondern ist durch die freiwillige Selbstentmachtung der parlamentarischen Gremien verursacht.
Es ist gerade zwei Tage her, da ging es im Haushaltsausschuß um die Errichtung der „Deutschen Stiftung Umwelt" in Salzgitter. Die GRÜNEN haben zusammen mit der SPD beantragt, in dem Gesetzentwurf für den Bundesrechnungshof ein Prüfrecht zu verankern, das sich auch auf die Zuwendungsempfänger von Stiftungsmitteln erstreckt. Der Antrag ist von der Ausschußmehrheit abgelehnt worden.Dies ist nur ein kleines Beispiel, wie parlamentarische Kontrollrechte mittels Mehrheitsentscheid ausgehebelt werden. Wen wollen die Regierungsparteien vor dieser Kontrolle schützen? Ich weiß es nicht. Ich halte es für einen großen Fehler.
— Nein, das war nicht richtig, Herr Deres.Für noch gravierender halte ich einen anderen Vorgang. Jährlich vergibt die Bundesverwaltung Aufträge in Milliardenhöhe ohne Wettbewerb.
— Kollege Weng scheint nicht zu bremsen zu sein.
Geben Sie ihm die Möglichkeit dazu?
Wenn es nicht angerechnet wird, ja.
Frau Collega, ich bin schon zu bremsen. Aber wenn ich Dinge höre, die ich für unsinnig halte, dann versuche ich, sie durch eine Zwischenfrage zu relativieren. Ich bin Ihnen verbunden, daß Sie mir die Möglichkeit dazu geben.
Das schaffen Sie nicht.
Sind Sie mit mir der Auffassung, Frau Kollegin, daß Gelder, die von einer Stiftung an Dritte gegeben werden im Sinne eines Stiftungszwecks, keine Zuwendungen aus öffentlichen Haushalten sind und deshalb diejenigen, die diese Gelder bekommen, auch keine Zuwendungsempfänger sind?
Sie haben eine merkwürdige Rechtsauffassung.
Die Gelder für die politischen Stiftungen sind genauso Steuergelder, wie dieses hier Steuergelder sind, öffentliche Finanzmittel. Da werden sehr wohl die Zuwendungsempfänger überprüft. Warum soll es bei der Salzgitter-Stiftung einen Unterschied geben? Das ist rechtlich überhaupt nicht begründet. Der Bundesrechnungshof irrt hier nicht, sondern er hat recht.
— Die mittelständische Wirtschaft wird geschützt. Deshalb mußte diese Frage von der FDP kommen, denn dafür steht sie ja gerade.
Für noch gravierender halte ich den Vorgang, daß die Bundesverwaltung Aufträge in Milliardenhöhe ohne Wettbewerb vergibt. 1987 wurden Aufträge des Verteidigungsministeriums mit einem Volumen von 6,7 Milliarden DM ohne Ausschreibung, also ohne Wettbewerb, zu Selbstkostenpreisen an die Rüstungsindustrie vergeben. Die Auftragsvergabe zu Selbstkostenpreisen, meine Damen und Herren, hat für die Auftragnehmer den Vorzug, daß die Kosten erstattet werden und auf die Kosten ein vereinbarter Gewinnaufschlag erfolgt. Je höher also die Kosten, desto höher der Gewinn. Die spannende Frage lautet: Wie kommen die Kosten zustande?Um den Grundsätzen einer sparsamen und wirtschaftlichen Verwendung der Haushaltsmittel gerade auch im Rüstungsbereich verstärkt Geltung zu verschaffen, hat der Rechnungsprüfungsausschuß fast auf den Tag genau vor zwei Jahren die Bundesregierung einstimmig aufgefordert, erstens darauf hinzuwirken, daß der Bundesrechnungshof in den Fällen von Selbstkostenpreisen bei Auftragnehmern Erhebungen vornehmen kann; zweitens die dafür erfor-
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Frau Vennegertsderlichen Abstimmungen mit dem Bundesrechnungshof zu treffen, und zwar zunächst für Aufträge, für die das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung selbst ein vertragliches Preisprüfrecht hat; drittens über den Erfolg dieser Bemühungen zur Vertragsgestaltung dem Haushaltsausschuß zu berichten.Die Initiative ging seinerzeit von dem sehr geschätzten Kollegen Friedmann aus, dessen Ausscheiden aus dem Parlament nicht nur ich bedauere, allein aus diesem Grund. Was ist aus dieser Initiative geworden?
Der Beschluß des Rechnungsprüfungsausschusses war noch nicht recht gefaßt, da erfolgten aus dem Bundeswirtschaftsministerium die ersten Störmanöver. Kein Argument war abwegig genug, um nicht doch noch die Prüfung der Selbstkosten durch den Bundesrechnungshof zu torpedieren, z. B. das Argument „Schutz der Unternehmen".Unter Berufung auf die Bundeshaushaltsordnung, die Prüfungen des Bundesrechnungshofs nur in begrenzten Fällen außerhalb der Bundesverwaltung zuläßt, lehnte das Bundeswirtschaftsministerium ein Prüfrecht für den Bundesrechnungshof ab. Selbst wenn man sich dieser Interpretation anschließt, wäre doch die Konsequenz, umgehend für eine entsprechende Änderung der Bundeshaushaltsordnung zu sorgen. Auf eine solche Initiative seitens des Bundeswirtschaftsministeriums warten wir heute noch. Im übrigen hätten die Bundesregierung und Sie alle die Möglichkeit, sich der Initiative anzuschließen, denn die SPD hat einen entsprechenden Antrag eingereicht, die Bundeshaushaltsordnung dahin gehend zu ändern.Was ist passiert? Auf der Sitzung des Haushaltsausschusses am 30. Mai — ein schwarzer Tag; Kollege Friedmann wird in Luxemburg für Sie sicherlich vor Scham in den Boden versunken sein —
haben die Koalitionsfraktionen den Gesetzentwurf der SPD abgelehnt. Daran erweist sich, mit welchen gezinkten Karten hier gespielt worden ist. Erst wird gejammert, eine gesetzliche Grundlage für die erweiterten Prüfrechte des Bundesrechnungshofs fehle; dann wird per Mehrheitsbeschluß verhindert, daß die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden.Um die Absurdität komplett zu machen, lieber Kollege Zywietz, mahnt die CDU/CSU-Fraktion die Bundesregierung, sich zu überlegen, wie die Preisprüfung bei Firmen, die zu Selbstkostenpreisen anbieten, demnächst geregelt werden solle. In der nächsten Legislaturperiode soll eine Grundlage geschaffen werden. Ich frage mich: Warum nicht jetzt? Was ist an der Vorlage der SPD falsch gewesen? Außerdem hätte man eine Gesetzesänderung gar nicht gebraucht, wie selbst Juristen sagen; das wäre durch eine entsprechende Klausel in den Beschaffungsverträgen zu machen gewesen.Dieses Vorgehen kann man nicht als lächerlich darstellen; es ist für mich schon schwerwiegend. Damit setzt sich das BMWi dem Vorwurf aus, mit der Industrie unter einer Decke zu stecken. Dazu paßt ein weiteres Beispiel. Bei der Prüfung des BMWi stieß der Rechnungshof darauf, daß das Wirtschaftsministerium gegenüber dem Rüstungsunternehmen MBB unzulässigerweise Gemeinkostenverrechnungen akzeptierte, durch die dem Bund allein für 1987 und 1988 ein Schaden in Millionenhöhe entstanden ist. Nachdem das Wirtschaftsministerium den Sachverhalt in keiner Weise bestritten hatte, behauptete der Vertreter des Bundeswirtschaftsministeriums im Rechnungsprüfungsausschuß plötzlich: Auf Grund von Zahlen, die das Unternehmen nachträglich präsentiert hatte — nämlich einen Tag vor der Sitzung —, sei die Verrechnung der Gemeinkosten haushaltsrechtlich nicht zu beanstanden. Man kann nur vermuten, daß die Zahlen getürkt worden sind, daß also das Ergebnis von MBB im Verein mit dem Wirtschaftsministerium nachträglich zurechtfrisiert worden ist. Ich denke, das ist ein klares Beispiel für den Filz wirtschaftlicher und politischer Interessen, was Kollege Riedl aber immer vehement bestreitet. Ich hoffe, daß der Rechnungshof — wir werden diesen Vorgang weiter verfolgen — die Zahlen entsprechend überprüft. Ich halte das, was da gelaufen ist, für eine sehr merkwürdige Geschichte.Die parlamentarische Kontrollpraxis zeigt doch die Änderung unseres Demokratieverständnisses, gerade auf Seiten der Regierungskoalition. Denn es fehlt oft der politische Wille, die Vorgaben des Rechnungshofes tatsächlich umzusetzen. Der eigentliche Gegenspieler und Kontrolleur der Regierung ist die Opposition. Früher war es einmal das ganze Parlament, und das sollte es auch wieder werden.Zum Schluß möchte ich ein Beispiel bringen, das vielleicht ein bißchen lustig klingt und mich fast schon mit Schadenfreude erfüllt. Das war die Bemerkung des Rechnungshofs über die Bundesbank, auch über das sehr geschätzte Gremium des Zentralbankrats. Da kam z. B. heraus, daß dort keine Kostenrechnung vorliegt, wie sie für jedes Unternehmen üblich ist. Dann werden dort Privilegien für die Herren des Direktoriums geschaffen. Sie fahren besonders große Dienstwagen. Diese werden auch für private Urlaubsfahrten eingesetzt. Auch gab es kleine Präsente: 13 000 DM. Eine Feier wurde für 180 000 DM ausgerichtet.
Das Rahmenprogramm bestand aus Empfängen, Besichtigungen und einem Opernbesuch. Teilgenommen haben Mitglieder, Witwen ehemaliger Mitglieder, ehemalige Mitglieder und und und. Ich denke, daß hier wirklich etwas aufgedeckt worden ist. Ich freue mich schon, wenn das im Rechnungsprüfungsausschuß weiter verhandelt wird.Ein anderer Punkt, den ich als einen absoluten Hammer bezeichnen möchte — er wird auch morgen bei den Beratungen eine Rolle spielen — , ist, daß über den Fonds „Deutsche Einheit" lediglich der Finanzminister verfügen kann. Die an die DDR vergebenen Milliardensummen werden jeglicher parlamentari-
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Frau Vennegertsscher Kontrolle entzogen. Hierzu wäre die Meinung des Rechnungshofes von größter Wichtigkeit.
Interessant ist auch, was mit den für die DDR insgesamt vorgesehenen finanziellen Mitteln, z. B. über die Nachtragshaushalte, passiert. Wieviel von den Beträgen fließt tatsächlich in die DDR, und wieviel versikkert in den Taschen unserer Unternehmer? Eine solche Prüfung sollte von allen Fraktionen unterstützt werden.Abschließend möchte ich vor allem die Kollegen der Regierungskoalition ermuntern, sich wirklich als Parlamentarier zu fühlen, besonders im Rechnungsprüfungsausschuß und im Haushaltsausschuß, da dies der Stärkung der parlamentarischen Gremien und damit unserer Demokratie dient. Das heißt natürlich, Rückgrat zu haben, auch einmal gegen die Regierung vorzugehen, wenn es sachlich richtig ist. Dazu möchte ich Sie ermuntern.
Das Wort hat der Abgeordnete Bohlsen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal will ich der Frau Kollegin Vennegerts herzlichen Dank sagen, daß sie zum Ausdruck gebracht hat, daß wir in diesem Organ Rechnungsprüfungsausschuß doch quer durch die Fraktionen eine Atmosphäre haben, die kritisch-sachbezogen, aber sicherlich immer darauf ausgerichtet ist, möglichst sachlich zu debattieren. Das kommt durch Ihren Dank an den amtierenden Vorsitzenden zum Ausdruck. Ich bin Ihnen dankbar, daß das aus Ihrem Munde geschehen ist. Ich binde hier auch die Tätigkeit des Kollegen Friedmann, der ausgeschieden ist, mit ein. Ihr habt wahrlich gut gewirkt. Herzlichen Dank dafür.
Heute, meine Damen und Herren, haben wir uns schwerpunktmäßig mit der Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1987 zu befassen. Wieder einmal hat der Bundesrechnungshof mit seinen Bemerkungen zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes im Jahre 1987 die entscheidenden Grundlagen zur Kontrolltätigkeit des Parlaments erstellt. Dafür möchte ich dem Präsidenten des Bundesrechnungshofes und seinen Mitarbeitern danken. Daß die Arbeit im Rechnungsprüfungsausschuß in guter und konstruktiver Atmosphäre verlief, verdient ebenso hervorgehoben zu werden wie die engagierte Zuarbeit aus den Ministerien, insbesondere aus dem Bundesfinanzministerium. Hierfür möchte ich gleichfalls an die Mitarbeiter des Sekretariats Dank sagen.Auf Grund der Vorarbeiten des Rechnungsprüfungsausschusses hat sich der Haushaltsausschuß einvernehmlich für eine Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1987 ausgesprochen.Dabei werden die Bundesregierung und die zuständigen Bundesminister ersucht, den in der Anlage beigefügten Feststellungen und Bemerkungen des Haushaltsausschusses Rechnung zu tragen, den haushaltsrechtlichen Vorschriften zu entsprechen, Maßnahmen zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung in die Wege zu leiten sowie Beanstandungen der Handlungsweise einzelner Bediensteter abzuhelfen.Allgemein kann zu Haushalts- und Vermögensrechnung des Bundes für das Haushaltsjahr 1987 festgehalten werden, daß Einnahmen und Ausgaben ordnungsgemäß belegt waren und Abweichungen zwischen den Beträgen in der Bundeshaushalts- und -vermögensrechnung sowie in den Büchern nicht festgestellt wurden.Die Nettokreditaufnahme lag ebenso wie in den Vorjahren beträchtlich unterhalb des InvestitionsSolls. Wie im folgenden bei den Tagesordnungspunkten c und d festzustellen sein wird, wird dem Erfordernis des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 18. April 1989 zur gesetzlichen Bestimmung der Schuldenobergrenze nach Art. 115 Abs. 1 des Grundgesetzes durch Änderung der Bundeshaushaltsordnung sowie des Haushaltsgrundsätzegesetzes von der Bundesregierung Rechnung getragen.Gleichsam, meine Damen und Herren, in Form einer Mängelliste hat der Bundesrechnungshof die Schwerpunkte seiner Prüfungstätigkeit bei den Einzelplänen des Bundeshaushaltsplans, des Sondervermögens des Bundes, insbesondere der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Bundespost, sowie bei bundesunmittelbaren und sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts und der Betätigung des Bundes bei privatrechtlichen Unternehmen unter 67 Nummern zusammengefaßt.Schauen wir hinein: Die Bandbreite der Kritik reicht von Verstößen gegen das Prinzip der wirtschaftlichen und sparsamen Haushaltsführung über die mangelnde Erfolgskontrolle finanzwirksamer Maßnahmen bei obersten Bundesbehörden bis hin zu fehlenden Rahmen- und Sicherheitskonzepten beim Einsatz der Informationstechnik in der Bundesverwaltung. Bei den Geldsummen, um die es sich dabei handelt, reicht das Spektrum tatsächlich von einem Pfennig, wegen dessen die Verwaltung in einem Versorgungsausgleichsverfahren in die nächsthöhere Rechtsinstanz ging, um Beschwerde einzulegen,
bis hin zu Einnahmeverlusten in Milliardenhöhe bei fehlerhaften Schätzungsverfahren zur Umsatzsteuerermittlung aus dem Betrieb von Spielgeräten mit Geldgewinnmöglichkeiten.Positiv, meine Damen und Herren, ist festzustellen, daß einem Großteil der Bundesrechnungshofsbemerkungen bereits bei den Haushaltsausschußberatungen verbindlich abgeholfen werden konnte.Wie detailliert und mit geradezu detektivischer Akribie der Bundesrechnungshof seinem Prüfungsauftrag nachkommt, mag ein Beispiel aus meinem Berichterstatterb ereich im Rechnungsprüfungsausschuß illustrieren: So wurde zu den Beleuchtungseinrichtungen der Deutschen Bundespost festgestellt, daß die installierte Beleuchtungsstärke weit über der Vorgabe
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Bohlsender Nennbeleuchtungsstärke lag. Durch optimierte Planung, Errichtung und Überwachung der Beleuchtungseinrichtungen sowie — man höre! — insbesondere durch sachgerechte Reinigung könnten längerfristig Betriebskosten in zweistelliger Millionenhöhe eingespart werden.
Der Bundesminister sagte bei diesem Vorgang — ich möchte diesen Vorgang spaßeshalber als den „Glühbirnenzählakt" bezeichnen — umgehende Abhilfe zu.Man sieht, meine Damen und Herren, daß auch die scheinbar nichtigen und kleinen Dinge wie die Reinigung von Glühbirnen unseren Bundeshaushalt in einem deutlich helleren Licht erstrahlen lassen.
Greife ich, meine Damen und Herren, weitere Anmerkungen des Bundesrechnungshofes zur Jahresrechnung 1987 des Bundes heraus, so halte ich es für bemerkenswert, daß die Kritik am Personalbemessungsverfahren in der Zollverwaltung dazu geführt hat, daß im Rechnungsprüfungs- und Haushaltsausschuß die Konsequenz gezogen wurde, ein Personalkonzept anzufordern, das Schwerpunktverschiebungen insbesondere zur Drogenbekämpfung beinhaltet. Auch dies ist ein wichtiges Moment innerhalb des Ausschußgeschehens.Als hilfreich hat der Bundesverteidigungsminister die Anregung des Bundesrechnungshofes charakterisiert, Gerätedepots des Heeres von überschüssigem Material zu entlasten und durch Aussonderung, Verwertung und Vermeiden von Lagerkosten Erlöse und Einsparungen in mehrstelliger Millionenhöhe zu erzielen. So sieht man, daß auch Kleinigkeiten etwas bringen.Sowohl, meine Damen und Herren, im Einzelplan des Bundesministers der Verteidigung wie auch in anderen Einzelplänen wie dem des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, bei Sondervermögen der Deutschen Bundesbahn wie auch bei der Bundesanstalt für Arbeit mußten nicht nur Mängel bei der Planung, Durchführung und Erfolgskontrolle von Datenverarbeitungsvorhaben, sondern zum Teil auch erschreckende Mängel bei der Konzeption und Durchführung von Sicherheitsmaßnahmen im Bereich der Informationstechnik gerügt werden. Als Gründe für die Mißstände wurde erkennbar, daß die Entwicklung des Sicherheitsbewußtseins nicht mit der rasanten Entwicklung der Datenverarbeitungstechnik Schritt halten konnte und zum Teil nicht genügend Fachleute zur Verfügung standen. Der Haushaltsausschuß hat darauf hingewiesen, daß bei Nachweis der Notwendigkeit ausreichend Planstellen zur Verfügung gestellt würden. Dafür sei eine Verbesserung der Organisation und Dienstaufsicht unverzüglich erforderlich. Wie in anderen Fällen der Bundesrechnungshofskritik wurden auch dafür Berichterstattungsfristen festgelegt. Die Abstellung dieser Mängel werden wir im Ausschuß unter Hinzuziehung des Bundesbeauftragten für Datenschutz sicherlich unnachgiebig verfolgen.Auf Grund der Beanstandungen des Bundesrechnungshofes hat der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sein Lagerhaltungssystem für Getreide einschließlich der Entgeltregelung geändert. Dieses wird während der dreijährigen Laufzeit der Lagerverträge zu Einsparungen von bis zu 50 Millionen DM führen.Erstmals, meine Damen und Herren, ist auch die Deutsche Bundesbank zum Gegenstand einer Prüfungsbemerkung des Bundesrechnungshofes geworden. Dabei standen selbstverständlich nicht die währungspolitischen Befugnisse der Bundesbank zur Diskussion, sondern Fragen des betrieblichen Ablaufs der Organisation. Hinsichtlich der Einzelbereiche Organisation, Kassenkredite, Führung des eigenen Gironetzes, Repräsentationsaufwand sowie Nutzung von Dienstfahrzeugen wurde ein Bericht angefordert.Neben seiner Prüfungstätigkeit zur Jahresrechnung des Bundes 1987 ist der Präsident des Bundesrechnungshofes zugleich Bundesbeauftragter für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung. In dieser Funktion hat er generell festgestellt, daß die Erfolgskontrolle finanzwirksamer Maßnahmen bei den Obersten Bundesbehörden erhebliche Mängel aufweist. Der Haushaltsausschuß hat das diesbezügliche Gutachten des Präsidenten des Bundesrechnungshofes als wichtige Anregung bezeichnet, auf dessen Grundlage eine Neufassung der Vorläufigen Verwaltungsvorschriften zu § 7 der Bundeshaushaltsordnung zu Beginn der nächsten Legislaturperiode erarbeitet werden soll. Als unverzichtbar hat der Ausschuß deutlich gemacht, daß auch bei den Ländern, soweit diese Bundesmittel verwalten, Erfolgskontrollen durchgeführt werden.Ich will, meine Damen und Herren, meine Ausführungen mit der Bitte beenden, den Bundesrechnungshof mit der Vorlage der Rechnung für das Haushaltsjahr 1988 zu entlasten und gleichfalls die Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1987 auszusprechen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jungmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich beginne damit, womit Sie aufgehört haben, Herr Kollege Bohlsen, nämlich mit der Entlastung der Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1988. Dem können wir zustimmen. Der Rechnungshof ist auf der Tribüne durch seinen Vizepräsidenten vertreten. Aber wenn ich hier zur rechten Seite gucke, dann sehe ich überhaupt keinen Regierungsvertreter. Das ist unerträglich.
— Ja, er hat sich auch abgesetzt. Er hat seine Aktentasche genommen und ist stillschweigend wahrscheinlich im Keller verschwunden. Wenn sich das innerhalb der nächsten zehn Minuten nicht ändert, werde ich die Beschlußfähigkeit zu diesem Tagesordnungspunkt feststellen lassen, Herr Kollege, damit das einmal deutlich wird.
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Jungmann
Wir arbeiten — dafür danke ich Ihnen, Herr Kollege Deres — im Rechnungsprüfungsausschuß immer sehr gut zusammen. Das war auch bei Herrn Kollegen Friedmann der Fall. Die Kollegen aus allen Fraktionen bemühen sich, im Rechnungsprüfungsausschuß für den Steuerzahler Geld einzusparen. Dies gelingt uns aber häufig nur mit großer Mühe. So einsichtig, wie Sie es hier dargestellt haben, ist die Bundesregierung in den meisten Fällen nicht. Sie wehrt sich nämlich mit allen Möglichkeiten, die Anregungen des Rechnungshofes nicht umsetzen zu müssen. Deswegen sollte es unsere Aufgabe sein, dem Rechnungshof den Rücken zu stärken, damit Steuergelder gespart werden.
— Aber nicht in der Form, in der es manchmal notwendig wäre. Herr Kollege Zywietz, Sie wissen, wie lange wir um Beschlüsse feilschen — ich sage das einmal so — , damit der Pfennig, den Sie angesprochen haben, im Rechnungsprüfungsausschuß am Ende noch zur Geltung kommt.Heute ist ja nicht nur die Rechnungslegung und die Rechnungsprüfung für das Haushaltsjahr 1987 durchzuführen, sondern es wird auch — Sie haben es angesprochen, Herr Kollege Bohlsen — über die Frage der Änderung der Bundeshaushaltsordnung und des Haushaltsgrundsätzegesetzes auf Grund des Urteils des Verfassungsgerichts aus dem Jahre 1989 zur Kreditaufnahme des Bundes hier zu debattieren und Beschluß zu fassen sei. Der Bundesrechnungshof hat in seinen Bemerkungen von 1989 eine solche Gesetzesinitiative der Bundesregierung, wie sie jetzt in Angriff genommen wird, nicht nur angemahnt, sondern er hat wiederum besorgt auf die hohen und kontinuierlich anwachsenden Folgekosten der ständig steigenden Verschuldung hingewiesen.Das Statistische Bundesamt hat nunmehr für 1989 erstmals einen geringeren Anstieg der öffentlichen Verschuldung festgestellt. Gerade weil dieser Umstand auch in dieser Debatte eine wichtige Rolle spielt, wäre es gut, wenn ein Vertreter des Finanzministers anwesend wäre; der Finanzminister will der deutschen Bevölkerung ja immer weismachen, daß die Verschuldung zu seiner Amtszeit — seit 1982 — kontinuierlich zurückgeführt worden sei. Das Statistische Bundesamt hat festgestellt, daß der Anstieg der Bundesschuld im Jahre 1989 nur 3,2 % beträgt. Es kann also keine Entwarnung an der Verschuldungsfront gegeben werden. In den Bemerkungen des Bundesrechnungshofes wird das zu Recht ausdrücklich festgestellt.Bringen wir einmal die Entscheidung der Bundesregierung, die unmittelbaren Folgekosten des Staatsvertrages über den Fonds Deutsche Einheit weitestgehend durch die Aufnahme neuer Schulden zu finanzieren, in einen Zusammenhang mit den Tagesordnungspunkten, die wir heute zu beraten haben, so zeigt sich nach meiner Auffassung zweierlei: Zum einen wird die heute einzuführende gesetzliche Darlegungspflicht bei überhöhter Verschuldung, der gerade in der gegenwärtigen konjunkturellen Lage besondere Bedeutung zukommt, durch einen simplenTrick umgangen. Ein neuer Schattenhaushalt außerhalb des Bundeshaushalts macht das möglich.
Ich gebe zu: auch mit der Zustimmung sozialdemokratisch regierter Länder, aber nur aus der Not heraus, daß sich diese sozialdemokratisch regierten Länder durch diesen Trick einer höheren Verschuldung entzogen haben.Zum anderen werden die Befürchtungen des Bundesrechnungshofes bezüglich der ständig wachsenden Folgekosten voll bestätigt. Zwar bleiben die durch den Fonds Deutsche Einheit aufzutürmenden Schulden in Höhe von 95 Milliarden DM außerhalb des Bundeshaushalts und entbinden die Bundesregierung damit von der im Gesetz neu eingeführten Darlegungspflicht, aber der Kapitaldienst für den neuen Fonds ist vom Bundeshaushalt zu übernehmen und zur Hälfte aus diesem zu erwirtschaften. Der Handlungsspielraum im haushalts- und wirtschaftspolitischen Bereich des Bundes — dies ist Gegenstand der Befürchtungen auch des Bundesrechnungshofs — wird weiter erheblich eingeschränkt. Gerade im Zusammenhang mit den Kosten der deutschen Vereinigung bleiben daher Einsparungen und Umschichtungen im Bundeshaushalt im wesentlichen auch aus dem Verteidigungshaushalt aus unserer Sicht unerläßlich.
Deshalb sind es nicht nur die überflüssigen Rüstungsmilliarden, die sich im Zuge der veränderten europäischen Sicherheitslage zur Einsparung anbieten, sondern auch durch die konsequente Beachtung und Umsetzung der Bemerkungen des Bundesrechnungshofs, wenn sie denn von der Bundesregierung so beachtet würden, würde ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur Einsparung im Bundeshaushalt geleistet und würde der Verschwendung von Steuergeldern im Bereich der Bundesregierung und der Verwaltung teilweise Einhalt geboten.Da gibt es ein Beispiel — hiermit komme ich auf ein anderes Beispiel, also nicht auf das leuchtende Beispiel des Bundeshaushalts, sondern auf das Beispiel des Heiligenscheins, den sich der Bundeskanzler immer so gern umlegt — , nämlich den Organisationserlaß des Bundeskanzlers vom 5. Juni 1986, mit dem dem damaligen Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit öffentlichkeits- und wahlwirksam, nämlich vor der Bundestagswahl 1987, die Kompetenz für Frauenfragen übertragen wurde. Aber außer der Einrichtung einer neuen Abteilung im jetzt umbenannten Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit — BMJFFG, wie es so schön mit einem Kürzel heißt —, außer der Ausstattung mit neuen Stellen und der Aushändigung entsprechender Beförderungsurkunden geschah nichts. Die Ressorts weigerten sich nämlich, ihre bisherige Zuständigkeit in Frauenfragen auf das erweiterte BMJFFG zu übertragen.Ein Jahr später, nämlich im Juni 1987, entschloß sich dann der Bundeskanzler, den gordischen Knoten durch einen erneuten Organisationserlaß zu lösen. Die dem Bundeskanzler eigene Sprache und der Sprachgehalt führten dazu, daß von da an niemand mehr Bescheid wußte. Zwar wurden aus dem BMI her-
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Jungmann
aus weiterhin Zuständigkeiten in Frauenfragen verlagert; alle übrigen Angelegenheiten von spezifisch frauenpolitischer Bedeutung sollten aber — so im Erlaß des Bundeskanzlers, den er wahrscheinlich eigenhändig geschrieben hat — im Sinne einer gemeinsamen Federführung, in einer sogenannten Mitfederführung zwischen dem BMJFFG und dem jeweiligen Fachressort, bearbeitet werden.Dies ist ein völlig neuer Sprachbegriff; eine Mitfederführung gibt es nämlich nicht. Wer ist denn nun zuständig? Ist das BMJFFG zuständig, oder sind die Ressortminister in ihren anderen Bereichen weiterhin zuständig geblieben? 30 Mitarbeiter — so der Bundesrechnungshof — sitzen nun dort herum und glauben, Frauenfragen zu bearbeiten, aber sie tun nichts und kriegen dafür viel Geld.Der Bundesrechnungshof stellt hierzu fest, daß der Begriff der Mitfederführung bis heute in der Praxis zu Zweifeln Anlaß gibt, und zwar wohl deshalb, weil er in der Geschäftsordnung der Bundesregierung gar nicht vorkommt und der Bundeskanzler in seinem Erlaß von 1987 vergessen hat, nähere Ausführungen zu seinen Anordnungen mitzuliefern. Eine Mitfederführung — was immer das sein mag — ließ sich nach der Feststellung auch nicht erreichen. Personell stark überbesetzt, nimmt die neue Abteilung unbedeutende und für die Frauenfragen nicht entscheidende Funktionen ein.Aber damit nicht genug. Die Aussichten auf eine wachsende Bedeutung, auf neue Planstellen und auf neue Beförderungsmöglichkeiten führen im BMJFFG zu hektischer Betriebsamkeit. Ohne Beteiligung der zuständigen Referate für Haushalt, Organisation und Personal wurde hastig die neue Abteilung eingerichtet, acht neue Referate wurden dafür gebildet, drei der neuen Referatsleiter leiten sich dabei sozusagen selbst; denn ihnen wurden lediglich ein Mitarbeiter oder zwei Mitarbeiter zugeordnet. Dies sind Kosten, die in einer anderen Größenordnung liegen, verglichen mit dem Heiligenschein des Haushalts, den Sie hier aufbauen wollen. Der Bundesrechnungshof hat außerdem bemerkt, daß es den Mitarbeitern an den erforderlichen fachlichen Voraussetzungen fehle.Was die Haushaltsrechte angeht, so wäre durch den Rechnungsprüfungsausschuß und durch den Haushaltsausschuß deutlich zu machen gewesen, daß klare Kompetenzen an diese Abteilung gehen und daß die Bundesregierung ihre Geschäftsordnung dementsprechend ändert. Aber dieses Hin und Her wurde bisher nicht abgeschafft. So wurden in diesen Bereichen z. B. für einen sogenannten Modellversuch betreffend multifunktionale Bürokommunikation/EDVAusbildung von Frauen für Frauen 500 000 DM ausgegeben. Keiner merkte, daß gleichzeitig auch im Wirtschaftsministerium ein gleicher Modellversuch ablief. Wenn es so zugeht, wundert es kaum jemanden, daß in der Regierung und in der Bundesverwaltung viele Steuergelder verschwendet werden.
Ich könnte die Beispiele fortsetzen. Ich erinnere nuran das Beispiel, daß die Bundeswehr einen Hobbyflieger als Reserveoffizier gegen das Votum der fachlichZuständigen zum Hubschrauberpiloten ausgebildet hat. Der Kostenpunkt: 345 000 DM. Dabei stand von vornherein fest, daß der Offizier niemals den Einsatzstatus für einen Panzerabwehrhubschrauber erreichen wird. Zur Begründung führte das Verteidigungsministerium an, man habe in einem Modellversuch feststellen wollen, inwieweit man im Verteidigungsfalle auf Hobbyflieger zurückgreifen könne.
Hinzugefügt wird noch, daß, auch wenn eine fliegerische Einsatzreife dieses Hobbyfliegers als Hubschrauberpilot nie zu erreichen gewesen sei, die Kosten wegen der fliegerischen Vorkenntnisse des Reservisten immer noch 155 000 DM unter dem ansonsten entstehenden Ausbildungsaufwand liegen.
Dies ist eine komische Auffassung von Wirtschaftlichkeit. Man gibt 345 000 DM für nichts aus. Aber das Ausgeben für nichts war noch 155 000 DM billiger, als wenn man es anders gemacht hätte.
Aus dem gleichen Grund hat wohl auch das Verteidigungsministerium jahrelang — Sie wissen, wie lange es im Verteidigungsausschuß gedauert hat, bis das Ministerium überhaupt Klarheit in den Vorgang brachte — Reserveoffiziere über einen unbotmäßigen Zeitraum beschäftigt. Übersehen wurde dabei nur, daß diese offenbar Unentbehrlichen aus der Dienststellung eines aktiven Soldaten — teilweise in ihrer eigenen Dienststelle — in die eines Reservisten umgesetzt wurden und dann nicht mehr nur gegenüber einer Stelle, sondern auch gegenüber der Unterhaltssicherungsbehörde Anspruch auf Bezüge hatten. Im Extremfall verdienten diese Soldaten bis zu 3 000 DM monatlich mehr als ihre aktiven Kameraden. Dies ist doch wohl eine nicht zu überbietende Verschwendung von Steuergeldern.
Deswegen finde ich es unwahrscheinlich gut, daß die Bundesregierung in der Zwischenzeit — nachdem 13 Minuten vergangen sind — hier so „präsent" ist. Deswegen will ich zum Schluß kommen, Frau Präsidentin. Ich beantrage die Feststellung der Beschlußfähigkeit des Hauses.Schönen Dank.
Herr Kollege, da Sie es davon abhängig gemacht haben, daß ein Vertreter der Bundesregierung hier anwesend ist, kann ich Ihnen sagen: Der Parlamentarische Staatssekretär ist auf dem Wege hierher. Er muß jeden Moment eintreffen. Würden Sie Ihren Antrag auf Feststellung der Beschlußfähigkeit so lange zurückstellen?
Frau Präsidentin, mit Ihrem lieben Blick haben Sie mich überzeugt.
Danke schön.
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Vizepräsidentin Renger— Ja, dann muß er auch da sein. Er ist — wie bereits gesagt — schon längere Zeit auf dem Wege.Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Zywietz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will versuchen, zu Tagesordnungspunkt 9 — der für uns alle drei Themenbereiche beinhaltet — in der Sachdiskussion und in der Bewertung seitens der FDP fortzufahren und hoffe, daß die Bedenken, die der Kollege Jungmann eben in bezug auf die Präsenz der Regierung geäußert hat, sich zwischenzeitlich auflösen werden.
Wir haben es zunächst mit der Entlastung für das Haushaltsjahr 1987 zu tun. Das Haushaltsjahr 1987 war ausgezeichnet. Überhaupt war das Jahr 1987 ein ausgezeichnetes politisches Jahr. Es war ein gutes Wahljahr mit besten Ergebnissen. Eigentlich hätte die Regierung angesichts dieser Tatsachen hier mit Freude vertreten sein können. Aber offensichtlich ist sie mit den anstehenden Problemen der Deutschlandpolitik beschäftigt.
Ich möchte darauf hinweisen, daß morgen eine wichtige Debatte ansteht.
Dennoch bedauere ich es auch, daß die Regierung bei dieser Entlastung im Moment nicht vertreten ist. Sie haben ja vorher zur Kenntnis nehmen können, daß die FDP bislang die Regierung vertreten hat. Aber die FDP kann auch nicht alles zu jeder Zeit; sie wird häufig auch anderswo gebraucht.
Dennoch frage ich Sie jetzt, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen.
Aber ja!
Herr Kollege Zywietz, sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß das Finanzministerium einen Minister, zwei Parlamentarische Staatssekretäre, zwei beamtete Staatssekretäre hat und das Verteidigungsministerium einen Minister, zwei Parlamentarische Staatssekretäre und zwei beamtete Staatssekretäre hat? Soll ich Ihnen aufzählen, wie Sie die Riege der Parlamentarischen und beamteten Staatssekretäre seit 1987 ausgeweitet haben, was ebenfalls zur Verschwendung von Steuergeldern geführt hat?
Keiner dieser Herren ist hier: Sie sind alle mit der deutschen Einheit befaßt. Dann muß das ja ein Chaos werden!
Herr Kollege, zum Teil teile ich ja die Meinung mit Ihnen, daß die Regierung gut ausgestattet ist und auch schon immer war. Was die Parlamentarischen Staatssekretäre anbelangt, so haben Sie gemeinsam mit uns damit einmal angefangen. Das lassen wir jetzt lieber ruhen.
Auch ich erwarte, daß die Regierung bei diesem Tagesordnungspunkt vertreten ist. Was die personelle Besetzung anbelangt, so ist mir diese sehr wohl bekannt. Aber wir tragen die Regierung immer etwas mehr auf Händen als die Opposition.
Insofern will ich mich nicht Ihrer Wortwahl anschließen, wohl aber den Tatbestand bedauern.
— Alles zu seiner Zeit; einmal das eine, einmal das andere.
— Das wäre schon in Ordnung.
Ich komme zum Sachverhalt zurück. Es geht um die Entlastung für das Haushaltsjahr 1987. Es geht auch um die Entlastung für den Einzelplan 20, den Einzelplan des Bundesrechnungshofs. Ich möchte hier gleich anmerken: Dieser Entlastung stimmen wir gern zu; denn wir beraten hier eigentlich die Vorarbeiten des Bundesrechnungshofs. Ohne diese Vorarbeiten könnten wir diese Entlastung für einen gesamten Bundesetat gar nicht vornehmen. Insofern möchte ich seitens der FDP auch der Entlastung für den Etat des Bundesrechnungshofs zustimmen.Hierbei handelt es sich um ein Haushaltsvolumen von über 50 Millionen DM. Dadurch ist die Organisation eines Amtes mit 500 Mitarbeitern möglich, die uns ja durch die Anmerkungen, die hier vorliegen, überhaupt erst in den Stand versetzen, den Gesamthaushalt und seinen Vollzug, den Ausgabendurchfluß zu kontrollieren und hier eine Entlastung für den Gesamtetat, der ja auch schon im Jahre 1987 fast an die 300-Milliarden-Grenze heranging, zu erteilen.Ich denke — das spreche ich für die FDP gern aus —, daß wir den Mitarbeitern des Bundesrechnungshofs zu Dank verpflichtet sind, die sich ja alle Jahre wieder dieser sehr intensiven Arbeit unterziehen. Daß sie es gut machen, kommt vielleicht auch dadurch zum Ausdruck, daß ihnen weitere Prüfungsaufgaben bei den Vereinten Nationen übertragen worden sind. Ich wünsche ihnen auch für das Beratungsfeld und das weitere Tätigkeitsfeld im Rahmen des deutschen Einigungsprozesses eine gute Arbeitshand.
Was die Entlastung für den Etat 1987 angeht, so umfassen die Bemerkungen — es ist kein durchge-
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Zywietzhender Entlastungsbericht; es ist vielleicht etwas untertreibend als Bemerkungen zur Entlastung formuliert — immerhin 151 Seiten. Ich wünschte mir eigentlich, daß sich viel mehr Kollegen der Mühe unterzögen, dieses Repertoire bei der Beobachtung des Haushaltsdurchflusses und bei Neubewilligungen mit zu berücksichtigen. Natürlich geht der Appell an die Verwaltung, die die Haushaltsansätze umsetzt; aber ein wenig kann es auch für die Kolleginnen und Kollegen bei der Verabschiedung der jeweiligen Haushalte hilfreich sein, sich diesen Bericht zu Gemüte zu führen.
Ich möchte in der kurzen Zeit hier nur ein paar Einzelfälle aus diesem Prüfungsbericht kursorisch aufgreifen.
Die Bemerkungen beziehen sich auf vielfältige Bereiche. Zunächst einmal kann gesagt werden, daß der Bundesrechnungshof seine Bemerkungen sehr breit angelegt hat. Er ist in Bereiche aus 12 von 17 Ministerien eingedrungen und hat die Sondervermögen von Bundesbahn und Bundespost und auch die Bundesbank stichprobenartig untersucht. Dabei ist er zu sehr interessanten Schlußfolgerungen gekommen.
Aus meiner Sicht, aus der FDP-Sicht, möchte ich anmerken, daß aus dem Prüfungsbericht des Rechnungshofs folgendes tendenziell sehr deutlich geworden ist: Das Personal in der öffentlichen Verwaltung — in den angesprochenen Bereichen, aber offensichtlich auch anderswo — ist fast generell zu üppig, zahlenmäßig zu großzügig bemessen. Die Personalbemessungen bedürfen des Zurückschneidens.Zweitens wird deutlich, daß der Einsatz der Computer quer durch die gesamte öffentliche Verwaltung, durch die Ministerien nicht immer die Ergebnisse erzielt hat, die bei den Investitionsanträgen dargelegt worden sind.
Die Qualität der Arbeit ist nicht unbedingt besser geworden, und die Einsparung von Personal läßt in der Regel sehr auf sich warten.
Manchmal ist investiert worden, ein ziemliches Durcheinander, was den Arbeitsservice anbelangt, produziert worden, und Personaleinsparungen sind überhaupt nicht zustande gekommen. Ich will das nicht generalisieren, aber es ist nach wie vor ein wunder Punkt, der unseres Augenmerkes bedarf, damit Investitionen im Bereich der Datenverarbeitung wirklich auch mit Umsicht und Vernunft getätigt werden.
Ich möchte auch auf den Punkt „Bundesbank" zurückkommen. Hierzu sind in dem Bericht sehr interessante Anmerkungen enthalten. Ich will nicht in dieBewertung des kreditpolitischen und geschäftsmäßigen Instrumentariums der Bundesbank einsteigen — das ist der fachliche Bereich, der bei einer Rechnungsprüfung und bei einer Entlastungsdebatte nicht das Thema ist — , aber ich möchte an die Bundesbank schon appellieren, darauf bedacht zu sein, daß sozusagen der innere Betrieb — die Dotation, die Organisationspläne, die Wirtschaftlichkeit, die Benutzung der Dienstfahrzeuge, der Repräsentationsaufwand und manches andere — etwas mehr als vorher der Vorbildfunktion und dem Image gerecht wird, welche die Bundesbank zweifelsohne wegen ihrer fachlichen Kompetenz hat.Ich will es bei diesen Anmerkungen belassen. Ich glaube, jeder, der in den Bericht hineingeschaut hat — die hier Anwesenden und auch andere, so will ich hoffen — , weiß, was damit gemeint ist.Ich freue mich, auch für die FDP feststellen zu können, daß in Zukunft auf Grund des Drängens des Bundesrechnungshofes beispielsweise die Prüfung des Sondervermögens Bundesbahn organisatorisch besser durchgeführt werden kann: weg von der zu großen Anlehnung an die Bundesbahn, mehr hin zu der autonomen Einrichtung Bundesrechnungshof. Früher war das eine Aufgabe, die von der Bundesbahn selber durchgeführt wurde, jetzt wird sie als Vorprüfungsstelle für den Bundesrechnungshof tätig. Wir sehen darin einen Erfolg, der nicht zuletzt durch das Drängen und Drücken der FDP zustande gekommen ist.
Bei allem Lob für die Anmerkungen und überhaupt für die generell gute Arbeit des Bundesrechnungshofs möchte ich doch ein wenig warnen und kritisch darauf hinweisen, der Bundesrechnungshof möge auch in unserem Interesse dafür sorgen, daß sein gutes Ansehen und sein Image, das sich aus der sorgfältigen, an Fakten und Zahlen orientierten Arbeit aufgebaut hat, nicht durch ein zu starkes Eintreten in politische Bewertungen in Mitleidenschaft gezogen wird.Ich erinnere daran, daß sich der Bundesrechnungshof dahin gehend geäußert hat, die Steuerreform, die wir von der Koalition gewollt haben, sei finanzwirtschaftlich nicht vertretbar. Ich glaube, daß durch den Ablauf der Ereignisse diese politische Bewertung, die ich nicht für angemessen halte, auch faktisch nicht aufrechtzuerhalten ist.
— Nein, aber jeder möge bei seinem Leisten bleiben. Wir brauchen keine politische Oberinstanz, sondern wir brauchen einen Rechnungshof, der die Rechnung prüft und der mit den politischen Bewertungen etwas vorsichtig ist. Mit dieser politischen Bewertung hat er sich auf ein anderes Gleis begeben und nicht einmal Recht behalten; denn die Steuerquellen sprudeln auf Grund der Gesamtpolitik dieser Regierung so gut und so reichlich wie nie zuvor. Das hat keineswegs zu Engpässen in der Finanzierung des Haushaltes geführt. Ich möchte dieses Beispiel, an die Adresse des Bundesrechnungshofes gerichtet, so im Raume stehenlassen.
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17048 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Zywietzund möchte mich mit dem dritten Vorschriftenpaket noch ganz kurz auseinandersetzen.Es geht darum, den Investitionsbegriff gesetzlich zu fixieren. Ich möchte dazu sagen, daß auf Grund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts eine genauere Definition vonnöten war. Es muß zum Allgemeinverständnis auch noch gesagt werden, daß die Definition der Investitionen deswegen wichtig ist, weil die Kreditaufnahme nicht höher sein darf als die Investitionen. Wir haben eine restriktive Definition vorgenommen, und diese Definition wird auch in der Gesetzgebung und von den Ländern übernommen.Politisch heißt das, daß unsere Haushaltspolitik so solide wie in der Vergangenheit bleibt und daß wir uns nicht durch eine Ausweitung des Investitionsbegriffes sozusagen weiteren Kreditermächtigungsbedarf für die Finanzierung des Haushaltes verschaffen, sondern ganz im Gegenteil auf einer soliden Linie der Haushaltspolitik verbleiben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Walther, Herr Zywietz?
Stets gerne.
Herr Kollege Zywietz, nachdem ich den Eindruck habe, daß sich Ihre Rede dem Ende nähert, erlaube ich mir die Frage, da nun die Regierungsbank immer noch völlig leer ist, also lauter Nullen da sitzen, ob Sie bereit sind, Parlamentarische Staatssekretäre, die nicht hierherkommen, auch dadurch zu bestrafen, daß wir ihre Stellen im nächsten Haushalt schlicht und einfach streichen.
Herr Kollege Walther, Sie zeichnen sich immer durch eine sehr radikale Politik und sehr radikale Formulierungen aus, denen ich nicht immer folgen kann. Auch ich sehe, daß die Regierungsbank nicht besetzt ist. Aber es handelt sich nicht um Nullen. Im übrigen wird man diesen Sachverhalt ja noch an anderer Stelle und in anderem Zusammenhang aufgreifen können.
Ich möchte — ich habe hier gelbes Licht — mit zwei oder drei Sätzen zum Schluß kommen. Hier ist von der Berichterstatterin und auch von anderen kenntnisreich und engagiert die Frage der Prüfungsrechte des Bundesrechnungshofes angesprochen worden. Nun kann man dazu sagen: Auch wir sind interessiert daran, daß der Ist-Zustand verändert wird, aber nicht in der Weise, indem man gleich von einem in der Tat unbefriedigenden Zustand zu einer sehr harschen gesetzlichen Regelung hinüberspringt. Wir möchten das schrittweise und nach Überprüfung von Erfahrungen tun. Wir haben uns statt für eine gesetzliche für eine vertragliche Vorgehensweise entschlossen.
Ich möchte aber hinzufügen, daß der jetzige Prüfungszustand nicht ausreichend ist und daß auch wir — darüber haben wir doch im Ausschuß Einverständnis gehabt — an einer Veränderung dieser Situation interessiert sind.
Denn wir können ja wohl alle gemeinsam feststellen: Wir haben ein Interesse, die Ausgabenpositionen, die im Haushaltsgesetz festgelegt sind — es handelt sich, wie ich betone, um ein Gesetz —, zu überprüfen. Dort, wo keine Marktpreise gegeben werden, sind auch wir daran interessiert, in einer vernünftigen und praktikablen Regelung die Prüfungsrechte zu intensivieren, damit sie auch dem Fall der Selbstkostenaufträge gerecht wird.
Vielen Dank.
Herr Kollege, die Redezeit war durch die Zwischenfrage etwas länger. Herr Jungmann, Sie haben jetzt das Wort zur Geschäftsordnung. Bitte schön, Herr Kollege.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich ziehe meinen Antrag auf Feststellung der Beschlußfähigkeit von vorhin zurück und beantrage für meine Fraktion gemäß § 42 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages die Herbeirufung eines Mitgliedes der Bundesregierung und bitte, bis zum Erscheinen eines Mitglieds der Bundesregierung die Sitzung zu unterbrechen.
— Sehen Sie, das ist das, was Sie erreichen wollten.
— Wir wollen aber jemanden vom Finanzministerium hier haben; das haben wir vorhin gesagt.
Ich beantrage gemäß § 42, aus dem Finanzministerium einen Parlamentarischen Staatssekretär, einen Staatssekretär oder den Minister hierher zu zitieren, und bitte, die Sitzung solange zu unterbrechen.
Herr Kollege Zywietz hat vorhin seine Redezeit sehr überdehnt, indem er versucht hat, so lange zu filibustern, bis ein Regierungsmitglied hier wäre. Das hat nicht nur fünf Minuten gedauert, wie die Präsidentin das vorhin bei meinem ersten Antrag angekündigt hat, sondern mittlerweile schon 25 Minuten. Das ist ein trauriges Zeichen.
