Protokoll:
11210

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 11

  • date_rangeSitzungsnummer: 210

  • date_rangeDatum: 10. Mai 1990

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:52 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/210 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 210. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 Inhalt: Erinnerung an Jahrestage: Ende des Zweiten Weltkrieges (1945), Erklärung von Außenminister Robert Schuman zur Errichtung der Montan-Union (1950) und Ende des Besatzungsstatuts (1955) 16469A Eintritt des Abg. Brunner in den Deutschen Bundestag für den ausgeschiedenen Abg. Biehle 16469D Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 16535 C Begrüßung einer Delegation der Abgeordnetenkammer des Königreichs Belgien . . 16470 B Tagesordnungspunkt 3: Abgabe von Erklärungen der Bundesregierung — zur Sondertagung des Europäischen Rats am 28. April 1990 in Dublin — durch den Bundeskanzler —— zum NATO-Außenminister-Treffen am 3. Mai 1990 und zu den Zwei-plus-Vier Gesprächen auf Ebene der Außenminister am 5. Mai 1990 — durch den Bundesminister des Auswärtigen — Dr. Kohl, Bundeskanzler 16470 C Genscher, Bundesminister AA 16474 D Dr. Vogel SPD 16478 A Dr. Hornhues CDU/CSU 16481 B Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 16483 D Dr. Solms FDP 16486 A Dr. Ehmke (Bonn) SPD 16487 D Frau Geiger CDU/CSU 16490 C Hoss GRÜNE 16493 B Frau Wieczorek-Zeul SPD 16494 B Voigt (Frankfurt) SPD 16496 A Frau Unruh fraktionslos 16498 B Wüppesahl fraktionslos 16499A Tagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von den Abgeordneten Stratmann-Mertens, Frau Frieß, Hoss, Kleinert (Marburg) und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot der Aussperrung (Drucksache 11/7056) Stratmann-Mertens GRÜNE 16500 D Dr. Warrikoff CDU/CSU 16502 C Stratmann-Mertens GRÜNE 16504 A Andres SPD 16504 D Stratmann-Mertens GRÜNE 16505 C Dr. Warrikoff CDU/CSU 16506 D Heinrich FDP 16507 B Such GRÜNE 16509 A Zusatztagesordnungspunkt 2: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bundesregierung zur Hungerkatastrophe in Äthiopien Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 16518D Dr. Holtz SPD 16519 C Dr. Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU . . . . 16520 C Frau Eid GRÜNE 16521B, 16524 B Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister AA 16521 D II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 Großmann SPD 16522 D Dr. Pohlmeier CDU/CSU 16523 C Baum FDP 16524 D Dr. Warnke, Bundesminister BMZ . . . 16525 C Frau Dr. Niehuis SPD 16526 C Vogel (Ennepetal) CDU/CSU 16527 B Toetemeyer SPD 16528 A Zusatztagesordnungspunkt 3: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Einsetzung des Ausschusses Deutsche Einheit (Drucksache 11/7074) Jahn (Marburg) SPD 16528 D Dr. Rüttgers CDU/CSU 16529 C Hüser GRÜNE 16530 D Mischnick FDP 16531 D Wüppesahl fraktionslos 16532 C Seiters, Bundesminister BK 16533 D Wüppesahl fraktionslos 16534 A Tagesordnungspunkt 5: Überweisung im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufassung des Bundesumzugskostengesetzes und zur Änderung sonstiger umzugskostenrechtlicher und reisekostenrechtlicher Vorschriften (Drucksache 11/6829) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wittmann, Marschewski, Eylmann, Dr. Stark (Nürtingen), Dr. Hüsch, Seesing, Hörster, Helmrich, Geis und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Kleinert (Hannover), Funke, Irmer und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte (Drucksache 11/6715) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aussetzung der Brennrechtsveranlagung 1992/93 (Drucksache 11/6905) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Binnenschiffsverkehrsgesetzes (Drucksache 11/6779) 16535 D Tagesordnungspunkt 14: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Soldatengesetzes (Drucksache 11/6906) . 16536 B Zusatztagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von dem Abgeordneten Glos, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie des Abgeordneten Gattermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau von Hemmnissen bei Investitionen in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR-Investitionsgesetz) (Drucksache 11/7073) 16536B Zusatztagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Agrarsozialen Ergänzungsgesetzes (Drucksache 11/7064) 16536 C Zusatztagesordnungspunkt 10: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Entwicklungszusammenarbeit mit Vietnam (Drucksache 11/6734) . . . . 16536 C Zusatztagesordnungspunkt 11: Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Augustin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie des Abgeordneten Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Entwicklungszusammenarbeit mit Vietnam (Drucksache 11/7060) 16536 C Beratungen ohne Aussprache a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Juli 1989 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Volksrepublik Bulgarien über die Schiffahrt auf den Binnenwasserstraßen (Drucksachen 11/6034, 11/6877) b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. Oktober 1989 zu dem Abkommen vom 11. August 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen in der Fassung des Protokolls vom 30. November 1978 (Drucksachen 11/6531, 11/7071) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Oktober 1989 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und zur Verhinderung der Steuerverkürzung (Drucksachen 11/6532, 11/7071) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 III Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 28. September 1989 zur Änderung des Abkommens vom 21. Juli 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und über gegenseitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern in der Fassung des Revisionsprotokolls vom 9. Juni 1969 (Drucksachen 11/6533, 11/7071) c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 10. November 1989 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen (Drucksachen 11/6741, 11/6907 [neu], 11/7091) d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß) zu dem Antrag des Abgeordneten Bohl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie des Abgeordneten Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gleichstellung der deutschen Sprache als Amtssprache in europäischen Gremien (Drucksachen 11/5953, 11/6632) e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2764/75 über die Regeln für die Berechnung eines Teilbetrages der Abschöpfung für geschlachtete Schweine und Nr. 2766/75 über die Liste der Erzeugnisse, für welche Einschleusungspreise festgesetzt werden und über die Regeln, nach denen der Einschleusungspreis für geschlachtete Schweine festgesetzt wird und Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2765/75 über die im Fall einer erheblichen Preiserhöhung auf dem Schweinefleischsektor anzuwendenden Grundregeln (Drucksachen 11/5497 Nr. 2.14, 11/6634) f) Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zu den Ergebnissen der Anwendung der Einheitlichen Akte (Drucksachen 11/3408, 11/6525) g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Mitteilung der Kommission über die Weiterentwicklung der Zivilluftfahrt in der Gemeinschaft (Drucksachen 11/5497 Nr. 2.21, 11/6500) h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 159 zu Petitionen (Drucksache 11/6825) 16537 A Zusatztagesordnungspunkt 6: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 160 zu Petitionen (Drucksache 11/6986) 16538 C Zusatztagesordnungspunkt 7: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 161 zu Petitionen (Drucksache 11/6987) 16538 C Zusatztagesordnungspunkt 8: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Wahlen in Myanmar (Birma) (Drucksache 11/7066) . . . . 16538 C Zusatztagesordnungspunkt 12: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 27 02 Titel 685 21 — Förderung besonderer Hilfsmaßnahmen gesamtdeutschen Charakters (Drucksachen 11/6521, 11/6990) 16538 D Zusatztagesordnungspunkt 13: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Weitere außerplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1990 bei Kapitel 60 04 apl. Titel 688 51 — Reise-Devisenfonds (Drucksachen 11/6436, 11/6991) 16538D Zusatztagesordnungspunkt 14: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Außerplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1990 bei Kapitel 60 04 apl. Titel 885 01 —Aufstockung des ERP-Sondervermögens zugunsten der DDR — im ERP-Wirtschaftsplan apl. Kapitel 6 Titel 868 01 — Finanzierungshilfen für Investitionen in der DDR und Berlin (Ost) (Drucksachen 11/6620, 11/6992) . . . 16538 D Zusatztagesordnungspunkt 15: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 Titel 686 12 — Humanitäre Hilfe im Ausland — (Drucksachen 11/6425, 11/6993) 16539A IV Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 Zusatztagesordnungspunkt 16: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 apl. Titel 686 11 — Nahrungsmittelversorgung in der UdSSR — (Drucksachen 11/6504, 11/6994) 16539A Tagesordnungspunkt 7: a) Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur Erleichterung des Wohnungsbaus im Planungs- und Baurecht sowie zur Änderung mietrechtlicher Vorschriften (Wohnungsbau-Erleichterungsgesetz) (Drucksachen 11/5972, 11/6508, 11/6540, 11/6636, 11/6902, 11/7018) b) Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz über die Statistik der Straßenverkehrsunfälle (Straßenverkehrsunfallstatistikgesetz) (Drucksachen 11/5464, 11/6320, 11/6901, 11/7019) Dr. Hüsch CDU/CSU 16540C, 16542 A Conradi SPD (Erklärung nach § 31 GO) . 16541 A Tagesordnungspunkt 8: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsgerichtsgesetzes und anderer arbeitsrechtlicher Vorschriften (Arbeitsgerichtsgesetz-Änderungsgesetz) (Drucksachen 11/5465, 11/7096) Dr. Warrikoff CDU/CSU 16542 C Frau Steinhauer SPD 16544 A Kleinert (Hannover) FDP 16546 A Hoss GRÜNE 16547 B Vogt, Parl. Staatssekretär BMA 16548 A Tagesordnungspunkt 9: a) Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Dr. Wernitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Umweltverträgliche Landwirtschaft (Drucksachen 11/4879, 11/6146) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Garbe, Kreuzeder und der Fraktion DIE GRÜNEN: Schutz vor Pflanzenbehandlungsmitteln (Drucksachen 11/276, 11/6555) Dr. Wernitz SPD 16550 A Kroll-Schlüter CDU/CSU 16551 D Oostergetelo SPD 16553 C Frau Flinner GRÜNE 16553 D Heinrich FDP 16555 B Bredehorn FDP 16555 D Dr. von Geldern, Parl. Staatssekretär BML 16558 A Oostergetelo SPD 16559 D Frau Weyel SPD 16559 D Heinrich FDP 16561 A Dr. Göhner CDU/CSU 16562 B Frau Weyel SPD 16563 A Tagesordnungspunkt 10: Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiedereinführung des Weihnachts-Freibetrags (Drucksachen 11/5370, 11/6263, 11/6264) Poß SPD 16564 B Jäger CDU/CSU 16565A, 16567 B Dr. Faltlhauser CDU/CSU 16568 B Hüser GRÜNE 16570 B Dr. Solms FDP 16571 B Poß SPD 16571D, 16572 D Carstens, Parl. Staatssekretär BMF . . . . 16573 B Poß SPD 16573 C Tagesordnungspunkt 11: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Eid, Volmer und der Fraktion DIE GRÜNEN: Armutsbekämpfung in der Dritten Welt (Drucksache 11/6088) b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP: Armutsbekämpfung in der Dritten Welt durch Hilfe zur Selbsthilfe (Drucksache 11/6137) Schreiber CDU/CSU 16575 D Frau Eid GRÜNE 16577 C Frau Folz-Steinacker FDP 16578 D Schanz SPD 16580 B Dr. Warnke, Bundesminister BMZ . . . 16582 B Tagesordnungspunkt 12: Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Weiss (München), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE GRÜNEN: Bahnpolitik in Nordrhein-Westfalen — Zur Lage der Zweigstrecken der Deutschen Bundesbahn („Nebenbahnen") (Drucksache 11/5080) Frau Rock GRÜNE 16583 D Bauer CDU/CSU 16585 A Hasenfratz SPD 16586 D Richter FDP 16588 C Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär BMV . 16589 D Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 V Tagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Zusatzprotokollen I und II zu den Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949 (Drucksache 11/6770) 16590 A Tagesordnungspunkt 15: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Daniels (Regensburg), Hüser und der Fraktion DIE GRÜNEN: Nichtgenehmigungsfähigkeit des Atomkraftwerkes Mülheim-Kärlich (Drucksache 11/5983) 16590B Zusatztagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Drucksache 11/7072) Lüder FDP 16590D Wartenberg (Berlin) SPD 16591 B Kalisch CDU/CSU 16593 A Egert SPD 16594 C Lüder FDP 16594 D Meneses Vogl GRÜNE 16595 B Frau Dr. Pfarr, Senatorin des Landes Berlin 16596 C Vizepräsidentin Renger 16596 D Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung): Fragestunde — Drucksache 11/7058 vom 4. Mai 1990 — Stand der Verhandlungen über das deutschiranische Niederlassungsabkommen von 1924 MdlAnfr 5 Schreiner SPD Antw StMin Frau Dr. Adam-Schwaetzer AA 16509 D ZusFr Schreiner SPD 16509 D ZusFr Dr. Emmerlich SPD 16510B Finanzierung der geplanten Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz MdlAnfr 23, 24 Brauer GRÜNE Antw PStSekr Gröbl BMU . . 16510C, 16511A ZusFr Brauer GRÜNE . . . . 16510D, 16511A Wahrung der Gegenseitigkeit, insbesondere bei der Hinnahme der Mehrstaatigkeit, im Zusammenhang mit dem deutsch-iranischen Niederlassungsabkommen MdlAnfr 35 Schreiner SPD Antw PStSekr Spranger BMI 16511 C ZusFr Schreiner SPD 16512A ZusFr Dr. Emmerlich SPD 16513A ZusFr Andres SPD 16513 A Zahlungen an den Versicherungsdetektiv Mauss vom Bundeskriminalamt; Begründung für die vom BKA behauptete Lebensgefahr für Mauss MdlAnfr 36, 37 Dr. Emmerlich SPD Antw PStSekr Spranger BMI . 16513B, 16514 B ZusFr Dr. Emmerlich SPD . . 16513D, 16514 C ZusFr Schreiner SPD 16514A, 16515B ZusFr Andres SPD 16514A, 16515A ZusFr Opel SPD 16514 D ZusFr Kirschner SPD 16515 A Förderung der Sprach- und Kulturarbeit der Friesen im Rahmen der Minderheitenförderung MdlAnfr 41 Opel SPD Antw PStSekr Spranger BMI 16515 C ZusFr Opel SPD 16515 D ZusFr Andres SPD 16516 A Verhinderung von Spekulationsgewinnen beim Umtausch von DDR-Mark in D-Mark; Höhe des Bargeldumlaufs und der DDR-Konten MdlAnfr 44, 45 Kirschner SPD Antw PStSekr Dr. Voss BMF 16516B, 16517 D ZusFr Kirschner SPD 16516C, 16517D ZusFr Andres SPD 16517 A ZusFr Opel SPD 16517A, 16518B ZusFr Schreiner SPD 16517C, 16518C Vizepräsidentin Renger 16512 C Nächste Sitzung 16597 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 16599* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Punkt 13 der Tagesordnung (Entwurf eines Gesetzes zu den Zusatzprotokollen I und II zu den Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949) . 16599* C Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu Punkt 15 der Tagesordnung (Antrag der Fraktion DIE VI Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 GRÜNEN betr. Nichtgenehmigungsfähigkeit des Atomkraftwerkes Mülheim-Kärlich) 16602* C Anlage 4 Ausgaben für die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung von 1979 bis 1981 und 1987 bis 1989 MdlAnfr 3, 4 — Drs 11/7058 — Frau Schulte (Hameln) SPD SchrAntw BMin Klein BPA 16608* B Anlage 5 Erklärung für die außergewöhnlich hohe Zahl von Tiefflügen vom 2. bis 4. Mai 1990; Anteil der verbündeten Streitkräfte und der Bundesluftwaffe MdlAnfr 15, 16 — Drs 11/7058 — Dr. Kübler SPD SchrAntw PStSekr Wimmer BMVg . . . 16608* C Anlage 6 Verringerung des Kohlendioxids zum Schutz der Erdatmosphäre; Kohlendioxideinsparungen durch den Ausbau der Kernenergie; Anreicherung des bei der Wiederaufarbeitung deutscher Atomabfälle anfallenden Urans MdlAnfr 25, 26 — Drs 11/7058 — Dr. Daniels (Regensburg) GRÜNE SchrAntw PStSekr Gröbl BMU 16609* A Anlage 7 Verbesserung des Mieterschutzes durch Änderung des Miethöhegesetzes MdlAnfr 27 — Drs 11/7058 — Müntefering SPD SchrAntw PStSekr Echternach BMBau . . 16609* B Anlage 8 Änderung des Miethöhegesetzes zur Reduzierung der Mieterhöhungsmöglichkeiten MdlAnfr 28 — Drs 11/7058 — Menzel SPD SchrAntw PStSekr Echternach BMBau . . 16609* C Anlage 9 Abbau der Mietsteigerungen MdlAnfr 29 — Drs 11/7058 — Reschke SPD SchrAntw PStSekr Echternach BMBau . . 16609* C Anlage 10 Einbeziehung des gesamten Wohnungsbestands in die Erstellung von Mietspiegeln MdlAnfr 30 — Drs 11/7058 — Häuser SPD SchrAntw PStSekr Echternach BMBau . . 16609* D Anlage 11 Befristete Verhinderung der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen und Verlängerung des Kündigungsschutzes bei Geltendmachung von Eigenbedarf MdlAnfr 31 — Drs 11/7058 — Weiermann SPD SchrAntw PStSekr Echternach BMBau . . 16610* A Anlage 12 Präzisierung der Kriterien für Wohnungskündigungen wegen Eigenbedarfs MdlAnfr 32 — Drs 11/7058 — Conradi SPD SchrAntw PStSekr Echternach BMBau . . 16610* B Anlage 13 Rücknahme der Mietrechtsänderungen von 1983 angesichts des verstärkten Anstiegs der Mieten MdlAnfr 33 — Drs 11/7058 — Großmann SPD SchrAntw PStSekr Echternach BMBau . . 16610* C Anlage 14 Vorlage des angekündigten Gesetzentwurfs zur Verbesserung des Mieterschutzes MdlAnfr 34 — Drs 11/7058 — Scherrer SPD SchrAntw PStSekr Echternach BMBau . . 16610* D Anlage 15 Aufhebung der Visumpflicht für die CSFR MdlAnfr 38 — Drs 11/7058 — Lowack CDU/CSU SchrAntw PStSekr Spranger BMI . . . . 16611* A Anlage 16 Abschluß der Verhandlungen mit den Partnern des Schengener Abkommens über die Einführung des visafreien Verkehrs mit der CSFR; Eröffnung neuer Grenzübergänge MdlAnfr 39, 40 — Drs 11/7058 — Stiegler SPD SchrAntw PStSekr Spranger BMI . . . . 16611* B Anlage 17 Zivile Nutzung der US-Kaserne in Stuttgart angesichts der Wohnungsnot MdlAnfr 42, 43 — Drs 11/7058 — Frau Walz FDP SchrAntw PStSekr Dr. Voss BMF . . . . 16611* C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 16469 210. Sitzung Bonn, den 10. Mai 1990 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 11. 05. 90 * Antretter SPD 11. 05. 90 * Bahr SPD 11. 05. 90 Frau Blunck SPD 11. 05. 90 * Böhm (Melsungen) CDU/CSU 11. 05. 90 * Brandt SPD 11. 05. 90 Brück SPD 11. 05. 90 Büchner (Speyer) SPD 11. 05. 90 * Bühler (Bruchsal) CDU/CSU 11. 05. 90 * Frau Conrad SPD 10. 05. 90 Ehrbar CDU/CSU 11. 05. 90 Dr. Feldmann FDP 11. 05. 90 * Frau Fischer CDU/CSU 10. 05. 90 * Frau Fuchs (Köln) SPD 10. 05. 90 Gallus FDP 11. 05. 90 Dr. Geißler CDU/CSU 10. 05. 90 Dr. Götz CDU/CSU 11. 05. 90 Dr. Haack SPD 11. 05. 90 Haack (Eitertal) SPD 11. 05. 90 Höffkes CDU/CSU 11. 05. 90 * Frau Hoffmann (Soltau) CDU/CSU 11. 05. 90 * Irmer FDP 11. 05. 90 * Jaunich SPD 10. 05. 90 Kittelmann CDU/CSU 11. 05. 90 * Dr. Klejdzinski SPD 11. 05. 90 * Kreuzeder GRÜNE 11. 05. 90 Dr.-Ing. Laermann FDP 11. 05. 90 Frau Limbach CDU/CSU 11. 05. 90 Frau Luuk SPD 11. 05. 90 * Möllemann FDP 10. 05. 90 Dr. Müller CDU/CSU 11. 05. 90 * Müller (Wesseling) CDU/CSU 11. 05. 90 Niegel CDU/CSU 11. 05. 90 * Niggemeier SPD 10. 05. 90 Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE 11. 05. 90 Petersen CDU/CSU 11. 05. 90 Pfuhl SPD 11. 05. 90 * Reddemann CDU/CSU 11. 05. 90 * Regenspurger CDU/CSU 11. 05. 90 Frau Saibold GRÜNE 11. 05. 90 Schäfer (Mainz) FDP 10. 05. 90 Dr. Scheer SPD 11. 05. 90 * Frau Schilling GRÜNE 11. 05. 90 Schmidt (München) SPD 11. 05. 90 * von Schmude CDU/CSU 11. 05. 90 * Schröer (Mülheim) SPD 10. 05. 90 Dr. Soell SPD 11. 05. 90 * Dr. Sperling SPD 11. 05. 90 Steiner SPD 11. 05. 90 * Stobbe SPD 10. 05. 90 Dr. Stoltenberg CDU/CSU 11. 05. 90 Vosen SPD 11. 05. 90 Wiefelspütz SPD 11. 05. 90 Frau Wollny GRÜNE 11. 05. 90 Dr. Wulff CDU/CSU 11. 05. 90 * Zierer CDU/CSU 11. 05. 90 * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Punkt 13 der Tagesordnung (Entwurf eines Gesetzes zu den Zusatzprotokollen I und II zu den Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949) Vogel (Ennepetal)(CDU/CSU): Namens der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion begrüße ich die Vorlage des Gesetzentwurfs zu den Zusatzprotokollen I und II zu den Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949. Die Bundesregierung kommt damit einer Aufforderung des Bundestages vom 19. Januar 1990 nach, die Ratifizierung der schon 1977 unterzeichneten Zusatzprotokolle unverzüglich einzuleiten. Sie löst damit gleichzeitig eine Zusage ein, die der Bundeskanzler in seiner Rede vor der 39. Ordentlichen Bundesversammlung des Deutschen Roten Kreuzes am 4. November 1989 gegeben hat. Ich habe darauf schon in der Debatte am 19. Januar 1990 Bezug genommen. Der Unterausschuß für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe hatte seit seiner Bildung nach der Bundestagswahl 1987 darauf gedrängt, das Ratifizierungsverfahren einzuleiten. In den nun anstehenden Ausschußberatungen wird gewiß die Frage der Abgabe einer sogenannten Nuklearerklärung bei der Ratifizierung eine Rolle spielen. Der vorgesehene Wortlaut dieser Erklärung ist in Ziffer 1 der Anlage 3 des Entwurfs enthalten. Keinen Zweifel möchte ich vorab daran entstehen lassen, daß im Vordergrund des Bemühens der Koalitionsfraktionen stehen wird, das Ratifizierungsgesetz noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden. Hinweisen möchte ich auch noch einmal darauf, daß die Frage einer sog. Nuklearerklärung nicht Gegenstand des Ratifizierungsgesetzes sein kann. Zur Sache selbst nur einige Bemerkungen: Die Beratungen in den Bundestagsausschüssen will ich nicht vorwegnehmen. Hinweisen möchte ich aber darauf, daß unsere NATO-Verbündeten Belgien, Italien, Niederlande und Spanien bereits Nuklearerklärungen abgegeben haben, die der von der Bundesregierung beabsichtigten Erklärung entsprechen. Frankreich hat mitgeteilt, daß es nicht beabsichtige, das Zusatzprotokoll I, auf das es hier ankommt, zu ratifizieren. Es hat sich dabei auf die schon während der 4. Tagung der Genfer Diplomatischen Konferenz erklärten Gründe berufen: daß die vom I. Zusatzprotokoll eingeführten Bestimmungen über den Einsatz von Waffen sich nicht auf nukleare Waffen beziehen. Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika haben schon bei der Unterzeichnung des I. Zusatzprotokolls entsprechende Erklärungen abgegeben. Das bedeutet, daß alle NATO-Verbündeten, die Truppen in der Bundesrepublik Deutschland stationiert haben - ausgenommen Kanada -, die Auffassung der Bundesregierung teilen, daß das I. Zusatzprotokoll nur auf den Einsatz konventioneller Waffen Anwendung findet. Ich habe schon am 19. Januar 1990 auf den wichtigen Gesichtspunkt hingewiesen, daß die Verflechtung der Bundeswehr in der NATO möglichst einheit- 16600 * Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 liche Auffassungen auch zum humanitären Völkerrecht erfordert. Daß dies der Entstehungsgeschichte des I. Zusatzprotokolls entspricht, legt die Bundesregierung in Ziffer 7 der Denkschrift näher dar. Darauf möchte ich nur hinweisen. Im übrigen will ich jetzt bei der ersten Lesung den Beratungen in den Ausschüssen nicht vorgreifen. Verheugen (SPD): Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt es, daß ihr jahrelanges Drängen nun endlich dazu geführt hat, daß die Bundesregierung dem Deuschen Bundestag die Ratifizierung der Zusatzprotokolle zu den Genfer Rotkreuzabkommen vorschlägt. Seit der Unterzeichnung der Protokolle sind jetzt immerhin fast 13 Jahre vergangen. Mit der Ratifizierung der Protokolle wird sich die Bundesrepublik Deutschland zu einem wichtigen Fortschritt des humanitären Kriegsvölkerrechts entschließen. Man kann gewiß skeptische Fragen stellen, ob die zum Teil sehr ins Einzelne gehenden, manchmal fast bürokratisch anmutenden Regelungen, die dem Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegen und Bürgerkriegen dienen sollen, wirklich einen realen Bezug zu den Kriegsbildern haben, die in der militärischen Diskussion heute zugrunde gelegt werden. Aber dies wäre eine sehr europazentrische Betrachtungsweise. Die Gefahr bewaffneter Konflikte, wie alle Erfahrungen seit dem Zweiten Weltkrieg deutlich zeigen, ist außerhalb Europas sehr viel größer, und sie wächst immer noch. Wenn es gelingen könnte, daß das neue Völkerrecht einen Beitrag zur Mäßigung in den Kriegen leistet, die zur Zeit auf der Welt ausgetragen werden und die wir in Zukunft noch befürchten müssen, dann ist das ein Ergebnis, das man nicht geringschätzen sollte. Unsere Freude über den heute erreichten Stand der Diskussion über die Zusatzprotokolle ist jedoch nicht ungetrübt. Aus den Anlagen zum Gesetzentwurf der Bundesregierung ergibt sich, daß die Bundesregierung die Absicht hat, eine sogenannte Nuklearerklärung abzugeben, wonach die vom I. Zusatzprotokoll eingeführten Bestimmungen nur auf konventionelle Waffen Anwendung finden sollen. Diese Absicht, die sich jetzt konkretisiert hat, war der Kern des Streits in den letzten Jahren und ist es auch heute noch. Diese beabsichtigte Nuklearerklärung führt dazu, daß heute nicht einmal sicher gesagt werden kann, ob es zu einer Zustimmung aller Fraktionen zum Ratifizierungsgesetz kommen wird. Wir werden uns in den weiteren Beratungen intensiv darum bemühen, die Bundesregierung von der Nuklearerklärung abzubringen. Sie widerspricht Inhalt, Zielsetzung und Entstehungsgeschichte des Vertrages. Sie bedeutet, daß für nukleare Auseinandersetzungen das Völkerrecht außer Kraft gesetzt werden soll. Mit anderen Worten: Angriffe wie die auf Coventry oder Dresden wären dann verboten, Angriffe wie die auf Hiroshima und Nagasaki wären erlaubt. Der Nuklearvorbehalt ist Ausfluß einer überständigen, schon lange nicht mehr vertretbaren westlichen Bündnisstrategie, in deren Konzept von der flexiblen Erwiderung der Ersteinsatz von Atomwaffen ausdrücklich vorgesehen ist. Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgendwer in der Bundesrepublik ernsthaft noch an dieser Strategie festhalten will. Alle Begründungen, die ihre Befürworter zu nennen pflegen, sind durch die rasante Entwicklung im Ost-West-Verhältnis gegenstandslos geworden. Jetzt einen Nuklearvorbehalt auszusprechen, bedeutet eine schwere Störung des laufenden Abrüstungsprozesses und der Bemühungen um vertrauensbildende Maßnahmen. Die SPD wird dieser Erklärung unter keinen Umständen zustimmen. Das Verhalten der Bundesregierung ist eine unerträglliche Zumutung. Sie legt uns Abkommen zur Ratifizierung vor, die sie dann durch die Hintertür praktisch gegenstandslos macht. Dr. Hirsch (FDP) : Die beiden Zusatzabkommen, um deren Ratifizierung es geht, stammen aus dem Jahre 1977. Es ist ein erstaunlicher Vorgang, daß sie erst jetzt zur Ratifizierung durch den Bundestag vorgelegt werden, nachdem die Bundesregierung selbst an der Ausarbeitung dieser Abkommen maßgeblich beteiligt war, und das muß man rühmend hervorheben. Ich kann und brauche die Geschichte dieser 13 Jahre hier nicht darzustellen, aber zweifellos tragen diese Abkommen die Spuren der Vergangenheit. Der Streit um die atomare Vorbehaltsklausel — also darüber, ob die in den Zusatzabkommen vorgesehenen Grundsätze der humanitären Kriegsführung, insbesondere des Schutzes der Zivilbevölkerung auch auf den Einsatz atomarer Massenvernichtungsmittel Anwendung finden sollen — ist nur denkbar vor dem Hintergrund einer Abschreckungsdoktrin, vor dem Hintergrund der militärischen Doktrin, daß der Frieden nur durch die Furcht vor der Schrecklichkeit des Krieges bewahrt werden könne und daß gerade darum der Einsatz atomarer Massenvernichtungsmittel nicht behindert werden dürfe. Natürlich kann man so den Frieden erhalten, man kann aber so nicht in Frieden leben. Mir ist der Verzicht auf die alsbaldige Ratifizierung immer als eine Art Resignation auf einem Gebiet erschienen, auf dem jeder Fortschritt zu mehr Humanität notwendig und unverzichtbar ist. Man muß daran erinnern, daß die maßlose Brutalisierung des Kriegsbegriffes durch hemmungslose, absichtliche Einbeziehung der Zivilbevölkerung als Ziel militärischer Maßnahmen eine Frucht des Zweiten Weltkriegs war. Die Entwicklung des Kriegsvölkerrechts insbesondere im 19. Jahrhundert wurde in schamloser Weise abgebrochen. Es wird also mit diesen Zusatzabkommen nicht etwas unerhört Neues gewagt, sondern der Versuch unternommen, zum klassischen Kriegsvölkerrecht zurückzukehren und diese Absicht nicht nur durch die Berufung auf allgemeine völkerrechtliche Grundsätze zu verfolgen. Man kann nicht ernsthaft bestreiten, daß die Zusatzabkommen nach der Vorstellung der Vertragspartner die atomaren Waffen nicht erfassen. Man kann aber nicht bezweifeln, daß es zu begrüßen wäre, wenn eine Verabschiedung ohne atomare Vorbehaltsklausel möglich wäre. Wir haben aber unsere Verpflichtungen der NATO gegenüber zu respektieren, und wir sollten deswegen die Tatsache, daß wir hier einen Schritt weiterkommen, deswegen nicht geringachten. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 16601* Man kann daran zweifeln, in welchem Umfang das Kriegsvölkerrecht das tatsächliche Verhalten kriegsführender Staaten zu beeinflussen vermag. Trotzdem ist es von großer Bedeutung, Maßstäbe zu setzen, den Willen der Völkergemeinschaft zur formulieren und die Grenzen festzuschreiben, jenseits deren vom Völkerrecht gedeckte Kriegshandlungen zum Massenmord werden. In dieser Frage gehen wir mit diesen Zusatzabkommen einen Schritt weiter. Es ist ein Schritt auf dem Weg zur generellen Ächtung von Kriegen und zu der doch sehr naheliegenden Erkenntnis, daß es eine Militarisierung der Politik ist, den Frieden auf die Existenz bestimmter Waffen zu gründen, auf die Fähigkeit, sich umzubringen, und nicht auf die Einsicht, daß es möglich und notwendig ist, politische Probleme durch Zusammenarbeit zu lösen. Wir werden alles tun, um zu einer baldigen Verabschiedung der Vorlagen zu kommen. Eich (GRÜNE): Das vorliegende Gesetz zur Ratifizierung der Zusatzprotokolle I und II zur Genfer Konvention zum Humanitären Kriegsvölkerrecht wird heute, 13 Jahre nach der Paraphierung, endlich in den Bundestag eingebracht. Allein dieser Umstand verlangte nach einer intensiveren Auseinandersetzung der Hintergründe. Denn diese lange Zeit hat einen Grund auf den ich zu sprechen kommen werde. Aber auch wegen der umfangreichen Problematik, die die beiden Zusatzprotokolle beinhalten, ist es ein schlechter Witz, ganze 30 Minuten Debatte für die erste Lesung anzusetzen. Doch nun zur Sache. Ich will zwei Dinge herausgreifen. Erstens: Die Zusatzprotokolle wurden auf Initiative des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) zwischen 1972 und 1976 ausgehandelt und 1977 paraphiert. Damit sollten Regeln des Humanitären Kriegsvölkerrechts an die umfassende Vernichtungswirkung moderner Massenvernichtungswaffen angeglichen werden. Internationaler Rechtskonsens ist, daß mit Ratifikation nach Art. 51 des ZP I ein Atomwaffeneinsatz völkerrechtswidrig würde. Besonders die Atomwaffenstaaten zögerten daher mit der Ratifikation. Immerhin hat die Sowjetunion 1989 unterschrieben. Die NATO-Staaten dagegen befürchteten zu Recht, daß mit der Ratifizierung auch die NATO-Strategie mit ihrer Drohung eines Ersteinsatzes von Atomwaffen völkerrechtswidrig würde. Daher einigten sie sich auf eine Zusatzerklärung, die besagt, daß nach Verständnis der NATO-Staaten diese Ergänzungen zum Humanitären Kriegsvölkerrecht für Atomwaffeneinsätze nicht gelten. Eine solche Interpretation ist eine politische Frechheit. Sie widerspricht der Grundabsicht, mit der diese Zusatzprotokolle überhaupt geschaffen wurden. Nach überwiegender Rechtsmeinung ist diese Interpretation nicht haltbar. Die Zusatzprotokolle ächten unter anderem die unterschiedslose Kriegführung, eine Kriegführung ohne Rücksicht, wer Kombattant und wer Zivilist ist. Und Sie besitzen die Unverfrorenheit gerade den großen „Gleichmacher" Atombombe als nicht gemeint zu bezeichnen, das größte Massenvernichtungsmittel unserer Zeit. Die offensichtliche juristische Unhaltbarkeit ist es wohl auch gewesen, die 1987 Präsident Reagan zu der Entscheidung brachte, zwar das Zusatzprotokoll II, nicht aber Zusatzprotokoll I ratifizieren zu lassen. Auch die Bundesregierung schreibt auf der letzten Seite der Drucksache einen solchen Atomwaffenvorbehalt fest: „Nach dem Verständnis der Bundesrepublik Deutschland sind die vom I. Zusatzprotokoll eingeführten Bestimmungen über den Einsatz von Waffen in der Absicht aufgestellt worden, nur auf konventionelle Waffen Anwendung zu finden ..." Warum, bitte schön, muß die BRD so etwas erklären, wo sie doch angeblich gar kein Atomwaffenstaat ist und gar keine Atomwaffen einsetzen kann? Meine Damen und Herren, hier wird nicht nur die NATO-Strategie geschützt, sondern auch die Rechtmäßigkeit einer Drohung mit eigenen Atomwaffen offengehalten. Meine Damen und Herren, die beste Maßnahme, ihre atomare Unschuld zu beweisen, ist, den Nuklearvorbehalt zurückzuziehen. Zum zweiten. Ein zweiter strittiger Punkt der Verhandlungen seinerzeit war die Frage der Behandlung von Kämpfenden und der Zivilbevölkerung bei Befreiungskriegen. Hier geht es vor allem um Zusatzprotokoll II und betrifft in erster Linie die Länder der sogenannten Dritten Welt. Die Bundesregierung behauptet, sich gerade in Mittelamerika für die Einhaltung der Menschenrechte einzusetzen und generell eine Politik zu betreiben, die der Friedensstiftung in dieser Region förderlich sein soll. Wir haben die Bundesregierung wiederholt aufgefordert, gegen die Verletzung des Zusatzprotokolls II durch die Regierungsstreitkräfte in El Salvador bei der dortigen Regierung oder den zuständigen internationalen Gremien zu protestieren. So riegeln zum Beispiel die Regierungsstreitkräfte die Konfliktgebiete in El Salvador auch für die Zivilbevölkerung systematisch ab, was ein klarer Verstoß gegen Zusatzprotokoll II ist. Das gleiche gilt für die Behinderung von europäischen Hilfeleistungen an die Zivilbevölkerung in El Salvador. Bisher hat die Bundesregierung sich damit herausgeredet, daß ein solcher Protest nur zwischen Vertragspartnern erlaubt sei. Wir sind gespannt, ob sie, wenn die Ratifikation erfolgt ist, dann endlich gegen die Verletzung der Zusatzprotokolle aktiv wird. Wir fordern allerdings, daß diese Ratifikation auf jeden Fall ohne den Nuklearvorbehalt erfolgt. Sie können sicher sein, daß wir — so oder so — die Völkerrechtswidrigkeit der NATO-Strategie nach Ratifikation prüfen lassen werden und gegebenenfalls einklagen. Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsministerin beim Bundesminister des Auswärtigen: Staatsminister Schäfer hat in der Sitzung des Deutschen Bundestages vom 19. Januar 1990 die baldige Einleitung des Ratifizierungsverfahrens zu den Genfer Zusatzprotokollen angekündigt. Die Bundesregierung hat Wort gehalten. Der Vertragsgesetzentwurf mit ausführlichen Begründungen in der Denkschrift liegt Ihnen vor. Ich fasse mich deshalb kurz. Die Bedeutung der Zusatzprotokolle liegt in der Konkretisierung und Weiterentwicklung der völkerrechtlichen Pflicht, ein Minimum an Humanität auch im Kriege zu wahren. Auch wenn wir gegenwärtig 16602* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 Erfolge bei der Sicherung des Friedens in Europa erleben, dürfen wir nicht außer acht lassen, daß in vielen Teilen der Welt weiterhin Kriege mit unmenschlicher Härte zum Teil sogar gegen die eigene Bevölkerung geführt werden. Die Zusatzprotokolle sollen dazu beitragen, unnötiges Leiden zu verhindern. Ich möchte an dieser Stelle an Staatsminister Alois Mertes erinnern, dem die Zusatzprotokolle aus diesem Grund bis zu seinem Tod im Jahre 1985 ein wichtiges Anliegen gewesen sind. Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages sind sich heute darüber einig, daß der Beitritt der Bundesrepublik möglichst bald erfolgen soll. Weltweit sind bisher 92 Länder, darunter 9 NATO-Staaten, Vertragspartei des I. Zusatzprotokolls. Weitere Ratifizierungen von Staaten des westlichen Bündnisses stehen bevor. Von den Staaten des Warschauer Pakts haben Ungarn, die Sowjetunion und zu Beginn des Jahres die Tschechoslowakei ratifiziert. Die Bundesregierung geht davon aus, daß unsere Ratifizierung den Beitritt weiterer Staaten nach sich ziehen wird und wir damit dem Ziel der Universalität einen großen Schritt näherkommen werden, auch wenn Frankeich und die USA eine Ratifizierung des I. Zusatzprotokolls nach wie vor ablehnen. Die Zusatzprotokolle sind ein umfangreiches und zum Teil sehr detailliertes Regelungswerk einer Materie, die bislang nur unzureichend in einer Vielzahl von zum Teil noch aus dem letzten Jahrhundert stammenden völkerrechtlichen Verträgen, zum Teil völkergewohnheitsrechtlich und zum Teil gar nicht geregelt war. Die zentralen Bestimmungen des I. Zusatzprotokolls befassen sich mit dem Schutz von Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen, sie beschränken die Mittel und Methoden der Kriegführung und stärken den Schutz der Zivilbevölkerung. Mit dem II. Zusatzprotokoll wird der Versuch gemacht, die Wahrung grundlegender Rechtsgarantien auch in nicht-internationalen Konflikten zu sichern, die bislang völkerrechtlich weitgehend nicht erfaßt waren. Die Zusatzprotokolle sind das Ergebnis einer Abwägung zwischen militärischen Bedürfnissen einerseits und humanitären Erfordernissen andererseits. Sie folgen damit der realistischen und deshalb erfolgreichen Tradition der internationalen Rotkreuzbewegung, die vor 125 Jahren als Reaktion auf die Schrecken von Solferino ihren Ausgang genommen hat und von der der Anstoß zur Ausarbeitung der Zusatzprotokolle ausgegangen ist. Durch unsere Ratifikation stärken wir nicht nur das humanitäre Völkerrecht, sondern auch die internationale Rotkreuzbewegung. Die Bundesregierung steht voll hinter den Aussagen der Zusatzprotokolle. Sie hat auf der Konferenz, die zur Ausarbeitung der Protokolle führte, aktiv mitgearbeitet. Ihre Initiativen haben in einer Anzahl von Artikeln Niederschlag gefunden. Mit Vorlage des Vertragsgesetzentwurfs möchte die Bundesregierung ihren Beitrag zum Zustandekommen dieses wichtigen Vertragswerkes zum Abschluß bringen. Sie baut darauf, daß die Ratifizierung der Zusatzprotokolle noch in dieser Legislaturperiode zustande kommen kann. Anlage 3 Antwort Zu Protokoll gegebene Reden zu Punkt 15 der Tagesordnung (Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN betr. Nichtgenehmigungsfähigkeit des Atomkraftwerkes Mülheim-Kärlich) Harries (CDU/CSU): Das von der RWE betriebene Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich war einige Monate in Betrieb. Durch Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts in letzter Instanz ist die erteilte erste Teilgenehmigung 1988 aufgehoben worden. Das Kernkraftwerk wurde wieder abgeschaltet. Ein neues Genehmigungsverfahren ist inzwischen wieder eingeleitet. — Dies kurz zur Vorgeschichte. Die Fraktion der GRÜNEN hat beantragt, das eingeleitete neue Genehmigungsverfahren sofort einzustellen und die endgültige Stillegung durch den Bundesumweltminister zu veranlassen. Zur Begründung beruft sich die Fraktion der GRÜNEN 1. auf die bekannte Konzeption, daß die Technik zur Nutzung der Atomernergie nicht beherrschbar sei, 2. auf nicht zu heilende formelle und materielle Fehler und 3. auf die fehlende Entsorgungsmöglichkeit. Atomrechtlich und verfahrensrechtlich ist in der Tat eine schwierige und bisher nicht gekannte und damit außergewöhnliche Situation entstanden: Für das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich sind insgesamt acht Teilgenehmigungen und zwei weitere Nachträge erteilt worden. Dadurch, daß das Bundesverwaltungsgericht die erste Teilgenehmigung aus dem Jahre 1975 durch Urteil vom September 1988 aufgehoben hat, ist nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts die Grundlage nachträglich für alle Genehmigungen entfallen. Die entstandene Legitmationslücke muß jetzt wieder — und damit nachträglich — geschlossen werden. Die Begründung der Fraktion der GRÜNEN für ihre im Deutschen Bundestag heute eingebrachten Anträge überzeugt nicht. Wieder und wieder wird vorgetragen, daß die Nutzung der Atomenergie nicht beherrschbar und Teufelswerk sei. Auch die ständige Wiederholung macht diese Aussage nicht richtig. So stimmt nicht der Hinweis auf den Beinahe-Gau 1986 beim Atomkraftwerk Biblis. Dort haben zwar Menschen vorübergehend nicht nach Vorschrift gearbeitet, aber die Technik hat immer funktioniert. Ein Gau oder Beinahe-Gau hat weder stattgefunden noch stand er bevor. Das gilt im übrigen auch für den zitierten spanischen Atommeiler. Es fehlt bis heute einfach eine überzeugende Antwort der GRÜNEN zu aktuellen Fragen, z. B. zur Sicherstellung der Energieversorgung vor dem Hintergrund der Klimadebatte zu weiteren Umweltproblemen und zum steigenden Energiebedarf der Menschheit in der Welt. Die GRÜNEN argumentieren nur vordergründig und falsch. Es stimmt auch nicht, daß die Entsorgung nicht gelöst sei. Im internationalen Vergleich steht die Bundesrepublik gut da. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 16603* Die erteilten Genehmigungen für die Kernkraftwerke befinden sich auch im Einklang mit dem deutschen Atomrecht. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die bestehenden Verträge zur Wiederaufarbeitung mit England und Frankreich. Ich verweise auf die dort bestehende vorübergehende Lagermöglichkeit für abgebrannte Brennstäbe. Ich verweise auf die Arbeiten am möglicherweise kommenden Endlager in Gorleben. Ich verweise auf die bestehende jahrelange Zwischenlagermöglichkeit auf die Vorbereitung für „Konrad" und auf die im Bau befindliche Pilotkonditionierungsanlage. Schließlich übersieht die Fraktion der GRÜNEN in vollem Umfang, daß das Bundesverwaltungsgericht durch das schon kurz zitierte Urteil aus dem Jahre 1986, mit dem die erste Teilgenehmigung aufgehoben worden ist, ausdrücklich gesagt hat, daß die Genehmigung nachgeholt werden kann. Eine nachträgliche Heilung ist damit möglich. Ob sie erfolgen wird und erfolgen kann, ist eine ganz andere Frage. Wichtig ist, daß Antragsteller und Genehmigungsbehörde das atomrechtliche Verfahren wieder eingeleitet haben. Dieses Verfahren ist nicht abgeschlossen. Das Urteil enthält folgende drei wichtige Hinweise: Erstens betont das Gericht, daß ein Ermittlungs- und Bewertungsdefizit, das zur Aufhebung einer Teilgenehmigung führt, grundsätzlich auch dann noch ausgeglichen werden könne, wenn die Anlage bereits errichtet sei. Zweitens hat das Gericht bestätigt, daß durch die Aufhebung der ersten Teilgenehmigung die zweite und weitere, nachfolgende Teilgenehmigungen in ihrem rechtlichen Bestand nicht ohne weiteres berührt seien. Sie seien unverändert wirksam. Drittens müsse aber im Rahmen des neuen Verfahrens geprüft werden, ob sich durch die Neuregelung Rückwirkungen auf bereits bestandskräftige Teilgenehmigungen ergeben. Zur Zeit werden die vom Antragsteller eingereichten Unterlagen sowie die Gutachten der vom Antragsteller beauftragten Sachverständigen überprüft. Schwerpunkt der Prüfung sind u. a. Fragen der Geologie, der Seismologie, der Hydrologie und der Bevölkerungsdichte sowie der Verkehrswege, also alle die Punkte, die von den GRÜNEN kritisch angesprochen worden sind. Auch die Genehmigungsbehörde, das Ministerium für Umwelt und Gesundheit von Rheinland-Pfalz, hat Gutachten in Auftrag gegeben. Das neue Genehmigungsverfahren läuft. Gutachten sind eingeholt, sie werden geprüft. Erst nach dessen Abschluß ergeht eine Entscheidung. Es fehlt damit jede Veranlassung, heute das Verfahren durch den Bundesumweltminister endgültig einstellen zu lassen und das Werk endgültig stillzulegen. Wir leben in einem Rechtsstaat. Das vorgeschriebene Verfahren muß und kann seinen Gang gehen. Reuter (SPD): Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich schon vor geraumer Zeit mit den Problemen des Atomkraftwerkes Mülheim/Kärlich befaßt. Denn Tatsache ist, daß dieser Reaktor von Anfang an mehr Schlagzeilen als Strom produziert hat. Wir haben die gravierenden Sicherheitsmängel dieses Reaktortyps bereits im Jahre 1987 in einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung unter die Lupe genommen. Die Anlage in Mülheim/Kärlich ist nämlich in wesentlichen Teilen baugleich mit Three Miles Island in Harrisburg, USA. Ich muß wohl nicht mehr besonders darauf hinweisen, daß die Menschheit seinerzeit beim Reaktorunfall von Harrisburg an der Schwelle einer Atomkatastrophe größten Ausmaßes stand. Besonders wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang, daß weder die zweifellos vorhandenen Sicherungssysteme noch die vorausschauenden Planungen der Ingenieure das Schlimmste verhindern konnten, sondern einzig und allein die „Schlauheit des Materials", wie damals gesagt wurde. Das Durchschmelzen des Reaktorkerns kam glücklicherweise zum Stillstand, ohne daß ein Wissenschaftler oder Politiker bis heute weiß, aus welchen Gründen. Ein weiterer Unfall eines baugleichen Reaktors ereignete sich übrigens 1985 in Kalifornien. Innerhalb einer Stunde traten damals elf Fehlfunktionen auf, bevor es der Bedienungsmannschaft im letzten Augenblick gelang, den Reaktor abzuschalten. In den Vereinigten Staaten wird seit vielen Jahren davon gesprochen, daß der Druckwasserreaktortyp, wie er auch in Mülheim/Kärlich steht, der unsicherste Reaktortyp sei, den es gibt. Ein ehemaliges Mitglied der US-Atomaufsichtsbehörde bezeichnete ihn sogar als eine hoffnungslose Fehlkonstruktion. Die Antwort der Bundesregierung auf unsere damalige Kleine Anfrage zur Sicherheit des Atomkraftwerks Mülheim/Kärlich berücksichtigte allerdings die ernsthaften Bedenken auch qualifizierter deutscher Wissenschaftler nicht. Sie machte es sich einfach und behauptete u. a. daß der Unfall im Kernkraftwerk Three Miles Island in seinen entscheidenden Ursachen nicht auf irgendwelche Merkmale zurückzuführen war, die der Auslegung des Kernkraftwerkes Mülheim/Kärlich vergleichbar seien. Woher nimmt die Bundesregierung diese Kenntnis? Trotz weiterer problematischer Details der Anlage in Mülheim/Kärlich, wie z. B. Kühlwasserverlustanfälligkeit, schwer kontrollierbare Reaktion der Wärmetauscher, Schwächen des sogenannten integrierten Blockregelsystems, wurden von der Bundesregierung alle Bedenken zurückgewiesen. Sie hat den Reaktortyp Mülheim/Kärlich quasi gesundgebetet und ihre Augen vor den vorhandenen Problemen verschlossen. Eine solche Taktik ist nicht gerade geeignet, daß ständig wachsende Mißtrauen der Bevölkerung gegenüber dieser Technologie abzubauen. Die Bundesregierung hat auch das Parlament getäuscht, indem sie den Eindruck vermittelte, mit dem Genehmigungsverfahren für Mülheim/Kärlich sei alles in bester Ordnung. Tatsächlich beweisen einschlägige Gerichtsurteile, daß die Genehmigungsbehörde in Rheinland-Pfalz ihre Aufgabe nicht erfüllt und gravierende Fehler gemacht hat. Im Verfahren sollen wesentliche Teile der Anlage „vergessen" worden sein. Eine nachträglich erteilte Genehmigung, und zwar 16604* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 nach dem Bau des Reaktors, könnte in Zukunft jedem Mißbrauch Tür und Tor öffnen. Mit dem vorliegenden Antrag wird verlangt, daß das Atomkraftwerk Mülheim/Kärlich nicht genehmigt wird. Begründet wird dies zum einen mit formaljuristischen Mängeln im Genehmigungsverfahren, zum anderen mit Problemen der geologischen Situation des Reaktorstandorts und technisch bedingter Sicherheitsmängel. Die sehr umfassende Antragsbegründung enthält viele Punkte, die die SPD-Bundestagsfraktion aus ihrer Sicht unterstützen kann. Allerdings ist nach meiner Ansicht der Deutsche Bundestag kaum in der Lage, ein Genehmigungsverfahren sachkundig und objektiv zu bewerten, das mittlerweile mehrere 100 Aktenbände füllen dürfte. Aufgabe des Parlaments kann es nur sein, die notwendigen Gesetze zu schaffen, um solche Verfahren vernünftig abzuwickeln. Es ist dann Aufgabe der Genehmigungsbehörden, diese Gesetze zu beachten. Natürlich sind Formfragen wie die rechtzeitige Anhoning der Öffentlichkeit bei der Genehmigung so risikoreicher und komplexer Anlagen wie Atomkraftwerke von besonderer Bedeutung. Noch wichtiger als alle formaljuristischen Spitzfindigkeiten ist aber die Frage nach der Sicherheit einer solchen Anlage. Wir dürfen nicht zulassen, daß es in Sicherheitsfragen einen Rabatt gibt. Sicherheit muß vor Wirtschaftlichkeit gehen. In diesem Punkt, so denke ich, gibt es einen Konsens aller im Bundestag vertretenen Parteien. Ich habe allerdings erhebliche Zweifel, ob auch bei der Genehmigung und beim Betrieb von Kernkraftwerken danach verfahren wird. Im Dezember 1987 kam es zu einem schweren Störfall im Kernkraftwerk Biblis, im August 1988 in Gundremmingen, im Mai und September 1988 in Stade, im Dezember 1988 in Brokdorf und im Reaktor Emsland in Lingen, im Februar 1989 im Reaktor Grafenrheinfeld — eine Liste, die sich auch in Zukunft fortsetzen wird, möglicherweise mit katastrophalen Folgen — , wenn wir nicht bald die richtigen Entscheidungen treffen. Hinzu kommt die nach wie vor nicht gelöste Entsorgungsfrage. Es bleibt nur ein Fazit: Die Technologie der Kernkraftnutzung ist für den Menschen nicht beherrschbar. Gerade die Erfahrungen des Atomskandal-Untersuchungsausschusses haben dies erneut deutlich gemacht und unsere kritischen Vorbehalte in hohem Maße bestätigt. Die SPD-Bundestagsfraktion hat in ihrem Entwurf eines Kernenergieabwicklungsgesetzes vom Sommer letzten Jahres einen gangbaren Weg aufgezeigt, wie die energiewirtschaftliche Nutzung der Kernenergie beendet werden kann. Sie hat umfangreiche Strategien entwickelt, wie durch Maßnahmen der Energieeinsparung und alternativer Methoden der Energiegewinnung sichergestellt werden kann, daß die Wirtschaft nicht in Krisen gerät. Der Reaktorunfall von Tschernobyl hat das bis dahin oft als rein hypothetisch angesehene Risiko Realität werden lassen. Ein vergleichbarer Unfall in der dicht besiedelten Bundesrepublik Deutschland würde katastrophale Auswirkungen haben. Rettungsmaßnahmen sind kaum zu organisieren. Immer mehr wird auch die Wirtschaftlichkeit des Einsatzes von Kernenergie bezweifelt. Deshalb fordern wir eine Energiepolitik ohne Atomkraft. Die mit der Kernenergie verbundenen existenzbedrohenden Risiken sind auf die Dauer nicht zu verantworten. Wer jetzt nicht umsteuert, blockiert die Zukunft. Neues Denken muß sich durchsetzen. Frau Dr. Segall (FDP) : Wir stehen einem weltweit ansteigenden Energiebedarf gegenüber. Wie die Anhörungen der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre " letzte Woche gezeigt haben, führen zum Teil selbst die Schutzanstrengungen gegenüber den Gefahren der Ozonlochbildung, also dem Ausstieg aus der FCKW-Produktion und -Verwendung, zu einem Anstieg des Energiebedarfs. So sind die bisher vorhandenen Ersatzstoffe im Kühlmittelbereich energetisch wesentlich kostspieliger als der bisherige Einsatz von FCKW. Um einen Anstieg der CO2-Emissionen zu vermeiden, dürfen wir zur Dekkung des zusätzlichen Energiebedarfs aber auf keinen Fall auf fossile Energiestoffe zurückgreifen. Wegen der Gefahren des Treibhauseffektes ist vielmehr ein Rückzug aus den fossilen Brennstoffen erforderlich. Dieser Rückzug verlangt aber den Einsatz von Kernenergie. Diese Einsicht in die Notwendigkeit der Kernenergienutzung darf allerdings nicht dazu führen, daß der Bau von Kernkraftwerken ohne eine rechtlich einwandfreie Grundlage bzw. juristisch fehlerfreie Genehmigung erfolgt. Bei der Errichtung des Atomkraftwerkes Mühlheim-Kärlich sind im Rahmen des Genehmigungsverfahrens Fehler gemacht worden, die äußerst bedauerlich sind, da durch ein solchermaßen fehlerhaftes Vorgehen die Akzeptanz in der Bevölkerung gegenüber Kernanlagen vermindert wird. So wurde die erste Teilerrichtungsgenehmigung für das Kernkraftwerk Mühlheim-Kärlich vom 9. Januar 1975 durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 9. September 1988 aufgehoben, weil das Genehmigungsverfahren nicht den Vorschriften des Atomgesetzes entsprach. Die erste Teilgenehmigung wurde nämlich für einen genau bestimmten Standort mit einem einheitlichen Gebäudekomplex, der sogenannten Kompaktbauweise, erteilt. Im Verlauf des Genehmigungsverfahrens ist dann das Baukonzept geändert worden; statt des einheitlichen Aufbaus erfolgte eine Aufteilung der Anlage in die zwei Bereiche Reaktorgebäude und Maschinenhaus. Diese Neukonzeption wurde jedoch bei der Erteilung der ersten Teilerrichtungsgenehmigung noch nicht berücksichtigt. Um die Rechtmäßigkeit der Anlage insgesamt festzustellen, muß nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes die „fehlerhafte durch eine fehlerfreie erste Teilgenehmigung" ersetzt werden. Innerhalb des nun erforderlichen neuen Verfahrens zur Erteilung der ersten Teilgenehmigung ist in erster Linie zu prüfen, ob der großräumige Standort der Anlage im Hinblick auf die im einzelnen bereits genehmigte und Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 16605* errichtete Anlage unter Sicherheitsgesichtspunkten rechtlich unbedenklich ist. Die Behauptung der GRÜNEN, daß die sicherheitstechnische Auslegung des Kernkraftwerkes Mühlheim-Kärlich nicht dem erforderlichen Stand von Wissenschaft und Technik entspreche, ist falsch. Die Fragen der Sicherheit und Detailgestaltung der Anlage sind im Rahmen des atomrechtlichen Genehmigungsverfahrens eingehend überprüft und genehmigt worden. Dieser Komplex ist Bestand anderer Teilerrichtungsgenehmigungen, die nur dann neu überprüft werden müßten, wenn sich bei der Beurteilung des großräumigen Standortes herausstellen sollte, daß besondere standortbedingte Risiken zusätzliche, bislang noch nicht berücksichtigte Sicherheitsvorkehrungen am Kernkraftwerk selbst erforderlich machen. Entscheidend für das laufende Genehmigungsverfahren ist also die Beurteilung des großräumigen Standortes. Die hierzu notwendigen Untersuchungen werden derzeit durch die zuständige atomrechtliche Genehmigungsbehörde, den rheinland-pfälzischen Umweltminister, durchgeführt und sollen demnächst abgeschlossen werden. Zur Problematik des Vulkanismus sind von der Genehmigungsbehörde seismologische und geologische Gutachten eingeholt worden. Somit ist auch die von den GRÜNEN aufgestellte Behauptung, es würden Untersuchungen bezüglich der Erdbebengefährdung unterlassen, schlichtweg unzutreffend. Innerhalb der Untersuchungen erfolgen ferner auch Prüfungen zu Fragen der Hydrologie, Meteorologie, Radioökologie, der Bevölkerungsdichte und der Verkehrswege. Insofern bleibt abzuwarten, zu welchem Ergebnis die einzelnen Gutachten kommen; erst dann kann über die erste Teilgenehmigung und damit über die gesamte Rechtslage der Anlage in Mühlheim-Kärlich entschieden werden. Es besteht also kein Grund, jetzt auf die Landesregierung von Rheinland-Pfalz einzuwirken, das Genehmigungsverfahren sofort einzustellen, da dieses neue Genehmigungsverfahren rechtmäßig verläuft. Erst am Ende dieses Verfahrens kann darüber entschieden werden, ob das Kernkraftwerk Mühlheim-Kärlich in Betrieb geht oder nicht. Dr. Daniels (Regensburg) (GRÜNE): Sehr geehrte Damen und Herren! Heute abend wird im Bundestag das erste Mal etwas ausführlicher über den weltweit teuersten und störanfälligsten Atomreaktor debattiert. Und das trotz der anhaltenden Skandale seit nunmehr 20 Jahren. Geplant wurde das Atomkraftwerk von 1970 bis 1973. Gebaut wurde es von 1975 bis 1987. Gemauschelt wurde von 1970 bis 1990, Tendenz anhaltend, wie erst jetzt aus Materialien des Untersuchungsausschusses im Mainzer Landtag hervorgeht. Heute wissen wir, daß der Reaktor in Mülheim-Kärlich vergleichbar mit den DDR-Reaktoren Bruno Leuschner ist. Daher wollen wir ihn dem damaligen Hauptverantwortlichen Helmut Kohl widmen. Helmut Kohl I wurde von BBC, der berühmten Erbauerin des Harrisburg-Reaktors, seit 1973 gebaut. Die erste Teilgenehmigung wurde zwei Jahre später erteilt, nachdem Sachzwänge in Beton gegossen waren. Kein Wunder, daß die erste Teilgenehmigung überstürzt und fachlich nicht haltbar war. Selbst der atomkraftfreundliche TÜV Rheinland hatte seine Begutachtung und Prüfung für die erste TG zu dem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen, als die erste TG schon erteilt war. Aus veröffentlichten Telefonnotizen geht hervor, daß der TÜV Rheinland „wegen der schwierigen Standortfrage und wegen des Reaktortyps noch Fragen zu klären hatte". Aber genau diese Punkte bilden die Grundlagen einer ersten Teilgenehmigung. Etwas später bemerkte man die fehlerhafte Planung. Man stellte auch fest, daß der geplante Standort selbst eingefleischten AKW-Fanatikern zu heiß war, und verlegte ihn einfach. Gebaut wurde an einer anderen Stelle — und das ist zynische Realsatire — , gerade auf d e r Stelle, die die Gutachter vorher aussparen wollten. Diese nördliche Scholle ist von Störungen und Braunkohletonen durchzogen. Errichtet wurde auch ein von der Konstruktion verändertes Atomkraftwerk. Eine erneute Genehmigung hielten Kohl & Company nicht mehr für notwendig. Sie wußten auch warum. Ich zitiere aus der Beschlußvorlage der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz vom 13. Dezember 79 für die Sitzung des Ministerrates vier Tage später: Ein neues Verfahren über die Gesamtanlage wäre prozeßrechtlich problematisch und tatsächlich wenig erfolgversprechend, weil dabei auf den neuesten Stand der Technik abgestellt werden müßte, auf den die teilweise schon sechs Jahre alte Anlage nach Angaben des RWE kaum noch in allen Teilen zu bringen ist. Das heißt, seit mindestens 1979 wissen wir, daß Helmut Kohl I nie ordnungsgemäß genehmigt werden konnte und auch schon vor elf Jahren aus rein technischen Gründen nicht mehr hätte weitergebaut werden dürfen. Glücklicherweise hat das Bundesverwaltungsgericht in Berlin im September 1988 endlich die Notbremse gezogen und festgestellt, daß es so nun wirklich nicht geht. Es wäre für diese neue Anlage auf einem anderen Standort ein ordentliches Genehmigungsverfahren notwendig. Die Anlage müßte nach dem Stand der Technik genehmigt werden. Dies ist nicht der Fall. Alle wesentlichen Teile entsprechen heute nicht mehr dem Stand der Technik. Vom Reaktordruckbehälter über die Dampferzeuger bis hin zur Konzeption des gesamten Primärkreislaufes, von der Anordnung der Schweißnähte über den Werkstoff des Sicherheitsbehälters bis hin zu den Auslegungsprinzipien gegen Störfälle — nichts, aber auch gar nichts davon könnte heute genehmigt werden. Und das hat ja Gründe. Helmut Kohl I ist störanfällig. Helmut Kohl I ist sogar unser Bester: Kein anderer Reaktor kann so viele Störfälle in so kurzer Zeit bieten. Von Dezember 1985 bis Dezember 1988 — also keine drei Jahre — zählt die Bürgerinitiative ARGUS 96 Störfälle. Die beeindruckende Liste können Sie gerne von mir bekommen. Also allein schon die Technik erzwingt eine Stillegung des Reaktors. 16606* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 Die äußeren Gegebenheiten tun dies noch viel mehr. Weder die Geologie noch die Seismologie sind entsprechend berücksichtigt. Ein abschließendes geologisches Gutachten, das die geänderte Reaktorlage und alle bisher vorgelegten Untersuchungsergebnisse berücksichtigt, wurde bis heute nicht erstellt. Das Neuwieder Becken — der Standort des Reaktors — muß auf Grund der Erdbebengefährdung des Rheingrabens zu einer geologischen Schwächezone gerechnet werden. Meine Damen und Herren, nehmen Sie den schlimmsten Fall an: Ein Tiefflieger — und davon gibt es gerade in Rheinland-Pfalz mehr als genug — trifft. Im 20 km Umkreis leben fast eine halbe Million Menschen. Eine schnelle Evakuierung ist ausgeschlossen. Die Menschen in der Umgebung müssen bei einer erneuten Inbetriebnahme mit diesem Risiko leben. Es wird ihnen von den politisch Verantwortlichen zugemutet. Wer kann das überhaupt verantworten? Lassen Sie mich nun auf das neue Genehmigungsverfahren zu sprechen kommen. Das Bundesverwaltungsgericht hat ein ordentliches Genehmigungsverfahren gefordert. In Rheinland-Pfalz mußte der Erörterungstermin wiederholt werden. Auch der zweite verlief nicht rechtmäßig. Schlimmer ist, daß nicht alle anstehenden Punkte und Probleme debattiert wurden. Alle Teilgenehmigungen hätten diskutiert werden müssen, aber das muß nun in den kommenden Eröterungsterminen nachgeholt werden. Bei den Debatten um die 1. TG wurden nicht einmal alle Gutachten für die Öffentlichkeit ausgelegt. Weitere Schwachpunkte können Sie im Detail dem Antrag entnehmen. Brauchen wir den Reaktor heute noch? In der Vorlage für den Ministerrat von 1974 wird ohne das Atomkraftwerk schon 1977 — ich zitiere — „die Stromversorgung aus dem Verbundnetz mit Schwierigkeiten verbunden sein" . Weiter heißt es: „Eine weitere Verschiebung des Baubeginns ließe daher befürchten, daß die ausreichende Versorgung im Regierungsbezirk Koblenz im Herbst 1978 nicht sichergestellt werden könnte. " Und weiter: „Eine Alternative zur anderweitigen Versorgung ist nicht gegeben. " Heute ist laut Landesregierung der Reaktor für die Stromversorgung nicht mehr nötig. Die RWE will laut Pressemitteilung den Reaktor für die DDR nutzen. Meine Damen und Herren, Helmut Kohl I ist auch ein Lehrstück für gelungene Steuerhinterziehung: RWE gründete eine Firma in Luxemburg — die SCN. SCN wickelt alle Finanzen ab. Sollte SCN irgendwann einmal Gewinn machen, werden die geringen Steuern in Luxemburg bleiben. In der Bundesrepublik werden keine Steuern bezahlt. Dies ist recht geschickt, denn es spart eine Menge Geld. Helmut Kohl I wird jedoch langfristig Miese machen — aber auch hier hilft die zwielichtige Konstruktion: RWE zahlt Pacht — unabhängig davon, ob der Pannenreaktor läuft oder nicht. Die Pachtkosten reduzieren den Gewinn des RWE in der Bundesrepublik. Diese Pachtkosten liegen aber wesentlich höher, als wenn man bei RWE Abschreibungskosten ansetzen würde. Die Folge sind bisher Steuerersparnisse in Höhe von 1,23 Milliarden DM. So finanzieren wir alle den Reaktor doppelt — erst über den Strompreis und über die Steuern gleich noch einmal. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, auch die nordrhein-westfälische Landesregierung hilft bei diesem Geschäft kräftig mit: Die Energiepreisaufsicht in Düsseldorf und das RWE wissen mindestens seit 1979, daß das Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich nie sicheren und kostengünstigen Strom liefern wird, wie es in der Bundestarifordnung Elektrizität vorgeschrieben ist. Trotzdem erlaubt sie RWE, 350 Millionen DM jährlich für den Reaktor über den Stromverkauf zusätzlich einzunehmen. Jeder Strombezieher zahlt die Zeche — und das auch noch rechtswidrig. So scheint selbst die SPD-Landespreisaufsicht auch vom RWE bestochen zu sein. Wenn wir die Gesamtkosten auf den bisher erzeugten Strom aus dem Reaktor umlegen, kommen wir auf einen Kilowattstundenpreis von über 70 Pfennig. Damit sind wir beim Preisniveau von Solaranlagen zur Stromerzeugung angelangt. Helmut Kohl I ist auch ein klassischer Fall politischen Sumpfs: Heute muß Umweltminister Beth in Rheinland-Pfalz den Reaktor genehmigen — für das RWE. Früher war Herr Beth in seiner Eigenschaft als Landrat im Regionalbeirat des RWE, er war im Verwaltungsbeirat des RWE, und er war Vertreter des Verbandes kommunaler Aktionäre beim RWE. Kann sich jemand anderes beim RWE wohler fühlen als er? Liebe Kolleginnen von der FDP, Sie wollten diese Debatte zwar verhindern — das kann ich von Ihrer Seite verstehen —, aber Ihr Parteikollege Professor Reisinger aus dem Landtag in Rheinland-Pfalz hätte das nicht gut gefunden. Er kennt alle diese Unterlagen und kommt daher zu einer sehr kritischen Einschätzung. Ich hoffe, daß wir im Ausschuß für Reaktorsicherheit genügend Zeit für eine fundierte Bewertung finden werden, bevor die Genehmigungsbehörde den Reaktor wieder ans Netz läßt. Gröbl, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Mit der Aufhebung der 1. Teilerrichtungsgenehmigung für das Kernkraftwerk Mühlheim-Kärlich durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. September 1988 ist eine außergewöhnliche, verfahrensrechtlich komplizierte Situation entstanden, die Anlaß zu Mißverständnissen und Fehlinterpretationen gegeben hat. Betroffen sind hiervon vor allem zwei Fragen: Erstens, welche Auswirkungen hat die Aufhebung der 1. Teilerrichtungsgenehmigung auf den Bestand der übrigen Teilgenehmigungen? Zweitens, was ist Gegenstand des jetzt nachzuholenden Genehmigungsschritts? Zu beiden Punkten hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung Stellung genommen — allerdings in ganz anderem Sinne, als es in der tendenziösen und verfälschenden Darstellung zum Ausdruck kommt, derer sich die Fraktion DIE GRÜNEN zur Begründung ihres Beschlußantrags bedient. Erlauben Sie mir deshalb zunächst einige klarstellende Bemerkungen zum Inhalt und zu den Konsequenzen des genannten Urteils. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 16607* Das Bundesverwaltungsgericht hat die Aufhebung der 1. Teilerrichtungsgenehmigung darauf gestützt, daß diese Genehmigung im Jahre 1975 für eine Anlage erteilt worden sei, „die so nicht mehr errichtet werden sollte". Gemeint ist damit folgendes: Im Verlauf des Genehmigungsverfahrens war der Antragsteller von der ursprünglich geplanten Kompaktbauweise (Errichtung des Kernkraftwerks in einem zusammenhängenden Gebäudekomplex) wieder abgerückt. Die Neukonzeption der Gebäudeanordnung (Trennung von Reaktorgebäude und Maschinenhaus) wurde jedoch bei Erteilung der 1. Teilerrichtungsgenehmigung noch nicht berücksichtigt. Das Bundesverwaltungsgericht sieht hierin ein Ermittlungs- und Bewertungsdefizit: Die Eignung des großräumigen Standorts habe nicht unabhängig vom Grundkonzept der Anlage geprüft und bewertet werden dürfen. Mit dieser Entscheidung hat das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich, um den genehmigungsrechtlichen Stellenwert des Urteils kurz zu skizzieren, zwar ein Teilelement seiner Genehmigungsbasis verloren, damit ist aber keineswegs gesagt, daß die Anlage nicht genehmigungsfähig ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat betont, daß die Mängel, die zur Aufhebung der 1. Teilerrichtungsgenehmigung geführt haben, durch entsprechende „Nachbesserungen" — d. h. Ersetzung des fehlerhaften durch einen fehlerfreien Genehmigungsakt — geheilt werden können. Gegenstand der hierfür erforderlichen Prüfungen ist die Eignung des großräumigen Standorts der Anlage. Es geht konkret darum, ob dieser großräumige Standort im Hinblick auf die im einzelnen bereits genehmigte und errichtete Anlage unter Sicherheitsgesichtspunkten rechtlich unbedenklich ist. Der kleinräumige Standort des Kernkraftwerks auf dem Untergrund des Betriebsgeländes sowie die sicherheitstechnische Auslegung und Detailgestaltung der Anlage bedürfen dagegen im vorliegenden Verfahren grundsätzlich keiner erneuten Überprüfung. Sie sind Regelungsgegenstand anderer Teilgenehmigungen, deren rechtlicher Bestand durch die Aufhebung der 1. Teilerrichtungsgenehmigung — so das Bundesverwaltungsgericht wörtlich — „nicht ohne weiteres und gleichsam automatisch berührt" wird. Diese weiteren Teilgenehmigungen wären — in einem gesonderten Verfahren — nur dann zu ersetzen bzw. zu ergänzen, wenn sich bei der jetzt anstehenden Beurteilung des großräumigen Standorts herausstellen sollte, daß besondere standortbedingte Risiken zusätzliche, bislang noch nicht berücksichtigte Sicherheitsvorkehrungen am Kernkraftwerk selbst erforderlich machen. Die in der Begründung des erörterten Beschlußantrags erhobenen Einwände gegen die sicherheitstechnische Konzeption der Anlage weisen jedoch keinen derartigen Standortbezug auf. Schon deshalb sind sie im vorliegenden Zusammenhang fehl am Platze. Im übrigen haben diese standortunabhängigen Bedenken aber auch keine sachliche Berechtigung: Die sicherheitstechnische Auslegung des Kernkraftwerkes Mülheim-Kärlich ist im Rahmen des atomrechtlichen Genehmigungsverfahrens eingehend überprüft worden; sie entspricht danach dem erforderlichen Stand von Wissenschaft und Technik. Für das laufende Genehmigungsverfahren entscheidend ist, wie gesagt, die Beurteilung des großräumigen Standortes. Die hierzu notwendigen Untersuchungen werden derzeit durch die zuständige atomrechtliche Genehmigungsbehörde, den rheinland-pfälzischen Umweltminister, durchgeführt und sollen demnächst abgeschlossen werden. Schwerpunkte der Prüfung sind Fragen der Geologie, Hydrologie, Meteorologie, Radioökologie, der Bevölkerungsdichte und Verkehrswege sowie der Seismologie. Zur Problematik des Vulkanismus sind von der Genehmigungsbehörde seismologische und geologische Gutachten eingeholt worden. Die von der Fraktion DIE GRÜNEN aufgestellte Behauptung, Untersuchungen zur Erdbebengefährdung des Kernkraftwerkes Mülheim-Kärlich würden unterlassen, ist somit unzutreffend. Da seismologische Aspekte zu den für die Beurteilung des großräumigen Anlagenstandorts maßgeblichen Gesichtspunkten gehören, sind sie im vorliegenden Verfahren selbstverständlich angemessen zu berücksichtigen. Zu welchem Ergebnis die atomrechtliche Genehmigungsbehörde bei ihren Prüfungen gelangen wird, kann naturgemäß erst nach Abschluß sämtlicher für ihre Entscheidung erforderlichen Untersuchungen gesagt werden. Eine vorweggenommene Bewertung bzw. Prognose über den Ausgang des Verfahrens wird es von meiner Seite — auch im Rahmen dieser Debatte — nicht geben. Ich würde es für unseriös halten, durch bundesaufsichtliche Äußerungen zur Genehmigungsfähigkeit des Kernkraftwerks Mülheim-Kärlich in den derzeit noch laufenden Prüfprozeß einzugreifen. Der Bundesumweltminister hat es sich zum Grundsatz gemacht, Stellungnahmen zu Fragen der kerntechnischen Sicherheit nur auf einer soliden Bewertungsgrundlage abzugeben. Dabei wird es auch im vorliegenden Fall bleiben. Die Abgabe voreiliger und unsubstantiierter Schnellschußanalysen überlasse ich hier gerne den GRÜNEN. Lassen Sie mich aber zum Schluß noch auf die Vorwürfe im Hinblick auf die Öffentlichkeitsbeteiligung eingehen. Wenn dazu in der Begründung des Beschlußantrags behauptet wird, die Genehmigungsbehörde habe bestimmte Einwendungen Betroffener ausschließen bzw. deren Erörterung verhindern wollen, so kann dies nur als abwegig bezeichnet werden. Tatsächlich waren auf Grund des Inhalts der Bekanntmachung und der besonderen hier gegebenen Umstände sowohl die Identität der Anlage als auch der Stand des Verfahrens und der Gegenstand der zu treffenden Regelung ohne größere Schwierigkeiten erkennbar. Die Bekanntmachung genügte daher ihrer Funktion, potentiellen Einwendern die Beurteilung ihrer Betroffenheit und gegebenenfalls die Wahrnehmung ihrer Rechte zu ermöglichen. Dies wird durch die Zahl der innerhalb der Auslegungsfrist vorgebrachten Einwendungen eindrucksvoll unterstrichen; immerhin wurden 66 000 Einwendungen erhoben. Die Bekanntmachungen vom 19. April und 16. November 1989 wurden in der Öffentlichkeit also offensichtlich keineswegs mißverstanden. Wenn die Antragsteller Gegenteiliges suggerieren wollen, so geht dies an den Tatsachen vorbei. Nicht zu beanstanden ist ferner auch der Umfang der ausgelegten Unterlagen. Zur Beurteilung der Eig- 16608* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 nung des großräumigen Standortes der Anlage waren die ausgelegten Unterlagen mehr als ausreichend. Auch was den übrigen Ablauf der Erörterungstermine anbelangt, bestand kein Anlaß zu bundesaufsichtlichem Einschreiten. Nachdem Zweifel an der Rechtmäßigkeit der im ersten Termin angeordneten Sicherheitskontrollen aufgekommen waren, hat die Genehmigungsbehörde den Einwendern Gelegenheit gegeben, ihre Bedenken in einem weiteren Erörterungstermin vorzutragen. Sie ist auch im übrigen nach Kräften bestrebt gewesen, den Betroffenen die Wahrnehmung ihrer Rechte zu ermöglichen. So wurden auf Antrag Akteneinsicht gewährt sowie Unterlagen und Gutachten zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus gewährt die Genehmigungsbehörde jenen Einwendern, die entsprechende Anträge gestellt haben, auch weiterhin Einsicht in sämtliche für das Genehmigungsverfahren relevanten Unterlagen einschließlich der Gutachten. Außerdem ist ihnen Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme gegeben worden. Vor diesem Hintergrund erweisen sich die in der Begründung des Beschlußantrags geäußerten Vorwürfe insgesamt als unberechtigt und haltlos. Ich empfehle Ihnen daher, den vorliegenden Beschlußantrag abzulehnen. Anlage 4 Antwort des Bundesministers Klein auf die Fragen der Abgeordneten Frau Schulte (Hameln) (SPD) (Drucksache 10/7058 Fragen 3 und 4): Wie hoch war der Gesamtaufwand, der — jeweils in den Einzeljahren — von 1979 bis 1981 und von 1987 bis 1989 durch Informationsschriften, Zeitungs- und Zeitschriftenanzeigen sowie Zeitungs- und Zeitschriftenbeilagen der Bundesregierung entstand? Wie hoch war der Anteil dieser Ausgaben an den jeweiligen Gesamtausgaben des Bundeshaushalts? Die Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit und ihre Kosten werden seit 1978 im Bulletin der Bundesregierung vierteljährlich veröffentlicht. Dies geht auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 1977 zurück, in dem einzelne Maßnahmen im Wahljahr 1976 für verfassungswidrig erklärt wurden. Ausweislich dieser Übersichten betrug der Gesamtaufwand für die dort dargestellten Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit: 1979 19 602 700 DM 1980 23 843 731 DM 1981 19 199 508 DM Für 1987 bis 1989 lauten die Zahlen wie folgt: 1987 21 585 380 DM 1988 32 200 209 DM 1989 44 556 785 DM Die Anteile an den Gesamtausgaben des Bundeshaushalts betragen: 1979 0,096 Promille von 203,4 Milliarden DM 1980 0,110 Promille von 215,7 Milliarden DM 1981 0,082 Promille von 233,0 Milliarden DM 1987 0,080 Promille von 269,0 Milliarden DM 1988 0,116 Promille von 275,0 Milliarden DM 1989 0,153 Promille von 289,8 Milliarden DM Diese Zahlen machen deutlich, daß 1987 die Ausgaben für Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit relativ niedriger lagen als in allen drei Vergleichsjahren von 1979 bis 1981, im Vergleich zu 1980 sogar nach dem absoluten Betrag. Zu 1988 und 1989:Über die weitreichenden Reformen im Steuerrecht, im Gesundheitswesen und in der Altersversorgung mußte die Öffentlichkeit ausführlich informiert werden; dafür standen auch besondere Mittel im Haushalt zur Verfügung. Für die zahlreichen Besucher aus der DDR wurde Ende 1989 eine Informationsaktion erforderlich, für die rund 8 Millionen DM bereitgestellt wurden. Diese vier Anlässe waren der Grund für die Steigerungen in den Haushalten 1988 und 1989. Anlage 5 Antwort des Parl. Staatssekretärs Wimmer auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Kübler (SPD) (Drucksache 11/7058 Fragen 15 und 16) : Wie erklärt die Bundesregierung, daß trotz internationaler Entspannung und trotz der Ankündigung der Bundesregierung, die Notwendigkeit von Tiefflügen zu überprüfen, in der Zeit vom 2. bis 4. Mai 1990 Tiefflugübungen in außergewöhnlichem Ausmaß über der Bundesrepublik Deutschland abgehalten wurden, und ist die Bundesregierung bereit, bis zum Abschluß ihrer Überprüfung ein Moratorium für Tiefflugübungen oder zumindest eine wesentliche Reduzierung der Tiefflugübungen vorzunehmen? Wie viele Tiefflugübungen haben in der Zeit vom 2. bis 4. Mai 1990 über der Bundesrepublik Deutschland stattgefunden, und wie verteilen sie sich auf die Luftwaffen der Bundeswehr und der Alliierten Streitkräfte? Zu Frage 15: Der Bundesregierung liegen keine Hinweise vor, daß in der Zeit vom 2. bis 4. Mai 1990 Tiefflugeinsätze in „außergewöhnlichem Ausmaß" — ich nehme hier Bezug auf meine Antwort zu Frage 2 — über der Bundesrepublik Deutschland abgehalten wurden. Die Bundesregierung hat erklärt, daß derzeit die Möglichkeiten weiterer substantieller Entlastungen bezüglich der Tiefflugausbildung geprüft werden. Die Untersuchungen hierzu sind noch nicht abgeschlossen. Eine gründliche Abstimmung mit den Verbündeten ist erforderlich. Ein Moratorium für Tiefflugeinsätze ist nicht vertretbar. Zu Frage 16: In der Zeit vom 2. bis 4. Mai 1990 hat die Bundesluftwaffe 465 Tiefflugeinsätze über dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt. Im gleichen Zeitraum haben die Verbündeten 864 Tiefflugeinsätze über dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 16609* Anlage 6 Antwort des Parl. Staatssekretärs Gröbl auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Daniels (Regensburg) (GRÜNE) (Drucksache 11/7058 Fragen 25 und 26): Welche CO2-Reduktionsvorgabe will sich die Bundesregierung angesichts von Äußerungen der Enquetekommission zum Schutz der Erdatmosphäre zu eigen machen, nach denen bis 2005 30 %, bis 2020 50 % und bis 2050 80 % CO2-Reduktion für notwendig erachtet werden, sowie der Presseberichte, denen zufolge zwar Bundesumweltminister Dr. Töpfer zumindest 25 % bis 2005 für notwendig hält, sich jedoch Bundeswirtschaftsminister Dr. Haussmann gänzlich gegen eine konkrete CO2-Reduktionsvorgabe wendet, und in welchem Umfang glaubt die Bundesregierung, durch den Ausbau der Kernenergie CO2-Einsparungen ermöglichen zu können? In welchen Anlagen sowie auf welchen Grad wurde das — bei der Wiederaufarbeitung deutscher atomarer Abfälle angefallene — Uran angereichert, das nach Aussage des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit „zum größten Teil" (Drucksache 11/6893) wiederverwendet wurde? Zu Frage 25: Die Bundesregierung erarbeitet derzeit nationale Zielvorstellungen für eine erreichbare Reduktion der CO2-Emissionen. Die Beratungen zwischen den betroffenen Bundesressorts hierüber sind zur Zeit noch nicht abgeschlossen, so daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch noch keine Ergebnisse mitgeteilt werden können. Die vorliegenden Forschungsberichte aus dem Studienprogramm der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" bilden eine wesentliche Grundlage für die Meinungsbildung der Bundesregierung. Im Jahre 1989 wurden durch die Kernenergie 140 Terawattstunden (TWh, d. h. Tera = 1 Billion) Strom erzeugt. Dadurch wurden CO2-Emissionen von etwa 140 Millionen t erspart. Dieser Berechnung liegt die Annahme zugrunde, daß der Strom anstelle durch Kernenergie etwa zur Hälfte durch Steinkohle bzw. Braunkohle erzeugt worden wäre. Zu Frage 26: Die Kontrolle über den Verbleib dieses Urans unterliegt den zuständigen Stellen der EG. Aus diesem Grund führt die Bundesregierung darüber keine Aufzeichnungen. Anlage 7 Antwort des Parl. Staatssekretärs Echternach auf die Frage des Abgeordneten Müntefering (SPD) (Drucksache 11/7058 Frage 27): Welche Konsequenzen zieht die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau aus ihrer Interview-Feststellung, die Mieten seien in den Großstädten „teils schon an den Rand des Unbezahlbaren gestiegen", und tritt sie für einen verbesserten Mieterschutz durch Änderung des Miethöhegesetzes ein? Die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau hat angeregt zu überprüfen, ob das Miethöhegesetz befristet mit dem Ziel geändert werden soll, die Mieter vor dem extremen Anstieg der Mieten in bestimmten Regionen besser zu schützen, bis die verstärkte Bautätigkeit die erheblichen Ungleichgewichte auf dem Wohnungsmarkt beseitigt hat. Anlage 8 Antwort des Parl. Staatssekretärs Echternach auf die Frage des Abgeordneten Menzel (SPD) (Drucksache 11/7058 Frage 28) : Wird die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau eine Änderung des Miethöhegesetzes vorschlagen mit dem Ziel, die Mieterhöhungsmöglichkeiten von derzeit 30 in drei Jahren zu reduzieren, und denkt sie dabei an eine Halbierung auf 15 %? Die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau prüft zusammen mit den Länderbauministern auch diesen Vorschlag. Anlage 9 Antwort des Parl. Staatssekretärs Echternach auf die Frage des Abgeordneten Reschke (SPD) (Drucksache 11/7058 Frage 29) : Kennt die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau die Meldungen, daß in vielen Großstädten bei Mieterwechsel Mietsteigerungen von über 30 % zu verzeichnen sind, und welche gesetzliche Regelung für die Mietpreisgestaltung bei Neuvermietung wird sie vorschlagen? Die zitierten Meldungen sind bekannt; sie lassen offen, von welchem Ausgangsniveau diese Steigerungssätze ausgehen. Es ist bekannt, daß viele Vermieter mit einer Mieterhöhung bis zum Mieterwechsel warten, so daß in diesen Fällen Bestandsmieten bis zum Mieterwechsel deutlich hinter der ortsüblichen Vergleichsmiete zurückbleiben können. Die Entwicklung der Neuvertragsmieten wird von der Bundesregierung seit längerem aufmerksam beobachtet. Da die Neuvertragsmieten gegenwärtig deutlich stärker steigen als die Bestandsmieten, überprüft die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau deshalb ebenso wie die Länderbauminister, ob durch eine Orientierung der Wiedervermietungsmieten an der Vergleichsmiete mit Hilfe einer Kappungsgrenze extremen Mietaufschlägen bei Mieterwechsel entgegengewirkt werden kann. Diese Überprüfung, an der auch der Bundesminister der Justiz beteiligt wird, ist noch nicht abgeschlossen. Anlage 10 Antwort des Parl. Staatssekretärs Echternach auf die Frage des Abgeordneten Häuser (SPD) (Drucksache 11/7058 Frage 30): 16610* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 Setzt sich die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau dafür ein, für die Erstellung von Mietspiegeln zur Festsetzung der ortsüblichen Vergleichsmiete zukünftig den gesamten Wohnungsbestand zugrunde zu legen und nicht mehr nur die letzten drei Jahrgänge? Die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau überprüft ebenso wie die Länderbauminister, durch welche Rahmensetzungen für die Ermittlung der ortsüblichen Vergleichsmiete mögliche Verzerrungen durch extrem hohe Mieten bei Neuabschlüssen aufgefangen werden können. Anlage 11 Antwort des Parl. Staatssekretärs Echternach auf die Frage des Abgeordneten Weiermann (SPD) (Drucksache 11/7058 Frage 31): Setzt sich die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau für ein Recht der Kommunen ein, die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen in Gebieten mit erhöhtem Wohnbedarf befristet zu verhindern, und unterstützt sie die Forderung, den Schutz vor Eigenbedarfskündigung von heute drei auf wenigstens sieben Jahre zu verlängern? Selbstverständlich unterstützt die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau die Vereinbarung der Koalitionsparteien, in Gebieten mit angespannter Wohnungsmarktlage die Kündigungssperrfrist bei Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen von drei auf fünf Jahre zu verlängern. Mit der verlängerten Sperrfrist und der sich daran anschließenden normalen Kündigungsfrist werden die Mieter nachhaltig geschützt. Anlage 12 Antwort des Parl. Staatssekretärs Echternach auf die Frage des Abgeordneten Conradi (SPD) (Drucksache 11/7058 Frage 32): Welche Informationen liegen der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau über Wohnungskündigungen wegen Eigenbedarfs vor, und sieht sie Handlungsbedarf mit dem Ziel, die Kriterien für Eigenbedarf eingrenzend zu präzisieren? Über die Häufigkeit von Kündigungen wegen Eigenbedarfs liegen der Bundesregierung keine statistischen Informationen vor. Auch die Gerichtsstatistik weist die Verfahren wegen Kündigungen unter den Verfahren in Wohnungsmietsachen nicht gesondert aus. Eigenbedarfskündigungen waren in der Vergangenheit mehrfach Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen, wobei sowohl die schutzwürdigen Belange des Mieters, der ein Interesse an der Beibehaltung seiner bisherigen Wohnung als Lebensmittelpunkt hat, seine Möglichkeiten, eine andere Wohnung zu finden, wie auch der Wunsch des Vermieters, sein Eigentum selbst zu nutzen, gegeneinander abgewogen wurden. Die Bundesregierung sieht keine Notwendigkeit, den Spielraum für diesen in jedem Einzelfall vorzunehmenden Abwägungsprozeß durch die Vorgabe weiterer Kriterien einzuengen. Anlage 13 Antwort des Parl. Staatssekretärs Echternach auf die Frage des Abgeordneten Großmann (SPD) (Drucksache 11/7058 Frage 33): Teilt die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau die Auffassung, daß die Mietrechtsänderungen der Koalition von 1983 zum verstärkten Anstieg der Mieten beigetragen haben, und setzt sie sich für eine Rücknahme des 83-Gesetzes in seinen wesentlichen Punkten ein? Die in der Fragestellung zum Ausdruck gebrachte Auffassung ist sachlich unzutreffend. Nach Inkrafttreten der Mietrechtsänderungen von 1983 sind die Mietsteigerungsraten in den Jahren ab 1984 kontinuierlich zurückgegangen und haben im Jahr 1987 mit 1,6 % den Tiefstand seit Einführung der amtlichen Mietenstatistik erreicht. In dieser Entwicklung und auch in dem allmählichen Anstieg des Mietindex ab 1988 zeigt sich, daß die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt weit stärker die Mietenentwicklung prägt als die genannten mietrechtlichen Regelungen. Wie in den bisherigen Antworten dargelegt, ist die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau der Auffassung, daß wegen der außergewöhnlichen Situation auf dem Wohnungsmarkt, die bei der Verabschiedung der Mietrechtsänderungen von 1983 nicht absehbar war, besondere befristete und regional begrenzte Maßnahmen zum Schutz der Mieter vor extremen Mietforderungen geprüft werden sollten. Diese Maßnahmen laufen allerdings nicht auf eine Rücknahme der Mietrechtsänderungen von 1983 hinaus. Sonst müßte z. B. die 1983 zum Schutz der Mieter geschaffene, zuvor überhaupt nicht vorhandene Kappungsgrenze von 30 To für Mietsteigerungen in drei Jahren nicht gesenkt, sondern beseitigt werden. Die Kappungsgrenze war ein wesentlicher Bestandteil der Mietrechtsänderungen von 1983. In anderen wesentlichen Punkten entsprach das damalige Gesetz Regelungen, die auch von der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung vorgeschlagen worden waren. Anlage 14 Antwort des Parl. Staatssekretärs Echternach auf die Frage des Abgeordneten Scherrer (SPD) (Drucksache 11/7058 Frage 34): Wann wird die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau die angekündigten Überlegungen zum verbesserten Mieterschutz abschließen, und wann wird das Kabinett darüber befinden? Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 16611* Die Überlegungen der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu möglichen befristeten Mietrechtsänderungen werden alsbald in den politischen Entscheidungsprozeß eingebracht werden. Sie werden auf fachlicher Ebene mit dem federführend zuständigen Bundesminister der Justiz geprüft. Ein fester Zeitplan besteht noch nicht. Anlage 15 Antwort des Parl. Staatssekretärs Spranger auf die Frage des Abgeordneten Lowack (CDU/CSU) (Drucksache 11/7058 Frage 38): Ist die Bundesregierung angesichts der historischen Entwicklung in der CSFR bereit, die Visumpflicht schon kurzfristig aufzuheben? Die Bundesregierung unterstützt nachhaltig das Ziel, Reiseerleichterungen im Verhältnis zur CSFR zu schaffen. Eine Aufhebung der Sichtvermerkspflicht im Verhältnis zur CSFR setzt allerdings Konsultationen mit unseren Partnern im Rahmen der EG und im Rahmen des Schengener Übereinkommens voraus, mit denen eine Harmonisierung der Sichtvermerksbestimmungen vereinbart ist. Diese Konsultationen sind bereits in die Wege geleitet worden. Anlage 16 Antwort des Parl. Staatssekretärs Spranger auf die Fragen des Abgeordneten Stiegler (SPD) (Drucksache 11/7058 Fragen 39 und 40): Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, die Abstimmungsgespräche mit den Partnern des Schengener Übereinkommens wegen der Einführung des visafreien Verkehrs zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der CSFR alsbald abzuschließen, und besteht die Möglichkeit, zur Eröffnung der neuen Grenzübergänge am 1. Juli dieses Jahres bereits den visafreien Verkehr einzuführen? Hat die Bundesregierung die Gespräche über die Neueröffnung von Grenzübergängen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der CSFR fortgesetzt, und besteht noch eine Chance, zur Entlastung des Grenzübergangs Waidhaus während der Hauptreisezeit den Grenzübergang Eslarn/Tillyschanz für den Fußgänger-, Fahrrad- und Mofaverkehr zu öffnen? Zu Frage 39: Die Bundesregierung unterstützt nachhaltig das Ziel, Reiseerleichterungen im Verhältnis zur CSFR zu schaffen. Wie Sie wissen, setzt allerdings die Aufhebung der Sichtvermerkspflicht im Verhältnis zur CSFR Konsultationen mit unseren Partnern im Rahmen der EG und im Rahmen des Schengener Übereinkommens voraus, mit denen eine Harmonisierung der Sichtvermerksbestimmungen vereinbart ist. Diese Konsultationen sind in die Wege geleitet. Ein genauer Zeitpunkt für den Abschluß der Konsultationen läßt sich derzeit noch nicht nennen. Zu Frage 40: Die Bundesregierung steht mit der Regierung der Tschechoslowakei u. a. wegen der Eröffnung neuer Grenzübergänge in laufendem Kontakt und hat vorgeschlagen, das Treffen der Grenzbevollmächtigten am 22./23. Mai 1990 in Prag mit einem vorgezogenen Expertengespräch über die Errichtung weiterer Übergänge zu verbinden. Es bestehen gute Aussichten, daß dieses Gespräch stattfindet. Dabei wird die Inbetriebnahme des Grenzüberganges Eslarn/Tillyschanz möglichst auch zum 1. Juli 1990 mit Vorrang zur Sprache gebracht werden. Anlage 17 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Voss auf die Fragen der Abgeordneten Frau Walz (FDP) (Drucksache 11/7058 Fragen 42 und 43): Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, durch Verhandlungen mit den amerikanischen Streitkräften, die stark unterbenutzte Reiterkaserne in Stuttgart für eine deutsche zivile Nutzung zurückzuerhalten? Teilt die Bundesregierung die Meinung, daß ein immerhin 8,5 ha großes Gebiet, das für Wohnbebauung bzw. -nutzung in Frage kommt, sich hervorragend dafür eignen würde, die herrschende Wohnungsnot, nicht nur hervorgerufen durch DDR-Übersiedler und Aussiedler, sondern durch den generellen Wohnungsmangel, zu lindern? Zu Frage 42: Nach Artikel 48 Absatz 5 des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut sind die amerikanischen Streitkräfte verpflichtet, ihren Bedarf an überlassenen Liegenschaften laufend zu prüfen und solche Liegenschaften, die sie zur Erfüllung ihrer Verteidigungsaufgaben nicht mehr benötigen, an den Bund zurückzugeben. Die Bundesregierung hat derzeit keine Erkenntnisse, daß der Bedarf an der Reiterkaserne in Stuttgart entfallen ist. Sie hat jedoch veranlaßt, Behauptungen über eine verminderte Belegung nachzugehen. Ich bin gerne bereit, Sie über die dabei gewonnenen Erkenntnisse zu gegebener Zeit zu unterrichten. Zu Frage 43: Die Bauleitplanung und Ausweisung des Geländes für bestimmte Benutzungen obliegen der Gemeinde, zu deren Bezirk die Liegenschaft gehört. Der Regionalplan weist für die Reiterkaserne die Bezeichnung „Sondergebiet Militär" mit dem Klammerzusatz „Wohnen" aus. Da auch das angrenzende Gebiet derzeit Wohnbebauung aufweist, könnte nach einer Freigabe das Gelände voraussichtlich für Zwecke des Wohnungsbaus genutzt werden.
Gesamtes Protokol
Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121000000
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor 45 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Millionen von Menschen hatten ihr Leben durch den vom Hitler-Regime entfesselten Krieg verloren. Zurück blieb ein verwüsteter Kontinent, verwüstet im materiellen, aber auch im ideellen Sinn.
Heute, nach 45 Jahren, können wir wieder mit Hoffnung auf eine friedliche Zukunft Europas blicken.
Die erfreulichen Ereignisse dieser Wochen und Monate dürfen uns aber nicht davon abhalten, derjenigen zu gedenken, die ihr Leben oder ihre Zukunft durch den unsinnigen und verbrecherischen Krieg verloren haben. Das Schicksal dieser Menschen soll uns zur Mahnung dienen, das Recht zu wahren und die Freiheit zu schützen, damit der Friede gesichert bleibt.
Wir dürfen uns heute aber auch daran erinnern, daß schon vor 40 Jahren, am 9. Mai 1950, der damalige französische Außenminister Robert Schuman seine berühmte Erklärung abgab, in der er die Errichtung der Montan-Union zwischen Frankreich und Deutschland vorschlug. Nur fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als die Schrecken des Krieges und der Groll gegenüber Deutschland noch längst nicht vergessen waren, streckte er dem ehemaligen Kriegsgegner die Hand zur Versöhnung entgegen.
Die im Schuman-Plan angeregte Montan-Union war für ihn nur der erste Schritt zu einer umfassenden Erneuerung der politischen Strukturen in Europa. Diese Erneuerung ist von Europa in den letzten vier Jahrzehnten vielfach vorangetrieben worden. Sie besteht nicht nur im Gemeinsamen Markt als Voraussetzung für das wirtschaftliche Wachstum der Europäischen Gemeinschaft. Sie bestand zugleich in der wachsenden Überzeugung der anfangs abseits stehenden Staaten, daß Europa auch in der politischen und kulturellen Dimension eine Schicksalsgemeinschaft mit beträchtlichem Gewicht darstellt.
Für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist ein weiteres Ereignis von großer Bedeutung, das sich eben zum 35. Male jährt. Am 5. Mai 1955 wurde das Besatzungsstatut aufgehoben, nachdem die Pariser Verträge ratifiziert worden waren und die Bundesrepublik Mitglied des Nordatlantik-Pakts und
der Westeuropäischen Union geworden war. Damit war die Bundesrepublik Deutschland fest in die Gemeinschaft der westlichen Staaten eingebunden.
Sowohl der Schuman-Plan als auch die Aufnahme der Bundesrepublik in die westliche Staatengemeinschaft waren Zeichen des Neubeginns.
Die Vision von einem geeinten Europa hat durch die Ereignisse in unseren östlichen Nachbarstaaten eine völlig neue Dimension bekommen.
In diesen Tagen bietet sich die große Chance für ein europäisches Sicherheitssystem, das die Wiederkehr kriegerischer Konfrontation in Europa verhindern muß.
Der Deutsche Bundestag wird mit all seinen Kräften, so hoffe ich, zum Gelingen dieses Friedenswerkes beitragen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Der ehemalige Kollege Biehle hat sein Mandat niedergelegt. Für ihn rückt der Abgeordnete Brunner in den Deutschen Bundestag nach. Ich begrüße den Kollegen Brunner, der vielen von uns aus früheren Wahlperioden bekannt ist, sehr herzlich in unserem Haus.