Zur Geschäftsordnung, Herr Abgeordneter Bohl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe nicht die ganze Vorgeschichte mitbekommen. Aber es ist mir zwischenzeitlich berichtet worden, was bisher geschehen ist. Ich will ausdrücklich zugestehen, daß Ihr Wunsch, daß die Regierung durch ein zuständiges Mitglied des Hauses hier angemessen vertreten sein müßte, voll berechtigt ist; daran gibt es gar nichts zu deuteln.Es ist auf der anderen Seite offensichtlich so, wie ich mir habe sagen lassen, daß sich Herr Staatssekretär Voss, dessen Anwesenheit hier vorgesehen war, von
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BohlDüsseldorf kommend — so kann ich nur sagen — auf der Straße befindet,
wobei ich Ihnen gerne einräume, daß das vom Ergebnis her nichts ändert; er ist nicht da. Aber ich wollte es deshalb vortragen, damit es nicht als Mißachtung durch die Bundesregierung ausgelegt wird, wenn hier niemand anwesend ist. Wir sollten Herrn Staatssekretär Voss zumindest die Gelegenheit geben, darlegen zu können, weshalb er nicht pünktlich hiersein konnte, bevor man sozusagen ein abschließendes Urteil trifft. Aber da Ihr Wunsch nach Anwesenheit des zuständigen Staatssekretärs berechtigt ist, möchte ich vorschlagen, daß wir an dieser Stelle die Beratung unterbrechen, damit wir Zeit haben, die Anwesenheit des Staatssekretärs noch während der Debatte zu ermöglichen.Man könnte auch daran denken, in der Tagesordnung mit dem nächsten Punkt fortzufahren und dann anschließend auf diesen Punkt zurückzukommen. Herr Kollege Becker, wir sind ja heute eh bis 24 Uhr terminiert. Verführen wir anders, ginge das heute möglicherweise eine Viertelstunde oder eine halbe Stunde darüber hinaus. Wir würden dann also wertvolle Zeit verlieren. Mein Vorschlag ist deshalb, die Sitzung hier jetzt nicht zu unterbrechen, sondern die Beratung dieses Tagesordnungspunktes zu unterbrechen und mit dem nächsten Tagesordnungspunkt fortzufahren. Ich glaube, daß dies ein ökonomischer Vorschlag ist.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete Becker.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dies ist doch nun ein wichtiger Punkt, und die Bundesregierung kann doch nicht nur deshalb, weil alle Fraktionen Zustimmung zu diesem Tagesordnungspunkt signalisiert haben, davon ausgehen, daß sie deswegen überhaupt nicht vertreten zu sein braucht. Daß hier weder dei Minister — wir wissen alle, daß hier heute viele deutsch-deutsche Gespräche in allen möglichen Ausschüssen stattfinden; wir wollen das alles berücksichtigen — noch ein Parlamentarischer Staatssekretär von zwei Parlamentarischen Staatssekretären noch ein beamteter Staatssekretär von zwei beamteten Staatssekretären hiersein kann, ist für mich bei diesem Tagesordnungspunkt unbegreiflich.
Ich schließe mich dem Vorschlag des Kollegen Bohl an — ich denke auch, daß meine Fraktion dem zustimmt —, daß wir an dieser Stelle den Tagesordnungspunkt unterbrechen und mit dem nächsten Tagesordnungspunkt, dessen Beratung sowieso für 16 Uhr vorgesehen war, fortfahren und die Beratung über den Punkt 9 der Tagesordnung erst dann wiederaufnehmen, wenn ein Mitglied der Bundesregierung aus dem Finanzministerium hier ist.
Frau Abgeordnete Vennegerts zur Geschäftsordnung.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann es ganz kurz machen. Ich war vielleicht ein bißchen leichtsinnig, als ich zu Beginn sagte: Wir haben einstimmig Entlastung vorgesehen. Das führt manchmal zu etwas, was gar nicht so gut ist. Wenn wir als Parlamentarier im Rechnungsprüfungsausschuß ordentlich gearbeitet haben, und zwar fraktionsübergreifend, dann führt das hier dazu, daß die Regierung sagt: Es ist eh alles klar; also erscheinen wir gar nicht.
Ich muß sagen: Wenn das noch einmal passiert, dann hätten wir im Haushaltsausschuß sicherlich auch andere Möglichkeiten. — Rudi Walther nickt schon. Das ist bekannt. Dann können wir uns etwas einfallen lassen.
Ich möchte nur darauf hinweisen, daß es hier nicht um „Kikikram" geht. Ich muß sagen, ich bin sauer. Ich empfinde es gegenüber dem Vorsitzenden, aber auch gegenüber uns allen als Parlamentariern — auch gegenüber dem Rechnungshof, den die Regierung sonst immer so lobt — als eine Art Ohrfeige, wenn die Regierung hier so tut, als sei das, was hier geleistet worden ist, nicht mehr als „Kiki" . Ich denke, da muß sich die Regierung etwas einfallen lassen, um diese Scharte wieder auszuwetzen.
Ansonsten schließe ich mich den Vorschlägen des Kollegen Bohl und des Kollegen Becker an.
Danke sehr. Meine Damen und Herren, dann habe ich richtig verstanden, daß auch der weitergehende Antrag von Herrn Jungmann jetzt nicht zur Abstimmung gestellt wird, sondern daß das ganze Haus damit einverstanden ist, daß bis zur Anwesenheit eines Mitgliedes der Bundesregierung aus dem Bundesfinanzministerium die Beratung dieses Tagesordnungspunktes unterbrochen ist? — So wird verfahren.Dann rufe ich jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf :Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie der Veränderungen im militärischen Kräfteverhältnis 1988 (1. Januar 1988 bis 30. Juni 1989)— Drucksache 11/5620 —Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 60 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lamers.
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17050 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bemerkenswerteste, was man über die Abrüstung derzeitig sagen kann, natürlich abgesehen von der bemerkenswert guten Arbeit, die die Bundesregierung in dieser Abrüstung leistet, ist, daß die Abrüstung hinter den politischen Veränderungen weit zurückbleibt. Für die Sicherheitspolitik schafft das eine ambivalente Lage. Einerseits muß sich Verteidigung an den realen militärischen Gegebenheiten eines potentiellen Gegners orientieren, andererseits aber weiß sie natürlich, daß sich die Frage, ob jemand überhaupt ein potentieller Gegner ist, zunächst nach seinem politischen Verhältnis zum potentiellen Verteidiger bemißt. Würden wir unsere Sicherheit nur an den Potentialen bemessen, wäre sie in den vergangenen Monaten nicht so sehr viel besser geworden. Doch sie ist tatsächlich sehr viel besser geworden, weil die Regierungen in Ost- und Mitteleuropa keine kommunistischen Regime mehr sind, sondern demokratisch legitimierte Vertreter ihrer Völker, und weil die Sowjetunion dabei ist, eine grundlegende demokratische Wandlung zu vollziehen. Doch die Ambivalenz bleibt. Es muß unser Ziel sein, sie so schnell wie möglich zu überwinden, politische Entwicklung und Abrüstung wieder in Einklang zu bringen.Verteidigung läßt sich ohne jeden Zweifel mit einem ungleich geringeren Aufwand organisieren, als es im Osten und Westen bislang geschehen ist, und die Mittel lassen sich für dringendere existentielle Aufgaben verwenden. Zudem: Bei einer immer möglichen, wenn auch derzeitig nicht wahrscheinlichen Verschlechterung des politischen Klimas würden die noch bestehenden gewaltigen Waffenarsenale eine katalysatorische, destabilisierende Wirkung haben.Das Auseinenerklaffen zwischen politischer und abrüstungspolitischer Entwicklung, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist bei dem Washingtoner Gipfel zwischen Bush und Gorbatschow, wie ich finde, deutlich zutage getreten. Das Verhältnis nicht nur zwischen diesen beiden Männern, sondern auch zwischen diesen beiden Ländern hat eine solche Qualität erreicht, daß es die schönsten Hoffnungen für ein dauerhaftes Zusammenwirken dieser beiden für den Weltfrieden so wichtigen Nationen begründet. Aber das Zwischenabkommen über die strategischen Waffen bleibt doch weit hinter früheren Ankündigungen zurück.Gewiß läßt sich auch hier wieder die alternative Betrachtung anstellen, ob das Glas nun halb-, in diesem Fall besser gesagt: zu einem Drittel voll oder zu zwei Drittel leer sei. Ich ziehe es vor zu sagen, es sei zu einem Drittel voll. Doch erstens ist bis zu dem Punkt, wo es definitiv voll ist, noch harte und schwierige Arbeit zu leisten, und zweitens kann auch das dann nur ein Anfang sein. Die Menschheit wird zwar weiter mit Nuklearwaffen leben müssen, aber sie muß lernen, mit ihnen anders als bislang umzugehen. Der erste Schritt dahin ist eine weit, weit über die jetzige, höchstens 30 %ige Reduzierung hinausgehende Vernichtung der Potentiale der beiden Nuklearriesen. Anderenfalls wird es auch nicht gelingen, die Gefahr einer immer weiteren Verbreitung der Nuklearwaffen und die Gefahr ihres Einsatzes zu begrenzen.Die Gefahr eines Einsatzes ist ja bei einem anderen Massenvernichtungsmittel, den chemischen Waffen im Golfkrieg, noch vor kurzem schreckliche Wirklichkeit geworden. Deswegen begrüße ich für meine Fraktion nochmals nachdrücklich das Abkommen zwischen den USA und der Sowjetunion über diese Waffen. Ich halte es für einen Durchbruch im Verhältnis zwischen diesen beiden Ländern. Es macht klar, daß im Verhältnis zwischen ihnen diese Waffen keinen Rolle mehr spielen sollen. Das erfüllt uns gewiß alle mit großer Genugtuung und Freude, und sicher verbessert die amerikanisch-sowjetische Vereinbarung auch die Aussichten auf ein weltweites Verbot der chemischen Waffen bei den Verhandlungen in Genf. Allerdings mache ich aus einer gewissen Skepsis keinen Hehl. Ich fürchte, hier wird zutage treten, was bislang verdeckt war, nämlich daß die Problematik eines solchen weltweiten Abkommens nicht im Ost-West-Verhältnis liegt.Das krasseste Mißverhältnis zwischen politischer Veränderung und abrüstungspolitischer Entwicklung tritt in Deutschland zutage. Bald wird es ein auch formell wiedervereinigtes Deutschland geben, in dem als einem Mitgliedsland der NATO nahezu 400 000 Mann sowjetischer Truppen stationiert sind.
Meine Damen und Herren, wenn unser aller Vorstellungskraft, die wir in den vergangenen Jahren gezeigt haben, so kraß von dieser Wirklichkeit als vollkommen unzulänglich deklassiert und diskreditiert wird, dann könnte man geneigt sein, in Ironie zu flüchten, handelte es sich nicht um eine so harte und so ernste Realität, die so nicht bleiben kann.Nicht nur die Präsenz sowjetischer Streitkräfte in Deutschland kann auf Dauer nicht bleiben, sondern auch nicht die riesige Ansammlung von Waffen und Truppen in Deutschland und in Europa insgesamt. Die Sowjetunion kann unserer Bereitschaft zu einer wirklich essentiellen Begrenzung deutscher Streitkräfte nach der Wiedervereinigung gewiß sein. Schon deswegen kann sie dessen gewiß sein, weil wir uns auch ihren weiteren guten Abrüstungswillen sichern wollen.Auch und gerade bei der Abrüstung wird sich zeigen, daß die deutsche Wiedervereinigung kein Hemmnis, sondern — im Gegenteil — ein Katalysator der verschiedenen europäischen Prozesse auf dem Weg zu einer friedlichen Zukunft für alle Völker des Kontinents ist. Das gilt insbesondere auch für den Abrüstungsprozeß.
Voraussetzung ist natürlich, daß in Wien bald ein erstes Abkommen abgeschlossen werden kann. Doch ich glaube, daß dafür die Aussichten, beispielsweise nach den jüngsten Annäherungen in der Panzerfrage, gut sind.Ich füge hinzu: Der Raum, auf den sich die nächste Phase der Wiener Verhandlungen zu konzentrieren hat, muß östlich die westlichen Militärbezirke der Sowjetunion und westlich Großbritannien und Frankreich in jedem Falle einschließen. Jede besondere Behandlung Deutschlands wäre von Übel; denn das
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17051
LamersWichtigste ist, daß Deutschland nach der Wiedervereinigung ein ganz normales Land wird.Anormal wäre es auch, wenn ein Land wie Deutschland nicht Mitglied der NATO wäre; denn die widersprüchliche Aufgabe, Sicherheit für Deutschland, Sicherheit mit Deutschland und Sicherheit für Deutschland zugleich zu schaffen, läßt sich eben nur auf diese Weise lösen, für die Sowjetunion befriedigend allerdings nur dann, wenn die neun Punkte, die Präsident Bush Präsident Gorbatschow vorgeschlagen hat — sie sind ja alle deutsches Gedankengut — , realisiert werden. Ich glaube, daß die Sowjetunion gemerkt hat, daß das Wirken der Bundesrepublik im Westen nicht nur nicht gegen ihre Interessen ist, sondern ganz in ihrem Interesse liegt. Das dürfte auch für das wiedervereinigte Deutschland gelten.Doch die NATO wird, wie sowohl die Verteidigungsminister als die Außenminister bereits belegt haben und der Gipfel belegen wird, den guten Willen der Allianz und sicher auch die Bereitschaft unter Beweis stellen, gewissermaßen als zehnten Punkt das Verhältnis zwischen den Mitgliedsländern der beiden Bündnisse in geeigneter Weise zu formalisieren.Doch geht es, wie jeder weiß, in diesen Tagen nicht um den Warschauer Pakt, sondern um die Sowjetunion. Es geht darum, den Eindruck zu vermeiden, die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands, seine Zugehörigkeit zum Westen insgesamt, hieße, die Sowjetunion an den Rand Europas zu drängen. Die für einen dauerhaften Frieden auf dem Kontinent entscheidende Aufgabe ist ganz das Gegenteil. Aber das, was ich die Verortung Rußlands in Europa nenne, kann nicht nur eine Aufgabe Deutschlands sein. Es ist eine Aufgabe Europas und der USA insgesamt. Doch wer Partner der Sowjetunion bleiben will und sein will, muß auch ihr Gegenpart sein können. Auch daher ist die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO notwendig.Zu ihr jedoch möchte ich, vor allem an unsere europäischen Alliierten gerichtet, sagen: Diese NATO wird sich noch in einem anderen Sinne als in dem zwecks Wiederherstellung der deutschen Einheit erörterten Sinn ändern. Sie wird ein Bündnis zwischen den USA und Europa als einer sicherheits- und verteidigungspolitischen Identität sein und sein müssen, wenn sie Zukunft haben soll. Die Europäer werden nicht nur größere Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen müssen, wie das der Verteidigungsminister genau vor acht Tagen erklärt hat, sondern schon viel schneller, als die meisten auch hierzulande glauben, werden sie die Hauptverantwortung übernehmen müssen, übernehmen können und, wie ich hoffe, auch übernehmen wollen. Das heißt, daß sich natürlich auch die Rolle der USA in der Allianz ändern wird.Sicherheit vor Deutschland zu schaffen, die „Kontrolle" der Deutschen mittels der NATO-Integration und des amerikanischen Oberbefehls ist für den Augenblick in der Tat die einzig mögliche Lösung. Doch werden die USA diese Funktion vom Maß ihrer Präsenz her weder ausüben können, noch werden die Deutschen sie auf Dauer akzeptieren, noch werden daher die Amerikaner sie auf Dauer ausüben wollen. Entweder werden alle in der NATO bald so ungebunden sein wie Frankreich heute, oder alle werden eine neue, eine europäische Bindung eingehen müssen. Für den ersten Fall wird es eine politische Union nicht geben, denn sie kann nicht sein ohne Einbezug beider Elemente der Sicherheitspolitik, des politischen und des militärischen. Niemand kann mehr exklusiv unabhängig sein oder, besser gesagt, scheinen. Nach unserem Willen soll die deutsche Vereinigung auch den Prozeß der politischen Einigung der Europäischen Gemeinschaft vorantreiben.Und worin soll denn eigentlich der Inhalt des KohlMitterrand-Projektes einer politischen Union bestehen, wenn nicht auch und gerade in dem Einbezug der Außen- und Sicherheitspolitik auch in ihren militärischen Teilen in die Verantwortung der Gemeinschaft, nachdem wir beschlossen haben, die Wirtschaft zu vergemeinschaften und schon auf dem Wege sind, und nachdem wir auch beschlossen haben, die Währung zu vergemeinschaften?Es liegt — das möchte ich an unsere Alliierten in Europa mit allem Nachdruck sagen — an unseren Partnern, an ihnen in der Europäischen Gemeinschaft, es liegt vor allem an Frankreich, diese Chance zu nutzen, nämlich mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit zugleich den entscheidenden Schritt zur europäischen Einheit zu tun. Wir sind dazu bereit.
Meine Damen und Herren, wir sind hier ein bißchen im Gespräch — Sie haben das schon gemerkt — wegen der vorherigen Unterbrechung. Wir kommen jetzt zu dem vorherigen Punkt zurück und unterbrechen die Behandlung dieses Punktes für ein paar Minuten. Dazu gibt es noch eine Wortmeldung des Berichterstatters Deres, und dann können wir den Punkt abschließen.
— Dann bitte ich um Verzeihung, aber einmal muß mir konkret gesagt werden, wie die verehrten Kollegen das wünschen. Ich bin auch bereit, das von mir aus zu entscheiden; darin bin ich nicht gerade ängstlich.
— Es dauert fünf Minuten, dann sind wir damit fertig.
Ist das jetzt richtig, Herr Deres?
Wir hatten vorgeschlagen, daß der Herr Staatssekretär eine Erklärung wegen seines Zuspätkommens abgibt und daß ich zum Abschluß meine kurzen Ausführungen mache und wir dann zur Abstimmung kommen. Das war im Einvernehmen mit dem Kollegen Kühbacher, der auf seine Redezeit verzichten wollte.
Wir sollten uns nicht länger aufhalten. Ich komme zu dem Tagesordnungspunkt 9 zurück, den wir eben unterbrochen haben.
17052 Deutscher Bundestag — l i. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Vizepräsidentin Renger
Herr Staatssekretär, machen Sie dazu bitte Ihre sehr kurzen Bemerkungen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann nichts anderes tun, als mich bei Ihnen für mein Zuspätkommen zu entschuldigen. Ich hatte einen Termin in Düsseldorf. Ich hatte alles so eingeplant, daß ich pünktlich hier bei Ihnen sein konnte, wie sich das gehört, worum ich mich auch in den letzten sechseinhalb Jahren bemüht habe. Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses wird das bestätigen können: Die Male, die ich zu spät gekommen bin, waren sehr, sehr selten.
Ich stand im Stau, und da ich kein Höhenruder hatte, mußte ich leider unter Anerkennung der Verkehrsregeln die Fahrt so in Anspruch nehmen, wie sie sich darstellte. Das ist der Grund, warum ich zu spät komme. Ich bitte Sie um Entschuldigung.
— Ich gehöre zu denen, Herr Kollege, die immer den Pkw in Anspruch nehmen und keine Fahrzeuge, die bedeutend teurer sind. Das ist vielleicht auch einer der Gründe dafür, daß ich etwas zu spät gekommen bin. Ich bitte Sie um Entschuldigung.
Danke, Herr Staatssekretär.
Herr Deres, Sie haben versprochen, daß auch Sie sich sehr kurzfassen wollten. Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst im Ernst feststellen, daß der Verlauf, wie er heute hier war, natürlich nicht der Würde des Hauses und schon gar nicht der Arbeit des Rechnungsprüfungsausschusses entspricht.
Aber wir nehmen die Entschuldigung an. Wir waren schon gerade dabei, die Strafmaßstäbe festzulegen. Aber für den Augenblick wollen wir das zurückstellen, weil wir erkennen, daß Herr Voss uns ja sonst immer sehr im Ausschuß geholfen hat und daß seine Arbeit immer sehr anerkennenswert war.
— Es ist auch schon einmal schön, bei uns frech zu sein. Auch wir sind es ja.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf mich als Vorsitzender ganz kurz, aber um so herzlicher bei den Kolleginnen und Kollegen bedanken, die im Ausschuß so intensiv gearbeitet haben. Sie haben mir insbesondere die Übernahme leichtgemacht.
Ich hatte eigentlich vor, heute die Regierung und die Verwaltung einmal ein Stückchen zu loben, weil wir festgestellt haben, daß in diesem Jahr eingentlich auch einmal mehr Einsicht gegenüber den Vorwürfen des Rechnungshofs und unseren Beschlüssen vorhanden war. Ich tue das deswegen nicht, weil wir hier so kurz weggekommen sind. Sie müssen sich schon anstrengen, ehe ich das wiederhole. Ansonsten ist die Regierung gewarnt, sich im Rechnungsprüfungsausschuß stellen zu müssen.
Ich bedanke mich und wünsche, daß wir die Objekte, die hier anstehen, so verabschieden können.
Frau Präsidentin, mir ist soeben eine Mitteilung zu anderen Tagesordnungspunkten zugekommen. Da sollte eigentlich eine kleine Korrektur stattfinden. Aber dann wurde mir gesagt, daß die Punkte Bundeshaushaltsordnung und Haushaltsgrundsätzegesetz inzwischen verabschiedet worden sind.
— Dann erwähne ich das jetzt hier nicht mehr.
— Ich werde darauf jetzt nicht antworten. Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 11/7112. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Ich bitte um ein Handzeichen. — Gegenprobe!
— Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 11/7111. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Damit sind die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b mit Müh und Not erledigt.
Wir fahren in der Beratung des Jahresabrüstungsberichts 1989 fort.
Das Wort hat der Abgeordnete Verheugen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht der Bundesregierung über Rüstungskontrolle und Abrüstung, der die Grundlage der heutigen Debatte bildet, ist in einer fast gespenstischen Weise unzeitgemäß. Er wirkt auf den Leser von heute wie ein Gruß aus ferner Vergangenheit, als wenigstens in der Sicht der Bundesregierung und der NATO die Konfrontation der Blöcke in Europa noch als eine feste gegebene Größe erschien.Der Bericht schließt Mitte 1989 ab, also kurz vor den dramatischen Veränderungen in Deutschland und Europa, die dann in rasantem Tempo das bisherige militärische Weltbild umgestürzt haben.
— Das weiß doch auch ich, Herr Feldmann. Ich sag's sofort.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17053
VerheugenNatürlich kann man nicht verlangen, daß der Abrüstungsbericht prophetische Qualitäten entwickelt. Es stellt sich aber die Frage, ob er wenigstens die damalige politische Lage in angemessener Weise reflektiert. Nach unserer Überzeugung tut er das nicht.Er ist ein Dokument des alten Denkens, das schon damals überholt war, und bestätigt die Analyse, daß die Ergebnisse der Rüstungskontrollpolitik hinter den tatsächlichen politischen Möglichkeiten schon seit langer Zeit weit zurückbleiben.
Wenn Sie sich bitte in die Lage im Jahr 1988 und in der ersten Hälfte des Jahres 1989 in Erinnerung rufen: Die abrüstungspolitische Initiative lag bei der Sowjetunion. Ein Gorbatschow-Vorschlag jagte den anderen. Der Westen hatte darauf nichts anderes zu erwidern als: er arbeite an einem Gesamtkonzept.Dieses Gesamtkonzept ist schließlich beim NATOGipfel am 29. und 30. Mai 1989 verabschiedet worden. Es wird in dem Bericht ausgiebig dargestellt und im Ganzen dokumentiert. Was aber in dieser Darstellung fehlt, ist das Eingeständnis, daß dieses Gesamtkonzept auch unter den damaligen Bedingungen keine in die Zukunft weisende Perspektive aufgewiesen hat. Die Erwartung, daß das westliche Bündnis mit ihm eine „umfassende Kursbestimmung seiner Sicherheitspolitik für die 90er Jahre" vorgenommen hat, ist nicht erst im Lichte späterer Erkenntnisse als unrealistisch zu werten; sie war es damals schon. Jedenfalls war es eine sehr kurzfristige Kursbestimmung. Die 90er Jahre sind damit nicht einmal erreicht worden.Ein paar Hinweise zur Begründung: Die im Bericht angekündigte Aufnahme von Verhandlungen über nukleare Kurzstreckenwaffen litt unter dem Fehler, daß als Ziel solcher Verhandlungen lediglich die teilweise Reduzierung amerikanischer und sowjetischer landgestützter Kurzstreckenwaffen beabsichtigt wurde. Aber schon damals hätte eine dritte Null-Lösung, also die Abschaffung aller Atomwaffen mit Reichweiten von unter 500 km, vorgeschlagen werden müssen. Stabile Sicherheit in Europa ist ohne diesen Schritt nicht erreichbar.Die im Bericht wiedergegebene Einschränkung, es solle nur über landgestützte nukleare Flugkörper kürzerer Reichweite verhandelt werden, widerspricht den von der Bundesregierung selbst aufgestellten Prinzipien der Rüstungskontrollpolitik. Eines dieser Prinzipien heißt, Rüstungskontrollmaßnahmen dürften nicht dazu führen, daß Rüstungsproduktion auf andere Waffenbereiche oder in Grauzonen verlagert wird. Aber genau das ist Gegenstand der Rüstungsplanungen. Wie sonst ließe sich die Diskussion innerhalb der NATO über luftgestützte Nuklearwaffen mit kurzen und mittleren Reichweiten erklären, und wie sonst hätte es zu der Absicht kommen können, neue sogenannte Abstandswaffen zu entwickeln?Zu den besonders anachronistischen Teilen des Berichts gehört das Festhalten an der bisherigen NATOStrategie. Schon damals mußte klar sein — wir haben es hier oft genug gesagt —, daß die gesamte Abschreckungsdoktrin mit der Option des atomaren Ersteinsatzes und der nuklearen Eskalation unhaltbar geworden war. Daß die Bundesregierung und die NATO sich von überholten Denkkategorien nicht lösen konnten, belegt auch die damalige, formell immer noch gültige Entscheidung, über ein Nachfolgesystem der Lance 1992 zu befinden.
Diese Entscheidung ist politisch Makulatur; das wissen wir alle. Dieses Nachfolgesystem darf es überhaupt nicht geben, sondern die Atomwaffen kurzer Reichweite müssen in Ost und West wegverhandelt werden.Wenn wir den Bericht unter dem Eindruck der Mitte 1989 eingetretenen Veränderungen betrachten, dann müssen wir feststellen, daß ein paar Einsichten gewachsen sind. Das betrifft in erster Linie die NATOStrategie. Die Diskussion ist noch nicht zu Ende geführt; aber es drängt sich der Eindruck auf, daß die Bemühungen der NATO nicht darauf gerichtet sind, die Abschreckungsdoktrin wirklich zu überwinden und zu einem System gemeinsamer Sicherheit zu kommen, sondern das Abschreckungskonzept auf andere Weise, nämlich durch direkte nukleare Bedrohung der Sowjetunion von Europa aus, zu ersetzen.
Diese Einschätzung bringt mich zu einer fundamentalen Kritik an der westlichen Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik. Die Wirklichkeit dieser Politik sieht anders aus, als in schönen Reden und Kommuniqués dargestellt wird. Unsere Öffentlichkeit lebt in dem Glauben, daß in Wien ein wirklicher Abrüstungsvertrag verhandelt wird und daß die atomaren Supermächte in den START-Verhandlungen ihre Arsenale drastisch reduzieren wollen. Aber so ist es nicht.
Es werden ein paar Überkapazitäten abgebaut, es werden ohnehin ausmusterungsreife Bestände vernichtet oder in andere Gebiete geschafft. Und was die strategische Seite anbelangt, Herr Kollege Feldmann, werden die Voraussetzungen für eine neue Generation von Atomwaffen mit geringeren Kollateralschäden, aber dafür vielseitigerer Verwendbarkeit geschaffen.
Sie wissen ebensogut wie ich, daß die atomaren Sprengköpfe auseinandergenommen und in Zukunft anders verwendet werden sollen.Die Abrüstungs- und Friedensrhetorik ist eine Seite; die tatsächliche Abrüstungsentwicklung ist eine andere. Es kommt jetzt darauf an, das Stadium rein quantitativer Rüstungskontrollpolitik zu verlassen und zu einer qualitativen Politik überzugehen. Entscheidend dafür ist, daß endgültig von der Vorstellung Abschied genommen wird, es könne dauerhaft Sicherheit durch Abschreckung geschaffen werden.Die NATO ist ja nicht um neue Begründungen verlegen. Ich befürchte, daß ein Programm, das Bundespräsident von Weizsäcker auf dem Katholiken-Tag in Berlin skizzierte, als er sagte, „Wir werden die Mau-
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17054 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Verheugenern, die in Berlin gefallen sind, gewiß nirgendwo wieder neu errichten, weder zwischen den Teilen Deutschlands noch an Oder und Neiße, aber gewiß auch nicht an der Westgrenze der Sowjetunion", in der NATO eher belächelt wird. Ein Beleg dafür findet sich in der aktuellen Diskussion über die Bündniszugehörigkeit eines vereinigten Deutschlands.Wenn das Gebiet der heutigen DDR politisch NATO-Territorium wird und nur aus der militärischen Integration ausgespart bleibt, dann ist das nur scheinbar ein Verzicht der NATO auf das Vorrücken bis zur Oder-Neiße-Grenze. Die NATO-Außenminister haben soeben klargestellt, daß die militärische Beistandsverpflichtung selbstverständlich künftig für ganz Deutschland gelten wird. Das ist innerhalb dieses Konzepts auch ganz logisch. Das heißt aber natürlich, daß dies Auswirkungen auf die Operationsplanung, die Streitkräftedislozierung und die Rüstungspolitik haben wird. Vorne bleibt schließlich vorne. Demnächst ist dann die Oder-Neiße-Grenze vorne, und eines Tages wird es die sowjetische Westgrenze sein.Es hat keinen Sinn, die elementaren Folgen der geplanten Bündnisregelung für Gesamtdeutschland zu verschleiern.Wir werden damit getröstet, daß ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem kommen wird. Aber welche Rolle wird die NATO in diesem System spielen?
Und wie wird sich die beharrende Kraft der Institutionen erst auswirken, wenn nach vollzogener deutscher Einheit der erste, unmittelbare Druck, zu neuen Lösungen zu kommen, erst einmal vorüber ist?
Mein Kollege Soell wird später darauf eingehen, welche Konsequenzen für den konventionellen Bereich aus der neuen Lage gezogen werden sollten. Ich will mich darauf beschränken, noch einige Forderungen hinsichtlich der Massenvernichtungswaffen zu skizzieren.Erstens. Im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung müssen sämtliche nuklearen und chemischen Waffen von deutschem Boden abgezogen werden.Zweitens. Es dürfen keine neuen Waffen dieser Art in Gesamtdeutschland stationiert werden.Drittens. Die britischen und französischen Atomwaffen müssen alsbald in den Verhandlungsprozeß eingezogen werden.Viertens. Die Bemühungen um einen umfassenden Atomteststopp sind zu verstärken. Im Abrüstungsbericht spricht die Bundesregierung vom „schrittweisen Herangehen" an diese Frage.
Das ist eine vernebelnde Formulierung, gelinde gesagt.
Unsere Interessenlage gebietet es, ganz klar zu sagen, daß der Teststopp nur von der Klärung der Verifikationsfrage abhängig gemacht werden darf und von sonst nichts. Schrittweises Herangehen kann eben auch bedeuten, schrittweiser Teststopp entsprechend den Schritten der atomaren Abrüstung.
Fünftens. Größere Aufmerksamkeit verlangt schließlich das Problem der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen und Chemiewaffen. Es überrascht nicht, daß sich der Bericht über die deutsche Verantwortung im Hinblick auf den Bau einer Giftgasfabrik in Libyen und im Hinblick auf Nuklearexporte und auf den Export von Raketen und anderen Trägersystemen für Kernwaffen ausschweigt. Ich wage die Vorhersage, daß die Weiterverbreitung von Technologien zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen eines der ganz großen Sicherheitsprobleme der nächsten Zukunft sein wird. Die Bundesregierung war auf dem Weg, das zu begreifen und den Export dieser Technologie wirksam zu unterbinden. Aber sie ist von ihrer eigenen Parlamentsmehrheit gestoppt worden. Ich möchte den traurigen Fall, daß das Parlament selbst einen Fortschritt in der Rüstungskontrollpolitik sabotiert hat, doch noch einmal in Erinnerung rufen.Meine Damen und Herren, die Hoffnungen vieler Menschen ruhen auf den Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle. Die Enttäuschung darüber wächst, daß die heute gegebenen Chancen und Möglichkeiten nicht energisch genug genutzt werden.
Es wächst auch die Sorge, daß sich das Fenster der Gelegenheit wieder schließen könnte. Die Zeit kann knapp werden, und wir wollen, daß sie genutzt wird.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Feldmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich schließe die Kollegen auf der Tribüne vom Abrüstungs- und Verteidigungsausschuß der DDR mit ein.
Mit dem Tempo der Veränderung in Europa kann, Herr Kollege Verheugen, der Abrüstungsbericht der Bundesregierung natürlich nicht Schritt halten. Das sollte uns eigentlich freuen. Ich verstehe nicht, warum Sie darüber lamentieren. Eigentlich sollten wir uns darüber freuen, daß dieser Abrüstungsbericht durch die Ereignisse überholt ist.Genauso überholt ist natürlich auch das von Ihnen angesprochene NATO-Gesamtkonzept für Abrüstung
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Dr. Feldmannund Rüstungskontrolle. Das sollte ja ein Programm der 90er Jahre werden. Herr Kollege Verheugen, Sie haben im wesentlichen zurückgeschaut und sich mit vielen zurückliegenden Punkten beschäftigt. Lassen Sie uns nach vorne sehen! Es ist absehbar, daß sich die nukleare Abschreckung bald überlebt haben wird. Die Risiken dieser Strategie sind schon heute durch nichts mehr zu rechtfertigen. Auch die Vorneverteidigung ist tot. Gegen wen sollten wir uns wo vorne verteidigen?Wir sollten den Blick wirklich nach vorne richten, Herr Kollege. Beide Bündnisse stehen vor der Aufgabe, ihre Strategien und Bewaffnungen, ihre Rolle und ihr Verhältnis zueinander neu zu bestimmen.
Die Chance für eine europäische Friedensordnung war noch nie so gut wie heute. Um sie zu nutzen, sind drastische Abrüstungsschritte nötig. Abrüstung ist auch der Hauptschlüssel für die Vollendung der deutschen Einheit.
In Wien geht es nicht mehr nur um Waffen. Es geht bereits um das Grundkonzept einer neuen europäischen kooperativen Sicherheitsstruktur, auch wenn das nicht direkt auf der Tagesordnung steht.Ein Erfolg in Wien ist aber nicht nur von der Sowjetunion abhängig. Die Ausgangslage der Verhandlungen hat sich eindeutig zugunsten des Westens verändert. Wir können und müssen die legitimen Sicherheitsinteressen der Sowjetunion stärker berücksichtigen. Dazu will ich hier ausdrücklich auffordern. Wir Deutschen sind gefordert, auch auf Grund unserer geographischen Lage, hier einen besonderen Beitrag zu leisten.
Deshalb muß im Verteidigungshaushalt 1991 ein deutliches Signal der Vertrauensbildung gesetzt werden.
— Ich freue mich, daß die Opposition hier voll zustimmt. — Die Veränderungen der Sicherheitslage müssen sich im Verteidigungshaushalt deutlich niederschlagen.
Vom Verteidigungshaushalt 1991 muß eine Botschaft drastischer Einsparung und eine Verringerung der Bundeswehrstärke ausgehen.
— Für das Protokoll: Beifall auf beiden Seiten de Hauses.
Auch der deutsche Verteidigungshaushalt 1991 bestimmt die Erfolgsaussichten in Wien, bei den Zweiplus-Vier-Verhandlungen und damit die Chancen dei deutschen Einheit. Der Kabinettsbeschluß vom 6. Dezember 1989, in dem der Friedensumfang festgeschrieben ist, ist nicht mehr zu halten.Die Bundeswehr muß jetzt den Schritt von der Präsenzarmee zur Ausbildungsarmee tun.
Kosteneinsparungen müssen jetzt, nicht erst zwischen 1993 und 1996 wirksam werden, wie sich der Verteidigungsminister das vorstellt. Die FDP fordert, jetzt die Verkürzung des Grundwehrdienstes auf zwölf Monate zu beschließen, damit sie zum 1. Januar 1991 in Kraft treten
und für 1991 — das ist der Punkt — haushaltswirksam werden kann. Die bereits dienenden Wehrpflichtigen müssen nach zwölf Monaten entlassen werden.
Und warum nicht auch Wahlfreiheit zwischen Grundwehrdienst und zivilem Ersatzdienst?
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Die deutsche Einheit und die europäische Einigung können nur gelingen, wenn die Sowjetunion nicht ausgegrenzt, sondern wirtschaftlich, technologisch und kulturell in Europa eingebunden wird. Die KSZE ist das richtige Forum, weil hier sowohl die USA als auch die Sowjetunion dabei sind. Der Vorschlag einer parlamentarischen Versammlung der Mitglieder beider Bündnisse ist gut. Dies wäre ein geeigneter parlamentarischer Unterbau für die KSZE.Auch Berlin als Sitz eines europäischen Konfliktschlichtungszentrums und eines Verifikationszentrums ist ein guter Vorschlag, um damit die deutsche Rolle beim Brückenschlag zwischen Ost und West und beim Zusammenwachsen Europas deutlich zu unterstreichen.Ich bedanke mich.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Beer.
Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Der Bericht vom November letzten Jahres, über den wir heute diskutieren sollen, ist nichts anderes als Altpapier. Die politische Entwicklung der letzten Monate in Europa ist über ihn hinweggegangen.
Er wäre eigentlich nur noch von zeitgeschichtlichem Interesse, wenn nicht das alte Denken, welches in ihm noch zum Ausdruck kommt, auch heute noch die Sicherheitspolitik der Bundesregierung bestimmte.Schon der Titel des Textes ist irreführend. Von Abrüstung ist in diesem Jahresabrüstungsbericht kaum die Rede. Über Abrüstung gibt es nämlich nichts zu berichten, weil die Bundesregierung bis heute nicht tatsächlich abrüsten will.
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17056 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Frau BeerDas gilt nicht nur für diesen Berichtszeitraum, sondern auch heute.
Hochtrabenden Abrüstungsversprechen folgen keine Abrüstungstaten; im Gegenteil, die Bundesrepublik wird gerade in diesem Jahr für 1991 wieder einen enormen Rüstungsrekordhaushalt verabschieden. An irrwitzigen Großprojekten wie dem Jäger 90 wird immer noch krampfhaft festgehalten.
In der NATO wird die Einführung neuer luftgestützter weitreichender nuklearer Abstandswaffen in Europa geplant, die der unmittelbaren Kompensation der durch den INF-Vertrag beseitigten Pershing II und Cruise Missiles dienen.Voraussagen, daß mit Abschluß dieses damals so hochgelobten Vertrages — ja auch von uns gelobt — ein goldenes Zeitalter der Abrüstung anbrechen würde,
haben sich gründlich blamiert. Statt der großspurig angekündigten Halbierung der strategischen Nuklearwaffenarsenale der USA und der UdSSR wird bei den START-Verhandlungen in Genf — und das wissen Sie sehr genau — nach mehr als acht Verhandlungsjahren allenfalls eine Reduzierung von 10 bis 30 % bei einem ersten Vertrag herauskommen.Ähnlich dürftig sind die bisherigen Ergebnisse der VKSE-Verhandlungen in Wien.
— Man erinnere sich trotzdem, daß gerade US-Präsident Bush im Mai letzten Jahres die sensationelle Ankündigung machte, daß es innerhalb von sechs bis zwölf Monaten zu einem substantiellen VKSE-Abkommen kommen werde. Diese Frist ist abgelaufen. Und welches Ergebnis werden wir zum Jahresende haben? Ein kümmerliches Ergebnis, allenfalls den Erfolg, daß man sich darauf einigt, eine Folgeverhandlung anzuschließen.Mit dieser Art Rüstungskontrollverhandlungen wie in Wien wird Abrüstung nicht betrieben, sondern hintertrieben. Ein deutlicher Beleg hierfür ist die Weigerung der Bundesregierung und der NATO, bereits in dieser Runde der Wiener Verhandlungen neben den Streitkräften der USA und der UdSSR in Europa auch die Streitkräfte anderer Staaten, insbesondere die der Bundeswehr selber, in Form der Begrenzung der Mannschaftsstärke einzubeziehen.Das bedeutet, daß die westliche Seite nicht gewillt ist, die angesichts des Anschlusses der DDR an die BRD für die UdSSR drängendste sicherheitspolitische Frage, nämlich die Stärke der deutschen Streitkräfte, einzubeziehen.
Während die UdSSR die von Gorbatschow in seiner UNO-Rede vom Dezember 1988 angekündigten weitgehenden einseitigen Abrüstungsschritte zügig realisiert, während sie ihren Rüstungshaushalt deutlich kürzt, die Rüstungsproduktion ebenfalls herunterfährt und ihre Streitkräfte aus den osteuropäischen Staaten zurückzieht und während die osteuropäischen Staaten selber ihre Truppen drastisch reduzieren, lassen entsprechende Schritte der NATO auf sich warten. Dabei wäre doch Aufgabe von Friedenspolitik im Westen, gerade heute durch eigene einseitige Abrüstungsschritte in den WVO-Staaten zu antworten und damit einen Abrüstungswettlauf voranzutreiben. Dessen Ergebnisse könnten und müßten natürlich völkerrechtlich verbindlich festgelegt werden.Forum hierfür können aber nicht überlebte Blockzu-Block-Verhandlungen wie z. B. VKSE in Wien, auch wenn es VKSE II ist, sein, sondern hierfür ist im Moment als einziges Forum die KSZE denkbar. Das setzt voraus, daß die KSZE endlich institutionalisiert wird, ohne daß darüber immer nur geredet wird, und mit der Beaufsichtigung der Abrüstung der Staaten in Europa betraut wird. Sie muß zur Grundlage einer neuen europäischen Friedensordnung werden und als solche WVO und NATO ersetzen. Die NATO ist auch für sogenannte Übergangszeiten bei weitem nicht geeignet, die Funktion einer neuen europäischen Friedensordnung zu übernehmen oder auch nur die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Ein Militärpakt, der sich nach wie vor in Gegnerschaft zur UdSSR definiert und diese ausklammern will, ist keine Friedensordnung. Ich behaupte: Ein Militärpakt kann keine Friedensordnung sein.
Wir GRÜNEN treten daher für die Auflösung auch der NATO ein. Friedenspolitisches Gebot der Stunde für die Bundesrepublik und Deutschland ist es im Gegensatz zu dem, was heute als Abrüstung deklariert wird, in diesem Prozeß mit einseitigen drastischen Abrüstungsmaßnahmen, zunächst natürlich auch im Rüstungshaushalt, voranzugehen, den NATO-Militärpakt zu verlassen, sich in ein europäisches System kollektiver Sicherheit einzuordnen, sich ihm unterzuordnen, schließlich vollständig abzurüsten und diese Entmilitarisierung international kontrollieren zu lassen.
Eine solche Politik würde tatsächlich den berechtigten Ängsten der Menschen der Nachbarvölker im Osten, aber auch im Westen vor der neuerstehenden Großmacht Deutschland — das ist sie nun einmal — gerecht und trüge insbesondere den sowjetischen Sicherheitsbedürfnissen mit Taten und nicht nur mit Worten, wie sie hier immer wieder groß verkündet werden, Rechnung.Daher werden wir als GRÜNE auch zukünftig mit der Friedensbewegung und der Kampagne zur Entmilitarisierung für eine Bundesrepublik — auch für ein wiedervereinigtes Deutschland — ohne Armee eintreten und dafür streiten.
Wenn Sie jetzt noch die bevorstehende Reduzierung der Grundwehrdienstzeit hier als Alibifunktion
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17057
Frau Beervor sich hertragen, ohne zuzugeben, daß das die Grundforderungen der GRÜNEN seit Jahren in diesem Parlament sind, dann kann ich nur sagen: Die einzige Antwort auf das, was hier betrieben und fehlinformiert wird, ist der Aufruf zur Kriegsdienstverweigerung gerade nach der Wiedervereinigung.Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Staatsminister Schäfer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich gestehe der Frau Präsidentin zu, auch ich war etwas verwirrt nach den Ausführungen von Frau Kollegin Beer; aber das gehört ja eigentlich hier auch schon zum Programm.
Herr Kollege Verheugen, ich bin selten polemisch, aber ich möchte doch noch etwas sagen. Ich habe so ein bißchen das Empfinden, daß Sonthofen inzwischen durch Saarbrücken ersetzt ist und das sich das jetzt auch in Horrorvisionen niederschlägt, die Sie hier ausbreiten.
Sie erweisen sich sehr frühzeitig, Herr Kollege Verheugen, schon als ein treuer Schildknappe des neuen Herrn; das ist sicher mit Interesse zur Kenntnis genommen worden.
— Natürlich nicht; aber ich darf das ja mal sagen: „Schildknappe" paßt auch zur heutigen Debatte; es war auffallend.
Es war schon sehr auffallend, was Sie hier alles an Befürchtungen — würdig einem sowjetischen Parlamentarier — vorgetragen haben, welche schrecklichen Folgen die Entwicklung haben könnte, die Sie hier beschrieben haben. Also, ich muß Ihnen nun wirklich mal sagen — der Kollege Bahr ist hier im Saal; er hat lange Jahre im Unterausschuß für Rüstungskontrolle und Abrüstung ein ganz gewichtiges Wort mitgesprochen — : Ich glaube, wenn man sich an die realen Entwicklungen hält, dann muß man doch wirklich zugeben, daß wir alle in diesem Unterausschuß — auch ich war ja früher Mitglied — nicht erwarten konnten und nicht erwartet haben, wie schnell sich diese Entwicklung ergeben hat.
Trotz der retardierenden Momente, die Sie einbringen, kann ich wirklich nur die Frage stellen: Was eigentlich wollen Sie denn noch mehr erreicht haben inzwischen, wie glauben Sie denn eigentlich, daß ein Gesamtkonzept — Sie kennen die Vorgeschichte, Herr Bahr — in harten Verhandlungen von 16 Staaten zustande gekommen ist? Es war eine mittlere Linie.
Sie ist letztlich unseren Vorstellungen gefolgt und ist inzwischen — da haben Sie völlig recht — auch durch die Entwicklung überholt worden. Also, ich frage mich nun wirklich, was denn eigentlich noch mehr in so kurzer Zeit hätte erreicht werden können . . .
Ich frage, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
... über das hinaus, was wir in wahrscheinlich sehr baldiger Zeit noch zusätzlich erreichen. Wir sollten über diese Fortschritte doch endlich einmal gemeinsam froh sein,
statt uns hier hinzustellen und permanent, liebe Frau Kollegin Beer, das übliche Gezeter zu veranstalten, das durch die Entwicklung überholt wird, so wie das Gezeter von vorgestern schon überholt worden ist.
Gestatten Sie, Herr Staatsminister, eine Frage des Abgeordneten Bahr? — Bitte schön.
Herr Kollege Schäfer, ich habe natürlich den Eindruck, daß Sie auch ein bißchen polemisieren, aber gegen etwas, was gar nicht polemisierungsfähig ist. Meine Frage ist: Ist die Feststellung, die Herr Kollege Verheugen über den Abrüstungsbericht der Bundesregierung, der hier eigentlich zur Debatte steht, getroffen hat, in irgendeinem Punkt nicht korrekt? Sind alle facts, die er gesagt hat, keine facts?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Bahr, ich habe mich nicht auf die Äußerungen des Herrn Kollegen Verheugen zu der Tatsache bezogen, daß natürlich ein Abrüstungsbericht, der ein halbes Jahr nach seiner Erstellung debattiert wird und sich auf das Jahr 1988 und die erste Hälfte von 1989 bezieht, überholt ist. Ich stimme da Herrn Verheugen zu. Aber was er im Hinblick auf die künftige angebliche Bedrohung eines vereinigten Deutschland in der NATO gesagt hat, dem kann ich nun beim besten Willen nicht folgen. Ich halte es auch für wirklich gefährlich, das hier so auszubreiten, als wüßte er nicht, welche Bemühungen im Gange sind, nämlich
in fast schon wöchentlichen Verhandlungen mit dem sowjetischen Außenminister eine Formel zu finden, die auch die Sowjetunion und eben auch durchaus die sowjetische Sicherheitsperspektive berücksichtigt. Wir sind doch dabei, das zu tun. Wir sollten es jetzt nicht schon wieder zerreden.
Meine Damen und Herren, es ist immer ein Problem, wenn man vom Text abweicht. Bei Reden, die im Auswärtigen Amt vorbereitet worden sind, ist es sehr schwer, sich noch an zeitliche Grenzen zu halten. Ich möchte deshalb in der freien Rede fortfahren, und ich hoffe, daß man mir im Auswärtigen Amt verzeihen
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17058 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Staatsminister Schäferwird, daß ich nicht alle Punkte, die mir hier aufgeschrieben worden sind, nenne.
— Das muß man dazusagen. Ich möchte auch nicht die Arbeit unserer Beamten geringschätzen, die sich hier so bemüht haben.Ich will noch einmal kurz sagen, daß das, was im Rahmen des Gesamtkonzepts der NATO im vergangenen Jahr angesprochen worden ist, inzwischen durch eine ganze Reihe von Entscheidungen sogar überholt worden ist, was Sie hier ja beklagt haben. Wir sind doch froh darüber, daß Präsident Bush inzwischen erklärt und entschieden hat, daß eine Modernisierung der nuklearen Kurzstreckenraketen und der nuklearen Artilleriemunition in Europa nicht zustande kommt.
Das war vor einem Jahr noch nicht so einfach. Auch Sie waren ja in Amerika und kennen die Debatten, auch die Debatten über den sogenannten Genscherismus, die damals geführt worden sind.