(Beifall)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden, und zwar um die Punkte, die in der vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt sind:
1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur Verbesserung des Mieterschutzes im Hinblick auf die wachsende Wohnungsnot (In der 209. Sitzung bereits erledigt.)

2. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur Hungerkatastrophe in Äthiopien
3. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Einsetzung des Ausschusses Deutsche Einheit — Drucksache 11/7074 —
4. Erste Beratung des von den Abgeordneten Glos, Spilker, Dr. Meyer zu Bentrup, Dr. Daniels (Bonn), Dr. Faltlhauser, Dr. Fell, Dr. Grünewald, Frau Dr. Hellwig, Dr. Neuling,



Vizepräsident Cronenberg
Rossmanith, Schulhoff, Uldall, Dr. Vondran, Frau Will-Feld, Jäger, Kittelmann und Genossen und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Gattermann, Rind, Dr. Solms, Frau Seiler-Albring, Dr. Weng (Gedingen), Dr. Hitschler, Grünbeck, Bredehorn, Dr.-Ing. Laermann und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau von Hemmnissen bei Investitionen in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR-Investitionsgesetz — DIG)
— Drucksache 11/7073 —
5. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Agrarsozialen Ergänzungsgesetzes (4. ASEG) — Drucksache 11/7064 —

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1121000100
Sammelübersicht 160 zu Petitionen
— Drucksache 11/6986 —

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1121000200
Sammelübersicht 161 zu Petitionen
— Drucksache 11/6987 —
8. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Wahlen in Myanmar (Birma) — Drucksache 11/7066 —
9. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes — Drucksache 11/7072 —
Zugleich soll von der Frist für den Beginn der Beratung, soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung erforderlich ist, abgewichen werden.
Weiterhin ist interfraktionell vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 14 vorzuziehen und im vereinfachten Verfahren ohne Aussprache zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall; dann ist dies so beschlossen.
Meine Damen und Herren, auf der Ehrentribüne hat eine offizielle Delegation der Abgeordnetenkammer des Königreichs Belgien unter Leitung des Vizepräsidenten der Abgeordnetenkammer Herrn Erik van Keirsbilck Platz genommen.
Im Namen des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie sehr herzlich. Ihr Besuch, meine Herren, in der Bundesrepublik Deutschland ist Ausdruck der sehr engen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern.
In den vergangenen sieben Monaten ist in unserem Land eine politische Entwicklung in Gang gesetzt worden, die auch das Zusammenleben mit unseren osteuropäischen Nachbarn tiefgreifend beeinflussen wird. Wir sind der Auffassung, daß diese Entwicklung gute Voraussetzungen dafür bietet, die Teilung unseres Landes und damit die Teilung Europas zu überwinden und somit einen dauerhaften Frieden für den ganzen Kontinent zu sichern.
Herr Vizepräsident, meine Herren, wir danken Ihnen, daß Sie im Rahmen des Besuchs auch nach Berlin reisen und sich dort einen persönlichen Eindruck von der veränderten Lage verschaffen werden. Ich wünsche Ihnen, ich wünsche uns nützliche, sinnvolle, produktive Gespräche.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Nunmehr rufe ich den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe von Erklärungen der Bundesregierung
—zur Sondertagung des Europäischen Rats am 28. April 1990 in Dublin — durch den Bundeskanzler —— zum NATO-Außenminister-Treffen am 3. Mai 1990 und zu den Zwei-plus-Vier Gesprächen auf Ebene der Außenminister am 5. Mai 1990 — durch den Bundesminister des Auswärtigen —
Meine Damen und Herren, hierzu liegen Entschließungsanträge der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/7077 und 11/7099 sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7089 vor.
Interfraktionell ist eine Vereinbarung dahin getroffen, eine Debatte von drei Stunden zu führen. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall und damit beschlossen.
Nunmehr erteile ich zur Abgabe der Regierungserklärung zur Sondertagung des Europäischen Rats in Dublin dem Herrn Bundeskanzler das Wort.

Dr. Helmut Kohl (CDU):
Rede ID: ID1121000300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „In einem freien und geeinten Europa ein freies und geeintes Deutschland" — diese Vision Konrad Adenauers ist jetzt zum Greifen nahegerückt. Sie ist Leitmotiv unserer Politik. Heute können wir feststellen: In den letzten Wochen sind wir diesem Ziel ein gutes Stück nähergekommen. Dies gilt für die Regelungen der äußeren Aspekte des Einigungsprozesses wie auch für die jetzt laufenden Verhandlungen mit der DDR.
Es war von Anfang an das Bestreben der Bundesregierung, stets darauf zu achten, daß der Prozeß der deutschen Einheit in einen stabilen europäischen Rahmen eingebettet ist. Dies bedeutet auch, diese beiden Prozesse möglichst in Einklang miteinander und in einer engen Abstimmung mit allen unseren Partnern und Verbündeten voranzubringen.
Das erste Treffen der Außenminister im Rahmen der Gespräche „Zwei plus Vier" am 5. Mai in Bonn, über das der Herr Bundesaußenminister das Hohe Haus anschließend unterrichten wird, und der Sondergipfel der Europäischen Gemeinschaft am 28. April in Dublin haben eine neue und sehr wichtige Phase eingeleitet. Unsere Partner in der EG haben sich in Dublin einmütig und vorbehaltlos zur deutschen Einheit bekannt. Sie unterstützen den Weg, den die Deutschen jetzt nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Dies ist ein Grund zum Danken. Mein besonderer Dank gilt den Mitgliedern der EG-Kommission, allen voran dem Präsidenten Jacques Delors.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Ich will es sehr persönlich sagen: Jacques Delors hat
sich einmal mehr als ein Freund unseres Landes erwiesen. Er hat gemeinsam mit seinen Kolleginnen und



Bundeskanzler Dr. Kohl
Kollegen in der Kommission ganz wesentlich dazu beigetragen, daß sachgerechte Wege für die Einbeziehung der DDR in die EG aufgezeigt werden konnten.
Wir haben, meine Damen und Herren, in Dublin unseren Partnern die wirtschaftlichen und sozialen Probleme erläutert, die mit dieser gewaltigen Herausforderung, der Herstellung der Einheit Deutschlands, auf uns zukommen. Ich habe dabei immer wieder darauf hingewiesen — ich lege Wert darauf, es auch hier zu sagen — , daß wir diese Probleme — auch die wirtschaftlich-finanziellen Probleme; wer wollte sie leugnen? — nicht auf dem Rücken anderer in der EG austragen wollen. Unser Ziel muß sein: deutsche Einheit u n d europäische Einheit. Es wäre ein schlechter Dienst an der Zukunft Europas, wenn die strukturschwachen Länder in der Europäischen Gemeinschaft jetzt in ihrer Entwicklung zurückbleiben müßten — statt auf dem Weg der Angleichung ihrer Strukturen voranzukommen — , weil sich jetzt die Chance für mehr Freiheit in Mittel-, Ost- und Südosteuropa und natürlich auch in der DDR realisiert. Wir wollen sowohl die Entwicklung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa positiv beeinflussen als auch die deutsche Einheit herstellen — mit all dem, was dazugehört — als auch verhindern, daß die Schere in der Entwicklung der einzelnen Staaten in der Europäischen Gemeinschaft weiter auseinandergeht; vielmehr müssen sich die Entwicklungen langsam angleichen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Lassen Sie mich betonen: Für uns als Deutsche, für die Entwicklung in der DDR und beim Einigungsprozeß in Deutschland ist es wichtig, daß wir mit unseren europäischen Partnern in der Gemeinschaft und auch mit der Kommission vernünftige, tragfähige Übergangsregelungen und -maßnahmen finden, wenn es um die Einbeziehung der DDR in die EG geht. Ich will nur zwei Beispiele nennen: Denken Sie an die enormen Schwierigkeiten bei der Umstellung der Agrarpolitik der DDR im Blick auf die EG, oder denken Sie an die Herausforderungen im Bereich des Umweltschutzes. Das sind zwei Themen, die wir angesichts der notwendigen Fristen ohne Mittun und Verständnis unserer Partner in der EG nicht zufriedenstellend erledigen können.
Meine Damen und Herren, die Bedeutung des Gipfels in Dublin geht indes weit über die Frage der deutschen Einheit hinaus. Es ist offenkundig, daß sich der Prozeß der deutschen Einheit als ein Katalysator für die Beschleunigung der Integration Europas auf dem Weg zur politischen Union erweist. Europa voranzubringen, das ist auch das Ziel der Initiative, die Staatspräsident François Mitterrand und ich gemeinsam vor diesem Gipfel ergriffen haben. Wir haben darüber eine erste intensive Diskussion in Dublin geführt. Unser Ziel ist, ab Dezember 1990 in zwei parallelen Regierungskonferenzen, die anläßlich des EG-Gipfels Ende des Jahres 1990 in Rom eröffnet werden könnten, in die Beratung der Kernelemente der weiteren Integration Europas einzutreten.
Dabei geht es zum einen um die Wirtschafts- und Währungsunion auf der Grundlage der Entscheidungen von Straßburg vom letzten Dezember. Dabei geht es zum anderen um die politische Union, die nach unserer Überzeugung von Anfang an das grundlegende Ziel der Römischen Verträge war und ist. Gleichzeitig müssen wir zielstrebig und entschlossen auf die planmäßige Verwirklichung des Binnenmarktes bis zum 31. Dezember 1992 setzen. Unser Ziel ist es und muß es sein, diese drei grundlegenden Reformvorhaben bis Ende Dezember 1992 in die Tat umzusetzen.
Lassen Sie mich nur einige wenige Grundfragen der politischen Union an dieser Stelle ansprechen.
Erstens. Es geht um die Stärkung der Kontrollrechte und Kompetenzen des Europäischen Parlaments. Wir alle brauchen Fortschritte, wenn wir 1994 in der Bundesrepublik Deutschland wie in den anderen EG-Mitgliedstaaten erneut vor die Wähler treten und sie auffordern wollen, in freien, geheimen und direkten Wahlen das Europäische Parlament zu wählen. Ich glaube nicht, daß wir alle noch einmal die Wähler zur Wahl eines Europäischen Parlaments mit so geringen Kompetenzen wie jetzt auffordern können.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Ich nenne ein zweites wichtiges Argument, das sicherlich unserem gemeinsamen Demokratieverständnis entspricht. Es muß doch eigentlich unserem parlamentarischen Selbstverständnis entsprechen, weitere Rechte der nationalen Parlamente und auch der Regierungen nur dann an europäische Institutionen abzugeben, wenn gleichzeitig eine klare parlamentarische Kontrolle auch auf der europäischen Ebene aufgebaut wird.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Zweitens geht es uns um die Stärkung der Einheit und des Zusammenhalts der Gemeinschaft in allen Politikbereichen.
Drittens geht es um weitere spürbare Fortschritte auf dem Weg zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Dies entspricht den Zielvorstellungen, die bereits Eingang in die Einheitliche Europäische Akte gefunden haben. Aber, meine Damen und Herren, dies entspricht auch den dringenden Notwendigkeiten der geschichtlichen Herausforderung für die Europäer in den 90er Jahren.
Viertens muß es uns um eine größere Effizienz der Arbeit der EG-Institutionen gehen.
Meine Damen und Herren, ich bin mir sehr wohl bewußt, daß wir uns damit ungewöhnlich sensiblen und auch schwierigen Fragen stellen müssen. Aber wir dürfen diesen Fragen nicht ausweichen, wenn wir in den kommenden Jahren die Grundlagen für die Europäische Union legen wollen. Wir müssen diese Herausforderung annehmen, wenn wir wollen, daß die Europäische Gemeinschaft als Kern Europas künftig den Platz einnimmt, der ihr nach unser aller Verständnis gebührt. Es geht darum, daß die Gemeinschaft ihrer wachsenden wirtschaftlichen und vor allem auch politischen Rolle in Zukunft gerecht wird. Dies zeigt sich in besonderer Weise in den Beziehun-



Bundeskanzler Dr. Kohl
gen der Gemeinschaft zu unseren europäischen Nachbarn, insbesondere zu den Reformstaaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Dies war der dritte Punkt unserer Beratungen in Dublin.
Der Sondergipfel hat noch einmal die besondere Verantwortung und das Engagement der Gemeinschaft für ganz Europa verdeutlicht. Wir müssen in den nächsten Jahren sowohl politisch als auch wirtschaftlich das Netz der partnerschaftlichen Zusammenarbeit weiter verdichten. Wir wollen niemanden ausgrenzen, im Gegenteil: Wir wollen, daß unsere Nachbarn, vor allem in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, aus der Überwindung der Teilung Europas Nutzen genauso ziehen, wie wir dies tun. Denn Warschau, Prag und Budapest gehören ebenso zu Europa wie Paris, London, Rom oder Berlin.
Meine Damen und Herren, der Sondergipfel in Dublin hat bewiesen, daß die Zwölf die Zeichen der Zeit erkannt haben. Daher habe ich diesen Gipfel als historische Stunde nicht nur für die Deutschen, sondern auch für ganz Europa bezeichnet.
Im Geiste Konrad Adenauers betonte der Kernsatz der Schlußfolgerungen des Sondergipfels von Dublin — ich zitiere — :
Wir freuen uns, daß die deutsche Einheit unter einem europäischen Dach erfolgt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Präsident, meine Damen und Herren, der Europäische Rat bekräftigt damit, daß die deutsche Einheit und die europäische Einheit nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern zwei Seiten ein und derselben Medaille darstellen.
Meine Damen und Herren, auch im innerdeutschen Einigungsprozeß haben wir in den letzten Wochen einen entscheidenden Durchbruch erreicht. Nach intensiven Verhandlungen haben wir uns mit der Regierung der DDR über wesentliche Eckwerte der Währungsunion geeinigt. Damit haben wir unser Versprechen gehalten, bis Anfang Mai eine Einigung hierüber zu erzielen. Inzwischen gibt es auch Einigkeit über wesentliche Teile der Wirtschafts- und Sozialunion, wobei klar ist, daß in den intensiven Beratungen dieser Tage eine Reihe von wichtigen Fragen noch geklärt werden muß.
Es steht jetzt fest: Zum 2. Juli werden die Bundesrepublik Deutschland und die DDR eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion verwirklichen. Für die Menschen in Deutschland wird die Einheit damit in einem entscheidenden Bereich erlebbare Wirklichkeit.
Das Verhandlungsergebnis ist getragen vom Bewußtsein unserer gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft Deutschlands und insbesondere für unsere Landsleute in der DDR. Sie sehen jetzt die Chance auf sich zukommen, daß sehr bald auch aus den Gebieten der DDR blühende Landschaften eines wiedervereinigten Deutschlands werden können.
Die Einführung der D-Mark zu Beginn des Monats Juli ist mehr als ein Signal der Hoffnung. Es ist ein unübersehbares Zeichen der Solidarität aller Deutschen. Die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland und jene der DDR werden dadurch unauflöslich miteinander verbunden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Wir haben uns bei den Verhandlungen davon leiten lassen — in diesem Punkt sind sich die Bundesregierung und die Regierung der DDR völlig einig — , daß die Stabilität der D-Mark gewahrt bleiben muß und ein entscheidendes Ziel auch für die künftige gemeinsame Politik ist; denn nur mit einer stabilen Währung verbinden sich auf Dauer wirtschaftlicher Wohlstand und soziale Sicherheit.
Es liegt deshalb auch im wohlverstandenen Interesse unserer Landsleute in der DDR, die D-Mark vor Inflationsrisiken zu schützen. Ich bin sicher, daß das bisherige Verhandlungsergebnis diesem Ziel voll Rechnung trägt.
Mit der Einführung der D-Mark, mit der Wirtschafts- und Sozialunion verbindet sich zugleich der Übergang vom bisherigen System des „real existierenden Sozialismus", einer Plan- und Kommandowirtschaft, zur Sozialen Marktwirtschaft. Dies ist ein mutiger Schritt; es ist auch ein einzigartiger Schritt. Dabei unterschätze ich überhaupt nicht die Risiken und die Unwägbarkeiten. Aber ich bin überzeugt — auch darin bin ich einig mit Ministerpräsident Lothar de Maizière —, daß wir nur auf diesem Weg unserer Verantwortung für die Menschen in Deutschland gerecht werden. Nur so können die Deutschen in der DDR die überzeugende Perspektive gewinnen, daß sich ihre Lebens- und Beschäfigungsbedingungen bald spürbar verbessern werden.
Mit der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft wird sich die Kraft der Freiheit zum Wohl der Menschen entfalten können. Leistungsbereitschaft, Kreativität, Unternehmungsgeist werden freigesetzt und letztlich allen zugute kommen. Darauf bauen wir.
Das gilt in der DDR genauso wie bisher schon in der Bundesrepublik Deutschland; denn im Blick auf manche Diskussion der letzten Tage will ich doch einmal anmerken, daß der Wohlstand der Bundesrepublik in 40 Jahren hart erarbeitet wurde

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

und daß viele im Land daran beteiligt waren und beteiligt sind.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Trotzdem gibt es die Armut, Herr Bundeskanzler!)

— Ich finde, Frau Zwischenruferin,

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

wenn Sie vor den Bürgerinnen und Bürgern diesen Zwischenruf machen, werden gerade Sie in diesen Tagen manche Frage gestellt bekommen.
Meine Damen und Herren, wir haben uns auf die folgenden Punkte verständigt: Die Regierung der DDR und die Bundesregierung werden einen Staatsvertrag

(Zuruf der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE])




Bundeskanzler Dr. Kohl
zur Einführung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion schließen. Dieser Vertrag soll am 1. Juli 1990 in Kraft treten.
Nach Inkrafttreten des Staatsvertrages wird zum 2. Juli die Mark der DDR auf D-Mark umgestellt, und zwar bei Löhnen und Gehältern, Stipendien und Mieten, Pachten und Renten sowie anderen wiederkehrenden Versorgungszahlungen im Verhältnis 1: 1. Bei Löhnen und Gehältern werden die Bruttobeträge vom 1. Mai 1990 zugrunde gelegt.
Das Rentensystem in der DDR wird dem Rentensystem in der Bundesrepublik Deutschland angepaßt. Das bedeutet, daß die meisten Renten in D-Mark höher liegen werden als heute in Mark der DDR. Sofern sich in einzelnen Fällen ein niedrigerer Betrag gegenüber der bisherigen Rente in Mark der DDR ergibt, wird sichergestellt, daß der bisherige Rentenbetrag in D-Mark gezahlt wird.
Um insbesondere für Bezieher niedriger Renten und für Studenten soziale Härten auszugleichen, werden in der DDR entsprechende rechtliche Regelungen geschaffen. Die DDR wird dies im Rahmen ihrer finanziellen Eigenverantwortung und unter Beachtung ihrer gesamten Finanzlage regeln.
Was die Umtauschmodalitäten pro Kopf betrifft, so haben wir uns auf die bekannte Staffelung nach dem Lebensalter geeinigt.
Meine Damen und Herren, wir haben hier — wie Sie alle festgestellt haben — für die ältere Generation eine günstigere Regelung vorgesehen als für die anderen Altersgruppen. Ich war einer von denen, die sich sehr entschieden für diese Regelung sowie für eine besonders positive Behandlung des Rententhemas eingesetzt haben. Ich finde, dies entspricht unserer gemeinsamen Verpflichtung gegenüber der älteren Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg auch noch die Last von über 40 Jahren sozialistischer Diktatur und Mißwirtschaft zu tragen hatte. Diese Generation verdient in einer besonderen Weise unseren Respekt, unsere Zuneigung und unsere Unterstützung.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Meine Damen und Herren, mit diesen Vereinbarungen hat der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in einem Kernbereich Gestalt angenommen. Unsere Landsleute in der DDR können jetzt abschätzen, was die Einführung der D-Mark für sie im einzelnen bedeutet. Sie werden dabei feststellen, daß die Bundesregierung ihre Zusagen eingehalten hat.
Weitere Einzelheiten des Staatsvertrages werden zur Zeit noch verhandelt. Es ist für mich selbstverständlich, daß die Währungsumstellung in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der Gesamteinigung über den Staatsvertrag steht.
Es geht bei den Verhandlungen noch um einige wichtige Punkte, so um Einzelaspekte in den außenwirtschaftlichen Beziehungen der DDR mit den Ländern des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, vor allem mit der Sowjetunion. Es geht um die Frage, wie die notwendige Strukturanpassung der Unternehmen in der DDR unter wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten gestaltet werden kann.
Auch im Bereich der Landwirtschaft in der DDR sind noch schwierige Fragen zu klären. Dies betrifft auch die Einbeziehung der dortigen Landwirtschaft in die europäische Agrarpolitik, die sich angesichts des gegenwärtigen Sachstands selbstverständlich nur in Stufen vollziehen kann.
Sie erlauben, meine Damen und Herren, daß ich bei dieser Gelegenheit noch ein kurzes Wort zu den diesjährigen Agrarpreisverhandlungen sage. Diese Verhandlungen waren deshalb so schwierig, weil die Rückführung der Getreideproduktion in Europa bisher unzureichend ist. Die Bauern in der Bundesrepublik sind ihrer Mitverantwortung hierbei gerecht geworden. Sie haben mehr Flächen stillgelegt als die Bauern in jedem anderen Mitgliedstaat. Wir gehen davon aus, daß die Europäische Gemeinschaft bald die angekündigten konkreten Maßnahmen ergreift. Es muß zu einer Entlastung des europäischen Getreidemarktes kommen. Gerade auch die im Getreidebereich tätigen bäuerlichen Familienbetriebe brauchen eine Perspektive für die Zukunft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, in unseren Gesprächen mit der Regierung der DDR müssen wir auch erörtern, wie sich bei der Verwirklichung der Sozialunion die Balance zwischen sozialen Leistungen einerseits und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit andererseits herstellen läßt. Dies ist eine der ganz wichtigen Fragen.
Ferner muß die Regierung der DDR noch festlegen, wie sie in Zusammenhang mit der Währungsumstellung die vorgesehenen Regelungen gegen Mißbräuche gestalten will. Ich glaube, es ist für die Akzeptanz des Ganzen von größter Bedeutung, daß man das Menschenmögliche tut — und auch da ist am guten Willen der DDR-Regierung nicht zu zweifeln — , um Vorkehrungen zu treffen gegen Spekulanten und jene, die über unrechtmäßig erworbenes Vermögen verfügen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben hierzu Anregungen unterbreitet, und wir sollten uns gemeinsam in diesem Sinne bemühen.
Ich sage noch einmal: Gemeinsames Ziel ist es, die wirtschaftliche Lage der Menschen zwischen Elbe und Oder sehr schnell grundlegend zu verbessern. Hierfür brauchen die Investoren ausreichende Sicherheit und Berechenbarkeit für ihr wirtschaftliches Engagement — unabhängig davon, ob sie aus der DDR, aus der Bundesrepublik Deutschland oder aus dem Ausland kommen. Ich bin überzeugt, daß wir zügig zu den notwendigen Vereinbarungen mit der DDR kommen können. Notwendig sind dabei vor allem die schnelle Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, die Stabilität der D-Mark, Solidität der Staatsfinanzen — in der DDR wie bei uns — und eine soziale Ausgewogenheit der einzelnen Maßnahmen.
Wir verkennen nicht: Vor uns liegen erhebliche Anstrengungen — Anstrengungen, die auch Opfer bedeuten können. Diese Anstrengungen müssen, denkt man etwa an den Staatshaushalt, vor allem auch in der



Bundeskanzler Dr. Kohl
DDR erbracht werden. Dazu gehört die Möglichkeit, auf das sogenannte volkseigene Vermögen zurückzugreifen. Aber diese Herausforderung betrifft selbstverständlich auch die öffentlichen Haushalte bei uns in der Bundesrepublik, d. h. bei Bund, Ländern und Gemeinden.
Es wäre jedoch völlig falsch, bei alledem ausschließlich die Kostenseite des Einigungsprozesses vor Augen zu haben, so wichtig dies ist, denn jede Unterstützung für den Übergang der DDR zur Sozialen Marktwirtschaft ist auch eine Investition in die eigenen und in die künftig gesamtdeutschen Wachstumsmöglichkeiten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Von der künftigen wirtschaftlichen Dynamik in der DDR werden in Wahrheit alle profitieren, nicht zuletzt auch Beschäftigte und Unternehmen bei uns in der Bundesrepublik Deutschland.
Es geht jetzt darum, unsere Landsleute beim Aufbruch in eine bessere Zukunft zu ermutigen. Den Aufbruch ermutigen heißt aber zugleich, daß wir nichts unternehmen, was die Chancen unserer eigenen Wirtschaft vermindern könnte. Deshalb sage ich noch einmal: Wir sehen in der Koalition keinen Grund zu Steuererhöhungen zur Finanzierung der deutschen Einheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Unsere Erfahrung ist doch eine andere — das hat gerade in diesen Tagen das Institut für Wirtschaftsforschung bestätigt — : Das erfolgreichste Rezept für eine blühende Wirtschaft ist die Förderung von Leistungsbereitschaft und Eigeninitiative. Dies ist ja auch — für jedermann erkennbar — der Grund für die steigenden Steuereinnahmen bei Bund, Ländern und Gemeinden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Eine florierende Wirtschaft ist allemal der bessere Weg zu höheren Steuereinnahmen als ein leistungsfeindliches Steuersystem.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bei der Frage der Finanzierung — wie übrigens bei allen Fragen, die zum Thema deutsche Einheit gehören — lege ich als Regierungschef großen Wert auf ein intensives und offenes Gespräch mit allen Beteiligten. Wir werden in der nächsten Woche eine erste Konferenz mit den Ministerpräsidenten der Länder haben. Wir werden mit den kommunalen Spitzenverbänden über dieses Thema zu sprechen haben. Ich möchte noch einmal öffentlich bekräftigen, was bei vielen Besprechungen gesagt wurde. Es ist mein dringender Wunsch, daß im Parlamentsausschuß Deutsche Einheit, der sich morgen konstituiert, eine möglichst enge Kommunikation, ein möglichst offenes Gespräch mit allen Ressorts der Bundesregierung stattfindet. Dies gilt auch für die Beziehungen zwischen den einzelnen Fachressorts und den Fachausschüssen des Hohen Hauses.
Meine Damen und Herren, mit Blick auf manche tatsächlich vorhandenen, aber auch mit Blick auf manche durch Neidkampagnen erzeugte Ängste möchte ich ganz einfach fragen: Wann je wollen die
Deutschen die Frage der deutschen Einheit auch wirtschaflich meistern, wenn nicht jetzt, in diesem Augenblick, da sich die deutsche Wirtschaft jedermann in einer so hervorragenden Verfassung präsentiert? Wir stehen im achten Jahr des Wirtschaftsaufschwungs und damit des längsten ununterbrochenen Wirtschaftsaufschwungs in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deshalb sind, finde ich, Realismus und nicht Pessimismus und Verzagtheit angebracht. Gefragt sind Mut, Phantasie und die Bereitschaft, tatkräftig mit anzupacken — in der DDR und auch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben gute Chancen, die Schwierigkeiten zu meistern. Die Chancen, die die Einheit Deutschlands birgt, werden sich zum Wohle der Menschen bei uns in der Bundesrepublik, in der DDR und in Europa entfalten.
Ich appelliere in dieser Stunde an alle Beteiligten, jetzt in nationaler Solidarität zusammenzustehen. Die Aufgabe ist groß, aber die Mühe lohnt sich. Am Ende eines Jahrhunderts, das soviel Leid und Schrekken in deutschem Namen über die Menschen gebracht hat, bietet sich uns Deutschen die einzigartige Chance „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden" und „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen" . So sagt es unsere Verfassung, unser Grundgesetz. Wir wollen diesen Beitrag leisten.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121000400
Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung zum NATO-AußenministerTreffen und zu den Zwei-plus-Vier-Gesprächen hat der Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher.

Hans-Dietrich Genscher (FDP):
Rede ID: ID1121000500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Europa steht im Zeichen grundlegender Veränderungen. Das Treffen der NATO-Außenminister am 3. Mai 1990 in Brüssel hat gezeigt: Das westliche Bündnis ist fähig und entschlossen, sich auf diesen dramatischen Wandel einzustellen. Eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung für ganz Europa, wie sie schon der Harmel-Bericht von 1967 fordert, wird von allen Bündnispartnern als Aufgabe verstanden, die jetzt verwirklicht werden kann.
Der für den Juli 1990 vorgesehene NATO-Gipfel wird sich mit den Veränderungen im West-Ost-Verhältnis befassen und die Politik und Strategie unseres Bündnisses auf die neuen Chancen in Europa ausrichten. Wir werden das Bündnis zukunftsfähig machen. Das wird auch seine positiven Auswirkungen auf die deutsche Einheit haben.
Außenminister Baker hat das Bündnis von der Entscheidung Präsident Bushs unterrichtet, die Entwicklung eines Lance-Nachfolgesystems einzustellen und auf die Modernisierung von nuklearen Artilleriegranaten in Europa zu verzichten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)




Bundesminister Genscher
Wir begrüßen diese Entscheidung des amerikanischen Präsidenten. Diese Entwicklung bestätigt, wie richtig es war, daß sich der NATO-Gipfel vom Juni 1989 nicht auf eine Modernisierung der nuklearen Kurzstreckenraketen festgelegt hatte.
Unsere volle Zustimmung findet auch der Vorschlag des amerikanischen Präsidenten, Verhandlungen mit der Sowjetunion über den Abbau nuklearer Kurzstreckenraketen schon unmittelbar nach Unterzeichnung des ersten KSZE-Abkommens aufzunehmen und nicht erst, wie bisher vorgesehen, bei Beginn von dessen Implementierung. Auch die nukleare Artilleriemunition darf von der Abrüstung nicht ausgenommen werden. Die Entscheidung von Präsident Bush ist Ausdruck der Bereitschaft, das Bündnis und seine Bewaffnung der veränderten Lage anzupassen. Das Bündnis beweist einmal mehr seine Orientierung auf die Ziele des Harmel-Berichts von 1967. Wir können und wir wollen nicht daran vorbeigehen, daß die sowjetischen Truppen die Tschechoslowakei und Ungarn verlassen und daß östlich von uns Demokratien entstehen.
Auch in der Sicherheitspolitik geht es darum, Konfrontation durch Kooperation zu überwinden. Europas Zukunft ist eine gemeinsame politische und sicherheitspolitische Aufgabe; Partnerschaft ist auch hier geboten. Das verlangt neue kooperative Strukturen der Sicherheit. Beide Bündnisse — so unterschiedlich sie sind — sind aufgerufen, ihre Rolle mehr und mehr politisch zu definieren und langfristig zu Instrumenten sicherheitsbildender Zusammenarbeit zu werden.
Es muß deshalb auch darum gehen, ein neues Verhältnis unseres Bündnisses zur Sowjetunion herzustellen.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Der Besuch von Außenminister Schewardnadse bei der NATO in Brüssel zeigt, daß sich auch die Sowjetunion von diesem Gedanken leiten läßt. Die Einladung des Generalsekretärs der NATO nach Moskau weist in dieselbe Richtung.
Das Atlantische Bündnis hat wie die Europäische Gemeinschaft in Dublin vorgeschlagen, mit den Vorarbeiten für den KSZE-Gipfel im Rahmen der 35 in den nächsten Wochen zu beginnen. Im September soll eine Außenministerkonferenz stattfinden, die den KSZE-Gipfel vorbereitet. Rüstungskontrolle und Abrüstung, Verifikation und gegenseitige Vertrauensbildung werden in der Sicherheitspolitik zunehmend an Gewicht gewinnen.
Mit dem ersten Ministertreffen im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Gespräche ist der in Ottawa gefundene Rahmen politisch ausgefüllt worden. Die Außenminister der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sind gleichberechtigte Teilnehmer dieser Gespräche. Das ist der Unterschied zu den 50er Jahren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der Vorsitz wechselt in der Reihenfolge des deutschen Alphabets.
Markus Meckel, der Außenminister der DDR, hat den 5. Mai 1990 zu Recht als großen Tag für Deutschland und Europa bezeichnet. Ich stimme dem zu. Ich möchte an dieser Stelle zum Ausdruck bringen, wie sehr ich die Zusammenarbeit mit dem Außenminister der DDR zu schätzen weiß.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

Man kann mit guten Gründen sagen, die Zwei-plus-
Vier-Gespräche, die für unser Volk und für Europa eine so große Bedeutung haben, hatten einen guten Start. Wir stehen am Anfang eines Gesprächsprozesses, der, wie die Vorbereitung der Ottawa-Formel, klare Zielvorgaben in der Sache, Verantwortung, Augenmaß und Behutsamkeit verlangt.
Von diesem Treffen in Bonn geht die ermutigende Botschaft aus: Der lang gehegte Wunsch der Deutschen, sich friedlich zu vereinigen, geht in Erfüllung. Im Einverständnis mit den fünf anderen Außenministern konnte ich zum Abschluß des Treffens feststellen:
Der Wille der Deutschen, ihre Vereinigung ordnungsgemäß und ohne Verzögerung zu vollziehen, wurde von allen Teilnehmern anerkannt. Die Einheit Deutschlands soll zu einem Gewinn für alle Staaten werden. Ziel der Gespräche ist es, eine abschließende völkerrechtliche Regelung, die Ablösung der Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten zu erreichen.
Wer dieses erste Ministertreffen in seiner ganzen Bedeutung würdigen will, muß einen kurzen Blick zurückwerfen. Auf den Tag genau 35 Jahre zuvor war der Deutschlandvertrag in Kraft getreten, durch den die Bundesrepublik Deutschland als gleichberechtigtes Mitglied in die westliche Staatengemeinschaft aufgenommen wurde. Mit Dankbarkeit empfinden wir die Unterstützung, die wir von allen unseren Verbündeten in der NATO und von unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft für das Ziel der deutschen Vereinigung erfahren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das beweisen auch die Außenminister der Vereinigten Staaten, Frankreichs und des Vereinigten Königreichs bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen.
Mit einer durch Stetigkeit und Berechenbarkeit geprägten Außen- und Sicherheitspolitk hat die Bundesrepublik Deutschland seitdem zur Festigung des Friedens und zur Entspannung beigetragen. Die kontinuierliche und verläßliche Außen- und Sicherheitspolitik unseres Landes hat das Vertrauen unserer Verbündeten und Partner im Westen und auch unserer Nachbarn im Osten erworben. Dieses Vertrauen wird auch bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen deutlich spürbar. Das ist ein großes Kapital, mit dem wir sorgsam umgehen müssen.

(Zustimmung bei der FDP)

Ziel unserer Politik ist es, die Rechte der für Deutschland als Ganzes verantwortlichen Mächte abzulösen und damit die volle Souveränität des vereinigten Deutschlands herzustellen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])




Bundesminister Genscher
Dies soll in einer abschließenden völkerrechtlichen Regelung geschehen.
Die sowjetische Regierung hat mehrfach betont, daß es darum gehe, einen Schlußstrich unter die Nachkriegsgeschichte zu ziehen. Außenminister Schewardnadse erklärte in Bonn wörtlich: „Heute kann nach unserer Meinung keinerlei Diskriminierung der Deutschen rechtlich oder psychologisch mehr zur Diskussion stehen. "

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Sehr wahr!) Wer wollte dem nicht zustimmen?


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

Als souveräner Staat muß das vereinigte Deutschland auch das Recht haben, das nach der Schlußakte von Helsinki allen Staaten zusteht, nämlich Vertragspartei eines Bündnisses zu sein oder nicht zu sein. Wir sehen in der Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands im westlichen Bündnis einen wichtigen Beitrag zur Stabilität in Europa.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

Wir stehen dabei nicht nur in Übereinstimmung mit unseren Verbündeten, sondern auch mit unseren unmittelbaren östlichen Nachbarn.
Weil wir die friedens- und sicherheitsbildende Wirkung unseres Bündnisses kennen, können wir ein bindungsloses vereinigtes Deutschland nicht als Gewinn für Europa betrachten. Ein gleichberechtigtes, nicht diskriminiertes und auch nicht singularisiertes vereinigtes Deutschland aber wird zu einem wichtigen Faktor der Stabilität in Europa und zu einem unverzichtbaren Bauelement für das eine Europa werden. Die deutsche Vereinigung schafft nicht ein Problem für Europa, sie löst ein schwerwiegendes und schwelendes europäisches Problem.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Eine Singularisierung für das vereinigte Deutschland würde nur das eine Problem durch ein anderes ersetzen.
Die Erörterung der Außenminister über die Bündnisfragen waren von der Einsicht getragen, daß Lösungen gefunden werden müssen und auch gefunden werden können, die den Interessen aller Beteiligten Rechnung tragen. Das wird auch für die deutschen Interessen und die Interessen unserer Verbündeten gelten, die die Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands in der NATO einschließen. Die Erfahrung zeigt, daß der Verhandlungstisch der beste Ort ist, die Motive der anderen Seite zu erkennen, Sinn und Absichten besser zu verstehen und dann Lösungen zu finden. Wir werden dafür auch alle bilateralen Kontakte nutzen.
Wir sind uns bewußt, daß die Sowjetunion — und die anderen Staaten in Europa auch — legitime Sicherheitsinteressen hat. Die Bundesregierung und unsere Verbündeten haben es von Anfang an für möglich gehalten, daß sowjetische Streitkräfte für eine zeitlich befristete Übergangszeit auf dem Gebiet der heutigen DDR stationiert bleiben. Sie ist sich auch bewußt, daß die mit der deutschen Vereinigung verbundenen äußeren Aspekte nur im europäischen Rahmen gelöst werden können. Daher sind der KSZE-Prozeß und die Abrüstung Schlüsselfragen für die Herstellung der deutschen und der europäischen Einheit.
Es bestand bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen eine bemerkenswerte Übereinstimmung über die Notwendigkeit, den KSZE-Prozeß auszubauen und ihn zu vertiefen.

(Zustimmung der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE])

Ging es in der Vergangenheit darum, die Menschenrechte überall in Europa durchzusetzen und das Zusammenleben unterschiedlicher, ja gegensätzlicher politischer Systeme zu ermöglichen, so geht es jetzt darum, die Grundlagen für das eine Europa zu schaffen. Die Institutionalisierung des KSZE-Prozesses, regelmäßige Ministertreffen, die Schaffung von Zentren zur Konfliktvermeidung und -schlichtung und zur Verifikation werden die stabilisierende Funktion des KSZE-Prozesses entfalten.
Die Sowjetunion soll nach unserer Auffassung in dem künftigen Europa, dessen Konturen heute erkennbar werden, eine wichtige und eine konstruktive Rolle spielen. Europa endet nicht an der polnischen Ostgrenze.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Der Öffnung der Sowjetunion nach Westen muß unsere Öffnung nach Osten entsprechen.
Außenminister Schewardnadse hat die sowjetische Entschlossenheit deutlich gemacht, an dem Europa der Zukunft aktiv mitzuwirken. Es liegt in unserem Interesse, daß die Politik von Präsident Gorbatschow nach innen und nach außen zum Erfolg führt.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Die Probleme der Sowjetunion müssen in der Sowjetunion selbst gelöst werden. Aber vertrauensbildende Politik und Solidarität des Westens können auch in der Sowjetunion Vertrauen schaffen und Forschritt fördern.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Wir sind uns der vielschichtigen Probleme bewußt, denen sich die sowjetische Führung derzeit gegenübersieht. Das erfordert auch auf unserer Seite ein hohes Maß an Verantwortung. Zu dieser Verantwortungspolitik, die die Machtpolitik der Vergangenheit abgelöst hat, gehört es auch, nicht einseitige Vorteile zu suchen.
Für die Sowjetunion ist von großer Bedeutung, daß sich angesichts ihrer zahlreichen vertraglichen Abmachungen mit der DDR durch den Vereinigungsprozeß keine Nachteile ergeben. Das gilt auch für andere Vertragspartner der DDR. Wir werden unser Versprechen einhalten, daß die deutsche Einheit nicht zum Schaden Dritter geschaffen wird.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Das deutsch-sowjetische Verhältnis wird sich in seiner zentralen Bedeutung erst nach der deutschen Vereinigung voll entfalten können. Die deutsch-so-



Bundesminister Genscher
wjetische Gemeinsame Erklärung vom 13. Juni 1989 wird auch Richtschnur für das Handeln des gesamtdeutschen Staates sein. Wir wollen das deutsch-sowjetische Verhältnis in all seinen Dimensionen voll ausschöpfen. Deutschland und die Sowjetunion können sich und sie können Europa sehr viel geben.
Bedeutsam ist, daß bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen über die Beteiligung Polens Übereinstimmung erzielt wurde. Der polnische Außenminister ist von mir als dem Vorsitzenden des ersten Ministertreffens in einem Schreiben zu dem dritten Außenministertreffen im Juli in Paris eingeladen worden, um Fragen zu erörtern, die die Grenzen Polens betreffen. Der polnische Außenminister kann dabei, wenn er es wünscht, auch über Fragen sprechen, die mit den Grenzfragen selbst verbunden sind.
Beide deutschen Regierungen haben bei den Zwei-
plus-Vier-Gesprächen über das erste Zusammentreffen von Beamten der beiden deutschen Staaten und Polens berichtet, das am 3. Mai 1990 in Warschau stattgefunden hat. Wir haben die Vier darüber unterrichtet, daß das vereinigte Deutschland die Grenzfrage abschließend durch einen völkerrechtlichen Vertrag mit Polen regeln wird, der die bestehende deutsch-polnische Grenze, deren Verlauf in den Verträgen von Görlitz und Warschau und in den dazugehörigen Dokumenten festgelegt ist, als endgültig bestätigt. Die Gespräche der Beamten der drei Staaten sollen noch im Mai in Bonn fortgesetzt werden. Ein Treffen der drei Außenminister wird folgen. Die abschließende Regelung durch einen Vertrag des vereinigten Deutschlands und Polens wird den deutschpolnischen Beziehungen eine neue, dauerhafte Perspektive eröffnen.
Die sechs an den Zwei-plus-Vier-Gesprächen beteiligten Staaten haben sich am Samstag auf die Tagesordnung und auf einen Arbeitskalender für die nächsten Monate verständigt; einen Arbeitskalender, der sowohl die Treffen der Außenminister als auch den Arbeitsrhythmus der hohen Beamten festlegt. Der dichte Konferenzkalender sieht vor, daß die nächsten Ministertreffen im Juni in Berlin, im Juli in Paris und im September in Moskau stattfinden.
Die Tagesordnung gliedert sich in vier Punkte: erstens Grenzfragen; zweitens politisch-militärische Fragen unter Berücksichtigung von Ansätzen geeigneter Sicherheitsstrukturen in Europa; drittens Berlin-Probleme; viertens abschließende völkerrechtliche Regelung und Ablösung der Viermächterechte und -verantwortlichkeiten.
Wir halten eine zügige und erfolgsorientierte Arbeit für notwendig um die Verständigung über die äußeren Aspekte der deutschen Vereinigung vor dem KSZE-Gipfel im Herbst dieses Jahres zu erreichen.

(Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Die Erklärung von Außenminister Schewardnadse, der Prozeß der Vereinigung laufe und man dürfe nicht in eine Lage kommen, wo man den Ereignissen hinterherlaufe, zeigt, daß auch die Sowjetunion an einer zügigen Regelung der äußeren Aspekte interessiert ist.
Wir halten an unserer Absicht fest, dem KSZE-Gipfel die Arbeitsergebnisse der Zwei-plus-Vier-Gespräche zu präsentieren. Dies kann dem Treffen, das eine neue Phase und eine neue Qualität des KSZE-Prozesses einleiten soll, zusätzliche Impulse geben.
Das deutsche Volk hat einen Anspruch auf Herstellung der deutschen Einheit. Es hat auch Anspruch darauf, daß die äußeren Aspekte seiner Vereinigung ohne Verzögerung geklärt werden.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

Wir wollen das vereinigte Deutschland nicht mit offenen Fragen belasten,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

auch dort nicht, wo, wie bei einem vereinbarten zeitweiligen Verbleib sowjetischer Truppen auf dem Territorium der DDR, Übergangsregelungen notwendig sind.
Mit großer Genugtuung können wir feststellen, daß die Dynamik der Entwicklungen in Deutschland positive Impulse für die Entwicklung in ganz Europa entfaltet. Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union wird beschleunigt. Im KSZE-Prozeß werden neue, gesamteuropäische Strukturen entstehen. Das westliche Bündnis stellt sich auf die neuen Entwicklungen ein. Es entfaltet damit auch unter den sich verändernden Bedingungen seine friedensbildende Kraft. Die Abrüstung bekommt neuen Schwung. Die West-Ost-Zusammenarbeit — auch im EG-Rahmen — weitet sich aus und bekommt eine neue Qualität.
Es ist besser, der Sowjetunion beim Aufbau einer Friedensindustrie in einer reformierten Wirtschaft zu helfen, anstatt einen neuen Rüstungswettlauf zu finanzieren.

(Beifall bei allen Fraktionen und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Die Friedensdividende aus der Abrüstung kann zu einem bedeutsamen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung Mittel- und Osteuropas werden.
Über 40 Jahre ist in der Bundesrepublik Deutschland eine freiheitliche Demokratie gewachsen. Die Menschen in der DDR haben in einer friedlichen Freiheitsrevolution ihre Demokratie selbst erstritten. Das vereinigte Deutschland wird eine freiheitliche, eine rechtsstaatliche Demokratie sein. Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ist ein bedeutsamer Schritt. Aber wir wollen die ganze Einheit. Das ist bei weitem mehr als die Einführung der D-Mark in der DDR.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

Die Stellung, die wir für das vereinigte Deutschland anstreben, ist durch das Grundgesetz vorgegeben. Dessen Präambel bringt den Wunsch des deutschen Volkes zum Ausdruck, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinigten Europa dem Frieden der Welt zu dienen" . Das Tor zur deutschen Einheit ist geöffnet. Der Freiheitswille der Deutschen der DDR hat dieses Tor aufgestoßen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)




Bundesminister Genscher
Vor uns, das wissen wir, liegen noch schwierige Probleme. Für ihre Lösung brauchen wir Klarheit der Ziele und Phantasie. Wir brauchen dafür Verantwortung, und wir brauchen Augenmaß. Aber wir dürfen jetzt ganz sicher sein: Wir werden die Vereinigung Deutschlands erreichen.
Ich danke Ihnen.

(Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Beifall bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121000600
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Vogel.

Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD):
Rede ID: ID1121000700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Thomas Mann hat im Jahre 1953 vor Hamburger Studenten in Abwandlung eines Goethe-Zitates folgendes gesagt: „Uns ist nicht bange, daß die wirkende Zeit nicht ein geeintes Europa bringen wird mit einem wiedervereinten Deutschland in seiner Mitte." Nach einem Hinweis auf das Mißtrauen, das einem vereinten Deutschland begegnen werde, fuhr er fort: „Sache der deutschen Jugend ist es, dieses Mißtrauen, diese Furcht zu zerstreuen, indem sie das längst Verworfene verwirft und klar und einmütig ihren Willen kundgibt nicht zu einem deutschen Europa, sondern zu einem europäischen Deutschland. "

(Beifall bei der SPD)

Das längst Verworfene — die deutsche Sozialdemokratie hatte es schon 1925 in ihrem Heidelberger Programm verworfen, als sie wörtlich formulierte:
Sie
— die SPD —
tritt ein für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit, für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa.
Das stieß damals bei den übrigen Parteien auf Ablehnung, und zwar vor allem bei jenen, die einer nationalen Machtideologie huldigten, die, wie der Staatsphilosoph Hermann Heller seinerzeit schrieb, „weit mehr an die Zahl und Größe der Kanonen glaubten als an die in ihrem Tun von Ideen geleiteten Menschen" und die damit Hitler den Weg bereiteten.
Heute ist unsere Forderung von damals Allgemeingut. Alle oder fast alle bejahen die Einheit Europas. Wir freuen uns darüber. Allerdings fragen wir auch, was Deutschland, was Europa erspart geblieben wäre, wenn unsere europäische Vision schon seinerzeit die Unterstützung aller politischen Kräfte des Landes gefunden hätte.

(Beifall bei der SPD)

Aus dieser Grundposition ergeben sich für uns folgende Konsequenzen:
Erstens. Die deutsche Einigung muß sich in die supranationalen Strukturen, insbesondere in die Strukturen der Europäischen Gemeinschaft, aber auch in die europäischen Sicherheitsstrukturen, einfügen. Ein Rückfall in nationalstaatliches Denken und Verhalten würde alles aufs Spiel setzen, was in Europa seit den blutigen Katastrophen der beiden Weltkriege an Vertrauen, Sicherheit, Wohlstand und europäischer Identität gewachsen ist. Es ist schon besorgniserregend genug, daß in Ost- und Südosteuropa alte Nationalitätenkonflikte von neuem aufbrechen. Wir müssen alles tun, um diese Konflikte zu überwinden.

(Beifall bei der SPD)

Zweitens. Der deutsche Einigungsprozeß muß dem europäischen Einigungsprozeß zusätzliche Impulse geben. Die Europäische Gemeinschaft muß rasch zu einer Europäischen Union werden und sich den EFTA-Staaten und den osteuropäischen Staaten zu immer breiterer und intensiverer Zusammenarbeit bis hin zur Mitgliedschaft öffnen. Es kann nicht darum gehen, eine Grenze, die bisher an der Elbe lief, einfach an die Oder zu verschieben. Diese Grenze muß verschwinden.

(Beifall bei der SPD)

Drittens. Für gegeneinandergerichtete Militärbündnisse sind die Voraussetzungen schon jetzt weitgehend entfallen. Sie müssen als Ergebnis des KSZE-Prozesses in einer europäischen Sicherheitsstruktur aufgehen, die sich als Kern einer gesamteuropäischen Friedensordnung versteht und unter der Beteiligung der USA, Kanadas und der Sowjetunion eigene Institutionen zur Rüstungskontrolle, zur Streitschlichtung und zur Krisenbewältigung umfaßt. Für den Übergang dorthin kann eine sich in ihrem Wesen und in ihrer Strategie substantiell verändernde NATO, deren Mitglied in diesem Zeitraum auch das vereinigte Deutschland unter Beschränkung ihrer militärischen Funktion auf das derzeitige Bundesgebiet sein kann, nützliche Dienste leisten.
Viertens. Die Europäische Union und die europäische Friedensordnung sollen letzten Endes in die Vereinigten Staaten von Europa einmünden, in ein föderativ verfaßtes Europa, das keine Grenzen herkömmlicher Art mehr kennt.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, der Sondergipfel von Dublin hat Ergebnisse gebracht, die im Ansatz diesen Vorstellungen entsprechen. So haben alle Mitgliedsländer dort die deutsche Einigung bejaht und sich mit ihrer zügigen Verwirklichung einverstanden erklärt. Die Mitgliedsländer haben weiterhin der Einbeziehung der heutigen DDR in die Europäische Gemeinschaft zugestimmt. Das begrüßen wir, und wir danken den Mitgliedsländern für diese positive Einstellung.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

Besonders — ich schließe mich Ihnen da an, Herr Bundeskanzler — danken wir dem Präsidenten der Europäischen Kommission, Jacques Delors. Wir wissen, wie sehr gerade er in den letzten Monaten die Wege für diese Entwicklung geebnet hat.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wir begrüßen weiter, daß die Europäische Gemeinschaft und insbesondere die Europäische Kommission künftig in vollem Umfang in die Behandlung der die Gemeinschaft betreffenden Bereiche des deutschen
Deutscher Bundestau — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1990 16479
Dr. Vogel
Einigungsprozesses einbezogen werden. Nur so läßt sich eine harmonische Eingliederung der DDR in die Europäische Gemeinschaft bewerkstelligen.
Zu kritisieren bleibt, daß eine angemessene Beteiligung der Regierung der DDR an den Beratungen und Verhandlungen mit der EG offenbar noch immer nicht gewährleistet ist. Das widerspricht nicht nur dem Geist gleichberechtigter Partnerschaft, es birgt vielmehr auch die Gefahr in sich, daß die Besonderheiten der DDR bei der Ausgestaltung der Anpassungs- und Übergangsregelungen nicht ausreichend zur Geltung kommen. Deshalb erneuern wir unsere Forderung, daß die Bundesregierung ihre Haltung in dieser Frage korrigiert und für eine angemessene Beteiligung der DDR an den sie betreffenden Beratungen mit der EG eintritt.

(Beifall bei der SPD)

Soweit man sich in Dublin und vorher zur Schaffung einer Europäischen Union geäußert hat, war die gute Absicht erkennbar. Diese gute Absicht begrüßen wir. Aber solche Absichten sind in den letzten Jahren immer wieder erklärt worden, ohne daß wirklich Fortschritte auf dem Weg zur Union erzielt worden sind. Auch dieses Mal haben die Beratungen inhaltlich nicht weitergeführt, wohl auch deshalb, weil Ihr Papier erst in letzter Minute vorgelegt worden ist und keine konkreten Vorschläge enthielt.
So wurde einmal mehr Zeit verloren, ein Zeitverlust, den wir schon in Richtung auf die Währungsunion zu bedauern hatten, weil auch auf Ihr Betreiben die Regierungskonferenz zu diesem Thema erst Ende dieses Jahres stattfindet.
Jetzt geht es darum, daß folgende Fragen möglichst rasch und präzise beantwortet werden:
Welche Aufgaben und Kompetenzen sollen auf eine politische Union übertragen werden? Soll sie als Bundesstaat oder als Staatenbund konzipiert werden?
Welche Rechte soll das Europäische Parlament erhalten?
Wie sollen in einer politischen Union die regionalen Interessen — also in unserem Fall die Bundesländer — vertreten werden?
Und welche Rolle schließlich soll dem Bundestag und dem Bundesrat bei der Gestaltung der Europäischen Union zukommen?
Zur Frage der Rechte des Parlaments haben Sie sich, Herr Bundeskanzler, heute erfreulich klar in einer Weise geäußert, der wir durchaus zustimmen. Aber zu all den anderen Fragen enthielt die Erklärung der Bundesregierung so gut wie nichts. Jetzt soll der Bundesaußenminister mit seinen Kollegen in den nächsten sechs Wochen diese Antworten erarbeiten. Wir wünschen dazu viel Glück.
Aber im Hinblick auf die Erfahrungen, die wir mit dem deutschen Einigungsprozeß und der Rolle des Parlaments gemacht haben, warne ich schon jetzt vor dem Versuch, Bundestag und Bundesrat beim europäischen Einigungsprozeß, beim Weg zur Union, in eine ähnliche Zuschauerrolle zu drängen wie beim deutschen Einigungsprozeß.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Die Zeit ist überreif für die Einrichtung des von uns schon lange beantragten Europaausschusses im Deutschen Bundestag.

(Beifall bei der SPD)

Wir jedenfalls werden alles tun, damit die europäische Union und sodann die Vereinigten Staaten von Europa Wirklichkeit werden.
Für uns ist die Europäische Gemeinschaft eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Errungenschaft der europäischen Nachkriegspolitik. Sie hat uns die Rückkehr in die Völkerfamilie erleichtert. Sie hat die Aussöhnung zwischen Franzosen und Deutschen vorangebracht. Sie hat Kriege in Westeuropa ein für allemal unmöglich gemacht. Und sie hat allein durch ihre Existenz den Völkern Osteuropas und des östlichen Mitteleuropa geholfen, ihre europäische Identität zu bewahren. Dafür sind wir den Frauen und Männern der ersten Stunde auch heute noch Dank schuldig. Auch wir denken dabei, besonders heute, an Robert Schuman, an den eingangs dieser Sitzung erinnert wurde.