Sie erkennen heute, daß einige in Amerika erkannt haben, daß Herr Genscher mit seiner damaligen Politik nicht so falsch lag. Sie wird inzwischen vollzogen. Das müssen wir doch wohl als einen Fortschritt ansehen.Wir stimmen mit dem Präsidenten auch darin überein — das war ein Vorschlag der Bundesregierung, des Bundesaußenministers — , daß sofort, ohne Verzögerung nach Wien I mit den Verhandlungen über die Abschaffung der nuklearen Kurzstreckenraketen begonnen werden muß. Es gilt hier nicht, noch eine lange Folge zu erwarten, sondern es gilt, frühzeitig mit den Vorbereitungen für unsere Verhandlungen zu beginnen. Auch das ist sicher im Sinne aller Mitglieder des Unterausschusses für Abrüstung und Rüstungskontrolle mit Ausnahme von Frau Beer. Ich bin nicht sicher, ob sie Mitglied ist,
aber offensichtlich kannte sie die früheren Verhandlungen noch nicht.Meine Damen und Herren, was den sowjetischen Vorschlag betrifft, SNF-Verhandlungen in jedem Fall noch in diesem Herbst aufzunehmen, so ist das ebenfalls als ein positives Signal zu werten. Wir sollten hier doch nicht so tun, als wäre das schlecht. Im Gegenteil, wir empfinden die Ankündigung des sowjetischen Außenministers, die er gerade gemacht hat, eine begrenzte Zahl sowjetischer nuklearer Waffen aus Mitteleuropa abzuziehen und damit auch zum Abbau des dem Westen noch weit überlegenen sowjetischen Nuklearpotentials beizutragen, als eine weitere sehr positive Entwicklung, die wir außerordentlich begrüßen. Bei den Verhandlungen, die wir führen werden, wie es das Gesamtkonzept ja vorsah, kann auch in dieser Frage mit Sicherheit sehr schnell eine Einigung erzielt werden. Ich glaube auch, in Ost und West ist inzwischen völlig klar, daß die noch vorhandenen militärischen Potentiale kein Hemmschuh für die politische Entwicklung sein dürfen, die ja in vollem Gange ist. Das wird erkannt.Wenn — Herr Kollege Bahr, das wissen Sie so gut wie ich — die Sorgen, die gelegentlich im Westen noch zu hören sind, wir bestimmten dieses Tempo zu schnell, auch auf die Sorge über die innere Entwicklung in der Sowjetunion zurückzuführen sind, so muß man das bitte respektieren. Wir können das Tempo nicht allen unseren Freunden im Westen vorschreiben, aber unser Optimismus — auch über die weitere Entwicklung in der Sowjetunion — ist ungebrochen. Wir werden uns nicht irritieren lassen und nicht sagen: Weil da etwas schiefgehen kann, wollen wir mit den Verhandlungen so lange warten. Ich glaube, das ist nicht die Linie der Bundesregierung. Insofern brauchen Sie in gar keiner Weise die Sorge zu haben, wir hinkten hinter irgendeiner Entwicklung her. Im Gegenteil, wir gehen dieser Entwicklung voran, auch in Gesprächen mit der Sowjetunion.
Ein wichtiges Thema, das wir hier nicht aussparen sollten, ist natürlich auch der hoffentlich baldige Abschluß eines Chemiewaffenabkommens. Ich bin der Auffassung, daß auch hier in dem Gespräch zwischen Bush und Gorbatschow in Washington ganz wesentliche Fortschritte erzielt worden sind, daß das Abkommen, das getroffen worden ist, die Vereinbarung dieses Gipfeltreffens, eine ganz entschiedene Absage an eine weitere Chemierüstung enthält. Von der Opposition ist ja lange kritisiert worden, wir hätten zwar den Abzug der Chemiewaffen aus der Pfalz erreicht, aber wir hätten gleichzeitig zugestehen müssen, daß neue Waffen produziert würden. Genau das wird nicht der Fall sein. Man wird reduzieren.
— Entschuldigen Sie bitte. Ich habe Ihnen schon in den Reden damals gesagt, daß es für die Opposition einfach sei, zu sagen, wir dürften und könnten nichts zugestehen. Wir haben aber in Verhandlungen mit einer Weltmacht, die auf Grund von Abkommen hier über 40 Jahre lang Chemiewaffen stationiert hatte, erreicht, daß sie diese Waffen abzieht. Wir können eine Weltmacht nicht daran hindern, zu sagen, zu ihrem eigenen Zweck wolle sie noch Chemiewaffen produzieren, solange die andere Seite solche habe. Sie haben gesagt, Sie hätten mit den Amerikanern mehr erreichen können. Ich garantiere Ihnen, daß Sie das nicht erreicht hätten.Meine Damen und Herren, ich glaube, daß es, gerade was diese Chemiewaffenkonvention in Genf betrifft, noch großer Anstrengungen bedarf, daß sich die Situation zwischen den beiden Weltmächten aber verbessert hat, daß die Notwendigkeit der Produktion von Chemiewaffen auch vom amerikanischen Kongreß nicht mehr so gesehen wird wie noch vor einem Jahr.
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Staatsminister SchäferHerr Kollege Verheugen, ich will ja nicht nur polemisieren, sondern zu Ihnen, wie immer, auch positiv sagen: Natürlich teile ich Ihre Auffassung — diese Auffassung habe ich hier ja schon vielfach vertreten —, daß mit der Abschaffung der Chemiewaffen zwischen Ost und West und mit einer Beschränkung des Rüstungspotentials in Europa die Gefahren von Massenvernichtungswaffen an anderen Stellen der Welt nicht beseitigt seien. Ich halte es nämlich für ein bißchen zu optimistisch, wenn hier gelegentlich geglaubt wird, wenn wir in Europa weiterkämen und die beiden Weltmächte zu Resultaten kämen, dann sei damit schon sichergestellt, daß in anderen Teilen der Welt diese Waffen nicht beibehalten würden.
Wenn wir beispielsweise im Nahen Osten zu einer Friedensregelung kommen wollen, dann wird es sehr schwierig sein, uns bei unserer Kritik am Vorhandensein solcher Waffen nur auf einen oder zwei Staaten zu beziehen. Wir müssen, glaube ich, auch im Nahen Osten darauf drängen, daß es dort zum Beitritt zu den bestehenden internationalen Verträgen, zu Inspektionen, zu Kontrollen kommt; denn anderenfalls besteht vor der Haustür Europas die Gefahr, daß ein Krisengebiet in eine neue Krise hineinschlittert und dann Waffen vorhanden sind, die es früher nicht gab und die zu ganz gefährlichen Explosionen führen können, welche uns mit betreffen können. Ich kann uns nur alle davor warnen, diese Entwicklung in der Euphorie über die Entwicklung in Europa zu übersehen.
— Frau Kollegin Beer, diese Wahnvorstellung von Rüstungsexporten in irgendwelche Krisengebiete der Welt, die Sie vermuten, unterstellen oder behaupten, ist natürlich naiv.
Ich darf das zum hundertsten Mal hier sagen: Sie unterstellen uns Dinge, die unzutreffend sind.
Sie haben die Beweise dafür bis heute nicht geführt. Sie müssen sich mit den schwarzen Schafen auseinandersetzen, die es in jeder Industrie der Welt natürlich auch gibt. Das werden auch wir tun. Wir haben die Gesetze verschärft.
— Auch mit Zwischenrufen werden Sie nicht den Beweis für die unsinnige Behauptung führen können, daß wir jemals zu solchen Exporten in Krisengebiete der Dritten Welt beigetragen hätten. Das ist schlichtweg einfach Unsinn.
Sie sollten sich im Ausdruck mäßigen!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann nur sagen: Wer hier behauptet, wir exportierten Massenvernichtungsmittel in die Dritte Welt, lügt, aber nicht diejenigen, die hier stehen und Ihnen zum hundertsten Mal deutlich machen, daß das schlicht und einfach nicht wahr ist. Sie müssen damit aufhören!
Wenn es irgendwelche deutschen Techniker und irgendwelche deutschen Unternehmen gibt, die an solchen Dingen tatsächlich beteiligt sind, dann gibt es eine Strafverfolgung. Das wissen Sie genausogut wie ich.
— Meine Damen und Herren, der Versuch, die Erfolge der Bundesregierung im Hinblick auf Abrüstung und Entspannung hier durch Zwischenrufe mit dem Hinweis auf angebliche Nuklearexporte in die Dritte Welt
ad absurdum führen zu wollen, wird genau so scheitern wie Ihre Unterstellung, die Sie heute ebenfalls zum hundertsten Mal vorgetragen haben, daß wir an Fortschritten in der Entspannung nicht interessiert seien.
Sie scheinen an der Entwicklung völlig vorbeizulaufen. Ich kann nur sagen: Warten Sie den nächsten Abrüstungsbericht ab; Sie werden staunen, wieviel dann noch zusätzlich erreicht worden ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Soell.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einige Bemerkungen zu Herrn Staatssekretär und Kollegen Schäfer.Herr Kollege Schäfer, es hat — das haben im Westen offenbar viele nicht beachtet — im Osten eine Revolution gegeben. Hier gibt es nur Reaktionen ganz unterschiedlicher Art und solche, die versuchen, all das, was bisher in den Köpfen war, eben fortzusetzen.Sie sagen: Man kann nicht immer alles machen, und dabei ist inzwischen erst ein Jahr verflossen. Inzwischen muten wir z. B. der Politik in der DDR zu, daß sie alles — mit sehr viel schlechteren organisatorischen und technischen Voraussetzungen, als wir das hier haben — gleichzeitig tut. Sicherlich liegt es nicht nur an der Bundesregierung. Aber es liegt auch an der Bundesregierung. Dieser Bericht, Herr Kollege Feldmann, war ja auch für Sie nicht ausreichend, als wir
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Dr. Soellihn im Ausschuß in Kurzform diskutierten. Sie haben gesagt, daß bis zum Sommer zumindest ein Ergänzungsbericht vorgelegt werden sollte. Daran möchte ich Sie erinnern.
Wir werden jedenfalls unsere Forderungen an diesem Bericht messen.Wenn ich überlege — jetzt will ich in den Bericht einsteigen —, was da alles fehlt — auch wenn bestimmte Zitate oder Verweise auf den Harmel-Bericht von 1967 einmal nützlich gewesen sein mögen — , so muß ich sagen: Inzwischen ist er überholt. Die Grundsätze, die dort niedergelegt worden sind, sind überholt. Ich zitiere:Auf absehbare Zeit erfordert die Abschreckung eine geeignete Zusammensetzung angemessener und wirksamer nuklearer und konventioneller Streitkräfte, die weiterhin auf dem gebotenen Stand gehalten werden, wo dies erforderlich ist. Die Anwesenheit bedeutender konventioneller und nuklearer Streitkräfte der nordamerikanischen Bündnispartner in Europa ist unverzichtbare Voraussetzung unserer Sicherheit.Das ist der Stand. Ich muß allerdings sagen: Inzwischen werden die friedensvertragliche Regelung mit Deutschland und der Aufbau gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen nicht nur die Ausdehnung von NATO-Territorium auf das Gebiet der heutigen DDR bedeuten, und es ist auch nicht mit einigen Minikonzessionen an den sowjetischen Partner in Richtung auf europäische Sicherheitsstrukturen getan, sondern durch die friedensvertragliche Regelung wird sich das Gesamtfeld verändern müssen, wenn wir hier nicht in ganz neue Schwierigkeiten kommen wollen. Wir müssen aus diesem Drohfrieden mit seinen alarmierenden Hochreizungszuständen einfach herauskommen.
Selbst beim Pentagon haben sich inzwischen die Warnzeiten nicht um Tage, sondern um Wochen verändert. Dies gilt auf Grund der Situation, daß es praktisch nur noch Restbestände der militärischen Zusammenarbeit des Warschauer Pakts trotz der Präsenz sowjetischer Truppen gibt.Wenn in diesem Bericht von dem „großen Ziel einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung in Europa" die Rede ist, dann ist doch klar, daß wir zumindest theoretisch diesem Ziel näher sind, als wir es vor einem Jahr hoffen konnten. Nur laufen die militärischen Planungen weiter, obwohl die Bundesrepublik mit das größte Interesse daran haben muß, daß dieser hohe Rüstungsstand vermindert wird. Wir haben auf unserem Territorium — zumindest auf dem Papier — über 1,5 Millionen Soldaten. Der Verteidigungshaushalt — so, wie er bisher in der Presse für 1991 bekannt ist — ist auf 53,8 Milliarden DM festgelegt worden.
— Ja, warten Sie ab. Wir haben Erfahrungen — ge-rade mit Ihnen von der FDP — , was bestimmte Reduzierungen angeht. Wir werden Sie dann fordern, wenn es darauf bei den Haushaltsberatungen im September und im Oktober nächsten Jahres ankommt.Ich möchte ein weiteres Beispiel nennen: die Tiefflugübungen. Sie gehen gerade in diesen Tagen und morgen und übermorgen noch weiter. Denken Sie z. B. an das NATO-Luftmanöver „Center Enterprise". Ich komme aus der Rhein-Neckar-Region — dort habe ich auch meinen Wahlkreis — , wo die höchste Konzentration von Kernkraftwerken in ganz Europa ist. Die Flugzeugführer achten vielleicht diesen schmalen Sicherheitsabstand, obwohl auch dieser nicht gewährleistet ist. Aber dieser Abstand ist lächerlich. Dafür, daß die Bevölkerung dort heute erregt und voller Wut ist und sagt, die Piloten wollen hier offensichtlich noch einmal sozusagen mit einem großen Knall von der bisherigen Zeit des Rüstungshochstandes abtreten, habe ich volles Verständnis. Dies muß wirklich abgestellt werden. Wir müssen Signale geben, sonst gibt es auch in der Bevölkerung einen ganz tiefen Einbruch in der psychologischen Situation.
Es muß auch da friedenspolitisch ein Zeichen gesetzt werden. In diesem Bereich haben wir die Möglichkeit, dies leicht zu überwachen. Hier können wir als wichtige vertrauensbildende Maßnahme etwas mit der anderen Seite verabreden, so daß der Tiefflug in den nächsten zwei bis drei Jahren abgestellt wird. Da bräuchte man keine langen Verhandlungen. Das ist leicht zu kontrollieren.Lassen Sie mich nun etwas zu dem Problem in bezug auf den Zusammenhang der Wiener Verhandlungen und den Zwei-plus-Vier-Gesprächen sagen. Es ist klar, daß die Sowjetunion mit einem endgültigen Abschluß des ersten Wiener Abkommens über konventionelle Truppenreduzierung zögert, solange sie nicht weiß, wie der Friedensumfang künftiger deutscher Streitkräfte aussieht. Die SPD hat heute den Vorschlag gemacht, als Obergrenze für die Streitkräfte beider deutscher Staaten die Zahl von 300 000 Mann festzuhalten. Dies würde nicht nur die Halbierung der jetzigen Streitkräfte bedeuten, sondern dies ließe sich nach der Hinlänglichkeitsregel auch noch ohne weiteres in den bisherigen Entwurf des Vertragswerks einbauen und würde diesen Vertrag und auch die Atmosphäre für einen zweiten Vertrag natürlich entscheidend befördern.Das hätte natürlich auch Folgen für die Reduzierung der Wehrpflicht. Wir haben schon einmal den Antrag eingebracht, die Wehrpflicht auf 12 Monate zu reduzieren. Die FDP hat damals nicht zugestimmt.
Ich bin gespannt, wie Sie dann stimmen werden, wenn wir das im Herbst wieder tun.Dies wird auch seine Auswirkung haben auf die ausländischen Streitkräfte auf deutschem Territorium, und zwar nicht nur auf den Umfang, sondern auch auf die Qualität.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17061
Dr. SoellDer amerikanische Senator Sam Nunn hat schon angedeutet — diese Stimmung im Kongreß müssen wir unterstützen —, daß nicht 195 000 Mann für die US-Streitkräfte auf deutschem Boden das Richtmaß sind, sondern erheblich weniger, 100 000 und weniger. Wir müßten auch ein Interesse daran haben, daß solche Stimmungen zunehmen, daß sie in ein zweites Abkommen mit eingebracht werden.Wie gesagt: Wir sollten im Vorgriff auf ein solches Abkommen, um die Zwei-plus-Vier-Gespräche voranzubringen, unsere Erklärung zum Gesamtumfang gesamtdeutscher Streitkräfte abgeben. Jedenfalls bekämen dann alle Truppen, deutsche wie ausländische Truppen auf deutschem Boden, einen ganz anderen Charakter. Sie wären dann nicht mehr in erster Linie Abschreckungsstreitkräfte, sondern sie wären Kontrolleure des Abrüstungsprozesses und würden dadurch ganz neue Chancen eröffnen.Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu einem Thema machen, das vorher auch schon im Auswärtigen Ausschuß im Gespräch mit dem Bundeskanzler eine Rolle gespielt hat. — In dem Bericht wird die Westeuropäische Union sehr hoch gelobt, nur wird hier offensichtlich ein ziemlicher Nebel über die Zukunft der Westeuropäischen Union gelegt. Man kann sich durchaus andere Organisationsformen zur sicherheitspolitischen Identität Westeuropas vorstellen als die Westeuropäische Union. Nur muß man wissen, was man da tut. Jedenfalls hat die Westeuropäische Union in dem, was bisher die Parlamentarische Versammlung dort geliefert hat, nämlich mit der Forderung nach einer europäischen Satellitenagentur, die Möglichkeit eröffnet, daß es eigenständige europäische Verifikationsmittel gibt, zu denen wir natürlich auch die mittelosteuropäischen Staaten hinzubitten, so daß sie die Ergebnisse mit kontrollieren und mit verfolgen können. Dies würde jedenfalls diesem ganzen Prozeß zusätzlich Auftrieb geben, und dazu wäre die WEU ein geeigneter Rahmen. Nur müßten sich die Regierungen endlich dazu entschließen.Letzter Punkt. Die Vereinten Nationen werden in ihrer friedenspolitischen Aktivität wichtiger. Es wäre sinnvoller, das Gesamte, was an friedenspolitischer Aktivität notwendig ist, tatsächlich auch in einem künftigen friedenspolitischen Bericht pro Jahr festzustellen und dann hier darüber zu diskutieren. Das ginge über das Feld der Abrüstung in unmittelbarem Sinn hinaus und würde die Gesamtthematik sehr viel stärker in den Blick bringen, und das hielte ich für sinnvoll.Schönen Dank für die Aufmerksamkeit und die Geduld.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 11/5620 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Ist das Haus
damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch Ihre Zustimmung zu einer Geschäftsordnungsfrage erbitten. Der Abgeordnete Conradi hat seinen Debattenbeitrag zu dem Tagesordnungspunkt 9 a, b wegen der Nichtanwesenheit des Staatssekretärs — so bin ich unterrichtet worden — hier nicht halten können. Ich möchte formal um die Zustimmung dafür bitten, daß der Debattenbeitrag, der vorgesehen war, zu Protokoll gegeben werden kann. — Da das Haus damit einverstanden ist, darf ich dies als beschlossen feststellen.*)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Conradi, Duve, Dr. Penner, Bernrath, Dr. Böhme , Egert, Dr. Götte, Hämmerle, Müller (Düsseldorf), Odendahl, Schmidt (Nürnberg), Schmidt (Salzgitter), Sieler, Dr. Soell, Toetemeyer, Wartenberg (Berlin), Weiler, Weisskirchen (Wiesloch), Weyel, Wiefelspütz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
DDR-Mitwirkung an Planungen zum Deutschen Historischen Museum
— Drucksache 11/6593 —
Der Ältestenrat hat Ihnen den folgenden Vorschlag gemacht: 30 Minuten soll die Debatte dauern. — Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich kann nunmehr zu diesem Tagesordnungspunkt dem Abgeordneten Conradi das Wort erteilen. Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Fraktion wendet sich mit diesem Antrag an die Koalitionsfraktionen und an die Bundesregierung, mit der Bitte, das Projekt des Deutschen Historischen Museums noch einmal zu überdenken und den Entwicklungen anzupassen. Wir stellen das Deutsche Historische Museum nicht in Frage — im Gegenteil, wir wollen, daß dieses Projekt zustande kommt — , aber wir meinen, die deutsche Entwicklung ist in den letzten Wochen und Monaten schneller gegangen, als wir alle das erwartet haben. Deshalb ist es keine Schande und keine Frage des Prestiges, wenn wir Sie bitten, unter diesen Umständen das Projekt noch einmal zu überdenken und es nicht länger als eine Privatsache des Bundeskanzlers zu behandeln.Warum ist die Bundesregierung eigentlich nicht bereit, mit den demokratisch legitimierten Stellen der DDR, mit Museumsfachleuten aus beiden deutschen Staaten eine gemeinsame Konzeption für das Deutsche Historische Museum und das historische Museum der DDR zu erarbeiten und vorzulegen? Es geht nicht nur um ein Konzept für das Deutsche Historische Museum und das historische Museum der DDR. Eigentlich brauchen wir von der Bundesregierung in den nächsten Monaten ein Gesamtkonzept für die Museumslandschaft in Berlin: Was kostet das alles? Wer soll das tragen? Wie werden die Länder beteiligt? Wir können doch nicht einen Museumsbau vorziehen, solange nicht ein Gesamtkonzept vorliegt.*) Anlage 2
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17062 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
ConradiWir meinen, bei dem Deutschen Historischen Museum bietet sich eine Zusammenarbeit mit dem deutschen historischen Museum Unter den Linden im alten Zeughaus an.
— Museum für Deutsche Geschichte, danke. — Das wäre auch als Interimsbau für das DHM geeignet; es ist genug Platz, um dort einzuziehen. Man muß wohl einiges umbauen. Es könnte eine Arbeitsteilung geben: im alten Gebäude vor allem Sammlungen und ein Teil der Ausstellungen, im neuen Gebäude, was nun gebaut werden soll, vor allem Diskussion, große Ausstellungen, Seminare, Kongresse, die Auseinandersetzung mit Geschichte.Wir bitten Sie, mit uns die Bundesregierung aufzufordern, eine neue gemeinsame Konzeption zu entwickeln. Es wäre doch absurd, würden wir ausgerechnet ein historisches Museum aus der geschichtlichpolitischen Situation von 1988 jetzt, zwei Jahre später, so weiterplanen und bauen, als sei in der Zwischenzeit nichts geschehen.
Der Bundeskanzler beschwört gerne die historische Tragweite dieser Monate. Bei diesem Projekt könnte er beweisen, daß er von Geschichte etwas versteht.Seine Antwort an den Regierenden Bürgermeister von Berlin ist bezeichnend. Da heißt es — ich zitiere aus dem Brief des Bundeskanzlers — :So ist es auch denkbar, daß geeignete DDR-Stellen zu einem späteren Zeitpunkt an den Verhandlungen über die endgültige Trägerschaft beteiligt werden.Das ist der herablassend selbstgefällige Umgang mit der DDR. So geht man nicht mit den vielbeschworenen „Brüdern und Schwestern im deutschen Vaterland" um, die der Bundeskanzler sonst so gerne zitiert.Der Bundeskanzler beruft sich in seinem Brief darauf, der Generaldirektor der staatlichen Museen der DDR habe die Konzeption des DHM begrüßt. Ein eigenartiger Zeuge! Ausgerechnet auf die Zustimmung eines Museumfachmanns, der jahrelang an der sehr einseitigen Darstellung deutscher Geschichte in dem Museum Unter den Linden mitgewirkt hat, beruft sich der Bundeskanzler; ausgerechnet auf diese Zustimmung wird hier verwiesen. Diese Leute bangen doch um ihre Zukunft. Deswegen sind sie als Zeugen für dieses Projekt nicht eben glaubwürdig.Es geht im übrigen auch um die Geschichte der DDR. Wir können die Geschichte der DDR nicht stellvertretend für die DDR festhalten, nach dem Motto: Die Sieger schreiben die Geschichte. Wir sind nicht die Sieger, auch wenn sich einige aus dem Westen in der DDR wie Besatzer aufführen. Wir brauchen für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte auch die kritische Mitarbeit der DDR-Bürger und die selbstkritische Mitarbeit der DDR-Historiker.Was für die Konzeption gilt, gilt auch für den Standort. Der Standort am Reichstag muß von den Verantwortlichen in beiden Teilen Berlins gemeinsam überprüft werden. Es wäre fahrlässig, Herr Kollege Lüder, diesen wichtigen Standort jetzt ohne ein Gesamtkonzept, das die Notwendigkeiten von Parlament und Regierung berücksichtigt, mit einem Museum zu bebauen. Gerade diejenigen unter uns, die sich ganz entschieden dafür einsetzen, daß Berlin wieder deutsche Hauptstadt wird — einige davon machen das allerdings in einem naßforschen Hopplahopp-Ton, der der Sache Berlins nicht unbedingt förderlich ist —, müssen jetzt dafür sorgen, daß vor dem Reichstag nicht unumstößliche Fakten für die zukünftige Bebauung mit Parlament und Regierungsbauten gesetzt werden.Berlin wird auch eine große städtebauliche und politische Aufgabe, an der sich die Demokratie als Bauherr bewähren muß und — ich hoffe — besser bewähren wird als bei den Bundestagsbauten.Deshalb sollten die Verantwortlichen in ganz Berlin die Standortfrage prüfen, auch unter Berücksichtigung der drei Anhörungen des Senats zum DHM. Die Bundesregierung hat bezeichnenderweise ihren Behörden die Teilnahme an diesen Anhörungen des Senats von Berlin verboten.
— Aber das zeigt die Gesinnung dieser Regierung; es zeigt ein Maß an Obrigkeitsstaat: Die Regierung weist an, und die Beamten der Regierungsstellen kommen nicht zu einer Anhörung des Senats von Berlin.
Das ist der deutsche Obrigkeitsstaat, den wir in diesem Deutschen Historischen Museum vielleicht als musealen Fakt sehen wollen, aber sicher nicht als Gegenwart.Zur Architektur des Deutschen Historischen Museums habe ich hier schon früher Kritisches gesagt. Meine Kritik ist inzwischen von zahlreichen Architekturkritikern bestätigt worden. Ich fürchte heute mehr als früher, daß diese Architektur einer — Zitat — „Kathedrale der deutschen Geschichte" die falsche Antwort auf diese Aufgabe ist.
Was da geplant ist, das wird so weihevoll großdeutsch, pompös, rechthaberisch-protzig und genauso, wie unsere europäischen Nachbarn uns nicht haben wollen und uns nicht schätzen.Deshalb schlagen wir Ihnen vor: Trennen Sie den Aufbau des Deutschen Historischen Museums, dem wir zustimmen und den wir wollen, vom Neubau für das Deutsche Historische Museum! Unterbrechen Sie die Planung! Suchen Sie mit dem Berliner Senat nach einer großzügigen Interimslösung — ich meine, am besten Unter den Linden im alten Zeughaus — , damit das Deutsche Historische Museum in den sechs, acht oder zehn Jahren, die es ja bis zur Fertigstellung eines Neubaus arbeiten muß, eine vernünftige Bleibe hat! Selbst wenn jetzt sofort weitergeplant würde, so wie Sie und der Bundeskanzler es bisher wollten, dauert es mindestens acht Jahre, bis sie da einziehen können, und für diese acht Jahre können Sie doch die Leute
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17063
Conradinicht resignieren lassen und nicht irgendwo in irgendwelchen Schuppen unterbringen. Sie müssen vielmehr für eine menschenwürdige und vernünftige Interimslösung sorgen. So ein Interim ist keine Nebensache. Da sind Leute, die dort arbeiten. Sie werden vielleicht nie in dem Neubau arbeiten. Da kann man nicht sagen, in acht oder zehn Jahren werde es dann gut, sondern man muß dieser Institution jetzt zu einer guten Arbeitsmöglichkeit verhelfen. Das sollten Sie mit dem Senat von Berlin gemeinsam tun, und Sie sollten dann die Frage des Neubaus auf dem Reichstagsgelände überprüfen. Ich glaube, wir sollten zu dem Schluß kommen, dort nicht und so nicht zu bauen. Die Regierung sagt bis jetzt anderes. Wir hoffen, daß sie darüber nachdenkt.Wir meinen — das sagt unser Antrag —, sie soll uns bis zum 1. Oktober dieses Jahres über ihre Aktivitäten berichten. Wenn sie uns ein Gesamtkonzept für den Museumsbereich in Berlin insgesamt vorlegt, dann wollen wir ihr auch mehr Zeit geben; denn das kann man in den verbleibenden drei Monaten nicht tun, dazu braucht man sicher ein Jahr. Aber dann soll sie die Planung des DHM solange unterbrechen.Wir meinen, das Projekt des Deutschen Historischen Museums ist ein schönes, gutes Projekt. Es soll aber in seiner Konzeption, in seinem Standort und mit seiner Architektur nicht im Gestern steckenbleiben, sondern auf das Morgen eines neuen gemeinsamen Deutschlands hinweisen.
Das Wort hat der Abgeordnete Neumann.
Herr Präsident! Verehrter Herr Kollege Conradi, wir dürfen hier keine Begriffsverwirrung vornehmen. Beim Deutschen Historischen Museum geht es im Prinzip darum, die gesamten wichtigen Epochen deutscher Geschichte zu dokumentieren. An dieser Zielsetzung hat sich auch durch die Ereignisse am 9. November überhaupt nichts geändert. Also, hier nun den Eindruck zu erwecken, daß sich durch die Tatsache des Umsturzes des dortigen Regimes der eigentliche Auftrag des Deutschen Historischen Museums geändert habe, ist falsch. Das ist nicht die Aufgabe. Das heißt, dadurch ist kein neuer Fakt entstanden.Wenn Sie mit Ihrem Antrag bezwecken wollen, daß die DDR an der weiteren Planung des Deutschen Historischen Museums mitwirkt, ist das etwas anderes; ich komme gleich darauf. Dazu sage ich ein uneingeschränktes Ja.
— Herr Kollege Duve, ich habe nur fünf Minuten zur Verfügung.
— Weil man mit Ihnen großzügiger umgeht. Ich muß mir die Redezeit immer mit der Regierung teilen. Siehaben in dem Falle den Vorteil, daß Sie sich nicht darin befinden.
Aber ich möchte deshalb nicht gerne tauschen.Der zweite Punkt. Verehrter Herr Conradi, Sie sollten dies hier auch nicht als neuen Aufhänger nehmen. Ihre Bedenken gegen die Planungen, den Standort wie auch die Architektur des geplanten Deutschen Historischen Museums waren von vornherein bekannt; die haben Sie mehrfach geäußert. Das hat auch nicht unmittelbar etwas mit dem 9. November zu tun. Deshalb will ich darauf auch nicht näher eingehen.Richtig ist, daß Konzeption, Standort und Architektur auf breitester Grundlage diskutiert wurden, unter Beteiligung aller Bundesländer mit großem Konsens entschieden worden sind und wir im Prinzip erst einmal keinen Grund sehen, davon abzugehen.Das Land Berlin und die Bundesrepublik haben vertragliche Vereinbarungen getroffen. Wir als CDU/ CSU stehen nach wie vor dazu. Es liegt ja auch ein Schreiben — ein erfreuliches Schreiben aus unserer Sicht — des Regierenden Bürgermeisters Momper vom 21. Dezember 1989 vor, in dem er prinzipiell die Konzeption nicht in Frage stellt, gegen das als Standort des Museums vertraglich vereinbarte Gelände im Spreebogen keine ernsthaften Einwände hat, ja, noch nicht einmal Alternativen vorschlägt — bis auf die eine, die er dann selbst in Frage stellt — , und in dem er formuliert — der Herr Momper, Ihr Parteifreund —, hinsichtlich der Gestaltung des Museums ensprechend dem Rossi-Entwurf sähe er keine unüberwindlichen Hindernisse; er schlage vor, die gesamte Thematik zu versachlichen — das begrüßen wir —, und er möchte einen weiteren Streit um dieses Objekt vermeiden. — Das sehen wir auch so.Selbstverständlich, Herr Kollege Conradi, ist die DDR in die Beratung und Planung beim Aufbau des Deutschen Historischen Museums einzubeziehen. Wenn das die Intention Ihres Antrages ist, ist er unstrittig; einmal ganz abgesehen davon, daß er auch schon bald wieder überholt sein wird, denn ab dem nächsten Jahr werden die Kollegen ohnehin automatisch in einem gemeinsamen Deutschen Bundestag, in einem nationalen Parlament, mitwirken. Deshalb stellt sich dann die Frage nicht. Wahrscheinlich noch viel früher, Herr Kollege Lüder, wird es in Berlin eine gemeinsame Landesregierung geben, so daß sich das Thema dann so auch nicht stellt und damit die automatische Mitwirkung gegeben ist, die wir aber ab sofort begrüßen und unterstützen. Sie wissen wahrscheinlich auch, daß es schon Querverbindungen zwischen den Verantwortlichen drüben und hüben gibt. Das halten wir für richtig.Meine Damen und Herren, das Museum für Deutsche Geschichte in Ost-Berlin, im Zeughaus, ist natürlich auch in diese Kooperation einzubeziehen. Ich stimme Ihnen zu. Eines muß allerdings klar sein: daß dieses Museum, also dieses Museum für Deutsche Geschichte in Ost-Berlin, das geplante Deutsche Historische Museum in seiner Zielsetzung in keiner Weise ersetzen kann. Sie wissen, daß dies ein reiner Agitprop-Laden der Machthaber drüben war, daß es
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17064 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Neumann
im Gegensatz zu anderen Museen direkt dem ZK der SED unterstand, daß das Haus durchgehend einen klassenkämpferischen Charakter hatte und deshalb von seinen inhaltlichen Zielsetzungen her das überhaupt nicht erbringen kann, was wir mit dem Deutschen Historischen Museum wollen. Dennoch braucht man dieses Museum nicht ersatzlos zu streichen, sondern man könnte es in eingeschränktem Umfang als Darstellung eines Teils deutscher Wirklichkeit nach 1945 bestehen lassen. Von daher könnte es sogar in die Konzeption des Deutschen Historischen Museums eingebunden werden. Meine Damen und Herren, Sie haben vorgeschlagen, zu überprüfen, ob nicht das Team von Professor Stölzl, das jetzt schon mit mehr als 60 Mitarbeitern Aufbauarbeit leistet, mindestens als Provisorium im jetzigen Zeughaus in Ost-Berlin seine Arbeit leisten könnte, zumal da Ausstellungsfläche vorhanden ist. Ich stimme diesem Prüfungsauftrag zu. Ich halte das ebenfalls für vernünftig. Selbst wenn wir jetzt sofort mit der vorbereitenden Bauplanung und dann mit dem Bau anfangen würden, würde es bis 2000 dauern, bis dieses Deutsche Historische Museum seine Pforten öffnen könnte. Von daher halte ich es in der Tat für überlegenswert, ob man nicht die Räumlichkeiten des Zeughauses nutzen sollte, um dort dem jetzigen sehr engagierten Team eine vernünftige Arbeitsfläche zu bieten. Wenn wir uns darin einig sind, ist das schon eine ganze Menge.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun erteile ich der Abgeordneten Frau Teubner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Seit dem 9. November sind in Berlin Politik und Menschen in Bewegung geraten. Geschichte wird vorwiegend auf der Straße gemacht — auch und gerade an dem vorgesehenen Ort des Projektes, über das wir heute reden. Nur wenige Meter, ein paar Schritte davon entfernt, fand und findet Geschichte statt, wie sie vor acht Monaten niemand zu träumen gewagt hätte. Nur wenige Wochen noch, und die Mauer wird abgeräumt sein; über den Todesstreifen wird Gras wachsen. Abgerissen und abgeräumt sein werden die letzten optisch sichtbaren Dokumente der Teilung, die auch mahnend-erinnernde Dokumente der Tatsache sind, daß Deutschland den Krieg verloren hat, den es begonnen hat.Schlimm genug, daß schon so viel Gras über andere Plätze solcher Erinnerung dort im Zentrum Berlins gewachsen ist; schlimm genug, daß die Tausende von Menschen, die täglich dort entlangschlendern, nirgends, aber wirklich nirgends einen auch noch so kleinen, aber auffälligen Hinweis finden: „Hier war der Volksgerichtshof." — „Hier war die Reichskanzlei. " Schlimm genug, daß der größte deutsche Rüstungskonzern sich anschickt, auf dem Brachland schräg gegenüber dem ehemaligen Reichsluftfahrtministerium eine neue Dienstleistungszentrale zu errichten.„Der Ort ist das Museum", schrieben zwei Architekten zu ihrem Wettbewerbsentwurf für das Gelände auf dem Spreebogen, das sich Herr Kohl für sein Geschichtspalastgeschenk an die Stadt Berlin ausgeguckt hat.
— Das war Herr Kohl mit der großen Geste, aus dem Reichstag blickend.„Der Ort ist das Museum", unter dieser Überschrift hieß es in der „Zeit" vom 5. Mai 1989:Ein Rest der Weltgeschichte, historisches Brachland.. .Hier, genau hier, im Bogen der Spree, sollte Speers „Große Halle" stehen, 290 Meter hoch, 180 000 Volksgenossen sollten in ihr Platz finden... Hier ist der wahnsinnigste, der negativste Fluchtpunkt der deutschen Geschichte. Ein merkwürdiger Ort, in jeder Hinsicht.— Auch wenn man sich heute dort hinbegibt. —... Wir schützen Landschaften, wir präparieren Kulturdenkmäler gegen sauren Regen und Touristen-Trampelei. Warum kann dieser Ort, dieses Soziotop unserer gescheiterten Geschichte— nicht geschützt werden —— so wie der Hügel von Delphi, die Innenstadt von Siena und der Wald von Verdun?Auch wenn es inzwischen wie eine Floskel klingt: Wir leben in historisch außergewöhnlichen Zeiten, und da sollte man ausgerechnet bei einem Museum für deutsche Geschichte nicht eine Atempause machen und auch darüber nochmals nachdenken? Das ist das eine: daß die Wahl dieses Standorts immer noch hochproblematisch ist und bleibt.Das andere ist die Frage nach der Konzeption eines solchen Projekts. Die wird in dem Antrag der SPD nicht aufgeworfen, obwohl — ich habe es wohlwollend zur Kenntnis genommen — Herr Conradi auch dazu etwas gesagt hat. Ich erinnere allerdings daran, daß es im Berliner Wahlprogramm der SPD einmal geheißen hat, ein solches Museum sei schlicht „überflüssig". Aber wir nehmen zur Kenntnis, daß hier eine Wende erfolgt ist.Das wesentliche Anliegen des Antrags ist, heute die fälligen Konsequenzen daraus zu ziehen, daß wir bzw. West-Berlin oder gar Herr Kohl allein nach dem 9. November nicht länger befugt sind, derartige Pläne ohne Beteiligung der DDR weiterzuverfolgen. Wie sagte der Kanzler bei der feierlichen Enthüllung der Stiftungstafel für das Museum am 28. Oktober 1987?... ein solches Vorhaben ... bedarf einer sorgfältig erarbeiteten Konzeption, es bedarf genauester Vorbereitung durch hervorragende Fachleute sowie einer breiten — und auch kritischen — Erörterung in der Öffentlichkeit.Zu diesen Fachleuten und dieser Öffentlichkeit haben selbstverständlich auch diejenigen zu gehören, denen eine Beteiligung bisher bzw. vor dem 9. November versagt war. Und bis dahin müssen nicht nur, wie es im Antrag heißt, die Bauplanungen unterbrochen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17065
Frau Teubnerwerden, sondern sämtliche Aktivitäten, die hier eine Trennung festschreiben könnten und verhindern könnten, daß das Phantom der Rossi-Geschichtsoper am Spreebogen eventuell doch zugunsten eines gemeinsamen Projekts aufgegeben wird. Ich denke, so viel Ehrlichkeit im Umgang miteinander, so viel Offenheit muß einfach möglich sein: die Offenheit, daß der Ort so, wie er jetzt ist, Museum bleibt; die Offenheit, jetzt nachzuholen, was bisher versäumt wurde, nämlich die Berlinerinnen und Berliner selbst zu fragen, ob sie dieses Geschenk überhaupt haben wollen; und die Offenheit gegenüber der Tatsache, daß es ein Museum für deutsche Geschichte bereits gibt,
dessen Konzeption man sicher überdenken muß, das man aber in die Überlegungen einbeziehen muß, die von der SPD angeregt werden. Insofern begrüßen wir diesen Antrag.
Das Wort hat der Abgeordnete Lüder.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Teubner, ich stimme Ihnen in einem Punkt zu: Die Errichtung des Deutschen Historischen Museums muß in Berlin erfolgen; denn Berlin bleibt auch und gerade nach der Vereinigung Deutschlands der richtige Standort für dieses Museum.
In der Begründung allerdings unterscheiden wir uns sehr. In keiner Stadt sonst in Deutschland können die Vielfalt und die Komplexität der deutschen Geschichte so überzeugend dargelegt werden wie in Berlin.
Wir können das nicht so einseitig darlegen, wie das hier bei Ihnen herauskam.
Ich erinnere nur daran, daß in dieser Stadt nach dem Sturz des Kaiserreichs die deutsche Demokratie gewagt wurde,
daß in Berlin der erste Versuch zu einer gesamtdeutschen Demokratie gewagt wurde, aber auch scheiterte, daß hier mit am längsten Widerstand gegen die Machtübernahme durch die Nazis geleistet wurde, mit am längsten gemeinsam mit Köln,
daß von Berlin aber auch die Schrecken des NS-Terrors und der Judenverfolgung ausgingen.
Ich erinnere daran, daß Berlin 40 Jahre Symbol der deutschen Spaltung und die Stadt war, die am meisten darunter litt, daß in Berlin aber jetzt die Vereinigung Deutschlands vollzogen wird. Ich erinnere daran, daß Berlin die Stadt war, in der der Widerstand gegen die
Nazis seine Gestalt gewann und auch scheiterte. Beides — diese Widersprüchlichkeit gehört leider zur Vielfalt unserer Geschichte — spielte sich hier ab.
Der heute zu behandelnde SPD-Antrag hat einen sehr nachdenkenswerten Grundansatz. Er weist darauf hin, daß hier Konsequenzen aus der demokratischen Revolution der DDR ebenso gezogen werden müssen wie aus dem Vereinigungsprozeß Deutschlands. Das wollen wir offen aufnehmen. Aber der Antrag beinhaltet auch die Gefahr, daß Planung und Realisierung des Deutschen Historischen Museums verzögert und beeinträchtigt werden. Dies ist für uns nicht akzeptabel.
Die Grundkonzeption des Museums — dies will ich nach dem, was hier gesagt worden ist, in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringen —, deutsche Geschichte in Vielfalt und auch Widersprüchlichkeit, einbezogen in den europäischen Rahmen, zu präsentieren, ist nach wie vor richtig. An diesem Weg einer demokratischen Museumskonzeption müssen, werden und sollen auch Fachleute aus der heutigen DDR, insbesondere dann, wenn sie sich an der friedlichen Revolution dort aktiv beteiligt haben, zugezogen werden. Aber ich möchte nicht, daß die Museumsblockwarte hier heute die Museumskonzeption mitbestimmen.
Ich habe gesagt: Wir wollen DDR-Leute mit einbeziehen. Aber wir haben dort auch Museumsblock-warte. Wir können die Diskussion in Deutschland nicht so führen, daß wir in den Blockparteien Blockwarte haben — Sie wissen, woher dieses Bild kommt — und beim Museum nicht. Wir haben auch dort beides gehabt. Es gehört zur Vielfalt und zur Demokratie, daß wir hier deutlich sagen, was wir wollen.
Sie gestatten eine Zwischenfrage?
Aber ja.
Bitte sehr.
Das Wort „Blockwart" hat mich geradezu hochschnellen lassen, Herr Kollege Lüder. Ist es nicht berechtigt, ohne nun Blockwart zu sein, bei den ungeheuren museumspolitischen Aufgaben, für die dieses Berlin Forderungen an die Bundeskasse stellen wird, wenigstens einmal eine Atempause einzulegen und sich zu fragen: Was kostet das Museum in den nächsten zehn Jahren, und was kostet die Rettung der Museumsinsel? Das wollen wir doch wohl nicht der UNESCO überlassen. Da kommen wir auf Summen in der Größenordnung von etwa anderthalb Milliarden.
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17066 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Herr Abgeordneter Duve, Sie wollen die Antwort noch entgegennehmen?
Ich komme gleich darauf, weil ich meine, daß Sie in Ihrer Frage nicht Vergleichbares auf einen Nenner bringen.
Ich bin der Meinung — ich sage das, auch wenn es teuer werden kann — : Die Bewahrung und die Rekonstruktion der Bauten auf der Museumsinsel in Berlin dürfen nicht zu Lasten der Planungen des Deutschen Historischen Museums zurückgestellt oder eingeschränkt werden.
Ich will das gleiche auch umgekehrt sagen: Planungen für das Deutsche Historische Museum dürfen nicht durch die notwendige Konservierung und Restaurierung der traditionellen Museen in Berlin-Mitte Beschränkungen unterliegen.
Das eine ist die gesamtdeutsche Aufgabe der Pflege des Kulturgutes in Deutschland. Diese Aufgabe muß mit der ebenfalls gesamtdeutschen Aufgabe der Pflege deutschen Kulturgutes und deutscher Geschichte Hand in Hand gehen. Beides gehört zusammen, und beides muß geleistet werden.
Meine Damen und Herren, ich habe zur Kenntnis genommen, daß über den Standort des Deutschen Historischen Museums Überlegungen schon zu Zeiten der deutschen Spaltung für die Zeit nach Überwindung der Spaltung, für die Zeit nach Herstellung der Einheit in Gedanken und Diskussionen berücksichtigt worden sind. Es war nicht nur der Bundeskanzler, der sich zum Standort geäußert hat, und er hat das nicht aus dem Hut gezogen, sondern er hat dieses nach Beratung gesagt. Hier gab es ja Fachkundige, die sich dazu geäußert haben. Aber weil die heutige Realität das Denken doch anders prägen wird als die frühere Theorie der deutschen Einheit, rege ich an — und ich werde dies auch im Ausschuß weiter erwägen — , die Juroren, die damals Ratschläge für den Standort gegeben haben, heute noch einmal zu hören, ob sie bei ihrem Vorschlag bleiben.
Ich möchte kein neues Ausschreibungs- und Wettbewerbsverfahren, weil ich keine Verzögerung will. Wir sollten auch nicht den Vorwand dafür liefern, daß es Verzögerungen geben kann. Aber die Politiker und Fachleute, die damals geraten haben, sollten heute noch einmal gefragt werden, ob sie nach Prüfung der heutigen deutschen Realität auch heute bei ihrem Vorschlag bleiben.
Zur Fundierung der so wichtigen Standortentscheidung im zentralen Bereich Berlins halte ich eine solche Überlegung einfach für nützlich. Ich habe gehört, daß viele von denen, die das Museum gestalten, zuversichtlich sind, daß die Damen und Herren bei ihrem Urteil bleiben. Dann sollen wir es hören, und dann sollen wir es respektieren. Aber diese Einbeziehung der neuen Realität in das weitere Denken sollten wir aufnehmen.
Was die Beteiligung der Kollegen aus dem Magistrat von noch Ost-Berlin, aus der Stadtverordnetenversammlung von Berlin in Ost-Berlin und aus der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik betrifft, so können wir getrost davon ausgehen, daß wir hier im 12. Deutschen Bundestag unter Beteiligung der Kollegen aus den Bundesländern Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und ganz Berlin weiter darüber beraten werden.
— Thüringen werde ich dabei schon aus Bayernfreundlichkeit nicht vergessen. In dem Sinne werden wir an die Beratungen im Ausschuß herangehen.
Nun hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Waffenschmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Bundesregierung möchte ich folgendes kurz feststellen.Erstens. Die Entwicklung in Deutschland nach dem 9. November 1989 bestärkt uns in der Überzeugung, daß dieses Museum notwendig ist. Kollege Neumann und andere haben auf diese Aufgabe schon in sehr sachgerechter Weise gerade im Zusammenhang mit den Ereignissen hingewiesen. Auch der geplante Standort im Spreebogen, einschließlich der vorgesehenen Architektur, ist im Hinblick auf die Beendigung der Teilung Berlins eigentlich angemessener denn je, weil er von einer Randlage in den Mittelpunkt eines vereinigten Berlins rückt.Zweitens. Selbstverständlich sind die zuständigen Repräsentanten der DDR an den weiteren Entscheidungsprozessen zu beteiligen, und zwar gilt das sowohl für das Organisatorische wie für das Inhaltliche. Etwa im Aufsichtsrat oder in der Sachverständigenkommission sollen sie in wirklich fairer, sachgerechter Weise mit beteiligt werden, und ich erkläre hier: Dafür sind schon die ersten Kontakte aufgenommen worden, und weitere werden aufgenommen, um eine gemeinsame Position herzustellen. Hierüber wird dann auch noch einmal im laufenden Kontakt mit Berlin und mit den Ländern zu sprechen sein.Das Museum für Deutsche Geschichte in Ost-Berlin, Zeughaus, ist in die Planung für das Deutsche Historische Museum — ich sage das einmal mit folgenden Worten — in einer sachgerechten Weise einzubeziehen. Wir alle haben in den vorangegangenen Wortmeldungen hier schon aus guten Gründen vernommen, worauf dabei besonders zu achten ist.Mir liegt noch daran, folgendes festzustellen. Auf Fachebene haben bereits eine Reihe von Kontakten stattgefunden; die große Kooperationsbereitschaft der DDR-Verantwortlichen hat erkennen lassen, hier mitzuarbeiten. Auch die Sachverständigenkommission für das Deutsche Historische Museum hat gerade im Lichte der politischen Entwicklung auf eine baldige Verwirklichung des Vorhabens gedrängt, und hier sind wir bei einem Kernpunkt: Es duldet angesichts der Bedeutsamkeit der Aufgabe keine weitere Verzögerung mehr. Bei dieser Sachlage hält die Bundesregierung letztlich auch mit Rücksicht auf den Aufbaustab, der mit großer Sachkunde und starkem Einsatz
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17067
Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidthervorragende Arbeit beim Aufbau des Museums und der Veranstaltung von Ausstellungen leistet, eine weitere Verzögerung der für die Errichtung des Museums erforderlichen Entscheidungen nicht für vertretbar.Die Bundesregierung erwartet daher — das sage ich noch einmal mit Nachdruck — vom Senat von Berlin, daß nunmehr die für die konkrete Bauplanung erforderlichen Schritte eingeleitet werden. Es gab ja der hier schon erwähnten Briefwechsel und Gedankenaustausch auch zwischen dem Bundeskanzler und dem Regierenden Bürgermeister.Ich meine, es stünde der SPD im Deutschen Bundestag gut an, die Bundesregierung hierin zu unterstützen, daß in Berlin endlich weitere Schritte im Hinblick auf Realisierung gemacht werden. Eine weitere Verzögerung ist unseres Erachtens mit Blick auf die Bedeutung der Aufgabe, und ich sage: mit Blick auf die Bedeutung der Aufgabe für ganz Deutschland, nicht zu verantworten. Deshalb möchten wir mit dem wichtigen Projekt zügig weiterkommen und die Kollegen aus der DDR in sachgerechter Weise daran schnell beteiligen.