(Beifall bei der SPD)

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, zu dem Ergebnis der ersten Zwei-plus-VierKonferenz wird sich Herr Kollege Ehmke im einzelnen äußern. Er wird sich auch mit den dort von dem sowjetischen Außenminister vorgelegten Vorschlägen befassen, die eine ganze Reihe von Fragen aufwerfen und die deshalb nach unserer Meinung sorgfältiger Prüfung bedürfen. Dabei sollten wir uns nicht zu einer Kontroverse über Scheinalternativen verleiten lassen, wie sie in den letzten Tagen zwischen Ihnen, Herr Bundeskanzler, und Ihnen, Herr Bundesaußenminister, sichtbar geworden ist; denn niemand bezweifelt doch, daß es auch noch nach der staatlichen Einigung — Sie haben es ja hier gesagt — für eine befristete Zeit vertraglich vereinbarte Positionen der Vier Mächte geben wird, etwa hinsichtlich der Truppenpräsenz. Ebenso hat bisher doch niemand den Standpunkt vertreten, der Vollzug der staatlichen Einheit müsse hinausgeschoben werden, bis auch die letzte außenpolitische Frage geklärt sei. Wir müssen uns deshalb darauf konzentrieren, den Anspruch des vereinigten Deutschlands auf eine durch europäische Strukturen modifizierte Souveränität mit den berechtigten Interessen der anderen Beteiligten in Einklang zu bringen, und das im Wege eines Ausgleichs und nicht eines Entweder-Oder.

(Beifall bei der SPD)

Unabhängig davon sehen wir uns jedenfalls in der Auffassung bestärkt, daß der endgültige Erfolg dieser Konferenzserie vor allem von zwei Voraussetzungen abhängt, nämlich von der unanfechtbaren Gewährleistung der polnischen Westgrenze und von einer substantiellen Änderung des Charakters und der Strategie des atlantischen Bündnisses, wie sie ausdrücklich auch in der Regierungserklärung der neuen DDR-Regierung gefordert worden ist.



Dr. Vogel
Zur ersten Frage zeichnet sich mit den übereinstimmenden Erklärungen der Parlamente der beiden deutschen Staaten und dem Projekt eines deutschpolnischen Vertrages, der von den Regierungen der beiden deutschen Staaten paraphiert, nach der Vereinigung von der Regierung des neuen deutschen Bundesstaates unterzeichnet und sodann von dessen Parlament, dem Parlament des neuen deutschen Bundesstaates, ratifiziert wird, erfreulicherweise eine befriedigende Lösung ab. Ich bitte sehr herzlich, diese befriedigende Lösung nicht durch Vorbehalte und Abschwächungen hinsichtlich der Vertragsmodalitäten neuerdings in Frage zu stellen, und warne davor, anders zu verfahren. Hier ist in den letzten Monaten ohnehin, auch unter Ihrer Mitwirkung, Herr Bundeskanzler, genügend Porzellan zerschlagen worden.

(Lachen und Widerspruch bei der CDU/ CSU)

Gerade nach dem so positiv verlaufenen Besuch des Herrn Bundespräsidenten in Polen sollte dieses sensible Thema nicht von neuem strapaziert werden.

(Beifall bei der SPD — Pfeffermann [CDU/ CSU]: Wer strapaziert denn das? Das sind doch Sie! — Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/ CSU]: Sie können einem leid tun, mit solchen Aussagen! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

Für die Änderung der Nato-Strategie bedeutet der endlich erklärte Verzicht auf die Modernisierung der Lance-Raketen ebenso wie die Ankündigung hinsichtlich der Atomartillerie einen begrüßenswerten Anfang. Er wird allerdings bedauerlicherweise relativiert, ja, nahezu konterkariert durch die gleichzeitige Ankündigung, man wolle statt dessen luftgestützte Abstandswaffen, also auf Flugzeuge montierte Atomraketen, einführen, die den europäischen Teil der Sowjetunion fast zur Gänze erreichen können. Das bedeutete doch, daß man den Teufel mit Beelzebub austreibt und das atomare Potential nicht vermindert, sondern in seiner Wirksamkeit eher noch erhöht.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Ich sage dazu unmißverständlich: Mit uns ist das nicht zu machen. Wir werden solchen Absichten entschiedensten Widerstand entgegensetzen.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE])

Zu Recht ist gesagt worden: Die deutsche Einigung ist die Stunde Europas. Mit dem gleichen Recht füge ich hinzu: Die deutsche Einigung und die europäische Einigung, das muß auch die Stunde der Abrüstung sein.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

Auf der internationalen Ebene gibt es dazu ermutigende Fortschritte. Aber das genügt nicht. Wir müssen jetzt auch in eigener Zuständigkeit handeln, und zwar um des Einigungsprozesses willen, gerade auch im Hinblick auf die sowjetischen Sicherheitsinteressen und die Situation in der Sowjetunion. Ich unterstütze, was der Außenminister dazu gesagt hat.
Aber, meine Damen und Herren, nichts hindert Sie doch, beispielsweise den Jäger 90 sofort zu stoppen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Nichts hindert Sie doch, die Tiefflugübungen sowie die Luftkampfübungen über bewohntem Gebiet sofort einzustellen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Es ist doch nur die Frage, ob Sie das wollen. Bisher wollen Sie das nicht, obwohl alle Gründe der Vernunft dafür sprechen. Im Gegenteil, ich muß Sie und auch die Kolleginnen und Kollegen der FDP daran erinnern, daß Sie erst vor sechs Wochen in diesem Saal hier in namentlicher Abstimmung gegen den Ausstieg aus dem Jäger 90 gestimmt haben.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Zuruf von der SPD: Der Genscher auch! — Pfeffermann [CDU/CSU]: Wie schön, daß Sie überhaupt noch ein Thema haben! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Nichts spricht auch dagegen, daß wir mit der Verringerung des Personalumfangs der Bundeswehr beginnen und die Wehrpflicht alsbald auf zwölf Monate reduzieren.

(Beifall bei der SPD)

Im Gegenteil: Konkrete Abrüstungsmaßnahmen — der Außenminister hat es ja in seiner Erklärung hier zu erkennen gegeben — würden den Zwei-plus-VierProzeß erleichtern, sie würden den Einigungsprozeß fördern, und sie würden nicht zuletzt Mittel freimachen, die dringend für andere Zwecke, so gerade für den Einigungsprozeß, benötigt werden.

(Beifall bei der SPD)

An diesem Einigungsprozeß, auf den Sie, Herr Bundeskanzler, im zweiten Teil Ihrer Erklärung eingegangen sind, werden wir, wie bisher, konstruktiv mitwirken. Dabei werden wir insbesondere dafür eintreten, daß die sozialen Gesichtspunkte voll berücksichtigt werden, und zwar hüben wie drüben. Ich erkläre ausdrücklich: Für uns ist die Sozialunion — leider ist im Staatsvertrag immer nur von „Sozialgemeinschaft" die Rede — nicht nur eine Ergänzung zur Währungs- und Wirtschaftsunion, sondern sie ist ein gleichwertiger und vollwertiger Bestandteil dessen, was dort geschaffen werden soll.

(Beifall bei der SPD)

Auch nach Ihren Ausführungen, Herr Bundeskanzler, bleibt hier noch eine Reihe wichtiger Fragen offen, Fragen, die wir an anderem Ort diskutieren werden. Ich sage Ihnen hier nur: Es sind Fragen, auf die nicht nur die Menschen in der DDR, sondern auch die Menschen hier in der Bundesrepublik eine klare Antwort erwarten können.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Ich begrüße, daß in einem Punkt unsere Forderungen heute eine Resonanz gefunden haben. Dabei handelt es sich um die Forderung, die ich jetzt hier erneuere: Wir werden nicht zustimmen, daß eine Um-



Dr. Vogel
tauschregelung gefunden wird, die einen Umtausch von 2: 1 auch denen ermöglicht, deren Gelder aus dem Stasi- und SED-Bereich stammen.

(Beifall bei der SPD)

Ich freue mich, daß Sie dem hier zugestimmt haben. — Ähnliches gilt für Spekulanten in unserem Bereich.

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Das ist Ihr Beitrag!)

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt sage ich zu den beiden Regierungserklärungen: Es gibt — das ist auch durch meine Ausführungen deutlich geworden — Elemente der Übereinstimmung. Wir werden Ihre Politik aber, wie bisher, nicht allein an Ihren Worten, sondern an den Taten messen,

(Beifall bei der CDU/CSU)

und da sind die Defizite unverändert groß. — Ich freue mich, daß Sie auch diese Passage beklatscht haben.
Wir werden Ihnen diese Defizite immer wieder vor Augen führen und unsere ganze Kraft einsetzen, um diese Defizite abzubauen — jetzt aus der Opposition, später aus der Regierungsverantwortung.

(Lebhafter Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/CSU — Pfeffermann [CDU/CSU]: Wenn man mit 20 Prozent im Keller sitzt!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121000800
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hornhues.

Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU):
Rede ID: ID1121000900
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Vogel, „später" , einverstanden, viel später;

(Zuruf von der CDU/CSU: Viel, viel später!)

wenn denn überhaupt, jedenfalls für Sie.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe mich darüber gewundert, daß Sie, Herr Dr. Vogel, nicht noch einen weiteren Satz hinzugefügt haben. Sie haben so viel, so intensiv, so umfassend begrüßt, daß ich mir schon notiert hatte: „Und jetzt begrüßt er, daß wir so eine prima Regierung haben, die so eine prima Politik macht. "

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das haben Sie noch ausgelassen. Ich möchte es aber sicherheitshalber hinzufügen, damit es nicht vergessen wird. Ich halte es nämlich — dies im Ernst — für gut und richtig und auch wichtig, daß die Opposition, insbesondere die Hauptoppositionspartei, trotz aller Versuche, hier und da noch wenig Kritik zu üben, zu erkennen gibt — das haben Sie in Ihrer Rede getan —, daß die Politik, die diese Bundesregierung betreibt, daß die Politik, die mitten im Prozeß zur Einheit Deutschlands in Europa führen wird, eine gute, eine richtige, eine konsequente und eine sinnvolle Politik ist. Wenn Sie dies, wenn auch ein wenig verklausuliert und indirekt, zugestehen, schadet es nicht. Wir freuen uns darüber, daß auch Sie zu dieser Erkenntnis gekommen sind. Wir hatten sie schon länger, wie wir auch schon länger der Auffassung waren und Ihrer Aufforderung und Anregung gar nicht bedurften, daß,
wenn es um Stasi und SED-Gelder geht, zweifelsohne einiges geprüft werden muß. Das war immer vorgesehen. Es bedurfte da nicht Ihrer Ergänzung.
Lassen Sie mich, da schon so viel begrüßt worden ist, auch etwas anderes begrüßen, nämlich daß es unseren Freunden in der DDR gelungen ist, am vergangenen Sonntag bei den Kommunalwahlen trotz eines Trommelfeuers gegen sie und waschkörbeweise über sie ausgegossener Desinformation und Panikmache ihre Position zu behaupten. Ich möchte im Namen unserer Fraktion unseren Freunden in der DDR zu ihrem Wahlergebnis bei der Kommunalwahl unsere herzlichen Glückwünsche ausrichten.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Wie ist es mit der DSU?)

Denn mit diesen ersten freien Kommunalwahlen hat nun endlich auch in den Städten und Gemeinden der DDR demokratische Mitbestimmung Einzug gehalten.
Es wird wichtig sein — und ich appelliere an dieser Stelle an unsere Städte und Gemeinden — , den kommunalen Aufbau, diese neu gefundene Mitbestimmung und Demokratie in der DDR auf dieser Ebene durch eine Fülle von Partnerschaften zu unterstützen, zu helfen und dort zusammenzuarbeiten. Ich glaube, auf diese Weise wird einem notwendigen und wichtigen Anliegen von uns allen Rechnung getragen, auch die Trennung, die 40 Jahre geschmerzt hat, zu überwinden und diejenigen, die nie die Chance hatten, den anderen, die anderen kennenzulernen, einander näherzubringen.
Wir stehen zur Zeit mitten im Prozeß hin zur deutschen Einheit. Mit der Einführung der Währungsunion sowie der Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft zum 2. Juli wird dafür ein Eckstein gesetzt.
Wir gehen davon aus, daß es in den nächsten Tagen gelingen wird, die Verhandlungen über den Staatsvertrag endgültig abzuschließen.
Mit der Bildung des Bundestagsausschusses „Deutsche Einheit" , die wir ja heute beschließen werden und der sich morgen konstituieren wird, trägt der Bundestag dieser Entwicklung Rechnung.
Gestatten Sie mir, daß ich in diesem Zusammenhang unseren Parlamentarischen Geschäftsführern herzlich danke — denen wir ja selten gedankt, und ich danke jetzt sogar denen aller Fraktionen — , daß sie vor langer Zeit in unergründlicher Weisheit schon festgelegt haben, daß zwei Wochen nach Pfingsten sitzungsfrei sind, so daß wir hinreichend Zeit haben werden, in diesen beiden sitzungsfreien Wochen die Ausschußberatungen mit der notwendigen Dringlichkeit und der gebotenen Sorgfalt zu führen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Kollegen und Kolleginnen, Parlamentarischen Geschäftsführer, ich habe nie gewußt, daß Sie so weitreichend denken können, als Sie im vorigen Jahr schon weit vor dem Termin diese Zeit vorgesehen hatten.
Wir sind daran interessiert und dazu entschlossen, dann, wenn die Verhandlungen und Gespräche abgeschlossen sind, uns der Staatsvertrag vorliegt und uns das Ratifizierungsgesetz zugeleitet ist, unsere parlamentarischen Beratungen so zu führen, daß es mög-



Dr. Hornhues
lieh wird — und es wird möglich werden — , das Ziel 1. Juli zu erreichen.
Ich gehe davon aus, daß alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus daran interessiert sind und es genauso sehen. Denn nichts wäre verhängnisvoller, als ließe man über den Deutschen von Sachsen bis Mecklenburg weiterhin das Damoklesschwert von Ungewißheit schweben. Dies wäre unverantwortbar.
Im Zusammenhang mit dem Staatsvertrag sind in den letzten Wochen bis in die jüngsten Wahlkämpfe hinein immer wieder auch bei uns Versuche gemacht worden, Panik zu verbreiten, Angst zu schüren und aus der Kompliziertheit der Materie parteipolitischen Nutzen zu ziehen, Ich freue mich, sehr geehrter Herr Dr. Vogel, daß Sie heute morgen — erstmals, glaube ich — darauf verzichtet haben, für Ihre Fraktion dort einzusteigen. Vielleicht hat das Wahlergebnis in der DDR eben doch deutlich gemacht, daß es keinen Sinn macht, auf der einen Seite Sorgen zu schüren, die auf der anderen Seite dann konterkariert werden, indem man die Sorgen hier wiederum schürt. Ich hoffe, daß in den letzten Stunden des Wahlkampfes in Niedersachsen dies auch Ihr Freund Schröder einsieht angesichts der Tatsache,

(Dr. Vogel [SPD]: Peinlich, peinlich!)

daß da Ihre große Kampagne über den Wahlbetrug, der bei uns groß plakatiert worden ist, ja längst in sich zusammengebrochen ist. Ich hoffe, daß es dabei bleiben kann, daß wir unsere Verantwortung insoweit tragen, die wir haben, nämlich bei der Kompliziertheit der Situation den Menschen Sicherheit für die Zukunft und nicht Angst vor der Zukunft zu geben. Dies sollte für uns alle Verpflichtung sein.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in den letzten Tagen war eines der beliebtesten Themen — lassen Sie mich auch dazu einige Anmerkungen machen — die Frage, ob man denn, wann man denn, wie man denn, was man denn eigentlich wählt. Ich darf vielleicht darauf hinweisen, daß wir in einer Situation stehen, die zum einen — auf den anderen Aspekt komme ich später — dadurch gekennzeichnet ist, daß wir die deutsche Einheit mit dem wichtigen Schritt der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion angehen. In der Präambel dieses Staatsvertrages ist vermerkt, daß die Vertragsschließenden die Absicht haben und diesen Staatsvertrag so sehen, die Einheit Deutschlands nach Art. 23 GG herbeizuführen. Den Beitrittsbeschluß faßt die DDR-Volkskammer. Die Initiative wird von dort ausgehen.
Soweit ich informiert bin — ich hoffe, wir haben den gleichen Informationsstand — , ist dieser Beschluß noch nicht gefaßt. Deshalb sind alle Spekulationen nicht nur wenig hilfreich, sondern ein wenig unfair gegenüber den Menschen in der DDR.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Das soll eine Mahnung an Ihre Parteifreunde sein!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist unfair, in einer solchen Situation darüber zu spekulieren. Für uns ist klar: Am 2. Dezember finden Bundestagswahlen statt. Das ist die Geschäftslage. Alles andere ist unfair gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern
und den Kolleginnen und Kollegen in der DDR, die ihr dezidiertes Recht auf Mitgestaltung haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit den Gesprächen der Außenministerkonferenz „Zwei plus Vier" am 5. Mai trat der zweite Aspekt, nämlich die äußere Gestaltung des deutschen Einheitsprozesses, in den Mittelpunkt auch des öffentlichen Interesses bei uns. Ich bin der Auffassung, daß diese erste Runde in Bonn für uns von großer Bedeutung und Wichtigkeit war. Das Bemerkenswerteste war, daß alle Beteiligten keinen Zweifel daran gelassen haben, daß sie die deutsche Einheit wollen und uns niemand an ihrer Erlangung zu hindern gedenkt.
In der Abschlußerklärung der Zwei-plus-Vier-Konferenz — der Außenminister hat dies eben schon zitiert, ich will es wiederholen — ist erklärt worden:
Der Wille der Deutschen, ihre Vereinigung ordnungsgemäß und ohne Verzögerung zu vollziehen, wurde von allen Teilnehmern anerkannt. Die Einheit Deutschlands soll zu einem Gewinn für alle Staaten werden. Ziel der Gespräche ist es, eine abschließende völkerrechtliche Regelung, die Ablösung der Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten zu erreichen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich halte dieses klare Bekenntnis auch zur Beschreibung des Ziels, das hier erreicht werden soll, für wichtig. Dazu hat es nun eine Reihe von Spekulationen über einen Halbsatz oder einen Satz des sowjetischen Außenministers Schewardnadse gegeben, daß die Lösungen der inneren und der äußeren Aspekte der deutschen Einigung nicht unbedingt zusammenfallen müssen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es sei mir gestattet, selber einmal einen Interpretationsversuch zu machen. Ich habe dies zunächst einmal, positiv interpretiert, so verstanden — das ist also eine Bewertung von mir —, daß die Sowjetunion manchen der von uns geäußerten Besorgnisse und Befürchtungen Rechnung trägt, die Sowjetunion könne den Zwei-
plus-Vier-Prozeß dazu benutzen, eventuell den Prozeß der deutschen Einheit zu stoppen, zu verzögern oder wie immer Sie dies nennen wollen. Insoweit, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist dieser Halbsatz zweifelsohne zu begrüßen. Sollte — ich kann mir dies nicht vorstellen — mit diesem Halbsatz gemeint sein, daß es Ziel der sowjetischen Politik sei, den Prozeß der inneren und äußeren Sicherheit zu entkoppeln, dann wäre dies allerdings eine fatale Entwicklung. Ich glaube aber nicht, daß dies Ziel der sowjetischen Politik ist. Sollte sie es sein, dann muß deutlich unterstrichen werden: Unser Interesse war und ist, daß beide Prozesse gemeinsam geführt werden und daß wir die innere Einheit zugleich mindestens mit dem Gewinn der äußeren Einheit erreichen. Ziel der Gespräche muß die Ablösung der alliierten Vorbehalte und der Gewinn der vollen Souveränität für Deutschland, die wir verantwortlich nutzen wollen, sein.
Der Außenminister hat eben erklärt, ein geeintes Deutschland dürfe nicht mit Fragen belastet werden, die dort noch Offenheiten zuließen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, daß es sinnvoll, richtig und notwendig sowie unser Ziel sein muß



Dr. Hornhues
— wir fordern die Bundesregierung auf, in diesem Sinne daran festzuhalten und darauf hinzuwirken —, daß mit dem Erreichen der deutschen Einheit auch die damit zusammenhängenden äußeren Fragen gelöst sind. Dies heißt für uns im Kern, daß wir auf den Weg, die Einheit über Art. 23 zu gewinnen, Mitglied der NATO sind und Mitglied der NATO bleiben möchten. Daß auch Sie in der SPD es nunmehr für sinnvoll halten, daß Deutschland in der NATO bleibt, begrüßen wir. Wir werden auch in der NATO bleiben.
Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als gäbe es unüberbrückbare Gegensätze. Wenn man aber die Entwicklungslinien, die sich anbahnen, durchzieht, wenn man die Diskussionen über neue Strukturen, Konzepte und Überlegungen in der NATO berücksichtigt — auch Überlegungen, wie sie etwa der Bundeskanzler zur Eröffnung der KSZE-Konferenz in Bonn ausgeführt hat, über KSZE-Strukturen und neue Strukturen im Zusammenhang mit Abrüstung — und wenn man das genau liest, was der sowjetische Außenminister in Bonn gesagt hat, dann sieht man, daß es kein klares, unkonditioniertes Njet zur NATO-Mitgliedschaft Deutschlands war, sondern er hat bereits die Punkte berührt, bei denen Kompromisse gefunden werden müssen.
Für uns ist klar — ich glaube, es wird auch für die Sowjetunion akzeptabel sein können — , daß Gesamtdeutschland Teil der NATO ist, einer NATO, die sich weiterentwickeln wird, wie es der amerikanische Präsident formuliert hat. Er hat gesagt: Die NATO wird künftig der Eckstein einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur sein, die die Sicherheitsinteressen aller, also auch der Sowjetunion, mit umfaßt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe diese Punkte kurz angesprochen, um deutlich zu machen — so mancher Zweifler meint, es sei alles nicht lösbar, es sei so schwierig, und es sei sinnvoll, zu verschieben und zuzuwarten — , daß ich die Probleme am Anfang der Verhandlungen von Zwei plus Vier für nicht gering halte. Aber ich halte die Probleme für lösbar. Ich habe nämlich den Eindruck, daß die Beteiligten entschlossen sind, die Fragen zu lösen. Nichts ist bei Verhandlungen wichtiger, als wenn man das Gefühl und die Gewißheit hat und haben kann, daß diejenigen, die dort zusammengekommen sind, die Probleme lösen wollen. Dies ist eine der Kernvoraussetzungen dafür, daß man auf Erfolg hoffen darf.
Ich bin sicher, daß wir, getragen von dem Willen, die Probleme zu lösen, und zwar so, daß im Herbst Helsinki erreicht werden kann, Lösungen erreichen werden, die unsere Interessen berücksichtigen, wie ich sie angedeutet habe, die aber auch die Interessenlagen anderer einbeziehen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stehen am Anfang von Verhandlungen. Bei manchen Diskussionen der letzten Tage hatte ich den Eindruck, daß Sie nicht mehr genau wußten, wo oben, unten, hinten und vorne sei. Am Anfang von Verhandlungen steht man in der Regel am Anfang, und das Ende von Verhandlungen ist in der Regel am Ende erreicht.

(Dr. Vogel [SPD]: Goldene Worte! — Voigt [Frankfurt] [SPD]: Das ist ein Satz, dem sogar wir zustimmen können!)

— Sehr gut, Herr Kollege Voigt. Ich hoffe, Sie werden mir auch zustimmen, wenn ich Ihnen sage: Deswegen ist es normal, daß am Anfang Ausgangspositionen bezogen werden

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Das ist meist am Anfang so!)

— ja, natürlich; aber ich habe den Eindruck, bei manchem, meine sehr geehrten Damen und Herren, war es gar nicht so ganz klar — , und daß am Ende dann eben das Ergebnis und der Kompromiß stehen.
Ich bin sicher, daß am Ende

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Das Ende stehen wird!)

— nein, Herr Kollege Voigt — stehen wird, daß die äußeren Fragen der deutschen Einheit in dem Sinne gelöst sind, wie es hier schon angesprochen worden ist, als Fortschritt für uns, aber eben auch als Fortschritt in Europa. So haben auch die ganzen Verhandlungen und Gespräche beim Gipfel in Dublin deutlich gemacht, daß das, was immer unser Ziel war, nämlich die deutsche Einheit in Europa zu erreichen, erreicht wird und daß der Prozeß der deutschen Einheit,

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Läuft!)

meine sehr geehrten Damen und Herren, den Prozeß des schnelleren und intensiveren Zusammenfindens Europas nicht nur im Bereich der ökonomischen und der allgemein politischen, sondern auch der sicherheitspolitischen Fragen nach vorn bringt.
Dies war immer unser Ziel, und wir freuen uns, daß dieses Ziel von anderen akzeptiert und unterstützt wird und daß manche Besorgnis, auch bei einigen unserer Freunde, die Deutschen könnten an Sonderwege denken, spätestens mit der Initiative von Helmut Kohl und François Mitterand, der EG-Integration neue Impulse zu geben, widerlegt worden ist und daß neues Vertrauen geschaffen worden ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stehen mitten in einem uns alle bewegenden Prozeß. Wir sind froh, mit Helmut Kohl einen Bundeskanzler zu haben, der trotz mancher Wirrungen und Aufgeregtheiten das Steuer ruhig in der Hand behält.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Der auch mitten im Prozeß steht!)

Wir, meine sehr geehrten Damen und Herren, werden tun, was wir können, um ihn in seinem Bemühen zu unterstützen, die Einheit Deutschlands in einem sich einenden Europa, so schnell es geht, zu erreichen.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121001000
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121001100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da der Außenminister ebensogut für die Regierung spricht wie der Kanzler, brauche ich auf die Kontroverse, die in den letzten Tagen die große Schlagzeile gemacht hat, über Entkopplung oder nationale Souveränität hier nicht mehr weiter einzugehen. Die Situation ist auch zu ernst für



Dr. Lippelt (Hannover)

Europa, als daß wir an einem solchen Stil von Politik, wie er in dieser Kontroverse seinen Niederschlag fand, auch nur das geringste Interesse haben könnten.
Was ist geschehen? Schewardnadse hat in der Tat einen überraschenden Vorschlag gemacht. Aus realpolitischer Einsicht, daß der Einigungsprozeß von der Sowjetunion nicht behindert werden kann und auch nicht soll, daß aber die Rahmenbedingungen, die hier die NATO durchsetzen will, für die Sowjetunion gar nicht verkraftbar sind, hat Schewardnadse die Entkopplung der inneren und äußeren Aspekte vorgeschlagen.
Was die Sowjetunion nicht akzeptieren kann, was sie gewiß ihrer Bevölkerung und den vielen Menschen, die sich in all der wirtschaftlichen Misere wenigstens noch daran klammern, daß es ihre historische Leistung war, den Faschismus besiegt zu haben, nicht vermitteln kann, ist, daß die NATO, formiert gegen die Sowjetunion, nun unangetastet stehenbleiben soll und, wenn auch nicht militärisch in die DDR vorrükken, die DDR aber doch politisch aufnehmen soll. Eine siegreiche NATO, ein zerfallender Warschauer Pakt — welche Reformregierung könnte dies wohl überstehen?
Statt nun aber über die innenpolitischen Gründe, die hinter dem Vorschlag von Schewardnadse stehen, nachzudenken, statt die Probleme der Sowjetunion in die eigene Politik einzubeziehen — was geschah? Die Partei, die immer beteuert hat, daß sie nicht mehr nationalistisch, sondern nur noch europäisch denkt, sie entdeckte plötzlich die Wonnen der Souveränität. Kratze am christdemokratischen Europäer, und heraus kommt der alte bornierte deutsche Nationalist! Denn natürlich hat der Außenminister recht gehabt, als er sagte, nachdem wir mehr als 40 Jahre in zwei Staaten mit eingeschränkter Souveränität gelebt hätten, sei es doch wahrhaftig keine Zumutung, so noch einige Jahre weiter in einem gemeinsamen Staat zu leben.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein solcher Zustand des Weiterlebens in beschränkter Souveränität darf und muß so lange dauern, wie es nötig ist, um nicht nur eine deutsche Einigung zustande zu bringen, sondern um das europäische Haus zu bauen.
Haben Sie von der CDU/CSU nicht immer gesagt, daß der deutsche Einigungsprozeß in den europäischen Prozeß eingebettet sein müsse? Das Problem ist nur leider: Welche Konzeption von Europa haben Sie jeweils im Kopf? — Etwa jenes Europa, dessen Politische Union der Kanzler jetzt in Dublin zusammen mit Mitterrand vorschlug und bei dem man nicht genau wußte, ob das nur eine Konzession an die Lieblingsidee des französischen Staatspräsidenten war, nachdem er soviel Verletzungen in den Anfangsstadien dieses Prozesses erlitten hatte?
Wenn dann aber eine solche Union vorgeschlagen wird, ist das auch ein politisches Konzept, ein Konzept, das gerade weil es Vorstellungen der kleineren mittel- und osteuropäischen Staaten, die sich an KSZE und Europarat knüpfen, abschneidet, mehr zur Verwirrung Gesamteuropas als zu einer Rekonstruktion Europas beiträgt.
Oder verbirgt sich da hinter einem Bild von Europa die Vorstellung, die dieser Tage besonders drastisch Vernon Walters formulierte: „Kern des europäischen Hauses ist die NATO-Mitgliedschaft?"
Die NATO ist nicht Kern des europäischen Hauses; sie ist eine zerstörerische Zumutung an jede gesamteuropäische Vorstellung.

(Beifall bei den GRÜNEN) An drei Punkten wird das deutlich.

Erstens. Der absurde Gedanke, hier modernisierte nukleare Kurzstreckenraketen zu stationieren, wird zwar endlich aufgegeben, aber an der Ausrüstung der hier stationierten alliierten Luftwaffenverbände mit nuklearen Abstandswaffen wird um so stärker festgehalten. Deshalb fordern wir heute eine eindeutige Erklärung zu diesem Punkt. Wir haben deshalb unseren Entschließungsantrag eingebracht.
Zweitens. Während der Außenminister den Verzicht auf ABC-Waffen für ein vereinigtes Deutschland postuliert, um so ein Minimum an Akzeptanz für eine weitere NATO-Mitgliedschaft zu erreichen, ruft von der Seitenlinie der NATO-Generalsekretär deutlich herein, eine Denuklearisierung Europas und auch der Bundesrepublik komme überhaupt nicht in Frage. Der spricht aber für die NATO, so wie unser Außenminister für unsere Außenpolitik.
Drittens. Es gibt zwar viel Nachdenken über die Notwendigkeit — auch Sie, Herr Hornhues, haben darüber wieder nachgedacht — , daß sich die Rolle der NATO unter den sich dramatisch verändernden Verhältnissen wandeln müsse. Wir GRÜNEN zweifeln allerdings daran, daß aus einem Instrument militärischer Politik je ein Friedensinstrument werden kann. Die Funktion der NATO ist nach dem Zerfall des Warschauer Paktes obsolet geworden. Sie garantiert allerdings etwas sehr Wichtiges: Sie garantiert aus der Sicht der USA deren Anspruch auf Mitbestimmung und Mitgestaltung der europäischen Zukunft. Und diesen Anspruch erkennen wir ausdrücklich an. Nur, gerade daraus muß dann doch folgen, daß die schlechteste Form, diesen Anspruch zu befriedigen, die Aufrechterhaltung eines Militärbündnisses ist, während das andere zerfällt. Gerade deshalb muß darüber nachgedacht werden, auf welche Art und Weise dieser Anspruch gewahrt werden kann, auf welche Art und Weise auch Deutschland in ein Sicherheitssystem eingebunden werden kann, das entstehen muß, das aufgebaut werden muß, das nun aber unseres Erachtens aus der NATO nicht entstehen kann.
Wer nicht in nationaler oder Blockborniertheit steckenbleibt, sondern die Überwindung der europäischen Spaltung will, kann Politik nicht darauf reduzieren, im Schewardnadse-Vorschlag nur ein Verhandlungspoker zu sehen, wie das in den letzten Tagen leider immer wieder zu lesen war. Es geht wahrhaftig um mehr. Es geht um eine sich dramatisch verschlechternde Lage in der Sowjetunion. Es geht darum, daß wir, sowenig wir die gerechtfertigten Ansprüche der USA auf Mitsprache in Europa bestreiten können, auch Osteuropa nicht mit einem nur westlich orien-



Dr. Lippelt (Hannover)

tierten Europa-Begriff den Rücken zuwenden können. Dazu sind wir zu tief in die Geschichte dieses Raumes verstrickt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Probleme, die der Sowjetunion aus dem berechtigten Anspruch der baltischen Länder auf Unabhängigkeit jetzt erwachsen, gehen auf den Hitler-StalinPakt zurück. Die Entwicklung in der Sowjetunion, die uns solche Sorgen macht, hat viel damit zu tun, daß eine Gesellschaft in ihrer Befreiung vom Stalinismus dadurch behindert wurde, daß ein anderes totalitäres System — das faschistische Deutschland — sie zu einem Abwehrkampf zwang, der das Regime in einem solchen Maße militarisierte, daß die Selbstbefreiung der sowjetischen Gesellschaft mehr als 70 Jahre dauerte.
Deshalb können und dürfen wir jetzt nicht in nationale Borniertheit verfallen und die große, demokratische Reformbewegung Osteuropas dadurch zerreißen, daß wir die Wohlstandsgrenze von der Elbe an die Oder verschieben. Die Kosten, die in Hunderten von Milliarden berechnet werden, erscheinen uns hier gerechtfertigt. Auf der anderen Seite aber stellt die Regierung nach zweijährigen Gesprächen und dem Durchbruch der deutsch-polnischen Beziehungen für Polen, das den schweren Weg der Transformierung des Wirtschaftssystems aus eigener Kraft gehen muß, gerade eben eine Viertelmilliarde Beteiligung an der Stabilisierungsanleihe zur Verfügung und sagt weiter zur Sowjetunion gewandt, sie sei ein so immenser Raum, sie habe so große Probleme; die müsse die Sowjetunion dann schon selbst lösen.
Die Sowjetunion hat bekanntlich immer wieder den Wunsch nach einer Synchronisierung der jetzt notwendigen Entwicklungen vorgebracht. Sie spricht von einem Friedensvertrag, von einem Helsinki II, welches die Friedenskonferenz sein könnte. Sie hat von ihrem Konzept jetzt — zumindest am Samstag — den Punkt der abschließenden völkerrechtlichen Regelung aufrecht erhalten können. Kann man dies nicht als den Wunsch verstehen, dem notwendigen Rückzug aus Mitteleuropa die Perspektive zu geben, Frieden zu erreichen — Frieden, dessen die Sowjetunion zur friedlichen Lösung ihrer inneren Probleme auch bedarf.
Aber nichts, meine Damen und Herren, fürchtet diese Bundesregierung — so wie der Teufel das Weihwasser — so sehr wie die Vokabeln Frieden und Friedensvertrag. Denn, so lautet das Argument, rühren wir um Himmelswillen nicht daran; was mögen da alles für Forderungen auf uns zukommen!
Das Tragische ist, daß diese Regierung immer nur das Falsche aus der Geschichte lernt. Denn was ihr vor Augen steht, ist natürlich Versailles, sind die damaligen Reparationsforderungen. Das läßt offensichtlich bei niemandem die ruhige Überlegung zu, was bei einem Helsinki II als Friedenskonferenz überhaupt für Forderungen kommen könnten, und von wem. Von seiten der westeuropäischen Demokratien doch nun gewiß nicht! Ich kenne keine Stimme aus diesem Raume, die so etwas befürwortet. Und auch von Osteuropa ist dies nicht zu erwarten. Das hat ja die politisch so abenteuerliche Verbindung, die der Bundeskanzler vor einiger Zeit zwischen Oder-NeißeGrenze und erneutem Reparationsverzicht Polens schlug, gezeigt.
Das einzige, wovon die Polen sprechen, ist eine Entschädigung der Zwangsarbeiter, was in ihren Augen keine Kriegsfolge, sondern Nazi-Unrecht war. Wir GRÜNEN haben hier oft genug vorgetragen, daß es bei diesem Punkt um eine symbolische Entschädigung geht, die alles in allem nicht mehr als zwei Milliarden DM kostet. Und haben nicht Sie, Herr Bundeskanzler, in Warschau die Prüfung dieser Frage versprochen? Was ist daraus geworden? Selbst wenn eine solche Regelung auch für im Gefolge des Nationalsozialismus verschleppte und erniedrigte Menschen aus der Sowjetunion gefunden würde: welch ein Schritt zu einer Versöhnung für einen Neubau Europas!
Wichtig ist doch dieses: Die deutsche Vereinigung, eingebettet in die Wiedervereinigung Europas, kann nicht nur ein Vorgang des Machtpokers sein, kann nicht nach Bismarckschem Modell ablaufen. Sie kann nur wirklich gelingen, wenn man sie in ihrer ganzen historischen Tiefe und in ihrem moralischen Gewicht versteht. Das Element der damit verbundenen Aussöhnung zwischen den Völkern und Gesellschaften müssen wir hier einklagen. Eine schriftliche Fixierung einer europäischen Friedensordnung würde dem Vorgang der Vereinigung genau diese historische Tiefe geben. Eben dann müßten zusammenkommen: Grenzfragen, Sicherheitsfrage, Fragen der ökonomischen Kooperation, nicht nur von Westeuropa her organisiert, sondern so, wie es der polnische Außenminister Skubiszewski mit dem Vorschlag der Einrichtung eines Europäischen Ökonomischen Rates gedacht hat, oder, wie als Forderung von sowjetischer Seite zu hören, als Institutionalisierung auch der Diskussion über die europäische wirtschaftliche Kooperation.
Hinzukommen muß der große Entwurf eines ÖkoMarshall-Plans für Osteuropa. Man sage nicht, wir könnten das nicht leisten. Der Wissenschaftliche Dienst dieses Hauses hat vor zwei Monaten eine Zusammenstellung über die jährlichen militärischen Ausgaben der Pakte vorgelegt. Er ist auf die schlimme Summe von 1 Billion DM gekommen: jährlich 650 Milliarden DM im Westen und 350 Milliarden DM im Osten. Da ist doch wohl Raum für eine Friedensdividende. Das Problem bei dem Schritt-für-SchrittHerangehen, wie es über die NATO läuft, ist doch gerade, daß eine solche Dividende verzehrt wird, weil man eben nur langsam vorangeht, weil man Verträge ablösen muß, weil man Konversion finanzieren muß. Genau dann kommt sie nicht. Wir brauchen einen großen dramatischen, mutigen Schritt.
Die europäische Diplomatie früherer Jahrhunderte kannte den Unterschied zwischen dem Präliminarfrieden und dem Friedenskongreß. Oder wie Skubiszewski es jetzt bei seiner Forderung nach einem Grenzvertrag immer wieder betont hat: nicht peace treaty, wohl aber peace settlement. Wir sollten alles tun, um die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zur Vorbereitung eines europäischen peace settlements im Rahmen der KSZE-Konferenz zu nutzen; dies bedeutet nicht nur die Durchsetzung nationaler Interessen im Sinne nationaler Vereinigung, gegen die wir ja gar



Dr. Lippelt (Hannover)

nicht sind, sondern endlich die Vision, Frieden durch ein peace settlement zu schaffen, das auch Konzeptionen für die Sowjetunion enthält und bei dem wir vielleicht vermeiden, daß wir unseren Wohlstand gerade noch bis zur Oder hinübergeben, aber jenseits Europa im Chaos versinkt. Das geht nicht. Darum geht es und nicht um das überholte Konzept nationaler Souveränität, von dem wir aus dem Kreise der CDU-Fraktion in den letzten Tagen so unangenehm viel gehört haben.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121001200
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1121001300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will an das Schlußwort des Kollegen Hornhues anknüpfen und sagen: Wir Freien Demokraten — und wie ich hoffe, alle Kollegen in diesem Hause — sind dem Herrn Bundeskanzler dankbar für die große Weisheit und Souveränität, das Steuerruder auf diesem schwierigen Weg außenpolitischer Verhandlungen weiterhin dem bewährten Steuermann Hans-Dietrich Genscher zu überlassen.

(Beifall bei der FDP — Voigt [Frankfurt] [SPD]: Das ist doch kein Gnadenakt! Wie kann ein Liberaler sich so demütigen lassen!)

Das deutsche Volk kann 41 Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes den Auftrag der Präambel erfüllen, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
Das Verhandlungskonzept, das die Außenminister der Vier Mächte und der beiden deutschen Staaten in Ottawa auf Vorschlag von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher festgelegt haben, hat sich als erfolgreich erwiesen. Was noch vor wenigen Wochen wie eine Utopie wirkte, wird Zug um Zug Realität. Die beiden deutschen Staaten sind in den Verhandlungen über die innerstaatlichen Voraussetzungen der deutschen Einheit weit fortgeschritten. Der Staatsvertrag über die Währungsunion und die Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft kann zum 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten.
Der Staatsvertrag wird von allen Deutschen zunächst Opfer verlangen. Mittelfristig wird er allerdings reichen Gewinn eintragen, in der Bundesrepublik und in der DDR.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dieser Staatsvertrag ist ein faires Angebot an die Bürger der DDR. Bei der Festlegung der Umrechungskurse mußten soziale, gesamtwirtschaftliche und währungspolitische Aspekte in Einklang gebracht werden. Die vereinbarte Lösung gewährleistet die Stabilität der gemeinsamen Währung. Viele Unternehmen in der DDR stehen vor einer schwierigen Umstrukturierung. Die Höhe der Löhne und Gehälter hängt letztlich nicht von den festgelegten Umrechnungskursen ab, sondern von den Vereinbarungen der Sozialpartner, die nun auf Betriebsebene prüfen müssen, welche Kosten das einzelne Unternehmen
tragen kann. Dies ist auch eine Aufforderung an die Gewerkschaften zu entsprechendem Verhalten.
Die Renten sind auch in der DDR sicher, und sie werden in Zukunft in D-Mark ausbezahlt.
Die SPD (Ost), unterstützt von der SPD (West), wie ich jetzt in Berlin gehört habe, meint, sich durch unrealistische Nachforderungen zu dem Verhandlungsergebnis der beiden Regierungen aus der Verantwortung stehlen zu können. Man kann nicht zugleich Regierung und Opposition sein, Herr Vogel. Für die Opposition ist es leicht, Forderungen zu stellen, von denen sie weiß, daß sie sie nicht erfüllen muß. Die SPD (Ost) trägt Regierungsverantwortung. Wer jetzt durch wahltaktische Überlegungen die Einheit Deutschlands verzögert, vertut eine historische Chance.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der Staatsvertrag muß die Einführung der Marktwirtschaft in der DDR sicherstellen. Die Regierungserklärung von Ministerpräsident de Maizière ist in dieser Hinsicht in manchen Punkten nicht akzeptabel, etwa in der Frage des Eigentums, in der Frage der Subventionen bei Wohnungen und Energie. So kann man Marktwirtschaft nicht in Gang setzen.

(Beifall bei der FDP)

Bundestag und Bundesrat werden in den nächsten Wochen über den Staatsvertrag beraten. Der Bundesrat wird, wie ich gerade höre, am 22. Mai 1990 eine erste Sitzung abhalten. Der Bundestag wird am 23. Mai folgen. In diesen Beratungen sind Kompromißbereitschaft, Verantwortungsbewußtsein und Solidarität gefragt. Es wird sich zeigen, was die vielfältigen und vielseitigen Bekenntnisse zur deutschen Einheit wert sind. Ich hoffe, daß sich die Bereitschaft zum Konsens, die am 13. Februar 1990 den einmütigen Beschluß des innerdeutschen Ausschusses zur deutschen Einheit ermöglichte, auch bei dieser Beratung bewähren wird.
Das erste Treffen der Vier Mächte und der beiden deutschen Staaten am 5. Mai 1990 in Bonn ist eine ermutigende Botschaft für die Deutschen in Ost und West. Alle Beteiligten sind sich einig, daß sich der deutsche Vereinigungsprozeß vollziehen kann und daß ihm keine zeitlichen Schranken in den Weg gelegt werden. Die deutsche Einheit liegt in deutschen Händen.
In den kommenden Zwei-plus-vier-Treffen wird an den außen- und sicherheitspolitischen Fragen der deutschen Einheit, entsprechend dem vereinbarten Verhandlungsplan, zügig, aber — ich betone — behutsam und mit Augenmaß weitergearbeitet. Die Überwindung der deutschen Teilung wird der Stabilität und der Sicherheit in Europa dienen. Sie ist damit Teil einer Friedenspolitik für ganz Europa. Wir werden uns mit allem Nachdruck dafür einsetzen, daß der Prozeß der Abrüstung und Vertrauensbildung in Europa weitere Fortschritte macht, auch im Interesse der deutschen Einheit.
Im Zuge der Zusammenführung der beiden deutschen Staaten wird die Endgültigkeit der heutigen Westgrenze Polens, die in ihrer Substanz unwiderruflich feststeht, auch die nötige völkerrechtlich verbindliche Vertragsform erhalten.



Dr. Solms
Einer der Grundpfeiler der Politik der Bundesrepublik Deutschland ist die Integration in die Europäische Gemeinschaft und in das westliche Bündnis. Die Zusammenführung b eider Teile Deutschlands bedeutet, daß das Territorium der DDR mit allen politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Konsequenzen Teil der Europäischen Gemeinschaft wird.
Der irische Premierminister hat als Präsident des Sondergipfels der EG in Dublin zum Abschluß der Beratungen erklärt — ich zitiere —:
Wir freuen uns, daß die Vereinigung Deutschlands unter einem europäischen Dach stattfindet. Die Gemeinschaft wird dafür Sorge tragen, daß die Eingliederung des Staatsgebiets der Deutschen Demokratischen Republik in die Gemeinschaft reibungslos und harmonisch vollzogen wird.
Dem kann ich nur hinzufügen: Die Deutschen werden gute Europäer sein und bleiben.
Der Teil Deutschlands, der in der NATO ist, muß weiter in der NATO bleiben. Andererseits halten wir daran fest, daß NATO-Strukturen nicht nach Osten ausgedehnt werden dürfen. Ein vereintes Deutschland muß die Souveränität haben, alle Rechte in Anspruch zu nehmen, die nach der Schlußakte von Helsinki auch allen anderen Staaten zustehen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dazu gehört auch die Frage, welchem Bündnis es angehören möchte. Ein vereinigtes Deutschland muß im Interesse der Stabilität in Europa insgesamt Mitglied des westlichen Bündnisses bleiben.
Die KSZE-Gipfelkonferenz im Herbst dieses Jahres wird Ausgangspunkt eines neuen Kapitels europäischer Geschichte sein: Erstens. Das Ergebnis der ersten Verhandlungsrunde über konventionelle Abrüstung wird unterzeichnet. Zweitens. Das Verhandlungsmandat für neue, weiterreichende Abrüstungsverhandlungen wird erteilt, und — drittens — die vier Mächte und die beiden deutschen Staaten werden dem Gipfel der 35 KSZE-Staaten zu den äußeren Aspekten der deutschen Einheit ein Ergebnis präsentieren, das in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Schlußakte von Helsinki steht und das als Stabilitätsgewinn für das ganze Europa empfunden wird.
Die Sowjetunion wird durch die deutsche Vereinigung und den KSZE-Prozeß erhebliche Vorteile auch für sich erkennen.

(Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es!)

Beide deutschen Staaten wissen, daß auch für ein vereinigtes Deutschland das deutschsowjetische Verhältnis von zentraler Bedeutung ist.
Es liegt im vitalen deutschen Interesse, den Zeitplan zur deutschen Einheit einzuhalten. Die inneren Voraussetzungen der deutschen Einheit sind nach dem Inkrafttreten des Staatsvertrages am 1. Juli 1990 hergestellt. Eine Verständigung über die äußeren Aspekte der deutschen Vereinigung muß bis zum KSZE-Gipfel im Herbst dieses Jahres erreicht sein.
Es besteht Grund zu Optimismus, daß dieser Zeitplan eingehalten werden kann. Damit wären die Voraussetzungen dafür geschaffen, die gesamtdeutschen
Wahlen noch in diesem Jahr oder zu Beginn des nächsten Jahres durchzuführen. Die Menschen hier wie drüben erwarten Sicherheit und Klarheit; das gilt auch für unsere europäischen Nachbarn und Verbündeten. Wer weiter zögert, setzt alles aufs Spiel.

(Beifall bei der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der 1922 einem Attentat zum Opfer gefallene liberale Reichsaußenminister Walther Rathenau hat damals schon vorhergesagt — ich zitiere — :
Die Wasser der Weltgeschichte
fließen unablässig hinab zum Tale,
das da Freiheit heißt.
Sie lassen sich durch nichts umkehren, höchstens aufhalten.
Doch überlange Stauung bricht die Dämme.
Er hat recht behalten. Nach 70 Jahren zeigt es sich: Die Dämme sind gebrochen;

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Draußen regnet es schon!)

das Tal der Freiheit steht für alle Deutschen offen. Sputen wir uns nun, das Werk der Einheit in Freiheit für alle Deutschen zu vollenden, bevor andere beginnen, die Dämme wieder aufzurichten. Wer heute zögert oder verzögert, der schadet Deutschland und Europa.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121001400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Ehmke.

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID1121001500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Zwei-plus-Vier-Treffen der Außenminister in Bonn am 5. Mai hat der Prozeß der Abstimmung über die äußeren Aspekte der deutschen Einheit in bemerkenswerter Weise begonnen. Die Position der Bundesregierung, schon bis zum Herbst dieses Jahres die äußeren Aspekte der deutschen Einheit abschließend regeln und die Vorbehaltsrechte der Siegermächte vollständig ablösen zu können, hat sich als unrealistisch erwiesen.
Uns Sozialdemokraten überrascht das nicht. Wir haben nie angenommen, daß die Sowjetunion ihre Vorbehaltsrechte in bezug auf Deutschland aufgeben werde, ohne daß über den zukünftigen Platz eines vereinten Deutschlands in einer neuen europäischen Ordnung Klarheit geschaffen worden ist. Das triumphale Geschwätz, der Schlüssel zur deutschen Einheit liege nicht mehr in Moskau, sondern in Bonn, haben wir darum nicht nur als töricht, sondern als verantwortungslos angesehen.
Wir sind in unserem Positionspapier zu diesen Verhandlungen realistischerweise von einem schrittweisen Abbau der Vorbehaltsrechte ausgegangen. Dies macht es uns vielleicht leichter als den Koalitionsparteien, die nun auch in diesem Punkt zerstritten sind, den sowjetischen Vorschlag sine ira et studio auf seine Vor- und Nachteile abzuklopfen, wobei festgehalten werden muß, daß der Vorschlag insgesamt sehr vage gehalten ist.



Dr. Ehmke (Bonn)

Den möglichen Vorteil dieses Vorschlags hat der Bundesaußenminister besonders hervorgehoben: Der Weg zur staatsrechtlichen Einheit Deutschlands scheint nach sowjetischen Vorstellungen offen zu sein, noch bevor all die komplizierten äußeren Aspekte der deutschen Einheit endgültig geregelt sind. Der mögliche Nachteil liegt ebenso auf der Hand: Auch ein vereintes Deutschland würde für eine Übergangszeit alliierten Vorbehaltsrechten einschließlich der Truppenstationierung unterliegen.
Bevor ich auf die verschiedenen Aspekte des sowjetischen Vorschlags eingehe — der Herr Bundesaußenminister und der Herr Bundeskanzler haben diese Frage ja heute eher ausgeklammert —, möchte ich an zweierlei erinnern. In der Bundesregierung wie im westlichen Bündnis ist unstrittig, daß bei der Neuregelung der deutschen und der europäischen Fragen die außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Interessen der Sowjetunion berücksichtigt und mit den Interessen anderer zum Ausgleich gebracht werden müssen. Der sowjetische Außenminister hat beim Bonner Treffen in geradezu überraschender Weise unterstrichen, daß dies in bezug auf die deutsche Frage für die Sowjetunion nicht nur eine Frage der außenpolitischen, sondern auch der innenpolitischen Situation ist. Die Völker der Sowjetunion können ihre 26 Millionen Toten des Hitler-Kriegs nicht vergessen, und wir dürfen sie nicht vergessen.

(Beifall bei der SPD)

Zum zweiten möchte ich daran erinnern, daß selbst der zeitlich unrealistische Plan der Bundesregierung — der Außenminister hat darauf hingewiesen — die weitere Stationierung sowjetischer Truppen auf dem ehemaligen Gebiet der DDR vorgesehen hat. Es wäre daher töricht, den sowjetischen Vorschlag blind abzulehnen, statt ihn auch auf seine positiven Möglichkeiten hin anzusehen.
Zunächst ist allerdings auch gegenüber der Sowjetunion folgendes zu betonen: In Europa kann es heute nicht darum gehen, politisch überholte Block- und Bündnisstrukturen mit ihren Verpflichtungen und Abhängigkeiten — sei es nun einseitig oder zweiseitig — künstlich am Leben zu erhalten.

(Beifall bei der SPD)

Das kann nicht funktionieren, zumal die militärische Auflösung des Warschauer Paktes unaufhaltsam fortgeht.
Nein, es geht heute darum, von der Konfrontation der Blöcke zu einem europäischen Sicherheitssystem als Teil einer europäischen Friedensordnung zu kommen. In diesem Sicherheitssystem wird auch ein vereintes Deutschland Bindungen unterliegen, die einen Souveränitätsverzicht darstellen. Solche Bindungen dürfen aber nicht im Blick auf die deutsche Vergangenheit, sie müssen mit Blick auf die europäische Zukunft formuliert werden, d. h., sie müssen für alle Mitgliedstaaten dieses Sicherheitssystems gelten. Nur so kann vermieden werden, daß diese Bindungen — ähnlich wie einst der Versailler Vertrag — nationalistische Ressentiments in unserem Volk auslösen, was dem europäischen Einigungsprozeß nur schaden könnte.
Im Lichte dieser Überlegungen halte ich es daher für wenig glücklich, daß der sowjetische Außenminister für die Entwicklung eines Europäischen Zentrums gegen Kriegsgefahr und Krisenerscheinungen auf die in Deutschland noch bestehenden alliierten Strukturen zurückgreifen und die Kontrolltätigkeit eines solchen Zentrums — jedenfalls zunächst — auf deutsches Territorium beschränken will. Ich bin der Meinung, europäische Sicherheitsstrukturen der Zukunft können nicht alliiert, sie können nur wahrhaft europäisch sein.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

Die Vorschläge der Sozialdemokraten dazu liegen auf dem Tisch.
Auf der anderen Seite darf, zumal die Notwendigkeit einer Übergangslösung bei einer vorgezogenen deutschen Einigung unter uns ganz unbestritten ist, auch die Idee eines stufenweisen Abbaus der Vorbehaltsrechte nicht einfach verworfen werden. Dem Bundeskanzler möchte ich sagen: Diese Einsicht sollten besonders diejenigen beherzen, die — aus welchen Gründen auch immer — meinen, bei der Herstellung der staatsrechtlichen Einheit Deutschlands sei Eile geboten.
Die sowjetische Aussage, die Aufgabe der Rechte der vier Mächte solle der letzte Schritt der „deutschen Regelung" sein, ist allerdings in mehrfacher Hinsicht unklar. Ist dabei von einer Vereinbarung die Rede, die nicht nur den Übergang, sondern auch die Grundzüge des zukünftigen europäischen Sicherheitssystems regelt und der für Deutschland ein friedensvertraglicher Charakter zukommen soll, oder ist der vollständige völkerrechtliche Ausbau einer europäischen Friedensordnung gemeint? Unseres Erachtens kann nur die erste Alternative in Frage kommen.
Sodann sollte klargestellt werden, daß in dem Prozeß keine Vorbehaltsrechte aufrechterhalten werden, die durch den Prozeß selber obsolet geworden sind. Das würde z. B. bei einer völkerrechtlichen Anerkennung der Grenzen eines vereinten Deutschlands, vor allem der polnischen Westgrenze — der Kollege Vogel hat darüber schon gesprochen — , für die Grenzfragen gelten. Was sollen, wenn das geregelt ist, Vorbehaltsrechte?

(Beifall bei der SPD)

Wenn wir die staatsrechtliche Einheit vollziehen, was sollen dann noch Vorbehaltsrechte zu dieser Frage? Das könnte übrigens auch für Berlin gelten, Herr Bundesaußenminister, wenn die Präsenz der vier Mächte in Berlin, die wir im Zusammenhang mit der weiteren Präsenz sowjetischer Truppen auf DDR-Territorium sehen müssen, für die Übergangszeit auf vertraglicher Basis fortgesetzt würde. Dies alles muß Zug um Zug abgebaut werden; das braucht nicht bis zum Ende zu warten.
Darüber hinaus muß dann festgelegt werden, daß am Ende der Übergangszeit in das neue System auch der Rest der Vorbehaltsrechte vollständig abgelöst wird.

(Beifall bei der SPD)




Dr. Ehmke (Bonn)

Der Übergang muß exakt befristet sein, und die Übergangsfrist darf nicht länger sein, als es für die Lösung der dann noch verbliebenen äußeren Aspekte unbedingt erforderlich ist. Wir sollten uns doch in einem einig sein: Ein sich in unbestimmter Weise und auf unbestimmte Zeit verlängerndes Provisorium, das Deutschland singularisieren und die Schaffung einer europäischen Friedensordnung eher aufhalten als fördern würde, kann in niemandes Interesse liegen.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: So ist es!)

Wir müssen allerdings auch selbst, Herr Kollege Dregger, Vorschläge zu einer Übergangsregelung und zur Entwicklung einer neuen Ordnung einbringen. Was zunächst die Bündniszugehörigkeit eines vereinten Deutschlands betrifft, so sollten wir uns alle eingestehen: Beim Zusammenwachsen zweier Staaten, die gegensätzlichen Bündnissen angehören, kann es keine glatte Lösung geben. Es gibt keine glatte Lösung!
Die Frage der juristischen Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands in der NATO verliert z. B. an politischer Bedeutung, wenn man sich darüber einig ist, daß die militärische Struktur der NATO auf keinen Fall nach Osten vorgeschoben werden darf. Auch für Umfang, Art und Status deutscher Streitkräfte auf dem Gebiet der heutigen DDR muß es praktische Lösungen geben, eine praktische Verständigung, mit der alle Beteiligten für eine Übergangszeit leben können.
Zugleich müssen sich die Bündnisse in ihrem Charakter ändern: weg von der Konfrontation der Blöcke hin zu Bausteinen für ein europäisches Sicherheitssystem.

(Dr. Vogel [SPD]: Richtig!)

Verbal besteht darüber Übereinstimmung. Aber Herr Bundeskanzler — vielleicht sagen Sie es auch dem Kollegen Stoltenberg — , der kommende NATO-Gipfel wird zu zeigen haben, ob die NATO auch praktisch die Kraft zu dieser Änderung hat.
Präsident Mitterrand hat am 25. März erklärt: „Formen und Inhalt der NATO werden jetzt grundlegend geändert, einschließlich der Strategie der sogenannten ,abgestuften Antwort'." In der Tat: Es geht um die Ablösung der Strategie der flexiblen Antwort einschließlich der Doktrin des nuklearen Erstschlags.

(Dr. Vogel [SPD]: Richtig!)

Wir müssen wegkommen — das sei auch Herrn Wörner gesagt — von einer Doktrin der Vorneverteidigung, bei der heute kein Mensch mehr sagen kann, wo vorne ist.

(Beifall bei der SPD)

Der Plan der NATO, in dieser Situation neue luftgestützte Nuklearraketen einzuführen, die die Sowjetunion erreichen können, ist das genaue Gegenteil von dem, was die NATO jetzt leisten muß.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Sie muß mitwirken und es als ihre Hauptaufgabe verstehen, die Abrüstung in Europa und die Überleitung der Blöcke in ein europäisches Sicherheitssystem zu organisieren.
Hier möchte ich eine Fußnote anbringen, Herr Außenminister. Ich fände es gut, wenn, bevor es ein Wahlkampfthema wird, die Bundesregierung — und zwar beide Teile, auch die Koalition — klipp und klar erklären würde, daß für sie wie für uns gilt, daß die Einführung neuer luftgestützter Nuklearwaffen nicht in Frage kommt.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wüppesahl [fraktionslos] und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Wir haben kein Interesse daran, den jahrelangen Streit über Kurzstreckenraketen, der jetzt in unserem Sinne entschieden ist, zu wiederholen. Wir haben alle auch nicht so viel Zeit. Es gibt bis jetzt dazu keine Stellungnahme der Bundesregierung. Wir möchten so früh wie möglich Klarheit.

(Dr. Vogel [SPD]: So ist es!)

Mit dem Umbau der Bündnisse muß der institutionelle Ausbau der KSZE, der die Vereinigten Staaten und Kanada ebenso angehören wie die Sowjetunion, Hand in Hand gehen. Wir müssen Bausteine für ein System der europäischen Sicherheit schaffen, in dem die Blöcke schließlich aufgehen.
Zugleich müssen wir uns über die Rolle der angestrebten Europäischen Union und später der Vereinigten Staaten von Europa in einem Europäischen Sicherheitssystem verständigen. Keiner von uns hat eine feste Meinung. Wir hatten uns inzwischen verständigt — das hatten wir an der Frage der Neutralität Österreichs diskutiert — , es wäre besser, der EG keine militärischen Funktionen zu geben. Wenn wir jetzt in die Europäische Union gehen, muß diese Frage neu erörtert werden. Es liegt ein Vorschlag von Jacques Delors wenn nicht auf dem Tisch, so doch in den Schubladen.
Die Wiener Abrüstungsverhandlungen müssen beschleunigt und, wie nun auch der amerikanische Präsident vorgeschlagen hat, um Verhandlungen über eine dritte Null-Lösung für taktische Nuklearwaffen ergänzt werden. Hier liegt, Herr Bundeskanzler, und das sage ich auch dem Kollegen Meckel — über die gute Zusammenarbeit zwischen Ihnen beiden, Herr Genscher, freuen wir uns natürlich, besonders auch auf dem Hintergrund früherer guter sozialliberaler Zusammenarbeit — eine besondere Verantwortung der beiden deutschen Staaten.

(Zurufe von der CDU/CSU: Nostalgie!)

— Keine Sorge, wir kommen schon wieder dazu.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Aber wann!)

Ich sage noch einmal: Wir sind der Meinung, schon in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen müssen die deutschen Regierungen die Halbierung der deutschen Streitkräfte in der Wien-II-Runde anbieten. Ich halte das für ganz zentral.

(Beifall bei der SPD)

Die Regierung ziert sich. Vor allem der Verteidigungsminister ist da mit mehr kosmetischen Operationen beschäftigt.
Ich empfehle Ihnen zu lesen, was der amerikanische Senator Nunn in der vorigen Woche im amerikanischen Kongreß vorgeschlagen hat. Er möchte, daß die



Dr. Ehmke (Bonn)

Amerikaner in Europa nicht auf 225 000 Mann heruntergehen, sondern auf 75 000 bis 100 000, so sein Vorschlag an den Kongreß. Er möchte weiter, daß diese verbleibenden amerikanischen Streitkräfte in einer Art Aufnahmestruktur organisiert werden. Sie sind also nur dazu da, präsent zu sein, wenn man etwa zusätzliche Streitkräfte wieder hereinbringen muß. Er hat dazu eine bemerkenswerte Äußerung gemacht, wie sehr es nämlich für den Aufbau einer solchen Struktur auf französische Kooperationsbereitschaft ankomme.
Zugleich mit einem verbindlichen Reduzierungsangebot von seiten der beiden deutschen Staaten sollten beide erklären — ich hoffe, das ist zwischen uns unstrittig —, daß auch ein vereintes Deutschland auf den Besitz, die Produktion und die Verfügung über A-, Bund C-Waffen verzichten wird. Dieser Verzicht ist kein schmerzlicher Verzicht. In der Familie der Völker gereicht ein solcher Verzicht der Bundesrepublik zur Ehre.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Bei dem Versuch, mit unseren europäischen Nachbarn und insbesondere mit der Sowjetunion zu einem tragfähigen Interessenausgleich zu kommen, dürfen wir die wirtschaftlichen Interessen im Vergleich mit den von mir behandelten militärischen Aspekten nicht gering einschätzen. Das gilt keineswegs nur — Herr Bundesaußenminister, da sind wir uns sicher einig — für die Frage der Erfüllung der Verpflichtungen, die für die DDR gegenüber der Sowjetunion und Osteuropa bestehen. Die Frage des wirtschaftlichen Interessenausgleichs geht weit über diese Frage hinaus. Da gibt es eine Fülle von Schwierigkeiten. Aber wir sind uns sicher auch darin einig: Es besteht gerade auch bei Vorschlägen auf diesem Gebiet eine große Chance, die Entwicklung in eine Richtung zu befördern, wie wir sie anstreben.
Politisch geht es darum — damit komme ich zum Ausgangspunkt zurück — , Zug um Zug mit dem stufenweisen Abbau von Vorbehaltsrechten über Deutschland die Mitsprache und Mitwirkung der Sowjetunion bei der Schaffung einer neuen europäischen Friedensordnung anzuerkennen. Das ist der politische Kern des Vorgangs.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Ich mache kein Hehl daraus: Das ist um so wichtiger, als sich die Sowjetunion und Präsident Gorbatschow im Augenblick in großen innenpolitischen Schwierigkeiten befinden. Der Bundesrepublik kommt — wie der DDR — bei diesem europäischen Ausgleich eine ungewöhnliche Verantwortung zu. Heißt es doch in der deutsch-sowjetischen Erklärung vom 13. Juni vergangenen Jahres, die der Bundesaußenminister schon zitiert hat:
Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion sind sich angesichts der europäischen Geschichte und der Lage Europas in der Welt sowie angesichts des Gewichts, das jede Seite in ihrem Bündnis hat, bewußt, daß eine positive Entwicklung ihres Verhältnisses zueinander für die Lage
in Europa wie für das Ost-West-Verhältnis zentrale Bedeutung hat.
Was damals von der Regierung Kohl/Genscher für dieses Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion festgeschrieben worden ist, wird erst recht — das sollten wir auch bei der nüchternen und ruhigen Prüfung des sowjetischen Vorschlages im Zwei-plus-Vier-Rahmen nicht vergessen — für das Verhältnis eines vereinten Deutschlands zur Sowjetunion gelten müssen. In diesem Geiste sollten wir darum in dem in Ottawa geschaffenen Rahmen nun in die weiteren Verhandlungen und Erörterungen mit der sowjetischen Seite gehen.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] und des Abg. Wüppesahl [fraktionslos])


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121001600
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Geiger.

Michaela Geiger (CSU):
Rede ID: ID1121001700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Bilanz, die der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister heute gezogen haben, können wir Deutschen zufrieden sein. Es ist ein Fahrplan in die deutsche Einheit, wie wir ihn uns noch vor einem Jahr nicht hätten vorstellen können. Besonders dem Bundeskanzler und dem Bundesaußenminister, die in den letzten Wochen wirklich ganz Großes geleistet haben und die eine ungeheure, fast übermenschliche Leistung gebracht haben, möchte ich im Namen meiner Fraktion ganz, ganz herzlich danken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle wissen, daß noch eine gute Strecke Wegs vor uns liegt, bis wir das Ziel der deutschen Einheit mit ihrer Einbettung in eine dauerhafte europäische Friedensordnung erreicht haben. Die richtige Richtung ist jetzt allerdings eingeschlagen, auch wenn wir heute noch nicht jede Einzelheit klar erkennen können. Als am 9. November 1989 in Berlin die Mauer fiel, hat sich die ganze freie Welt an den Fernsehschirmen mit uns gefreut. Für viele Beobachter und Freunde kam dieses Ereignis aber so überraschend, daß auch viele Fragen gestellt, Zweifel geäußert und mit Sorge in die deutsche Vergangenheit geblickt wurde. Heute, nach Dublin und nach den Bonner Zwei-plus-Vier-Verhandlungen können wir mit Genugtuung feststellen, daß die allermeisten Zweifel ausgeräumt sind. Es ist uns gelungen, unsere Nachbarn in Ost und West davon zu überzeugen, daß der deutsche Einigungsprozeß nicht nur unaufhaltsam ist, sondern daß er ein Gewinn für alle Völker Europas ist.
Das gilt auch und in besonderem Maße für das Verhältnis zu Polen. Hier hat es in den letzten Monaten unnötige Aufregungen in der Grenzfrage gegeben, teilweise auch in unverantwortlicher Weise geschürt von so manchem aus der Opposition.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Schlesierverband und Bundeskanzler!)




Frau Geiger
Es war, Herr Professor Ehmke, jedoch von vornherein klar, daß wir weder Grenzen verschieben noch Menschen aus ihren gegenwärtigen Wohnsitzen vertreiben wollten.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Ich schicke dir mal die CSU-Beschlüsse zu!)

Es war auch klar, daß mit der Verwirklichung der deutschen Einheit das Grenzproblem definitiv gelöst würde. Man sollte aber auf der anderen Seite auch mehr Verständnis für diejenigen unter uns haben, für die der Verzicht auf diese seit über 700 Jahren deutschen Gebiete ein großes Opfer bedeutet.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Dieses Opfer würde leichter fallen, wenn auch das Unrecht der Vertreibung von der polnischen Seite als solches anerkannt und bedauert würde.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Wie oft ist das schon geschehen!)

Es würde leichter fallen, wenn endlich die Volksgruppenrechte voll anerkannt würden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich begrüße es daher, daß aus Polen in jüngster Zeit nachdenklichere Äußerungen zu hören waren. Das erhöht die Chancen der Aussöhnung, die beide Völker so dringend brauchen. Daß wir allen eventuellen Ansprüchen über die verlorenen Gebiete hinaus ein klares Nein entgegensetzen werden, versteht sich wohl von selbst.
Denjenigen unserer Freunde und Partner, die noch Sorge haben, sagen wir: Die deutsche Einheit schafft keine neuen schwerwiegenden Probleme für Stabilität und Frieden in Europa, im Gegenteil: Sie löst ein altes, lange Jahre hindurch schmerzlich empfundenes Problem, nämlich die Teilung Europas. Es ist nun einmal so, daß die Überwindung der Teilung Europas die Überwindung der deutschen Teilung voraussetzt. Im Umkehrschluß wird die deutsche Einigung zum Motor der gesamteuropäischen Einigung werden.
Die besondere Bedeutung des Dubliner Treffens der Staats- und Regierungschefs liegt auch darin, daß jetzt noch eindeutiger der deutsche Einigungsprozeß mit dem europäischen Einigungsprozeß verknüpft wird. Deutsche Einheit und das Bemühen, die EG zu einer Währungs- und Wirtschaftsunion und zu einer politischen Union umzuwandeln, sind kein Gegensatz, sondern ergänzen sich gegenseitig. Das haben wir immer wieder gesagt, auch zu Zeiten, als die heutigen Entwicklungen noch in keiner Weise absehbar waren. SPD und GRÜNE haben dies belächelt. Sie haben es kritisiert, oft sogar dagegen polemisiert. Ich will hier nur an das böse Wort der „politischen Umweltverschmutzung" erinnern, das uns entgegengeschleudert wurde, als wir auf der Wiedervereinigung beharrten. Heute haben SPD und GRÜNE manchmal Mühe, der Entwicklung nachzuhinken; denn nicht ihre, sondern unsere Vision hat sich glücklicherweise bewahrheitet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: In den Grenzen von 1937!)

Daß der Gipfel von Dublin zu einem großen Erfolg geworden ist, ist zu einem großen Teil auf die Vorarbeit zurückzuführen, die Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl geleistet haben. Wieder einmal hat sich die enge deutsch-französische Partnerschaft als Lokomotive für die EG-Staaten erwiesen.

(Lachen des Abg. Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE])

Das wird auch in Zukunft so bleiben. Die deutschfranzösische Schicksalsgemeinschaft wird auch mit einem geeinten Deutschland weiterbestehen.
Die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen waren ein weiterer Schritt nach vorn, ein Erfolg für alle. Die in Ottawa gefundene Formel Zwei plus Vier hat die wenig hilfreichen Vorstellungen von Friedensvertragsregelungen ersetzt.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Schon heute leben ja beide Teile Deutschlands in Frieden mit ihren Nachbarn und haben vielfältige Beziehungen zu Staaten und Staatengemeinschaften. Nicht um Verhandlungen über einen Friedensvertrag, wie sie nur nach einem Waffenstillstand üblich sind, geht es bei Zwei plus Vier, sondern um die Einbettung der deutschen Einigung in eine dauerhafte und gerechte europäische Friedensordnung.
An dieser Stelle möchte ich ein besonderes Wort des Dankes an Präsident Bush und Außenminister Baker richten. Die amerikanische Führung hat sich in ihrer klugen, behutsamen, aber durchaus prinzipientreuen Politik seit dem Gipfel von Malta als besonders hilfreich und konstruktiv erwiesen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir begrüßen es nachhaltig, daß sich die USA auch nach Beendigung der Ost-West-Konfrontation zu aktiver Mitverantwortung in Europa bekennen.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Es ist aber auch dankbar anzuerkennen, daß sich bei den Bonner Zwei-plus-Vier-Verhandlungen alle Seiten offen und flexibel gezeigt haben. Positiv würdigen möchte ich die sowjetische Haltung insofern, als die deutsche Einheit nicht durch ein Junktim erschwert werden soll. Unser Ziel muß es aber sein, auch die äußeren Aspekte, d. h. den Status des geeinten Deutschlands, möglichst gleichzeitig mit der deutschen Einheit zu klären. Dies muß im Einvernehmen mit allen Beteiligten geschehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mit allen unseren westlichen Verbündeten sind wir uns einig, daß das geeinte Deutschland ein Vollmitglied in der Atlantischen Allianz sein muß. Übrigens nicht nur die Westmächte, sondern auch eine Reihe unserer östlichen Nachbarn halten dies für durchaus wünschenswert;

(Dr. Dregger [CDU/CSU] : Sehr gut!)

denn ein neutrales oder demilitarisiertes Deutschland oder gar ein Deutschland in zwei verschiedenen Allianzen mit zwei verschiedenen Armeen ist ein Unding.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)




Frau Geiger
Seinem wirtschaftlichen und technologischen Potential nach ist Deutschland für ein machtpolitisches Vakuum gänzlich ungeeignet.
Wir wissen, daß die Sowjetunion noch Schwierigkeiten hat, sich ein geeintes Deutschland als NATO-Vollmitglied vorzustellen. Hier sind Übergangsregelungen denkbar, die Rücksicht auf sowjetische Interessen, sowohl auf sicherheitspolitischem als auch auf wirtschaftlichem Gebiet nehmen. Eine jahrelange Übergangszeit mit Vorbehaltsrechten der Alliierten, die nach vollzogener staatlicher Einheit ihren Sinn verloren haben, halte ich jedoch für gänzlich unakzeptabel.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Richtig!)

Dies würde auch den außenpolitischen Status des geeinten Deutschlands nicht klären helfen.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das wäre eine Diskriminierung!)

Wir müssen gemeinsam mit unseren westlichen Verbündeten bei der sowjetischen Führung noch viel Überzeugungsarbeit leisten. Dazu gehört vor allem, die Sowjetunion davon zu überzeugen, daß die Atlantische Allianz für sie keine Bedrohung darstellt. Mit dem Verzicht auf die Modernisierung der atomaren Kurzstreckenwaffen und mit dem Angebot von Verhandlungen über drastische Reduzierungen dieser Systeme und über die Abschaffung der nuklearen Gefechtsfeldwaffen, die besonders unserem Vorsitzenden Dr. Dregger so sehr am Herzen liegt, haben Präsident Bush und die Außenminister der NATO-Staaten das richtige Signal zur richtigen Zeit gesetzt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Atlantische Allianz wird im Zeichen von Abrüstungsverträgen, von Verifikationsregelungen und vertrauensbildenden Maßnahmen zu einem noch friedlicheren, noch politischeren Bündnis werden. Die NATO kann auch durch den sehr positiv zu wertenden KSZE-Prozeß nicht ersetzt werden — und dies aus folgendem Grund: Allein die Atlantische Allianz verbürgt uns auch die Präsenz der nordamerikanischen Verbündeten in Europa. Auch die sowjetische Führung wertet diese Präsenz inzwischen als stabilitätssichernd. Es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, daß die NATO zur Erhaltung eines stabilen Gleichgewichts in Europa auf absehbare Zeit unersetzlich bleibt.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: So ist es!)

Ich kann verstehen, daß für die Sowjetunion ein besonderes Problem darin besteht, daß sie vielleicht nicht nur die DDR, sondern auch andere Staaten des Warschauer Pakts als militärische Verbündete verliert, daß der Warschauer Pakt in seiner jetzigen Form möglicherweise keine Zukunft mehr hat. Das ist aber eher ein psychologisches als ein strategisches Problem; denn der alte Warschauer Pakt, der Warschauer Pakt vor der friedlichen, von Gorbatschow mit bewirkten Revolution in Osteuropa, war immer ein Zwangsbündnis, dessen strategischer Wert daher fraglich war.

(Zurufe von der CDU/CSU: So ist es! — Sehr richtig!)

Auch ohne den Warschauer Pakt in seiner jetzigen Form bleibt die Sowjetunion die größte Militärmacht in Europa,

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

die sich um so sicherer fühlen kann, je mehr sie ihre inneren Strukturen erneuert und demokratisiert. Die Sowjetunion als interkontinentale Nuklearmacht ist die einzige Macht in Europa, die sich allein verteidigen kann, die also nicht auf ein Bündnis angewiesen ist.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Trotzdem sind wir bereit, auf diese eher psychologischen Probleme Rücksicht zu nehmen. So kann ich mir vorstellen, daß auf dem Gebiet der heutigen DDR keine NATO-Truppen stationiert werden. Sinnvoll wäre auch, wenn das geeinte Deutschland den Verzicht auf Herstellung und Besitz von Nuklearwaffen, von biologischen und chemischen Waffen feierlich neu bekräftigte.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

Wünschenswert ist vor allem eine Beschleunigung und Vertiefung des Abrüstungsprozesses und eine Änderung der Militärstrategie, die z. B. die heute gültige Vorneverteidigung in dem Maß ersetzt, in dem die sowjetischen Truppen aus der DDR abgezogen werden.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU)

Nicht akzeptabel ist aber eine langjährige Präsenz sowjetischer Truppen in der DDR oder gar ihre Unterhaltung aus dem Bundeshaushalt.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Unser Ziel muß es sein, diese sowjetische Truppenpräsenz im Zuge der Abrüstungsvereinbarungen schrittweise zu reduzieren. Wir wissen, daß die Truppenrückführung für die Sowjetunion technische und wirtschaftliche Engpässe mit sich bringen wird. Deshalb halte ich es für sinnvoll, wenn die künftige gesamtdeutsche Regierung bei der Lösung dieser Probleme Hilfe leistet; genauso sollen die Lieferungen, die die DDR mit der Sowjetunion vereinbart hat, weiter laufen.
Nach unserer Vorstellung soll das geeinte Deutschland ein zuverlässiger Partner in der Zusammenarbeit nicht nur mit dem Westen, sondern auch mit dem Osten unseres Kontinents werden. Das ergibt sich schon automatisch aus unserer Mittellage. Mit Ausnahme von Griechenland hat von den EG-Ländern nur das geeinte Deutschland gemeinsame Grenzen mit Osteuropa. Der stellvertretende niederländische Ministerpräsident, Wim Kok, hat vor kurzem in Bonn auf diese Tatsache hingewiesen, in diesem Zusammenhang von einer deutschen Sonderrolle gesprochen und — was besonders erfreulich ist — die niederländische Bereitschaft zur Mitwirkung bekundet.
Diese Mitwirkung unserer Freunde und Partner bei der Aufbauarbeit im östlichen Europa ist dringend notwendig. Diese gewaltige Aufgabe können wir nicht allein meistern.

(Lintner [CDU/CSU]: Sehr richtig!)




Frau Geiger
Dabei sind alle westlichen Industrieländer gefordert. Die westlichen Demokratien, denen es wirtschaftlich so viel bessergeht, dürfen die Hoffnungen der Menschen im östlichen Europa, und zwar nicht nur die Hoffnungen der Menschen in der DDR, sondern genauso die der Menschen in Ungarn, in der Tschechoslowakei, in Polen und in den anderen osteuropäischen Ländern, nicht enttäuschen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden uns für alles, was das Zusammenwachsen Europas begünstigt, einsetzen. Dazu gehört eine Öffnung der EG gegenüber Osteuropa

(Beifall des Abg. Voigt [Frankfurt] [SPD])

ebenso wie die Stärkung der westeuropäischen Integration.

(Beifall des Abg. Voigt [Frankfurt] [SPD])

Dazu gehört die Festigung unserer Freundschaft mit den bewährten Partnern ebenso wie der Aufbau neuer partnerschaftlicher Verhältnisse mit den jungen Demokratien in Osteuropa und die Herstellung eines vertrauensvollen Verhältnisses mit der Sowjetunion.
Vor uns liegen so gewaltige Aufgaben wie der Schutz der natürlichen Umwelt, die Sicherung der Welternährung, der Kampf gegen Krankheit, Not und Unwissenheit. Wir sollten darüber aber nicht verzagen, sondern wir sollten aus der Mitte Europas heraus unseren Beitrag dazu leisten.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121001800
Das Wort hat der Abgeordnete Hoss.

Willi Hoss (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1121001900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Erfolge der demokratischen Kräfte in Osteuropa und in der DDR und der Zusammenbruch des real sozialistischen Systems haben die Möglichkeit eröffnet, die Militärbündnisse als Relikte des Kalten Krieges hinter uns zu lassen. Wir sind Zeugen dieses historischen Prozesses, aber wir sind auch Handelnde. Von uns sind in diesem Prozeß Behutsamkeit, Rücksichtnahme, Einfühlungsvermögen in die Situation der anderen gefragt. Hast, Übereifer und Machtdenken sind hier schlechte Ratgeber.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Bundesregierung und Bundeskanzler Kohl agieren in dieser Situation — so sehen es viele Bürger — gegenteilig. Sie rufen Vorbehalte wieder wach, die gegenüber den Deutschen bestehen. Das gilt sowohl für den Bereich der Innen- wie auch für den Bereich der Außenpolitik.
Was unsere Nachbarn betrifft, beinhaltet das Vereinigungstempo eine Politik der Pressionen und des Überfahrens. Was meinen Sie, Herr Kohl, wieviel Vertrauen einer Regierung entgegengebracht wird, die ihre wirtschaftliche Macht und die geostrategische Schlüsselposition nutzt, um Europa unter das Diktat der deutschen Einheit zu setzen, die z. B. die berechtigten polnischen Forderungen nach einer sicheren Grenze zu einem außenpolitischen Konfliktfall hochkocht und ihn für banale wahltaktische Ziele instrumentalisiert?
Die Zustimmung zur Schnellstvereinigung der deutschen Staaten in Dublin auf dem EG-Gipfel ist das Ergebnis der Ohnmacht der europäischen Regierungen gegenüber der deutschen Dampfwalze. Alle geäußerten Appelle west- und osteuropäischer Regierungen, die deutsche Einheit mit der europäischen zu synchronisieren, hat der Bundeskanzler machtbewußt beiseite gewischt. Das hohe Tempo hat jetzt die Bundesregierung selbst zum Stolpern gebracht: Die sowjetische Entkopplungsvorstellung wurde vom Außenminister begrüßt und vom Kanzler nach einem Tag Sendepause kategorisch abgelehnt.
Der hohe Zeitdruck, die Zwei-plus-Vier-Gespräche bis zur KSZE-Gipfelkonferenz im November abschließen zu wollen, zwingt alle Beteiligten und alle KSZE-Staaten, strategische Entscheidungen zu treffen, deren Folgen für sie heute noch nicht absehbar sind.
Stellen Sie sich die Lage der Polen vor. Sie suchen den Anschluß an den Westen, sehen sich aber erneut zwischen zwei mächtige Staaten gestellt, deren zukünftige Entwicklung noch nicht festgelegt, bestimmt ist. Die Sorgen der Polen, wieder Pufferstaat zu sein, sind mehr als berechtigt. Es zeigt sich: Beim weltpolitisch bedeutsamen Vorgang der deutschen Einigung nimmt der Bundeskanzler die Rolle des Elefanten im Porzellanladen ein.
Worin besteht unsere europäische Vision? Wir wollen ein Europa, das die Nationalstaaten überwindet, in dem sich die Gesellschaften zunehmend verflechten, in dem Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Föderalismus gelten und das sich entmilitarisiert. Nur so kann das zivile Europa durch die Umwidmung der Rüstungsausgaben einen bedeutenden Beitrag zur Überwindung der existentiellen Bedrohungen der Menschheit wie ökologische Krise und Unterentwicklung in der Welt leisten.
Der Aufbau eines europäischen Friedens- und Sicherheitssystems, in dem sowohl das vereinte Deutschland europaverträglich aufgehoben als auch die Militärblöcke überwunden sind, ist eine unmittelbare Aufgabe.
Angesichts des Zerfalls des Warschauer Vertrages und der gesellschaftlichen und ökonomischen Schwierigkeiten der Sowjetunion ist die vielfach erhobene Forderung nach Umwandlung der NATO in ein politisches Bündnis das mindeste, nach unserem Verständnis allerdings nicht in dem Sinne, ihr eine neue Attraktivität zu verleihen, sondern als Vorstufe einer Auflösung beider Militärbündnisse in ein europäisches Friedens- und Sicherheitssystem.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Für die NATO bedeutet das: Abschaffung der Strategie der flexible response, Umstellung der konventionellen Kriegsführungskonzeption auf die strikte Defensive sowie radikale atomare, chemische und konventionelle Abrüstung.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Europa sollte folgende Strukturen haben. Erstens. Das vereinigte Deutschland wie auch alle anderen KSZE-Staaten übertragen die Souveränität über ihre



Hoss
Sicherheitspolitik der gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsorganisation. Wir GRÜNEN meinen damit ausdrücklich auch Frankreich und Großbritannien, die noch immer strikt auf Atomwaffen beharren.
Zweitens. Die Mitgliedschaft der Sowjetunion und Nordamerikas ist aus Gründen der friedfertigen internationalen Zusammenarbeit unverzichtbar.
Drittens. Europa darf nicht zu einer europäischen Festung werden, sondern muß in Zusammenhang mit der UNO organisiert werden.
Natürlich braucht auch ein Friedens- und Sicherheitssystem Institutionen. Wir denken an einen europäischen Sicherheitsrat mit exekutiven Funktionen und Sanktionsmöglichkeiten, dem auch eine europäische Abrüstungsbehörde unterstellt wird, an eine parlamentarische Versammlung für die demokratische Kontrolle einer europäischen Friedens- und Sicherheitspolitik sowie an einen Europäischen Gerichtshof zur Schlichtung von Konflikten.
Am Ende dieses Jahrhunderts wird sich zeigen, ob wir Deutschen unsere historische Lektion gelernt haben.
Die Bundesregierung — das müssen wir sehen — steuert auf ein deutsch betontes Europa zu; wir wollen ein europäisiertes Deutschland.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121002000
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1121002100
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu dem Gipfel in Dublin betone auch ich einen Punkt, der heute morgen von Jochen Vogel hier aufgegriffen worden ist, der aber nach wie vor ungelöst ist. Es geht darum, wie die DDR-Regierung an d'en Verhandlungen zur Einbeziehung der DDR in die Europäische Gemeinschaft beteiligt wird.
Es ist doch überhaupt nicht einsehbar, daß die DDR bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen beteiligt ist, aber dann, wenn es um die Auswirkungen der Europäischen Gemeinschaft auf Verbraucher und Verbraucherinnen, Beschäftigte und Unternehmen geht, von den Verhandlungen zur Einbeziehung der DDR in die EG ausgeschlossen sein soll.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] und des Abg. Wüppesahl [fraktionslos])

Das ist absolut unakzeptabel.
Deswegen sagen wir und bitten wir um entsprechende Unterstützung, daß bereits beim nächsten regulären EG-Gipfel am 25./26. Juni in Dublin die DDR als Beobachter teilnehmen soll. Wir fordern weiter, daß die DDR-Regierung bereits ab heute an den Verhandlungen und Beratungen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit beteiligt wird.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der EG-Gipfel hat im übrigen — das ist eigentlich öffentlich kaum diskutiert worden — die Position der Bundesregierung, die bisher in dieser Frage bestand, widerlegt. Sie wollte ja eine Art schleichende Integration ohne Verhandlungen über die Übergangsbedingungen für die DDR. Fast ohne daß es öffentlich wahrgenommen wurde, ist in Dublin aber beschlossen worden, daß für dieses Aushandeln der Übergangsbedingungen die EG-Kommission einen Vorschlag macht, diese Bedingungen ausgehandelt werden und daß anschließend im Ministerrat über sie mit Mehrheit abgestimmt wird. Das ist gut so. Denn nur so werden die Kosten und Folgen auch für die Bevölkerung in beiden Teilen Deutschlands einsichtig und deutlich.
Was mir heute morgen in der Diskussion gefehlt hat — das wird ja auch in der Parzellierung der Regierungserklärung zwischen Kanzler und Außenminister deutlich — ,

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Die haben Doppelkopf gespielt!)

ist die politische Zusammenschau für die europäische Neuordnung.

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Genau!)

Hier wird aufgeteilt in das Kästchen Sicherheitspolitik — Zwei plus Vier — und in das politische Kästchen Europa oder EG.
Worum es aber doch geht, ist nichts Geringeres als die Neuordnung Europas am Ende der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, ist nichts Geringeres, als auch die Relikte dieser Nachkriegszeit, die Militärblöcke, abzulösen, ist nichts Geringeres, als die europäische Einigung genauso schnell wie die deutsch-deutsche Einigung zu vollziehen.
Das sind die Perspektiven, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Das können wir nicht in einzelne Kästchen einteilen, weil dann eine Vision und eine Perspektive nicht ersichtlich werden.
Dazu erinnere ich Sie daran: Nach dem Ersten Weltkrieg gab es für einige Zeit die Hoffnung auf eine gesamteuropäische Perspektive. Wir von der SPD haben sie damals, 1925, als die Vereinigten Staaten von Europa — Ost und West — in unser Heidelberger Programm aufgenommen. Ich erinnere Sie daran, daß es damals eine Diskussion in den europäischen Staaten gab. Ich erinnere an den innenpolitisch konservativen Coudenhove-Kalergi mit seinem engagierten und eindrucksvollen Plädoyer für einen europäischen Bundestaat bereits im Jahr 1924. Ich erinnere an den französischen Ministerpräsidenten Herriot. Ich erinnere an den Briand-Plan für eine europäische Union. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich erinnere Sie auch daran, daß sich das nicht durchgesetzt hat, sondern daß es statt dessen bei der unverbindlichen und nicht verpflochtenen Einbeziehung in den Völkerbund blieb, der, als sich die Krise der Weltwirtschaft zuspitzte, das Zurück der europäischen Nationen in ein „Rette sich, wer kann", in den Nationalismus und in den Krieg nicht verhindern konnte.

(Beifall bei der SPD)

Daran erinnere ich Sie. Diese gesamteuropäische Perspektive, die Neuordnung Europas, kommt nicht von selbst durch das, was wir erzählen, sondern sie kommt durch politisches Handeln. Am Ausgang dieses Jahrhunderts haben wird als Europäer und Europäerinnen



Frau Wieczorek-Zeul
heute die Chance, das, was nach dem Ersten Weltkrieg mit all den schlimmen Lasten, mit all den schlimmen Konsequenzen nicht geschaffen werden konnte, zu schaffen, nämlich eine gesamteuropäische, eine föderative, eine verflochtene Ordnung, nämlich die Vereinigten Staaten von Europa.

(Sehr wahr! bei der SPD)

Unsere Chancen sind heute ungleich größer als damals; denn heute ist die Internationalisierung der Entwicklung längst eine Tatsache. Heute ist uns präsent, daß Entwicklungen global und international verlaufen. Es gibt heute — das sage ich auch an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen der GRÜNEN — die real existierende Erfahrung, daß man Souveränitätsrechte an eine integrierte europäische Gemeinschaft abgeben kann. Es gibt diese Erfahrung,

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Wir vertreten das permanent!)

daß Integration und Verflechtung friedlich macht. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat Gesamteuropa wirklich gelernt? Ist Europa nicht gerade dabei — und das ist meine tiefe Sorge —, die Frage der politischen Ordnung im ausgehenden 20. Jahrhundert mit den nationalstaatlichen Kategorien des 19. Jahrhunderts zu beantworten?

(Beifall bei der SPD)

Das ist doch die Frage, der Sie sich stellen müssen, wenn es um die Neuordnung Europas geht.
Der Zusammenbruch des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa hinterläßt ein Vakuum, das entweder durch eine neue politische und auch sicherheitspolitische Ordnung oder durch eine Woge von Nationalismus und Separatismus gefüllt wird; das ist die Sorge, die ich habe.

(Beifall bei der SPD)

Die europäische Organisationsform und die Neuordnung Europas dürfen nicht auf der Neukonstituierung des alten Nationalstaats aufbauen, dessen Konsequenz in der Geschichte die Mißachtung, die Malträtierung, die Verfolgung nationaler Minderheiten war und ist. Sie sehen, was heute schon in Ost- und Mitteleuropa an entsprechenden Konflikten existiert. Sie müssen vielmehr von Staaten ausgehen, die mehrere Nationalitäten umfassen können und die Teil eines föderierten Europas sein müssen, das nationale und andere Minderheitenrechte und Volksgruppenrechte achtet und unter seinen besonderen Schutz stellt. Das muß die Perspektive sein.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Ich schlage deshalb, weil die Perspektive immer an praktischem politischen Handeln orientiert sein muß, für diese Neuordnung Europas eine Reihe von Stufen vor, die auf dem aufbauen, was heute bereits an europäischer Integration besteht, und zwar mit der Perspektive dieser Vereinigten Staaten von Europa für die Westeuropäer und die Osteuropäer.
Das erste ist, daß wir nicht geringschätzen dürfen, was heute noch bis zum Jahr 1992 geleistet werden muß. Ich erinnere Sie daran, daß z. B. immer noch nicht die Harmonisierung indirekter Steuern als Voraussetzung dafür, daß- überhaupt eine europäische Währungsunion möglich wird, geschafft ist. Das muß bis 1992 geleistet werden; sonst ist der Termin nicht zu halten.
Zweitens. Die Wirtschafts- und Währungsunion der Europäischen Gemeinschaft und das sogenannte soziale Europa müssen bis 1992 verwirklicht sein.
Drittens. Spätestens Ende dieses Jahres/Anfang 1991 müssen die zwölf EG-Mitgliedstaaten in einer Regierungskonferenz die notwendigen politischen Grundsatzentscheidungen für die Neuordnung Europas treffen.
Diese Grundsatzentscheidungen müssen zum Inhalt haben, daß — viertens — die Europäische Gemeinschaft zum Kristallisationspunkt der künftigen Vereinigten Staaten von Europa wird. Das heißt, die politische Union muß mit der Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments verbunden sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, reden wir nicht länger. Der Vorschlag des Europäischen Parlaments liegt noch heute in den Schubladen der Ausschüsse des Bundestages. Legen wir doch z. B. solche Vorschläge auf den Tisch, damit wir praktische Konsequenzen bei den Rechten des Parlaments ziehen.
Fünftens. Die Europäische Gemeinschaft muß schon heute zu einer politischen Union entwickelt werden und dann zu einer außen- und sicherheitspolitischen Gemeinschaft werden.
Gleichzeitig — sechstens — muß diese Regierungskonferenz die Grundsatzentscheidung treffen — wer, wenn nicht wir als Bundesregierung, als Bundesrepublik, als Deutschland könnten einbringen? — , daß die EG nach 1992, nach dem Termin der Verwirklichung des Binnenmarktes, zur großen politischen und wirtschaftlichen Gemeinschaft Gesamteuropas auszubauen ist. Das bedeutet ab 1992 auch die Chance für die osteuropäischen und mitteleuropäischen Staaten, der Europäischen Gemeinschaft beizutreten und damit Teil dieses Europas zu werden. Das ist genauso an die Adresse der EFTA-Staaten gerichtet.
Siebtens. Es müssen schon jetzt die Finanzmittel für dieses Projekt mobilisiert werden. Ich kann auch dabei nur an die Adresse des Außenministers sagen: Wir sollten nicht nur darüber reden, daß wir die Rüstungsgelder dafür verwenden können, sondern wir sollten praktische Voraussetzungen dafür schaffen. Lassen Sie uns doch darin übereinstimmen, daß alle EG-Mitgliedstaaten einen Teil ihrer Rüstungsausgaben dafür mobilisieren, daß Hilfe für Ost- und Mitteleuropa gegeben wird.

(Beifall bei der SPD)

Achtens. Damit könnte bis Mitte bzw. Ende der 90er Jahre — das ist nicht lange — ein europäischer Bundesstaat, der West- und Osteuropa umfaßt, verwirklicht werden, ein gesamteuropäischer Bundesstaat, dessen Truppen drastisch reduziert sind und der sich zur besonderen Verpflichtung der Europäer bekennt, den Ausgleich gegenüber den Ländern des Südens zu verwirklichen. Damit könnte auch deutlich werden, daß am Ende der Nachkriegszeit die Europäer der Ordnungsfaktor in Europa sind und nicht andere.



Frau Wieczorek-Zeul
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt für solche Dinge auch immer Symbole. Deshalb schlagen wir als SPD-Fraktion vor, als Signal und Symbol des Wollens für eine neue europäische Ordnung, für eine integrierte Ordnung und Zusammenarbeit sowie Verflechtung in der Verfassung des vereinten Deutschlands als Ziel die Vereinigten Staaten von Europa aufzunehmen, und zwar an der Stelle, wo künftig der Art. 23 gestrichen werden soll.
Ich danke Ihnen sehr.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121002200
Das Wort hat der Abgeordnete Voigt.

Karsten D. Voigt (SPD):
Rede ID: ID1121002300
Ich möchte am Beginn einen Gedanken meiner Kollegin Wieczorek-Zeul aufgreifen, weil es im Kern der heutigen Debatte darum geht, wie man den Prozeß der deutschen Einigung mit der Europäisierung der deutschen Frage verbindet und wieweit die Deutschen ihren Einigungsprozeß gleichzeitig für Fortschritte bei der europäischen Einigung nutzen. Das hat jeweils eine wirtschaftspolitische Dimension, aber auch eine sicherheitspolitische Dimension.
In der wirtschaftspolitischen Dimension geht es darum, die westeuropäische Einigung zu beschleunigen und, wie Heidi Wieczorek-Zeul völlig zu Recht sagte, die westeuropäische Einigung gleichzeitig mit einer Öffnung gegenüber Osteuropa zu verbinden, damit nicht die Armutsgrenze von der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten an die Oder- und Neißegrenze verschoben wird.

(Beifall bei der SPD)

Das ist übrigens nicht nur eine Frage der wirtschaftspolitischen Vernunft, das ist auch eine Frage der sicherheitspolitischen Vernunft, weil viel größere Risiken für den Frieden in Zukunft aus der Kombination von sozialer und ökonomischer Destabilisierung mit nationalen Konflikten als aus der klassischen OstWest-Konfrontation entstehen könnten. Deshalb müssen die Deutschen und alle Europäer daran interessiert sein, daß ökonomischer Wohlstand und soziale Stabilität auch östlich von Oder und Neiße bestehen, und dürfen kein Interesse daran haben, daß die Grenze zwischen Armut und Reichtum an der Grenze zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem osteuropäischen Vorfeld verläuft.

(Beifall bei der SPD)

Das hat eine sicherheitspolitische Dimension, daß nämlich auch im sicherheitspolitischen Bereich die westliche Integration und die Integration innerhalb der EG nicht in Frage gestellt werden darf, sondern vorangetrieben werden muß und daß sich gleichzeitig die klassischen Institutionen der westeuropäischen sicherheitspolitischen Zusammenarbeit oder der NATO für die Zusammenarbeit mit Osteuropa öffnen müssen und — ich füge hinzu — zugleich gesamteuropäische Institutionen der Sicherheit gebildet werden können. Dieser Punkt, die — wenn man so will — Vertiefung der Integration in Westeuropa oder der Sicherheitspolitik unter Einschluß der Vereinigten Staaten und die Öffnung gegenüber Osteuropa und die Bildung neuer gesamteuropäischer Institutionen, ist jetzt die
Kernfrage der gesamten Entwicklung, letzten Endes auch in den Diskussionen der Zwei plus Vier.

(Beifall bei der SPD)

Statt sich auf diese Kernfrage zu konzentrieren, hat sich leider der Streit zwischen Bundesaußenminister Genscher und Bundeskanzler Kohl auf Nebenaspekte konzentriert. Dieser Streit hat darüber hinaus noch dazu geführt, daß im Ausland der Eindruck der Zerstrittenheit und der Handlungsunfähigkeit erweckt worden ist.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

Denn wenn Bundeskanzler Kohl dort von fatalen Entwicklungen spricht, wo der Bundesaußenminister von Chancen spricht, dann ist das offensichtlich ein grundlegender Meinungsunterschied. Dieser besteht einfach in der unterschiedlichen Einschätzung der Sowjetunion. Denn der Bundeskanzler ist der Meinung, hier handle es sich noch um das Pokern einer großen Weltmacht, die sozusagen die Karten ausreizt. Das ist Ihre Meinung; Sie nicken.

(Dr. Kohl [CDU/CSU]: Dann reden wir beide mal in acht Wochen darüber, Herr Abgeordneter!)

Der Bundesaußenminister ist der Meinung, daß es hier bei einer Macht, die vor erheblichen inneren Schwierigkeiten steht und die deshalb eine gewisse Zeit braucht, um die Einigung Deutschlands auch sicherheitspolitisch hinzunehmen, inklusive NATO-Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands, um die Gesichtswahrung geht.
Deshalb ist dieser Grundunterschied in der Einschätzung der Sowjetunion mit strategischen Konsequenzen verbunden. Denn das eine bedeutet, daß man eigentlich in der weiteren Konsequenz eine Politik betreibt, die faktisch auf eine Demütigung der Sowjetunion hinausläuft. Das andere ist — das hörte man auch in der heutigen Rede des Bundesaußenministers — eine Politik, die sich ökonomisch und sicherheitspolitisch um eine Berücksichtigung legitimer Interessen der Sowjetunion bemüht. Das ist eigentlich ein konzeptioneller Unterschied und auch ein Unterschied in der politischen Strategie und nicht nur ein analytischer Unterschied. Dort sind wir der Meinung des Bundesaußenministers und nicht der des Bundeskanzlers.

(Beifall bei der SPD)

Im übrigen ist dieser Streit auch aus anderen Gründen unsinnig. Denn in Wirklichkeit geht es sowohl um den Abbau von alliierten Vorbehaltsrechten als auch um eine zügige deutsche Einheit. Mit dem Abbau der alliierten Vorbehaltsrechte — die CDU pocht ja immer darauf, daß man sie schnellstmöglich abbauen soll — braucht man nicht bis zur deutschen Einheit zu warten; damit kann man heute beginnen.
Ich erinnere z. B. an die parteitaktischen Spielereien der Berliner Bundestagsabgeordneten der CDU, als es um die Frage der Direktwahl der Berliner Abgeordneten ging. Da war man abstrakt für den Abbau



Voigt (Frankfurt)

der alliierten Vorbehaltsrechte. Konkret hat man aber eigentlich die Direktwahl zu verzögern versucht.

(Dr. Vogel [SPD]: Richtig! — Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich!)

Oder wie ist es bei der Frage unserer Initiative für die gleichberechtigte Partnerschaft im westlichen Bündnis? Wir Sozialdemokraten drängen seit langer Zeit in einer Anfrage an die Regierung auf den Abbau von alliierten Sonderrechten. Eine Antwort der Bundesregierung haben wir bis heute nicht erhalten. In diesem konkreten Punkt blockt die CDU. Dort ist sie in Wirklichkeit aus Rücksicht auf die Alliierten der Meinung, daß man jetzt die Frage nach dem Abbau von Sonderrechten nicht stellen darf.
Oder wie ist es mit der Frage des Flugverkehrs nach Berlin? Ich bin der Meinung, daß noch vor der deutschen Einheit die Lufthansa sowohl nach Berlin-Schönefeld als auch nach Berlin-Tegel fliegen sollte.