Damit sind wir am Ende der Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6593 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. — Das Haus scheint damit einverstanden zu sein. Es ist so beschlossen.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 2 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes
zu dem Gesetz über die neunzehnte Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz sowie zur Änderung weiterer sozialrechtlicher Vorschriften
— Drucksachen 11/6760, 11/7079, 11/7343, 11/7402 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Hüsch
Das Wort zur Abgabe eines Berichts erteile ich dem Abgeordneten Dr. Hüsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vermittlungsausschuß hat das Anrufungsbegehren des Bundesrates zum Kriegsopferversorgungsanpassungsgesetz 1990 am 18. Juni 1990 beraten. Der Vermittlungsvorschlag des Ausschusses ergibt sich aus der Ihnen vorliegenden Drucksache 11/7402. Der Beschluß hierzu ist einmütig gefaßt.Nun zu den Einzelheiten:Erstens. Die häusliche Krankenpflege wird mit zwei Zielrichtungen gewährt: erstens zur Vermeidung von Krankenhauspflege, zweitens zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung. Die Leistung nach § 37Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs V ist eine Pflichtleistung. Sie umfaßt Behandlungspflege, Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung. Der zeitliche Rahmen dieser Pflichtleistung ist grundsätzlich auf vier Wochen beschränkt. Eine Verlängerung ist in Ausnahmefällen möglich. Diese Regelung nach § 37 Abs. 1 soll uneingeschränkt beibehalten werden.Die ergänzenden Leistungen nach § 37 Abs. 2, die sogenannte Sicherungspflege, ist nach geltendem Recht eine Ermessensleistung. Die einzelne Krankenkasse kann durch ihre Satzung den Umfang und die Dauer der Leistungen bestimmen. Als Ermessensleistungen sind diese Aufwendungen der Krankenkasse für die Sicherungspflege nicht ausgleichsfähig im Rahmen des Finanzausgleiches in der Krankenversicherung. Der Sinn dieser Regelung liegt darin, die Kassen zur Sparsamkeit anzuhalten.Das Anliegen des Bundesrats war es, für die Sicherungspflege nach § 37 Abs. 2 zwei Änderungen herbeizuführen, nämlich zum einen die Sicherungsleistung zur Pflichtleistung zu machen und zum anderen die Sicherungspflege ebenso umfassend wie die Krankenpflege zur Vermeidung der Krankenhausbehandlung zu gewähren und dabei gleichzeitig eine zeitliche Begrenzung entfallen zu lassen.Der Vermittlungsausschuß legt Ihnen einen Kompromiß vor.Die Änderung des geltenden Rechts nach dem Anrufungsbegehren des Bundesrates hätte einen erheblichen Mehraufwand erfordert. Die Schätzungen hierzu sind umstritten. Aber der Betrag von 15 bis 17 Milliarden DM jährlich ist genannt worden.Durch die Einführung der verpflichtenden Sicherungspflege in § 37 Abs. 2 wäre zudem für die Versorgung der Schwerstpflegebedürftigen nach §§ 53 ff desselben Gesetzes kaum Raum gegeben. Jedenfalls würde die Neigung wachsen, anstelle der nur unter einschränkenden Voraussetzungen erreichbaren Leistung für Schwerstpflegebedürftige den einfacheren Weg des § 37 Abs. 2 zu wählen, wenn es zur Annahme des Begehrens des Bundesrates käme.Dem wollte der Vermittlungsausschuß nicht beitreten. Es bestanden ohnehin Zweifel, ob es richtig ist, eine so weitgehende Änderung des Sozialgesetzbuches mit weitgehenden finanziellen, rechtlichen und dann auch politischen Konsequenzen über den Weg der Vermittlung herbeizuführen. Der Vermittlungsausschuß sieht seine Tätigkeit in erster Linie und vorrangig in der Konfliktlösung, nicht aber in der Steilvertretung oder Ersetzung des Gesetzgebers im allgemeinen.Deshalb schlägt Ihnen der Vermittlungsausschuß vor, nur die Behandlungspflege als Pflichtleistung auszuweisen. Das führt dazu, daß deren Kosten in den Ausgleich der Krankenversicherung eingehen, was eines der wichtigen Ziele des Anrufungsbegehrens des Bundesrates war.Zweitens. Kuren der Krankenversicherung, Vorsorgekuren und Rehabilitationskuren, sind nach geltendem Recht Ermessensleistungen, ebenso im Recht der Rentnerversicherung. Die Folge ist, daß diese Kosten nicht ausgleichsfähig sind. Das hat dazu geführt, daß
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Dr. Hüschviele Krankenkassen diese Leistungen eingeschränkt oder aufgehoben haben. Das Anrufungsbegehren des Bundesrates richtete sich darauf, alle Kurleistungen der Krankenversicherung zur Vorsorge und zur Rehabilitation in den Ausgleich der Rentnerkrankenversicherung eingehen zu lassen. Der Vermittlungsausschuß hat sich für den Kompromißvorschlag entschieden, die Anschlußheilbehandlung zwar als Ermessensleistung zu belassen, diese jedoch ausgleichspflichtig zu machen.Drittens. § 122 Sozialgesetzbuch V sieht vor, daß ein Großgeräteausschuß auf der Landesebene über Abgrenzung, Bedarf und Standorte der medizinischen Großgeräte entscheidet. Die Entscheidung erstreckt sich auf den stationären und den ambulanten Sektor. Sinn der Vorschrift ist es, einen Überhang an Großgeräten zu vermeiden.Nach früherem Recht gab es für den stationären und ambulanten Bereich keine gemeinsame konfliktregelnde Vorschrift. Das Gesetz über die Reform des Gesundheitswesens hat beide Bereiche, die ambulante und die stationäre Behandlung, ineinander verzahnt. Das dafür gewährte, gesetzlich eingeräumte Verfahren hat sich indes nicht bewährt und nicht als leistungsfähig für die Konfliktentscheidung erwiesen.Dem Bundesrat ging es dabei um drei Änderungen: In § 92 Abs. 1 Ziffer 9 sollte die Befugnis des Bundesausschusses Ärzte/Krankenkassen zum Erlaß von Richtlinien eingeschränkt werden. Er sollte künftig nur noch Vorfragen regeln. Im § 122 Abs. 2 sollte die Umsetzung der Beschlüsse des Großgeräteausschusses zwingend vorgegeben werden. Für den ambulanten Bereich müßten dann die Kassenärztlichen Vereinigungen vollstrecken, für den stationären Bereich die zuständigen Landesbehörden. Nach § 122 Abs. 5 soll nach dem Anrufungsbegehren des Bundesrates nur noch bei Klagen gegen Standortbescheide ein Vorverfahren nicht stattfinden.Fest steht, daß die jetzige gesetzliche Verfahrenslösung, die auf Konsens aufbaut, unbefriedigend ist. Sie führt zu unzulänglichen Ergebnissen, erheblichen Reibungsverlusten und damit letztendlich auch zur Unsicherheit in der Krankenversorgung. Der vom Bundesrat vorgeschlagene Weg erweist sich allerdings ebenso als schwierig und wenig geeignet. Dem Vermittlungsausschuß erschienen sowohl die jetzige gesetzliche Lösung als auch die vom Anrufungsbegehren des Bundesrates vorgeschlagene neue Lösung nicht als geeignete Wege, um die beiden vorgegebenen Ziele erreichen zu können, nämlich einen Überhang an Großgeräten zu vermeiden und auf eine sinnvolle und wirtschaftliche Nutzung und Auslastung der teuren Geräte hinzuwirken.Nachdem der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Minister Blüm, zusicherte, bis zum 15. September 1990 einen diskutierfähigen Entwurf für eine entsprechende Gesetzesänderung vorzulegen, die den geäußerten Bedenken einerseits und den Zielen des Reformgesetzes andererseits sowie letztlich den berechtigten Interessen der Beteiligten entsprechen soll, hat der Vermittlungsausschuß von einem Vorschlag zu diesem Punkt des Anrufungsbegehrens des Bundesrates abgesehen.Viertens. Mit dem Begehren zur Änderung von Art. 2 Nr. 6 des Gesetzentwurfs — dieser entspricht § 121 a Sozialgesetzbuch V — strebt der Bundesrat mit seinem Anrufungsbegehren die Vereinfachung des Vollzuges des Gesetzes in den Ländern bei der Genehmigung der Durchführung künstlicher Befruchtungen an. Der Vermittlungsausschuß hat sich dieses Begehren zu eigen gemacht und empfiehlt Ihnen, dem Anrufungsbegehren voll zu entsprechen.Die in Art. 13 Abs. 2 und 3 a vorgesehenen Übergangsvorschriften und Vorschriften über das Inkrafttreten folgen nunmehr den Vorschlägen des Vermittlungsausschusses zur Regelung der vier Anrufungsbegehren.Nach § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung hat der Vermittlungsausschuß beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die von ihm gemachten Änderungsvorschläge nur gemeinsam abzustimmen ist. Ich bitte, verehrte Kolleginnen und Kollegen, daß Sie dem einstimmig zustande gekommenen Vermittlungsvorschlag Ihre Zustimmung erteilen.
Herr Dr. Hüsch, ich bedanke mich für den Bericht und die Bemühungen des Vermittlungsausschusses.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 11/7402. Der Vermittlungsaussschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung, wie schon gesagt, beschlossen, daß über die Änderungsvorschläge gemeinsam abgestimmt werden muß.Ich nehme die Abstimmung jetzt so vor. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 11/7402? — Damit ist die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses einstimmig angenommen worden.Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr Punkt 11 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes
— Drucksache 11/6523 —a) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 11/7367 —Berichterstatter: Abgeordnete Lutz SuchDr. KappesRichterb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 11/7368 —Berichterstatter:Abgeordnete Deres KühbacherFrau Seiler-Albring Frau Vennegerts
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Vizepräsident CronenbergNach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen die Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt erfreulicherweise zu Protokoll gegeben werden. Ich muß hierzu allerdings die Zustimmung des Hauses einholen und bitte um dieselbe. — Widerspruch erhebt sich nicht. Dann darf ich das als beschlossen feststellen. * )Wir kommen damit zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes, Drucksachen 11/6523 und 11/7367. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit sind die aufgerufenen Vorschriften einstimmig angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Da sich niemand nicht erhoben hat, erübrigt sich die übrige Abstimmung, und ich darf feststellen, daß das Gesetz einstimmig angenommen worden ist.Meine Damen und Herren, ich komme nunmehr zum Punkt 12 der Tagesordnung:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik für das Hochschulwesen
— Drucksache 11/5832 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft
— Drucksache 11/7297 —Berichterstatter:Abgeordnete Daweke KuhlweinNeuhausenWetzelbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 11/7306 —Berichterstatterinnen:Abgeordnete Frau MännleFrau Dr. Wegner Frau Seiler-Albring Frau Vennegerts
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft*) Anlage 3
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
9. Bericht des Ausschusses für die Hochschulstatistik für den Berichtszeitraum 1988/89— Drucksachen 11/6319, 11/7297 —Berichterstatter:Abgeordnete Daweke KuhlweinNeuhausenWetzelDer Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 30 Minuten vor. — Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden. Dann ist dies so beschlossen.Ich eröffne die Debatte. Zunächst hat das Wort der Abgeordnete Kuhlwein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gehöre zwar nicht zu denen, die das Gesetz eingebracht haben, und üblich wäre es gewesen, daß die größte Regierungsfraktion zu einer Regierungsvorlage in der zweiten und dritten Lesung anfängt.
Herr Abgeordneter, ich hätte mich auch nach dieser Verfahrensweise gerichtet. Aber dieser Redner ist noch nicht da.
Ich weiß; da ist niemand. Vielleicht gilt das, was Gorbatschow gesagt hat, auch für die Bildungspolitiker der Union: daß sie irgendwann dafür bestraft werden, daß sie auch hier im Plenum des Deutschen Bundestages zu spät kommen.Es hat immerhin sechseinhalb Jahre gedauert, bis der Bundestag heute im Bereich der Hochschulstatistik die Konsequenzen aus dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983 ziehen kann. Die Bundesregierung hat sich mit ihrer Vorlage sechs Jahre Zeit gelassen, nachdem wir bereits in der 10. Wahlperiode einen Entwurf beerdigen mußten, weil zunächst als Grundlage auch für die Hochschulstatistik ein Bundesstatistikgesetz verabschiedet werden sollte. Bis zum heutigen Tag sind allerdings wiederum dreieinhalb Jahre vergangen. Priorität scheint die Regierung diesem Thema nicht gerade eingeräumt zu haben. Der Datenschutz, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung haben in dieser Regierung noch nie eine zentrale Rolle gespielt, und die Abwesenheit auch der Bundesregierung bei dem von ihr selbst eingebrachten Gesetz unterstreicht das nur noch einmal deutlich, nicht wahr, Herr Kollege Neuhausen?
Der heute zur Abstimmung stehende Entwurf zeigt, daß es sehr wohl möglich ist, das Interesse an statistischen Zahlen als Grundlage für politische Planung mit dem vom Verfassungsgericht geforderten Maximum an Datenschutz zu vereinbaren. Ein Beispiel dafür: Auf die Studienverlaufsstatistik, die reidentifizierbare personenbezogene Daten verwendet hat, wird künftig verzichtet und kann offenbar auch verzichtet
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Kuhlweinwerden, weil der Fortschritt bei den sozialwissenschaftlichen Methoden das möglich macht, ohne daß ein Verlust an relevanten Informationen zu beklagen wäre.Wir bekommen heute für die Hochschulstatistik eine neue gesetzliche Grundlage, aus guten Gründen, meine Damen und Herren; denn der Bedarf an statistischen Daten für die Hochschulpolitik bleibt groß. Alle, die sich in den letzten Jahren auf diesem Feld getummelt haben, können dies bestätigen.Wir wollen z. B. wissen, wie viele Frauen und Männer in welchem Semester welche Fächer studieren und wie viele davon jeweils wissenschaftlicher Nachwuchs werden, auch, um daraus etwas über die Wirksamkeit von Frauenförderungsmaßnahmen zu erfahren.Oder wir wollen wissen, wie viele Studierende vor ihrem Studium berufspraktisch gearbeitet haben, um rechtzeitig Trends der Veränderung des Ausbildungsverhaltens zu erkennen. Wir hatten ja einige Jahre das Phänomen — ich begrüße jetzt Graf Waldburg-Zeil, dessen Part ich hier nicht ganz übernehmen konnte —,
daß es dramatische Veränderungen in der Lebensplanung, in der Ausbildungsplanung von jungen Leuten gab, die zunächst eine Ausbildung im dualen System vor ihr Studium geschaltet hatten und offenbar jetzt neuerdings — und deswegen sind die Statistik und die schnelle Auswertung so wichtig — wieder dahin zurückkehren, relativ schnell nach dem Abitur ihr Studium zu beginnen.Wir wollen präzise etwas über Studiendauern wissen, um Hochschulen miteinander vergleichen und Reformbedarf feststellen zu können. Aber wir brauchen auch Zahlen über Raumkapazitäten, über Studentenwohnplätze, über Personal und Finanzen, um hochschulpolitische Entscheidungen treffen zu können. Dies alles, meine Damen und Herren, sind nur Beispiele dafür, warum Hochschulstatistik notwendig ist.In der Begründung des Regierungsentwurfs der sozialliberalen Koalition zu dem ersten Hochschulstatistikgesetz wurde 1971 ausdrücklich auf die 1969 neu geschaffenen Gemeinschaftsaufgaben Hochschulb au und Bildungsplanung nach Art. 91 a und b des Grundgesetzes verwiesen. Planung war damals noch nicht in Verruf geraten. Der CDU-Kollege Pfeifer forderte in der zweiten Lesung des Gesetzes 1972 sogar einen Planungsstab an jeder Hochschule als Vorschrift im Hochschulrahmengesetz.
Inzwischen ist die Bildungsplanung für manche ein rotes Tuch, für andere ein regelmäßig vergebliches Unterfangen geworden, das immer wieder von den Realitäten überholt wird. Wir können rückblickend jedoch feststellen: Die Planung war besser als ihr Ruf. Hätten wir z. B. auf die Prognosen des Entwurfs zum Bildungsgesamtplan II gehört, wir wären von den Studienanfängerzahlen zum Ende der 80er Jahre nicht so überrascht gewesen. Vielleicht wäre es dann gelungen, rechtzeitig nicht nur beim Hochschulbau, sondern auch bei den Stellen zuzulegen. Statt Sonderprogramme hätten wir dann vielleicht eine abgestimmte, bedarfsorientierte Hochschulausbauplanung erhalten, die nicht zu neuen Stop-and-go-Effekten führt.Hochschulstatistik und Bildungsplanung, meine Damen und Herren, gehören zusammen. Wer die Zukunft im Hochschulbereich nicht vorausschauend planen will, der kann auch auf die Statistik verzichten. Wir wollen die Bildungsplanung unter Einbeziehung der Erfahrungen mit früheren Bildungsgesamtplänen gern wiederaufnehmen. Wir fordern die Bundesregierung auf, nach der Phase der mehr oder weniger befriedigenden Sonderprogramme über die Bund-Länder-Kommission den Startschuß für eine neue Phase der Hochschulausbauplanung zu geben. Dies wird schon deshalb dringend erforderlich sein, weil im vereinigten Deutschland die Hochschulen der DDR einen gewaltigen Bedarf an Ausbau und Umbau anmelden werden. Niemand wird so naiv sein, dies dem freien Spiel der schwachen Kräfte überlassen zu wollen.Aus den genannten Gründen wird meine Fraktion dem Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Ausschußfassung zustimmen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erfreut über dieses unverdiente Glück — das heißt: Wer früher kommt, ist eher dran — , darf ich mich dennoch wegen meiner etwas eingeschränkten Redezeit kurz fassen.Bei der Novellierung des Gesetzes, über das wir heute sprechen, geht es vor allem um drei Ziele:Erstens soll der Datenschutz im Interesse der Studenten, der Absolventen und des Hochschulpersonals verbessert werden.Zweitens soll das Erhebungssystem für die verschiedenen Teilbereiche der Hochschulstatistik vereinfacht und auch die Flexibilität der Auswertungsverfahren verbessert werden.Drittens geht es um die Aktualisierung und die Anpassung der Erhebungsprogramme an die aktuellen Informationsbedürfnisse und damit um eine Verbesserung der Grundlagen für Analysen und Planungen auf nationaler und internationaler Ebene.Meine Damen und Herren, Hochschulpolitik und -planung — da stimme ich Ihnen zu, Herr Kuhlwein — sind mehr als je zuvor auf sachgerechte und aktuelle Daten angewiesen. Sie haben völlig zu Recht darauf hingewiesen. Wesentliche Punkte der Neuregelung entsprechen auch — das haben Sie auch gesagt — den gestiegenen Anforderungen an den Datenschutz vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des dabei entwickelten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Auch dazu haben Sie Stellung genommen. Das unterstreiche ich.
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NeuhausenAuf folgende Einzelpunkte ist hinzuweisen:Erstens. Die Studentenstatistik erfaßt künftig nur solche Daten, die der Hochschulverwaltung ohnehin zur Verfügung stehen. Sie konzentriert sich damit künftig auf Informationen, die für den Betrieb und den Ausbau der Hochschulen unerläßlich sind.Zweitens. Die statistischen Ämter werden selbst keine Verknüpfung von Datensätzen der einzelnen Studenten und Prüflinge zwecks Ermittlung von Studienverläufen mehr vornehmen können. Damit entfällt ein einerseits datenschutzrechtlich umstrittenes, andererseits kompliziertes und zeitraubendes Auswertungsverfahren. Dagegen wird es die Novellierung ermöglichen, mehr als bisher Angaben zum Studienverlauf — z. B. Studiendauer, Fach- und Hochschulwechsel, Studienerfolgsquoten — unmittelbar den von den Hochschulen und Prüfungsämtern zur Verfügung gestellten Verwaltungsdaten zu entnehmen.Drittens. Die bisherige Individualbefragung von Prüfungskandidaten über ihren Studienverlauf entfällt ebenso wie die in sechsjährigen Abständen erfolgte Befragung des wissenschaftlichen und künstlerischen Hochschulpersonals. Damit wird sowohl eine Entlastung der befragten Personengruppen als auch eine wesentliche Vereinfachung des Erhebungsverfahrens erreicht. Einige für die Hochschulpolitik und -planung unverzichtbare Informationen werden dafür im Rahmen der weiterhin bestehenden Jahresstatistiken über die Prüflinge durch die Prüfungsämter und über das Hochschulpersonal durch die Hochschulverwaltung zusätzlich erfaßt.Viertens. Die sogenannte Abiturientenbefragung wird künftig auf freiwilliger Grundlage durchgeführt.Meine Damen und Herren, diese Novelle ist ein Beitrag zur Verbesserung der Informationsgrundlagen der Hochschulpolitik und -planung, und gegen eine vernünftige Planung kann niemand etwas haben, wenn sie nicht illusionäre Erwartungen nährt oder zu Gängeleien führt. Das haben wir alle nicht vor. Sie macht zugleich deutlich, daß eine gute datenschutzrechtliche Konzeption statistischer Erhebungen aber durchaus auch mit der wirkungsvollen und sachgerechten inhaltlichen Ausgestaltung dieser Erhebungen zu verbinden ist. Deshalb stimmen wir diesem Gesetz zu. Ich hoffe, daß ich doch ein Stückchen Einführung hier habe leisten können.Vielen Dank.
Nun hat das Wort der Abgeordnete Wetzel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu den Aufgaben des Hochschulstatistikgesetzes haben die Kollegen Kuhlwein und Neuhausen schon das Erforderliche gesagt. Ich kann dem zustimmen. Meine Fraktion empfiehlt Ihnen Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.Diese Zustimmung war im Verlauf des vergangenen Jahres durchaus noch zweifelhaft, denn es gab eine wichtige Kontroverse: Das bisherige Hochschulstatistikgesetz und auch die Absichten des Ausschusses für Hochschulstatistik gingen ja dahin, an einer Studienverlaufsstatistik festzuhalten. Dieser scheinbar harmlose technische Begriff eröffnete die Möglichkeit, bei Verwendung sogenannter Identifikationsmerkmale die Studentenbestandsdateien miteinander und mit der jährlichen Prüfungsteilnehmerdatei zu verknüpfen. Einzelpersonen wären bei dieser ursprünglich vorgesehenen Studienverlaufsstatistik also reidentifizierbar gewesen. Es lag auf der Hand, daß ein derartiges Verfahren dem Sinn des Gesetzes widersprochen hätte, denn dieses Gesetz soll ja ein Hilfsinstrument für die Hochschulplanung sein, wozu nur aggregierte Daten erforderlich sind. Es soll und darf kein Mittel zur Kontrolle der einzelnen Studierenden sein.Es war ganz klar, daß eine derartige Verlaufsstatistik auch verfassungs- und datenschutzrechtlich nicht haltbar gewesen wäre. Der vorliegende Gesetzentwurf verzichtet jetzt auf diese fragwürdige Studienverlaufsstatistik, womit auch der wesentliche Anlaß für diese Kontroverse aus der Welt geschaffen ist. Aber ich will nicht verschweigen, daß es da noch einen anderen Punkt gab, der nicht nur uns GRÜNE, sondern Kolleginnen und Kollegen quer durch alle Fraktionen zögern ließ.Dieser Punkt betrifft die Zusammensetzung des beim Statistischen Bundesamt einzurichtenden Ausschusses für die Hochschulstatistik. Wer sich wie wir GRÜNE zu den erklärten Föderalisten zählt, wird es wohl auch erst einmal als bedenklich ansehen, daß die Vertretungen der Länder in diesem Ausschuß, also die für die Hochschulpolitik und die Hochschulplanung eigentlich Verantwortlichen, im Zweifelsfall jederzeit überstimmt werden können.Obwohl wir das nicht für gut halten und eine länderfreundlichere Gewichtung des Kräfteverhältnisses bevorzugt hätten, stimmen wir dem Gesetz dennoch zu, freilich unter dem Vorbehalt: Sollte die Ausschußpraxis zeigen, daß hier Länderinteressen systematisch majorisiert werden, dann werden wir auf eine rasche Novellierung des Gesetzes mit dem Ziel einer Änderung der Ausschußzusammensetzung drängen.Dieses Hochschulstatistikgesetz soll zu einem Instrument der Hochschulpolitik und der Hochschulplanung werden. Wie immer in solchen Fällen gilt: Das Instrument wird nur so gut sein, wie es die Politik ist, die sich seiner bedient. Und mehr noch: eine schlechte Hochschulstatistik kann sogar zum Alibi schlechter Hochschulpolitik werden. Ich denke da z. B. mit Grausen an die Feststellung der Hochschulstatistiker zum Berichtszeitraum 1988/1989, daß die Abiturientenbefragung wertvolle Daten ergeben habe, die — ich zitiere — „mit verhältnismäßig großer Sicherheit erkennen lassen, wie sich die Nachfrage nach Studienplätzen seitens der Hochschulberechtigten entwikkeln wird".Aber, meine Damen und Herren, wenn in den uns vorgelegten Statistiken etwas nicht gestimmt hat, dann waren es ganz gewiß die Voraussagen zur Nachfrage nach Studienplätzen. Das hatte fatale Konsequenzen; denn die Finanzminister von Bund und Ländern haben diese extrem falschen Voraussagen gerne als Planungsgrundlage ihrer Politik genommen,
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Wetzelweil mit ihnen Geld gespart werden konnte. Die Wirkungen kennen Sie. Die Hochschulen drohen unter der sogenannten Überlast zusammenzubrechen.Wir brauchen zur Identifizierung der aktuellen Überlastprobleme der Hochschulen eigentlich gar kein ausgefeiltes Hochschulstatistikgesetz. Wir haben die erforderlichen Informationen, was personelle, räumliche und technische Ausstattung der Hochschulen betrifft. Um diese unhaltbaren Zustände zu ändern, helfen uns die Erfassungsinstrumente dieses Gesetzes gar nicht weiter. Dazu brauchen wir eine verantwortungsvollere Hochschulpolitik.— Danke schön.
Nun hat das Wort der Herr Abgeordnete von Waldburg-Zeil.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorweg ein herzliches Dankeschön, Herr Kuhlwein, für das Einspringen, was mir um so leichter fällt, als wir ja alle diesem Gesetz zustimmen werden.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Lammert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß dieses Statistikgesetz — unbeschadet naheliegender kritischer Anmerkungen — heute offensichtlich übereinstimmend verabschiedet werden soll.
Ich will nicht nur die kritischen Anmerkungen, sondern auch den Zwischenruf des Kollegen Kuhlwein gerne aufgreifen und, wie gewünscht, zu Beginn einen Satz dazu sagen, warum ich nicht gleich zu Beginn dieser Debatte hier war. Der Grund ist, daß — was so häufig ja nicht vorkommt — einige Kollegen beim vorhergehenden Tagesordnungspunkt davon
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17073
Parl. Staatssekretär Dr. LammertGebrauch gemacht haben, angekündigte Redebeiträge nicht vorzutragen,
sondern zu Protokoll zu geben.
— Na ja, gut. Aber, Herr Kollege Kuhlwein, da Sie die Strecke, die zwischen den Abgeordnetenbüros bzw. dem Ministerium und dem Plenarsaal zurückzulegen ist, aus eigener leidvoller Erfahrung mindestens so gut kennen wie ich,
werden Sie — mehr als alle anderen Kollegen — auch dafür Verständnis haben, daß jedenfalls die physikalischen Grundgegebenheiten nicht vollends außer Kraft zu setzen waren, als uns die Nachricht vom unmittelbar bevorstehenden Beginn dieser Debatte endlich erreichte.Ich möchte, um die vorgetragenen Einwände gleich aufzugreifen, darauf hinweisen, daß der vergleichsweise lange Prozeß für die Beratung und Verabschiedung dieses Gesetzes natürlich nicht damit zu erklären ist, daß es der Bundesregierung am Interesse an den notwendigen datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen der Informationsbeschaffung für das Hochschulwesen gemangelt habe. Es ist — ganz im Gegenteil — vielmehr so, daß sich dieser vergleichsweise lange Beratungsprozeß mit der sorgfältigen Berücksichtigung und Einarbeitung dieser Datenschutzgesichtspunkte in das vor allen Dingen von seiten dei Länder nachhaltig vorgetragene Informationsbedürfnis für den Hochschulbereich erklären läßt.Ich will die der Novellierung des Gesetzes über die Statistik für das Hochschulwesen zugrunde liegenden Ziele, in drei Punkten zusammengefaßt, verdeutlichen: erstens verbesserter Datenschutz im Interesse von Studenten, Absolventen und Hochschulpersonal, zweitens vereinfachtes Erhebungssystem für einzelne Teilbereiche der Hochschulstatistik in Verbindung mit verbesserter Flexibilität der Auswertungsverfahren und drittens Aktualisierung und Anpassung der Erhebungsprogramme an die aktuellen Informationsbedürfnisse und damit Schaffung verbesserter Grundlagen für Vergleichsanalysen auf nationaler und internationaler Ebene.Alle Redner haben in der Debatte zu Recht vorgetragen, daß Hochschulpolitik und -planung heute mehr denn je auf sachgerechte und aktuelle statistische Daten angewiesen sind, und zwar nicht deshalb weil diese Daten, Herr Kollege Wetzel, die Hochschulpolitik ersetzen könnten — da stimmen wir völlig überein —, sondern deshalb, weil ohne diese Dater eine seriöse und erfolgversprechende Hochschulpolitik ganz sicher nicht betrieben werden kann.In diesem Zusammenhang ist natürlich von Bedeutung die genaue Kenntnis fächerspezifischer Studienzeiten, der Voraussetzungen und der Häufigkeit von Hochschulwechseln von Studenten, der Studienerfolgs- bzw. Abbruchquoten sowie der Studienbedingungen insgesamt. Diesbezügliche Fragen steller sich sowohl im Zusammenhang mit dem abzusehenden verschärften Wettbewerb der Hochschulen untereinander als insbesondere und gerade auch im Hinblick auf die bevorstehende Integration des Bildungswesens im gesamtdeutschen Rahmen.Wesentliche Punkte der Neuregelung stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit den gestiegenen Anforderungen an den Datenschutz, im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, aber auch mit den darauf Bezug nehmenden Regelungen des neugefaßten Bundesstatistikgesetzes. Dies ist in der Debatte hinreichend deutlich geworden. Ich muß das ganz sicherlich nicht vertiefen. Ich will aber ausdrücklich die naheliegende und dennoch unbegründete Vermutung zurückweisen, daß es sich hierbei um eine lästige Verpflichtung handele, die eine fachlich optimale Lösung des Problems der hier zu erfassenden Informationsbedürfnisse behindere statt befördere.Die Anwendung strenger datenschutzrechtlicher Grundsätze und die äußerstmögliche Sicherung gegen Datenmißbrauch tragen nach der Auffassung der Bundesregierung gerade für die amtliche Statistik ausdrücklich zu der unverzichtbaren Vertrauensbildung bei. Zuverlässige Informationen können auf Dauer nur dann erwartet werden, wenn die von statistischen Erhebungen betroffenen Personen auch davon ausgehen können, daß die sie betreffenden Angaben ausschließlich der anonymen Weiterverarbeitung zu aggregierten statistischen Ergebnissen dienen und eine Weitergabe von Einzelangaben an Dritte ausgeschlossen bleibt. Insofern ist nach unserer festen Überzeugung gerade durch die Novellierung und durch die damit erreichten datenschutzrechtlichen Klarstellungen auf Dauer auch eine Verbesserung der Datenqualität zu erwarten.Die Umgestaltung der Hochschulstatistik führt zu verschiedenen konkreten Auswirkungen. Die Studentenstatistik wird künftig nur Daten erfassen, die der Hochschulverwaltung für administrative Zwecke ohnehin zur Verfügung stehen. Die statistischen Am-ter werden künftig selbst keine Verknüpfung von Datensätzen der einzelnen Studenten und Prüflinge zwecks Ermittlung von Studienverläufen mehr vornehmen können. Damit entfällt ein datenschutzrechtlich umstrittenes und wegen seiner komplizierten und zeitraubenden Methodik auch problematisches Auswertungsverfahren.Die bisher übliche Individualbefragung von Prüfungskandidaten über ihren Studienverlauf sowie die in sechsjährigen Abständen erfolgte Befragung des wissenschaftlichen und künstlerischen Personals an den Hochschulen werden künftig entfallen. Damit wird sowohl eine Entlastung der von den Befragungen betroffenen Personengruppen als auch eine wesentliche Vereinfachung der Erhebungsverfahren erreicht. Einige für die Hochschulpolitik und -planung unverzichtbare Informationen werden dafür im Rahmen der weiterbestehenden Jahresstatistiken über die Prüflinge und über das Hochschulpersonal zusätzlich erfaßt.Daß im übrigen die Schülerbefragung in den Abschlußklassen der Sekundarstufe künftig auf freiwilliger Grundlage durchgeführt wird, kommt der Stellungnahme — im übrigen auch dem Bundesverfas-
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Parl. Staatssekretär Dr. Lammertsungsgericht — entgegen, daß man hier von einem Interesse der Befragten an der Ermittlung solcher Informationen ausgehen kann und dies insofern nicht gesetzlich zu normieren braucht.Meine Damen und Herren, dieses Gesetz kommt unter weitgehender Berücksichtigung auch der Wünsche des Bundesrats zustande. Da, wo wir dem Bundesrat nicht gefolgt sind, geht dies präzise auf die Bedenken zurück, die insbesondere von Vertretern der Opposition im Hinblick auf datenschutzrechtliche Gesichtspunkte in dieser Debatte noch einmal geltend gemacht worden sind.Wir sind davon überzeugt, daß die breite Zustimmung zu diesem Gesetz zu der von mir dargestellten vertrauensbildenden Funktion dieser veränderten gesetzlichen Bestimmung beitragen wird und daß, verehrter Herr Kollege Wetzel, die verbesserte statistische Begründung für unsere gemeinsamen bildungspolitischen Initiativen ebenfalls einem gemeinsamen Bedürfnis, jedenfalls der Bildungspolitiker dieses Hauses, entspricht.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Hochschulstatistikgesetzes. Das sind die Drucksachen 11/5832 und 11/7297. Der Ausschuß empfiehlt, nach Kenntnisnahme der Unterrichtung durch die Bundesregierung — das ist die Drucksache 11/6319 — den Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Ausschußfassung anzunehmen.
Ich rufe die §§ 1 bis 11, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind einstimmig angenommen worden. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das ist nicht der Fall. Dann ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Marschewski, Seesing, Dr. Wittmann, Dr. Stark , Eylmann, Dr. Hüsch, Hörster, Helmrich, Geis und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Kleinert (Hannover), Funke, Irmer und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes — § 201 StGB — (... StrÄndG)
— Drucksache 11/6714 — Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 11/7414 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Marschewski Dr. de With
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. Ich sehe dazu keinen Widerspruch. — Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Marschewski.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da schreibt die Illustrierte „Quick" am 3. Mai 1990 in großer Aufmachung:z. B. Wörner: Auch das Intimste hörten sie mit ...". Es folgte eine Serie über den NATO-Generalsekretär, über Franz Josef Strauß, über Außenminister Genscher, über den Bundeskanzler. Und die Quelle: Der DDR-Staatssicherheitsdienst hat jahrelang über 20 000 Menschen abgehört und bespitzelt. Jetzt hat er die Tonbandaufzeichnungen — ich weiß nicht, für welche Beträge — der Illustrierten „Quick" ausgehändigt.Es war wohl der einzige Bereich, in dem das menschenverachtende System des Kommunismus den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaaten des Westens überlegen war. „Die roten Schnüffler zählten zur weltweiten Leistungselite im schmutzigen Handwerk der Bespitzelung" , wie es ein Kommentator formulierte.Aber nicht diese neuerliche Publizierung war der Anlaß dafür, daß wir heute diesen Gesetzentwurf verabschieden wollen. Schon in der Vergangenheit wurden Telefongespräche abgehört, z. B. zwischen Vorstandsmitgliedern von Stahlunternehmen genauso wie Äußerungen des Atomphysikers Traube oder Diskussionen zwischen Rupert Scholz und seinem damaligen Parlamentarischen Staatsseketär Peter Kurt Würzbach.Die einen machten Geschäfte mit ihren Dossiers, die anderen veröffentlichten geschäftliche, amtliche und vor allen Dingen höchst private, persönliche Dinge. Nein, vertrauliche Gespräche müssen vertraulich bleiben! Dies ist nach geltendem Recht leider nicht gewährleistet. Es ist nicht einzusehen, daß derjenige bestraft werden kann, der ein Gespräch abhört oder eine Tonbandaufzeichnung davon macht, und daß eine Veröffentlichung mit einer Auflage in Millionenhöhe in keiner Weise bestraft wird, also straflos bleibt. Diese Strafrechtslücke — der Kollege Kleinert hat es lex imperfecta genannt — muß, so meine ich, geschlossen werden.Deswegen kann das Persönlichkeitsrecht und das Recht des einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung umfassend nur durch ein strafrechtliches Verbot geschützt werden. Denn ebenso wie es ein Recht am eigenen Bild gibt, muß es auch ein Recht am gesprochenen Wort geben. Dem wird durch die Neufassung des § 201 StGB endlich Rechnung getragen. Danach wird derjenige bestraft, der unbefugt abhört
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17075
Marschewskiund dieses Wort im Wortlaut oder auch dem Inhalt nach öffentlich mitteilt.Natürlich haben wir eine Bagatellklausel vorgesehen, die belanglose oder offenkundige Gesprächsinhalte ausnimmt. Das ist selbstverständlich. Genauso selbstverständlich ist es, daß eine Unterrichtung dann möglich ist, wenn ein bedeutendes Unterrichtungsinteresse besteht. Auf Grund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist nämlich eine Publizierung dann zulässig, wenn es sich um „Mißstände von erheblichem Gewicht" handelt, „an deren Aufdekkung ein überragendes öffentliches Interesse besteht" .Gerade diese Regelung zeigt, daß wir die Pressefreiheit ganz besonders wichtig nehmen. Wir wollen die Pressefreiheit keineswegs beeinträchtigen. Unser Ziel ist es, die Pressefreiheit in verfassungskonformer Weise zu konkretisieren: die Menschenwürde, das allgemeine Persönlichkeitsrecht und der daraus abgeleitete Schutz der Intimsphäre jedes einzelnen.Meine Damen und Herren, die hochentwickelte Technik erleichtert heute mehr denn je das Eindringen in den Privatbereich. Die Persönlichkeitsrechte der Menschen sind mehr als bisher gefährdet. Deswegen meinen wir, daß jeder Bürger in Zukunft selbst bestimmen soll, wer sein Wort aufnehmen darf, wer sein Wort verwerten darf, wer sein Wort veröffentlichen darf. Wir wollen keinen gläsernen Menschen.
Das Wort hat der Abgeordnete de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine Demokratie ohne freies Wort ist keine Demokratie, und eine Gesellschaft, die die Privatsphäre nicht schützt, ist keine freie Gesellschaft.
Das illegale Abhören und Aufnehmen des nichtöffentlichen Wortes sowie der Gebrauch und das Zugänglichmachen einer so hergestellten Aufnahme sind nach geltendem Recht strafbar. Die entsprechende Strafbestimmung findet sich in § 201 des Strafgesetzbuchs im Abschnitt „Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs". Nicht mit Strafe bedroht ist jedoch die Verwertung des illegal abgehörten Wortes in Form der Mitteilung des Inhaltes durch Zeitungen, Zeitschriften oder sonstige Medien. Als Schutz dagegen gibt es bislang nur die Zivilklage in Form der Unterlassungs- oder Schadenersatzklage.
Diese unbestreitbare Lücke im Strafgesetzbuch fand seit der Entstehung des jetzigen § 201 — er trat am 1. Januar 1975 in Kraft — im Gefüge der Beratungen immer wieder zwei Begründungen. Ich darf sie nennen: Erstens. Geschützt werde nur der unmittelbare Eingriff in die Privatsphäre des Sprechers. Mittelbare Eingriffe in die Privatsphäre müßten nicht erfaßt werden. Schon das ist anfechtbar, wenn der Schaden derselbe ist. Zweitens. Der Schutz der mittelbaren Verwertung durch das Strafgesetzbuch bringe unhaltbare Abgrenzungsschwierigkeiten mit sich. Entweder werde die Presse in ihrer Funktion gehindert, nämlich die Öffentlichkeit über wichtige Dinge zu informieren, oder aber der Strafrechtsschutz bewirke gar nichts und täusche deshalb nur.
Mittlerweile wissen wir, daß die Verwertung des illegal abgehörten privaten Wortes — sagen wir es so, wie es ist — dem Anbieter Geld, dem Veröffentlicher Auflagenumsatz und dem Betroffenen unermeßlichen Schaden bringen kann.
Der zivilrechtliche Schutz läuft dazu noch dann ins Leere, wenn z. B. bei einer Illustrierten durch die Auflagensteigerung mehr Geld hereinkommt, als durch den verlorenen Prozeß zu zahlen ist. Sagen wir es so, wie es ist.
Ergänzend dazu ist noch zu sagen, daß ein Zivilverfahren erst nach Jahren sein Ende finden kann und damit für viele, die die Zeitung lesen, nicht mehr klar ist, was eigentlich die Gerichte zu diesem fatalen Fall gesagt haben.
Außerdem bürdet eine Privatrechtsklage der verletzten Person nicht selten ein, wie ich meine, unvertretbares Prozeßkostenrisiko auf, wenn sie weiß, daß auf Grund des Streitwerts Revisionsmöglichkeit besteht, wenn der Streitwert also über der 40 000-DMGrenze liegt, und sie sich unter Umständen bis zum Bundesgerichtshof durchbeißen muß. Die Notwendigkeit für einen strafrechtlichen Schutz liegt deshalb auf der Hand.
Die nunmehr gefundenen Begrenzungsklauseln lassen erwarten, daß die bisherigen Befürchtungen überzogenen oder mangelnden Strafrechtsschutzes nicht eintreffen. Durch die Bagatellklausel ist gewährleistet, daß die Veröffentlichung belangloser Außerungen, z. B. zum Wetter, nicht strafbar ist. Die Rechtfertigungsklausel — die in diesem Fall, wie ich meine, wichtigere — stellt sicher — unter Rückgriff auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts —, daß Hinweise wie auf die Giftgasanlage in Rabta in Libyen oder auf drohende Verbrechen schwerwiegender Art, z. B. auf Mord, auf Totschlag oder Sprengstoffdelikte, gleichwohl veröffentlicht werden können.
Niemand kann natürlich — das sei freimütig eingeräumt — letztlich sagen, ob die beschriebenen Erwartungen wirklich eintreten. Ein Restrisiko bleibt auch hier. Wir Sozialdemokraten behalten uns deshalb vor, das Gesetz nicht nur kritisch zu begleiten, sondern notfalls auch einen Streichungsantrag zu stellen, wenn sich herausstellt, daß dies ein Schlag ins Wasser war.
Dennoch — das sage ich mit aller Deutlichkeit — mußte jetzt dieser Versuch gewagt werden. Auch Worte können töten. Der Strafgesetzgeber kann jedenfalls dann nicht untätig bleiben, wenn am Anfang ein illegaler Einbruch in die Privatrechtsphäre stand. Wir stimmen deshalb zu.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert .
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17076 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! In diesem kleinen Kreis, der in der Öffentlichkeit wegen der großsprecherischen Bezeichnung Plenum immer wieder verkannt wird, sitzen diejenigen, die sich seit Jahren über eine Frage, die offengeblieben ist, wirklich Gedanken gemacht haben. In diesem Raum sitzen diejenigen, die miteinander versucht haben, für das unerträgliche Problem eine Lösung zu finden, die wir in § 201 des Strafgesetzbuches eine Regelung haben, die es verbietet, das persönlich gesprochene Wort — sei es fernmündlich, sei es auch im persönlichen Gespräch mit Hilfe der neuerdings modisch gewordenen Richtmikrophone und dergleichen — mitzuhören, die es aber straflos läßt, daß so gewonnene Resultat in breitester Öffentlichkeit wiederzugeben. Das ist echt widersinnig.
Lex imperfecta, unvollkommenes Gesetz sind eigentlich noch die mildesten Ausdrücke, die man gebrauchen kann, wenn man etwas strafbar stellt, was letzten Endes für einige besonders Interessierte nett sein kann zu wissen: Da hat der zu dem das und das gesagt, und das telefonieren sich zehn Leute zu. Es ist dann strafbar, daß sie sich das verschafft haben.
Aber wenn das in hunderttausend- oder millionenfacher Auflage in die Öffentlichkeit kommt, dann sagen wir im Zeitalter des vom Bundesverfassungsgericht ausgerufenen informationellen Selbstbestimmungsrechts: Die Folgen werden wir mit Rücksicht auf die Pressefreiheit natürlich nicht bestimmen können. Das ist eine Inkonsequenz. Die ist des Gesetzgebers nicht würdig. Das ist eine Aufforderung zum Tanz von der besonders gemeinen Art. Wir haben einige dieser besonders gemeinen Tänze in den dafür bestimmten Publikationsorganen inzwischen reichlich verfolgen können. Es sind ganz wenige.
Interessanterweise haben Journalisten, mit denen man über dieses Vorhaben gesprochen hat, überhaupt keine Einwendungen erhoben. Ganz im Gegenteil: Sie sind offenbar im Interesse ihrer eigenen beruflichen Ehre und Sauberkeit daran interessiert, daß diese Lücke geschlossen wird. Das erleichtert es uns, zu sagen: Wenn ich A gesagt habe, muß ich auch B sagen. Wenn ein einzelner ein fremdes Telefongespräch abhört, ist das wahrlich schlimm genug. Wenn ich das über hundertausend- oder millionenfach verbreite, dann geht das wohl erheblich weiter. Das sind ja keine Fälle, die wir erfunden haben, sondern sie sind wirklich vorgekommen. Deshalb müssen wir an dieser Stelle nach A auch B sagen und diese Lücke schließen.
Das geschieht heute; das geschieht einvernehmlich. Wir haben uns reichlich Zeit gelassen, um das miteinander zu besprechen und zu beraten. Der Vorschlag ist lange in der Welt. Nunmehr freue ich mich darüber, daß wir einvernehmlich mit Hilfe des Bundesministeriums der Justiz zu einem guten Vorschlag gekommen sind und daß wir ihn gemeinsam annehmen können.
Damit bin ich am Schluß meiner Bemerkungen zu dieser Gesetzesvorlage. Aber in unmittelbarem Zusammenhang damit möchte ich hier für die Freien Demokraten in diesem Hause ausdrücklich sagen: Die Möglichkeiten, die in § 100a der Strafprozeßordnung stehen, Dinge abzuhören und aufzuzeichnen, in sehr persönliche Gespräche einzugreifen und sich Nachrichten zu verschaffen, ohne daß der Betroffene überhaupt etwas davon weiß, gehören sich ganz genauso wenig.
— Du auch!
Wenn dieses Hohe Haus eine hochrangig besetzte Kontrollkommission unterhält, die einzelne Abhörvorgänge aus dem Bereich der Nachrichtendienste kontrolliert, dann ist es unlogisch, daß wir auf der anderen Seite ein vielfaches solcher Abhörungen mit dem Federstrich eines Amtsgerichtsrates zulassen. Darauf wollen wir in diesem Zusammenhang gerne noch einmal zurückkommen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Nickels.
Lieber Herr Präsident Westphal! Liebe Anwesende! Der vorliegende Entwurf hat ja seinem Inhalt nach eine durchaus schon wechselvolle Geschichte hinter sich. Während fast Bleichlautende Formulierungen bereits in Entwürfen der CDU/ CSU — damals noch in der Opposition — und des Bundesrates enthalten waren und seinerzeit der Diskontinuität zum Opfer fielen, wurde ein Entwurf des Bundesrates in der 10. Wahlperiode zu Ende beraten. Auch dort war vorgeschlagen worden, die Offenbarung eines abgehörten Gesprächs im § 201 StGB unter Strafe zu stellen. Der zuständige Ausschuß beschloß aber erst am 24. April 1985, diesen Teil des Entwurfes wegen — ich zitiere — erheblicher Bedenken zu streichen.