(Beifall bei der SPD)

Ich bin nicht der Meinung, daß man damit bis zur Herstellung der deutschen Einheit warten muß. Warum passiert das nicht bereits im Juli? Welche Initiativen ergreift die Bundesregierung hier? Was soll das Geeiere in bezug auf die abstrakte Frage von Souveränitätsrechten — ja oder nein —, wenn man hier konkret nichts tut?
Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, in dieser Frage schnell auf eine demokratische, auch die Interessen der DDR-Bürger respektierende Vereinigung hinzuwirken, aber gleichzeitig bereits jetzt mit dem Abbau von alliierten Sonderrechten und alliierten Vorbehaltsrechten zu beginnen.
Im übrigen hat der sowjetische Außenminister in seinem Diskussionsbeitrag, in seiner Rede ja auch gesagt, daß er gegen jede Diskriminierung der Deutschen — sei es in juristischer oder in psychologischer Hinsicht — sei. Die gleiche Meinung vertreten unsere westlichen Verbündeten.
Das ist übrigens ein Grund mehr, um gerade jetzt darauf hinzuwirken, daß die Deutschen in dieser Übergangszeit Selbstbeschränkung zeigen und sich nicht mit klassischer Großmannssucht verhalten. Je mehr wir Selbstbescheidung üben, je mehr wir im wohlverstandenen Eigeninteresse die Interessen unserer östlichen und westlichen Nachbarn in unserem Handeln mitberücksichtigen, desto weniger laut wird der Ruf sein, der deutschen Souveränität von außen her Beschränkung aufzuerlegen.

(Beifall bei der SPD — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das versteht der nicht!)

Insoweit ist diese Hauruck-Methode oder diese Großmannssucht nicht nur etwas, was im Ausland unangenehm auffallen könnte oder unangenehm wahrgenommen wird, es ist in Wirklichkeit etwas, was in einer entscheidenden Stunde der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik den deutschen Interessen schadet, weil es objektiv dazu führen wird, daß die Einschränkung der deutschen Souveränität größer sein wird, als sie es unter anderen Bedingungen sein könnte.

(Beifall bei der SPD)

Zum Beispiel ist auch nur so zu erklären, daß Schewardnadse in seiner Rede noch einmal den Vorschlag gemacht hat, eine Struktur zu entwickeln, die an die klassischen alliierten Strukturen anknüpft, wenn er sagt, die Verbindungskommissionen der Alliierten sollten ein Ansatz für eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung sein, sollten aber in Deutschland beginnen. Das ist für mich völlig inakzeptabel;

(Beifall bei der SPD)

denn man kann nicht eine Gleichberechtigung der Deutschen mit einer Fortsetzung der Singularisierung und Diskriminierung beginnen. Man kann die Einbettung der Deutschen in einen europäischen Kontext auch nicht beginnen, indem man an Institutionen der Alliierten anknüpft, die bei uns an das Besatzungsrecht erinnern müssen.

(Dr. Vogel [SPD]: So ist es!)

statt sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, die wirklich entscheidend und strategisch ist, macht man diese Scheingefechte über Souveränität und nationale Einheit — völlig neben der Sache. Es geht darum, die deutsche Einheit in einer Weise gesamteuropäisch einzubetten, bei der wir gleichberechtigter Teil Gesamteuropas sind, aber gleichzeitig in einer Weise, bei der wir nicht von Gesamteuropa entkoppelt sind.
Da sage ich einfach, an die GRÜNEN gerichtet: Wir wollen eine europäische Friedensordnung, in der die Bündnisse überwunden werden. Das haben wir immer gefordert. Das bleibt auch weiter unsere Position. Es wäre völlig absurd, gerade in dieser Lage von dieser Position abzugehen. Wir wollen natürlich auch eine Europäische Gemeinschaft, die schrittweise auch im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik immer mehr Kompetenzen erhält. Das ist doch selbstverständlich.

(Beifall bei der SPD)

Aber man muß die Realitäten so sehen, wie sie heute sind. Realität heute ist, daß Frankreich nicht einmal bereit ist, seine nationale Souveränität über Fragen der Verteidigungspolitik an die NATO zu überstellen, was wir schon lange gemacht haben. Und Realität ist, daß Irland, das der Europäischen Gemeinschaft angehört, nicht bereit ist, Fragen der Verteidigungspolitik in der EG diskutieren zu lassen. Andere EG-Mitgliedsländer sind der gleichen Meinung. Realität ist auch, daß mir sonst in ihrer Außenpolitik so nahestehende Länder wie Schweden oder die Schweiz an vieles denken, an Abrüstung denken, daß sie aber nicht daran denken, ihre nationale Souveränität an eine KSZE-Institution zu übertragen. Die Schweizer sind ja in dieser Frage der Souveränität so dogmatisch, daß sie bisher noch nicht einmal den Vereinten Nationen beigetreten sind.
Wenn man deshalb sagt, wir wollen eine Einbettung der Deutschen in ihrer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in die europäischen Institutionen — Europäische Gemeinschaft oder KSZE — , das aber heute faktisch nicht zu erreichen ist — dies nicht wegen der Deutschen, sondern wegen anderer europäischer Nachbarstaaten, und zwar weniger im Osten als im Westen — , dann bedeutet dieser Hinweis auf die gesamteuropäischen Institutionen oder auf die EG für die jetzige Phase faktisch eine Renationalisierung der



Voigt (Frankfurt)

deutschen Sicherheitspolitik. Das können wir nicht verantworten.

(Beifall bei der SPD — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Das bedeutet es nicht! Die KSZE soll den Rahmen setzen!)

Aus dieser Logik heraus ist die Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands in der NATO etwas, was die Integration der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für unsere Nachbarn — nicht nur im Westen, sondern auch im Osten — zumindest für eine Übergangszeit erträglich macht. Das muß dann natürlich mit Sondervereinbarungen für die DDR verbunden sein. Daß dort keine NATO-Truppen stehen dürfen, ist selbstverständlich, und daß alle nuklearen Kernwaffen von deutschem Boden abgezogen werden müssen, ist auch selbstverständlich. Wenn die CDU jetzt plötzlich für die Nichtmodernisierung der Lance und für Verhandlungen über Lance ist, dann ist das begrüßenswert, aber es ist sehr spät. Wir haben das seit Jahren gefordert.
Zu allerletzt will ich noch einmal zum Ausgangspunkt zurückkommen. Meiner Meinung nach ist — das haben nicht nur viele Leute in der Bundesrepublik noch nicht begriffen, es haben auch viele andere Leute im Westen und viele Leute in der Sowjetunion noch nicht begriffen — nicht die Gefahr der militärischen Macht der Deutschen das Hauptproblem. Das ist der Konflikt der Vergangenheit. Mein Gefühl ist, daß das Hauptproblem die ökonomische Macht der Deutschen werden könnte. Deshalb müßte man die Europäische Gemeinschaft, wenn es sie noch nicht gäbe, heute erfinden. Denn erst nachdem viele der ökonomischen Entscheidungen nicht mehr in Bonn und nicht in Frankfurt bei der Bundesbank fallen, wird die ökonomische Macht der Deutschen für unsere europäischen Nachbarn erträglicher.
Die anderen Gefahren für den Frieden entstehen weniger aus dem Ost-West-Konflikt; der ist vorbei. Die wirklichen Konflikte sind die nationalen Konflikte, die jetzt in Osteuropa aufbrechen, nachdem der erzwungene Internationalismus von Stalin zusammenbricht. Ein weiteres Problem ist die Kombination solcher Interessenkonflikte der nationalen Minderheiten mit sozialen Konflikten. Diese Kombination von sozialen Konflikten mit nationalen Interessenkonflikten, mit Grenzfragen und mit dem Problem nationaler Minderheiten ist die eigentliche Aufgabe der europäischen Zukunftspolitik. Deshalb ist die Europäisierung nicht nur der deutschen Frage, sondern die Europäisierung aller europäischen Nationalitäten-Politiken die eigentliche Aufgabe für die nächsten Jahrzehnte. Wir als Deutsche sollten hier mit unserer Einigung den Anstoß geben.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121002400
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Unruh.

Gertrud Unruh (GRÜNE):
Rede ID: ID1121002500
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Seit 9 Uhr höre ich ganz gespannt zu, was unsere Experten hier nun alles zu sagen haben. Ich möchte jetzt einmal als Volksvertreterin etwas aus der Richtung des Volkes in diese Diskussion einbringen.
Wir als Volk haben ja immer zwei Rüstungsgewalten gesehen: zum einen die USA und zum anderen die Sowjetunion. Wir waren von der USA abhängig, wie es ein Reisebüroslogan ausdrückt: Fahrt nach Westeuropa, solange es Westeuropa noch gibt!, und die DDR war von der Sowjetunion abhängig.
Ich persönlich habe ständig für ein vereintes Westeuropa gestritten. Ich hatte nie gedacht, daß es möglich wäre, ein Europa bis zum Ural zu bekommen. Nun hat ausgerechnet Herr Gorbatschow dafür gesorgt, daß wir quasi friedlich überfallen werden und so doch ein geeintes Gesamtdeutschland werden könnten.
Nun geben wir uns alle Mühe — alle Mühe in Ehren — , daß das nun auch etwas Richtiges wird. Einbezogen werden die USA, die sich allerdings noch heute in Angelegenheiten der Sowjetunion — siehe Litauen usw. — einmischen. Das ist ein neues Gebiet, in das man vielleicht wieder wunderbar Rüstung hinstecken könnte, um Gorbatschow zu schaden, weil dort letztlich ein ganz neuer Friedenswille verkörpert ist.

(Frau Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Wer hat denn den Blödsinn aufgeschrieben?)

Wir geben uns alle Mühe, auch die USA ständig zu unterrichten und in ständigem Kontakt zu bleiben. Die Sowjetunion wird, wie gesagt, etwas als zweitrangig gesehen, obwohl wir es dem Friedenswillen eines Gorbatschow verdanken, daß wir überhaupt zu dieser Situation eines vereinten Deutschlands kommen können.
Nun konnte ich mir Westeuropa immer auch neutralisiert vorstellen. Warum eigentlich nicht? Wir kleinen Leute denke immer, wenn zwei sich streiten — USA und Sowjetunion — , freut sich der Dritte.

(Unruhe bei der CDU/CSU und der FDP)

— Lassen Sie mir doch meine Vision! — Von daher hätte ein blühendes Westeuropa nicht Hunderte von Milliarden für die Rüstung gebraucht, sondern hätte einmal vorführen können, was in sozialer Hinsicht möglich ist, wenn Männer anfangen, anders zu denken. Deshalb unerbittlich: 50 % Frauen müssen in alle Parlamente!

(Beifall der Abg. Frau Wieczorek-Zeul [SPD])

Die Bemühungen des Herrn Außenministers Genscher sind hoch einzustufen. Nur, Herr Genscher — das sage ich auch an die Adresse von Herrn Bundeskanzler Kohl — , wir, das Volk, werden mit der Doppelzüngigkeit nicht fertig. Wir werden nicht fertig damit, weil heute so und morgen so geredet wird. Dazwischen kommt noch etwas geistig ganz Hochstehendes. Haben wir uns gerade bemüht, zu verstehen, dann wird es wieder umgeworfen. Dann heißt es: jetzt müßt ihr wieder etwas anderes verstehen lernen. So soll es z. B. den Rentnern in der DDR gutgehen, und hier in der reichen Bundesrepublik haben wir Altersarmut, haben wir Menschenrechtsverletzungen in Heimen, müssen nach wie vor 300 000 alte Menschen entmündigt leben. Jetzt erzählen Sie einmal unserem Volk, was wir eigentlich geleistet haben! Wir in der BRD waren eben nicht das große soziale Vorbild, trotz unseres Reichtums. Nach 40 Jahren bitterer Arbeit gibt es — das schreiben Sie sich bitte hinter die Oh-



Frau Unruh
ren — Renten von durchschnittlich 1 382 DM. Das betrifft die Pflichtversicherten, die nichts anders haben. Der Lohn beläuft sich durchschnittlich immerhin auf 2 162 DM. Die Rentner vermissen dann 780 DM in ihrer Rententüte. Das sind unsere sozialen Fakten. Jetzt bitte ich Sie alle: Nutzen Sie die Möglichkeit eines Gesamtdeutschlands, eine Gesamtvolksversicherung zu machen für Renten mit Mindest- und mit Höchstsätzen und für ein Gesundheitsreformgesetz, bei dem die kleinen Leute nicht bluten müssen!

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121002600
Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.

Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1121002700
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Öffneten sich den Deutschen bislang Grenzen zu anderen Ländern, so geschah dies selten mit friedlichen Mitteln. Die Öffnung der Grenzen der ehemaligen DDR aber verdankt die Bundesregierung dem couragierten Eintreten der Bürger und Bürgerinnen der DDR für Demokratie und Selbstbestimmung. Diese in der Geschichte Deutschlands einmalige Tat verkam in der Folge zum Poker um Umtauschkurse, Betriebsübernahmen durch bundesdeutsche Konzerne und hinterwäldlerische Bodenspekulationen bundesdeutscher Reicher.
Die Tatsache, daß vor der Verfassungsunion die Währungsunion kommt, steht für die Prioritäten der Bundesregierung. Sehen Sie mir deshalb nach, daß ich nach den Regierungserklärungen von Herrn Genscher und von Herrn Dr. Kohl den nicht abgeschlossenen Binnenprozeß zwischen der Bundesrepublik und der DDR in den Vordergrund stelle. Bisher haben sämtliche Redner daran vorbeigesprochen. Wir haben im Grunde noch keinen befriedigenden Abschluß im demokratischen und parlamentarischen Sinne. Nur eine Vereinigung beider deutschen Staaten unter einer neuen Verfassung, wie es Art. 146 in Verbindung mit der Präambel des Grundgesetzes vorschreibt, ist ein Weg in die Einheit in Freiheit und Selbstbestimmung. Eine neue Verfassung wird notwendig.
Vergleichen wir die Empfehlungen des Zentralbankrates der Deutschen Bundesbank mit dem, was die Bundesregierung der DDR-Regierung zur gefälligen Annahme auf den Tisch legte, vergleicht man den sogenannten Vorschlag der Bundesregierung zur Währungsunion mit dem, was nach den sogenannten Verhandlungen mit der DDR-Regierung herauskam, so kann man nur zu einem Schluß kommen: Hier wurde Großmacht gespielt, und das nicht mit militärischen, sondern mit finanziellen Mitteln. In Anlehnung an einen bekannten Ausspruch möchte ich sagen: Wirtschaft ist Politik mit anderen Mitteln.
Form und Gehalt stimmen natürlich auch in diesem Punkt überein: Die Nichtbeachtung verfassungsrechtlichen Procederes, die Mißachtung des bundesdeutschen Parlamentes, des Bundestages in Bonn, entspricht ungefähr dem, was der DDR-Bevölkerung über den sogenannten Staatsvertrag aufgedrückt wird. Sie sagen zwar, die D-Mark stehe nicht im Vordergrund, tatsächlich pokern sie aber permanent nur um die finanziellen Kautelen nach der vollzogenen Vereinigung. „Pokern" ist eigentlich schon zuviel gesagt. Wie soll einer, in diesem Fall der Ministerpräsident der DDR, Herr de Maizière, mitpokern, wenn er kein Blatt in der Hand hält und die Spielregeln auch nicht kennt? Das hat die Bundesregierung in der Tat weidlich ausgenutzt.
Gleichzeitig wird Deutschland als Nationalstaat gedacht, dessen Kriterium der Zugehörigkeit sich an der Biologie, an einem Ahnenpaß orientiert. Wer in seiner Ahnenreihe einen Deutschen nachweisen kann, darf nach Deutschland, wer nicht, der ist nicht wohlgelitten und hat immer mit Abschiebung und Diskriminierung zu rechnen. Ich erinnere an die zweite und dritte Lesung des Ausländergesetzes in der vergangenen Sitzungswoche.
Der unsensible Umgang der Bundesregierung mit der Geschichte zwischen 1933 und 1945, die Weigerung, die Westgrenze Polens verbindlich anzuerkennen, bis hin zum schmutzigen Spiel, sich diese Anerkennung durch Verzicht auf Reparationsansprüche abkaufen zu lassen, läßt mich die Frage stellen: Werden hier überhaupt Lehren aus dem gezogen, was Deutschland den Menschen Europas in diesem Jahrhundert angetan hat? Die Chance, einer solchen Entwicklung entgegenzutreten, besteht einzig und allein darin, Deutschland als Verfassungsstaat zu konzipieren. Eine neue Verfassung muß erarbeitet und von den Menschen, die in den Grenzen beider deutschen Staaten leben, abgestimmt werden. Ich wünsche mir, daß zumindest die Sozialdemokraten von dieser Position nicht abrücken werden.

(Frau Geiger [CDU/CSU]: Das ist doch schon längst entschieden!)

Aber von einer Wertegemeinschaft — das ist das Traurige, Frau Geiger — war nie die Rede, sondern von einer nationalen Gemeinschaft und einer wirtschaftlichen Gemeinschaft. Alles andere sind leere Worte.
Friedrich Hölderlin, Dichter und, wenn Sie wollen, demokratischer Revolutionär der Gesinnung, sagte 1797:
Ich glaube an eine zukünftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles Bisherige schamrot machen wird, und ich glaube, daß Deutschland sehr viel dazu beitragen kann.
Vergleicht man den Beginn der Selbstbestimmung der Menschen in der DDR, die kurze Zeit der Revolution mit dem, was heute und in den Wochen zuvor hier veranstaltet wurde, nämlich eine Übernahme nach Kohls, Seiters' und Waigels Gnaden, dann kann man nur sagen: Hölderlin hat sich geirrt.
Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich zu dem Entschließungsantrag der Sozialdemokraten auf Drucksache 11/7099 noch folgendes anfügen. Dort wird gefordert, daß der Auswärtige, der Verteidigungs- und der Innerdeutsche Ausschuß — völlig zu Recht — substantiell über die Zwei-plus-Vier-Gespräche informiert werden mögen. Warum fordern Sie nicht das, was ich in der letzten Sitzungswoche auf die Tagesordnung hatte bringen wollen, daß sich jeder Fachausschuß des Bundestages mit den in seinem Zuständigkeitsbereich anfallenden Fragen des deutschdeutschen Vereinigungsprozesses befaßt? Wieso reduzieren Sie das auf diese drei Ausschüsse und dann



Wüppesahl
noch auf den Bezug zu den Zwei-plus-Vier-Gesprächen? Sie kommen auch nicht damit über die Beantwortung dieser Frage hinweg, daß Sie auf den heute nachmittag wahrscheinlich einzusetzenden Ausschuß Deutsche Einheit verweisen. Dieser Ausschuß kann in diesem Stadium der Entwicklung doch nur noch drei ernsthafte Sitzungen durchführen. Mehr ist nicht möglich. Das heißt, das Parlament hat geschlafen.
Dann höre ich, daß die Expertengespräche zum Staatsvertrag in dieser Woche abgeschlossen werden sollen, und ich erinnere daran, daß wir gestern im Innenausschuß von der Regierung wieder barbiert wurden. Obwohl der Innenausschuß in seiner letzten Sitzung beschlossen hat, unter Tagesordnungspunkt 1 zur deutsch-deutschen Frage informiert zu werden, wurde dieser Tagesordnungspunkt auf Grund der durchgeführten Koalitionsrunde auf 11 Uhr verlegt, und weil die Koalitionsrunde länger tagte, wurde der Innenausschuß wieder nicht informiert. Der Verfassungsausschuß hat sich bis heute nicht einmal ernsthaft mit den verfassungsrechtlichen Fragen der deutschen Vereinigung befaßt.
Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll, und ich kann nur feststellen: Ich bin ohnmächtig, und ich verstehe auch viele Kollegen in den beiden Oppositionsfraktionen nicht, daß sie das nicht stärker nach vorne stellen.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktion das so stillschweigend hinnehmen, so kann ich das nachvollziehen; sie fühlen sich als Teil der Regierung und nicht mehr als Teil des Parlaments.
Eine Koalitionsrunde taucht weder im Grundgesetz noch irgendwo sonst auf. Dort können wir etwas über die Regierung und das Parlament lesen, wobei letzteres dahin gehend interpretiert werden kann, daß auch die Fachausschüsse gemeint sind.
Ich möchte also schlicht und einfach mein Abstimmungsverhalten erklären. Ich werde dem Entschließungsantrag der SPD zustimmen, aber natürlich nur mit dieser Begründung, weil er absolut zu kurz greift und ich nicht verstehe, weshalb Sie nicht eine umfassende Informationspflicht für alle Ausschüsse fordern.

(Frau Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Sie haben schon zwei Minuten zu lange geredet!)

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und dem Präsidenten für sein Wohlwollen.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121002800
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/7077. Es ist beantragt worden, diesen Entschließungsantrag zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen, den Ausschuß für Wirtschaft und den Rechtsausschuß zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7089. Wer für diesen Entschließungsantrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Entschließungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/7099. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Entschließungsantrag ist mit der gleichen Mehrheit wie der vorige Antrag abgelehnt worden.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sie wollen noch nicht einmal selbst informiert werden! — Weitere Zurufe von der SPD)

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Stratmann-Mertens, Frau Frieß, Hoss, Kleinert (Marburg) und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot der Aussperrung
— Drucksache 11/7056 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist ein Beitrag von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Stratmann-Mertens. — Herr Stratmann-Mertens, der Neuformulierung Ihres Namens entnehme ich, daß Sie geheiratet haben. Dann darf ich Ihnen — wahrscheinlich im Namen des Hauses — dazu gratulieren.

(Beifall)

Sie haben das Wort.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1121002900
Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger! In der aktuellen politischen Situation in beiden Teilen Deutschlands gibt es zwei Gründe für das Einbringen einer Gesetzesinitiative zum Verbot der Aussperrung.
Der erste Grund ist: Im aktuellen Metall-Tarifkonflikt hat der Präsident des Gesamtmetall-Arbeitgeberverbandes, Werner Stumpfe, der IG Metall massiv mit Aussperrung gedroht. Er hat damit gedroht, daß, wenn nur an einem beliebigen Punkt in der Bundesrepublik die Gewerkschaften streikten, die MetallArbeitgeber in allen Gebieten der Bundesrepublik mit Aussperrung antworten würden. Hier handelt es sich eindeutig nicht nur um die Drohung mit massiver Aussperrung, sondern auch um eine Drohung mit sogenannter gebietsausweitender Aussperrung. Selbst wenn diese verboten ist, zeigt sich, daß in der politischen Auseinandersetzung aktuell damit gedroht wird. Was im Einzelfall verboten oder erlaubt ist, ist u. a. eine Frage der Kräfteverhältnisse.



Stratmann-Mertens
Der Druck dieser Drohung mit Aussperrung wird durch die Novellierung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes aus dem Jahre 1986 verstärkt, die durch die Bundesregierung herbeigeführt worden ist. Danach kann — dafür gibt es sehr viele Detailbestimmungen — mittelbar von Arbeitskampf betroffenen Arbeitnehmern, abhängig Beschäftigten, die Zahlung von Arbeitslosengeld verweigert werden, was dazu führt, daß die betroffenen Beschäftigten existentiell und materiell so unter Druck geraten, daß sie mit Geldforderungen an die streikenden Gewerkschaften herantreten — das ist im 1984er Metall-Tarifkonflikt geschehen — , wodurch die Kasse der Gewerkschaften belastet und ihre Streikfähigkeit unterhöhlt wird.
Durch die Kombination von angedrohter Aussperrung und dem § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes ist die IG Metall derart erpreßt und unter Druck gesetzt worden, daß ein Tarifvertrag ausgehandelt wurde, der so aussieht, wie er aussieht. Die 35-Stunden-Woche ist bis 1995 verschoben worden. Das liegt nicht an dem politischen Willen der IG Metall im Arbeitskampf. Aber die 35-Stunden-Woche ist faktisch bis 1995, also um weitere fünf Jahre, verschoben worden, was zum Ergebnis hat, daß die Massenerwerbslosigkeit in der Bundesrepublik, die um zwei Millionen registrierte Erwerbslose herum schwankt, auf Dauer fortgeschrieben wird.
Der zweite Punkt, der zur Einbringung unseres Gesetzentwurfs zum Verbot der Aussperrung geführt hat, ist die deutsch-deutsche Entwicklung. Anfang Juli soll die Wirtschafts- und Währungsunion mit der DDR eingeführt werden. Es ist auch von der Bundesregierung unbestritten, daß dies zu einem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit in der DDR führen wird. Der Staatssekretär Dr. Riedl aus dem Bundeswirtschaftsministerium hat gestern noch im Wirtschaftsausschuß zugegeben, daß die Bundesregierung nach Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion bis Dezember dieses Jahres mit 300 000 bis 400 000, vielleicht sogar 500 000 bis 600 000 Arbeitslosen in der DDR rechnet.
Durch den vorliegenden Entwurf des Staatsvertrages zwischen der Bundesrepublik und der DDR soll die Aussperrung ausdrücklich als zulässig anerkannt werden. Damit soll durch den abzuschließenden Staatsvertrag das Aussperrungsverbot im DDR-Gewerkschaftsgesetz, das noch die letzte Volkskammer verabschiedet hat, ausgehebelt werden. Durch diese Verbindung — ausdrückliche Zulässigkeitserklärung für die Aussperrung in Verbindung mit massenhafter Arbeitslosigkeit in der DDR — wird das Übergewicht der bundesdeutschen Unternehmen in ganz Deutschland erheblich ausgeweitet; denn die Beschäftigten in der DDR sind, gemessen an ihren bundesdeutschen Kolleginnen und Kollegen, auf Grund ihrer politisch-wirtschaftlichen Situation ökonomisch weitaus abhängiger und ohnmächtiger als die Beschäftigten hier. Sie sind völlig gewerkschaftsunerfahren mit wirklich freien Gewerkschaften. — Ich denke, es erübrigt sich, zu sagen, daß wir uns alle über die jetzt anstehende Auflösung des FDGB freuen.

(Andres [SPD]: Hört! Hört!)

— Ich denke, da haben wir einen Minimal- und Grundkonsens, über den wir nicht weiter zu diskutieren brauchen, Herr Andres. — Aber die noch zu gründenden freien Gewerkschaften in der DDR sind in gewerkschaftlicher Betätigung unerfahren, insbesondere streikunerfahren. Dadurch wird bei zugelassener Aussperrung das Übergewicht der Unternehmer weiter gestärkt.
Aus diesem Grunde sagen wir: Die Aussperrung
— egal, ob in der Bundesrepublik oder in der DDR — ist ein fundamentaler Angriff auf das Streikrecht der Gewerkschaften.

(Heinrich [FDP]: Sagen das auch die Gerichte?)

Wir halten es auch für einen sittenwidrigen Angriff auf das Streikrecht, weil mit der Aussperrung Menschen gegen ihren Willen an der Arbeit gehindert werden, ohne daß sie für den Arbeitskampf selber verantwortlich gemacht werden können. Hiermit werden Menschen zu einem willkürlichen Mittel einer arbeitspolitischen Auseinandersetzung gemacht. Wir halten das für sittenwidrig.
Das Argument der Unternehmerseite, nur durch die Aussperrung könne die Waffengleichheit der beiden Tarifpartner gewährleistet werden, halten wir schon im Ansatz für falsch. Durch die Verfügungsgewalt über Eigentum, Investitionspolitik, alle Fragen der Produktion und Personalpolitik haben die Unternehmer ein derartiges Übergewicht, daß es durch das garantierte Streikrecht der Gewerkschaft nur zu einem Teil ausgeglichen werden kann.
Wenn auf dieser Basis — strukturelles Übergewicht der Unternehmer und Streikrecht der Gewerkschaften, das nur einen Teil dieses Übergewichtes ausgleichen kann — , die Aussperrung für zulässig erklärt wird, wird damit die Dominanz, und zwar die strukturelle Dominanz der Unternehmerseite wiederhergestellt, wie sie ursprünglich war. Der historische Erfolg der Gewerkschaften, nämlich das Streikrecht zu erkämpfen, wird damit wieder ausgehebelt.
Gleiches gilt für den § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes in seiner indirekten Wirkung. Er führt indirekt — das haben die Auseinandersetzungen im 1984er Metalltarifkonflikt gezeigt — zu einer Aushöhlung des Streikrechtes und der Streikfähigkeit der Gewerkschaften. Deswegen wird dieser § 116 AFG nach wie vor von uns abgelehnt.
Unser Gesetzentwurf sieht im einzelnen folgendes vor: In dem zentralen ersten Satz des Art. 1 § 1 Abs. 1 übernehmen wir wortgetreu das Verbot jeglicher Aussperrung aus dem gültigen Gewerkschaftsgesetz der DDR. Die Aussperrung ist in jeglicher Form verboten.
Um dies noch ausdrücklicher zu formulieren, haben wir im Abs. 2 geschrieben, dies gelte auch für alle Formen der kalten Aussperrung und Massenänderungskündigungen, die in ihrer Wirkung der Aussperrung gleichkommen.
Bei Verstößen gegen die Aussperrung haben wir nach intensiven Gesprächen in den vergangenen Jahren auch mit Vertretern von DGB, IG Metall und IG Druck und Papier eine gesetzlich garantierte Lohn-



Stratmann-Mertens
fortzahlungspflicht der Unternehmer vorgesehen. Erfahrungen in Großbritannien zeigen beispielsweise: Wo eine solche Lohnfortzahlungspflicht im Aussperrungsfall garantiert ist, wird der Umfang der Aussperrung erheblich reduziert.
In Art. 2 unseres Gesetzentwurfs verlangen wir die ersatzlose Streichung des § 116 AFG. Wenn die Aussperrung in jeglicher Form verboten ist und bei Verstößen dagegen die Lohnfortzahlungspflicht garantiert ist, wird der Regelungsbereich des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes überflüssig.
An die Adresse der SPD möchte ich sagen: Sie haben 1986 bei den Auseinandersetzungen die Rückkehr zu der alten Fassung des § 116 gefordert. Auch der alte § 116, 1986 novelliert, sah indirekt die Möglichkeit der Aussperrung vor. Deshalb ist die Rücknahme der Novellierung von 1986 nicht der erforderliche Durchbruch, sondern wir brauchen die ersatzlose Streichung des § 116.

(Andres [SPD]: Quatsch!)

Zur politischen Landschaft unserer parlamentarischen Initiative zum Aussperrungsverbot möchte ich folgendes sagen. Im Metalltarifkonflikt hat Anfang März dieses Jahres Herr Steinkühler, der IG MetallVorsitzende, auf einer Veranstaltung mit Lafontaine öffentlich erklärt, daß sich die IG Metall dafür einsetze, daß das gesetzliche Aussperrungsverbot, das im Gewerkschaftsgesetz der DDR vorgesehen ist, auch in der Bundesrepublik durchgesetzt werden muß. Das heißt, wir können davon ausgehen, daß auch die IG Metall nicht nur allgemein eine Ächtung der Aussperrung, sondern ihr gesetzliches Verbot fordert.
Unser Gesetzentwurf steht in einem diametralen Gegensatz zu dem vorliegenden Entwurf eines Staatsvertrages der BRD mit der DDR. Dort ist, wie ich schon gesagt habe, die Zulässigkeit der Aussperrung vorgesehen. Die DDR-SPD hat in vielen Punkten einen Alternativentwurf zum Staatsvertragsentwurf vorgelegt. In der entsprechenden Leitlinie zur Sozialgemeinschaft heißt es in dem Alternativentwurf der DDR-SPD: „Das Streikrecht wird gewährleistet, die suspensive Abwehraussperrung nur, soweit sie nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt."
An die Abgeordneten der SPD gerichtet möchte ich sagen: Wir werden uns im Parlament auch mit den Alternativentwürfen aus der DDR zum Staatsvertrag auseinandersetzen müssen. In etlichen Punkten unterstützen wir GRÜNEN die Alternativvorstellungen der DDR-SPD und auch die Grünen und das Bündnis 90 in der Volkskammer.
Nur: Wenn die DDR-SPD sagt, das Streikrecht wird gewährleistet, allerdings auch die suspensive Abwehraussperrung, macht sie damit ein Zugeständnis, das weit über die richterrechtliche Anerkennung der Aussperrung in der Bundesrepublik hinausgeht. Ich kann Sie von der SPD und auch Ihre Genossen in der DDR nur davor warnen, ein solches Zugeständnis innerhalb der Koalition in der DDR zu machen.
Wir sagen: Der Staatsvertragsentwurf muß ebenso wie in vielen Teilen auch in dem Teil Sozialgemeinschaft dahin gehend korrigiert werden, daß ausdrücklich festgestellt wird, daß eine Sozialgemeinschaft zwischen BRD und DDR die Garantie des Streikrechts und das Verbot der Aussperrung bedeutet. Dafür suchen wir sowohl im Parlament — bei den Sozialdemokraten — als auch außerparlamentarisch — insbesondere bei den Gewerkschaften — politische Unterstützung.
Danke schön.

(Zustimmung des Abg. Such [GRÜNE] — Louven [CDU/CSU]: Beifall eines einzelnen Herrn!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121003000
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Warrikoff.

Dr. Alexander Warrikoff (CDU):
Rede ID: ID1121003100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die GRÜNEN wollen mit ihrem Entwurf zum Verbot der Aussperrung in das Arbeitskampfrecht in einer ganz entscheidenden Weise eingreifen. Wenn es irgendein Rechtsgebiet gibt, bei dem man mit allergrößter Sorgfalt und Behutsamkeit vorgehen muß, dann ist es dieses Gebiet

(Andres [SPD]: Das ist wohl wahr!)

— ich danke für die Zustimmung —; denn es handelt sich um ein Rechtsgebiet, bei dem schwerste soziale Konflikte ausgetragen werden und bei dem es sich um Kampf handelt;

(Günther [CDU/CSU]: Das hat auch Helmut Schmidt gesehen!)

Kampf, der in anderen Gebieten unserer Rechtsordnung in dieser Form nicht auftritt. Deswegen verwundert es nicht, daß sich der Gesetzgeber hier größter Zurückhaltung befleißigt hat und wir es letzten Endes mit einem Rechtsgebiet zu tun haben, das im wesentlichen Richterrecht ist.

(Reimann [SPD]: Bis auf § 116! — Günther [CDU/CSU]: § 116 gab es schon immer! — Andres [SPD]: Denken Sie beim Staatsvertrag daran!)

Eine Ausnahme von diesen Überlegungen ist das bereits angesprochene Gewerkschaftsgesetz der DDR, auf das sich nicht zu beziehen ich empfehle.

(Andres [SPD]: Sehr gut!)

Dieses Gewerkschaftsgesetz ist von der alten, demokratisch nicht legitimierten Volkskammer in einer ihrer letzten Sitzungen verabschiedet worden

(Andres [SPD]: Mit sehr vielen CDU-Stimmen!)

— von der Block-CDU, mit der wir uns nie identifiziert haben, während Sie sich mit der SED identifiziert haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Stratmann-Mertens [GRÜNE]: In welcher Partei war de Maizière? — Bindig [SPD]: Ein wirrer Kopf! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Herr de Maizière war nicht Mann der Blockparteien, so wie das bei der SED ist. Ich schlage vor, daß wir dieses Thema nicht behandeln; denn ich bin dabei



Dr. Warrikoff
voller Zitate, von denen für Sie eines peinlicher als das nächste ist.

(Stratmann-Mertens [GRÜNE]: Sie befinden sich auf Glatteis! — Andres [SPD]: Ihr Bündnispartner hat zugestimmt!)

Herr Präsident, ich darf zum Thema zurückkehren. Die Volkskammer hat dieses Gesetz in einem eigenartigen Verfahren verabschiedet. Es wurde gemacht, ohne daß die Betroffenen, nämlich freie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, gehört wurden. Sie konnten auch gar nicht gehört werden, weil es sie gar nicht gab. Dieselben GRÜNEN, die ständig anmahnen, daß ihnen alles zu schnell gehe, wenn wir nach eineinhalb Jahren der Beschäftigung mit einem Gesetz im Bundestag, nach Anhörungen und Ausschußsitzungen, bei Themen, die weit weniger wichtig sind als dieses Thema, endlich eine Entscheidung treffen, sollten dieses Gesetz überhaupt nicht zitieren.

(Zuruf von der SPD: Stimmt!)

Es gibt nur eine wirklich wesentliche, entscheidende Kodifizierung des Arbeitskampfrechtes in unserem Recht: Das ist Art. 9 Abs. 3, in dem das Arbeitskampfrecht unter den Schutz der Verfassung gestellt wird. Ich möchte ausdrücklich betonen — ich weiß, daß die GRÜNEN für die Verfassung nicht viel Sinn haben — —

(Stratmann-Mertens [GRÜNE]: Reden Sie nicht so einen Quatsch!)

— Sie haben doch die Verfassungsfrage in einer Weise runtergebügelt, die unglaublich ist.

(Stratmann-Mertens [GRÜNE]: Wir wollen gerade eine Fortentwicklung unserer Verfassung für ein vereintes Deutschland!)

Ich möchte ausdrücklich betonen, daß die Verfassung vom Arbeitskampfrecht spricht; die Verfassung spricht nicht vom Streikrecht. Das ist auch nicht etwa ein Versehen, sondern es waren, wie die Materialien ganz eindeutig zeigen, sowohl das Streikrecht wie auch die Aussperrung gemeint, also das Arbeitskampfrecht insgesamt.
Jetzt fragt man sich natürlich: Was ist denn das Motiv der GRÜNEN, mit diesem Gesetzentwurf in diesen hochsensitiven Bereich hineinzumarschieren? Warum? — Glücklicherweise geben Sie die Antwort selber. Sie meinen, daß die derzeitige Ausgestaltung des Rechts der Aussperrung, so wie sie heute ist — beschränkt auf Abwehraussperrung usw. — , die Streikmöglichkeiten der Gewerkschaft, wie Sie in Ihrem Gesetzesentwurf schreiben, drastisch einengen und das Streikrecht massiv gefährden.

(Zuruf von der SPD: Da haben sie recht!)

Dazu einige Bemerkungen: Wir stehen gerade am Ende eines Arbeitskampfes, bei dem die IG-Metall gegen den schärfsten Widerstand der Arbeitgeber die 35-Stunden-Woche durchgesetzt hat. Nun hoffe ich doch bitte sehr, daß Sie nicht so naiv sind, zu glauben, daß die Arbeitgeber den überlegenen Argumenten von Herrn Steinkühler gefolgt wären. Ganz im Gegenteil: Die Arbeitgeber haben der 35-Stunden-Woche wider besseres Wissen zugestimmt, weil sie sich vor einem Streik fürchteten.

(Zuruf von der SPD: Wie immer in der Geschichte!)

Die von Ihnen als zahnlos beschriebenen Gewerkschaften — ich hoffe doch, daß die Gewerkschafter dem widersprechen, wenn eine derartige Zahnlosigkeit vorgeführt wird — sind in Wirklichkeit mit ganz scharfen Zähnen ausgestattet.

(Gilges [SPD]: Gott sei Dank!)

— Richtig, ich stimme Ihnen ja zu. Ich widerspreche Ihnen überhaupt nicht. Es ist vollkommen zutreffend.

(Stratmann-Mertens [GRÜNE]: Meinen Sie die dritten oder die vierten Zähne?)

— Der Herr Kollege Stratmann hat in bezug auf die Gewerkschaften von den dritten und vierten Zähnen gesprochen. Es wäre besser, wenn sich der Gewerkschafter Stratmann aus seiner beengten Sicht des gesellschaftlichen Lebens als Lehrer in dieser Frage zurückhalten würde.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Gewerkschaften sind also sehr, sehr mächtig. Es ist auch so, daß es gar nicht eines Streiks bedarf, sondern daß im allgemeinen schon die Streikdrohung genügt. Der sicher unverdächtige Nell-Breuning schreibt:
In der Tat haben es die Gewerkschaften meisterhaft verstanden, durch leises Erinnern an die Möglichkeit zu streiken den Streik unnötig zu machen.
Soweit Nell-Breuning.
Natürlich drohen die Arbeitgeber mit Aussperrung. Dann müssen die Gewerkschaften das gesamte Bild betrachten. Sie müssen sich überlegen, wer die besseren Karten hat. Wer in einen Kampf hineingeht, muß natürlich auch ein gewisses Risiko auf sich nehmen. Das ist das Wesen des Kampfes. Was die GRÜNEN jetzt wollen, ist, daß das Ganze ohne Risiko für die Gewerkschaften abläuft, mit anderen Worten, daß die Arbeitgeber in diesem Kartenspiel überhaupt keine Karten mehr haben.

(Stratmann-Mertens [GRÜNE]: Haben sie Lohnausfall bei Streik oder nicht?)

Sie haben auf einen wichtigen Punkt hingewiesen: Sie wollen, daß alle streikbedingten Ausfälle, alle Stillegungen, alle Stockungen, die es gibt, wo auch immer, von den Arbeitgebern bezahlt werden. Es ergibt sich also folgendes Szenario. Die Gewerkschaft, die ihre Branche ja ganz genau kennt, sucht sich einen Betrieb oder einen Betriebsteil aus, bestreikt ihn und führt damit herbei, daß wer weiß wie viele Arbeitnehmer des bestreikten Unternehmens oder auch anderer Unternehmen dadurch nicht mehr arbeiten können. Die Arbeitgeber müssen weiter zahlen, bis sie grün werden. Sie werden nicht grün: bis sie blau werden,

(Andres [SPD]: Bis sie so schwarz bleiben, wie sie sind!)

wegen Luftmangels. Dieses Druckmittel richtet sich
nicht nur gegen die bestreikten Unternehmen, son-



Dr. Warrikoff
dern auch gegen andere Unternehmen. Letzten Endes gibt es nur noch die Möglichkeit des Nachgebens oder aber des Konkurses. Die dritten Firmen, die von diesem Streik mittelbar betroffen werden, können noch nicht einmal nachgeben. Sie können überhaupt nur warten, bis der Streik zu Ende geht, oder sich eventuell auf einer Bittprozession zum Streikherd begeben und um Nachsicht und Milde bitten.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121003200
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann-Mertens?

Dr. Alexander Warrikoff (CDU):
Rede ID: ID1121003300
Ja, bitte sehr.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121003400
Bitte schön, Herr Stratmann-Mertens.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1121003500
Herr Warrikoff, ich bestreite nicht, daß das, was Sie darstellen, ein Problem ist. Nur: Ist Ihnen bekannt, daß es wie schon in der Vergangenheit bei Arbeitskämpfen Praxis ist, daß sich von Fernwirkungen dieser Arbeitskämpfe betroffene Unternehmen dadurch untereinander helfen, daß sie sich Lagerhilfen geben, daß sich ein einzelnes Unternehmen, wenn in absehbarer Zukunft Fernwirkungen drohen, durch eine entsprechende Lagerhaltung hilft — was natürlich eine andere Lagerhaltung als derzeit voraussetzt — , und daß es in solchen Fällen in der Vergangenheit schon möglich war und in der Zukunft, wenn bei den Unternehmerverbänden politisch gewollt, erst recht möglich sein wird, durch den Aufbau von Unternehmersolidaritätsfonds für Hilfe zu sorgen?

Dr. Alexander Warrikoff (CDU):
Rede ID: ID1121003600
Mir ist bekannt, daß sich die Arbeitgeber untereinander helfen, wie sich natürlich auch die Arbeitnehmer mit Recht untereinander helfen, daß diese Hilfe aber insgesamt bei geschickter Streiktaktik ohne die Möglichkeit einer Gegenwehr nur kurz vorhält, was, wie ich gesagt habe, zu Wehrlosigkeit der Unternehmer führt.

(Andres [SPD]: Das ist ein Jammerbild! Wir weinen gleich alle mit!)

— Das ist eindeutig. Ich wundere mich, daß Sie, Herr Andres, oder andere Damen und Herren von der SPD, mich an dieser Stelle attackieren. An anderer Stelle bin ich daran gewöhnt.

(Andres [SPD]: Wir haben gesagt: Wir weinen mit!)

Ich wundere mich deswegen, weil Sie selber die Aussperrung, in welcher Ausgestaltung auch immer, für ein notwendiges Element unserer Arbeitsrechtsordnung halten.

(Stratmann-Mertens [GRÜNE]: Das wäre mir neu! Das wäre mir wirklich neu! Das werden wir gleich hören! — Frau Weiler [SPD]: Wo haben Sie das her? — Such [GRÜNE]: Der Prophet!)

— Das werden wir gleich hören. Ich habe Ihre Anträge immer so verstanden, daß Sie eine Abwehraussperrung in einem angemessenen Umfang für richtig halten.

(Widerspruch bei der SPD)

— Sie lehnen jede Art von Aussperrung ab? (Andres [SPD]: Selbstverständlich!)

— Dann kann ich meine aggressiven Bemerkungen auch an die Adresse der SPD richten.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP — Heinrich [FDP]: Das ist immer gut! — Andres [SPD]: Guten Morgen, Herr Dr. Warrikoff!)

Meine Damen und Herren, auch hierzu, was die Maßlosigkeit und den Mangel an Balance angeht, ein Zitat von Nell-Breuning:
Auf keinen Fall darf es so sein, daß eine Seite über Waffen verfügt, denen die andere Seite nichts entgegenzusetzen hat, womit ihr das Übergewicht gegenüber der anderen Seite gegeben wird und diese Seite ihrer Willkür ausgeliefert wird.
Meine Damen und Herren, was Sie letzten Endes wollen, ist der Verzicht auf Arbeitskampf.

(Reimann [SPD]: Das ist die Waffengleichheit!)

Denn ein Arbeitskampf, der nur aus Streik besteht, ist begrifflich kein Arbeitskampf. Folglich fällt auch der Streik weg. Der Streik muß wegfallen, weil dem Arbeitgeber nichts anderes übrigbleibt, als sich sofort den Wünschen der Gewerkschaft zu unterwerfen. Es fällt auch die Rolle des Arbeitgebers überhaupt weg. Denn wenn ich eine Situation habe, bei der die Arbeitgeber überhaupt keine Möglichkeit haben, sich den Wünschen der Gewerkschaft entgegenzustellen, wird es sehr schwer sein, Arbeitgeber zu finden, die investieren wollen, um Arbeitsplätze zu schaffen. Wenn das so ist, bleibt uns dann nur noch die Möglichkeit, diese Funktion der Wirtschaft dem Staat zu übertragen, der als einziger in Frage käme, wenn es darum geht, mit diesen Dingen fertig zu werden.

(Stratmann-Mertens [GRÜNE]: Der hat auch die Aussperrung verboten! — Reimann [SPD]: So schlecht ist VW nicht gemanagt worden!)

— Das, Herr Reimann, von Ihnen.
Das Ganze nennt man dann Sozialismus, von dem ich meine, daß er wirklich in die Rumpelkammer der Geschichte gehört.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121003700
Das Wort hat der Abgeordnete Andres.

Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1121003800
Herr Dr. Warrikoff, wenn man Ihnen zuhört, fällt einem viel ein, was in die Rumpelkammer der Geschichte gehört.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Wir befassen uns heute mit einem Gesetzentwurf der GRÜNEN zum Verbot der Aussperrung, der in weiten Passagen einer Gesetzesinitiative aus dem Jahre 1984 entspricht. Wie im Jahre 1984 wird diese Gesetzesinitiative wohl nicht zufällig in zeitlichem Zusammenhang mit bedeutenden Tarifauseinandersetzungen, besonders im Metall- und im Druckbereich, hier eingebracht. Aber anders als im Jahre 1984



Andres
scheint der aktuelle Bezugspunkt doch schon erledigt zu sein.
Deshalb will ich beginnen mit einem ausdrücklichen Dank an die IG Metall und an die IG Medien, die mit ihren Tarifabschlüssen und der damit verbundenen Vereinbarung der 35-Stunden-Woche in verantwortungsbewußter Weise ein schwieriges Kapitel Sozial- und Tarifgeschichte bewältigt haben.

(Beifall bei der SPD)

Grundsätzlich ist zu begrüßen, daß Tarifauseinandersetzungen die GRÜNEN an ein wichtiges Thema erinnern. Dennoch bleibt der Eindruck, daß auch Wahlkämpfe, die vor uns stehen, offensichtlich bei Ihnen dazu geführt haben, daß Ihnen das Arbeitskampfrecht wieder einfällt.
Manche Formulierungen in dem vorgelegten Gesetzentwurf hinterlassen, wenigstens bei mir, den schalen Beigeschmack, daß die erwartete Begleitmusik für die Beratung dieser Gesetzesinitiative doch eine andere war, als sie durch Zeitumstände jetzt schlicht entschieden worden ist. Wem es wirklich um die Schaffung von Chancengleichheit im Arbeitskampf geht, der wartet mit gesetzgeberischen Initiativen nicht auf Wahlkämpfe oder Tarifauseinandersetzungen.
Zwei bedeutsame Unterschiede gegenüber dem Gesetzentwurf von 1984 sind allerdings wichtig: Erstens wird Bezug genommen auf die in der Zwischenzeit stattgefundene Veränderung des § 116 AFG. Zweitens wird ein Zusammenhang mit der gegenwärtigen Lage der Entwicklung in der DDR hergestellt und besonders Bezug genommen auf das Gewerkschaftsgesetz und das damit verbundene Verbot der Aussperrung. Dazu möchte ich ein paar Bemerkungen machen, weil die mir doch wichtig erscheinen:
Bereits in der Aktuellen Stunde zum Gewerkschaftsgesetz der DDR, die am 7. März hier stattgefunden hat, hat die SPD-Bundestagsfraktion ihre grundsätzlich ablehnende Haltung diesem Gesetz gegenüber formuliert. Ich will diese grundsätzlich ablehnende Haltung noch einmal ausdrücklich bekräftigen. Wer die Prinzipien der Betriebsverfassung für richtig hält und sie als Modell den Gewerkschaften der DDR empfiehlt, der kann nicht bei uns dieses Gesetz mit dem Hinweis auf das enthaltene Aussperrungsverbot hochhalten, der muß sich auch fragen lassen, Herr Stratmann, was beispielsweise die Streikaussetzungsklausel dieses Gewerkschaftsgesetzes mit der schönen Begrifflichkeit „Gemeinwohl" auf uns übertragen bedeuten würde.
Wer die aktuelle Arbeitskampfauseinandersetzung im Postbereich verfolgt, der merkt, daß in der Öffentlichkeit diese Gemeinwohlklauseln immer mehr hochgezogen werden und damit die Tarifautonomie und auch die Arbeitskampfautonomie in Frage gestellt werden sollen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121003900
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann-Mertens?

Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1121004000
Bitte schön.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121004100
Bitte schön, Herr Stratmann.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1121004200
Herr Andres, sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß wir GRÜNEN zum Gewerkschaftsgesetz der DDR sowohl in der Aktuellen Stunde als auch heute eine differenzierte Haltung eingenommen haben, nämlich daß wir erstens, was das formale Verfahren anbetrifft, die gleiche Kritik anbringen, die Herr Warrikoff schon geübt hat und die alle in diesem Haus teilen, und daß wir zweitens, was die einzelnen Bestimmungen des Gewerkschaftsgesetzes anbetrifft, große Teile der einzelnen Bestimmungen ablehnen, z. B. auch die Möglichkeit, daß der Staat im Interesse des Gemeinwohls einen Streik verbietet, worauf Sie gerade anspielen und was eine absolut untragbare Formulierung ist,

(Heyenn [SPD]: Frage!)

— „sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen ...?" —, und daß eine solche im Formalen wie in Einzelbestimmungen ablehnende Haltung es durchaus zuläßt, einzelnen Bestimmungen, die fortschrittlichen Charakter haben, zuzustimmen?

Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1121004300
Ich nehme Ihre differenzierte Haltung zur Kenntnis. Ich bin nur politisch der Überzeugung: Das Gewerkschaftsgesetz muß zunächst in seiner Gänze verschwinden, und dann müssen Einzelfragen wie Tarifautonomie, Streikrecht und andere Dinge geregelt werden.

(Beifall bei der SPD — Stratmann-Mertens [GRÜNE]: Und Aussperrungsverbot!)

Ich komme aber in einem anderen Zusammenhang noch einmal darauf zurück, Herr Stratmann.
Letztlich will ich mich in dem Zusammenhang — das hängt auch mit Ihrer Frage zusammen — ausdrücklich auf Äußerungen von Franz Steinkühler beziehen, der ja bei seinem Besuch in der DDR und der Besichtigung von Automobilwerken dort relativ häufig auf seine Haltung zu diesen Passagen des Gewerkschaftsgesetzes angesprochen worden ist. Franz Steinkühler hat die Auffassung vertreten, daß gegenwärtig die Arbeitnehmer der DDR ganz andere Probleme haben und vor anderen Auseinandersetzungen stehen als vor der, das Aussperrungsverbot für sich zu regeln und darum zu kämpfen.

(Stratmann-Mertens [GRÜNE]: Das sieht im Herbst anders aus, Herr Andres!)

Ich sage Ihnen auch: In Ihrer Gesetzesinitiative ist der Zusammenhang zwischen der Lage der Arbeitnehmer in der DDR und dem Aussperrungsverbot völlig falsch. Ich glaube, daß wir viel mehr Probleme mit Massenentlassung, mit Betriebsänderung, mit Konkursverfahren bekommen, und von daher hat für mich beispielsweise die Sozialplanregelung des Betriebsverfassungsgesetzes eine ganz andere und wichtigere Dimension als beispielsweise die Auseinandersetzung um zunächst abstrakte Rechtsbegriffe. Ich weiß schon, was diese abstrakte Regelung für uns bedeutet.

(Stratmann-Mertens [GRÜNE]: Wie wollen Sie Sozialpläne gewerkschaftlich durchsetzen? — Günther [CDU/CSU]: Da kann man zustimmen!)




Andres
Ich komme in dem Zusammenhang darauf, daß die Tarifautonomie und das Streikrecht in der DDR letztlich rechtlich normiert werden müssen. In den Leitsätzen zum Staatsvertrag DDR/Bundesrepublik wird in diesem Zusammenhang die Aussperrung ausdrücklich genannt. Ich sage hier: Eine solche Formulierung wird auf keinen Fall die Zustimmung der SPD finden, würde doch damit die Aussperrung sozusagen aus dem Bereich des Richterrechtes genommen und eindeutig staatsrechtlich in einem Vertrag normiert werden. Wir werden einer solchen Passage in keinem Fall zustimmen.

(Beifall bei der SPD — Dr. Warrikoff [CDU/ CSU]: Sind Sie für oder gegen Aussperrung?)

In der Debatte um die Aussperrung haben die Sozialdemokraten im Bundestag bereits eindeutig erklärt, erstens daß es für uns keinen Zweifel daran gibt, daß Aussperrung verboten gehört,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

zweitens daß die Aussperrung und besonders deren Praxis von uns als Angriff auf das zu den Grundrechten zählende Streikrecht abgelehnt wird, drittens daß die Aussperrung mit allen Mitteln bekämpft werden muß. An dieser grundsätzlichen Haltung hat sich für die SPD nichts geändert. In das Berliner Grundsatzprogramm, das wir im Dezember letzten Jahres verabschiedet haben, wurde deshalb ausdrücklich aufgenommen, daß die Sozialdemokraten zur Herstellung eines Gleichgewichts zwischen den Tarifparteien ein gesetzliches Verbot der Aussperrung für notwendig halten.

(Stratmann-Mertens [GRÜNE]: Aha!)

Die Aussperrung hat aber gerade in der Bundesrepublik eine unrühmliche Tradition, und dazu möchte ich einige Bemerkungen machen, Herr Dr. Warrikoff, weil Sie sich ja darauf bezogen haben. — In anderen europäischen Ländern ist sie entweder verboten oder wirkungslos, da den Ausgesperrten Lohnersatz gezahlt wird. Wenn in diesem Haus die scheinbare Waffengleichheit und damit die Rechtfertigung der Aussperrung von Ihrer Seite immer als unverzichtbarer Bestandteil unserer Demokratie dargestellt wird,

(Dr. Warrikoff [CDU/CSU]: Und des Arbeitskampfrechts!)

müssen offenbar in allen anderen westeuropäischen Ländern, mit denen wir die europäische Einigung anstreben, undemokratische Zustände herrschen;

(Stratmann-Mertens [GRÜNE]: ,,Sozialistische", nach Warrikoff!)

denn weitgehend ist in diesen Ländern das Instrument der Aussperrung wie gesagt unbekannt oder wirkungslos, weil es Lohnfortzahlungsregelungen gibt.
Die von dieser Regierung gebilligten Möglichkeiten der Aussperrung führen dazu, daß die Arbeitgeber massiv Druck auf Arbeitnehmer und ihre Familien ausüben können. Dabei ist der von Ihnen 1986 durchgepaukte § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes ein wichtiger Baustein. Mit dieser Gesetzesänderung haben Sie geregelt, daß nicht am Arbeitskampf beteiligte Arbeitnehmer kein Kurzarbeiter- bzw. Arbeitslosengeld vom Arbeitsamt erhalten, falls sie ausgesperrt werden.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Damit nicht der Steuerzahler den Streik bezahlt!)

Wir haben gegen diese Regelung dargelegt, daß damit die Neutralitätspflicht der Bundesanstalt für Arbeit im Arbeitskampf verletzt wird und der soziale Friede gefährdet ist. Alle vorgebrachten Argumentationen haben nichts genützt. Sie haben sich eindeutig auf die Seite der Unternehmer geschlagen und die Gewichte im Arbeitskampfrecht zu ihren Gunsten verschoben.
Mit der Änderung des § 116 AFG hat die amtierende Bundesregierung von CDU/CSU und FDP den Unternehmern faktisch eine Aufforderung geschickt, im Konfliktfall massenhaft auszusperren. Vor der Gesetzesänderung erhielten die Beschäftigten in einem Tarifgebiet, das nicht umkämpft war, Kurzarbeitergeld vom Arbeitsamt, falls sie ausgesperrt wurden. Nach der Gesetzesänderung erhalten sie keinen Pfennig mehr. Die Gewerkschaft darf keine Streikunterstützung zahlen, da ja offiziell nicht gestreikt wird; und auch vom Arbeitsamt gibt es nichts. Wer die Miete, den Strom und die anderen Lebenshaltungskosten für Hunderttausende von Arbeitnehmern zu tragen hat, das ist Kohl, Blüm und Co. völlig egal. Daran sind sie nicht interessiert.
Von der Intention her unterstützen wir die Initiative der GRÜNEN ausdrücklich, nicht aber in dem Weg, den sie mit diesem Gesetzentwurf vorgeschlagen haben.
Wir haben ein arbeitsrechtliches Sofortprogramm entwickelt, das wir bei anderen Mehrheitsverhältnissen in diesem Hause nach dem Dezember, nach den Wahlen umsetzen wollen. In diesem arbeitsrechtlichen Sofortprogramm werden wir zunächst, als ersten Schritt, den § 116 AFG ändern, weil das unserer Auffassung nach notwendig ist.

(Dr. Warrikoff [CDU/CSU]: Wann?)

— In den ersten hundert Tagen, Herr Kollege. — Danach werden wir die Regelungen der §§ 611, 615 und anderer Paragraphen so novellieren, daß im Aussperrungsfall die Lohnfortzahlung gewährleistet ist und daß die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte gewährleistet bleiben; und wir werden durch eine Reihe von Veränderungen im Arbeitsrecht dafür sorgen, daß bestimmte Maßnahmen des Arbeitsrechts nicht mehr angewendet werden können.

(Abg. Dr. Warrikoff [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Herr Dr. Warrikoff!

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121004400
Aber die Zeit ist um!

Dr. Alexander Warrikoff (CDU):
Rede ID: ID1121004500
Ich bitte Sie zu bestätigen, daß Ihrer Meinung nach die Gewerkschaften keine Möglichkeiten haben, ihren Willen mit Arbeitskampfmitteln hinreichend durchzusetzen, und ich bitte Sie gleichzeitig mitzuteilen, ob Sie meinen, daß die 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie durch die Freundlichkeit der Arbeitgeber zustande gekommen ist.




Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1121004600
Auf Ihre erste Frage möchte ich Ihnen antworten: Unserer Auffassung nach führt die Aussperrung zu einer Aushöhlung des verfassungsrechtlich garantierten Streikrechts und verschiebt die Gewichte, die Kräfteverhältnisse im Arbeitskampfrecht unzulässigerweise zugunsten der Arbeitgeber. Deshalb wollen wir die Aussperrung gesetzlich verbieten.

(Louven [CDU/CSU]: Sieht das Ihr Parteifreund Reuter auch so?)

Zu Ihrer zweiten Frage muß ich Ihnen folgendes sagen: Ich glaube, daß der Tarifabschluß bei Metall und bei IG Medien deshalb zustande gekommen ist, weil erstens die Gewerkschaften und die Arbeitnehmer in diesen Bereichen deutlich gemacht haben, daß es ihnen sehr ernst ist und daß sie darum kämpfen werden, und weil dies zweitens in der gegenwärtigen Lage für die Arbeitgeber eine schlichte Rechenoperation war. Es war eine Rechenoperation, Herr Kollege Warrikoff. Es ist nämlich ausgerechnet worden, ob man sich bei der gegenwärtigen Beschäftigungslage

(Abg. Dr. Warrikoff [CDU/CSU] nimmt Platz)

— ich beantworte immer noch Ihre Frage — —

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121004700
Ich habe inzwischen aber die Uhr wieder angestellt, weil ich auch an die anderen denke.

Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1121004800
Ich wollte also sagen, es war eine schlichte Rechenoperation. Man hat sich ausgerechnet, ob man sich bei der gegenwärtigen Auslastungsrate der Industrie einen Streik leisten will oder nicht. Unter den Gesichtspunkten hat man darauf verzichtet.
Wir werden also — um zum Schluß zu kommen — ein umfangreiches rechtliches Instrumentarium in die Wege leiten, mit dem wir alle Voraussetzungen erfüllen wollen, um das gesetzliche Verbot der Aussperrung zu ermöglichen.
Abschließend möchte ich sagen, letztendlich scheint uns eine rechtliche Normierung in Art. 9 der Verfassung notwendig zu sein. Welche Voraussetzungen dafür aber notwendig sind, brauche ich weder den GRÜNEN noch anderen hier im Hause zu schildern. Ich bedaure ganz ausdrücklich, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß es bei den gegebenen Mehrheitsverhältnissen in diesem Hause in dieser 11. Legislaturperiode wohl nicht mehr damit zu rechnen ist, daß es eine gesetzgeberische Initiative zur Bekämpfung und zum Verbot der Aussperrung geben wird.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD — Louven [CDU/CSU]: Aber ihr hättet doch gekonnt!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121004900
Das Wort hat der Abgeordnete Heinrich.

Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1121005000
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Andres, Sie haben sicherlich recht, wenn Sie in Ihrem letzten Satz die Realitäten beschrieben haben. — Das ist nicht von ungefähr so.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor einiger Zeit hat sich Herr Hoss zur NATO bekannt, die GRÜNEN haben den Gedanken der Zweistaatlichkeit fallenlassen; und ich hätte heute Ihnen, Herr Stratmann,

(Stratmann-Mertens [GRÜNE]: StratmannMertens, bitte!)

eigentlich gewünscht, daß Sie auch in dieser Frage etwas mehr Realitätssinn an den Tag legen.
Gäbe es, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, einen politischen Mindeststandard, so wären Sie mit diesem Machwerk wahrscheinlich glatt durchgefallen. Das ist kein Gesetz. Das ist — das sage ich Ihnen in aller Freundschaft — ein Schauantrag, und noch dazu ein sehr schlecht gemachter Schauantrag in Wahlkampfzeiten.
Die von Ihnen vorgeschlagene Streichung des § 116 AFG sowie die generelle Lohnfortzahlung des Arbeitgebers bei Betriebsstockungen auf Grund von Arbeitskämpfen machen deutlich, daß es Ihnen letztlich um mehr Macht für die Gewerkschaften geht, und um sonst gar nichts.
Der Anlaß für Ihren erneuten Schauantrag ist klar: Sie wollen — Arm in Arm mit der PDS und dem FDGB — diesen Teil des unseligen DDR-Gewerkschaftsgesetzes

(Such [GRÜNE]: Lügen verbreiten Sie hier!)

in eine neue Zeit retten und ihn auch noch auf die Bundesrepublik Deutschland ausdehnen.

(Beifall bei der FDP — Such [GRÜNE]: Sie verbreiten hier Lügen!)

Ist dies Ihre Strategie?

(Stratmann-Mertens [GRÜNE]: Das ist ungeheuerlich! Herr Präsident, ich finde es unmöglich, daß so etwas durchgeht: in einem Atemzug die GRÜNEN und die PDS zu nennen, obwohl doch die GRÜNEN die einzige Fraktion in diesem Haus waren, die den Kontakt zur Bürgeropposition gepflegt hat! — Louven [CDU/CSU]: Ihr führt doch Gespräche mit der PDS!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121005100
Also, hier wird politisch diskutiert, und Sie können sich jederzeit wehren. Dies ist noch kein Grund für einen Ordnungsruf oder sonstiges. Das kann es auch nicht sein.

Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1121005200
Herr Kollege Stratmann, regen Sie sich nicht künstlich auf! Sie kennen die Hintergründe. Ist dies Ihre Strategie, den deutsch-deutschen Einigungsprozeß zu begleiten, indem Sie ihn erschweren?
Die Haltung der FDP ist klar. Ihre Haltung ist klar — Sie haben sie klargestellt —; die der Union mehrheitlich wohl auch. Ich nehme an, daß der Staatssekretär Vogt nachher hier das Entsprechende dazu sagen wird.

(Andres [SPD]: Das muß aber nicht sein! — Gegenruf des Abg. Günther [CDU/CSU]: Tut er auch nicht! — Louven [CDU/CSU]: Die Union hat ihre Haltung schon klargemacht!)




Heinrich
Interessant wird es sein, wie sich die CDA hierzu verhält. Hier werden wir nachfragen müssen, ob hier die CDA nahtlos auf Fink-Kurs geht.

(Andres [SPD]: Alle Vorkämpfer der CDA sitzen hier!)

Aber noch interessanter wird, Herr Kollege Andres, die Haltung der SPD sein.

(Andres [SPD]: Die habe ich erläutert!) Denn, Herr Kollege Andres,


(Andres [SPD]: Na, na, was jetzt!)

Herr Kollege Dreßler, unser Kollege Dreßler hat im Jahr 1984, vor fast sechs Jahren, einen Gesetzentwurf zum Verbot der Aussperrung angekündigt. Die Tatsache, daß bis heute kein Gesetzentwurf vorliegt,

(Frau Weyel [SPD]: Hat etwas mit den Mehrheitsverhältnissen im Bundestag zu tun!)

erlaubt die Vermutung, daß bessere Einsicht am Werk war und daß man sich deshalb mit allgemeinen Formulierungen, wie sie aus vielen Beschlüssen bekannt sind und wie Sie sie auch heute wieder von sich gegeben haben, begnügt.

(Stratmann-Mertens [GRÜNE]: Hört! Hört!)

Die FDP hat sich immer zur Tarifautonomie und zur Verantwortung der Tarifpartner bekannt,

(Günther [CDU/CSU]: Die Geschlossenheit der FDP!)

Arbeitsbedingungen, Arbeitsentgelte eigenverantwortlich auszuhandeln. Wir lehnen deshalb auch jeden staatlichen Eingriff, jede staatliche Zwangsschlichtung, wie sie z. B. das Gewerkschaftsgesetz der DDR enthält, ab.

(Andres [SPD]: Richtig!)

Gleiches gilt selbstverständlich für das Aussperrungsverbot. Voraussetzung für eine funktionierende Tarifautonomie, die wir trotz mancher Mängel sehr hoch einschätzen, ist aber ein annähernd funktionierendes Gleichgewicht der Verhandlungspartner. Deshalb ist nach unserer Ansicht das Arbeitskampfrecht mit seinen Ausprägungen wie Streik und Aussperrung zwar die Ultima ratio der tarifvertraglichen Auseinandersetzungen, aber zugleich ein unverzichtbarer Bestandteil eines recht verstandenen Grundrechts der Koalitionsfreiheit.
Auch wenn die GRÜNEN den Eindruck zu erwecken versuchen, als wäre die Aussperrung bei uns schrankenlos zulässig, ist dies nicht so. Die Rechtsprechung hat zum Teil komplizierte Regelungen aufgestellt, die dabei zu beachten sind. Wir brauchen kein Verbot der Aussperrung und selbstverständlich auch kein Verbot des Streiks. Wir brauchen vernünftige und verantwortungsbewußte Tarifabschlüsse, die es Arbeitnehmern und Unternehmern ermöglichen, zu arbeiten und gemeinsam zu Wohlstand in unserem —hoffentlich bald wiedervereinten — Land beizutragen.

(Beifall bei der FDP — Such [GRÜNE]: „Wiedervereinigt" ? Vereinigt!)

Dies bedeutet aber auch, daß sich die Tarifvertragsparteien bei ihren Abschlüssen ihrer Verantwortung gegenüber den Arbeitnehmern und den Arbeitslosen hier, aber auch gegenüber denen in der DDR bewußt sein müssen.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Sehr richtig!)

Sicher werden viele erleichtert sein, daß Streiks bei den Tarifauseinandersetzungen in der Metallindustrie ausgeblieben sind. Aber man muß auch sehen, um welchen Preis. Denn der jetzt festgelegte Weg in die 35-Stunden-Woche ist ein Irrweg.

(Lachen bei der SPD — Andres [SPD]: Er war richtig!)

Er mag zwar für Großunternehmen verkraftbar sein. Doch schädigt er die kleinen und mittleren lohnintensiven Betriebe.

(Frau Weiler [SPD]: Das sagen Sie seit Jahrzehnten!)

— Frau Kollegin, ich möchte Ihnen doch schon ganz deutlich darstellen, wie sich das auswirkt. — Wo sollen die kleinen und mittleren Betriebe bei weiter wachsendem Fachkräftemangel schon allein auf Grund der demographischen Entwicklung die qualifizierten Arbeitskräfte herbekommen?

(Louven [CDU/CSU]: Zumal die Ausbildungszeit dann auch verkürzt wird! — Andres [SPD]: Ausbilden, ausbilden!)

Die Folge werden mehr Überstunden sein. Die Folge wird ein stärkerer Ruf nach gesetzlicher Beschränkung genau dieser Überstunden sein, und zum Schluß werden die Fertigungen ins Ausland verlegt. Auch das ist eine Art Entwicklungshilfe oder innergemeinschaftlichen Austausches von Produktionsstandorten; aber ich kann mir da schon eine bessere Methode vorstellen. Vergessen wird in dem Zusammenhang auch, daß gerade die kleinen und mittleren Betriebe die Träger des Beschäftigungsaufschwungs sind, daß die Beschäftigung in Großbetrieben jedoch insgesamt abgenommen hat.

(Frau Weiler [SPD]: Ausnahmsweise richtig!)

Dies ist die Realität, und dies ist ein gefährlicher Weg; denn unsere Wirtschaft hängt entscheidend von der Flexibilität, von der Innovationsfähigkeit und der qualifizierten Arbeit in den Betrieben ab, die bei den Tarifverhandlungen nicht mit am Tisch gesessen haben.

(Beifall des Abg. Dr. Weng [Gerlingen] [FDP])

Wir haben jetzt eigentlich wichtigere Aufgaben, als uns mit solchen Scheinproblemen zu beschäftigen, wie dieser Gesetzentwurf sie aufführt.
Hier gebe ich Ihnen, Herr Kollege Andres, recht: Wir müssen gemeinsam dazu beitragen, daß der wirtschaftliche Aufholprozeß in der DDR in Gang kommt, daß sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen dort verbessern. Wir brauchen ein ökologisch vertretbares, fühlbares Wachstum, das es uns ermöglicht, die notwendigen Hilfestellungen zu gewähren. Nur so können wir den Aufschwung fortset-



Heinrich
zen und Arbeitsplätze bei uns und drüben in der DDR schaffen.
Voraussetzung dafür ist aber, daß der Einigungsprozeß möglichst rasch vollzogen und der gegenwärtige Schwebezustand bald beendet wird. Machen wir uns doch nichts vor! Wir haben gewaltige Aufgaben zu bewältigen. Dazu bedarf es gemeinsamen Tätigwerdens auf beiden Seiten. Ein vereintes Deutschland hat die Chance, zu einem Ort des Friedens und des Wohlstandes in Europa zu werden, eines Wohlstandes, der es uns ermöglicht, auch den Ländern und Regionen Europas wirksame Unterstützung zu gewähren, die derzeit noch im Schatten der wirtschaftlichen Prosperität leben.
Ihr Kollege Hoss, Herr Stratmann, hat heute morgen so viel von Europa geredet und gesagt, wir würden uns nur noch auf Deutschland konzentrieren. Wenn wir unsere Aufgaben in Deutschland nicht machen, können wir Europa nicht helfen.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121005300
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Zu einer Kurzintervention hat sich der Abgeordnete Such gemeldet.

Manfred Such (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121005400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es kann nicht zum Stil eines Parlaments gehören, solche Vorwürfe zu erheben, wie ich sie soeben in der Diskussion von Herrn Dr. Warrikoff gehört habe.

(Günther [CDU/CSU]: Das müßt ihr gerade sagen! Ihr seid doch nicht zimperlich!)

Herr Dr. Warrikoff, das, was Sie uns in bezug auf unser Verständnis von Verfassung unterstellen wollten, muß ich mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Ich glaube, daß gerade Ihr Name eng verflochten ist mit Nukem, Alkem. Insofern muß ich das besonders zurückweisen.

(Louven [CDU/CSU]: Ach du lieber Gott, ist denn das stilvoll? Sie sollten sich was schämen!)

Sie sollten Gelegenheit nehmen, sich dafür zu entschuldigen. Ich kann das so nicht stehenlassen.
Das gleiche gilt für die Äußerung, die Herr Heinrich in bezug auf eine Zusammenarbeit der GRÜNEN mit der PDS gemacht hat. Wir sind es gewesen, die die Bürgerrechts- und Freiheitsbewegungen in der DDR unterstützt haben. Wir haben in keiner Weise mit der Blockpartei, mit der SED oder mit den jetzigen Wendehälsen zusammengearbeitet.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei den Grünen — Louven [CDU/ CSU]: Sie führen doch Gespräche mit denen!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1121005500
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7056 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nun treten wir in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt.
Ich unterbreche die Sitzung.

(Unterbrechung von 13.10 bis 14.02 Uhr)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121005600
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 11/7058 —
Zunächst behandeln wir den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes.
Ich sehe gerade, daß die Fragen 3 und 4 auf Wunsch der Fragestellerin, der Frau Schulte (Hameln), schriftlich beantwortet werden sollen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit ist dieser Geschäftsbereich erledigt.
Ich rufe dann den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Frau Staatsminister Dr. Adam-Schwaetzer steht zur Beantwortung der Frage zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 5 des Herrn Abgeordneten Schreiner auf:
Wie ist der Stand der Verhandlungen über das deutsch-iranische Niederlassungsabkommen von 1929, und welche Rolle spielen dabei die inzwischen auf beiden Seiten neugeschaffenen Staatsverfassungen?
Bitte sehr, Frau Staatsminister.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1121005700
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat der iranischen Regierung vorgeschlagen, Abschnitt II des Zusatzprotokolls zum deutschiranischen Niederlassungsabkommen, der die Zustimmung der jeweils anderen Seite bei Einbürgerungen vorschreibt, einvernehmlich aufzuheben. Eine Antwort des iranischen Außenministeriums auf diesen Vorschlag steht leider noch aus.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Die Bundesregierung hat der iranischen Seite bei Übermittlung ihres Vorschlags u. a. dargelegt, daß wir gehalten seien, den in unserer Verfassung verankerten Gleichheitsgrundsatz auch auf Ausländer anzuwenden. Das bedeute, das grundsätzlich für alle Einbürgerungsbewerber die gleiche Ausgangslage zu schaffen sei.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121005800
Eine Zusatzfrage, Herr Schreiner.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1121005900
Frau Staatsministerin, wann hat die Bundesregierung dem persischen Außenministerium die Kündigung des Zusatzprotokolls zum Niederlassungsabkommen vorgeschlagen?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat bisher nicht die Kündigung, sondern die einvernehmliche Aufhebung vorgeschlagen.



Staatsminister Frau Dr. Adam-Schwaetzer
Die Anweisung der Bundesregierung an den Botschafter in Teheran ist im September herausgegangen. Aber es hat bis zum 23. November 1989 gedauert, bis der Botschafter einen Termin von der iranischen Regierung bekommen hat, so daß er erst an diesem Datum beim Leiter der Rechtsabteilung des iranischen Außenministeriums das Begehren der Bundesregierung hat übermitteln können.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121006000
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schreiner.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1121006100
Frau Staatsministerin, wie beurteilen Sie denn vor diesem Hintergrund ein Schreiben des Bundesinnenministers, Herrn Dr. Schäuble, an den Vorsitzenden des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages vom 16. März dieses Jahres, in dem es wörtlich heißt — ich darf mit Genehmigung der Frau Präsidentin zitieren — :
Der Bundesregierung bliebe dann nur noch die Möglichkeit der Kündigung, die aber nach meiner Kenntnis nach wie vor aus außen- und wirtschaftspolitischen Gründen nicht als vertretbar angesehen wird.
Ich frage zusätzlich: Welche wirtschaftspolitischen Gründe könnten hier maßgeblich sein?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, ich habe ja gerade ausgeführt, daß sich die Bundesregierung bemüht, Abschnitt II des Zusatzabkommens einvernehmlich aufzuheben. Deswegen ist noch keine Entscheidung darüber gefallen, ob und gegebenenfalls zu welchem Datum das Niederlassungsabkommen oder dieser Teil des Niederlassungsabkommens gekündigt wird. Die Kriterien, die vor einer solchen Kündigung in der Bundesregierung einvernehmlich zu bewerten wären, würden sicherlich sowohl politische als auch wirtschaftliche Gründe umfassen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121006200
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Emmerlich.

Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID1121006300
Frau Staatsminister, wie lange wird die Bundesregierung noch Geduld haben, bis sie in die Prüfung darüber eintritt, ob die mögliche Kündigung nicht nur aus politischen Gründen, sondern insbesondere auch vor dem Hintergrund des schlimmen Schicksals der in unserem Lande lebenden Iraner, die eine Einbürgerung nicht erhalten können, notwendig ist?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, wir sind, genauso wie Sie das offensichtlich in Ihrer Frage zugrunde gelegt haben, daran interessiert, daß die Einbürgerung der Iraner in der Bundesrepublik — sofern sie dies wünschen — auf einer gesicherten Rechtsgrundlage so bald wie möglich vollzogen werden kann.
Wir haben uns in den letzten Tagen innerhalb der Bundesregierung hinsichtlich der Frage, wie lange wir zuwarten wollen, bis die iranische Regierung, die bisher auf das Ansuchen der Bundesregierung nicht geantwortet hat, reagiert, darauf verständigt, daß innerhalb der nächsten Wochen auch die Frage einer möglichen Kündigung des Zusatzabkommens wieder geprüft wird.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121006400
Keine weiteren Zusatzfragen. Danke, Frau Staatsminister.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Gröbl steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 23 des Herrn Abgeordneten Brauer auf:
Welche konkreten Fortschritte hat das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in den Verhandlungen um die Finanzierung der geplanten Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes erreichen können?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.

Wolfgang Gröbl (CSU):
Rede ID: ID1121006500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Finanzierung des Naturschutzes, insbesondere der geplanten Ausgleichsregelungen nach § 3 b unseres Referentenentwurfs zum Bundesnaturschutzgesetz, finden intensive Beratungen mit allen beteiligten Stellen statt. Trotz einer erfreulich positiven Einstellung aller beteiligten Gesprächspartner zu den Zielen dieser Novelle zum Naturschutzgesetz konnte ein Konsens über die Art der Finanzierung noch nicht gefunden werden.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121006600
Eine Zusatzfrage, Herr Brauer.

Hans-Jochim Brauer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121006700
Dann möchte ich bitte noch einmal nachfragen. In meiner Frage stand ganz bewußt, „welche konkreten Fortschritte" die Bundesregierung in diesen Verhandlungen gemacht hat. Auf diese konkreten Fortschritte sind Sie in keiner Weise eingegangen.
Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ich habe Ihnen berichtet, daß die Bundesregierung intensive Gespräche führt. Die Gespräche sind noch nicht abgeschlossen. Deshalb ist hier noch nicht über Ergebnisse zu berichten.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121006800
Ihre zweite Zusatzfrage.

Hans-Jochim Brauer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121006900
Nun hatte ja die Bundesregierung seit vier Jahren die Absicht, eine Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes zu machen. In diesen vier Jahren ist es Ihnen also tatsächlich nicht gelungen — das stelle ich als Frage — , Fortschritte zu erzielen?
Gröbl, Parl. Staatssekretär: Wenn Sie die Arbeiten des Umweltausschusses intensiv verfolgt hätten, hätten Sie die erheblichen Fortschritte der Bundesregierung im Bereich des Naturschutzes zur Kenntnis nehmen können.

(Schreiner [SPD]: Eine grandiose Antwort!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121007000
Meine Damen und Herren, keine weiteren Fragen.
Ich rufe dann die Frage 24 des Herrn Abgeordneten Brauer auf :



Vizepräsidentin Renger
Welche Finanzierungskonzepte werden im einzelnen diskutiert, und welche Rolle spielt hierbei eine von Niedersachsen in die Diskussion gebrachte „Umwegfinanzierung" über die Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz"?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Gröbl, Parl. Staatssekretär: Als Möglichkeiten einer Finanzierung werden insbesondere diskutiert: ein Geldleistungsgesetz nach Artikel 104 a Grundgesetz, eine Naturschutzabgabe, eine eigenständige neue Gemeinschaftsaufgabe; dann die Nutzung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes". In diesem Rahmen spielt der erwähnte niedersächsische Vorschlag eine Rolle. Schließlich wird auch eine Finanzierung durch die Länder nach dem Muster des § 19 Abs. 4 Wasserhaushaltsgesetz diskutiert.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121007100
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Brauer.

Hans-Jochim Brauer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121007200
Meine Zusatzfrage bezieht sich jetzt auf die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes". Ich möchte Sie fragen, welche Möglichkeiten das BMU sieht, die Aufgabenstellung dieser Gemeinschaftsaufgabe nach ökologischen Erfordernissen so zu ändern, daß eine Unterstützung des Naturschutzes durch die Gemeinschaftsaufgabe möglich wäre.
Gröbl, Parl. Staatssekretär: Es gibt die Möglichkeit, die Zielsetzung dieser Gemeinschaftsaufgabe zu ändern und somit Aufgaben des Naturschutzes und der Landschaftspflege in die Förderungsmöglichkeiten nach dieser Gemeinschaftsaufgabe einzubeziehen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121007300
Zweite Zusatzfrage, Herr Brauer.

Hans-Jochim Brauer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121007400
Sie haben dabei die Verfassungsproblematik nicht angesprochen. Ich möchte deshalb weiterfragen: Wäre die Finanzierung dann mit der verfassungsmäßigen Aufgabenstellung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" vereinbar, wenn die ökologische Landwirtschaft zum Regelfall würde? Dann wären nämlich Agrarstrukturmaßnahmen notwendig, um die ökologische Landwirtschaft mit all ihrem Artenreichtum, mit dem Schutz der Gewässer usw. wiederherzustellen.
Gröbl, Parl. Staatssekretär: Das muß im Einzelfall überprüft werden. Mit Sicherheit ist es unser Ziel, die ökologische Landwirtschaft — entsprechend definiert — in die Förderungsmöglichkeiten erheblich mit einzubeziehen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121007500
Ja, programmatische Fragen — programmatische Antworten. — Danke schön, Herr Staatssekretär.

(Brauer [GRÜNE]: Weil nicht mehr vorhanden ist!)

Die Fragen 25 und 26 des Abgeordneten Dr. Daniels (Regensburg) werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Die gesamten Fragen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau — das sind die Fragen 27 bis 34 — werden auf Wunsch der Fragesteller, der Abgeordneten Müntefering, Menzel, Reschke, Häuser, Weiermann, Conradi, Großmann und Scherrer, schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Spranger steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe zunächst die Frage 35 des Herrn Abgeordneten Schreiner auf:
Wie beabsichtigt die Bundesregierung, im Rahmen der Abkommenspraxis das Gegenseitigkeitsprinzip zu wahren, insbesondere bei der Hinnahme der Mehrstaatigkeit von deutschen Frauen und Kindern iranischer Staatsangehöriger und der Rechtsanwendung bei der Auflösung der Mehrstaatigkeit?
Bitte, Herr Staatssekretär.

Carl-Dieter Spranger (CSU):
Rede ID: ID1121007600
Herr Abgeordneter Schreiner, durch Nr. 2 des Schlußprotokolls zum deutsch-iranischen Niederlassungsabkommen haben sich die Vertragsstaaten im Sinne des völkerrechtlichen Gegenseitigkeitsprinzips für alle Maßnahmen gebunden, die im Sinne dieser Vorschrift Einbürgerungen der jeweils anderen Vertragspartei sind. Das Gegenseitigkeitsprinzip bedeutet nicht, daß diese Leistungen gleichartig und gleichwertig sind, wie das Bundesverwaltungsgericht in einem seiner „Iran-Urteile" vom 27. September 1989 festgestellt hat.
Da sich das Zustimmungserfordernis in Nr. 2 des Schlußprotokolls nur auf Einbürgerungen, d. h. auf Staatsangehörigkeitserwerb auf Antrag, bezieht, kommt es in Fällen des gesetzlichen Erwerbs nicht zum Zuge.
Nach iranischem Recht erwerben ausländische Ehefrauen iranischer Staatsangehöriger durch Eheschließung die iranische Staatsangehörigkeit — vorausgesetzt, daß es sich um eine nach iranischen Rechtsgrundsätzen wirksame Eheschließung handelt. Die Ehefrau wird dadurch deutsch-iranische Doppelstaatlerin.
Das deutsche Recht kennt einen entsprechenden automatischen Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Eheschließung nicht.
Kinder aus deutsch-iranischen Ehen erwerben nach dem deutschen Staatsangehörigkeitsrecht die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil — Vater oder Mutter — die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Sie erhalten bei Geburt auch die Staatsangehörigkeit des ausländischen Elternteils, wenn das Recht dessen Heimatstaates dies vorsieht.
Nach iranischem Recht trifft dies jedenfalls dann zu, wenn der Vater Iraner ist.
Es gibt keine Regelung im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht, nach der von der deutsch-iranischen Ehefrau oder von deren durch Geburt mehrstaatigen Kindern verlangt würde, eine ihrer Staatsangehörigkeiten aufzugeben. Wohl sieht jedoch das iranische Recht vor, daß sich die Entlassung eines Iraners auf seine Ehefrau und Kinder erstreckt, die neben der iranischen Staatsangehörigkeit bereits die deutsche be-



Parl. Staatssekretär Spranger
sitzen. Diese Unterschiede stehen nicht im Widerspruch zum Gegenseitigkeitsprinzip.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121007700
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schreiner.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1121007800
Ich versuche, Frau Präsidentin, die Zusatzfrage wesentlich kürzer zu machen.
Herr Staatssekretär, ich wollte wissen, unter welchen Voraussetzungen für einen persischen Staatsangehörigen, der nach deutschem Recht mit einer deutschen Ehefrau verheiratet ist, ein Einbürgerungsanspruch jenseits des Schlußprotokolls des Niederlassungsabkommens besteht und insoweit Doppelstaatlichkeit in Kauf genommen werden würde.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich habe Ihnen in der letzten Fragestunde in sehr ausführlicher Form die verschiedenen Voraussetzungen und die auch unterschiedlichen Bewertungen, die sich in den einzelnen Fällen ergeben, dargelegt und nehme darauf Bezug.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121007900
Was nun, Herr Schreiner?

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1121008000
Ich nehme darauf jetzt auch Bezug.
Herr Staatssekretär, ich darf auch insoweit auf die letzte Fragestunde Bezug nehmen, als Sie auf meine Frage, ob es nach Auffassung des Bundesinnenministeriums vertretbar ist, daß es persische Behörden auf deutschem Boden der deutschen Ehefrau eines persischen Staatsangehörigen im Rahmen der Entlassungsbemühungen des persischen Staatsangehörigen zumuten, mit einem Tschador verkleidet auf dem Generalkonsulat zu erscheinen, geantwortet haben, dies sei iranische Rechtsauffassung, aber keineswegs Auffassung des Bundesinnenministeriums. Ich habe im nachhinein erfahren, daß das Verwaltungsgericht Berlin am 10. Juli vorigen Jahres in einer vergleichbaren Angelegenheit entschieden hat, daß es einer deutschen Ehefrau im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes nicht zugemutet werden könne, die Entlassungsbemühungen ihres iranischen Ehemannes dadurch zu unterstützen, daß sie sich entgegen ihrer religiösen Überzeugung mit islamisch-fundamentalistischem Tschador ablichten lasse. Gegen dieses Urteil des Verwaltungsgerichtes Berlin hat nicht das Land Berlin, sondern das Bundesinnenministerium Berufung eingelegt. Da es sich insoweit also ausdrücklich der iranischen Rechtsauffassung angeschlossen hat, frage ich Sie, wie Sie verhindern wollen, daß ich auf Grund der Antwort, die Sie mir in der letzten Fragestunde in diesem Parlament gegeben haben, die Schlußfolgerung ziehe, daß Sie mich in der letzten Fragestunde glatt angelogen haben?

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121008100
Ich bitte Sie, diese Äußerung zurückzunehmen.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1121008200
Nein, das ist eine glatte Lüge gewesen. Das brauche ich mir als Parlamentarier nicht bieten zu lassen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121008300
Eine Lüge ist Absicht, und das sollte man nicht unterstellen. Das ist unparlamentarisch. Würden Sie das bitte anders ausdrücken.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1121008400
Das ist ein Lügenbold. Ich lasse mir das nicht bieten. Er hat mich in der letzten Woche — —

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121008500
Dann muß ich Ihnen einen Ordnungsruf erteilen. Es tut mir leid. Aber ich weiß, daß Sie nur darauf warten, Herr Schreiner.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1121008600
Dann ist es ein weiß-blauer Lügenbold.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Noch einen Ordnungsruf ! )

So geht es nicht. So kann man nicht mit dem Parlament umspringen. Ich habe versucht, den Nachweis zu führen, daß Herr Spranger mich in der letzten Fragestunde wider besseres Wissen glatt angelogen hat; denn das Bundesinnenministerium muß wissen, daß das eigene Haus in Berlin Berufung gegen das Urteil eingelegt hat.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121008700
Herr Staatssekretär.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Das ist eine schlichtweg falsche Aussage. Über dieses Urteil ist in der letzten Fragestunde nach meiner Erinnerung überhaupt nicht diskutiert worden. Ich habe Ihnen drei Fälle aufgeschlüsselt und sie im einzelnen so, wie die Rechtslage ist, bewertet. Ich habe auch darauf hingewiesen, daß wir nach der Rechtsprechung gezwungen sind, dieses Abkommen, über das heute schon diskutiert worden ist, als verbindlich anzusehen. Die Kollegin aus dem Auswärtigen Amt hat eingangs der Fragestunde klargestellt, wie schwierig Änderungen in bezug auf diese völkerrechtlichen Bindungen sind.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121008800
Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich Sie unterbreche. Wir greifen ein bißchen über die Fragestunde hinaus, wenn wir jetzt diese Debatte fortsetzen. Aber ich verstehe natürlich, daß das ein Punkt ist, der ungeklärt ist. Ich möchte anregen, dieses Thema noch einmal sehr grundsätzlich aufzunehmen; denn das, was sich hier abgespielt hat, ist ja so keine Lösung, obwohl die Fragen und Antworten durchaus umfänglich waren.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Frau Präsidentin, ich glaube, aus dem Protokoll der letzten Sitzung und auch aus der sehr ausführlichen Antwort heute ist deutlich geworden, daß wir die Sache in keiner Weise auf die leichte Schulter nehmen. Aber ich weise mit großer Entschiedenheit und auch mit Entrüstung zurück, was Sie mir vorhalten, Herr Schreiner.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1121008900
Darf ich dazu ebenfalls noch einen Satz sagen, Frau Präsidentin? Wir sind hier im Parlament und nicht in der Bundesregierung.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121009000
Herr Schreiner, ich glaube, das geht über das Entgegenkommen meinerseits hinaus. Ich bitte herzlich, daß Sie jetzt nicht weiter fragen. Sie haben Ihre Fragen gestellt. Es tut mir leid.
Herr Dr. Emmerlich nimmt sie vielleicht in demselben Sinne auf. Herr Dr. Emmerlich, bitte.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Aber viel vornehmer!)





Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID1121009100
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß der Vertreter der Bundesregierung in dem Verwaltungsstreitverfahren, von dem die Rede ist, Berufung eingelegt hat, um zu erreichen, daß die erstinstanzliche Rechtsauffassung, eine deutsche Staatsangehörige könne nicht gezwungen werden, mit Tschador bei Konsulatbehörden des Iran in der Bundesrepublik zu erscheinen, zugunsten der Rechtsauffassung der iranischen Regierung aufgehoben wird?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich kann zu dem Stand des Verfahrens in diesem jetzt erstmals erwähnten Prozeß nichts Konkretes sagen. Es geht nicht um die Frage, ob betreffende Personen im Generalkonsulat oder in der Botschaft erscheinen müssen. So lautete, glaube ich, das letzte Mal die Frage. Es geht hier nur um Fotos mit entsprechender Bekleidung. Hierzu ist in der letzten Fragestunde die Stellungnahme der Bundesregierung abgegeben worden.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121009200
Herr Kollege Andres.

Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1121009300
Was gedenkt der Bundesinnenminister zu tun, um die deutsche Rechtsauffassung in dieser Frage durchzusetzen? Ich finde es nicht angemessen zu sagen, es gehe nur um Fotos oder um das persönliche Erscheinen. Beides halte ich für unmöglich. Deshalb würde ich gern wissen, was das Bundesinnenministerium tut, um hier die deutsche Rechtsauffassung durchzusetzen.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich habe in der letzten Fragestunde zu diesem ganz speziellen Fall, daß nämlich die Ehefrau auch iranische Staatsangehörige ist, und zu der Frage, ob sie ein Foto in dieser Form vorlegen muß, sinngemäß folgendes gesagt: Die Forderung des Iran, Paßfotos der weiblichen Familienangehörigen, auf denen sie mit einem schwarzen Kopftuch abgebildet sind, einzureichen, steht nicht im Widerspruch zu verfassungsrechtlichen oder sonstigen grundlegenden Prinzipien der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Was ein Staat im Rahmen seiner Personalhoheit von seinen Staatsangehörigen verlangt, kann nur dann von einem anderen Staat wegen Unzumutbarkeit mit rechtlichen Konsequenzen belegt werden, wenn es als Verstoß gegen seinen ordre public zu werten wäre.

(Andres [SPD]: Das ist wieder etwas völlig anderes!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121009400
Meine Damen und Herren, wir können das jetzt nicht klären. Ich glaube, wir müssen uns im Moment mit dieser Antwort zufriedengeben.
Ich rufe die Frage 36 des Abgeordneten Dr. Emmerlich auf:
Welche Geldbeträge sind vom Bundeskriminalamt an den
Versicherungsdetektiv Mauss gezahlt worden und wofür?
Herr Dr. Emmerlich, Sie haben heute Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch.

(Beifall)

Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Emmerlich, ich möchte zunächst auch herzlich gratulieren. Nicht dazu, daß dies die 17. oder 18. Frage zu diesem Komplex ist, sondern zu Ihrem Festtag, den Sie heute begehen.

(Heiterkeit)

Nun zur konkreten Antwort. Das Bundeskriminalamt hat dem Versicherungsdetektiv Werner Mauss jeweils nur die Kosten erstattet, die ihm durch seine Tätigkeit für das Bundeskriminalamt entstanden waren. Nach Mitteilung des Bundeskriminalamtes beliefen sich die diesbezüglichen Kostenerstattungen im Rahmen der in Rede stehenden Vereinbarungen auf insgesamt 174 000 DM.

(Andres [SPD]: Unglaublich!)

Dies hatte ich Ihnen bereits mit Schreiben vom 12. Februar 1990 mitgeteilt.
Darüber hinaus hat Herr Mauss vom Bundeskriminalamt 8 946,25 DM wegen entstandener Aufwendungen in zwei Fällen erhalten, bei denen es indessen letztlich nicht zu einer Zusammenarbeit des Bundeskriminalamtes mit Mauss gekommen war.
Im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit dem Bundeskriminalamt hat Mauss in den Jahren 1970 bis Anfang 1976 — soweit heute noch feststellbar — weitere Zahlungen in Höhe von insgesamt 100 941,77 DM und 1 000 Schweizer Franken erhalten. Es ist heute im Bundeskriminalamt nicht mehr feststellbar, ob es sich bei diesen Zahlungen um Aufwandsersatz für Herrn Mauss oder aber um Mittel für operative Zwecke, z. B. Vorzeigegeld, gehandelt hat.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121009500
Eine Zusatzfrage, Herr Dr. Emmerlich.

Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID1121009600
Herr Staatssekretär, lagen diesen Zahlungen an Herrn Mauss prüfungsfähige Abrechnungen des Versicherungsdetektives zugrunde, und in welcher Weise hat sich das Bundeskriminalamt Gewißheit darüber verschafft, daß diese Unterlagen wahrheitsgemäße Angaben enthielten?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Emmerlich, ich kann diese Fragen jetzt nicht beantworten. Ich bitte um Verständnis dafür. Ich will dem aber gerne nachgehen und sie sobald wie möglich schriftlich beantworten, wenn Sie einverstanden sind.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121009700
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Emmerlich. Man kann sie nur noch einmal sozusagen von hinten stellen.

Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID1121009800
Frau Präsidentin, ich kommentiere das nicht, weil ich das nicht für sinnvoll halte.
Ich stelle fest, daß das Bundeskriminalamt an private Ermittler in Strafverfahren Entgelte und Aufwandsentschädigungen entrichtet. Ich frage Sie: Gibt es für eine solche Zahlung aus öffentlichen Mitteln an Privatpersonen zu diesem Zweck eine Rechtsgrundlage, und werden diese Zahlungen im Haushalt des Bundeskriminalamts offen oder verdeckt ausgewiesen? Gibt es also beim Bundeskriminalamt so eine Art Reptilienfonds für diese Angelegenheiten?



Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Emmerlich, diese Frage geht natürlich auch über den eigentlichen Anlaß Ihrer Fragestellung hinaus. Ich muß nach den bisherigen Stellungnahmen des Bundeskriminalamts davon ausgehen, daß diese Zahlungen im Zusammenhang mit den Ihnen bekannten und auch vorliegenden Vereinbarungen als Ausgleich für die Leistungen getätigt wurden, die Herr Mauss erbracht hat, und daß das auch ordnungsgemäß über die jeweiligen Haushaltsstellen abgewickelt worden ist.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121009900
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schreiner.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1121010000
Herr Staatssekretär, waren die an den Versicherungsdetektiv Mauss geleisteten Zahlungen, die Sie eben genannt haben, insoweit sozialversicherungspflichtig, als sie zu einer irgendwie gearteten Altersversorgung führen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Diese Frage kann ich auch nicht beantworten. Ich habe Zweifel, ob das heute noch aus den Akten des Bundeskriminalamtes nachvollziehbar ist; denn die Akten sind in den 70er Jahren, also nicht unter der Verantwortung dieser Bundesregierung angelegt worden.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121010100
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Andres.

Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1121010200
Herr Staatssekretär, hat das Bundeskriminalamt darauf Einfluß genommen, daß beispielsweise die Versicherungswirtschaft oder andere privatwirtschaftliche Zweige Zahlungen an den Detektiv Mauss vor dem Hintergrund geleistet haben, daß diese Zahlungen möglicherweise über die Etats oder Mittel des Bundeskriminalamtes nicht abrechenbar gewesen wären?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich bitte um Nachsicht, daß ich diese Frage hier jetzt auch nicht beantworten kann. Aber ich sichere Ihnen ebenfalls schriftliche Beantwortung zu, wenn Sie damit einverstanden sind.

(Andres [SPD]: Können Sie uns irgendwelche Fragen nennen, bei denen Sie in der Lage wären, heute zu antworten?)

— Die Frage, die der Kollege Emmerlich eingangs gestellt hat, habe ich konkret beantwortet.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121010300
Ich rufe die Frage 37 des Abgeordneten Dr. Emmerlich auf:
Auf Grund welcher Tatsachen behauptete das Bundeskriminalamt, dem Versicherungsdetektiv Mauss drohe Gefahr für Leib und Leben, wenn seine ladungsfähige Anschrift bekanntgegeben und Mauss von parlamentarischen Ausschüssen oder Gerichten vernommen werden würde?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Emmerlich, mögliche Gefährdungen für Leib und Leben des Versicherungsdetektivs Werner Mauss ergeben sich aus seinen Einsätzen im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem Bundeskriminalamt bzw. anderen Polizeidienststellen. Herr Mauss hat von Fall zu Fall wichtige Beiträge zur Ergreifung von Schwerstkriminellen geleistet. In manchen Einzelfällen sind deshalb Racheakte dieser Täter bzw. aus deren Umfeld gegen Herrn Mauss und seine Familie nicht auszuschließen.
Ich bitte um Verständnis, daß ich über diese allgemeinen Bemerkungen hinaus keine konkreten Angaben machen kann, da sich sonst die Gefährdung von Herrn Mauss und dessen Familie noch erhöhen würde. Deshalb ist es auch nicht möglich, die Anschrift von Herrn Mauss zu veröffentlichen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121010400
Eine Zusatzfrage.

Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID1121010500
Herr Staatssekretär, darf ich davon ausgehen, daß zahlreiche deutsche Polizeibeamte durch ihre Ermittlungstätigkeit Beiträge dazu geliefert haben, daß Schwerstkriminelle ergriffen worden sind, und weshalb wird in derartigen Fällen bei Polizeibeamten nicht von der Verweigerung der Aussagegenehmigung Gebrauch gemacht, weshalb werden die ladungsfähigen Anschriften solcher Polizeibeamten den Gerichten gleichwohl mitgeteilt? Warum muß Herr Mauss diesen besonderen Schutz haben?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich kann das nur mit den besonderen Aufträgen, den besonderen Aufgaben, die Herr Mauss durchzuführen hatte, und mit der wohl damit verbundenen Tatsache erklären, daß eine besondere und zusätzliche Gefährdung durch die Beteiligung in diesen konkreten Fällen, mit denen er befaßt war, ausgelöst worden ist.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121010600
Eine zweite Zusatzfrage.

Dr. Alfred Emmerlich (SPD):
Rede ID: ID1121010700
Herr Staatssekretär, ich bedauere, meine erste Frage auf Grund Ihrer Antwort in etwas anderer Formulierung wiederholen zu müssen. Worin liegt die Besonderheit des Auftrages des privaten Ermittlers Werner Mauss gegenüber den Polizeibeamten, die Strafverfolgungsmaßnahmen durchführen, und worin liegt das zusätzliche Risiko von Racheakten, dem Herr Mauss angeblich ausgesetzt war, oder ist es etwa so, daß die Verweigerung der Mitteilung der ladungsfähigen Anschriften ihre Ursache darin hat, daß man die Tätigkeit dieses Herrn Mauss und die Beteiligung des BKA daran verheimlichen wollte?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Emmerlich, ich sage das alles unter dem Vorbehalt, daß die jetzige Bundesregierung für diesen Fall keinerlei Verantwortung zu tragen hat. Auf Grund der Kenntnisse, die ich an Hand der zur Verfügung stehenden Akten und vor allem auch durch Ihre Fragestellungen gewonnen habe, gehe ich davon aus, daß die Besonderheit des Falles Mauss allgemein in den Vereinbarungen liegt, die mit bestimmter Zielsetzung mit ihm geschlossen worden sind, und in den Eigenheiten der Fälle, die in Ausfüllung der Vereinbarungen dann von ihm zu bearbeiten waren.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121010800
Eine Zusatzfrage, Herr Opel.

Manfred Opel (SPD):
Rede ID: ID1121010900
Herr Staatssekretär, gibt es weitere Privatdetektive, denen das Bundeskriminalamt eine



Opel
ähnliche Sonderbehandlung zuteil werden läßt und, wenn ja, wie viele sind es?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich bitte um Nachsicht, daß ich die ursprüngliche Fragestellung für überschritten ansehe und deswegen jetzt nicht in der Lage bin, auf diese ganz andere Dimension des Falles einzugehen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121011000
Das ist richtig. Herr Kollege Andres.

Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1121011100
Entstehen dem Bundeskriminalamt oder weiteren öffentlichen Stellen, die über Haushaltsmittel verfügen, aus der besonderen Bedrohung von Leib und Leben des Herrn Mauss weitere Kosten zu dessen Schutz, auf wie viele Jahre beläuft sich das, und wie hoch sind diese Kosten?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Auch das überschreitet die eingangs gestellte Frage. Ich bin aber auch hier gerne zu ergänzenden Antworten bereit.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121011200
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kirschner.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1121011300
Herr Staatssekretär, Ihren Antworten entnehme ich, daß der besagte Versicherungsdetektiv, Herr Mauss, eigentlich hoheitsrechtliche Aufgaben wahrgenommen hat. Haben Sie eigentlich einmal geprüft, ob sich dies überhaupt mit den Gesetzen vereinbaren läßt? Müßte eine solche Aufgabe nicht eigentlich einem Beamten übertragen werden?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Das ist eine sehr gute Frage, die Sie hier stellen.