Dieser Beschluß erging einstimmig.Damals sah man die Gefahr, daß eine Strafbarkeit, die über das Abhören hinaus droht, die verfassungsrechtlich geschützte Presse- und Informationsfreiheit gefährdet.Selbstverständlich steht auf der anderen Seite der Waagschale der Schutz der Privatsphäre, der in Art. 2 des Grundgesetzes ebenfalls Verfassungsrang genießt und für uns auch ganz erhebliche Bedeutung hat. Deshalb wenden wir uns ja so verhement gegen alle Angriffe von seiten Ihrer Fraktion, Herr Marschewski, die in regelmäßigen Abständen unter Hinzuziehung immer neuer „Bedrohungsanalysen" diesen Schutz des Privatbereichs und der informationellen Selbstbestimmung durchlöchern will: mit verdeckten Ermittlern, beobachtender Fahndung, Lauschangriffen und Rasterfahndung, um nur einige geplante Maßnahmen zu nennen, die Sie zuerst im „Strafverfahrensänderungsgesetz 1989" installieren wollten. Als das wegen des massiven Protests der Anwaltschaft nicht klappte, versuchten Sie es erst vor kurzem in einer konzertierten Aktion mit Ihren Län-
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Frau Nickelsderkollegen per Bundesrat; ich meine hier das „Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität' . Dabei achteten Sie die Vertraulichkeit des Wortes bei weitem nicht so hoch, sondern waren bereit, diese Vertraulichkeit des Wortes für durchaus zweifelhafte Fahndungserfolge, die durch solche dubiosen Maßnahmen auch gar nicht sichergestellt werden können, zur Disposition zu stellen.Zurück zum Entwurf: Das Abhören selbst ist ja, wie meine Kollegen schon ausgeführt haben, strafbar und bleibt strafbar; das ist auch gut so. Es geht nur um die Veröffentlichung. Da hat es in der Vergangenheit nicht so viele Fälle gegeben. Allein deshalb ist das kriminalpolitische Bedürfnis nach einer Strafbarkeit diesbezüglicher Handlungen von Journalisten schon fraglich. Ich will einmal einige Fälle herausgreifen.Die Affäre Lummer, die hohe Wellen geschlagen hat — Lummer ließ damals die GRÜNEN bespitzeln, weil er ihnen verfassungsfeindliche Umtriebe unterstellte — , kam ja nun weniger durch illegales Abhören und anschließende Veröffentlichung ans Licht als vielmehr durch die Berliner SPD, d. h. durch Innensenator Pätzold.Auch die Abhöraffäre Traube ist in Erinnerung und fand breite Beachtung in der Öffentlichkeit. Damals war nicht eine Veröffentlichung der Skandal, sondern im Gegenteil: Die Veröffentlichung machte erst klar, wie rechtswidrig ein Wissenschaftler, der sich gegen die seinerzeit noch uneingeschränkte Atomideologie wendete, bespitzelt und verfolgt wurde.Kaum vorstellbar, welche juristischen Denksportübungen ein Journalist damals und heute vollführen müßte, würde Ihre Abwägungsklausel, die Sie jetzt vorschlagen, also die „Wahrnehmung überragender öffentlicher Interessen", geltendes Recht; denn oft klärt sich doch erst nach der Veröffentlichung, ob und welche Brisanz eine Information entfaltet. Außerdem sind die Maßstäbe eines Staatsanwalts und die eines Journalisten unter Umständen sehr unterschiedlich, wenn es um die Definition eines solchen Begriffes geht.Wie sorglos Sie eine erhebliche Verunsicherung der Presse in Kauf nehmen, zeigt der Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Begründung. Sie übernehmen da einfach eine Formulierung des Bundesverfassungsgerichts ins Strafgesetzbuch, die die Richter für das Zivilrecht entwickelt hatten, ohne zu berücksichtigen, daß damit ganz andere prozessuale und materiellrechtliche Konsequenzen verbunden sind. Der Verdacht einer strafbaren Handlung — und das wissen Sie als Juristen — führt zu Vernehmung, Durchsuchung und Beschlagnahme. Das alles sind doch Dinge, die gerade durch ein Zeugnisverweigerungsrecht für Journalistinnen und Journalisten, das wir jüngst erst in einer Anhörung beraten haben, verhindert werden sollen.Für uns gibt es keinen ersichtlichen Grund, die damals im April 1985 ablehnende Haltung des ganzen Ausschusses gegenüber einer Strafbarkeit der Veröffentlichung aufzugeben. Wir setzen auf die Verantwortung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Presse, Rundfunk und Fernsehen, die durch einen eigenen Kodex und durch die zivilrechtlichen Abwehr-und Schadenersatzansprüche der Betroffenen jetzt schon angehalten werden, deren Privatsphäre nicht ohne Grund durch eine Veröffentlichung abgehörter Gespräche zu verletzen. Das muß ausreichen.Danke schön.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die heute erfolgende zweite und dritte Lesung des vorliegenden Entwurfs hier im Plenum des Deutschen Bundestages kann man das bekannte Sprichwort setzen: „Was lange währt, wird endlich gut." Lange gewährt hat es. Ich möchte noch einmal in die Erinnerung zurückrufen: Als im Jahre 1974 eine Neufassung des § 201 des Strafgesetzbuches erfolgte, begannen ja alsbald eine Fülle von Bemühungen, dies zu ändern, um das, was mittlerweile herausgefallen war, auch erfassen zu können.
Nun gab es dagegen — wie bekannt ist — eine Fülle von Bedenken, Bedenken, die auch aus dem Bundesministerium der Justiz kamen, aber auch von vielen anderen Stellen her. Sie führten dazu, daß eine vieljährige intensive Überlegung und Beratung stattgefunden hat.
,,... wird endlich gut" : Ich meine, daß jetzt ein gutes Ergebnis erzielt worden ist. Ich möchte allen danken, die dazu beigetragen haben. An dieser Stelle soll ganz besonders hervorgehoben werden, daß der Herr Kollege Marschewski, der in dieser Sache über die Jahre mit einer unerbittlichen Hartnäckigkeit tätig war, als „Antiabhör-und-Verwertung-dessen-Marschewski" in die Geschichte eingehen wird,
weil er sich in besonders intensiver Weise um diese Dinge bemüht hat.
Wir alle wissen — es ist angesprochen worden — : Wenn dies in Kürze in Kraft tritt, kommt es gerade recht in einer Zeit, in der das, was über die Jahre und Jahrzehnte in der Deutschen Demokratischen Republik abgehört worden ist, mittlerweile bei uns auszugsweise veröffentlicht zu werden pflegt: ein ungeheuerlicher Vorgang, daß man sich die Produkte dessen, was in Mißachtung jeglichen Menschenrechts dort gewonnen worden ist, unter Verletzung der Intimsphäre anderer Menschen zunutze macht, um es uns, den ach so Informationsbedürftigen, mitzuteilen.
Ich glaube, daß dies mit aller Deutlichkeit auszusprechen auch in dieser Beratung notwendig ist. Wir liegen richtig in der Zeit, und das Ziel ist erreicht. Dazu kann man nur gratulieren.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
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17078 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Vizepräsident WestphalWir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes. Das sind die Drucksachen 11/6714 und 11/7414. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen worden.Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit der eben schon genannten Mehrheit angenommen worden.Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im bürgerlichen Recht— Drucksache 11/5463 —Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 11/7369 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Pick Dr. Stark
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 45 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Stark.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich, daß ich jetzt zu einem ganz anderen Thema, nämlich der Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im Bürgerlichen Gesetzbuch, sprechen darf. Ich darf vorweg ankündigen, daß die CDU/CSU-Fraktion diesem Gesetzentwurf in der vom Rechtsausschuß gefundenen und — darauf sind wir ein bißchen stolz — verbesserten Fassung zustimmen wird, und zwar nicht nur, weil dieser Gesetzentwurf ein Herzensanliegen unseres sehr verehrten Bundesjustizministers ist, sondern vor allem auch aus Liebe zu den Tieren.
— Man muß die Rangfolge sehen. Das erste habe ich besonders begrüßt, aber auch das andere.
Lassen Sie mich zu diesem Thema eine persönliche Bemerkung machen. Ich habe mich im Laufe der 25 Jahre, die ich diesem Hohen Haus angehören durfte, mit allem möglichen beschäftigt, mit elterlichem Sorgerecht, mit Betreuungsrecht, mit Volljährigkeitsalter, mit Konkursordnung und was weiß ich alles. Aber ich muß Ihnen sagen, es ist schon überraschend, wenn man plötzlich ein Gebiet wie das Recht des Tieres im bürgerlichen oder überhaupt im Recht zu bearbeiten hat. Ich muß Ihnen gestehen: Das war hochinteressant; es ist noch interessanter als die Reform der Konkursordnung oder der Pfändungsfreigrenzen oder sonst etwas, wenn man sich damit vertiefend beschäftigt.
— Das ist in der Mitte. Ich fange nicht mit Stark von Assisi und nicht mit Franz von Assisi an, sondern mit Hammurabi. In der vorchristlichen Zeit wurden manche Tiere mit gottähnlichen Eigenschaften versehen und hochverehrt. In der nachchristlichen Zeit wurde das Tier wieder zur Sache.
— Lieber Kollege, Sie haben sich damit nicht genügend beschäftigt. Ich sage: In der nachchristlichen Zeit sind die Überhöhung, die Verehrung und die Gottähnlichkeit des Tieres völlig zurückgedrängt worden.Franz von Assisi — er wurde schon genannt — hat als erster wiederum das Tier als Bruder des Menschen bezeichnet. Aber das war nicht die allgemeine Auffassung. Im Laufe des 17., 18. und 19. Jahrhunderts wurde das Tier vorbehaltlos als Sache bewertet, bis hin zu den Verfassern des Bürgerlichen Gesetzbuches. Ich erwähne hier die Philosophen Spinoza und Descartes, die gesagt haben: Das Tier ist eindeutig eine Sache; der Mensch kann mit dem Tier nach Belieben verfahren und darüber verfügen.Es ist eine dramatische Angelegenheit, wenn man sich einmal mit der Geschichte des Tieres in der Philosophie, in der Theologie, im Recht befassen darf oder muß. Zunächst dachte ich: Was soll das, warum bekomme ich diese Berichterstattung? Es hat mir dann aber eine Riesenfreude gemacht, mich in dieses Thema einzuarbeiten und einzulesen.
— Sehr richtig, Herr de With. Jetzt kommt Minister Engelhard — er weiß, warum er das tut — und vollzieht das alles im bürgerlichen Recht, nachdem sich im philosophischen und im anthropologischen Bereich die Einstellung zum Tier schon sehr bald nach Verfassung des Bürgerlichen Gesetzbuches geändert hat. Die ersten tierschützerischen Gesetze wurden in England, dann bei uns in der Weimarer Republik gemacht. Er sagt jetzt: Was wir im Tierschutzgesetz 1986 gemacht haben, muß auch im Bürgerlichen Gesetzbuch seinen Ausdruck finden. Das ist der Sinn dieser nicht großen, aber meines Erachtens sehr guten Gesetzesänderung.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17079
Dr. Stark
Wir stellen in diesem Gesetz eindeutig fest, daß Tiere keine Sachen sind, mit denen nach Belieben verfahren werden kann. Es ist, glaube ich, ganz wichtig, daß das nicht nur irgendwo im Tierschutzgesetz steht, sondern in dem Gesetz, in dem Bürgerlichen Gesetzbuch, das neben der Verfassung die meisten Menschen betrifft, das sie kennen und das sie auch als Laien lesen. Deshalb ist dieser Gesetzentwurf, glaube ich, sehr gut und zukunftsorientiert.Ich brauche jetzt nicht auf die einzelnen Paragraphen einzugehen. Hinsichtlich des § 90 a, Herr Minister, sollten Sie uns vielleicht dankbar sein, daß wir die Änderung nicht in § 103 a angehängt haben, sondern dort ganz klar feststellen: Tiere sind keine Sachen. Das ist in dem Bürgerlichen Gesetzbuch, das alle Bürger betrifft, schon einmal eine ganz wichtige Aussage.Es steht im § 903 — sehr verehrter Herr de With, Sie hätten es doch gerne selber gemacht; Sie sind nur ein bißchen neidisch, daß unser Minister und wir es gemacht haben —,
wo es um das Eigentum geht, daß mit Tieren eben nicht nach Belieben verfahren werden kann, weil sie keine Sachen sind.Das sind zwei programmatische und deklaratorische — das gebe ich zu — , aber ganz wichtige Sätze. Aus diesen Sätzen ziehen wir im Zwangsvollstrekkungsrecht die Folgerung, daß Haustiere nicht ohne Rücksicht weggepfändet werden können. Da schreiben manche etwas überkluge Professoren, uns gehe es gar nicht um das Tier, uns gehe es um den Besitzer. Das ist Quatsch, was da einer schreibt; aus Tübingen kommt er noch. Entschuldigung, ich will nicht verklagt werden.
Es geht schon um das Tier! Das gilt auch in bezug auf den Schadenersatz für ein verletztes Tier. Das Tier ist vielleicht 200 DM wert, und die Behandlung durch den Tierarzt kostet 450 DM.
— Das wollten die GRÜNEN. Da brauchen wir einen Betreuer; ich will darauf jetzt nicht eingehen.
Das ist völlig richtig: Es wird nur bezahlt, wenn der Tierhalter Aufwendungen hat. Das ist nicht als Entschädigung wie beim Schmerzensgeld oder wie Wertminderung beim Kraftfahrzeug usw. gedacht. Er muß das für das Tier aufwenden. Deshalb hat der Professor aus Tübingen nicht erkannt, daß es dem Tier gilt, wenn wir eine solche Bestimmung machen, und daß das dem Tier zugute kommen soll.Im Zwangsvollstreckungsrecht haben wir, wie angedeutet, die meines Erachtens vernünftige Regelung eingeführt, daß Haustiere nicht ohne weiteres weggepfändet werden können. Wir haben die Grenze von 500 DM beseitigt, weil man nicht festlegen kann, daß das Tier unter 500 DM nichts wert ist.In § 20 a des Tierschutzgesetzes haben wir sozusagen einen vorläufigen Führerscheinentzug eingeführt. Wenn ein Tierhalter in gröbster Weise gegen seine Pflichten verstößt, kann ihm — vorläufig, sogar vor einem Gerichtsverfahren; deshalb sage ich „vorläufiger Führerscheinentzug" — das Recht abgesprochen werden, Tiere zu halten.Meine Damen und Herren, sehr verehrter Herr Minister, wir können diesem Gesetz in seinem deklaratorischen Programmteil als Mahnung an alle, daß Tiere Mitgeschöpfe und keine verfügbaren Sachen sind und in seinem konkreten Teil im Interesse eines ethischen Tierschutzes mit voller Überzeugung zustimmen. Wir gehen nicht so weit, wie die GRÜNEN gehen wollten, daß Tiere Rechtspersönlichkeiten werden sollten. Seien Sie mir nicht böse, aber dann müßten Sie unter Umständen einen Betreuer oder eine Pflegschaft für ein Schlachtschwein einsetzen. Das ginge natürlich zu weit. Wir haben hier einen vernünftigen Kompromiß im Interesse eines besseren Tierschutzes und auch als Appell an uns alle, daß Tiere keine Sachen, sondern Mitgeschöpfe sind. In diesem Sinne ist es, glaube ich, ein sehr vernünftiger und guter Gesetzentwurf, und ich freue mich, daß ich da als Berichterstatter tätig sein konnte und daß wir das Gesetz heute verabschieden werden.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Adler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser kulturhistorische Exkurs war sicher interessant. Schade, daß der Herr Minister dies nicht vorher gehört hat; vielleicht wäre dann das Gesetz etwas besser ausgefallen, denn der Berg kreißt und gebiert eine Maus. Diese Maus ist nach dem Verständnis des Herrn Justizministers keine Sache mehr, sondern ein Lebewesen, das nun unter dem besonderen Schutz der Gesetze steht.Was aber wird für die Tiere denn geregelt? Zum einen sind es die Heilbehandlungskosten, und zum anderen ist es der erweiterte Pfändungsschutz. Fertig! Zitat: „Alle Tierfreunde können zufrieden sein, im Rahmen meiner Zuständigkeit für das bürgerliche Recht werden die entsprechenden Vorschriften den Anforderungen an die Fürsorgepflicht des Menschen für die Tiere angepaßt. " So eine Aussage des Justizministers vom 4. Oktober 1989.Wie kam es zu diesem Gesetz? Ein Gespräch zwischen dem Minister und dem Vorsitzenden des Deutschen Tierschutzbundes, Herrn Grasmüller, hat den Minister auf den Weg gebracht. Die Katze darf also keinen Kuckuck kriegen; welch löblicher Ansatz! Die Tierschützer hatten Beifall gespendet und die Ankündigungen über Jahre mitgetragen. Nun aber kehrt Ernüchterung ein. Die wirklichen Defizite im Tierschutz werden nicht angepackt.
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17080 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Frau Adler— Hören Sie mir zu, Herr Stark, dann werden Sie es gleich erfahren!
In Debatten und Anträgen haben wir Sozialdemokraten dargestellt, wo gehandelt werden müßte:
Eindämmung der Tierversuche; Änderungen der gesetzlichen Bestimmungen, die Tierversuche vorschreiben; Aufbau von Datenbanken, um z. B. Doppelversuche zu vermeiden; Tiertransporte regeln; klare Entscheidungskompetenzen für die Ethikkommission; Verbot des Schächtens, Rechtsverordnungen für die Nutztierhaltung, die artgerechte Haltungsformen berücksichtigen; der Aufbau von ZEBET in Berlin ist überfällig.Sie sehen, es könnte und müßte mehr getan werden, wenn die Bundesregierung ihre eigenen Aussagen ernst nehmen würde. Aber nun soll ein Gesetz den Befreiungsschlag bringen, ein Gesetz, das sicher in die richtige Richtung weist. So ist es positiv zu werten, daß durch die Änderung des § 19 den Tieren endlich ein Status zugesprochen wird, der sich vom bisherigen, der Sache, unterscheidet. Bei den Beratungen im Rechtsausschuß haben meine Kollegen aber klargemacht, daß der inhaltlich-materielle Gehalt fehlt, daß die beabsichtigten Ergänzungen rein deklaratorischen Charakter haben, so daß sie im BGB und in der Zivilprozeßordnung fehl am Platze seien. Ich denke, dem ist nichts hinzuzufügen.
— Das ist ein Staatsziel, Herr Dr. Stark, und das wissen Sie.Die Schwierigkeit besteht jetzt darin, daß wir eine Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres wünschen, daß aber der vorgelegte Gesetzentwurf diese Verbesserung so nicht bringt. Sich für das Gesetz auszusprechen heißt, man befürwortet dies. Es werden zwei Punkte geregelt; nun sollen also wenigstens diese beiden Punkte Gesetz werden.Zweifel an der Aufrichtigkeit bleiben; die Taten dieser Bundesregierung im Tierschutz fehlen bislang, aber sie hat ja bis zum Dezember dieses Jahres noch etwas Zeit. So soll es denn sein, daß die Maus ihre Heilbehandlungskosten einklagen kann und vom Gerichtsvollzieher nicht mehr gepfändet werden kann.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das vorliegende Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im bürgerlichen Recht wird von meiner Fraktion sehr begrüßt. Wir sind dem Herrn Bundesjustizminister sehr dankbar, daß er dieses Gesetz zu seiner eigenen Herzensangelegenheit gemacht
und diesen Gesetzentwurf noch in dieser Legislaturperiode eingebracht hat.
Allgemein hat das bürgerliche Recht die veränderte Anschauung und das veränderte Verhältnis des Menschen zum Tier bislang nicht berücksichtigt. Das Bürgerliche Gesetzbuch ging schlicht von den altrömischen Rechtsgrundsätzen aus, daß das Tier eine Sache und demgemäß wie ein Gegenstand zu behandeln sei. Das Bürgerliche Gesetzbuch betrachtete das Tier nicht als ein Mitgeschöpf des Menschen und als ein Schmerz empfindendes Lebewesen, für das der Mensch zum Schutz und zur Fürsorge verpflichtet ist. Das bürgerliche Recht negiert damit bislang die veränderte Einstellung unserer Bürger zum Tier, insbesondere zum Haustier.
Für viele Menschen ist das Haustier zu einem Lebensbegleiter geworden. Demgemäß sind Tiere als Lebewesen zu betrachten, die auch unter dem besonderen Schutz der Gesetze stehen müssen, so daß z. B. ein Schädiger auch dann zur Übernahme der Heilbehandlungskosten verpflichtet sein soll, wenn der Wert des Tieres geringer als die entsprechenden Heilbehandlungskosten ist.
Ich halte es auch für richtig, daß nunmehr Tiere, die im häuslichen Bereich und nicht zu Erwerbszwecken gehalten werden, der Zwangsvollstreckung nicht mehr unterliegen, und zwar unabhängig von ihrem jeweiligen Marktwert.
Der ergänzte § 903 BGB macht darüber hinaus deutlich, daß der Eigentümer eines Tieres besondere Verpflichtungen hat, d. h. daß er die Vorschriften zum Schutz der Tiere beachten muß. Auch hierin wird deutlich, daß Tiere nicht mehr als leblose Sachen gelten, sondern daß der Eigentümer eines Tieres Verpflichtungen übernimmt. Der Kollege hat bereits ausgeführt, daß wir im Tierschutzgesetz entsprechende Änderungen und Verbesserungen vornehmen.
Soweit Tiere noch der Zwangsvollstreckung unterliegen, muß der Tierschutzgedanke verstärkt berücksichtigt werden. Auch hierin kommt die Verantwortung des Menschen für das Leben und das Wohlbefinden des Tieres zum Ausdruck.
Ich bin sicher, daß dieses Gesetz bei vielen Menschen, die Haustiere halten oder auch schlicht Tiere mögen, auf große Zustimmung stoßen wird, haben wir doch als Gesetzgeber endlich der veränderten Einstellung des Menschen zum Tier Rechnung getragen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Garbe.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kollegen und Kolleginnen! Was die Bundesregierung und mit ihr die Koalitionsfraktionen uns hier als angebliches Herzstück ihres Tierschutzkonzepts zur Beschlußfassung vorgelegt
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17081
Frau Garbehaben, ist eine beschämende Karikatur dessen, was die Tierfreunde in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahren gefordert haben, nämlich: Tiere sollen als Mitgeschöpfe und nicht länger als Sachen behandelt werden.Aus christlicher Verantwortung für die Schöpfung wie auch aus Mitgefühl mit der leidenden Kreatur ist es uns geboten, auch dem Tier zu seinem Recht zu verhelfen. Denn Tiere sind keine gefühllosen Sachen. Wir haben die Verpflichtung — ich erinnere an das Tierschutzgesetz — , für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen.Dieser Auftrag, der zu weitreichenden Konsequenzen führen sollte, wird von Ihnen jetzt mit einem Federstrich im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bei Ihnen ist der ernsthafte Wille nicht erkennbar und nicht vorhanden, Änderungen im Umgang unserer Gesellschaft mit Tieren festzuschreiben, die mehr wären als die kosmetische Anpassung des BGB an das, was die Rechtsprechung im Vorgriff bereits vollzogen hat.
Ich möchte hier den Vorwurf erheben, daß Sie, Herr Justizminister, und Sie, meine Herren und Damen von den Koalitionsfraktionen, hier eine Farce inszenieren. Den Tierfreunden wollen Sie lediglich einen Tropfen Balsam in die über das Leid der Tiere tränenden Augen träufeln.Wie waren Sie doch, Herr Justizminister, anläßlich der Einbringung des Gesetzes zu vernehmen. Ich darf zitieren:Alle Tierfreunde können sich freuen, daß nunmehr auch nach dem BGB eine besondere Verpflichtung und Verantwortung des Menschen besteht, dem Tier als Lebewesen besonderen Schutz und Fürsorge zuteil werden zu lassen.Das waren Ihre nicht unwerbewirksamen Sprüche bei der Vorstellung der geplanten Gesetzesänderung.
Was aber Herr Engelhard roßtäuscherisch noch als Jahrhundertwerk verstanden wissen wollte, fand nicht einmal Gnade bei den Koalitionsfraktionen.
Die marginalen BGB-Änderungen wurden noch weiter abgeschwächt gemäß dem Motto: Tiere sind keine Sachen, aber sie dürfen als solche weiter behandelt werden.
— Ich kenne den ganzen Vorgang. Seien Sie einmal schön ruhig.Meine Herren und Damen, würde diese Regierung, die Regierungskoalition, Tierschutz ernst nehmen, dann müßten tiefgreifende Gesetzesänderungen beschlossen werden. Tiere als Mitgeschöpfe zu achten hieße, die nicht artgemäße Tierhaltung zu unterbinden; sei es in der Hennenhaltung, sei es bei den Schweinen oder sei es bei den Kälbern. Es hieße, die erzwungenen Tierversuche im Chemikalienrecht und in vielen weiteren Gesetzen abzubauen, statt sie permanent auszuweiten und damit eine Sicherheit vorzuspiegeln, die es in Wirklichkeit bei den Chemieprodukten gar nicht gibt. Es hieße, die Vergewaltigung der Tiere mit den genchirurgischen Eingriffen wie mit gentechnischen Präparaten à la BST zu unterbinden.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Eylmann?
Bitte schön, Herr Kollege Eylmann.
Frau Kollegin Garbe, würden Sie mir zustimmen, daß es im vorliegenden Gesetz um eine Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches geht und daß das, was Sie eben aufgezählt haben, nicht seinen Platz im Bürgerlichen Gesetzbuch haben kann, sondern im Tierschutzgesetz?
Ich habe ja gesagt, was das Tierschutzgesetz aussagt; nämlich, daß wir mit den Tieren so umgehen sollen, wie die Tiere es verdienen. Wir sollen sie nicht als Sache behandeln. Dazu gehören auch die Tierversuche, auch wenn das gesetzlich im Tierschutzgesetz verankert ist.
— Meine Damen und Herren, wir wenden uns nicht gegen das Vorhaben — hören Sie schön zu — , im BGB die Mitgeschöpflichkeit der Tiere festzuhalten. Wir begrüßen das Vorhaben, im Schadensrecht und im Zwangsvollstreckungsrecht den Sachcharakter der Tiere aufzuheben und ihren besonderen Wert anzuerkennen. Wir werden uns aber wegen der geschilderten Inszenierung als Farce enthalten und klagen substantielle Verbesserungen im Tierschutz ein. Diese Verbesserungen können — das ist leider auch wieder die Erfahrung der Beratung dieses Gesetzentwurfs gewesen — offensichtlich nur gegen die Koalitionsfraktionen durchgesetzt werden. Die 6 Millionen Tierschützer und Tierschützerinnen in der Bundesrepublik werden sich hoffentlich bei der nächsten Bundestagswahl daran erinnern.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst allen Mitgliedern des Rechtsausschusses und speziell jenen, die dem Vorhaben positiv gegenüberstehen, sehr herzlich danken; denn ich verkenne nicht, daß die Zeit in dieser Legislaturperiode sehr knapp geworden ist, weil sehr wichtige Vorhaben noch zur Beratung anstanden und anstehen. Es ist schon eine gute
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17082 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Bundesminister EngelhardLeistung, daß es gelungen ist, auch dieses — dem Umfange nach kleine, aber in der Sache sehr wichtige — Vorhaben in dieser Legislaturperiode zu Ende zu bringen.Nun haben wir von zwei Seiten Kritik gehört. Ich will mit aller Deutlichkeit dieser Kritik entgegentreten, denn, Frau Kollegin Garbe, niemand hat von einem Jahrhundertgesetz gesprochen. Niemand — und schon gar nicht ich, aber auch keine anderen Kollegen — hat den Versuch unternommen, so zu tun, als würden alle Probleme des Tierschutzes mit diesem Vorhaben einer Lösung zugeführt. Nein, es ist etwas ganz anderes geschehen. Ich bin der Bundesminister der Justiz. Als solcher habe ich wie jeder andere Minister in dieser Bundesregierung — in welcher politischen Zusammensetzung auch immer — meine bestimmte Zuständigkeit, meine bestimmte Kompetenz.
Und ich habe mir, bezogen auf den Tierschutz, genau angesehen, wo es fehlt und wo wir aus dem Justizbereich etwas für die Sache tun können, wo wir einen großen Schritt hin zu einem ethischen Tierschutz machen können.Das Interessante und das Problem ist: daß dies bisher niemandem eingefallen ist, daß man sich mit dieser Frage nicht beschäftigt hat, daß es — über die engagierten und organisierten Tierschützer hinaus — ein breites Millionenpublikum in der Bevölkerung zunehmend merkwürdig, ja, zu Recht als anstößig empfindet, daß das Tier eine Sache ist, also quasi ein lebloser, toter Gegenstand, bei dem sich dann der Gedanke aufdrängt, daß man mit demselben eben auch so umgehen kann wie mit irgendeinem wertlosen Möbelstück, das einem zu Eigentum ist. Das ist das Problem.Und die Tierschützer werden sich — froh darüber, daß es in dieser Legislaturperiode gelungen ist, diesen Schritt zu tun— auch nicht von der sehr feinen Ironie der Frau Kollegin Adler beeindrucken lassen, die von der Unpfändbarkeit der vordem verletzten Maus, die der Heilung zugeführt werden konnte, gesprochen hat. Nein, meine Damen und Herren, wir haben es eben nicht dabei belassen, im Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches Grundsätze niederzulegen, sondern haben bereits an zwei Punkten ganz konkrete Schritte getan: im Schadensersatzrecht, aber auch im Recht der Zwangsvollstreckung.Damit ist etwas Wichtiges und Entscheidendes geschehen. Denn eines ist ganz klar — da kann man weit in die Geistesgeschichte des Abendlandes zurückschreiten — : daß das Tier eben jenen Stellenwert nicht hatte, nicht im Gesetz, aber auch nicht in den geistigen Vorstellungen all jener, auf die es angekommen ist. Und so hat bereits Albert Schweitzer einmal geklagt, indem er schrieb — ich darf zitieren — :Wie die Hausfrau, die die Stube gescheuert hat, Sorge trägt, daß die Tür zu ist, damit ja der Hund nicht hereinkomme und das getane Werk durch die Spur seiner Pfoten entstelle, also wachen die europäischen Denker darüber, daß ihnen keine Tiere in der Ethik herumlaufen.Das ist ein gutes Stück, und das hat dann natürlich auch im Bürgerlichen Gesetzbuch und an vielen anderen Stellen seinen entsprechenden Niederschlag gefunden.Dem Bisherigen entgegengetreten zu sein und diesen ersten und sehr wichtigen Schritt, der über das hinaus, was geschrieben steht, seine Ausstrahlung auf andere Bereiche des Tierschutzes haben wird, hier getan zu haben — darauf allerdings sind wir stolz. Wir werden uns bemühen, über dieses Problem weiter nachzudenken. Ich meine, daß sich diejenigen, die als engagierte Tierschützer dieses Vorhaben mit großem Interesse über Wochen und Monate verfolgt haben, ihre Freude nicht durch das vergällen lassen werden, was hier in dieser Debatte auch an Negativem geäußert worden ist.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im bürgerlichen Recht, Drucksachen 11/5463 und 11/7369.
Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit sind die aufgerufenen Vorschriften mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion der GRÜNEN angenommen worden. Die zweite Beratung ist damit abgeschlossen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — In der gleichen Stimmabgabe ist der Gesetzentwurf angenommen worden.
Meine Damen und Herren, ich rufe nun den Punkt 15 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wittmann, Marschewski, Eylmann, Dr. Stark , Dr. Hüsch, Seesing, Hörster, Helmrich, Geis und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Kleinert (Hannover), Funke, Irmer und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte
— Drucksache 11/6715 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 11/7417 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Eylmann Dr. de With
Deutscher Bundestag — 11, Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17083
Vizepräsident Westphal
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung dreißig Minuten vorgesehen. Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Eylmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da ich eine Überleitung brauche, lassen Sie mich folgenden Fall bilden. Gesetzt den Fall, ein Bauer klagt vor dem Sozialgericht eine berufsgenossenschaftliche Rente ein mit der Behauptung, sein Ochse habe ihn verletzt, und gesetzt weiter den Fall, er würde sich ausnahmsweise des Beistands eines Anwalts bedienen, dann bekommt der Anwalt in diesem Verfahren, wenn es um eine Rente geht — der Bauer könnte ja arbeitsunfähig sein — , eine sogenannte Rahmengebühr, deren unterer Eckpunkt bei 50 DM und deren oberer Eckpunkt bei 590 DM liegt. Man nimmt in aller Regel die sogenannte Mittelgebühr, die bei 320 DM liegt. Diese Gebühr bekommt der Anwalt in der ersten Instanz in sozialgerichtlichen Verfahren.
Diese Gebühr wollen wir jetzt in der Weise erhöhen, daß der untere Eckpunkt bei 80 DM, der obere bei 1 060 DM liegt. Die Mittelgebühr wird in Zukunft 570 DM betragen. Das ist eine Erhöhung in der ersten Instanz von 78 %. In den weiteren Instanzen ist die Erhöhung geringer.
Wer nun meinen sollte, diese 78 % seien eine schöne Erhöhung, und hier solle den Anwälten kurz vor der Wahl eine kleine Wohltat erwiesen werden, der würde die Situation verkennen. Bedenken Sie bitte, meine Damen und Herren: Für die 320 DM sind mehrere Gespräche mit dem Mandanten zu führen, hat sich der Anwalt mit der manchmal entlegenen und komplizierten Rechtsmaterie zu beschäftigen, muß er eine ganze Reihe von Schriftsätzen abfassen und häufig mehrere Gerichtstermine wahrnehmen. Wenn ich das auf den Stundenlohn des Anwalts umrechne, komme ich auf einen Betrag von manchmal nur 20 DM bis 30 DM. Jeder wird einsehen: Das ist unzumutbar.
Diese unangemessen niedrige Honorierung des Anwalts in sozialgerichtlichen Verfahren hat ihren Grund darin, daß vor Sozialgerichten häufig Bürger stehen — nicht immer, aber häufig —, die in beschränkten finanziellen Verhältnissen leben. Denen wollte man entgegenkommen. Aber wie so häufig erwies sich diese vermeintliche soziale Wohltat in ihren Folgen als ein Danaergeschenk. Da die Anwälte nicht auf ihre Kosten kamen, zogen sie sich weitgehend von der Vertretung vor den Sozialgerichten zurück. Nur in einer Minderzahl der sozialgerichtlichen Verfahren sind Anwälte beteiligt. Im Vordergrund steht der Beistand von Gewerkschaftsvertretern und Verbandsvertretern. Eine Spezialisierung der Anwaltschaft auf diese sehr wichtige und teilweise auch recht komplizierte Materie hat mit wenigen Ausnahmen nicht stattgefunden. Der Qualität der anwaltlichen Vertretung kam das auch nicht zustatten.
Wir sind nun der Meinung, meine Damen und Herren, daß der beste Vertreter rechtlicher Interessen der qualifizierte freie und unabhängige Anwalt ist. Wenn das richtig ist, tut man gerade dem Personenkreis, der vor den Sozialgerichten klagt, keinen Gefallen, wenn man den berufenen Vertreter rechtlicher Interessen, also den Anwalt, nur unzumutbar niedrig honoriert, mit der Folge, daß er sich gar nicht, unwillig und häufig, mangels Übung, auch ohne zureichende Spezialkenntnisse diesen Mandanten widmet.
Eine Änderung ist seit vielen Jahren überfällig. Ich erkläre offen, daß mir diese Änderung nicht weit genug geht. Richtiger wäre eine Umstellung auf Wertgebühren, also eine Bemessung des anwaltlichen Honorars nach dem Wert des Streitgegenstandes. Das haben wir nicht nur im zivilrechtlichen Verfahren, sondern auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren.
Wir haben hier jetzt einen Kompromiß auf dem Tisch liegen, den wir mühsam mit unseren Sozialpolitikern erzielt haben. Er ist aber sicherlich das, was man einen Schritt in die richtige Richtung nennt. Wir werden die Erfahrungen sorgfältig beobachten. Wenn sich unsere Hoffnungen erfüllen und sich mehr Anwälte diesem Bereich widmen, dann wird sich das auch auf eine Verkürzung der Verfahren und auf eine Verringerung der Zahl der Verfahren auswirken. Das wiederum wird die Gerichte und damit auch den Steuerzahler entlasten.
Wir hoffen zuversichtlich, daß wir in der nächsten Wahlperiode endlich die gesetzlichen Grundlagen für eine Spezialisierung der Anwaltschaft schaffen, also eine gesetzliche Grundlage für die Fachgebietsbezeichnungen in die Bundesrechtsanwaltsordnung einbauen. In der nächsten Wahlperiode haben wir auch eine Strukturreform der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung vor. Vielleicht läßt sich diese Frage des § 116 dann im Lichte der gewonnenen Erfahrungen erneut aufgreifen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Eylmann hat recht: Wer vor den ordentlichen Gerichten streiten will, sieht sich nicht selten mit einem hohen Streitwert konfrontiert. Das heißt, läßt er sich von einem Rechtsanwalt vertreten, wird dessen Beistandsleistung entsprechend teuer honoriert. Das wußte und weiß natürlich auch der Gesetzgeber. Deshalb hat er im Bereich der Sozialgerichtsbarkeit in Gestalt des § 116 der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung die Berechnung der Rechtsanwälte in diesem Fall in der Tat mit sehr niedrigen Gebühren verbunden, indem er lediglich eine kleine Rahmengebühr aussetzte.
Er ist damit also nicht vom Streitwert ausgegangen, von dem, was eigentlich eingeklagt wird.Auch aus diesem Grund verdient der Anwalt — um einmal ein handfestes Beispiel zu nennen —, der 1 500 DM Rente im Monat vor dem Sozialgericht mit Beweisaufnahme einklagt, bisher nur genau 410,40 DM. Handelte es sich um denselben Streitwert,
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Dr. de Withaber um die Klage vor dem Landgericht zur Entrichtung einer Geldrente als Schadenersatz für die Tötung oder Verletzung eines Menschen, wäre der Streitwert der fünffache Jahresbetrag und damit 90 000 DM. Das hätte zur Folge, daß für einen Rechtsanwalt 6 061,38 DM Gebühren anfielen.Die geringen Gebühren bei einem Prozeß vor den Sozialgerichten bewirken — ich glaube, daß muß man sagen — , daß der Rechtsanwalt dabei nicht nur nichts verdient, sondern nicht einmal seine Kosten decken kann, in aller Regel jedenfalls nicht.Das wiederum — und das ist der Punkt — führt dazu, daß sich Rechtsanwälte in diesem Bereich im allgemeinen nicht engagieren, um es höflich auszudrücken. Ausnahmen bestätigen allerdings die Regel. Dadurch aber ist ein großes Beistands- und Beratungskapital für den verlorengegangenen, der eine Rente vor den Sozialgerichten erstreiten muß. Dabei — und das betone ich — ist es keineswegs geringzuachten, was die Prozeßvertreter aus dem Bereich der Gewerkschaften und z. B. des VdK hier bisher geleistet haben und noch immer leisten. Ich denke, wir sollten es einmal aussprechen: Ihnen gebührt unser Dank.
Die erwähnte sehr niedrige Rahmengebühr soll mit diesem Gesetz erhöht und nicht etwa in eine sogenannte Wertgebühr umgewandelt werden. Sie wird so angehoben — und jetzt kommt wieder ein Beispiel, um es zu verdeutlichen — , daß der Rechtsanwalt in Zukunft für den genannten Prozeß 695,40 DM an Gebühren erheben wird. Das entspricht zwar noch immer bei weitem nicht dem Honorar eines vergleichbaren normalen Rentenprozesses vor einem Landgericht; aber es eröffnet nun mehr Möglichkeiten für den Rechtsanwalt. Einerseits sollen weder die Kassen der Rentenberechtigten und der zuständigen öffentlichen Körperschaften — sprich hier: der Rentenversicherungsträger — unzumutbar durch Gebühren belastet werden, andererseits aber soll der Zugang zu mehr Rechtsbeistand eröffnet werden. Das wird mit diesem Gesetz geleistet. Im übrigen kann Konkurrenz in einem Bereich der Rechtsbeistandsschaft zugunsten des Klienten von Schaden nicht sein.Natürlich wird jetzt der eine oder andere sagen: Jetzt bekommen brotlose Rechtsanwälte wieder etwas hineingeschaufelt. Das ist ebenso ungerecht wie falsch. Gute und schlechte soll es überall geben, auch im Deutschen Bundestag.
— Jetzt wachen Sie auf.
Jenseits allen sozialen Engagements für das Sparen und für niedrige Gebühren zugunsten der kleinen Leute und öffentlichen Kassen bedeutete trutzige Nichtanhebung zwar weiterhin billige Gebühren für die betroffenen Rechtsuchenden, aber auch weiterhin Unbilligkeit bei dem verständlichen Begehren nach Rechtsbeistandschaft. Guter Rat muß nicht immer teuer sein; aber billiger Rat kann teuer zu stehen kommen.Weil die Erhöhung wirklich nicht so groß ist, habe ich mit der Zeit gespart. Ich hoffe, der Herr Präsident und diejenigen, zu denen ich gesprochen habe, werden es — um im Bilde zu bleiben — honorieren. Wir Sozialdemokraten stimmen daher dem Gesetz zu.Vielen Dank.
Herr Kollege de With, Sie reihen sich in eine Reihe von Kollegen ein, die heute nachmittag ihre Redezeit nicht ausgenützt haben. Ich bedanke mich bei allen dafür; denn das ist wichtig für die heutige Nachtsitzung.
Jetzt kommt der Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Gesetzesentwurf ist ein Kompromiß, der mit den Sozialpolitikern, aber sicherlich auch mit den Bundesländern gefunden worden ist; denn die müssen ja gegebenenfalls im Prozeßkostenhilfeverfahren mit antreten. Dies ist ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Die bisherige Regelung, daß im Sozialgerichtsverfahren beauftragte Rechtsanwälte praktisch mit Pauschsätzen abgefunden werden, kann nicht befriedigen und hat schlicht dazu geführt, daß die betroffenen Bürger im sozialgerichtlichen Verfahren praktisch nicht auf die Hilfe erfahrener Rechtsanwälte zurückgreifen können; vielmehr werden im wesentlichen Gewerkschaftsfunktionäre und Vertreter von Interessenverbänden mit der Wahrnehmung dieser Rechtstreitigkeiten beauftragt. Der Rechtsuchende wird damit zum Bürger zweiter Klasse gemacht. Diese Regelung hat auch dazu geführt, daß selbst in einer so großen Stadt wie Hamburg kaum ein Anwaltskollege bereit und in der Lage ist, sich mit sozialgerichtlichen Verfahren zu beschäftigen. Es kann nicht Sinn einer rechtsstaatlichen Ordnung sein, wenn Teile der Rechtspflege — und dazu zählt nun einmal die Anwaltschaft — praktisch von der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ausgeschlossen werden.
Wir begrüßen daher, daß nunmehr die Rahmenbedingungen des § 116 Abs. 1 der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung etwas erhöht werden, daß der Katalog der Sozialgerichtsstreitigkeiten, die nach dem Gegenstandswert abgerechnet werden, erweitert wird. Wir werden intensiv beobachten, ob die Erweiterung der Möglichkeiten, nach dem Gegenstandswert abzurechnen, den unhaltbaren Zustand in der Rechtspflege zum Positiven verändert. Sollte dies nicht der Fall sein, so werden wir noch in der nächsten Legislaturperiode fordern, daß alle sozialgerichtlichen Verfahren in die Abrechnung nach dem Gegenstandswert einbezogen werden.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß Überlegungen, hier eine Änderung herbeizuführen,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17085
Bundesminister Engelharddie Zustimmung der Vertreter der Koalitionsfraktionen gefunden hat. Ich freue mich insbesondere darüber, daß es gelungen ist, im Rechtsausschuß zu einem einstimmigen Ergebnis zu kommen, daß auch die Vertreter der SPD ihre Zustimmung zu dem Gesetzentwurf gegeben haben.Ich meine, wir müssen einmal ernstlich darüber nachdenken, ob man weiter einen Weg gehen kann, bei dem die Rechtsbeistandsschaft in diesem Lande sehr unterschiedlich angesiedelt ist. Es kann und darf nicht richtig sein, daß sich nur wenige Angehörige der Anwaltschaft bereit finden, sich hier besonders zu engagieren, ganz einfach weil man sich das nicht leisten kann. Ich habe umgekehrt — auch dies kann, so schön es ist, nicht richtig sein — respektable Rechtsanwälte mit einer gutgehenden Kanzlei kennengelernt, die mir sagten: Sozusagen als unseren sozialen Beitrag haben wir es uns angewöhnt, in unserer Kanzlei pro Jahr soundso viele Sozialgerichtssachen mit zu betreuen. Wir verdienen daran nichts, wir zahlen sogar drauf. Aber wir meinen, wenn man es sich leisten kann, so muß man schließlich auch einmal so etwas tun und damit seinen Sozialbeitrag leisten.Warum ist das so? Ich denke, wir Rechtspolitiker sollten bei weiteren Erörterungen alle zusammen etwas offensiver vorstoßen, um eine etwas deutlichere Sprache mit den Sozialpolitikern zu sprechen, denn was dort angesiedelt ist — nicht nur an Zurückhaltung und Vorsicht —, ist im Grunde etwas anderes: Man glaubt, allein für einen Kreis von Menschen zuständig zu sein, den man ehedem als den Kreis armer, bedürftiger Leute umschrieben hat, über die der volle Schutz ausgebreitet werden muß, damit ihnen nichts passiert, die aber umgekehrt, auch wenn sie des Rechtsbeistands bedürfen, eben nicht in den Genuß dessen kommen, was anderen zur Verfügung steht.Das zu ändern — in einem Lande, das nicht nur ein Rechtsstaat, sondern auch ein Sozialstaat ist; beides geht ja Hand in Hand — und dies auch den Sozialpolitikern einmal etwas deutlich zu machen, wird eine Aufgabe für uns in der Zukunft sein.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte. Das sind die Drucksachen 11/6715 und 11/7417.
Ich mache darauf aufmerksam, daß mir eine schriftliche Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung von den Kollegen Frau Steinhauer, von der Wiesche, Hasenfratz, Andres, Urbaniak, Weiermann, Menzel, Amling und Westphal vorliegt, die dem Gesetz aus sozialpolitischen Gründen nicht ihre Zustimmung geben können. *)
Ich rufe nun die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? —
*) Anlage 4
Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind gegen einige Stimmen angenommen worden.
Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit Mehrheit angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes
— Drucksache 11/5829 —
Beschlußempfehung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 11/7421 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Seesing Dr. de With
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD Reform des Jugendgerichtsverfahrens
— Drucksachen 11/4892, 11/7421 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Seesing Dr. de With
Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/7428 und 11/7429 sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7433 vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dagegen keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Jugendgerichtsgesetz hat sich in der Vergangenheit bewährt. Es stellt sich die Frage: Warum dann ein solches Gesetz ändern? Ich möchte darauf eine Antwort zu geben versuchen.Kurz gefaßt könnte man sagen: Wir wissen heute mehr über Menschen, auch viel mehr über junge Menschen. Wir wissen mehr über Kriminalität und insbesondere wieder mehr über Kriminalität im Jugendalter. Wir haben aber auch die Erfahrungen der Praxis aufgreifen können. Davon schlägt sich schon eine Menge in diesem Gesetzentwurf nieder.Ich weiß, daß aber alle diese schon wichtigen und guten Dinge gegenüber dem Problem der Verhängung der Untersuchungshaft gegen 14- und 15jährige
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Seesingfast verblassen. Ich will mich auch nicht vor der Beantwortung der Frage drücken, warum diese Untersuchungshaft beibehalten wird, allerdings mit erheblichen Eingrenzungen.Ich persönlich habe schon erhebliche Bedenken, ob die Untersuchungshaft für 14- und 15jährige tatsächlich eine Hilfe ist; denn nach unserer Auffassung soll das Jugendstrafrecht zunächst und vor allem helfen, den jungen Menschen auf ein deliktfreies Leben einzustellen. Dazu soll und muß den Jugendstaatsanwälten und Jugendrichtern ein breites Spektrum an möglichen Maßnahmen zur Verfügung stehen.Die Belastungen, die die Untersuchungshaft mit sich bringt, sind um so stärker, je jünger ein betroffener Mensch ist. Bei den 14- und 15jährigen kann deswegen die Untersuchungshaft in Fällen unverhältnismäßig sein, in denen dies bei älteren Jugendlichen nicht der Fall ist. Wenn ich dennoch der Beibehaltung dieser Möglichkeit zustimme, so hat das mehrere Gründe.Erstens. Mehrere Bundesländer sind der Auffassung, daß auf die Untersuchungshaft bei 14- und 15jährigen nicht völlig verzichtet werden könne. Die praktischen Erfahrungen zeigten, so wird gesagt, daß man nicht jeden Jugendlichen in einem Heim halten könne, wenn nicht das Heim zur Gewährleistung der Sicherheit die Form einer Haftanstalt annehmen solle. Auch bei 14- und 15jährigen müsse man leider, wenn auch sicherlich selten, dem nicht ausschließbaren Fall Rechnung tragen, daß ein solcher Jugendlicher massive Strafen gegen Leib und Leben begehe. Dafür müsse man wenigstens die Möglichkeit haben, Untersuchungshaft anzuordnen, zumal die Gefahr bestünde, daß solche straffälligen Jugendlichen von Heimen der Jugendhilfe abgelehnt würden.Zweitens. Ich kann auch deswegen zustimmen, weil die Bestimmungen sehr eng gefaßt sind. So ist vorgeschrieben, daß bei der Verhängung von Untersuchungshaft im Haftbefehl die Gründe dafür anzuführen sind, daß andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe, nicht ausreichen und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist.Drittens. Auch die weiteren Einschränkungen, soweit sie z. B. die Verhängung von Untersuchungshaft wegen der Fluchtgefahr betreffen, beruhigen mich etwas. Zur Beruhigung trägt auch bei, daß in dem Entschließungsantrag, der heute auch beschlossen werden soll — ich bitte Sie sehr darum — , die Bundesregierung aufgefordert wird, bis zum 1. Oktober 1992 den Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes vorzulegen. Wir sollten uns dieser Frage dann nochmals annehmen.Ich meine, daß es in einer Gesellschaft, die das Kindesalter durch lange Schulzeiten praktisch bis zum 16. Lebensjahr ausgedehnt hat, andere Möglichkeiten geben muß, straffällig gewordene Kinder — wie man so sagt — aus dem Verkehr zu ziehen, als Untersuchungshaft zu verhängen. Ich fordere die Bundesländer auf, die nächsten zwei Jahre bzw. — bis zur Verabschiedung des kommenden Gesetzentwurfs — die nächsten drei Jahre zu nutzen, um von Juristen und Pädagogen entwickelte oder zu entwickelndeModelle einer Unterbringung von 14- und 15jährigen Straftätern auf ihre Anwendbarkeit auch für schwierigste Fälle zu überprüfen. Vielleicht können wir dann auf die Untersuchungshaft für 14- und 15jährige ganz verzichten und für 16- und 13jährige schärfere Bestimmungen einführen.Es ist ja doch wohl erwiesen, daß man Kriminalität im Jugendalter zunächst als entwicklungsbedingte Problematik sehen muß. Gerade in den Fällen der sogenannten leichten bis mittleren Jugendkriminalität wird man den jungen Menschen meist eher durch informelle, erzieherische Maßnahmen als durch ein Urteil helfen können.Ich weiß, daß Strafe sein muß; aber ich glaube, daß in den meisten Fällen die Entdeckung der Tat und die sich daraus ergebenden Kontakte mit Polizei, Jugendgerichtshilfe und Staatsanwaltschaft schon so viel Strafe sind, daß das reicht, um Reaktionen im jungen Menschen auszulösen.Nun gibt es auch den Jugendlichen, dem schwerste Straftaten nachgewiesen werden. Ich meine, daß die neuen Bestimmungen die vielfältigen Maßnahmen und Hilfen anbieten, die zu leisten sind. Ich bin der Ansicht, daß die Erweiterung der erzieherisch wirksamen Reaktionsmöglichkeiten des Jugendrichters in die richtige Richtung geht. Mit der Weisung z. B., sich um einen Ausgleich mit dem Verletzten zu bemühen — wir sprechen vom Täter-Opfer-Ausgleich —, werden dem jungen Menschen die Folgen seiner Tat verdeutlicht. Oft vernachlässigte Opferbelange werden berücksichtigt. Als Lehrer weiß ich, daß das Gespräch mit einem sogenannten Übeltäter oft mehr Wirkung als die Strafe hat.Ich bin mit dem Gesetz also recht zufrieden, weil es die ambulanten Maßnahmen aufnimmt, die sich mehr auf die positive Veränderung des Sozialverhaltens eines jugendlichen Straftäters richten. Ich erwarte, daß für das, was jetzt noch nicht geregelt werden konnte, in dem schon erwähnten zweiten Änderungsgesetz Vorschläge unterbreitet werden.Ich meine, daß man dem Bundesminister der Justiz und seinen Mitarbeitern für diesen Gesetzentwurf sehr dankbar sein kann. Dank sei aber auch den Kolleginnen und Kollegen im Rechtsausschuß für die so sachliche Arbeit gesagt, die in einigen Fällen auch schon zu weiteren Verbesserungen geführt hat.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Wort — Ihnen allen bekannt — von der Jugendsünde beleuchtet schlagartig und zutreffend die Situation junger Menschen gegenüber dem Strafrecht. Im jugendlichen Alter ist die Delinquenz häufiger. Sie ist aber auch häufig eine vorübergehende Erscheinung.Auch Shakespeare hat dies schon gewußt. In seinem „Wintermärchen" heißt es — ich zitiere —:Ich wollte, es gäbe gar kein Alter zwischen zehnund dreiundzwanzig, oder die jungen Leute ver-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17087
Dr. de Withschliefen die ganze Zeit. Denn dazwischen ist nichts, als den Dirnen Kinder schaffen, die Alten ärgern, stehlen, balgen.Horst Viehmann von dem ich dieses Zitat übernommen habe, schreibt dazu trocken — auch das ist zitierfähig — :Tiefschlaf wäre sein Rezept, — gemeint ist Shakespeare —nur käme die notwendige Entwicklung dabei zu kurz. Toleranz und Gelassenheit gegenüber den Ärgernissen dieser Phase, zusammen mit Hilfen und Normverdeutlichung, könnte man die Rezepte heute auf Grund unseres empirischen Wissensstandes nennen.Unsere heutigen statistischen Quellen belegen die Weisheit dieser Worte: Ein Drittel aller männlichen Bundesbürger ist im Alter bis zu 25 Jahren mindestens einmal wegen eines Vergehens oder Verbrechens verurteilt worden. Wird eine Einstellung eingeleiteter Verfahren hinzugerechnet, steigt die Zahl derer, die als straffähig registriert worden sind, auf rund 50 an. Im Alter von 25 Jahren, also mit der Verfestigung in der Gesellschaft, im Arbeitsleben und in der Familie, erfolgt offenbar eine Stabilisierung. Von da ab sinkt die Delinquenzrate deutlich.Berücksichtigt werden muß dabei ferner, daß etwa 75 To aller straffälligen Jugendlichen nun wegen Diebstahls und Unterschlagung sowie wegen Verkehrsdelikten verurteilt werden. Unter die Gewaltkriminalität können lediglich 5 % aller Fälle gezählt werden. Wird dann noch hinzugenommen, daß nach den Daten des Bundeszentralregisters die Rückfallquote der zur Jugendstrafe verurteilten 15- bis 20jährigen rund — man höre und staune — 90 To beträgt und über 80 % der Jugendarrestanten rückfällig werden, ergibt sich die Zielrichtung einer Reform von selbst:Erstens. Inhaftierungen sind nach Möglichkeit zu vermeiden. Zweitens. Erzieherisch fein abgestufte Maßnahmen sind soweit wie möglich an die Stelle dieser Strafen zu setzen.Das alles hat die Jugendstrafvollzugskommission Ende 1979 — Hans-Jochen Vogel war damals Justizminister — in ihrem Abschlußbericht bestätigt. Bestätigt hat dies auch die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion aus dem Jahre 1986. Beide Gedanken sind auch im Antrag der SPD-Fraktion zur Reform des Jugendgerichtsverfahrens aus dem Jahre 1989 und in der Gesetzesvorlage der Bundesregierung vom 27. November 1989 enthalten. Beide Entwürfe weisen auch in Einzelpunkten in hohem Maß Deckung auf. In sieben Punkten gibt es im Grunde Übereinstimmung. In zwei Punkten geht der Antrag der SPD deutlich weiter; ich komme darauf noch zu sprechen. Einen weiteren Reformpunkt hat die Bundesregierung nicht aufgegriffen. Aber: Wir bitten Sie darum ja durch einen Antrag, dem wir alle übereinstimmend zustimmen werden.Durch die Erweiterung der Erziehungsmaßregeln, u. a. um den so wichtigen Täter-Opfer-Ausgleich und die Aufnahme der Arbeitsauflage in den Auflagenkatalog, wird dem Erziehungsgedanken in Zukunft hehr Raum gegeben.Die Jugendstrafe von unbestimmter Dauer wird endlich abgeschafft.Der Ausbau der Strafaussetzung zur Bewährung auf grundsätzlich zwei Jahre wird sich möglicherweise als wichtigster Schritt zur Vermeidung des Strafvollzugs erweisen. Die SPD hatte allerdings schon vor zwei Jahren den Antrag gestellt, zusätzlich auch die Ausnahmeaussetzung auf Strafen bis zu drei Jahren zu erweitern. Dem sind Sie leider nicht gefolgt. Ich hoffe, Sie werden noch einsichtig werden.Eine grundsätzliche Umgestaltung des derzeitigen Jugendarrestsystems, die die SPD ebenfalls gefordert hatte, haben die Koalitionsfraktionen — hören Sie gut zu, meine Herren von der CDU/CSU — allerdings leider verweigert. Der Denkzettelgedanke wird daher weiter in Form des Kurzarrestes blühen und, wie wir meinen, sein Unwesen treiben.Die Möglichkeiten der informellen Erledigung mittels Einstellung durch den Staatsanwalt werden erweitert. Die Praxis hat gezeigt, daß die förmliche Reaktion durch ein Urteil bei kleinkriminellen Handlungen Jugendlicher häufig als Überreaktion angesehen werden muß.Die Jugendgerichtshilfe, die den Erziehungsgedanken in besonderem Maße verdeutlicht, wird gestärkt.Der Regierungsentwurf schränkt die Untersuchungshaft für Jugendliche, insbesondere für 14jährige und 15jährige, ein. Die Untersuchungshaft für 14- und 15jährige zu streichen, dazu konnten sich die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung allerdings leider nicht entschließen, wiewohl Herr Kollege Irmer von der FDP — er ist leider nicht hier — und ebenfalls Sie, Herr Justizminister, dies besonders beklagt haben, und zwar mehrmals, und darüber auch so geschrieben haben.Schließlich sieht das neue Recht die unverzügliche Bestellung eines Pflichtverteidigers vor, wenn der Jugendliche in Untersuchungshaft genommen wird oder seine einstweilige Unterbringung vollstreckt wird.Nach geltendem Recht ist Jugendarrest — um es so zu sagen, wie es im Gesetz steht — Freizeitarrest, Kurzarrest oder Dauerarrest. Der Freizeitarrest, so der Wortlaut, wird für die wöchentliche Freizeit des Jugendlichen verhängt und auf mindestens eine Freizeit und höchstens vier Freizeiten bemessen. Bundesregierung und Koalitionsfraktionen ändern lediglich den Freizeitarrest, und zwar dergestalt, daß er nicht mehr auf bis zu vier, sondern nur noch auf bis zu zwei Freizeiten bemessen werden kann. Das ist alles. Das ist mit Sicherheit allenfalls eine Minireform.
Es ist ein Scheinzugeständnis; denn die Zusage, dabei mit den Jugendlichen Ansätze zur Lösung ihrer Probleme zu erarbeiten, erscheint bei dieser Form des Freizeitarrestes schlechterdings nicht möglich.
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17088 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Dr. de WithIn Übereinstimmung mit Lehre und Praxis beantragen wir Sozialdemokraten deshalb — das ist der eine Antrag — , den Freizeitarrest und den Kurzarrest schlicht zu streichen. Es verbleibt dann beim Dauerarrest. Auch Sie, Herr Seesing, hatten ja Sympathie bekundet.
Die im Entwurf der Bundesregierung vorgesehene Einschränkung der Untersuchungshaft für 14- und 15jährige muß sicherlich als größerer Schritt angesehen werden; das sei konzediert. Die Bundesregierung bleibt jedoch, Herr Minister Engelhard, auf halbem Wege stehen. Bei sorgfältiger Abwägung hätte sie die Untersuchungshaft für 14- und 15jährige ganz streichen müssen. Ich sage das, was jetzt kommt, nicht von ungefähr: Die höchste psychische Bedrängnis, die unser Staat Menschen auferlegt, ist die Untersuchungshaft für 14- und 15jährige.
Das zeigt die in diesem Bereich besonders hohe Selbstmordrate. Insbesondere in den ersten vier Wochen wird offenbar der Schock der Einschließung ohne pädagogische Betreuung nur sehr schwer oder — wie die Selbstmorde belegen — ciar nicht überwunden.Hinzu kommt, daß in der Bundesrepublik die Untersuchungshaft sehr unterschiedlich verhängt wird. Waren es 1985/86 — die Statistik ist entlarvend — im Landgerichtsbezirk Hildesheim bei den 14- bis 21jährigen nur 0,6 To derjenigen, die einen schweren Diebstahl begangen hatten, so waren es in einem vergleichbaren Landgerichtsbezirk in Bayern 36,3 % . Unter den Untersuchungsgefangenen im Alter von 14 und 15 Jahren waren 1985/86 43,3 %, also fast die Hälfte, Ausländer. Von diesen wurden aber nur 14,6 % abgeurteilt. Die einen werden natürlich sagen: Das sind eben die landfahrenden Mittagseinbrecher. Und die anderen: Hier wird offenbar doch zuviel festgenommen, aus welchen Gründen auch immer.Was die landfahrenden Mittagseinbrecher anlangt, so sind diese in hohem Maße strafunmündige Kinder. Sie sind also schon nach derzeit geltendem Recht nicht vor den Richter zu bringen.Im übrigen steht immer noch die schon erwähnte vorläufige Einweisung in ein Erziehungsheim zur Verfügung, das alleine eine pädagogische Betreuung erlaubt.Die Zahl der 14- bis 15jährigen Untersuchungshäftlinge beläuft sich schon jetzt — Gott sei Dank — nur auf 200 bis 300 im Jahr. Durch die Maßnahme der Bundesregierung wird diese Zahl ganz sicherlich erheblich verkleinert.Ich frage mich nun, ob Sie sich nicht einen Ruck geben und heute und hier entscheiden können, daß auch noch der übrigbleibende kleine Rest an Kindern von der für sie so harten und unmenschlich wirkenden Untersuchungshaft verschont werden kann. Wenn ich bedenke, was wir im Deutschen Bundestag sonst oft an Geld und Gedanken einsetzen, um unseren Mitmenschen zu helfen, dann frage ich mich: Warum tun wir das nicht bei diesen wenigen Kindern? Das mag nicht populär sein, es wäre aber humanitär.
Zum Schluß möchte ich mich dem Dank, der hier schon ausgesprochen wurde, anschließen, aber einen Namen besonders nennen, nämlich den des Herrn Ministerialrat Horst Viehmann vom Bundesministerium der Justiz, und ihm meinen und, wie ich annehme, unser aller Dank aussprechen. Ohne ihn und seine Vorarbeiten hätten wir diesen wichtigen und längst fälligen Reformschritt sicherlich so nicht tun können. Er sitzt hier heute nicht mehr hinter dem Minister, weil ihm ein anderes Aufgabengebiet zugewachsen ist. Ich denke, sein Engagement über die Jahre hinweg verdient Respekt.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP-Fraktion begrüßt die hier vorliegende Novelle zum Jugendgerichtsgesetz. Hiermit werden die kriminologischen Erkenntnisse seit der Verabschiedung des Jugendgerichtsgesetzes im Jahre 1953 berücksichtigt.
Die kriminologischen Forschungen haben ergeben, daß insbesondere im Bereich der leichten und mittleren Jugendstraftaten, die im wesentlichen entwicklungsbedingte Auffälligkeiten darstellen, förmliche Verurteilungen in weitaus weniger Fällen geboten sind, als sie 1953 im Jugendgerichtsgesetz Eingang gefunden haben.Aus diesem Grunde sind die informellen Erledigungen auch kriminalpolitisch im Hinblick auf Prävention und Rückfallvermeidung stärker zu berücksichtigen. Darum sind in dieser Novelle die informellen Reaktionsmöglichkeiten von Jugendstaatsanwalt und Jugendrichter verstärkt sowie die erzieherisch wirksamen Reaktionsmöglichkeiten des Jugendrichters erweitert worden.Darüber hinaus ist der Freizeitarrest auf zwei Freizeiten beschränkt worden und um die Strafaussetzung zur Bewährung erweitert worden. Ich glaube, Herr Kollege Dr. de With, Sie machen es sich etwas leicht, wenn Sie sagen, daß diese zwei Freizeitarreste nicht ausreichten und daß es falsch sei, daß wir von vier auf zwei Freizeitarreste zurückgegangen seien.Ich glaube, wir müssen wie in all diesen Bereichen bei allen Reaktionsmöglichkeiten sehen, daß wir sozusagen in einer „running battle" sind, daß sich die Dinge noch entwickeln. Wenn sich diese Dinge im Gesetz als positiv herausstellen würden, wären wir natürlich bereit, mit Ihnen die weiteren Schritte zu gehen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17089
FunkeFür ganz wichtig halte ich § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7, in dem erstmalig die Grundsätze des Täter-OpferAusgleichs normiert worden sind.
Die hierdurch notwendige Auseinandersetzung mit der Tat — darauf hat Kollege Seesing schon hingewiesen — wird erzieherisch auf die Jugendlichen einwirken. Auf diese Weise werden oft vernachlässigte Opferbelange berücksichtigt, und der durch die Straftat entstandene Konflikt wird in der Regel erfolgreicher bereinigt, als dies traditionelle Sanktionen vermögen. Sie haben es gesagt: Ein Gespräch ist wichtiger als eine Strafe.In den Kreis des Täter-Opfer-Ausgleichs fallen auch Betreuungsweisung, sozialer Trainingskurs und Arbeitsauflagen. Hierdurch wird die Reaktionsmöglichkeit des Jugendrichters vor allem in Fällen der leichten und mittelschweren Kriminalität verbessert.Der Wert solcher erzieherischen Maßnahmen kann nicht nur aus dem Gesetz abgelesen werden, sondern hängt natürlich auch und vor allem von der Umsetzung durch Jugendrichter und Bewährungshelfer ab. Bei der Qualität unserer Jugendrichter und Bewährungshelfer gerade auf dem Gebiet des Jugendgerichtsgesetzes habe ich jedoch keine Zweifel daran, daß diese erweiterten Möglichkeiten der erzieherischen Einwirkung nicht nur genutzt, sondern auch erfolgreich angewandt werden und daß wir dann hier auch die weiteren Schritte beraten können.Schließlich muß es das Ziel eines guten Jugendgerichtsgesetzes sein, daß sich vor allem entwicklungsbedingte Auffälligkeiten — Herr Dr. de With, Sie haben bereits darauf hingewiesen, wie stark diese entwicklungsbedingten Auffälligkeiten bis zum 25. Lebensjahr sind — nicht wiederholen und der Jugendliche nicht wieder straffällig wird. Die bisherigen Erfolge im Bereich des Jugendgerichtsgesetzes machen uns Mut, auf dem Weg der ambulanten Maßnahmen voranzuschreiten und die traditionellen Sanktionen wie Geldbußen, Jugendarrest und Jugendstrafe zu ersetzen, ohne daß dadurch die Rückfallgefahr erhöht wird.In der vorliegenden Novelle sind die erleichterte Unterbringung im Erziehungsheim auch zur Vermeidung von Untersuchungshaft und die Einschränkung der Untersuchungshaft gegen Jugendliche vorgesehen, insbesondere gegen Jugendliche im Alter von 14 und 15 Jahren.Ich hätte es lieber gesehen, Herr Dr. de With, wenn diese Untersuchungshaft gegen 14- und 15jährige gänzlich gestrichen worden wäre. Dies war jedoch in der Koalition, wie Sie wissen, nicht durchsetzbar. Hier ist ein Kompromiß zustande gekommen.Wir werden mit Ihnen gemeinsam den Bericht der Bundesregierung in der nächsten Legislaturperiode abwarten und dann unsere Schlußfolgerungen ziehen. Sie können sicher sein, daß wir, wenn der Bericht ausweist, daß es nicht zweckmäßig ist, für 14- und 15jährige die Untersuchungshaft zu verordnen, mit Ihnen die Streichung der Untersuchungshaft für 14- und 15jährige befürworten werden. Wir werden uns die Gutachten ansehen und mit Ihnen gründlich beraten.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Nickels.
Lieber Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, Sie hatten sich mit diesem Gesetzentwurf sehr viel, sehr Lobenswertes und auch sehr Notwendiges im wahrsten Sinne des Wortes vorgenommen. Aber ich muß leider feststellen — das haben ja fraktionsübergreifend alle Kollegen, auch Sie, Herr Funke, bestätigt;
— das ist in diesem Hause hier immer noch die Ausnahme und nicht die Regel, Herr Funke — : Die wichtigsten Anliegen, die eigentlich der Sinn einer Novelle zum Jugendgerichtsgesetz waren, haben Sie nicht erfüllt; vor diesen haben Sie mit dem Gesetzentwurf gekniffen. Das bedaure ich ganz stark. Ich will mich nicht in Häme aufregen; aber es tut mir im Interesse der jungen Leute sehr leid.Anlaß für die Reformbemühungen war ja die Erkenntnis, daß das bisherige Reaktionsmuster auf Straftaten Jugendlicher gründlich gescheitert ist. Das Jugendgerichtsgesetz mit seinem sogenannten Erziehungspostulat erlaubt, nahezu jede Sanktion mit jedem Delikt zu kombinieren. Der Richter hat die freie Auswahl. Dementsprechend bleibt es dem Zufall überlassen, welchen Sanktionen ein junger Mensch unterworfen wird, je nachdem, in welchem Landgerichtsbezirk er oder sie nun gerade vor Gericht steht. Ja sogar innerhalb einer Stadt wie Hamburg schwankt die Quote der Verhängung von Jugendstrafe zwischen 3,6 und 27,1 % der nach Jugendstrafrecht Abgeurteilten, wie der Bundesrat in seiner kritischen Stellungnahme zu § 17 festgestellt hat.Die Gefängnisstrafe für diese Altersgruppe hat sich als äußerst schädlich für die Betroffenen und darüber hinaus als teures und geradezu kriminalitätsförderndes Element herausgestellt. Über 80 % der aus den Jugendstrafanstalten Entlassenen werden innerhalb von fünf Jahren rückfällig. Weil die Praktiker und Praktikerinnen darüber hinaus täglich die Erfahrung machen, daß Straftaten bei Jugendlichen oft nur eine vorübergehende Erscheinung und somit der Entwicklungsphase zuzurechnen sind — das haben auch Sie, Herr Seesing, hier noch einmal klar und deutlich gesagt — , und weil diese jugendlichen Straftäter ganz überwiegend nur Schäden am Eigentum oder Vermögen im Bagatellbereich, also ganz geringfügige Delikte, verursachen, haben diese Praktikerinnen und Praktiker schon vor Jahren daran gearbeitet, Mittel und Wege zu finden, wie Jugendliche den Schaden ausgleichen und so einer Verurteilung entgehen können. Diese Menschen — Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, Bewährungshelfer, aber auch Richter und Richterinnen und Staatsanwälte — haben den Weg dafür geebnet, die unseligen Gefängnisstrafen überall zurückzudrängen. In vielen Gerichtsbezirken hatten sie Erfolg, auch was die Rückfallquote und damit die Sieherheit der Bevölkerung vor Kriminialität
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17090 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Frau Nickelsangeht, die uns ja auch allen am Herzen liegt. Aber jetzt, mit diesem Gesetzentwurf, Herr Minister, ging es darum, diese Modelle, die die Praktiker und Praktikerinnen selber erstritten und praktiziert haben, endlich gesetzlich abzusichern und die enormen regionalen Unterschiede bei der Verurteilungspraxis zu beseitigen, indem Rechtsfolgen an gesetzliche Tatbestände und nicht an das diffuse Gemisch von Lebenserfahrung, Weltanschauung und Auffassung eines Richters von „Erziehung" geknüpft werden.Bei einer solchen Novelle ging es darum, den vorsintflutlichen Begriff der schädlichen Neigungen, mit dem den Jugendlichen geradezu eine biologische Zuneigung zum Verbrechen unterstellt wird, zu beseitigen. Weiter ging es darum — auch der Punkt läge unserer Auffassung nach im Interesse der Vorreiterinnen und Vorreiter aus der alten Praxis heraus — , die alten und neuen ambulanten Sanktionen nicht zusätzlich, sondern an Stelle der stationären Sanktionen — Arrest und Gefängnis — zu installieren.Das hätte aber bedeutet, Herr Minister, daß Sie eine sichere Sperre gegenüber einer bloßen Ausweitung von Sanktionsmöglichkeiten in das Gesetz mit eingebaut hätten, damit nicht eine Ausweitung des Saktionenkataloges durch ambulante Maßnahmen anstatt eines Ersatzes von Arrest und Gefängnis erfolgt. Diese Sperre fehlt im Gesetz.Das haben Sie alles versäumt, meine Damen und Herren von der Koalition.Herr Funke, Sie sagen, dies war Koalitionsräson. Aber die Zeche müssen die jungen Leute bezahlen.Es wurde hier eine große Chance verpaßt, den praktischen Erfahrungen — oft hat man ja nicht die Chance, daß schon Erfahrungen vorliegen, die bestätigen, daß es anders geht und wie es geht — und den hoffnungsvollen Erfahrungen endlich die notwendigen rechtlichen Reformen folgen zu lassen. Weiterhin wird es grundsätzlich möglich sein, 14jährige — fast noch Kinder! — in Untersuchungshaft einzusperren, und wir müssen befürchten, Herr Funke, daß dann auch weiter einige von denen versuchen werden, sich zu töten, daß sie verzweifelt sein werden. Das sind die Konsequenzen, wenn Sie jetzt noch eine Überlegungsphase wollen: Die Jugendlichen müssen den Preis bezahlen. Ich kann es fast nicht aushalten, wenn ich mir überlege, daß das einfach der Preis für Koalitionsräson sein soll.Wir haben einen Entschließungsantrag eingebracht — wenn denn von Ihrer Seite noch geprüft werden soll und geprüft werden muß und wenn alles das, was offensichtlich eigentlich sinnfällig gewesen wäre, nicht geht — , der vier Punkte enthält, die unseres Erachtens absolut notwendig wären und die auch mit geprüft und vorgelegt werden sollten, Herr Minister Engelhard.Das sind die Abschaffung der Gefängnisstrafe und des Arrestes für 14- und 15jährige Jugendliche, die Einführung des Täter-Opfer-Ausgleichs an Stelle der stationären Sanktionen — also Einbringung der erwähnten Sperre — und die Einführung notwendiger Verteidigung im Jugendstrafrecht. Ich hoffe, daß das schnell geht und nicht wieder ewig dauert.Danke schön.
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es liegt in der Natur der Sache, daß die Arbeit, die geleistet wurde, bevor hier ein Entwurf vorgelegt werden kann, sehr häufig unsichtbar bleibt und nicht ermessen werden kann, welcher zeitliche und arbeitsintensive Vorlauf stattgefunden hat.Ich bin sehr froh, daß wir heute mit diesem ja sehr spät vorgelegten Entwurf so weit gekommen sind. „Spät" deshalb, weil wir in der Abstimmung mit den LandesJustizverwaltungen beträchtliche Schwierigkeiten hatten.
Ich streite für dieses Vorhaben nun schon so manches Jahr. Es war ungemein schwierig, sich durchzusetzen — sprechen wir es offen aus — , beginnend damit, daß das Vorhaben Geld kostet, Geld, das die Finanzminister der Länder den Justizministern und Justizsenatoren zu geben so häufig eben nicht bereit sind. Damit beginnt es, und dann setzt es sich in einer Reihe ganz anderer Fragen fort, die ich hier nicht aufzuzählen brauche.Ich bin froh, daß wir so weit gekommen sind. Frau Kollegin Nickels, eines ist überhaupt nicht zu übersehen: daß eine Erweiterung der erzieherischen Maßnahmen erfolgt ist und wir auf diesem Wege weiterzugehen haben.Nun weiß ich wohl, daß in der Frage der Untersuchungshaft Unzufriedenheit herrscht. Herr Kollege de With, ich halte an dem fest, was ich ehedem sagte: In einem Lande wie diesem, wohlhabend und geordnet, kann es nicht richtig sein, daß man noch halbe Kinder in Untersuchungshaft bringen muß. Der Richter, der diese Haft verhängt, tut dies häufig ja in der Ausweglosigkeit, keine andere Institution zu haben. Er trifft diese Anordnung, damit der junge Mensch dann von der Straße wegkommt und ihm anderes, vielleicht noch Schlimmeres, erspart bleibt. Ich meine, wir müssen uns bemühen, daß flächendeckend in allen Bundesländern andere Einrichtungen geschaffen werden, die auch in der Lage sind, höchst gefährliche junge Leute, die wir zu einem Gott sei Dank sehr kleinen Prozentsatz leider auch haben, unterzubringen.Jetzt, wo diese Einrichtungen noch nicht überall vorhanden sind, war es in der Abstimmung mit den Landesjustizverwaltungen nicht möglich, mit dem, was wir für richtig halten vollends durchzudringen. Aber Sie wissen, daß es gelungen ist, die Untersuchungshaft für 14- und 15jährige auf wirklich ganz exemplarische Einzelfälle zu beschränken, und damit müssen wir zunächst noch leben. Aber in der Breite, in der die Untersuchungshaft bisher stattgefunden hat, wird sie künftig nicht mehr stattfinden.So tun wir heute auch einen weiteren wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Daß wir ihn tun kön-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17091
Bundesminister Engelhardnen, dafür bin ich dankbar. Ich danke allen Mitgliedern des Rechtsausschusses, die dabei mitgewirkt und dafür gearbeitet haben.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes. Das sind die Drucksachen 11/5829 und 11/7421.Ich rufe Art. 1 in der Ausschußfassung auf. Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor. Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/7428 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Änderungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/7429 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Änderungsantrag mit der gleichen Mehrheit abgelehnt worden.Wer für Art. 1 in der Ausschußfassung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist Art. 1 mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.Ich rufe die Art. 2 bis 7, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieses Gesetz mit der eben schon bei der zweiten Lesung vorhanden gewesenen Mehrheit angenommen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7433. Wer für diesen Entschließungsantrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Entschließungsantrag ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt worden.Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 11/7421. Der Ausschuß empfiehlt unter Buch-stabe b, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4892 für erledigt zu erklären. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist mit großer Mehrheit gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.Es ist nun noch über einen Entschließungsantrag abzustimmen, dessen Annahme der Rechtsausschuß auf Drucksache 11/7421 unter Buchstabe c empfiehlt. Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Damit ist diese Entschließung einstimmig angenommen worden.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 sowie den Zusatztagesordnungpunkt 3 auf:17. a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Augustin, Austermann, Böhm (Melsungen), Börnsen (Bönstrup), Bohlsen, Carstensen (Nordstrand), Dörflinger, Eigen, Engelsberger, Dr. Fell, Fischer (Hamburg), Frau Geiger, Gerstein, Gerster (Mainz), Glos, Dr. Göhner, Günther, Harries, Haungs, Frau Dr. Hellwig, Herkenrath, Hinsken, Höffken, Hörster, Dr. Hoffacker, Dr. Hüsch, Jung (Limburg), Kalb, Kalisch, Dr.-Ing. Kansy, Keller, Krey, Kroll-Schlüter, Dr. Kunz (Weiden), Lenzer, Lintner, Louven, Lowack, Lummer, Magin, Marschewski, Oswald, Pesch, Regenspurger, Rossmanith, Roth (Gießen), Ruf, Sauter (Epfendorf), Frau Schätzle, Schartz (Trier), Schmidbauer, Schneider (Idar-Oberstein), Freiherr von Schorlemer, Schulze (Berlin), Seesing, Spilker, Susset, Dr. Uelhoff, Graf von Waldburg-Zeil, Werner (Ulm), Wilz, Frau Dr. Wisniewski, Wissmann, Zeitlmann und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr.-Ing. Laermann, Baum, Bredehorn, Cronenberg (Arnsberg),Dr. Feldmann, Grünbeck, Heinrich, Dr. Hoyer, Kohn, Paintner, Rind, Dr. Solms, Dr. Weng , Wolfgramm (Göttingen), Frau Würfel, Zywietz und der Fraktion der FDPFörderung von Zukunftsenergien — Drucksachen 11/7169, 11/7418 —Berichterstatter: Abgeordneter Reuschenbachb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Daniels (Regensburg), Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN zur Großen Anfrage der Abgeordneten Lenzer, Maaß, Engelsberger, Carstensen (Nordstrand), Gerstein, Dr. Götz, Hauser (Esslingen), Linsmeier, Magin, Dr. Neuling, Dr. Rüttgers, Seesing,
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17092 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Vizepräsident WestphalDr. Voigt , Austermann,Dr. Laufs, Müller , Kossendey, Börnsen (Bönstrup), Dr. Hornhues, Weiß (Kaiserslautern), Dr. Müller, Schulze (Berlin), Sauer (Stuttgart), Schmitz (Beasweiler), Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Hüsch, Lowack, Daweke und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr.-Ing. Laermann, Baum, Beckmann, Bredehorn, Dr. Feldmann, Frau Folz-Steinakker, Grünbeck, Dr. Haussmann, Heinrich, Kleinert (Hannover), Kohn, Dr. Graf Lambsdorff, Neuhausen, Paintner, Frau Dr. Segall, Timm, Wolfgramm (Göttingen), Zywietz und der Fraktion der FDPFörderung und Nutzung „Erneuerbarer Energiequellen" in der Bundesrepublik Deutschland— Drucksachen 11/2029, 11/2684, 11/4048, 11/7419 —Berichterstatter: Abgeordneter Engelsbergerc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Daniels (Regensburg), Dr. Knabe, Frau Beck-Oberdorf, Wetzel, Frau Flinner, Dr. Mechtersheimer, Frau Hillerich, Frau Vennegerts, Such, Frau Schoppe, Hüser, Dr. Lippelt (Hannover), Frau Eid, Kreuzeder, Frau Dr. Vollmer, Frau Kelly, Frau Rock, Hoss, Frau Garbe, Frau Wollny, Frau Rust, Frau Hensel, Frau Saibold, Frau Schmidt (Hamburg), Volmer, Brauer und der Fraktion DIE GRÜNENFörderung des Aufkommens von elektrischem Strom aus Wasserkraft, Wind- und Solarenergie oder anderer, regenerativer unerschöpflicher Energie sowie aus rationellen Energieerzeugungsanlagen— Drucksachen 11/6408, 11/7420 —Berichterstatter: Abgeordneter Grünbeckd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Lennartz, Jung (Düsseldorf), Bachmaier, Blunck, Bulmahn, Conrad, Conradi, Fischer (Homburg), Ganseforth, Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Dr. Hauff, Heistermann, Ibrügger, Jansen, Dr. Jens, Kiehm, Dr. Klejdzinski, Koltzsch, Kretkowski,Dr. Martiny, Menzel, Meyer, Müller , Purps, Reimann, Reuter, Schäfer (Offenburg), Schanz, Dr. Schöfberger,Schreiner, Schütz, Simonis, Dr. Soell, Dr. Sperling,Stahl , Stiegler, Tietjen, Vosen, Waltemathe, Weiermann, Weyel, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDProgramm: Energieeinsparung und rationelle Energienutzung— Drucksachen 11/2242 , 11/7349 —Berichterstatter: Abgeordneter GersteinZP3 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Energiegesetzes— Drucksache 11/7322 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit HaushaltsausschußZu Tagesordnungspunkt 17 a liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7434 vor.Im Ältestenrat, meine Damen und Herren, sind für die gemeinsame Beratung 30 Minuten vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Engelsberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Koalitionsfraktionen zur Förderung von Zukunftsenergien zielt darauf ab, die praktische Anwendung umweltverträglicher Energien weiterzuentwickeln und den Einsatz in der Praxis zu fördern. Die zunehmende Belastung unserer Umwelt, insbesondere der Erdatmosphäre, und die immer realer werdende Klimakatastrophe verlangen dringend entschiedenes Handeln zur Abwendung dieser Gefahr.Insbesondere muß der Einsatz fossiler Brennstoffe weltweit reduziert und — wo immer das möglich und sinnvoll ist — durch den verstärkten Einsatz umweltfreundlicher regenerativer Energien ersetzt werden. Der Antrag geht auf die Möglichkeiten der Weiterentwicklung zukunftsträchtiger Energieszenarien ein und will die bisher gewonnenen umfangreichen Erkenntnisse endlich in die Praxis umsetzen.Bei der Sonnenenergie und den von ihr abhängigen Energieträgern Wind und Wasserkraft sind nicht nur weltweit, sondern auch in unserem Lande noch erhebliche gewinnbare Energiereserven vorhanden. Nachdem die Bundesregierung seit 1974 ca. 2,5 Milliarden DM für die Erforschung regenerativer Energien ausgegeben hat, sollen in dem vorliegenden Antrag nunmehr wichtige Wege aufgezeigt werden, wie der Einsatz dieser Energieträger attraktiver gestaltet werden kann.In Punkt 4 unter II des Antrags wird vor allem eine stärkere Berücksichtigung der vermiedenen externen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17093
EngelsbergerKosten einer schadstofffreien Energieerzeugung, dementsprechend eine sofortige und deutliche Verbesserung der Einspeisvergütungen für Strom aus erneuerbaren Energien, gefordert. Entsprechend wird die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine verbesserte Vergütung für regenerativ erzeugten Strom sicherstellt. Dabei wird ein Rahmen von 75 bis 90 % der Verkaufspreise der EVU an Letztverbraucher bei Anlagen bis 5 MW vorgegeben.Lassen Sie mich diese Forderung wie folgt begründen: Bei Windkraftwerken sind die Einspeispreise so unzureichend, daß bei den derzeitigen Vergütungen ein breiter Einsatz der Windenergie verhindert wird. Bei den Wasserkraftwerken mußten bereits Tausende von Kleinkraftwerken stillgelegt werden. Weiterhin ist wegen der völlig unzureichenden Einspeisvergütungen, die es nicht erlauben, Rücklagen für die Erneuerung zu bilden, in nächster Zeit mit einem weiteren Flächenbrand von Stillegungen vorhandener Anlagen zu rechnen. Mit besseren Einspeispreisen könnten dann Tausende vorhandener Werke zukunftsträchtig renoviert und bereits aufgegebene Werke reaktiviert werden.Die Energieversorgungsunternehmen argumentieren nun, daß durch höhere Vergütungen keine einzige Kilowattstunde regenerativer Energie zusätzlich erzeugt würde. Höhere Einspeisvergütungen hätten damit für die Allgemeinheit keinen Nutzen.Dem widerspricht ein Gutachten des Kernforschungsinstituts Jülich, demzufolge in der Bundesrepublik Deutschland noch ca. 12 Milliarden Kilowattstunden ausbaufähigen Wasserkraftpotentials vorhanden sind, wovon 10 Milliarden Kilowattstunden auf kleinere Anlagen und nur 2 Milliarden auf sogenannte Großanlagen entfallen. Diese Aussage macht deutlich, daß die wesentlichen Wasserkraftreserven im Klein- und Mittelanlagenbereich liegen. Wie ich bereits andeutete, könnten ca. 10 000 veraltete Anlagen durch eine Verbesserung der Einspeisepreise in die Lage versetzt werden, ihre Leistungen und Wirkungsgrade durch Reaktivierung und Modernisierung zu verbessern.Wir sollten uns endlich angewöhnen, regenerative Energieträger als nationale Energiereserve anzuerkennen, die es ebenso wie die deutsche Steinkohle verdienen, gefördert zu werden. Bereits heute werden durch den Einsatz regenerativer Energieträger in der Bundesrepublik Deutschland jährlich etwa 7 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten substituiert, und weitere 3 bis 4 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten könnten durch die Erweiterung, Reaktivierung und Modernisierung bestehender Anlagen ersetzt werden.Dagegen wird von den Energieversorgungsunternehmen eingewandt, daß die regenerativen Energieträger Sonne, Wind und Wasser unterschiedliche Gestehungspreise haben. Dieser Gesichtspunkt trifft in der Tat zu. Während beispielsweise photovoltaische elektrische Energie zu Preisen von mehreren D-Mark pro Kilowattstunde erzeugt wird und damit für Einspeisungen in öffentliche Netze kaum in Betracht kommt, ist die Windenergie dort, wo die nötigen Windgeschwindigkeiten vorhanden sind, bei einer Größenordnung von 25 Pfennig pro Kilowattstunde schon wesentlich rentabler. Ich glaube, auch der Antrag der GRÜNEN zielt darauf ab, in die Nähe dieser Preise zu kommen, so daß auch der Windeinsatz in der Bundesrepublik verantwortbar durchgeführt werden kann.Der Vorwurf, daß es zu Mitnahmeeffekten kommen würde, wird allein schon dadurch ausgeräumt, daß die in der Vergangenheit geltenden Finanzhilfen für regenerative Anlagen mit der Begründung abgeschafft würden, daß sie nicht in Anspruch genommen wurden, d. h. weil keine Gewinne erzielt wurden, konnten auch die geringeren Steuersätze nicht genutzt werden. Von den jahrzehntelang von den EVU erzielten Windfallprofits für eingespeisten regenerativen Strom wird überhaupt nicht gesprochen. Die in unserem Antrag zugrunde liegenden Beträge bedeuten nicht, daß die geforderten Einspeispreise nicht noch verbessert werden könnten. Sie stellen lediglich eine Untergrenze der Vergütung dar, zu der überhaupt noch regenerative elektrische Energie in öffentliche Netze eingespeist werden kann.Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang auch den Hinweis, daß derartige Überlegungen in den anderen europäischen Ländern bereits praktiziert werden und daß in der Bundesrepublik Deutschland bereits ein Gerichtsurteil vorliegt, durch das ein EVU verpflichtet worden ist, einem Wasserkraftbetreiber eine Einspeisvergütung von 13,5 Pfennig pro Kilowattstunde zu gewähren. Der bisherige durchschnittliche Einspeispreis für regenerative Energien liegt etwa bei 9 Pfennig pro Kilowattstunde, während der Endverbraucher in der Bundesrepublik einen durchschnittlichen Strompreis von 18,5 Pfennig je Kilowattstunde zu zahlen hat. Dabei hat die bisherige Kostengestaltung der Energiepreise auf die externen Umweltkosten keine Rücksicht genommen. Die durch einen regenerativ erzeugten Strom im Umweltbereich vermiedenen Wald-, Gebäude-, Gesundheits- und Klimaschäden sind bis heute in keine Kostenrechnung eingegangen, und das, obwohl der Vorrang für den Umweltschutz national wie international immer wieder beschworen und zuletzt auf der Umwelt- und Gesundheitskonferenz der neun europäischen Staaten in Frankfurt 1989 einstimmig beschlossen worden ist. Hier haben sich die verantwortlichen Politiker noch einmal deutlich zum Verursacherprinzip bekannt und damit dem Prinzip der Vorbeugung gegenüber der Umweltreparatur Vorrang eingeräumt.Es wäre deshalb auch irreführend, bei der Forderung nach höheren Einspeisvergütungen für regenerative Energiequellen von Subventionen zu sprechen, da es sich in Wirklichkeit um die Vergütung von vermiedenen Umweltschäden handelt. So liegen die sogenannten sozialen bzw. Folgekosten der Energieerzeugung bei fossilen Brennstoffen pro Kilowattstunde in der Größenordnung von 6 bis 10 Pfennig, wobei die externen Kosten durch Klimaschäden noch gar nicht eingerechnet sind. Hier wäre darauf hinzuweisen, daß durch den Einsatz regenerativer Energiequellen im Vergleich zu den Kohleverstromungen in der Bundes-
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Engelsbergerrepublik Deutschland schon heute 20 Millionen Tonnen CO2 vermieden werden.Zusammenfassend darf gesagt werden, daß die höheren Einspeisvergütungen für regenerative Energien sowohl im Bereich der Windenergie wie der Wasserkraft eine Renaissance einleiten könnten. Damit würde zugleich dem Bemühen Rechnung getragen werden, daß alles getan werden muß, um eine Klimakatastrophe zu vermeiden und daß es sich nicht zuletzt bei den Bekundungen der Politiker um Einsatz regenerativer Energien nicht nur um Lippenbekenntnisse handelt.Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jung .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, in allen Parteien wächst die Einsicht, daß die Industrieländer ökologisch und damit auch energiepolitisch am Scheideweg stehen. Herr Engelsberger, Ihr Beitrag war ein Beweis dafür, wenn auch nur ein bescheidener Beweis; denn auf unseren Energiegesetzentwurf sind Sie mit keinem Wort eingegangen.Wegen der Energieverschwendung, die wir uns nach wie vor leisten, sind wir bereits für die eingetretenen Klimaveränderungen, die wachsenden Umweltschäden und die radioaktiven Gefahren verantwortlich. Ohne eine drastische Umstrukturierung unserer Energieversorgung beschwören wir die drohende Klimakatastrophe geradezu herauf.Wenn wir nicht sicherstellen, daß die externen Kosten unseres Energieverbrauchs internalisiert werden, dann riskieren wir sehenden Auges, daß unsere Lebensgrundlagen zerstört werden. Deshalb müssen wir die Rahmenbedingungen der Marktwirtschaft ökologisch umgestalten. Dazu gehört, daß die Preise die ökologische Wirklichkeit abbilden müssen. Und dazu gehört ein neuer Ordnungsrahmen für Energieversorgung und Energieverbrauch.
Aber die Bundesregierung hat nicht den Mut, die notwendigen politischen Entscheidungen zu treffen.
Sie lehnt einen ökologischen Umbau der Industriegesellschaft ab, wie ihn unsere Kommission „Fortschritt 90" vorgeschlagen hat. Und mit ihrem Kabinettsbeschluß in der vergangenen Woche zur Eindämmung des Treibhauseffekts beschäftigt sie lediglich die Beamten mit Planspielen, statt überfällige Entscheidungen jetzt zu treffen.
Sie haben eben kein Konzept zum ökologischen Umbau, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. Deshalb trauen Sie sich auch nicht an Ökosteuern oder an ein neues Energierecht heran. Die Bevölkerung hat längst gemerkt, daß Sie beim Umweltschutz und in der Energiepolitik nach demMotto verfahren: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß! "Sie haben die politische Verantwortung für die Konsequenzen der Steuerreform, die sich gegen Energiesparen und erneuerbare Energien richten. Denn nicht anders wirkt die Abschaffung der erhöhten steuerlichen Abschreibungen für Energiesparmaßnahmen bei Gebäuden und die Abschaffung der Investitionshilfen z. B. für Kraft-Wärme-Kopplung und Fernwärme. Sie tragen die Verantwortung dafür, daß die Verbesserung der Energieeffizienz von 1982 bis 1989 nur noch 3 % betragen hat, während sie zu Zeiten der sozialliberalen Koalition, von 1973 bis 1982, 20 % betrug.
Der altbekannte „Schweinezyklus" von Energiepreisverfall und Energieverschwendung feiert fröhliche Urständ.
Sie haben dem seit 1985 tatenlos zugesehen und die Chance vertan, über höhere Energiepreise die Einsparung auf einem hohen Niveau zu stabilisieren.Obwohl die Konferenz der Wirtschaftsminister im vergangenen Jahr nun endlich beschlossen hat, was die Umweltminister seit Jahren fordern, nämlich sowohl preispolitische wie auch ordnungspolitische Maßnahmen zur Umstrukturierung der Energieversorgung durchzuführen, vertagt sich die Bundesregierung praktisch in die nächste Legislaturperiode. Kurzum: Ihre Energiepolitik versagt vor den beschriebenen Herausforderungen. Sie trägt mit ihrer Laissezfaire-Haltung zur Verschärfung der Probleme beim Klima-, Umwelt- und Ressourcenschutz bei.Wir haben dagegen mit unserem Entwurf für ein neues Energiegesetz und dem Programm zur Energieeinsparung und rationellen Energienutzung Bausteine eines klaren Konzepts für eine ökologisch verträgliche Energieversorgung vorgelegt.Wir haben bis zu 20 % Abschreibungserleichterungen für Investitionen in Energieeinsparung, rationelle Energienutzung und regenerative Energiequellen vorgesehen. Sie haben sich dagegen in Ihrem Antrag zur Förderung von Zukunftsenergien nicht zu einem konkreten Fördersatz durchringen können. Dasselbe gilt leider auch für den Entschließungsantrag der GRÜNEN zur Förderung und Nutzung erneuerbarer Energiequellen. Auch hier fehlen quantitative Angaben.
Ein neues Energiegesetz und diese Investitionshilfen werden zusammen mit den Ökosteuern die notwendige Kurskorrektur der Energieversorgung und des Energieverbrauchs bewirken. Diese Maßnahmen, die auch von der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" diskutiert worden sind und wahrscheinlich befürwortet werden, sind konkreter und reichen weiter als alles, was Koalition und auch GRÜNE vorgelegt haben.Die SPD macht Ernst mit der ökologischen Umgestaltung unseres Steuersystems. Sie macht Ernst mit
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Jung
der ordnungsrechtlichen Reform der Energieversorgung. Weder Koalition noch GRÜNE haben ein neues Energiegesetz vorgelegt.
Aber nur mit einem neuen energiewirtschaftlichen Ordnungsrahmen haben wir eine Chance, meine Damen und Herren, eine spürbare Reduzierung der Kohlendioxidemissionen zu erreichen. Deshalb schlagen wir in unserem Energiegesetzentwurf folgende neue Regelungen vor:Erstens. Ein ökologisch verpflichtender Zielkatalog, der endlich die längst überholte Präambel des Energiewirtschaftsgesetzes aus dem Jahre 1935 ablöst, die nichts zu Umweltschutz und Einsparung sagt, muß verbindliche Handlungsmaxime für alle an der Energiewirtschaft Beteiligten werden.Zweitens. Das Least-cost-planning-Prinzip, das in den Vereinigten Staaten auch erfolgreich angewandt wird, soll auch bei uns die bisherige Praxis der Angebotsausweitung durch eine Nahfrageoptimierung ersetzen. Energieversorgungsunternehmen sollen Energiedienstleistungsunternehmen werden.Drittens. Mit der Einbeziehung des verbesserten Energieeinsparungsgesetzes von 1976 sollen schärfere Anforderungen an Wärmeschutz durchgesetzt werden.Viertens. Die Handlungsmöglichkeiten der Kommunen sollen bei der Energieversorgung gestärkt werden, um endlich einen fairen Wettbewerb sicherzustellen, damit eine bessere Energieausnutzung insbesondere durch eine gekoppelte Erzeugung von Kraft und Wärme erreicht wird.
Fünftens. Die öffentliche Kontrolle, wie sie im Immissionsschutz längst üblich ist, muß zugunsten von Energieeinsparung und sparsamer Energienutzung erweitert werden. Wenn wir grundsätzlich an dem wettbewerbsrechtlichen Ausnahmetatbestand für die leitungsgebundene Energieversorgung festhalten, wenn wir also Oligopole und Monopole weiter zulassen, dann müssen Sie sich auch eine stärkere staatliche Kontrolle gefallen lassen.Sechstens. Die Einspeisung von Energie, nicht nur aus erneuerbaren Energiequellen, sondern darüber hinaus — und darauf kommt es uns besonders an — aus Abwärmenutzung und Kraft-Wärme-Kopplung, die die größten Einsparungserfolge verspricht, soll gesetzlich vorgeschrieben werden. Es geht nicht um Detailregelungen, sondern es geht um umfassende Reformen, damit eine rationellere Energienutzung auf breiter Ebene durchgesetzt wird.Unser Gesetzesvorschlag geht wesentlich weiter als der Antrag der Regierungskoalition, der im ersten Schritt nur die Verbesserung der freiwilligen Vereinbarung zwischen den Energieerzeugern und privaten bzw. kommunalen Eigenerzeugern fordert. Erst wenn diese freiwillige Vereinbarung scheitert — was angesichts der erklärten Absage der VdEW sicher ist —, soll die Bundesregierung eine gesetzliche Regelung schaffen. Dies ist doch reine Augenwischerei angesichts der verbleibenden Zeit und vor allem der im-mensen Probleme in dieser Legislaturperiode. In Wirklichkeit wird die gesetzliche Regelung doch nur vertagt.Wenn Sie wirklich etwas für bessere Einspeisevergütungen tun wollen, dann übernehmen Sie doch unsere gesetzliche Einspeiseregelung, statt wieder einmal auf Aktivitäten der Bundesregierung zu warten, deren Energiepolitik in den letzten Jahren doch durch weitgehende Untätigkeit geprägt war! Das wird sich doch in den letzten Monaten dieser Legislaturperiode nicht mehr ändern.Meine Damen und Herren, wer bei der notwendigen Energiewende, bei der Förderung erneuerbarer Energien glaubwürdig sein will, muß selbst konkrete Gesetzesänderungen vorschlagen. Sie haben doch die parlamentarische Mehrheit, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. Aber da ist bei Ihnen — wie übrigens auch bei den GRÜNEN — Fehlanzeige.Das Parlament muß endlich einmal selbst handeln, um Umweltschutz und Ressourcenschonung durchzusetzen. Sie sollten nicht auf halbem Wege stehenbleiben, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. Sonst erreichen wir den notwendigen ökologischen Generationsvertrag nicht, den wir den nachkommenden Generationen schuldig sind.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Laermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe gerade schon gesagt, wenn es nach den Vorschlägen und Vorstellungen der SPD ginge, müßte ich jetzt schon mit einer hohen Steuer belastet werden, weil ich zuviel Wärme unnütz emittiere.Die Koalitionsfraktionen haben sich zu dem hier heute zur Abstimmung anstehenden Antrag, die Förderung erneuerbarer Energien bedeutend zu verbessern, entschlossen. Sie legen aber Wert darauf, die Förderung erneuerbarer Energien nicht alleine auf die Einspeisevergütung ins öffentliche Stromnetz zu reduzieren — das stelle ich hier einmal deutlich heraus — , sondern wir wollen die steuerliche Förderung nach § 82 a Einkommensteuer-Durchführungsverordnung mit degressiven Sätzen neu zuschneiden. Wir wollen sie verbessern. Wir wollen dazu Investitionszuschüsse für die Fälle vorsehen, die von der steuerlichen Förderung nicht profitieren. Und wir wollen in einem intensiven Schulungs-, Beratungs- und Weiterbildungsprogramm vor allen Dingen die Anwendung und Erprobung erneuerbarer Energien durchsetzen. Diese Aus- und Weiterbildung richtet sich insbesondere an die Berufe, die mit der technischen Anwendung erneuerbarer Energien befaßt sind. Das sind also Ingenieure, Handwerker, Architekten und die entsprechenden Facharbeiter.
— Was die neuen Anlagen angeht, so werde ich gleichnoch etwas dazu sagen. Das gilt genauso für die Ein-
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Dr.-Ing. Laermannspeisevergütung. Denn das Ziel, das wir haben, ist, daß wir insbesondere dazu motivieren wollen, daß es neue, weitere Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien gibt. Was die Altanlagen betrifft, die Wasserkraftanlagen, was die Einspeisevergütung betrifft, so werden wir auch die alten Anlagen bis zu einer bestimmten Größenordnung einbeziehen, soweit es sich um die Nutzung erneuerbarer Energien handelt. Aber wir können die Einkommensteuer-Durchführungsverordnung nicht rückwirkend auf Altanlagen anwenden.
— Nein, die Altanlagen brauchen keine steuerliche Begünstigung mehr. Entschuldigung, das sind Investitionszuschüsse, um die es hier geht, und dafür brauchen wir das nicht.Die Einspeisevergütung für Strom aus erneuerbaren Energien in das öffentliche Elektrizitätsnetz ist nach unserer Ansicht mit der freiwilligen Vereinbarung der Elektrizitätswirtschaft mit der VIK nicht ausreichend geregelt. Das möchte ich einmal deutlich feststellen.
Die Vermeidung externer Kosten wird in dieser Vereinbarung nicht berücksichtigt. Im Interesse der Umwelt und der Schadstoffvermeidung haben wir uns daher entschlossen, von der Elektrizitätswirtschaft eine Verbesserung der Einspeisevergütung zu fordern. Falls ein ausreichendes Angebot — hören Sie bitte gut zu — bis zum 1. September 1990 nicht vorliegt, wird eine gesetzliche Regelung über die Einspeisevergütung in Aussicht genommen; wir wollen das dann regeln. —
Als Liberale setzen wir zunächst einmal auf freiwillige Vereinbarungen. Bis wirklich bis zum Ende ausgetestet ist, ob das machbar ist, haben wir den Glauben an freiwillige Vereinbarungen und Einsichten nicht verloren. — Dies ist angesichts der regionalen Monopolsituation der Elektrizitätswirtschaft zwar gerechtfertigt, aber ich gebe zu, daß diese preisregulierende Maßnahme, die einen erheblichen Eingriff in den Energiemarkt darstellt, mir als das letzte noch akzeptable Mittel erscheint. Wir sichern den Betreibern bestehender Wasserkraftanlagen eine auskömmliche Rendite zu,
während es eigentlich darauf ankommt, Investitionen in neue Anlagen anzureizen. Wind und Sonne sind zu den Bedingungen, die die gesetzliche Einspeiseregelung vorsehen würde, immer noch nicht konkurrenzfähig.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Engelsberger?
Wird sie nicht auf meine Redezeit angerechnet? — Herr Kollege Engelsberger, bitte.
Bitte schön, Herr Engelsberger.
Herr Kollege Laermann, ist Ihnen bekannt, daß die VdEW es bei den jüngsten Gesprächen abgelehnt hat, über Einspeisevergütungen überhaupt zu verhandeln, und daß der Termin 1. September 1990 damit an und für sich gar nicht abgewartet zu werden braucht, bis die Bundesregierung sich dann letzen Endes bemüht, einen Gesetzesvorschlag vorzulegen?
Also, können Sie sich vorstellen, Herr Kollege Engelsberger, daß die Verhandlungsposition — wenn wir hier und heute eine Debatte über diese Frage führen und eine Beschlußvorlage vorlegen, der zuzustimmen wie hier bitten — mit den Elektrizitätsversorgungsunternehmen und der VdEW vor dem Hintergrund einer solchen Beschlußfassung durch den Deutschen Bundestag natürlich eine ganz andere ist als vor einer solchen Beschlußfassung? Ich könnte mir sehr wohl vorstellen, daß man in solchen Bereichen natürlich auch einmal darauf abhebt, ob — und in welchem Maße — ein Parlament es mit diesen Dingen ernst meint. Das wollen wir hier heute abend damit demonstrieren.
Jetzt gibt es noch einen Wunsch nach einer Zwischenfrage. Gestatten Sie ihn? — Bitte schön.
Herr Kollege Laermann, wie läßt es sich mit Ihrem liberalen Standort in Einklang bringen, daß z. B. für den Schnellen Brüter anderthalb Milliarden DM Nachfinanzierung, letztlich zu Lasten des Stromkunden, eingeworben worden sind —
die Beträge konnten dann umgelegt werden — , während wenige Millionen, so möchte ich einmal sagen, jetzt nicht umgelegt werden können, um diese wirklich regenerativen Energien „ans Laufen" zu bringen?
Herr Kollege Vosen, erstens glaube ich hier deutlich gemacht zu haben, daß wir das gerade wollen: eine höhere Einspeisevergütung für durch regenerative Energien erzeugten Strom. Das ist doch der Punkt. Genau das wollen wir.Zweitens zu Ihrer Frage in bezug auf den Schnellen Brüter. Ich habe Ihnen heute vormittag schon einmal gesagt: Wir sitzen gemeinsam in einem Boot, wie Sie heute morgen selbst festgestellt haben. Wir haben Dinge abzuarbeiten, die aus der Vergangenheit herrühren. Sie werden uns doch nicht dazu veranlassen wollen, vertragsbrüchig zu werden. Oder wollen Sie das?
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Dr.-Ing. LaermannIch meine, daß wir hier sehr wohl einen wichtigen ersten Schritt getan haben. Man sollte den zweiten Schritt nicht vor dem ersten tun.
Wir wollen in unseren Maßnahmen seriös bleiben. Es soll auch vernünftig abgewickelt werden.Im übrigen werden die erneuerbaren Energien von der Einführung einer Klimaschutzsteuer auf fossile Energien, die wir im Maßnahmenpaket zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes erwägen, profitieren. Genau das möchte ich hier noch darstellen. In diesem Gesamtkonzept, das wir hier vorlegen werden, werden auch Maßnahmen zur weiteren Intensivierung des Energiesparens und der rationellen Energienutzung vorgesehen sein.Ich betone noch einmal: Wenn irgend möglich, wollen wir marktwirtschaftliche Instrumente einsetzen. Wir haben auch noch das Vertrauen und das Zutrauen in die Verantwortlichen in der Industie und in den EVUs, daß sie die Notwendigkeit eines solchen Handelns, nämlich dieser Maßnahmen, einsehen und entsprechend verhandlungsbereit sind. Das ist der Versuch. Das ist das Angebot, das wir machen. Wenn das nicht funktioniert, werden wir zu gesetzlichen Maßnahmen schreiten müssen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Daniels .
Herr Staatssekretär! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir führen heute eine längst überfällige Debatte über konkrete Fördermaßnahmen für erneuerbare Energiequellen. Ich möchte heute abend aber bewußt scharfe Angriffe unterlassen, weil es in diesem Bereich sichtbar erfreuliche Entwicklungen in allen Fraktionen gibt.
Die Diskussionen im Ausschuß für Forschung und Technologie und im Umweltausschuß haben ergeben, daß diese Ausschüsse eine Regelung empfehlen, die den Erzeugern für Elektrizität aus erneuerbaren Energiequellen eine wirtschaftlich vertretbare Kostenvergütung im Sinne des vorliegenden Antrags der GRÜNEN durch die Energieversorgungsunternehmen zusichert. Die Diskussion im Wirtschaftsausschuß wurde kurzfristig verschoben, weil die Koalitionsfraktionen nach langem Zaudern einen eigenen Antrag einbringen wollen, der ebenfalls konkrete Vorgaben mit garantierten Mindestvergütungen für Privateinspeiser von Strom aus erneuerbaren Energien vorsieht. Das ist nicht als eine Subventionierung der bleibenden Energiequellen durch die öffentliche Hand zu verstehen,sondern als eine Aufforderung an die EVUs, die völlig unzureichende Vergütung zu verbessern, um die Markteinführung der erneuerbaren Energiequellen nicht weiter zu behindern, sondern zu fördern.Unser grüner Antrag hat zum Ziel, durch eine gerechte Vergütung nicht nur die erneuerbaren Energien zu fördern, sondern auch einen Anstoß für den Einsatz von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen zur Stromerzeung zu geben. Hier kann besonders schnell eine Wirtschaftlichkeit erreicht werden, wenn eine Einspeisung ins öffentliche Netz fair vergütet wird. Das ist bis heute überhaupt nicht gewährleistet. Es ist klar: Wenn man an dieser Stelle ansetzt, könnte für die EVUs eine echte Gefahr bestehen, größere Pfründe zu verlieren. Angesichts des Klimakollaps sollten aber die politisch Verantwortlichen den Zwang zu einer effizienteren Energieumwandlung beschleunigen und die EVUs über eine Pflicht zur Einspeisung von Strom aus rationellen Energieträgern drängen, in diese Richtung umzusteigen.Was nun die Höhe der Einspeisevergütungen angeht, haben die GRÜNEN in ihren früheren Anträgen ähnlich wie die SPD in ihrem neuen Entwurf zur Reform des Energiewirtschaftsgesetzes die Formel der langfristig vermiedenen Kosten als Berechnungsgrundlage für die Vergütung gewählt. Das heißt natürlich auch die Berücksichtigung externer Kosten wie Umweltbelastungen durch fossile Energieträger. Da aber ein wissenschaftlicher Streit über die Höhe dieser Belastungen besteht und darüber, wie sie in D-Mark zu bemessen sind, wird jede Festlegung von Preisbehörden angreifbar. Wir haben uns deshalb in unserem Antrag auf eine konkret faßbare und meßbare Größe bezogen. Dem Einspeiser soll für jede ins Netz gelieferte Kilowattstunde elektrische Arbeit eine Vergütung in Höhe der vollen betriebswirtschaftlichen Kosten zufließen, die bei der Verstromung deutscher Steinkohle in rauchgasgereinigten Kraftwerken unter Berücksichtigung aller Kostenfaktoren vermeidbar sind. Für die Windenergie wären das ca. 20 Pfennig je Kilowattstunde.Ist dies nun gerechtfertigt, oder darf man nur von den durchschnittlichen Letztverbraucherpreisen ausgehen, wie es im Koalitionsantrag vorgesehen ist? Die Einspeisung konkurriert nicht mit den Durchschnittskosten, sondern mit den höchsten erforderlichen Beschaffungskosten bei Zubau von rauchgasgereinigten Kohlekraftwerken.Weil der Einsatz von Windkraftanlagen dezentral erfolgt, kann man bei Windkraftwerken von Mittellastkraftwerken sprechen, die über einen statistischen Verschmierungseffekt sogar zur Grundlast beitragen. Hierdurch vermeiden die EVUs etwa 10 % an Leistungsverlusten. Es ist nur schwer nachzuvollziehen, wenn z. B. RWE Regenerativstrom einspeisen läßt, zu Nachbarn weiterleitet und zum dreifach höheren Preis verkauft. Daß die EVUs für den eigenerzeugten Strom aus Wasser und Wind intern längst einen höheren Preis verrechnen als für den bezogenen Strom, verdeutlicht, wie dringend Handlungsbedarf auf seiten der Exekutive besteht.Ich hoffe, daß diese Informationen ihren Widerhall finden werden, wenn es in dieser Legislaturperiode doch noch zur Beratung eines entsprechenden Ge-
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Dr. Daniels
setzentwurfes kommen sollte. Daß ich da etwas skeptisch bin, können Sie, meine Damen und Herren, mir wohl nicht verübeln. Auch ich bin der Meinung, daß das wachsende Verständnis für die bedrohliche Lage unseres Planeten uns alle wohl etwas näher zusammenrücken läßt.Deswegen bitte ich um Ihre Unterstützung des Änderungsantrages, zumindest eine 90%ige Vergütung vorzusehen. Bisher sind nur 75 % als Vergütung vorgesehen.
Denn zu Recht haben die Windenergie-Interessenverbände mit ihrem Schreiben an alle Bundestagsabgeordneten in den letzten Tagen deutlich gemacht, daß endlich den erneuerbaren Energien eine Chance gegeben werden muß, ihre Erzeugungskosten — speziell beim Wind — etwas weiter abdecken zu können.
Das macht für die EVUs zusätzliche 2 Millionen DM aus, der andere Bereich 50 Millionen.Ich habe heute vom Wirtschaftsministerium erfahren, daß gerade diese Frage einer Regelung zugunsten der Windenergie im Gesetzgebungsplanungsverfahren gesondert geprüft wird. Deswegen bitte ich Sie, zumindest unserem Änderungsantrag zuzustimmen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, Herr Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Klima-Diskussion, so denke ich, hat uns alle sensibilisiert. Zwischen der Bundesregierung und den antragstellenden Fraktionen gibt es deshalb keinen Dissens in dem Grundgedanken, einerseits eine stärkere Energieeffizienz und andererseits eine Ausweitung der erneuerbaren Energien anzustreben. Beide Zielsetzungen hat die Bundesregierung in der Vergangenheit mit vielfältigen Maßnahmen gefördert. Ich will einige hervorheben: erstens den Einsatz von 3,4 Milliarden DM in den letzten 15 Jahren für Forschung, Entwicklung und Demonstration bei der rationellen Energieverwendung und für erneuerbare Energien, zweitens die Unterstützung der Anwendung von Technologien zur rationellen Energieverwendung und von erneuerbaren Energien im Markt durch zinsgünstige Kredite, erhöhte Sonderabschreibungen und Investitionskostenzuschüsse, drittens die Förderung von Information und Beratung und viertens die Einrichtung des Forums für Zukunftsenergien im vergangenen Jahr.
Meine Damen und Herren, der Antrag der Koalitionsfraktionen liegt auf der Linie der Bemühungen der Bundesregierung und verstetigt ihre Aktivitäten. Der Antrag nimmt teilweise die vom Bundeswirtschaftsministerium im Mai dieses Jahres vorgelegten Vorschläge auf. Die bis Ende 1991 auslaufenden Sonderabschreibungen sowie flankierende Maßnahmen sollen neugefaßt und erweitert werden. Unsere Vorschläge werden gegenwärtig mit den anderen Ressorts abgestimmt.
Ein weiterer zentraler Punkt des Koalitionsantrages ist eine Mindestvergütung für die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energiequellen. Hier hat sich der Bundeswirtschaftsminister bereits vor längerem für die Anhebung der Vergütung durch eine freiwillige Vereinbarung eingesetzt. Ziel war es, die Vergütung des vollen wirtschaftlichen Wertes des eingespeisten Stromes auf Grund der langfristig vermiedenen Kosten sicherzustellen. Die bereits eingetretenen Verbesserungen sind, meine ich, auch von niemandem zu bestreiten, auch wenn sie den Vertretern erneuerbarer Energien unzureichend gewesen sein mögen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vosen?
Ich möchte jetzt erst einmal im Zusammenhang sprechen. Ich nehme an, daß seine Frage aus dem beantwortet wird, was ich jetzt sage.Der jetzige Antrag geht über den Ansatz der vermiedenen Kosten hinaus, indem er eine Mindesteinspeisevergütung von 75 bis 90 % der Verkaufserlöse der EVU fordert. Meine Damen und Herren, da sich eine solche Regelung schon wegen der kartellrechtlichen Probleme nicht durch private Vereinbarung der Beteiligten erreichen läßt — dies haben die Gespräche, die wir geführt haben, gezeigt — , wird der Bundesminister für Wirtschaft nach Verabschiedung der Entschließung so zügig einen entsprechenden Gesetzentwurf ausarbeiten, daß die parlamentarischen Beratungen unmittelbar nach der Sommerpause aufgenommen werden können. Herr Kollege Jung, ich denke, der Vorwurf der Augenwischerei entbehrt somit jeglicher Grundlage.
Wir werden einen Entwurf mit einfachen und überschaubaren Regelungen vorlegen, der ohne größeren Verwaltungsaufwand vollzogen werden kann. Dabei soll — und das will ich betonen — unter Vermeidung von Mitnahmeeffekten der Neubau von Anlagen gefördert und der Weiterbetrieb laufender Anlagen gesichert werden. Der Antrag stellt nach Einschätzung der Bundesregierung insgesamt eine sachgerechte Grundlage für die Förderung erneuerbarer Energien, die wir schließlich alle wollen, dar.Hinsichtlich der Anträge der GRÜNEN allerdings bestehen erhebliche Bedenken. Wir halten es für falsch, bei der Einspeisevergütung an den Kosten der Verstromung deutscher Steinkohle anzusetzen. Im übrigen enthält das Konzept dieses ersten Antrages viel zuviel dirigistische Ansätze. Dies gilt ähnlich auch für den SPD-Antrag zur Einsparung und rationellen Energieverwendung. Er führt darüber hinaus zu einem unvertretbar hohen Finanzaufwand. Die Bundesregierung lehnt ihn deshalb ab, allerdings — und das will ich betonen — ohne zu verkennen, daß er mit den
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Parl. Staatssekretär BeckmannVorschlägen zur Verbesserung des baulichen Wärmeschutzes Elemente enthält, die auch von der Bundesregierung im Zusammenhang mit der CO2-Problematik geprüft werden.Lassen Sie mich abschließend feststellen: Insgesamt begrüßt die Bundesregierung, daß sich alle hier vertretenen Parteien für die Förderung der erneuerbaren Energien und der rationellen Energienutzung einsetzen. Die Debatte hat in Einzelpunkten, insbesondere was den Weg betrifft, Unterschiede zwischen der Regierungskoalition und den Oppositionsparteien verdeutlicht. Wir wollen aber auch — und das möchte ich nachdrücklich sagen — mit Befriedigung vermerken, daß sich die Standpunkte im großen und ganzen angenähert haben. — Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7434. Wer für diesen Änderungsantrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Mehrheit ist bei der Koalition, d. h. der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/7418. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/7169 anzunehmen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktionen der SPD und der GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung mit Mehrheit angenommen worden.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/7419. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4048 abzulehnen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD gegen die Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Nun kommen wir zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/7420. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6408 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist ebenfalls mit großer Mehrheit angenommen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/7349. Auch hier empfiehlt der Ausschuß, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2242 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung mit der
Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Zu Zusatztagesordnungpunkt 3 ist interfraktionell vorgeschlagen worden, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/7322 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 18 der Tagesordnung auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Schmidt , Frau Nickels und der Fraktion DIE GRÜNEN
Beseitigung strafrechtlicher Hindernisse in der AIDS-Prävention bei Drogengebrauchern und -gebraucherinnen
— Drucksache 11/6551 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Meneses Vogl, Such und der Fraktion DIE GRÜNEN
Gesamtdrogenpolitik der Bundesregierung
— Drucksache 11/6163 —
Im Ältestenrat ist eine gemeinsame Beratung dieser Punkte und ein Beitrag je Fraktion bis zu zehn Minuten vereinbart worden. — Ich sehe auch dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Such.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte über Drogenpolitik heute abend hat zwei Anlässe: zum einen unseren Antrag, entsprechend der Empfehlung der Enquete-Kommission AIDS sowie aller Drogensuchtberater endlich klarstellen zu lassen, daß die Abgabe steriler Spritzen an Heroinkonsumenten nicht strafbar, sondern zur Verringerung des Ansteckungsrisikos erforderlich ist. Statt den erforderlichen Gesetzentwurf hier vorzulegen, hat die Bundesregierung entgegnet, die bisherige Rechtslage sei ausreichend und angemessen. Diese Auffassung ist untragbar.Wenn der Bundesregierung wirklich daran gelegen wäre, die ja auch ihr bekannte derzeitige Strafverfolgungspraxis gegen Spritzenverteiler und Drogenberater sowie Beschlagnahme von Spritzenautomaten effektiv zu unterbinden, hätte sie hier schon längst die Initiative ergreifen können; denn hinsichtlich repressiver Ergänzungen des Betäubungsmittelgesetzes ist sie ja sehr fleißig, produktiv; damit ist sie schnell zur Hand. Wenn die Bundesregierung die bisherige Praxis als angemessen bezeichnet, darf ihr unterstellt werden, daß die dahinterstehende Logik nach dem Motto „Flaschenöffner fördern Alkoholkonsum" auch bei ihr verfangen hat. Mit solchem Unsinn muß eine rationale Drogenpolitik konsequent Schluß machen.
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SuchDer zweite Anlaß dieser Aussprache ist unsere große Anfrage nach den Grundzügen einer abgestimmten Drogenpolitik hierzulande. Obwohl wir hierin bereits vor Weihnachten letzten Jahres nur neun einfache Fragen gestellt haben, hat die Bundesregierung bisher nur einen vertröstenden Zwischenbescheid zuwege gebracht, uns aber noch keine inhaltliche Antwort gegeben.
Der Sache nach liegt eine solche Antwort nun allerdings mit dem sogenannten nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan vor, auf den ich mich im folgenden beziehen werde.Um es vorwegzunehmen: Schon der agitatorische Titel des Projekts — der Sache nach geht es um den unter Strafe gestellten Umgang mit bestimmten Genußmitteln und Suchtstoffen — scheint den Kommentar eines Landesministers zu belegen, der den Plan und die dazugehörende Konferenz als unangemessene Public-Relations-Aktion bezeichnet hat. Tatsächlich baut der Plan nicht, was dringend erforderlich wäre, das derzeitige eindeutige Übergewicht repressiver Maßnahmen gegenüber Menschen ab, die mit bestimmten Drogen umgehen, sondern kündigt weitere Verschärfungen an.Nach Angaben der Bundesregierung bezogen sich von den zwischen 1985 bis 1987 eingeleiteten 200 000 Strafermittlungsverfahren nach dem Betäubungsmittelgesetz rund 80 % allein auf den Umgang mit geringen Eigenkonsummengen; bei über 60 % handelte es sich um Canabisprodukte. Über 10 % der Verdächtigen — 1988 waren es schon 15 % — wurden wegen Haschischmengen unter 5 g verfolgt. Die Tendenz ist weiter steigend. Das heißt: Die Strafverfolgungskapazitäten konzentrieren sich nicht auf Händler, Dealer und Hintermänner, sondern auf kleine Konsumentinnen und Konsumenten.
— Die Zahlen sprechen ja dafür. — Die bekannte und vielbeschriebene soziale Verelendung insbesondere von Konsumenten harter Drogen wird somit zu einem Gutteil erst durch diesen staatlichen Verfolgungsdruck produziert. Daher haben wir nicht nur ein Drogenproblem, sondern primär ein Drogenpolitikproblem, meine Damen und Herren.
Die will die Bundesregierung offenbar noch verschärfen. Ich greife aus dem breiten Katalog von schon eingereichten und angekündigten strafrechtlichen Vorhaben hier nur besonders Skurriles heraus:Der Bundesinnenminister hat uns in Aussicht gestellt, daß auch das Aufstacheln und Verleiten zu unbefugtem Betäubungsmittelgebrauch oder dessen Verharmlosung oder Verherrlichung strafbar werden sollen.
Dies erinnert fatal an die entsprechende Kriminalisierung von Meinungsäußerungen gegenüber Gewalttaten.
Die §§ 88a, 130a und 130b StGB sind berüchtigte Marksteine der Rechtsgeschichte. Würden diese Planungen umgesetzt, so wäre schon meine heutige Rede gefährdet, als verharmlosend zu gelten.Mit solchen Vorhaben setzen sich offenbar Parolen durch, wie sie insbesondere in Bayern ausgegeben werden und in denen von „Null-Toleranz-Politik gegenüber der Rauschgiftpest" die Rede ist oder auch „Jagt die Hascher! " verlangt wird. Der Bundeskanzler spricht moderater von einer „Ächtung des Drogenkonsums", meint aber offenbar das gleiche, nämlich daß das heere Abstinenzideal mit allen Mitteln durchgesetzt werden soll, auch wenn Betroffene dabei verrecken.Der Kanzler sieht im Drogenplan nebulös ein ausgewogenes Verhältnis bzw. eine Balance von präventiven, therapeutischen und repressiven Maßnahmen. Besonders Kecke in der CDU reden gar von „Therapie vor Strafe ". Derartige Schnacks verkommen aber zu bloßen Beschönigungen und zur Tarnung dessen, was unter dieser Überschrift tatsächlich ins Werk gesetzt wird.
Deutlich werden die wahren Schwerpunkte nur durch die Zuweisung neuer Stellen: 400 für das BKA, nur 30 Vorbeugungsmaßnahmen im weitesten Sinne. Das sind die traurigen Relationen, meine Damen und Herren.Kein Wunder, daß die Drogenfachleute von Arbeiterwohlfahrt bis Deutsche AIDS-Hilfe über diesen Plan meinen „Uns blüht nichts Gutes" und erklären: „Mit uns ist kein Drogenkrieg zu machen."Tatsächlich werden unter dem bloßen Vorwand der Drogenbekämpfung ganz nach amerikanischem Vorbild zusätzliche Eingriffsbefugnisse der Sicherheitsbehörden vorgeschlagen, mit denen den Bürgerrechten der Krieg angesagt wird.
Das vom Bundesrat jüngst vorgeschlagene Füllhorn mit Wanzeneinsatz, beobachtender Fahndung, Erweiterung der Telefonüberwachungsmöglichkeiten etc. würde den mit dem Strafverfahrensänderungsgesetz angepeilten Katalog paralleler Maßnahmen noch beträchtlich erweitern. Unfaßbar, daß auch die meisten SPD-regierten Länder dem zugestimmt haben.
Demgegenüber kommen die schon lange geforderten Maßnahmen z. B. gegen bundesdeutsche Chemikalienexporte zur Drogenherstellung ebensowenig in Gang wie präventive Initiativen gegen legale Drogen. Vielmehr sind wichtige Schutzmaßnahmen und sämtliche Anträge der GRÜNEN in diesem Bereich, z. B. Verbot von Tabak-, Alkohol- und Arzneimittelwerbung sowie Vertriebsbeschränkungen für Tabakwa-
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Suchren, von einer großen Koalition in diesem Hause abgelehnt worden. Wie ernst sollen wir dann Ihren Willen zu wirklichen Verbesserungen noch nehmen? Das frage ich insbesondere die Regierungsbank.Schließlich muß sich auch noch die Erkenntnis stärker durchsetzen, daß die westlichen Konsumentenländer nicht Stellvertreterkriege in den Anbauländern fördern dürfen, wie das insbesondere die USA negativ vorexerzieren. Vielmehr müssen den Menschen in diesen Ländern, die in der Drogenproduktion heute ihren Lebensunterhalt verdienen, ernsthafte Anreize für einen Umstieg geboten werden.
Dabei darf finanziell nicht gekleckert, sondern muß geklotzt werden.Die Mittel dürfen zudem nicht dazu verwendet werden, eine exportorientierte Produktion zu fördern und auf dem Weltmarkt zu stützen, sondern müssen primär zur Befriedung von Arbeitsplätzen, die dem einheimischen Bedarf, Lebensbedarf usw. dienen, geschaffen werden. Das sieht die Bundesregierung, die noch von Kaffee und Bananen redet, leider offenbar noch anders.Ich schließe, meine Damen und Herren, mit dem Appell: Abrüstung im Drogenkrieg!Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Herr Pfeifer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat bereits im Januar zum Ausdruck gebracht, daß sie die Große Anfrage beantworten möchte, aber erst, nachdem die für die erste Juli-Hälfte geplante nationale Drogenkonferenz stattgefunden hat. Ich hätte es besser gefunden, wenn hier so verfahren worden wäre, daß diese Debatte zunächst einmal entsprechend den Vorstellungen der Bundesregierung stattgefunden hätte. Vielleicht wäre dann manches von dem, was wir eben gehört haben, sachlicher und sachbezogener ausgeführt worden. Denn Sachbezogenheit, meine Damen und Herren, ist bei dieser Thematik in meinen Augen unbedingt wichtig, weil der Kampf gegen den Drogenmißbrauch nun wirklich eine nationale und internationale Herausforderung geworden ist.Die Statistiken aus dem Drogenbereich machen das deutlich. Wir hatten im vergangenen Jahr annähernd 1 000 Drogentote. Leider zeichnet sich in diesem Jahr eine weitere Steigerung ab. Wir müssen davon ausgehen, daß in der Bundesrepublik Deutschland ca. 70 000 Personen von harten Drogen abhängig sind. Im internationalen Raum, den Anbau- und Herstellerländern, haben wir es mit hochpotenten kriminellen Organisationen und deren rücksichtsloser Machtpolitik zu tun. Die Gesamtumsätze des illegalen Rauschgifthandels werden inzwischen auf 800 Milliarden DM geschätzt. Das ist mehr, als der Bundeshaushalt beträgt.Angesichts dieser drastischen und dramatischen Entwicklung müssen wir sehen, daß alles, was wir in den zurückliegenden Jahren im Kampf gegen den Drogenmißbrauch geleistet haben, für die Zukunft nicht mehr ausreicht. Deshalb hat die Bundesregierung zusammen mit den Ländern und unter Einbeziehung wichtiger gesellschaftlicher Organisationen und Gruppen einen nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan entwickelt,
der allerdings von ganz anderen Grundsätzen ausgeht, Herr Kollege Such, als das, was Sie hier gesagt haben. Deswegen möchte ich diese Grundsätze nochmals kurz erläutern:Erstens. Wir brauchen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen repressiven Maßnahmen auf der einen Seite und Prävention, Therapie und Rehabilitation auf der anderen.
Diese Ausgewogenheit hat der nationale Rauschgiftbekämpfungsplan im Verlauf seiner Erarbeitung gefunden.Zweitens. In der Prävention muß alles geschehen, damit Drogenkonsum in unserer Gesellschaft geächtet und insbesondere die junge Generation für ein Leben ohne Suchtstoffe gewonnen wird.
Dabei räumen wir einem breiten Ansatz der Suchtprävention, der nicht einzelne Suchtmittel in den Vordergrund stellt, ausdrücklich den Vorrang ein. Auf allen Ebenen des gesellschaftlichen und des öffentlichen Lebens wollen wir Arbeitskreise für Suchtprävention initiieren und jetzt ein Modellprogramm „Mobile Drogenprävention" flächendeckend vor Ort verwirklichen.
Drittens. Drogenabhängige sind Kranke, die Anspruch auf medizinische Behandlung und Rehabilitation haben. Wir brauchen für diese Menschen ein deutlich vermehrtes Angebot an stationären und ambulanten Hilfestellungen.
Das gilt ganz besonders für langjährig Abhängige, die wir auf ein Drittel der Drogenabhängigen schätzen, die häufig mehrere erfolglose Therapieversuche hinter sich haben und oft nicht gewillt sind, in eine längerfristige Behandlung zu gehen. Für diese Menschen brauchen wir neue Hilfsangebote, die auch Teilerfolge akzeptieren, zumal für diese Drogenabhängigen jeder drogenfreie Tag ein Gewinn ist. Aus
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Parl. Staatssekretär Pfeiferdiesem Grund haben wir ein neues Modellprogramm „Kompakttherapie" entwickelt, das eine sofortige Entgiftung vorsieht, ohne daß es an eine nachfolgende Therapie zwingend gekoppelt ist, das jedoch mit einer kompakten psychosozialen Betreuung verbunden ist.Viertens. Wir werden in den nächsten Jahren die Suchtforschung intensivieren, weil diese Forschung zur Optimierung der Erfolge bei Therapie und Rehabilitation wesentlich beitragen kann.Fünftens. Wir werden Anbau, Produktion und Handel weiterhin mit allen verfügbaren Mitteln bekämpfen und die internationale Zusammenarbeit in diesem Kampf intensivieren. Dazu wird Herr Kollege Spranger gleich noch Ausführungen machen.Meine Damen und Herren, ich betrachte es als ein wichtiges Datum, daß sich Bund und Länder, aber auch die Länder untereinander trotz mancher unterschiedlicher Positionen auf einen gemeinsamen nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan verständigt haben. Ich möchte Sie darum bitten, daß wir hier zu einer sachlichen Diskussion finden und daß dieser Rauschgiftbekämpfungsplan in einem möglichst breiten Konsens hier im Parlament unterstützt wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Singer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen von Herrn Staatssekretär Pfeifer waren so enttäuschend wie der nationale Drogenbekämpfungsplan auch.
Er hat so gut wie keine Antworten auf die drängenden Probleme gegeben.
Nun gehöre ich sicherlich nicht zu denjenigen, die die Situation bei der Drogenproblematik bagatellisieren wollen, im Gegenteil: Auch ich sehe das als dramatisch an. Mich erschrecken der Zuwachs an Drogentoten, der Zuwachs an sichergestellten Mengen von Rauschmitteln, die zunehmende Zahl von Abhängigen und die Hilflosigkeit des Staates und seiner Behörden, wenn es darum geht, mit dem Problem fertig zu werden. Nur meine ich, die Antworten, die wir hierzu von der Bundesregierung und von den Koalitionsparteien bekommen haben, sind deprimierend. Sie sind enttäuschend.
Sie geben überhaupt keine brauchbare Alternative vor.Wir haben uns heute hier mit zwei Tagesordnungspunkten zu beschäftigen, wobei ich der Korrektheit halber zunächst auf den Antrag der GRÜNEN, was die Spritzenbestecke angeht, eingehen will. Dieser Antrag findet die volle Unterstützung der SPD. Wir haben bisher ebenfalls die Meinung vertreten, es bedürfe keiner besonderen Regelung, weil die Verabfolgung von sterilen Spritzen straffrei sein müsse, die geltende Rechtslage so etwas zulasse. Das Urteil des Landgerichts Dortmund hat uns da unsanft aufgeweckt. Es ist insofern interessant, als dieses Urteil in völligem Gegensatz zur Meinung der Landesregierung Nordrhein-Westfalen steht. Ich habe mich eigentlich darauf verlassen, daß von dort der gesetzgeberische Push kommt, die Initiative kommt, um eine Klarstellung herbeizuführen.Ich begrüße, daß dieser Antrag vorliegt. Wir werden ihm, wie gesagt, zustimmen, obwohl man natürlich gewisse Bedenken haben muß; denn indem man eine gesetzgeberische Initiative fordert, könnte man in den Verdacht geraten, einzuräumen, daß es einer solchen Sache überhaupt bedarf. Ich stehe nach wie vor auf dem Standpunkt: Was dort in Dortmund mit den Automaten geschehen ist, war in Ordnung, war legal, war zulässig und hätte so fortgesetzt werden müssen.
Die Handlungsweise der Staatsanwaltschaft Dortmund kann ich überhaupt nicht verstehen.
— Herr Geis, Sie kennen mich lange genug und dürften deshalb eine solch absurde Frage eigentlich nicht stellen. Ich habe alles andere vor, als den Drogengebrauch zu fördern.
Herr Geis, wir wissen nur eines: Eine drogenfreie Gesellschaft ist nicht erreichbar. Wer sich hier im Deutschen Bundestag hinstellt und behauptet, er habe Patentrezepte zur Lösung des Drogenproblems, belügt sich und die Öffentlichkeit. Das wissen wir. Wir können die Problematik allenfalls dämpfen und zurückfahren,
aber komplett lösen können wir sie nicht. Dafür liegen Vorschläge vor.Wir müssen doch einfach feststellen, daß die repressiven Ansätze in den westeuropäischen Industrienationen — ob das in den USA war, ob das bei uns war, ob das in Frankreich oder in England war —
gescheitert sind. Sie sind samt und sonders gescheitert.
Der Bericht, der uns hierzu über die Rechtsprechung in Strafsachen zur Drogenproblematik vorliegt, gibt eine deutliche Auskunft.
Wir haben wachsende Zahlen, überall. Die Amerikaner sind, obwohl sie 6 000 Beamte bei der Drug Enforcement Agency beschäftigen und Unsummen von Dollar in die Drogenbekämpfung repressiver Art hineinpumpen, erfolglos geblieben. Das geht so weit, daß in amerikanischen Großstädten von Bürgermeistern
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Singerfür Jugendliche schon Ausgehverbote für die Zeit ab 10 Uhr verhängt werden müssen. Stellen Sie sich so etwas einmal vor! Da müssen Ausgehverbote verhängt werden, weil die sich anders nicht zu helfen wissen! Das ist ein Offenbarungseid.
Ich befürchte: Wenn wir so weitermachen, wie bisher, blüht uns hier eines Tages etwas Ähnliches wie die Verhältnisse in den USA.
Deswegen müssen wir umsteuern und uns etwas anderes einfallen lassen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn das nicht auf die Zeit angerechnet wird, selbstverständlich gern.
Herr Kollege, glauben Sie, daß Sie diesem Problem gerecht werden, wenn Sie in den Strafanstalten Einmalspritzen frei zur Verfügung stellen, oder glauben Sie nicht viel eher, daß gerade durch solche Maßnahmen das Drogenproblem in den Strafanstalten — darum geht es in diesem Antrag der GRÜNEN — noch mehr gefördert wird?
Herr Geis, ich verstehe vom Innenleben von deutschen Strafanstalten aufgrund meiner Berufserfahrung vermutlich etwas mehr als Sie. Ich weiß, daß die Drogenproblematik dort vorhanden ist. Die Drogenproblematik verändern Sie nicht dadurch, daß Sie Spritzen verabreichen oder verweigern. Ich stelle nur fest: Sie können die Ansteckungsgefahr, die HIV-Gefahr, durch die Verabreichung steriler Spritzen vermindern, drastisch vermindern. Deswegen halte ich es für gut und erforderlich, wenn so etwas geschieht.
Deswegen kann es nur darum gehen, daß man die Repression, die wir in bestimmten Bereichen auch als Sozialdemokraten für unabweisbar halten, zur Bekämpfung der mafiaähnlichen Organisationen einsetzt, die weltweit bis zu 900 Milliarden Dollar Umsatz machen, daß man dagegen mit Hilfe einer Gewinnabschöpfung — dazu gibt es einen SPD-Gesetzentwurf — und einer Geldwäschebestimmung — auch hierzu gibt es einen SPD-Antrag; die Bundesregierung ist noch immer zögerlich und bringt nichts Gescheites und Praktikables über die Rampe — vorgeht und sich diesen Problemen ernsthaft widmet.Aber im übrigen muß unser Schwerpunkt doch auf der Prävention und auf der Therapie, der Hilfe für den einzelnen, liegen. Bei der Prävention reicht es nicht aus, nur ein paar Faltblätter in die Briefkästen zu werfen, wie das die Frau Bundesgesundheitsministerin hat machen lassen.
Da muß man sich etwa mehr einfallen lassen. Man muß sich auch einmal darum kümmern, warum Leute überhaupt suchtabhängig werden.Insofern muß ich der Bundesregierung ein Kompliment machen: Das Einräumen, daß Drogenabhängigkeit eine Krankheit ist, ist erstens neu und zweitens zukunftsweisend. Wir können nämlich auf diese Weise den unseligen Streit zwischen den Kostenträgern endgültig begraben und beenden, da klar wird, wer bei den Kassen bzw. bei den Versicherungsunternehmen für die Übernahme der Kosten zuständig ist, um Therapieplätze und Rehabilitationsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen. Das ist ein Fortschritt.Aber im übrigen vermisse ich im Drogenbekämpfungsplan — auf den ich jetzt zurückkomme — nach wie vor, daß zukunftsweisende Strategien vorgeschlagen werden. Der Drogenbekämpfungsplan der Bundesregierung erschöpft sich in der Wiederholung bekannter Handlungsstrategien und in der Aufzählung bereits laufender Gesetzgebungsvorhaben. Das ist alles, sonst enthält er sinnentleerte Formelkompromisse.Bei dieser Gelegenheit ist es von hohem Interesse, daß die Zuständigkeit — was die Drogenbeauftragte angeht — von der Bundesgesundheitsministerin auf den Bundesinnenminister übergegangen ist und die Bundesgesundheitsministerin — wie man so hört — dies mit der ganz merkwürdigen Begründung kommentiert hat, sie habe doch festgestellt, daß die meisten Drogenabhängigen über 21 Jahre alt und deswegen nicht mehr Jugendliche seien und sie nicht zuständig sei. Sie hat offenbar vergessen, daß in ihrem Arbeitstitel, im Namen des Ministeriums auch das Wort „Gesundheit" steht und sie von daher die Zuständigkeit voll behalten müßte.Ich teile die Kritik, die darauf zielt, daß man beim Bundeskriminalamt in satter Form zusätzliche Stellen schafft — das allein kritisiere ich nicht, nur die Gewichtung: mehr als 400 Stellen beim BKA —, das aber isoliert, und daß man bei der Förderung von Stellen zur Prävention und zur Therapie so gut wie nichts getan hat. Das heißt, das ist eine völlig einseitige Ausrichtung auf die Repression, die, wie ich schon ausgeführt habe, auch in den Großstädten der USA gescheitert ist.Deswegen bedauere ich, daß so wenig Antworten gegeben werden. Wir müssen doch erkennen, daß die Mittel des Strafrechts, daß die Androhung von Strafmaßnahmen — die Richter, die Praktiker, haben uns in den Anhörungen des Rechtsausschusses gesagt, daß die Strafrahmen völlig ausreichen, daß wir da nicht mehr zu tun bräuchten — einen Abhängigen, einen Kranken nicht beeindrucken. Der junge Drogenabhängige, der Kleindealer, sitzt mit glasigen Augen vor dem Richter, ist heilfroh, wenn er die Bewährungsstrafe mit allen möglichen Auflagen bekommt, wankt aus dem Gerichtsgebäude heraus und hat, wenn er die Tür hinter sich zuschlägt, alles vergessen.
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SingerEr ist nicht erreichbar. Man muß mit anderen Mitteln an die Leute herangehen. Man darf gerade hier nicht glauben, daß das Strafrecht beim Abhängigen, der zumeist auch Kleindealer ist, irgend etwas bewirkt.Deshalb muß die Zielrichtung sein: Laßt uns gemeinsam mit allen Anstrengungen den organisierten Händler bekämpfen; die großen und kleinen Händler in den USA machen, wie man so hört, einen Reingewinn von jährlich 45 Milliarden Dollar. Das ist so viel, wie bei General Motors, IBM und Exxon zusammen. Dagegen müßte etwas getan werden,
und zwar mit verfassungsmäßigen Gesetzesvorschlägen, wie wir sie eingebracht haben: mit der Gewinnabschöpfung und der Geldwäsche. — Das ist das eine.Im anderen Bereich müssen wir ganz konzentriert entkriminalisieren. Wir müssen nach dem holländischen Beispiel den Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit eröffnen, Strafverfolgungskapazitäten von dem Kleindealer, von dem Konsumenten, wegzunehmen und woandershin zu orientieren.
Das ist entscheidend.
Außerdem müssen wir Ausstiegshilfen schaffen. Wir müssen Möglichkeiten schaffen, wie es bei Novellierung des Betäubungsmittelgesetzes Absicht des Gesetzgebers war: Hilfe statt Strafe. Die Absichten des Gesetzgebers, die 1982 bei der Novellierung des BtMG verfolgt worden sind, ließen sich doch nicht realisieren. Das ergibt sich doch ganz eindeutig aus dem Bericht der Bundesregierung. Weder der § 35 noch der § 37 BtMG hat die Erfolge gehabt, die man sich vor acht Jahren versprochen hat. Das ist doch eine Tatsache; das berichtet die Bundesregierung selber. Deswegen muß man an das BtMG erneut herangehen und muß hier erneut reformieren. Insofern befindet sich die Bundesregierung im Zugzwang; sie hat etwas auf den Tisch zu legen; sie hat hier ausgehend von ihrem eigenen Bericht Gesetzesvorschläge zu unterbreiten. Wir werden hier natürlich auch selber gesetzgeberisch aktiv werden; das ist keine Frage. Aber in erster Linie ist derjenige dran, der einen Bericht vorlegt. Er muß aus einer negativen Entwicklung doch die zutreffenden Schlüsse ziehen.Ich kann nur sagen: Therapie statt Strafe, Repression nur dort, wo sie tatsächlich beim nichtabhängigen Großdealer etwas bringt, und im übrigen versuchen, Konsequenzen aus den Diskussionen im westeuropäischen Ausland zu ziehen, eine Koordination auch gegenüber den Entwicklungsländern verwirklichen und sich nicht darüber freuen, daß der Kaffee alle naselang billiger wird, anstatt einmal zu sagen: Jeder Groschen, den man für die Tasse Kaffee weniger zahlt, veranlaßt den ,, Campesino" in Bolivien, vom Kaffeeanbau abzusehen und Cocaanbau zu betreiben. Er findet dann auch den Händler, der das Zeug hier herüberschafft.
Auch das sollte man einmal deutlich machen.
Ich halte es für richtig, wenn man angesichts dieses Umfangs von einer gesellschaftlichen Ächtung des Drogenproblems spricht und solche Zusammenhänge bewußt macht, aber nicht irgendwo eine Hetzjagd eröffnet oder hier wieder mit uralten gescheiterten Handlungsstrategien aufwartet.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Irmer.
Vielen Dank, Herr Präsident. Es freut mich sehr, Frau Garbe, daß Sie schon vorab wissen, was ich zu sagen habe.
— Das war Frau Nickels, Entschuldigung. Die eine ist mir so lieb wie die andere.
— Das ist sogar ganz ernst gemeint gewesen.Ich möchte mich zunächst mit dem Antrag der GRÜNEN auseinandersetzen, der sich mit den Einwegspritzen beschäftigt. Sie haben ja recht, das sollte nicht strafbar sein. Aber es ist auch nicht strafbar. Es liegt aus dem Jahre 1987 eine ausführliche Interpretation des § 29 Abs. 1 Nr. 10 des Betäubungsmittelgesetzes vor. Diese Interpretation setzt sich genau mit dieser Frage auseinander. Wenn Sie jedesmal, wenn ein einzelnes Gericht eine einzelne Fehlentscheidung trifft, das Gesetz ändern wollten, wo kämen wir da hin?
Im übrigen sind Sie mit Ihrem Antrag zu spät. Denn es liegt bereits ein Entwurf der Bundesrates vor, wonach das Betäubungsmittelgesetz auch in dieser Bestimmung geändert werden soll. Der Bundesrat geht viel weiter als Sie. Er sagt nämlich, daß künftig die Bestimmung entfallen soll, wonach das Verschaffen oder Gewähren der Gelegenheit zum unbefugten Verbrauch von Betäubungsmitteln strafbar ist. Die Strafbarkeit soll entfallen. Die Bundesregierung ist nach dem, was mir gesagt wird, bereit, dem zuzustimmen. Das Problem wird sich deshalb regeln.Trotzdem war diese Klarstellung vielleicht erforderlich. Aber die Entscheidung des Landgerichts Dortmund, die Sie hier zitieren, ist natürlich keineswegs repräsentativ für die Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland. Insofern gehen Sie hier vielleicht einem Scheinproblem nach.
Was die Große Anfrage zum Drogenproblem betrifft, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, wäre es mir natürlich sehr viel sympathischer gewesen, wenn Sie erst einmal gewartet hätten, bis die Antwort vor-
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Irmerliegt. Soviel Zeit hat sich die Bundesregierung weiß Gott nicht gelassen.
— Seit Weihnachten; was ist denn Weihnachten? Angesichts dieses Problems ist es mir lieber, die Bundesregierung läßt sich vernünftig Zeit und geht dieser ganz komplexen Thematik sorgfältig nach, als daß hier im Schnellschuß eine Antwort vorgelegt wird.Davon abgesehen, meine Damen und Herren, ist doch eines ganz klar. Ich stimme Herrn Singer in vielem, was er gesagt hat, zu. Er ist nämlich auch ein seriöser Mann, während Herr Such das Problem hier natürlich wieder in einer Weise angegangen ist, die nur auf Effekthascherei nach draußen zielt. Sie sprechen von Abrüstung im Drogenkrieg. Hat denn die Bundesregierung den Drogenkrieg angezettelt? Das sind doch wohl ganz andere gewesen; das ist die Drogenmafia gewesen, und Sie drehen hier schon wieder die Verantwortlichkeiten herum.
Im übrigen gibt es hier — ich will das nicht wiederholen, was Kollege Singer gesagt hat — Gesetzesbestimmungen zur Bestrafung der Geldwäsche und zur Bestrafung der illegalen Geldtransfers. Das ist alles vorgesehen; das wird zu gegebener Zeit nach intensiver Beratung umgesetzt werden.
Aber wir dürfen eines nicht vergessen, meine Damen und Herren — das ist das ganz Entscheidende — : Wo Nachfrage ist, da wird sich auch das Angebot einstellen.
Deshalb ist die eigentliche Aufgabe, die wir haben, die Nachfrage nach Möglichkeit einzudämmen.
Das ganz Entscheidende hierbei ist, daß wir uns einmal Gedanken darüber machen, wo denn eigentlich die gesellschaftlichen Ursachen dafür liegen, daß so viele Menschen in unserer Gesellschaft zu Rauschmitteln greifen,
und zwar nicht nur zu den illegalen Drogen, sondern wir dürfen hier auch das Problem der legalen Drogen — des Alkohols, der Tabletten — nicht vergessen.
Da frage ich Sie allerdings einmal, Herr Kollege Such,
ob die Erziehung der Jugend zu Weinerlichkeit, zu Gesellschaftsverdrossenheit und zu Zukunftsangst
dazu beitragen kann, die gesellschaftlichen Ursachen des Drogenkonsums zu bekämpfen. Wer bei Jugendlichen Angst schürt, trägt mit dazu bei, daß sie zu Drogen greifen.
Der zweite Punkt ist, daß wir den Versuch machen müssen, Süchtige zu heilen. Hier gilt allerdings: Therapie geht vor Strafe. Auch wir sind nicht damit einverstanden, daß Jagd auf kleine Erstkonsumenten gemacht wird, auf Konsumenten von Kleinstmengen. Wir müssen energisch die Händler fassen und diejenigen, die hier ihre Geschäfte betreiben. Aber es hat keinen Sinn, mit starken staatlichen Mitteln, Justiz- und Polizeimitteln, gegen die vorzugehen, die entweder abhängig sind, die also krank sind, oder die mit kleinen Mengen als Eigenkonsumenten herumexperimentieren.
— Das sage ich ja; ich kritisiere das ja. Auch die unterschiedliche Praxis von Staatsanwaltschaften in unterschiedlichen Bundesländern ist hier kein Ruhmesblatt.Es ist aber auch ein Skandal, daß wir nicht über genügend Therapieplätze verfügen, daß abhängige Menschen, die eine Therapie machen wollen, hierauf oft Wochen- und monatelang warten müssen. Hier muß man auch ernsthaft in Erwägung ziehen, diesen Betroffenen für die Zeit, die sie auf eine Therapie warten müssen, die Möglichkeit zu geben, ihrer Sucht zu entkommen — beispielsweise durch Methadon-Programme und ähnliches. Dabei muß allerdings klar sein, daß die Verabreichung von Methadon selbstverständlich als solche keine Therapie darstellt und die Therapie auch nicht ersetzen kann.
Ein weiterer Punkt der rechtspolitischer Natur ist: Wir möchten das Zeugnisverweigerungsrecht für Mitarbeiter in anerkannte Drogenberatungsstellen einführen; denn wir glauben, daß die Tatsache, daß dort das Zeugnisverweigerungsrecht nicht gegeben ist, nicht länger hinnehmbar ist. Meine Damen und Herren, wir müssen weg von der alleinigen Strafbarkeit. Wir müssen hin zu Therapie, um damit den Versuch zu machen, dieses gesellschaftliche Übel zu bekämpfen. Wir wollen, wir dürfen es nicht bagatellisieren.Wenn Sie, Herr Singer, sagen — womit Sie völlig Recht haben — , daß man den Produzenten durch entwicklungspolitische Maßnahmen die Möglichkeit verschaffen muß, andere Produkte herzustellen, mit denen sie ihren elementaren Lebensunterhalt verdienen können, dann dürfen Sie darüber aber nicht vergessen, daß ohne die organisierten Händler, die dazwischengeschaltet sind, das Produzieren allein gar nichts nutzen würde. Das heißt, wir müssen insbeson-
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Irmerdere durch internationale Zusammenarbeit dazu kommen, daß dieser Mafia, daß diesen Händlergangs das Handwerk ein für allemal gelegt wird.
Hier müssen alle Mittel der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit zusammengefaßt werden.Sie kritisieren hier lauthals die achtbaren Vorschläge der Bundesregierung. Das hier kein Patentrezept vorgelegt werden kann, ist völlig klar. Aber ich halte die Vorschläge der Bundesregierung für achtbar und für geeignet, das Problem zumindest im Ansatz zu bekämpfen. Niemand hat behauptet, er könne ein Patentrezept vorlegen. Herr Singer, Sie haben das selbst eingeräumt. Dann machen Sie auch Einzelvorschläge, die so ganz vernünftig sind, aber ein Gesamtkonzept haben Sie doch auch nicht.
Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Singer?
Ja, gerne.
Herr Kollege Irmer, ist Ihnen noch in Erinnerung, daß die Experten in der Anhörung vor dem Rechtsausschuß die Vorschläge der Bundesregierung für verfassungsrechtlich bedenklich und für nicht rechtshilfefähig erklärt haben, z. B. den Vorschlag zur Vermögensstrafe?
Herr Kollege Singer, das ist der Grund, weshalb es etwas länger dauert, bis man derartige Vorschläge auch grundgesetzfest verabschieden kann. Natürlich gibt es da Bedenken, verfassungsrechtliche und andere. Deshalb muß man sich Zeit lassen. Sie haben gerade erklärt, Sie hätten schon längst Vorschläge vorgelegt.
— Was heißt denn „unsinnige"? Vorschläge kommen erst einmal in die Ausschüsse zur ausgiebigen Beratung. Wenn uns Experten sagen: Hier bestehen verfassungsrechtliche Bedenken, dann versuchen wir, das Ziel zu erreichen, ohne die Verfassung dabei zu verletzen. Das ist doch ein ganz normaler Vorgang. Das kennen wir doch bei allen ähnlichen Gesetzesvorschlägen, Herr Kollege Singer.
Meine Damen und Herren, ich betone noch einmal: Es handelt sich hier um eines der schwierigsten Probleme unserer Gesellschaft. Wenn jemand glaubt — und es gibt Menschen, die das glauben — , man könne dieses Problem allein mit Polizei- und Justizmitteln bewältigen, dann irrt er. Wer aber glaubt, er könne durch Verharmlosung oder dadurch, daß er lediglich — —
— Es ist hier doch gerade gesagt worden: Abrüstung im Drogenkrieg, verbunden mit dem Vorwurf gegen die Bundesregierung,
daß sie auch Polizei- und Justizmittel einsetzen will. Gegen die Händler und die Kriminellen kann man ohne Polizei und ohne Justiz nicht auskommen.
Diese Kriminellen möchte ich sogar noch härter bestraft wissen, als das heute der Fall ist.
Aber dabei allein kann man nicht stehenbleiben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Nikkels?
Freilich.
Herr Irmer, stimmen Sie mir zu, daß man, egal welche Seite den Krieg anfängt, mehrere Möglichkeiten hat, ein Ziel, das alle gemeinsam haben, zu erreichen? Eine Möglichkeit ist, immer mehr aufzurüsten und selbst dann, wenn man sieht, daß diese Maßnahmen nichts bringen, noch weiter aufzurüsten, egal ob man angefangen hat oder nicht. Zweitens frage ich Sie: Wenn man dann sieht, es hilft nichts, sich auf diese Art zu wehren, ist es dann nicht besser, nach anderen Mitteln Ausschau zu halten und zu prüfen, ob man dann nicht diese einsetzt? Drittens: Haben Sie unsere Anträge und Vorschläge dazu gelesen, die schon lange im Rechtsausschuß liegen, dessen Mitglied Sie sind, und sind Sie nicht der Meinung, daß das bedenkenswerte und ernsthafte Anregungen sind? Der Weisheit letzten Schluß hat hier niemand gefunden. Viertens: Wären Sie dann nicht bereit, Ihre Aussage zurückzuziehen, daß hier Verharmloser und Befürworter am Werke seien?
Das waren vier Fragen.
Frau Nickels, daß Sie — ich meine jetzt Sie persönlich — zum Teil vernünftige Vorschläge gemacht haben, will ich überhaupt nicht bestreiten.
— Ja, die Fraktion. Dann haben Sie sich in Ihrer Fraktion halt einmal durchgesetzt. — Aber, Frau Nickels,Sie wollen doch auch nicht bestreiten, daß hier, zum, Teil von beiden Seiten, eine Ideologisierung betrieben wird. Die einen rufen nur nach dem starken Staat, und die anderen sagen: Der Staat darf nicht mit Polizeimitteln und Justizmitteln vorgehen, denn dann betreibt er einen Drogenkrieg.
Wir haben zwei Problemgruppen. Das eine sind dieDrogenkranken, d. h. diejenigen, die dieser, ich sage:
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17107
IrmerPest bereits zum Opfer gefallen sind. Die anderen sind diejenigen, die in der Gefahr sind, in diese Pest hineingezogen, von dieser Pest angesteckt zu werden. Wir müssen beide Gruppen im Auge haben. Wir dürfen uns nicht nur den Kranken zuwenden und sagen: Therapie ist wesentlich wichtiger als Strafe und geht vor, sondern wir müssen auch dafür sorgen, daß nicht insbesondere weitere Jugendliche in unserer Gesellschaft dieser Krankheit anheimfallen.Danke schön.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Wisniewski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte eigentlich dort ansetzen, wo Herr Kollege Irmer soeben aufgehört hat. Der zunehmende Drogenmißbrauch unserer Zeit gehört wohl zu den erschreckendsten Erscheinungen. Das können wir, die wir im Umkreis von Hochschulen und Schulen arbeiten, mit besonderem Ernst sagen. Ich glaube, mit besonderer Empörung werden von der Bevölkerung und namentlich von den betroffenen Eltern Berichte über heimtückische Methoden der Verleitung Jugendlicher zum Rauschgift im Umkreis von Schulen, Diskotheken usw. zur Kenntnis genommen. Hier liegt eine der Wurzeln dieses Übels. Der Einstieg ist oft harmlos, und die Folgen sind dann innerhalb weniger Jahre gravierend. Die steigenden Zahlen und die nachweislich besondere Gefährdung Drogenabhängiger, der AIDS-Seuche zum Opfer zu fallen, haben die Öffentlichkeit zusätzlich alarmiert.
Die Einberufung einer nationalen Drogenkonferenz zeigt deutlich, mit welchem Ernst die Bundesregierung auf diese Herausforderung reagiert. Die Bevölkerung — ich sage das noch einmal — hat Anspruch darauf, daß wir uns dieser Sache mit großem Ernst annehmen. Sie hat Anspruch auf den Schutz des Staates in dieser kritischen Situation.
Das Gesamtkonzept im nationalen Drogenbekämpfungsplan ist — das wurde schon mehrfach gesagt — an zwei Zielen ausgerichtet. Zum einen soll die Verringerung der Rauschgiftnachfrage durch wirkungsvolle Prävention und verbesserte Rehabilitation erreicht werden. Zum anderen soll die Reduzierung des Drogenangebots durch verstärkte Bekämpfung der Drogenkriminalität, insbesondere des Drogenhandels, sowie durch Beseitigung der wirtschaftlichen und sozialen Ursachen des Drogenanbaus in den Erzeugerländern erreicht werden.
Dieses Konzept ist voll zu bejahen.
Es versucht ja eben, Aufklärung, Warnung und verständnisvolles Angebot — das, Herr Such, was Sie und Ihre Kollegen aus den Fraktionen der GRÜNEN und der SPD forderten — mit der unerbittlichen Abwehr der kriminellen Elemente zu verbinden, die in diesem Bereich doch allzu deutlich zu finden sind. Es gilt natürlich vor allem, die psychische Abwehrkraft des einzelnen zu stärken. Nur dann werden wir auf Dauer einen Erfolg in diesem Kampf haben können.
Aber wie macht man das? Notwendig scheint nach den Erfahrungen der Länder im Ausland, die gerade versucht haben, durch die weiche Form der Bekämpfung einen Erfolg zu erringen,
zum Schutz der Gesamtbevölkerung gerade die harte Haltung zu sein; denn die Versuche, durch Entkriminalisierung und durch die Freigabe von Drogen des Übels Herr zu werden, sind — auch das wissen wir doch — gescheitert.
Gerade in diesen Tagen, Herr Such, erleben wir einen bemerkenswerten Umdenkungsprozeß z. B. in Italien mit. Dort ist, und zwar auf Empfehlungen von Therapeuten der Suchtbekämpfung, ein verschärftes Drogengesetz erlassen worden. Es sind darin bemerkenswerte neue Formen — wenn man so will — der Bestrafung zu sehen, die in das alltägliche Leben empfindlich eingreifen und vielleicht deswegen besonders wirkungsvoll sind. Es gibt ja eine neue psychologische Richtung, die gerade in dieser Hinsicht schon große Erfolge zu verzeichnen hat.
Wer beim erstenmal beim Besitz von Drogen ertappt wird, erhält einen Tadel. Wer zum zweitenmal ertappt wird, verliert für einige Wochen seinen Führerschein, seinen Paß oder seinen Waffenschein. Beim drittenmal kann der Amtsrichter das Auto beschlagnahmen, den Besuch öffentlicher Lokale verbieten oder Hausarrest verhängen. Verstöße gegen diese Sanktionen werden mit Gefängnis bestraft. Wer sich freiwillig einer Therapie unterzieht, wird von diesen Sanktionen befreit. Doppelt so hart wird bestraft, wer rückfällig wird.
Ich meine, man sollte einmal in einem Modellversuch prüfen, ob solche pädagogischen Strafen, das Instrumentarium der Bekämpfung des Drogenmißbrauchs, wie es im Drogenbekämpfungsplan der Bundesregierung vorgesehen ist, sinnvoll sind und gebraucht werden könnten.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Singer? — Keine Zwischenfragen.
Die Erfahrungen in Italien haben offensichtlich nicht dazu geführt, mehr Nachgiebigkeit gegenüber Kleinkonsumenten zu schaffen, sondern sie haben im Gegenteil zu spürbarer Strenge veranlaßt.Wie gesagt, es gibt diese beiden Grundhaltungen, und wahrscheinlich ist es, wie so oft im Leben, richtig, beide miteinander zu verbinden und im jeweiligen Fall die richtige Haltung zu suchen. Aber im Interesse der Suchtkranken und der nun wirklich schwer leidenden Familien sollte die Erforschung solcher psychologischer Faktoren, die zur Sucht führen, die aber andererseits auch zur Heilung von der Sucht führen, im Mittelpunkt der staatlichen Förderungsmaßnahmen stehen. Aufklärung in großer Breite ist unbedingt notwendig, und daher sind wir alle sicherlich unserer
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17108 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Frau Dr. WisniewskiFußballnationalmannschaft besonders dankbar dafür, daß sie sich dafür einsetzt.
— Ich weiß nicht, was Sie dagegen haben. Wir wissen doch alle, daß diese Dinge oft mehr als unsere Reden hier im Bundestag bewirken.
— Das ist keine Show, sondern das ist schon eine Form der Ansprache, die große Wirkung zu erzielen vermag.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jaunich?
Nein, danke.
Zu der speziellen Forderung der GRÜNEN, einen Gesetzentwurf zur straflosen Abgabe von Einmalspritzen abzugeben, kann wirklich nur auf die bereits bestehenden Bemühungen von Bundesrat und Bundesregierung in dieser Sache hingewiesen werden. Aber ich bin sicher, daß darüber in den Ausschüssen auch noch sehr kontrovers diskutiert werden wird.
Eine Chance, den Drogenmißbrauch wirkungsvoll zu bekämpfen, besteht nur, wenn alle zusammenwirken, und dabei sind nun besonders die Familien, die Lehrer, alle angesprochen, die so etwas wie Lebenssinn, Geborgenheit, Verantwortung und Lebensmut vermitteln können und sollen. Darin liegt aber auch die Notwendigkeit, die helfenden Kräfte zu unterstützen. Von uns allen müssen sie Unterstützung erhalten: die Arzte, das Pflegepersonal, die wichtigen Organisationen, wie Synanon, aber auch und gerade die Polizei und alle, die an der schweren Aufgabe der Bekämpfung des organisierten Verbrechens oft unter Einsatz ihres Lebens mitwirken.
Es ist — ich sage es noch einmal — notwendig, sowohl Entgegenkommen, Verständnis zu zeigen als auch genauso die abschreckende Kraft des Strafrechts zur Hilfe der Bevölkerung in diesem uns alle bedrückenden Problem einzusetzen. Ich erinnere noch einmal daran, daß der Anfang so oft in den Schulen, vor den Schulen, bei Kindern und Jugendlichen zu sehen ist, und hier soll — darauf liegt in dem vorgesehenen Plan ein Akzent — verschärft eingegriffen werden.
— Entschuldigen Sie, ich brauche nur auf die Strafvorschriften für Rauschgifthandel auf öffentlichen Plätzen, Schulen etc. sowie für Rauschgiftkleinhandel zu verweisen. Dies ist sicher ein wichtiger Ansatz, und sicher wird es möglich sein, in den Ausschüssen hierzu noch weitere Verbesserungen einzubringen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Spranger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die zum Teil abwertende Kritik der Opposition am nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan ist wirklich nicht verständlich,
denn am 13. Juni hat die nationale Drogenkonferenz diesen nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan im Konsens verabschiedet, also in Anwesenheit der Minister Heinemann, der Senatorin Pfarr und des Staatssekretärs Rüdiger aus dem Saarland, die dem zugestimmt haben. Das drogenpolitische Konzept der Bundesregierung ist in diesen Plan eingeflossen. Er greift weit darüber hinaus, indem er die Konzepte der Länder, aller Länder, und aller in der Drogenpolitik tätigen Organisationen einbezieht.
In der nationalen Drogenkonferenz bestand Einvernehmen, daß Drogensucht und Rauschgiftkriminalität, die großes Elend für Süchtige wie für deren Familien verursachen, die eine stark destabilisierende Wirkung auf die Völkergemeinschaft und einen gefährlichen Multiplikatoreffekt
auf andere Kriminalitätsbereiche, vor allem auf die organisierte Kriminalität, haben, entschlossen und mit allen Mitteln, die unser Rechtsstaat zur Verfügung stellt, zu bekämpfen sind.Dies schließt eine wesentlich verstärkte Prävention mit dem Ziel, Drogenkarrieren gar nicht erst entstehen zu lassen, und eine konsequente polizeiliche und strafrechtliche Bekämpfung des Rauschgifthandels ein.Drogenabhängige sind Kranke. Dies ist bei allen polizeilichen Maßnahmen zu berücksichtigen,
darf aber nicht zur Vernachlässigung einer entschiedenen Verfolgung jeder Form des Drogenhandels einschließlich des Kleinhandels führen. Ich glaube, Herr Singer, darauf können wir uns verständigen. Das geltende Recht gibt genug Möglichkeiten, bei abhängigen Straftätern den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung zu tragen.Eine Entkriminalisierung des Rauschgiftbesitzes zum Eigenkonsum kommt für die Bundesregierung nicht in Betracht. Sie ist im Interesse der potentiell Gefährdeten nicht akzeptabel. Die Entkriminalisierung wird überdies die Therapiebereitschaft der Abhängigen verringern. Sie würde zwar Polizei und Justiz entlasten. Aber sie würde zu einer größeren Verfügbarkeit von Rauschgiften und zu einer höheren Nachfrage führen. Die Entwicklung in den Niederlanden und in England hat das ja eindeutig belegt. Sie würde es außerdem den Rauschgifthändlern erleichtern, sich unter dem Deckmantel des Eigenkonsums zu tarnen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17109
Parl. Staatssekretär SprangerAußerdem könnte sie geradezu als Aufforderung zum Konsum mißverstanden werden.
Eine Entkriminalisierung würde auch den internationalen Bestrebungen zur Nachfragereduzierung zuwiderlaufen. Italien, das mit der Entkriminalisierung des Drogenkonsums ebenfalls sehr schlechte Erfahrungen gemacht hat, beschreitet z. B. gerade jetzt den umgekehrten Weg. Das italienische Parlament hat erst vor wenigen Tagen ein Gesetz verabschiedet, das auch den Drogenkonsum unter Strafe stellt.
In der nationalen Drogenkonferenz bestand auch Übereinstimmung, daß wir wirksamere Vorschriften zur Verbesserung der polizeilichen Möglichkeiten zum Aufspüren von illegalen Drogengewinnen brauchen. Der Rauschgifthandel kann nur in enger internationaler Kooperation bekämpft werden. Diese erfordert neue Formen der polizeilichen Zusammenarbeit auf multilateraler und bilateraler Ebene. Neben einer intensivierten und institutionalisierten grenzüberschreitenden Polizeikooperation ist auch eine verstärkte Einbeziehung des Rauschgiftproblems in die Entwicklungshilfepolitik erforderlich.
Die Europäische Gemeinschaft muß ihr ganzes Potential in die Rauschgiftbekämpfung einbringen. Sie muß ihre Möglichkeiten zur Unterstützung von Substitutionsprogrammen und zur Erleichterung des Marktzugangs von Ersatzprodukten ausschöpfen.Nach alledem bietet der nationale Rauschgiftbekämpfungsplan zwar keine Patentlösung, aber er enthält ein breites und ausgewogenes Instrumentarium zur Eindämmung der Sucht und der Kriminalität. Das Problem ist nun, das alles umzusetzen, was in diesem Plan enthalten ist. Denn der Plan wird nur dann Erfolg haben, wenn alle an der Erarbeitung beteiligten Stellen uneingeschränkt ihren Beitrag zur Umsetzung der darin angesprochenen Ziele und Maßnahmen zu leisten bereit sind.Die Bundesregierung sieht damit die Große Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN zur Gesamtdrogenpolitik der Bundesregierung als erledigt an.
Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6551 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 4 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deutsche Stiftung Umwelt"— Drucksachen 11/6931, 11/7208 —Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses
— Drucksache 11/7416 —Berichterstatter:Abgeordnete Borchert Dr. Weng EstersFrau Vennegerts
Hierzu liegen Änderungs- und Entschließungsanträge der Fraktion der SPD sowie der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/7455 bis 11/7459 vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung haben sich die Redner bereit erklärt, ihre Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Da dies eine Abweichung von der Tagesordnung ist, frage ich: Ist das Haus damit einverstanden? — Das Haus bedankt sich dafür. Dann ist das so beschlossen.* )Wir kommen nun zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Errichtung einer Stiftung „Deutsche Stiftung Umwelt" .Ich rufe die §§ 1 und 2 in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt dem zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Gegenstimmen der GRÜNEN sind die aufgerufenen Vorschriften angenommen.Ich rufe den § 3 in der Ausschußfassung auf. Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN sowie ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7456? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/7459? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN und Ablehnung der Koalitionsparteien ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.Wer stimmt für Art. 3 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Art. 3 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.Ich rufe die Art. 4 und 5, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt dem zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN sind diese Artikel mit Mehrheit mit den Stimmen der Koalition in der zweiten Beratung angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer demGesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu*) Anlage 5
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17110 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Vizepräsidentin Rengererheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit großer Mehrheit ist dieser Gesetzentwurf gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Entschließungsanträge, die ich in der Reihenfolge der Drucksachennummern aufrufe.Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7455? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7457? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/7458? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt.Meine Damen und Herren, ich erfahre gerade, daß der Herr Abgeordnete Wilhelm Schmidt eine persönliche Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben hat.*) Hiermit haben Sie davon Kenntnis genommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 31. Oktober 1988 zu dem Übereinkommen von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung betreffend die Bekämpfung von Emissionen von Stickstoffoxiden oder ihres grenzüberschreitenden Flusses— Drucksache 11/6564 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 11/7389 —Berichterstatter:Abgeordnete Schmidbauer Stahl
Brauer
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen.
Die Debattenbeiträge werden alle zu Protokoll gegeben.
— Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. **) Wir bedanken uns dafür.Meine Damen und Herren, wir kommen dann gleich zur Abstimmung über den Vertragsentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 11/6564 und*) Anlage 6**) Anlage 711/7389. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieses Gesetz ist einstimmig angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Susset, Michels, Eigen, Bayha Carstensen , Dr. Herkenrath, Kalb, Kroll-Schlüter, Niegel, Sauter (Epfendorf), Schartz (Trier), Freiherr von Schorlemer, Rossmanith, Borchert, Fellner, Hornung, Dr. Göhner, Freiherr Heereman von Zuydtwyck, Dr. Kunz (Weiden), Link (Diepholz), Dr. Meyer zu Bentrup, Brunner, Frau Schmidt (Spiesen), Schmitz (Baesweiler), Frau Will-Feld und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paintner, Heinrich, Bredehorn und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Milchauf gabevergütungsgesetzes— Drucksache 11/7253 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 11/7405 —Berichterstatter: Abgeordneter Kroll-Schlüter
Meine Damen und Herren, 30 Minuten Redezeit sind vorgeschlagen. Sind die erforderlich? Dann ist beschlossen, daß 30 Minuten geredet werden soll.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Michels.
Wir geben zu Protokoll.
Ich stelle fest, alle Kollegen, die zum Milchaufgabevergütungsgesetz reden wollten, geben ihre Beiträge zu Protokoll.*)Meine Damen und Herren, dann können wir gleich in die Abstimmung eintreten. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift mit den vom Ausschuß empfohlenen Änderungen auf. Wer diesen aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Gegen die Stimmen der GRÜNEN ist dieses Gesetz in der zweiten Beratung mit großer Mehrheit angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit großer Mehrheit gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen.*) Anlage 8
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990 17111
Vizepräsidentin RengerIch rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Susset, Dr. Hoffacker, Michels, Eigen, Bayha, Carstensen , Dr. Herkenrath, Kalb, Kroll-Schlüter, Niegel, Sauter (Epfendorf), Schartz (Trier), Freiherr von Schorlemer, Borchert, Fellner, Hornung, Dr. Göhner, Freiherr Heereman von Zuydtwyck, Dr. Kunz (Weiden), Link (Diepholz), Dr. Meyer zu Bentrup, Brunner, Frau Schmidt (Spiesen), Schmitz (Baesweiler), Frau Will-Feld und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paintner, Heinrich, Bredehorn und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes sowie eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Weinwirtschaftsgesetzes— Drucksache 11/7254 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
— Drucksachen 11/7406, 11/7422 —Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Weyel
Auch hier sind 30 Minuten vorgesehen. — Das Haus ist einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Schartz.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich weiß, daß die Kollegin Weyel zum Weingesetz sprechen will. Deswegen ist es wohl notwendig, daß auch ich etwas dazu sage.Meine Damen und Herren, ich meine, wir sollten das Weingesetz mit viel Nachdenklichkeit betrachten.
— Ja, das tut es ganz sicher, Frau Kollegin. —
Wir verabschieden eigentlich jedes Jahr ein neues Weingesetz und muten den Winzern zu, sich auf die jedes Jahr geänderten Bestimmungen einzurichten.
Ich habe einmal gelesen, daß die Zehn Gebote, die Moses erhalten hat, mit 297 Worten beschrieben waren. Mittlerweile hat allein die Europäische Gemeinschaft 1 300 Verordnungen über Wein erlassen. Ist es da ein Wunder, daß die Winzer murren und sagen, man komme damit nicht mehr zurecht?
Heute, meine Damen und Herren, haben wir wieder eine Anpassung des nationalen Rechts an das europäische Recht vorzunehmen. Wir haben aber auch die Erfahrungen der Mengenregulierung, die wir im letzten Jahr in Rheinland-Pfalz eingeführt haben, zu berücksichtigen. Hier geht es um zwei Tatbestände, die geändert werden müssen.Wird ein nicht verkehrsfähiger Wein, und wenn es nur wenige Liter sind, mit einem verkehrsfähigen Wein vermischt, so ist die Gesamtpartie nicht verkehrsfähig. Mir sind Beispiele genug bekannt, in denen wenige Liter Wein, die nach der Mengenregulierung nicht verkehrsfähig waren, in ein großes Behältnis mit 150 000 Litern eingefüllt worden sind. Dann waren 150 000 Liter verkehrsunfähig, obwohl nur 3, 4, 5, 10 oder 20 Liter nicht verkehrsfähiger Wein darin waren.
— Das kann niemand wollen. Das müssen wir ändern, und zwar sowohl bei einer Vermischung von Übermengen wie auch bei einer Vermischung von Weinen aus ungenehmigten Rebanlagen mit verkehrsfähigem Wein. Ich sage dazu: Wir müssen das rückwirkend ändern, damit die Weinwirtschaft nicht über alle Maßen und nicht unvertretbar behindert wird und die Winzer den Schaden haben.Ich will ein Letztes dazu sagen. Ich verbinde das mit einer Mahnung an die Bundesländer und an die Justizbehörden. Es gibt Bundesländer, in denen das Problem der ungenehmigten Rebanlagen eine große Bedeutung hat. Es ist endlich an der Zeit, daß man dieses Problem vor der Weinernte 1990 löst. Ich sage auch ganz offen: Ich richte meine Bitte und meine Mahnung auch an die Regierung meines Landes Rheinland-Pfalz. Das, was dort nicht geregelt ist, muß geregelt werden. Alles andere wäre ein politischer Fehler. Ich bitte ganz nachdrücklich darum, daß die EG einer Regelung zustimmt.Ich richte die letzte Bitte und Mahnung an die Staatsanwaltschaften, bei denen ich manchmal den Eindruck haben, daß sie ähnlich wie Schauspieler nur darauf bedacht sind, mit Überschriften in Zeitungen zu sein. Sie haben darauf zu achten, daß der Ruf der Winzerschaft nicht geschädigt wird. Ich meine — ich bin kein Jurist — , es gehört zum Rechtsverständnis, auch der Justizbehörden und zum allgemeinen Rechtsverständnis, daß auch Staatsanwaltschaften abzuwägen haben, wenn sie Presseerklärungen abgeben, daß nicht der Ruf eines ganzen Produktes und Zehntausender von Winzerfamilien durch solche Pressemeldungen geschädigt wird.
— Entschuldigen Sie, Herr Kollege. Ich traue Ihnen nicht zu, daß Sie etwas von dieser Materie verstehen. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen dieses grobe Wort sage. Ich rede hier nicht von Panschern, und ich rede hier nicht von solchen, die das Gesetz bewußt übertreten, sondern ich rede von ehrbaren Winzern, bei denen es durch die Vielfältigkeit der Bestimmungen immer wieder vorkommen kann, daß ein an sich einwandfreier Wein, der nur zeitweise blockiert ist, weil wir eine Mengenregulierung eingeführt haben, mit einem verkehrsfähigen Wein vermischt wird. Dafür
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17112 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Schartz
I können in vielen Fällen die Leute gar nicht. Da darf es nicht sein, daß solche Dinge entstehen.Ich wollte diese Mahnung gesagt haben. Das Problem der ungenehmigten Rebanlagen muß aus der Welt geschafft werden. Dazu müssen die Bundesländer und die Europäische Gemeinschaft handeln. Das Problem, daß der Ruf der Winzer beschädigt wird, nur weil Staatsanwälte in der Zeitung stehen wollen, muß aufhören. Das ist für niemanden mehr erträglich.Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bitte ich darum, daß Sie unserem Antrag zustimmen. Er hilft den Wirtschaftsablauf zu beschleunigen. Er hilft den Winzern, und letztendlich sind wir dazu da, unseren Bürgern zu helfen.
Nun hat Frau Kollegin Flinner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schon wieder befassen wir uns im Parlament mit dem Weingesetz und dem Weinwirtschaftsgesetz. Die erst im vergangenen Jahr beschlossenen Regelungen haben schon wieder eine Novellierung nötig. Ich bin sicher, auch diesmal wird nichts herauskommen, was Bestand hat. Es ist abzusehen, daß schon bald weitere Änderungen erforderlich sind. Die Betroffenen werden durch den dauernden Wechsel stets unzureichender Gesetze weiter verunsichert, und wir blockieren unsere Arbeit, indem wir immer wieder die gerade erst gefaßten Beschlüsse revidieren und novellieren. Dies geschieht, obwohl für viele andere dringende Themen oft viel zu wenig Beratungszeit bleibt, obwohl wir häufig unter unangemessenem Zeitdruck und Zugzwang arbeiten müssen.
Zur vorliegenden Drucksache will ich die folgenden Bemerkungen machen: Ich bin dafür, daß inländischer Branntwein aus Wein nur dann als deutscher Branntwein bezeichnet werden darf, wenn sichergestellt ist, daß nur entsprechende regionale Rohstoffe einschließlich des Destillats zur Verwendung kommen.
Dies betrifft Art. 1 Nr. 7 und 8.
Auch in Art. 2 gibt es einiges zu verbessern. Hier ist in Nr. 1 nicht klar genug zum Ausdruck gekommen, daß eine Ausdehnung der Rebfläche auf jeden Fall verhindert werden muß. Wiederbepflanzungen müssen restriktiv behandelt werden. Der Ausschluß von Neuanpflanzungen muß gewährleistet sein.
Weiterhin muß bezüglich der Erhebungen eine weitgehende Entbürokratisierung des Weinrechts angestrebt werden. Die bürokratische Belastung der Winzer muß so weit wie möglich verringert werden.
Nicht umsonst erfahren wir vom Unmut der betroffenen Winzer.
Die Mengenregulierung muß für die einzelnen Winzer praktikabel, kontrollierbar und vor allem tragbar sein.
Schließlich will ich noch etwas zu den Abgaben an den Weinfonds sagen. Die Abgaben sollen mit dieser Gesetzesänderung wieder erhöht werden. Für die einzelnen Abgabenzahler ist aber überhaupt nicht einsichtig, immer mehr in einen anonymen Topf zahlen zu müssen. Mit den Mitteln des Weinfonds, insbesondere mit den nun vorgesehenen Mehreinnahmen, soll die gebietliche, die regionale Absatzförderung gestärkt werden.
Was mir allerdings bei dem gesamten Papier mißfällt, ist, daß wieder einmal überhaupt nichts über den ökologischen Weinbau vorgelegt wurde.
Der ökologische Anbau von Wein wird schon lange praktiziert. Aber auf eine Förderung warten wir bisher vergeblich. Das sollte dringend nachgeholt werden. Dazu gehört auch die Anerkennung des nach den Richtlinien des Bundesverbandes Ökologischer Weinbau erzeugten Weins durch den Gesetzgeber. Wir alle wissen, daß gerade im konventionellen Weinbau die Belastung von Boden und Grundwasser durch Spritzmittel ganz erheblich ist. Der ökologische Weinbau bietet dazu eine wirkliche Alternative, an der wir auf lange Sicht ohnehin nicht vorbeikommen werden.
Danke schön.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Weyel.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich stelle fest, daß wir heute ein Gesetz beraten, an dem am selben Tag der Weinbauminister des Landes Rheinland-Pfalz gescheitert und zurückgetreten ist. Dies bedeutet nicht nur, daß ein Landesminister gescheitert ist, sondern dies bedeutet, daß aus dem größten weinbautreibenden Bundesland und im Zusammenhang mit einem Gesetz, das wesentlich von dort her initiiert und mitbestimmt war, nun die gesamte Konzeption des Weinbaus sehr stark in Frage gestellt wird.Die Änderungen des Weingesetzes und des Weinwirtschaftsgesetzes, Frau Flinner — insofern, muß ich Ihnen sagen, ist es richtig, daß nichts über den ökologischen Weinbau darin ist — , sind ein reines Reparaturunternehmen für die Novellierung vom letzten Jahr.
Es hat unter dem gleichen Zeitdruck gelitten wie die Beratungen im letzten Jahr, die ja zum Teil Ursache der Reinfälle sind, die wir im letzten Jahr erlebt haben.Bei der Novellierung 1989 standen durch den Druck der Landesregierung von Rheinland-Pfalz die Beratungen unter Zeitzwang. Die Landesregierung von Rheinland-Pfalz wollte damals unbedingt die Anwendung der Mengenregulierung noch zum Herbst 1989. Der Entwurf wurde durch zahlreiche Sonderregelungen verwässert.Rheinland-Pfalz führte die Höchstmengenregelung überstürzt ein, obwohl die Anhörung ergeben hatte — Herr Schartz und Herr Susset, Sie wissen das so gut wie ich — , daß im Grunde genommen nach den Aus-
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Frau Weyelsagen des Beamten aus Rheinland-Pfalz die verwaltungsmäßigen Voraussetzungen noch nicht gegeben waren, um die Höchstmengenregelung erfolgreich durchzuführen. Insbesondere waren die Rebflächenkataster nicht geordnet. Das ist ein großer Teil der Ursachen für das, was in Rheinland-Pfalz im letzten Herbst passiert ist. Das Problem der schlecht genehmigten Rebflächen ist also überwiegend ein hausgemachtes dieses Bundeslandes.Nun kommt eine Überraschung: Ich hatte ja immer gedacht, Herr Kollege Schartz und Herr Kollege Susset, Sie wären diejenigen in Ihrer Fraktion gewesen, die im wesentlichen dazu beigetragen haben, daß wir nun ein Reparaturgesetz auf dem Tisch haben, daß wenigstens die wichtigsten Mängel beseitigt.
Nun höre ich aber zu meiner Überraschung aus der pfälzischen Presse, daß Sie das gar nicht waren; es war Herr Geißler, der das alles gemacht hat.
Er hat das initiiert und hat das auch alles gemacht. Ich wundere mich außerordentlich, daß Herr Geißler als wichtigster Autor dieses Gesetzes bei der Beratung jetzt nicht einmal anwesend ist. Das ist sehr erstaunlich.
Aber die Geschichte der Reparatur dieses Gesetzes ist genauso leidvoll wie die der Beratung im letzten Jahr. Seit Beginn dieses Jahres wurde uns vom Weinbauminister des Landes Rheinland-Pfalz immer wieder signalisiert, daß es einen Gesetzentwurf geben wird, der entweder über das Land Rheinland-Pfalz in den Bundesrat oder von der Bundesregierung eingebracht wird. Geschehen ist nichts, obwohl meine Fraktion immer wieder die Bereitschaft erklärt hat, die notwendigen Regelungen zugunsten der Winzer und der Weinwirtschaft mit zu tragen, wo es möglich ist, vor allen Dingen bei der Beseitigung der größten Probleme nicht verkehrsfähiger Weine aus Übermengen bzw. ungenehmigten Rebflächen zu helfen.Sie von der CDU/CSU-Fraktion sind uns dann entgegengekommen und haben uns Ihren Entwurf mit dem Angebot vorgelegt, uns daran zu beteiligen. Nur geschah das leider so spät, daß meine Fraktion dazu nicht mehr beschließen konnte. Das habe ich Ihnen auch gesagt.Die Beratungen in den Ausschüssen standen dramatisch unter Zeitzwang. Der mitberatende Ausschuß konnte überhaupt nicht beraten, weil der federführende Ausschuß schon mit der Beratung angefangen hatte und wir wußten, daß das Ende um 12 Uhr sein würde.
— Also, dann wäre doch niemand mehr dagewesen: dann hätten wir nicht mehr beschließen können.
— Das hat er auch.Das Problem war: Wir konnten bei keiner der neuen Bestimmungen bei den Autoren aus der Regierung nachfragen, was sie eigentlich gemacht haben und wie das weitergeht. Das heißt, wir konnten nur wieder im Galopp durch Vorschriften durchjagen. Wir haben zum Schluß ja gesagt — ich sage das noch einmal ganz ausdrücklich — nur zugunsten der Winzer, die betroffen sind, und zugunsten der Weinwirtschaft, die auf diesen ungenehmigten Mengen sitzt, die nicht weiß, wie sie sie loswerden soll, und da Geld investiert hat und nicht weiterkommt.
Ich sage dazu aber noch etwas anderes: Dieses Durcheinander genehmigter, ungenehmigter, verkehrsfähiger und nicht verkehrsfähiger Mengen hat dazu geführt, daß Kellereien inzwischen zum Teil keinen deutschen Wein mehr gekauft haben, weil ihnen das Risiko zu groß war. Sie haben sogar lieber zu höheren Preisen Auslandswein erworben, um damit arbeiten zu können.
Zu den erfreulichen Seiten dieser Novelle gehört, daß die Möglichkeiten des EG-Rechts genutzt werden, die Anreicherung auf die Verwendung von Traubenmost zu beschränken.Die Schwierigkeiten von Übermengen in Weinmischungen, bei denen bereits geringe Mengen das ganze Gebinde verkehrsunfähig machen, sind weitgehend beseitigt. Die SPD-Fraktion hätte allerdings, gern die Verantwortung des Aufkäufers stärker verankert. Ähnliches gilt auch für die Mengen aus „schlecht genehmigten" Rebflächen.Ein Antrag der SPD-Fraktion — der auf Anregung des Pfälzer Abgeordneten Albrecht Müller eingebracht wurde — , die Sonderregelung bezüglich der Sektvermarktung von der Mosel auf ein größeres Gebiet auszudehnen, ist leider abgelehnt worden. Wir begrüßen allerdings die Möglichkeit, die Rebflächen zu verlagern, um damit einigen Unzulänglichkeiten entgegenzuwirken.Auch die Änderungen im Weinwirtschaftsgesetz, die sich auf die Abgabe an den deutschen Weinfonds beziehen, sind bedingt durch die Unfähigkeit der Bundesregierung, rechtzeitig ein ordentliches und unbürokratisches Verfahren für die Einführung des Kontrollzeichens zu finden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Susset?
Aber sicher.
Frau Kollegin Weyel, sind Sie bereit, dem Plenum mitzuteilen, daß auch die SPDFraktion daran mitgewirkt hat, daß der Antrag des Herrn Abgeordneten Müller nicht durchkam?
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17114 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Nein, das möchte ich nicht.
Die anwesenden SPD-Abgeordneten haben dem zugestimmt.
— Wenn es noch einen solchen gibt, dann habe ich ihr nicht gesehen. Ich habe jedenfalls zugestimmt.
— Nein.
Insgesamt muß man feststellen, daß die mangelhafte Beratung der beiden den Wein betreffender Gesetze mit Sicherheit dazu führen wird, daß wir ir der nächsten Legislaturperiode eine weitere Novellierung auf dem Programm haben werden. Ich würde es sehr begrüßen, wenn bei dieser weiteren Novellierung endlich einmal Grundsätze festgelegt würden, die dann so umgesetzt werden, daß man auch etwas Vernünftiges damit anfangen kann.
Möchten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gallus beantworten?
Gerne.
Ich möchte nur fragen, ob die Frau Kollegin eine Legislaturperiode nennen kann, in dei das Weingesetz nicht novelliert worden ist.
Herr Staatssekretär, da ich dem Bundestag noch nicht so lange wie Sie angehöre, kann ich das nur bezüglich der beiden letzten Wahlperioden beurteilen. In der 10. Wahlperiode ist es nicht novelliert worden.
Nichtsdestoweniger darf ich sagen: Diese Weingesetze gelten ja nicht nur für ein Bundesland — Rheinland-Pfalz — , sondern sie gelten natürlich für alle Bundesländer, in denen Wein angebaut wird. Alle Auswirkungen in dem einen Land wirken sich natürlich auch auf die anderen aus. Mängel in dem einen Land sind auch Probleme für die anderen Länder.
Wir stimmen dieser Reparatur zu, weil sie den betroffenen Winzern auf zwei wichtigen Gebieten hilft. Aber wir sagen gleichzeitig, daß wir uns dessen bewußt sind, daß das, was jetzt vorliegt, keine befriedigende Lösung ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Weyel, ein kurzes Wort zu Ihnen. Sie wollten mit Ihrem Antrag den Sektgrundwein, bei dem wir die Ausnahmeregelung für die Mosel gemacht haben, für ganz Rheinland-Pfalz durchsetzen. Sie konnten in Wirklichkeit nicht erwarten, daß dem zugestimmt wird, da Sie doch wissen, daß es noch mehr weinbautreibende Länder gibt, die die gleichen Probleme haben. Das war also eine reine Show.
Vor Jahresfrist haben wir in der 6. Novelle zum Weingesetz eine umfassende Regelung zur Mengenbegrenzung und damit zur Marktbeschickung verabschiedet. Vier Jahre lang wurde bei den Verbänden, bei der Weinwirtschaft und im politischen Raum diskutiert, bis man sich fast auf den Tag genau ein Jahr später hier wieder trifft und die ersten Änderungen beschließt. Das zeigt sehr deutlich — und die Erfahrungen lehren uns das immer wieder — , daß dann wenn man einmal regulierend ins Geschehen eingreift — deshalb bekommt man uns Liberale so schwer für solche Regulierungsmechanismen —,
alle Möglichkeiten — man möchte schon fast sagen: alle Unmöglichkeiten — bedacht werden müssen.
So wurden auch hier von den Beteiligten im letzten Jahr doch einige Punkte übersehen. Es hat sich gezeigt, daß sich insbesondere in Rheinland-Pfalz die Bemessungsgrundlage Fläche, die zur Berechnung der Mengenregulierung genau vorliegen muß, nicht in jedem Fall auf rechtlich einwandfreiem Boden befindet. Damit nun bei Vermischungen von Mengen aus solchen Flächen mit Mengen aus unbestrittenen Flächen kein Schaden für die betroffenen Winzer und Weinhändler entsteht, haben wir in § 54 eine entsprechende Änderung vorgenommen. Begrenzt bis zum 31. August 1993 wird im Einzelfall eine Ausnahmeregelung zugelassen, die es erlaubt, daß nicht die gesamte Menge verkehrsunfähig wird, sondern nur der Teil, der aus diesen umstrittenen Flächen stammt. Wir alle sind ja bemüht, die Winzer nicht zu Unrecht mit ihrem Problem hier allein zu lassen.
Des weiteren mußten wir auf Grund von Erfahrungen aus Rheinland-Pfalz erkennen, daß die technischen Voraussetzungen zur litergenauen Abmessung des Weines nicht in jedem Fall gegeben sind und daß wir deshalb bei nicht zulässigem Vermischen von Übermengen und regulären Mengen eine praktikable, unbürokratische Lösung benötigen, durch die sichergestellt wird, daß dem Wort und dem Geist des Weingesetzes Rechnung getragen wird, d. h. keine Übermengen in den Verkehr gebracht werden dürfen und gleichzeitig die regulären Mengen weiterhin für den Verkehr zugelassen bleiben. Ich glaube, dies ist uns mit der Änderung in Art. 1 Nr. 2 b auch gelungen.
Weitere Änderungen in diesem Gesetz sind auch auf Grund einer geänderten EG-Rechtslage erforderlich geworden. So konnten wir in Anpassung an das EG-Recht festlegen, daß zur Süßung von Qualitätsweinen kein RTK, sondern nur Traubenmost verwendet werden darf.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch. den 20. Juni 1990 17115
Heinrich
Eine große Erleichterung für die Praxis wird auch die Ermächtigung der Bundesländer mit sich bringen, nach der die Wiederbepflanzung mit Reben nicht nur auf gerodeten, sondern auch auf anderen Flächen zugelassen werden kann. Ich denke hier insbesondere an die Flurbereinigungsverfahren, bei denen nun ein Austausch von Flächen, aber natürlich keine Ausweitung der Rebflächen vorgenommen werden kann.
Die Änderungen im Weinwirtschaftsgesetz sind nur geringfügig. Hier wird lediglich der Termin, von dem an die Abgaben an den Weinfonds auf die Menge umgestellt werden, um zwei Jahre, also auf den 1. März 1993 verschoben.
Alles in allem, so meine ich, sind es sinnvolle Änderungen. Damit ist aber nicht gesagt, daß uns das Thema Wein in Zukunft im Plenum nicht mehr beschäftigen wird. Schon heute zeichnet sich ab, daß uns insbesondere die Altbestände an Wein noch erhebliches Kopfzerbrechen bereiten werden.
Zur Frage der Ausgestaltung des Kontrollzeichens möchte ich das verantwortliche Ministerium bitten, sich den praktikablen und finanziell verantwortbaren Regelungsvorstellungen der Weinwirtschaft nicht zu verweigern.
Wir brauchen eine Kontrolle. Ich möchte Sie bitten, das noch einmal zu prüfen.
Trotz aller Probleme sollten wir uns den Spaß an einem guten Viertele Wein aus Deutschland nicht vergällen lassen. Wir sollten deshalb möglichst bald die Debatte beschließen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Pfeifer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte das, was Herr Kollege Heinrich zum Schluß gesagt hat, nicht allzulange aufhalten. Aber ich möchte doch noch einige wenige Bemerkungen zu diesem Gesetzentwurf machen.
Zunächst: Die Bundesregierung stimmt dem vorliegenden Gesetzentwurf zu. Ich halte es insbesondere für richtig, daß sich der Gesetzgeber mit diesem Entwurf darauf beschränkt hat, nur solche Änderungen im Weingesetz vorzunehmen, die notwendig sind, um die im letzten Herbst bei der Gesetzesanwendung in einem Bundesland aufgetretenen praktischen Schwierigkeiten zu lösen.
Daß es bei der Umsetzung einer schwierigen Gesetzesmaterie immer wieder praktische Schwierigkeiten gibt, ist nichts Außergewöhnliches. Daß der Gesetzgeber daraus — und zwar schnell — Konsequenzen zieht, sollte in meinen Augen eigentlich nicht kritisiert werden. Vielmehr sollte man dem eher zustimmen.
Durch den Gesetzentwurf wird sichergestellt, daß die Regelung über den zulässigen Hektarertrag lukkenlos angewandt und für die Praxis handhabbarer gemacht wird. Außerdem wird sichergestellt, daß entgegen neueren Entwicklungen in der EG zur Süßung deutscher Qualitätsweine ausschließlich Traubenmost verwendet werden darf sowie bei Qualitätsweinen mit Prädikat jegliche Anreicherung ausgeschlossen bleibt. Dies bedeutet für den Verbraucher, daß insbesondere das hohe Niveau des deutschen Qualitätsweins mit Prädikat auch weiterhin sichergestellt ist.
Die Änderung der Vorschrift über den zulässigen Hektarertrag schließlich verhindert, daß Übermengen entgegen dem EG-Recht z. B. durch Versektung oder durch Herstellung von entalkoholisiertem Wein, in den Verkehr gebracht werden.
Auf der anderen Seite werden aber zugleich unbillige, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widersprechende Regelungen ausgeschlossen. Dies wird insbesondere dadurch erreicht, daß Übermengen, die in geringem Umfang mit regulären Partien vermischt werden, nicht zur Verkehrsunfähigkeit der Gesamtmenge führen.
Ähnliches gilt während einer Übergangszeit für die Vermischung mit geringen Teilmengen aus sogenannten ungenehmigten Rebanlagen. Dies bedeutet für die Winzer, daß nicht nachvollziehbare, unbillige Härten beseitigt werden. Das sind ohne jeden Zweifel wichtige Verbesserungen.
Meine Damen und Herren, ich bin mir darüber im klaren, daß dieser Gesetzentwurf nicht alle Vorstellungen erfüllt, welche aus Kreisen der Winzerschaft mit dieser Novelle verbunden worden sind. Aber dafür kann nach Ansicht der Bundesregierung kein Zweifel daran bestehen, daß unser Weingesetz mit dieser Novelle den Vorgaben der Europäischen Gemeinschaft entspricht. Auch deshalb bitte ich Sie, dieser Novelle in der vorliegenden Form zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Weingesetzes und des Weinwirtschaftsgesetzes. Das sind die Drucksachen 11/7254 und 11/7406.Ich rufe die Art. 1 bis 7, Einleitung und Überschrift mit den vom Ausschuß empfohlenen Änderungen auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Gegenstimmen der GRÜNEN in zweiter Beratung mit großer Mehrheit angenommen.
Metadaten/Kopzeile:
17116 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Juni 1990
Vizepräsidentin RengerWir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf im ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Gegen die Stimmen der GRÜNEN mit großer Mehrheit angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Wasser- und Bodenverbände
— Drucksache 11/6764 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen die Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll gegeben werden. Sind Sie mit der Abweichung von unserer Geschäftsordnung einverstanden? — Dann ist das mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen.*)Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 11/6764 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Es gibt keine weiteren Vorschläge. — Dann ist das so beschlossen.Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 21. Juni 1990, 9.00 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.