(Andres [SPD]: Bravo, Klaus!)

Ich kann nur wiederum darauf verweisen, daß in den 70er Jahren zwischen dem Bundeskriminalamt und Herrn Mauss Vereinbarungen getroffen worden sind, was bereits mit Herrn Dr. Emmerlich im Zusammenhang mit vielen Fragen und auch in anderen Gremien in vielfältiger Weise erörtert worden ist. Herr Mauss hat im Rahmen dieser Vereinbarungen im Auftrag des BKA gehandelt.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121011400
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schreiner.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1121011500
Herr Staatssekretär, da Sie die Frage des Kollegen Opel nicht beantworten wollten, wie viele vergleichbare Fälle mit ähnlichen Privilegien wie bei Herrn Mauss es gibt, frage ich Sie, ob Sie denn Präzendenzfälle kennen, aus denen sich die privilegierte Behandlung von Herrn Mauss herleiten läßt?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich habe nicht gesagt, daß ich die Frage nicht beantworten will, sondern ich habe gesagt, daß die Frage nicht mit den heute gestellten Fragen im Zusammenhang steht. In diesem Zusammenhang stelle ich auch Ihre Zusatzfrage.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121011600
Meine Damen und Herren, die Frage 38 des Herrn Abgeordneten Lowack sowie die Fragen 39 und 40 des Herrn Abgeordneten Stiegler werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 41 des Herrn Abgeordneten Opel auf :
Ist die Bundesregierung willens, ihre bisherige Ablehnung einer direkten Minderheitenförderung — die einzige sprachliche und kulturelle Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland sind die 20 000 Friesen — zu überdenken und die Sprach-und Kulturarbeit vor Ort (beispielsweise mit Hilfe des Nordfriisk Instituts in Bredstedt durch einen einmaligen Betrag von 5 bis 7 Millionen DM und eine jährliche Fördersumme von ca. 1 Millionen DM) trotz erheblicher finanzieller Anstrengungen der Landesregierung Schleswig-Holstein direkt zu fördern, da es sich hierbei erkennbar nicht um eine bloße Aufgabe im Rahmen der Kulturhoheit der Länder handelt?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Opel, die Bundesregierung hat die kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen der Friesen in der Vergangenheit und in der Gegenwart ebenso wie ihre Eigenständigkeit bereits mehrfach anerkannt. Die aktive Sprach- und Kulturpflege regional begrenzter Sprach- und Kulturkreise fällt jedoch nach der Verfassungsordnung in die Zuständigkeit der Länder und Gemeinden.
Das Land Schleswig-Holstein, die Kreise, Städte und Gemeinden sind sich ihrer Aufgabe und Verantwortung für die Pflege der friesischen Sprache und Kultur bewußt. Land, Kreis Nordfriesland und die Stadt Bredstedt fördern gemeinsam das Nordfriisk Institut in Bredstedt, das sich vor allem die Förderung der friesischen Sprache und Kultur in Nordfriesland zum Ziel gesetzt hat.
Die Bundesregierung sieht nach wie vor keine Möglichkeit zu einer direkten finanziellen Förderung der friesischen Sprach- und Kulturarbeit vor Ort.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121011700
Herr Kollege Opel, bitte.

Manfred Opel (SPD):
Rede ID: ID1121011800
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die sprachliche Minderheit der Sorben in der DDR einen Sonderschutz in der DDR-Verfassung genießt, und wären Sie bereit, einen ähnlichen Schutz für die Friesen in eine gemeinsame deutsche Verfassung — auch wenn der Weg nach Art. 23 GG verfolgt würde — aufzunehmen?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich glaube nicht, daß man die DDR-Verfassung in allen Dingen als vorbildlich und verbindlich für uns anerkennen sollte. Bei uns sieht die Rechtslage folgendermaßen aus — ob sich daran etwas ändert, wird sich dann ergeben — : Zur Zeit besteht eine Obhutspflicht des Gesamtstaates bei uns nur für deutsche Minderheiten außerhalb des Bundesgebietes, z. B. in Dänemark und in den Ländern Ost- und Südosteuropas. Die Förderung sprachlicher und kultureller Minderheiten innerhalb des Bundesgebietes wie der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein fällt in die alleinige Zuständigkeit der Bundesländer.
Man muß im übrigen das Problem sehen, daß die Grenze zwischen kulturellen Minderheiten und regional begrenzten Sprach- und Kulturkreisen mit ihren jeweiligen kulturellen Eigenarten durchaus fließend ist.




Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121011900
Eine Zusatzfrage, bitte schön.

Manfred Opel (SPD):
Rede ID: ID1121012000
Herr Staatssekretär, ich erinnere mich sehr lebhaft an die Debatten, wo es um Minderheitenschutz in der Sowjetunion ging. Nun frage ich Sie: Kann ich aus Ihrer Antwort, da sich die Bundesregierung zwar immer lebhaft verbal für Minderheiten einsetzt, Sie hier aber expressis verbis einen materiellen Ausgleich, Schutz und Fürsorge für Minderheiten ablehnen, schließen, daß eine deutliche Diskrepanz zwischen Wort und Tat bei der Bundesregierung besteht?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege Opel, das können Sie daraus nicht schließen. Wie ich Ihnen vorher gesagt habe, ist das Problem des Schutzes der deutschen Minderheiten im Ausland und in der Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich anders zu bewerten.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121012100
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Andres.

Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1121012200
Herr Staatssekretär, glauben Sie, daß die Obhutspflicht der Bundesrepublik Deutschland für die 20 000 Friesen in Schleswig-Holstein mit der künftigen Obhutspflicht der Bundesrepublik Deutschland für die Sorben in der DDR oder mit der Obhutspflicht der Bundesrepublik Deutschland für die deutschsprachige Minderheit in Polen vergleichbar ist?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich glaube nicht, daß man das miteinander vergleichen kann. Ich sagte schon: Die Verantwortung des Staates Bundesrepublik Deutschland gegenüber deutschen Minderheiten beschränkt sich auf deutsche Minderheiten im Ausland. Ich bin der Überzeugung — auch die Kollegen aus Schleswig-Holstein werden diese Auffassung sicherlich teilen — , daß sich das Land und die Kommunen in Schleswig-Holstein einer — wenn überhaupt — verfassungsrechtlich bestehenden Obhutspflicht gegenüber den Friesen sehr wohl bewußt sind.

(Opel [SPD]: Aber nicht die Bundesregierung, Herr Staatssekretär!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121012300
Danke schön, Herr Staatssekretär.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Voss steht zur Beantwortung zur Verfügung.
Die Fragen 42 und 43 der Abgeordneten Frau Walz werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 44 des Herrn Abgeordneten Kirschner auf:
Welche konkreten Absichten verfolgt die Bundesregierung, um Spekulationsgewinne beim Umtausch von DDR-Mark in D-Mark zu unterbinden, damit die Steuerzahler nicht noch für Spekulanten und Schieber zur „Kasse" gebeten werden?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.

Dr. Friedrich Voss (CSU):
Rede ID: ID1121012400
Herr Kollege Kirschner, die Bundesregierung und die Regierung der DDR nehmen die Verhinderung von Spekulationen und Mißbräuchen im Zusammenhang mit der Währungsumstellung sehr ernst. Entsprechende Maßnahmen werden vorbereitet. Einzelheiten hierzu werden jedoch nicht veröffentlicht, um neue Umgehungstatbestände zu verhindern. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, daß sich Spekulation letztlich nicht lohnen wird.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121012500
Herr Kollege Kirschner, Zusatzfrage.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1121012600
Herr Staatssekretär, Sie sagen, daß entsprechende Veröffentlichungen nicht stattfinden, um Spekulationen von vornherein zu verhindern. In der Vereinbarung, die uns als Abgeordnete zu Beginn der Woche mit Datum vom 2. Mai 1990 als Anlage zur Erklärung des Herrn Bundesministers Seiters zugegangen ist, heißt es u. a. in Ziffer 6, daß darüber hinausgehende Beträge im Verhältnis 2 : 1 umgestellt werden vorbehaltlich Ziffer 9. Dort heißt es dann: Es werden Vorkehrungen getroffen, um Umgehungen und Mißbräuche zu unterbinden, z. B. durch die Festlegung von Stichtagen. Mich würde interessieren, wie Sie dieses beispielsweise bei Bargeld festlegen wollen.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, das, was in Ziffer 9 gesagt worden ist, ist ja nur beispielhaft. Hier ist gesagt worden: Es werden geeignete Vorkehrungen getroffen, um Umgehungen und Mißbräuche zu unterbinden. Dann wird gesagt: z. B. durch Festlegung von Stichtagen. Aber das muß es ja nicht alleine sein.
Neben der Festlegung von Stichtagen können Sie beispielsweise auch eine Prüfung nach Höchstbeträgen durchführen. Sie können beim Umtausch verlangen, daß der Betreffende durch Vorlage von Belegen nachweist, woher das Geld stammt; denn derjenige, der zwischenzeitlich in der DDR beispielsweise Handels- oder sonstige Dienstleistungsgeschäfte erbracht und dafür Geld vereinnahmt hat, kann sehr leicht nachweisen, woher er das Geld hat. Demjenigen dagegen, der irgendwo Geld schwarz umgetauscht und jetzt größere Mengen zur Verfügung hat, wird ein derartiger Nachweis nicht möglich sein. Infolgedessen können auf diese Weise Mißbrauch und Spekulation bekämpft werden.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121012700
Zweite Zusatzfrage, bitte.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1121012800
Herr Staatssekretär, kann ich dann davon ausgehen, daß die Bundesregierung alles tun wird, um zu verhindern, daß über sogenannte Schwarzgelder von der früheren SED oder ihren artverwandten Organisationen sowohl in der DDR als auch außerhalb der DDR noch Bereicherungen stattfinden?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ja, Herr Kollege Kirschner, davon können Sie ausgehen. Das ist die Zielrichtung derjenigen, die verhandeln; denn, wie ich bereits gesagt habe, es liegt sowohl im Interesse der Bundesrepublik Deutschland als auch im Interesse der DDR, daß sich derartige Mißbräuche und Spekulationen nicht auszahlen werden.




Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121012900
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Andres.

Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1121013000
Das Interesse habe ich gehört.
Herr Staatssekretär, können Sie ausschließen, daß aus ehemaligen Stasi-Kanälen größere Beträge in diesen Umtausch fallen? Können Sie gleichermaßen ausschließen, daß bisher gewechselte Beträge von Mark der DDR, beispielsweise zum Kurs 1: 11 oder 1 : 8, nach dieser Maßgabe im Verhältnis von 1: 1 oder 1: 2 umgetauscht werden?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, mit dem „Ausschließen" ist es so eine Sache.

(Andres [SPD]: Das ist wirklich wahr!)

Das habe ich hier schon mehrmals gesagt. Aber die Zielrichtung

(Andres [SPD]: Die habe ich vernommen!)

und das Bemühen gehen dahin, derartige Fälle nicht auftreten zu lassen. Wie ich eben gesagt habe, könnten diese Stasi-Gelder, wenn sie in größeren Mengen auftreten, durch die Maßnahme, daß ein Nachweis erbracht werden muß, woher sie kommen, als das erkannt werden, was sie sind. Sie dürften dann nicht in die Umtauschregelung fallen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121013100
Herr Abgeordneter Opel.

Manfred Opel (SPD):
Rede ID: ID1121013200
Herr Staatssekretär, Sie haben davon gesprochen, daß Sie einen Nachweis einfordern würden. Würde Ihnen der Nachweis der Glaubwürdigkeit beispielsweise auch in den Fällen genügen, in denen ein relativ hoher Betrag durch Barsparen zu Hause zustande kam oder alternativ die Belege bei den entsprechenden Geldinstituten der DDR nicht mehr beizubringen sind, weil sie aus bestimmten Gründen von den Kontoinhabern vernichtet wurden und die Geldinstitute nicht mehr in der Lage sind, die Entwicklung des Kontostandes über die letzten Jahre hinweg zu verfolgen.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Opel, wir haben bereits eine Reihe von Zuschriften von Personen, die in diesen Bereich fallen. Wenn Sie mich fragen, würde ich immer dafür plädieren, daß man individuell, also im Einzelfall, prüft. Wenn sich herausstellt, daß jemand eine — ich sage das einmal etwas burschikos — grundehrliche Haut ist, der sich mit Spekulationen und ähnlichen Mißbräuchen nicht befaßt, kann man ihn anders behandeln als jemanden, von dem man auch weiß, daß er im Bereich der Stasi tätig gewesen ist und von daher größere Geldbeträge zur Verfügung hat.
Ich möchte hier schon eine klare Trennung vornehmen und den Fall, den Sie genannt haben, ganz anders behandeln, als den Fall, wo Stasi-Geld im Spiel ist.

(Opel [SPD]: Ich stelle mir das sehr schwierig vor!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121013300
Herr Abgeordneter Schreiner, noch eine Zusatzfrage.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1121013400
Herr Staatssekretär, da Sie soeben etwas burschikos geantwortet haben, wollte ich burschikos fragen, nach welchen Kriterien die Bundesregierung eine grundehrliche Haut feststellen will.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ja gut, Herr Kollege, wenn Sie in eine individuelle Prüfung hineingehen. Die Bundesregierung wird diese Prüfung ohnehin nicht durchführen, sondern die entsprechenden Geldinstitute werden mit bestimmten Richtlinien und Anleitungen zu Verhaltensweisen bedacht werden müssen. Auf Grund dieser Verhaltensweisen haben sie einen gewissen Spielraum. Innerhalb dieses Spielraums können sie sagen: Das glaube ich, und jenes glaube ich nicht. Ich bin auch nicht derjenige, der sagt: Das wird alles bis zum letzten so durchführbar sein. Es handelt sich hierbei um eine immense Aktion, eine Aktion, die wir politisch alle bejahen und deren Durchführung wir für notwendig halten.
Von daher glaube ich, daß man das ein bißchen ins Kalkül ziehen muß, so daß die Grundeinstellung, Mißbräuche und Spekulationen möglichst zu verhindern, die Grundlage ist. Darauf baut sich dann das auf, was man machen kann.
Ich bin sicher, daß viele Erwartungen, die der eine oder andere gehabt hat, in sich zerbrechen werden. Sie werden genau wie ich wissen, daß Angebote gemacht worden sind, sich nach einem bestimmten Wechselkurs mit DDR-Mark entsprechend einzudekken, und zwar in der Hoffnung, daß das dann günstig umgetauscht werden würde. Ich bin sicher, daß das in der Vielzahl der Fälle nicht zum Erfolg führen wird.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121013500
Ich rufe die Frage 45 des Herrn Abgeordneten Kirschner auf:
Wie hoch schätzt die Bundesregierung den Bargeldumlauf von DDR-Mark und die Höhe der Konten von DDR-Mark in und außerhalb der DDR ein?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Die DDR-Mark ist eine reine Binnenwährung, Herr Kollege Kirschner. Nach Angaben der Staatsbank betrug der Bargeldumlauf am 31. März 1990 13,5 Milliarden Mark. Der Bestand an Spareinlagen und Guthaben auf Girokonten der Privatpersonen belief sich am 31. März 1990 auf 165 Milliarden Mark. Ein offizieller Bargeldumlauf außerhalb der DDR ist nur in begrenztem Umfang möglich, u. a. im Zusammenhang mit Reisen von DDR-Bürgern. Offizielle Konten in DDR-Mark außerhalb der DDR gibt es lediglich in kleinerem Umfang, z. B. bei Zentralbanken im Bereich der bisherigen Partnerländer.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121013600
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kirschner.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1121013700
Herr Staatssekretär, aus Ihrer Antwort geht hervor, daß die DDR-Mark außerhalb der DDR nur in geringem Umfang gehandelt wird. Ist der Bundesregierung eigentlich bekannt, was seit dem 9. November außerhalb der DDR an D-Mark umgetauscht wurde — Stichwort Spekulationen — , und zwar im Hinblick darauf, daß die DDR-Mark günstiger gewertet würde, da ja Kurse von bis zu 20 : 1 bekannt wurden?



Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ja, das ist der Bundesregierung natürlich bekannt, Herr Kollege. Ich habe allerdings davon geredet, was offiziell erlaubt und was offiziell nicht erlaubt war. Von daher ist der Bereich, den Sie angesprochen haben — ich beschränke mich auf das Offizielle —, verhältnismäßig klein.
Die anderen Dinge wird man natürlich in dem Maße behandeln müssen, wie ich das eben schon gesagt habe. Hier wird man Einzelprüfungen durchführen und Belege verlangen müssen, hier wird man die Herkunft des Geldes, die Art des Umtausches irgendwie zu prüfen haben, um dann festzustellen, ob es sich um Dinge handelt, die in Ordnung sind, oder ob es sich um Mißbräuche oder Spekulationen handelt. Aber ich gebe gerne zu, daß das kein leichtes Geschäft sein wird, Herr Kollege Kirschner.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121013800
Eine zweite Zusatzfrage.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1121013900
Herr Staatssekretär, wie ist denn das zu interpretieren, was in der Anlage des Herrn Staatsministers Seiters unter Ziffer 7 enthalten ist, wo es heißt:
Guthaben von natürlichen oder juristischen Personen oder Stellen, deren ständiger Wohnsitz oder Sitz sich außerhalb der Deutschem Demokratischen Republik befinden, werden 3 : 1 umgestellt, soweit die Guthaben nach dem 31. Dezember 1989 entstanden sind.
Bezieht dies nur Guthaben in der DDR oder auch außerhalb der DDR ein?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Nein, das sind Guthaben von Leuten, die sich nicht in der DDR befinden, die dort nicht ihren Wohnsitz oder Sitz haben. Diese Guthaben müssen nach dem 31. Dezember 1989 entstanden sein; sonst werden sie von dieser Regelung nicht betroffen.

(Kirschner [SPD]: Die Guthaben außerhalb oder innerhalb der DDR?)

— Hiermit sind die Guthaben von natürlichen und juristischen Personen gemeint, deren ständiger Wohnsitz nicht in der DDR ist, deren Konten aber offensichtlich in der DDR sind.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121014000
Herr Abgeordneter Opel, Zusatzfrage, bitte.

Manfred Opel (SPD):
Rede ID: ID1121014100
Herr Staatssekretär, kann man aus Ihrer Antwort über den Bargeldumlauf und die Summe der Kontostände schließen, daß unter der Voraussetzung, daß das meiste dieser Gelder korrekt erworben wurde und nach den Vereinbarungen umzutauschen ist, ein Kapitalbedarf von etwa 200 Milliarden DM erforderlich sein wird, um diese Markbeträge in D-Mark umzutauschen, und wenn dieser Betrag nicht exakt stimmen sollte, würden Sie mir freundlicherweise sagen, wie hoch er richtigerweise ist?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, diesen Betrag zu bestätigen bin ich nicht in der Lage und auch nicht willens, aus folgendem Grunde: Die Zahlen, die ich eben genannt habe, die sich aus der Bilanz der Staatsbank der DDR ergeben — es ist bereits die zweite, die wir bekommen haben — , differieren nicht sehr stark. Hier sind die Zahlen in etwa vergleichbar. Von daher gehe ich davon aus, daß sie stimmen werden. Aber um die Rechnung anzustellen, die Sie eben aufgemacht haben, müßte ich ganz genau wissen, wer in die einzelnen Kategorien fällt. Und das weiß ich nicht. Von daher kann ich die Rechnung in der Form, wie Sie sie gemacht haben, zum jetzigen Zeitpunkt nicht nachvollziehen.

(Opel [SPD]: Sie können aber nicht ausschließen, daß es so sein könnte?)

— Zum „Ausschließen" habe ich mich eben schon geäußert, Herr Kollege.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121014200
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schreiner.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1121014300
Herr Staatssekretär, nachdem Sie soeben bei der Frage des Kollegen Kirschner geantwortet hatten, Sie gingen offensichtlich davon aus, daß es bei den besagten Guthaben um Guthaben in der DDR gehe, wären Sie bereit, nach sorgfältigster Prüfung dieser Frage dem Parlament eine schriftliche Antwort zukommen zu lassen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ja, dazu bin ich bereit. Warum sollte ich dazu nicht bereit sein, Herr Kollege?

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121014400
Danke schön, Herr Staatssekretär. Damit ist die Fragestunde beendet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 zur Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur Hungerkatastrophe in Äthiopien
Die Fraktion der FDP hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema verlangt.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Hamm-Brücher.

Dr. Hildegard Hamm-Brücher (FDP):
Rede ID: ID1121014500
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Fraktion hat diese Aktuelle Stunde aus drei Gründen beantragt.
Erstens. Es erscheint uns sehr wichtig, daß ungeachtet der bewegenden, unsere Arbeitskraft und -zeit voll beanspruchenden Aufgaben des deutsch-deutschen und europäischen Einigungsprozesses die Nöte und Probleme der Dritten Welt nicht vollends außer Sicht geraten.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie bei den GRÜNEN)

Ein solcher Anlaß ist ganz sicher die neuerlich drohende oder bereits ausgebrochene Hungerkatastrophe im nördlichen Teil Äthiopiens, die ganz dringend der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit und der Hilfe der Industrieländer und unseres eigenen Landes bedarf.
Zweitens. Die Aktualität und Dringlichkeit ergeben sich aus der alarmierenden Situation im Norden Äthiopiens. Ähnlich oder gar schlimmer als 1985 sind nach übereinstimmenden Schätzungen der Vereinten



Frau Dr. Hamm-Brücher
Nationen vier Millionen Äthiopier und Eriträer, vor allem Frauen und Kinder, in den nächsten Wochen dem Hungertod preisgegeben, wenn nicht etwa 700 000 Tonnen Nahrungsmitel in die von Dürre und Bürgerkrieg heimgesuchten Gebiete transportiert werden können. Hierfür gibt es zur Zeit zwei benutzte Transportrouten, auf denen man entweder über tausend Kilometer zurücklegen muß oder für die die Transportmittel nicht ausreichen. Diese Routen sind also für rasche Hilfe unzureichend. Der dritte, kürzeste und am leichtesten zu erreichende Weg führt über den Hafen Massaua am Roten Meer, der von der Eriträischen Befreiungsfront erobert wurde und jetzt von Äthiopien wiederholt bombardiert wurde.

(Frau Eid [GRÜNE]: Mit Napalm!)

Er allein bietet die Möglichkeit, die benötigten Hilfsgüter in kürzest möglicher Zeit in die Katastrophengebiete zu befördern.
Die Nutzung dieses Hafens für diese Zwecke wurde von der Eriträischen Befreiungsbewegung angeboten. Ein Hilfsschiff Cap Anamur VI unter dem Namen Danika IV ist nach Massaua unterwegs, beladen mit 800 Tonnen Weizen und anderen Lebensmitteln, u. a. auch mit 100 Tonnen Bohnen, die die Cap-AnamurStiftung sage und schreibe über London eingekauft hat und bei denen es sich um Exportbohnen aus Äthiopien handelt.

(Baum [FDP]: Absurdität!)

Es ist wirklich ein Skandal, meine Damen und Herren.
Dieses Hilfsschiff soll am 13. Mai in Massaua eintreffen. Die äthiopische Regierung hat dieses Schiff als „enemy target" , also als Angriffsziel, erklärt.
Meine Damen und Herren, hier ist doch nun wirklich größte Eile, rascheste diplomatische Intervention seitens der Bundesregierung geboten.
Das Schiff wird von der stellvertretenden Vorsitzenden der Hilfsorganisation, Frau Dr. Barbara Krumme, geleitet.
Ich meine, wir sollten gemeinsam die Bundesregierung bitten, hier umgehend zu intervenieren, daß dieses Schiff die Ladung löschen kann und die Hilfsgüter der notleidenden, hungernden Bevölkerung zugute kommen können.

(Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜNEN)

Außerdem, meine Damen und Herren, sollten die UN-Bemühungen dringend unterstützt werden, daß in diesem Hafen für die nächsten Monate, mindestens für die akute Not- und Dürrezeit, unter dem Protektorat der Vereinten Nationen Hilfsgüter ausgeladen und ins Land verschickt werden können.
Der dritte Grund, meine Damen und Herren: Über die aktuelle und äußerst bedrohliche Notlage am Horn von Afrika hinaus bedarf es zur Befriedung dieser seit 30 Jahren von Bügerkrieg und Hungerkatastrophen heimgesuchten Region dringend neuer internationaler politischer und diplomatischer Aktivitäten mit dem Ziel der Vermittlung zwischen den verfeindeten Gruppen.

(Beifall bei der FDP und der SPD — Frau Eid [GRÜNE]: Das sagen Sie mal unserem Bundesaußenminister, Ihrem Minister!)

Mit denen sollte einmal gesprochen werden.
Diese Aktuelle Stunde, meine Damen und Herren, sollte ein gemeinsamer Appell aller Fraktionen des Deutschen Bundestages an die deutsche und an die Weltöffentlichkeit werden. Warten wir diesmal nicht wieder ab, bis die Bilder verhungernder Kinder die Öffentlichkeit schockieren und zur Hilfsbereitschaft führen. Sorgen wir — nun schon wieder in letzter Minute — dafür, daß diese schreckliche Situation gar nicht erst neuerlich eintritt.
Vielen Dank.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121014600
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Holtz.

Prof. Dr. Uwe Holtz (SPD):
Rede ID: ID1121014700
Frau Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für Millionen von Menschen in Afrika ist die Situation hoffnungslos, so auch für viele in Äthiopien. Da bricht eine große Gruppe verzweifelter Menschen auf, um über Nordafrika nach Europa zu ziehen. Nur dort sehen sie eine Chance, sich vor dem Hungertod zu retten. Ihre Botschaft ist einfach: Ihr in Europa seid so reich, weil wir so arm sind. — Dieses Drama ist bislang nur Film. „Der Marsch auf Europa" , so lautet der drohende Titel einer BBC-Fernsehsendung, die von der ARD am 20. Mai im Rahmen des Eine-Welt-Projekts ausgestrahlt wird. Das Projekt „Eine Welt für alle" und auch dieser Film wollen deutlich machen: Es wird für uns keine Zukunft geben, wenn die Menschen in der Dritten Welt keine Lebenschancen bekommen.
Die Verengung unserer Aufmerksamkeit auf Deutschland, auf Europa wird dem Konzept der „Einen Welt" nicht gerecht. Deshalb müssen wir die Sonde auch auf jene Länder richten, in denen Armut, Unterdrückung, Ausbeutung, ökologische Katastrophen herrschen.

(Beifall bei der SPD, den GRÜNEN, der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir freuen uns, daß es dem Initiator, dem NDR-Journalisten Rolf Seelmann-Eggebert, gelungen ist, neben ARD und ZDF eine internationale Medieninitiative zustande zu bringen, die von zwölf europäischen und acht außereuropäischen Ländern sowie von mehr als 30 Nichtregierungsorganisationen allein in der Bundesrepublik getragen wird und hier unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten steht. Wir begrüßen ausdrücklich dieses Projekt.
Äthiopien ist das Land mit den meisten Flüchtlingen und mit den am längsten andauernden militärischen Konflikten in Afrika. Das wohl dramatischste Problem dieses Landes sind die immer wiederkehrenden Hungerkatastrophen. Damit die Fiktion des Marsches auf Europa nicht Wirklichkeit wird, müssen wir hier in Europa uns mit den Fluchtursachen auseinandersetzen, mit Krieg, Gewalt, Unterdrückung, Armut, sozia-



Dr. Holtz
ler Ungerechtigkeit und auch den Umweltkatastrophen. Dabei sei auf einige der Schwerpunkte zurückgegriffen, die das Eine-Welt-Projekt in der Bundesrepublik in den Vordergrund stellt: ungerechte Strukturen der Weltwirtschaft. Auch im Falle Äthiopiens geht es darum, die internationalen ökonomischen Rahmenbedingungen so zu verändern, daß diese nicht länger die Menschen in der Dritten Welt benachteiligen.

(Zuruf von der SPD: Sehr gut!)

Die äthiopische Regierung muß sich eine ungezügelte Verschwendung von Geldern, die sie in die Rüstung steckt, vorhalten lassen.

(Beifall bei der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Länder aus Ost und West sowie arabische Staaten haben durch Waffenexporte in die Region nicht zum Frieden, sondern eher zu Krieg und Not beigetragen.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Die Waffenlieferungen müssen gestoppt werden. Das geht auch an die israelische Adresse.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Die inneräthiopische Entwicklung wird von inneren Faktoren entscheidend mitbestimmt: von dem kommunistisch-diktatorischen Regime, von seiner Unfähigkeit, wirkliche Reformen in Richtung auf Liberalisierung von Politik und Wirtschaft durchzuführen und von seinem mangelnden Willen zur Aussöhnung und zum Interessenausgleich im Vielvölkerstaat Äthiopien.

(Frau Eid [GRÜNE]: So ist es!)

Die Bundesrepublik und die internationale Gemeinschaft müssen alles unterlassen, was direkt oder indirekt zur Stützung dieser Diktatur in Äthiopien beiträgt.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und den GRÜNEN)

Es wäre geradezu falsch, wenn jetzt, da der von Osteuropa ausgehende revolutionäre Wind der Demokratie, der Freiheit und der Menschenrechte die Dritte Welt erreicht, dem äthiopischen Regime seitens der Bundesregierung die Schulden erlassen würden. Deshalb bin ich gegen einen pauschalen Schuldenerlaß, wie er manchmal hier im Hause gefordert wird. In jüngster Zeit sollen sich Auflockerungen des Regimes abzeichnen. Diese sollte die Bundesregierung, wenn überhaupt, nur mit einer Verbindung von Dialog und konditionierter entwicklungspolitischer Zusammenarbeit unterstützen.
Was die konkrete, fast ausweglos zu nennende Situation für die Menschen in den Hungergebieten angeht, so plädieren wir alle, unabhängig von der politischen Situation, für rasche Hilfsmaßnahmen zugunsten der Hungernden, Flüchtlinge und Konfliktopfer.

(Beifall bei der FDP)

Die Betroffenen sollen ein menschenwürdiges Leben in Äthiopien führen können und nicht zum Marsch auf Europa gezwungen sein.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121014800
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Köhler.

Dr. Volkmar Köhler (CDU):
Rede ID: ID1121014900
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jeder von uns hat noch mit Erschütterung die Bilder von der Hungerkatastrophe in Äthiopien von 1984/85 vor Augen, die damals die Weltöffentlichkeit mobilisiert haben und zu einer Welle ungeahnter Hilfsbereitschaft in vielen Ländern der Welt geführt haben. Es gehört zu den schlimmen und traurigen Fakten, daß seit Monaten das Verhängnis, das in Nordäthiopien droht — übrigens auch im Südsudan — , bekannt ist und wenig Aufmerksamkeit findet.
Wenn unter diesen Umständen eine so engagierte Hilfsorganisation wie die Organisation der Notärzte zu einem verzweifelten Mittel greift, dann habe ich persönlich dafür sehr viel menschliches Verständnis. Trotzdem muß ich sagen, daß dieser Versuch des Durchbruchs des Schiffes „Danka" ein äußerst bedenkliches Mittel ist,

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

ein bedenkliches Mittel, das mit einer hohen Verantwortung verbunden ist. Aber dies gilt auch für diejenigen, die erklären, daß dieses als feindliches Ziel beschossen werden könnte. Ich möchte heute auch dazu beitragen, daß ganz klar ist, daß der Vorgang der Beschießung dieses Schiffes in der Weltöffentlichkeit schwerwiegendste Folgen haben würde

(Frau Eid [GRÜNE]: Hoffentlich! — Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Sehr wahr!)

und das Maß des Erträglichen überschreiten würde, das man überhaupt noch hinnehmen könnte.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Wir ergreifen in dem Streit in Äthiopien nicht Partei, und wir sind auch nicht damit beschäftigt, die Integrität dieses Staatswesens in Frage zu stellen. Aber um so nachdrücklicher fordern wir, daß alle politisch Verantwortlichen das Ihrige tun, um die inneren Voraussetzungen zu schaffen, damit Hilfe möglich wird. Wo die Geschehnisse die Grenze überschreiten, von der an man sagen muß, daß der Hunger als Waffe im Kampf eingesetzt werden kann, als Waffe gegen Frauen und Kinder, dort ist das Maß dessen, was die Weltöffentlichkeit ertragen kann, bei weitem überschritten.
Es gehört zu den schlimmen Tatsachen, daß wir seit mehr als einem Jahrzehnt, ja, fast seit eineinhalb Jahrzehnten mit der totalen politischen Unfähigkeit zur Lösung der Probleme am Horn von Afrika leben müssen

(Frau Eid [GRÜNE]: So ist es!)

und daß sich die Dinge immer weiter verschlimmern. Deswegen müssen wir hier darüber sprechen. Wege zur Hilfe wären da, die Mittel wären da. Inzwischen haben die USA Moskau eine gemeinsame Luftbrücke



Dr. Köhler (Wolfsburg)

vorgeschlagen. Nicht vorhanden ist aber das Minimum an Bereitschaft, Fähigkeit und Willen, die Tür aufzumachen, für das, was in diesem Jahrhundert unter Staaten, die die UN-Charta unterschrieben haben, eine bare Selbstverständlichkeit sein dürfte, nämlich nicht die Schwächsten leiden zu lassen unter der Unfähigkeit, politische Probleme zu lösen.
An dieser Unfähigkeit werden auch die Verantwortlichen in der Zukunft mehr und mehr gemessen werden. Ich sehe den Tag kommen, meine Damen und Herren, an dem denjenigen, die nicht in der Lage sind, die simpelsten und notwendigsten politischen Antworten auf die Probleme ihrer Bevölkerung zu geben, auch kein moralisches Recht mehr zusteht, Entwicklungshilfe — langfristige Entwicklungshilfe meine ich in diesem Fall — , Schuldenerlaß und dergleichen zu fordern.
Es geht in diesem Moment um sehr viel, und dies ist die Stunde, dies mit allem Nachdruck zum Ausdruck zu bringen. Wir können von hier aus nur leidenschaftlich an alle Verantwortlichen appellieren, Mittel und Wege zu finden, damit den Menschen geholfen werden kann. Ob das eine zeitweilige Feuerpause in dem sinnlosen Schießen um Massaua sein könnte oder was auch immer, sollen die bestimmen, die die Verantwortung vor Ort haben. Aber sie müssen wissen, daß wir es nicht ertragen können, wenn in einer Zeit, in der sich die Völker befreien und ihre Lebensrechte in der ganzen Welt einklagen, in anderen Teilen dieser Welt Millionen zugrunde gehen müssen, weil politische Lösungen nicht geschaffen werden, obwohl dieses Thema seit Jahren dringend ansteht. Deswegen müssen wir hier und heute laut und deutlich unsere Stimme erheben.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121015000
Das Wort hat Frau Abgeordnete Eid.

Ursula Eid-Simon (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121015100
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Kollegen und Kolleginnen! Die GRÜNEN begrüßen sehr die Initiative der FDP zu dieser Aktuellen Stunde angesichts der Hungerkatastrophe für ca. 4 Millionen Menschen und den eskalierenden Kriegen in Äthiopien und Eritrea.
Im Unterschied zu der Hungerkatastrophe 1984/85 geht es heute nicht in erster Linie darum, Nahrungsmittelhilfe zu beschaffen, sondern darum, wie sie zu den betroffenen Menschen transportiert werden kann. Die Kriege innerhalb Äthiopiens und in dem für Unabhängigkeit kämpfenden Eritrea sind nicht nur Ursache des Problems der Erreichbarkeit und Verteilung, sondern auch für die Hungerkatastrophe selbst.
Die Jahrzehnte andauernden Kämpfe haben die Infrastruktur fast völlig zerstört, ein produktives Erwerbsleben der Bauern und Nomaden verhindert und das an natürlichen Ressourcen eigentlich sehr reiche Äthiopien zum ärmsten Land dieser Erde gemacht.
Ohne eine dauerhafte friedliche Lösung der kriegerischen Konflikte im Interesse der Bevölkerung werden deshalb auch die Hungerkatastrophen am Horn von Afrika nicht enden. Aus diesem Grunde sollten wir uns neben der aktuellen notwendigen Hilfsmaßnahmen für eine friedliche Lösung der Konflikte mit Engagement einsetzen.

(Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Sehr wahr!)

Ich möchte jetzt erst einmal auf die Nothilfe eingehen. Ich teile nicht die Ansicht, die schon verschiedentlich in der Öffentlichkeit geäußert worden ist, daß die Einnahme des Hafens Massaua durch die EPLF Hilfslieferungen unmöglich gemacht hat; denn selbst wenn die äthiopische Regierung diesen Hafen noch unter Kontrolle hätte, hätte sie niemals zugestimmt, daß Hilfslieferungen an die Gebiete verteilt werden, die von der EPLF und der TPLF besetzt sind und wo 90 To der Hungernden leben.
Das Mengistu-Regime hatte bereits damals die Einrichtung freier Korridore für Hilfstransporte boykottiert. Im Gegensatz dazu hat der Generalsekretär der EPLF nach der Einnahme der Hafenstadt Massaua in einem Brief vom 14. März 1990 an den Generalsekretär der Vereinten Nationen die Nutzung des Hafens für Hilfslieferungen und freie Korridore zugesichert. Das äthiopische Regime hat mit Napalmbombardierungen gegen die zivile Bevökerung, die bis heute anhalten, geantwortet.
Was kann sich die äthiopische Regierung eigentlich noch alles erlauben, ehe sie von der internationalen Öffentlichkeit endlich einmal verurteilt wird? Ich hoffe, daß wir hier und heute ganz klar gemeinsam deutlich machen, daß wir ein solches Verhalten verurteilen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

In der FAZ von gestern steht geschrieben: Das dänische Generalkonsulat in Nairobi wurde von der dortigen Botschaft Äthiopiens unterrichtet, daß sich die äthiopische Regierung militärischer Aktionen gegen das Schiff nicht enthalten werde, um dessen Einfahrt in den Hafen von Massaua zu verhindern. Ich meine, diese Drohung können wir nicht hinnehmen.
Ich fordere Sie, Herr Bundesminister Warnke, auf, nicht nach Äthiopien zu reisen, wie Sie es wohl vorhaben. Denn in einer solchen Situation ist es unglaublich, einem solchen Regime seine Aufwartung zu machen.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121015200
Das Wort hat Frau Staatsminister Dr. Adam-Schwaetzer.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1121015300
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In den nördlichen Provinzen Äthiopiens herrscht inzwischen seit fast 30 Jahren Bürgerkrieg. Dieser Krieg hat das Land ausgeblutet, hat Zigtausende zu Flüchtlingen gemacht, hat Felder verwüstet und unbestellt gelassen, hat Menschen getötet. Dazu kommt in diesem Jahr eine weitere Dürre. Dadurch sind in den nächsten Monaten bereits 3 bis 5 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht.
16522 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn. Donnerstag. den 10. Mai 1990
Staatsminister Frau Dr. Adam-Schwaetzer
Die Absurdität eines Konflikts, in dem Macht mit kriegerischer Gewalt unter bewußter Hinnahme des Hungertods von Millionen Menschen durchgesetzt werden soll, wird besonders an dem Beispiel deutlich, das Frau Hamm-Brücher soeben hier erwähnt hat, daß sich nämlich auf dem Schiff, um das es jetzt geht, das in den Hafen Massaua einfahren will, um dort Hilfsgüter abzuliefern, Waren befinden, die aus Äthiopien heraus exportiert, verkauft worden sind, statt sie der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen, damit sie nicht Hungers stirbt.

(Dr. Pohlmeier [CDU/CSU]: Eine Absurdität!)

Dies macht in der Tat die Absurdität deutlich.
Ein solcher Konflikt kann nur durch Willen und Fähigkeit zum Dialog von allen auf beiden Seiten daran Beteiligten gelöst werden.
Deswegen hat sich die Bundesregierung seit langem allein und mit ihren europäischen Partnern dafür eingesetzt, daß der Bürgerkrieg in Äthiopien durch Verhandlungen gelöst wird.

(Frau Eid [GRÜNE]: Das hat sehr lange gedauert!)

Aber nach wie vor setzen beide Seiten auf eine militärische Option. Die Gespräche zwischen Regierung und Widerstandsbewegungen über eine friedliche Lösung des Bürgerkriegs sind zum Stillstand gekommen.
Die Bundesregierung vertritt entschieden die Auffassung, daß die Versorgung der notleidenden Bevölkerung Äthiopiens mit Nahrungsmitteln Vorrang vor politischen oder militärischen Überlegungen haben muß. Sie hat daher zusammen mit den Partnern in der EG Mitte April bei der Regierung in Addis Abeba und bei der EPLF in Khartoum mit dem Ziel demarchiert, die Zustimmung der Konfliktparteien zur Versorgung der Bevölkerung über alle irgend möglichen Wege, einschließlich des Hafens von Massaua, zu erreichen. Am 24. April haben die wichtigsten Geberländer auf Initiative Kanadas die äthiopische Regierung und die Widerstandsbewegungen nachdrücklich aufgerufen, die Kampfhandlungen einzustellen und alle Versorgungswege für die internationalen Hilfsaktionen zu öffnen.
Im vergangenen Winter konnten wir bei der äthiopischen Regierung erreichen, Frau Eid, daß der Zusammenschluß christlicher Kirchen Äthiopiens „Joint Relief Partnership " ermächtigt wurde, auf dem Landweg Nahrungsmittel und andere Hilfsgüter auch in die von den Widerstandsbewegungen EPLF und TPLF kontrollierten Gebiete zu bringen und zu verteilen. Der Benutzung des Hafens von Massaua allerdings hat die äthiopische Regierung nicht zugestimmt. Dieser Hafen sei Kriegsgebiet, solange die EPLF ihn für ihren militärischen Nachschub benutze.
Wir haben zusammen mit unseren Partnern in der Gemeinschaft versucht, die Konfliktparteien zu bewegen, eine Regelung zu erreichen, nach der Hilfsgüter über Massaua geliefert werden können. Eine solche Regelung gibt es bisher nicht.
Wohl auch deshalb hat die äthiopische Regierung angekündigt, sie sei gezwungen, die militärische Nutzung des Hafens mit Waffengewalt zu unterbinden. Daher sei sie auch nicht in der Lage, die Sicherheit der Danika IV und anderer ziviler Schiffe zu garantieren, die Massaua anlaufen wollen. Die EPLF andererseits weigert sich, zuzusichern, daß Massaua nicht für Waffenlieferungen benutzt wird.
Diplomatische Interventionen sind gefordert worden. Unsere Botschaft in Addis Abeba hat in den vergangenen Tagen und Wochen, seit wir wissen, daß die Danika IV für diese Fahrt eingesetzt werden soll, bereits dreimal bei der äthiopischen Regierung um die Zusicherung nachgesucht, daß das Schiff, das ja humanitären Zwecken dient — auf diese Zwecke jetzt ausdrücklich hingewiesen worden — , den Hafen sicher anlaufen kann. Dies ist nicht akzeptiert worden.
Die Bundesregierung hat deshalb gestern abend den für die Fahrt dieses Schiffes verantwortlichen Dr. Neudeck auf diese Situation und auch auf die Gefahren hingewiesen, die den Menschen an Bord dieses Schiffes drohen, wenn die Fahrt fortgesetzt wird.
Die Bundesregierung fordert die äthiopische Regierung erneut auf, den Hafen Massaua von militärischen Aktionen auszunehmen, um Hilfslieferungen für die Bevölkerung Nordäthiopiens auf diesem Weg zu ermöglichen. Sie fordert die EPLF auf, für diesen Zweck den Hafen Massaua zu entmilitarisieren und den Verzicht auf militärischen Nachschub über diesen Hafen zu erklären.
Die internationalen Organisationen sollten bei den notwendigen Maßnahmen mitwirken, um die Verteilung über die militärischen Linien hinweg zu übernehmen und Mißbrauch auszuschließen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121015400
Das Wort hat der Abgeordnete Großmann.

Achim Großmann (SPD):
Rede ID: ID1121015500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir erleben in immer kürzer werdenden Abständen Hungersnöte in Äthiopien, speziell im Norden Äthiopiens, in dem Gebiet, das man auch Tigre nennt, einem Teil Äthiopiens, oder auch in Eritrea. In einigen Reden heute ist schon klar geworden, daß diese Hungersituation im Grunde genommen überhaupt nicht von der Bürgerkriegssituation zu trennen ist. Wir können uns ja noch so oft über Hilfslieferungen nach Äthiopien unterhalten, wir werden, wenn es nicht gelingt, die Konfliktsituation in Äthiopien zu stoppen und die Ursachen sozusagen auszurotten, auf Dauer gezwungen sein, dort zu helfen.
Frau Staatssekretärin, Sie haben die Initiative der zwölf EG-Staaten sowie Kanadas, Norwegens, Schwedens und der Schweiz zur Wiederherstellung eines Waffenstillstandes erwähnt, damit in der jetzigen sehr prekären Situation, wo es immerhin um das Leben von vier Millionen Menschen geht, die Waffen ruhen und endlich geholfen werden kann. Die äthiopische Regierung hat diesen Appell als Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates zurückgewiesen. Das muß man sich einmal vorstellen!



Großmann
Ich glaube, wir müssen in der Diskussion heute folgendes herausarbeiten. Auf der einen Seite gibt es einen ständigen Appell an die internationale Gemeinschaft zu helfen, wenn Hungerkatastrophen bevorstehen. Auf der anderen Seite weigert sich die äthiopische Regierung — das haben uns auch viele Repräsentanten der äthiopischen Regierung, die Bonn besucht haben, zuletzt auch der Außenminister, immer wieder gesagt — , diesen Konflikt als internationalen Konflikt zu begreifen, d. h., internationale Hilfe anzunehmen, um diesen Konflikt lösen zu helfen.
Es gibt immer wieder Ansätze, daß Friedensgespräche terminiert werden. Man hört, daß alle paar Jahre wieder diese Ansätze zu Friedensgesprächen unternommen werden; alle paar Jahre sind sie zu registrieren; aber oftmals muß man feststellen, daß Ansätze zu Friedensgesprächen nur vorgeschoben werden, um ein bißchen Luft zu gewinnen, um die militärische Infrastruktur wieder auf Vordermann zu bringen und die Waffenarsenale neu aufzufüllen und dann zum nächsten Waffengang zu gehen. Das betrifft mehrere Seiten, die am Konflikt beteiligt sind.
Die Bundesregierung ist schon in der Vergangenheit von uns Parlamentariern immer wieder darauf aufmerksam gemacht worden, daß wir auf allen Wegen helfen müssen. Ich nehme jetzt erneut zur Kenntnis, daß gesagt wird, wir müssen diplomatische Überlegungen hintanstellen. Nur, die diplomatischen Überlegungen sind immer wieder in die Entscheidung der Bundesregierung eingeflossen, wie, auf welchem Wege und wann man hilft. Ich meine, wir müssen hier zu einem parallelen Handeln kommen. Auf der einen Seite müssen wir jetzt, wo akute Hungersnot herrscht, dazu kommen, daß wirklich geholfen wird. Das kann man nur, wenn man alle diplomatischen Regularien, sage ich jetzt mal, hintanstellt. Es müssen also auch „cross border"-Aktionen möglich sein,

(Beifall der Abg. Frau Eid [GRÜNE])

auch dann, wenn vielleicht gemutmaßt wird, damit würde unkalkuliert der militärische Widerstand gefördert. Man kann nicht ausschließen, daß Getreidelieferungen oder überhaupt Nahrungsmittellieferungen auch an Soldaten gelangen, die ja auch hungern. Das kann keine Seite ausschließen. Ich weiß nicht, wie man das machen sollte. Man kann also nur versuchen, durch eine internationale Kontrolle sicherzustellen, daß die Hilfe in erster Linie die hungernde Bevölkerung erreicht und Mißbrauch vermieden wird. Nur, wir müssen „cross border"-Aktionen zulassen, müssen alle Wege gehen, um im Moment den Hunger stillen zu helfen.
Zum zweiten muß sich die internationale Gemeinschaft dazu bekennen, daß wir uns endlich stärker in diesen Konflikt einmischen müssen.

(Beifall bei der SPD)

Es ist einer der letzten Konflikte, der praktisch unbearbeitet vor sich hin blutet. Niemand kümmert sich darum. Die UNO, die OAU und viele internationale Organisationen haben keine Ansätze gemacht, um einzugreifen. Wir müssen es schaffen — vielleicht hilft dabei auch die Anhörung, die wir für den 28. Mai geplant haben — , daß sich die internationale Gemeinschaft stärker in diesen Konflikt einschaltet. Sonst
werden wir hier ständig über Hunger in Äthiopien I reden müssen.
Vielen Dank.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121015600
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Pohlmeier.

Dr. Heinrich Pohlmeier (CDU):
Rede ID: ID1121015700
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn uns die Medien, was Katastrophenberichterstattung anlangt, nicht so sehr abgestumpft hätten, dann wäre dies eine der schlimmsten Schreckensmeldungen der letzten Jahre, vielleicht dieses Jahrzehnts: 4 bis 5 Millionen Menschen im Norden Äthiopiens vom Hungertode bedroht.
Ich verhehle nicht, daß wir alle von ohnmächtiger Erbitterung erfüllt sind, weil die ganze Welt helfen will, wir haben die Mittel und die Möglichkeiten, es mangelt nicht an Geld, es mangelt nicht an den Hilfsgütern, es mangelt einzig und allein an dem Willen der örtlichen Machthaber, diese Hilfe zuzulassen, so daß wir sie an die Hungernden heranbringen können.

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Aber auf beiden Seiten!)

Die Hungernden werden von beiden Seiten — das ist hier wohl schon deutlich geworden — zu Instrumenten, zu Werkzeugen, zu Waffen und zu Opfern dieses Krieges gemacht. Es ist eindeutig, wer die Schuldigen sind: der Diktator Mengistu, aber auch die Führungen der beiden Befreiungsbewegungen, die diesen Bürgerkrieg seit vielen Jahren in Gang halten.
An den Ausführungen der Frau Staatsministerin Adam-Schwaetzer ist klar geworden, daß im Zusammenhang mit dem Hafen Massaua beide Seiten Verantwortung und Schuld tragen und verhindern, daß die Schiffe den Hafen anlaufen und die Güter dann ins Binnenland gelangen können. Deswegen unsere erste nachdrückliche und unerbittliche Forderung: Die Bundesregierung, die internationale Völkergemeinschaft, alle Regierungen müssen massiven Druck auf beide kriegführende Seiten ausüben, diese Hilfslieferungen zuzulassen, und zwar sofort.
Zweiter Punkt: Viele Vorredner haben davon gesprochen, daß die eigentliche Ursache dieser verheerende Bürgerkrieg ist. Das Regime in Addis Abeba sollte endlich begreifen, daß es diesen Krieg nicht gewinnen kann. Aber auch die Rebellen sind nicht in der Lage, dem Vielvölkerstaat Äthiopien den Frieden zu bringen. Das Erschütternde daran ist, daß keiner der Verantwortlichen den Frieden derzeit wirklich will.
Es ist eine gewaltige Desillusionierung eingetreten, meine Damen und Herren, wenn wir geglaubt haben, daß am Horn von Afrika automatisch der Frieden einkehren würde, wenn sich die Supermächte aus diesem Konflikt zurückzögen. Die Russen haben sich zurückgezogen oder sind dabei. Honecker kann keine Waffen mehr liefern. Es ist für mich — ich will es nicht verhehlen — ungemein enttäuschend, eine Erschütterung, daß die Israelis mit offensichtlich immensen



Dr. Pohlmeier
Waffenlieferungen an das Regime in Addis Abeba eingesprungen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und den GRÜNEN)

Hier wird ein weiteres deutlich: Die Ursache der verheerenden, menschenverachtenden Auseinandersetzungen in vielen Teilen Afrikas ist nicht der westliche Imperialismus, sind nicht überwundene Kolonialstrukturen, sondern es ist der Rassenhaß, es ist religiöser Fanatismus, es sind Stammeskonflikte, es ist unersättliche Machtgier von einzelnen und von Gruppen. Es ist ein Beispiel dafür, wie sich die Dritte Welt selbst zerstört.
Ich spreche deshalb den Appell aus, die Nachschubwege für die Waffenlieferungen auszutrocknen. Ich appelliere dabei auch an die arabische Welt. Es ist ganz offenkundig, daß arabische Nachbarn die Rebellenbewegungen nachdrücklich unterstützen. Die Rolle des Sudans, Libyens und Saudi-Arabiens sowie das riesige Waffenpotential — Hinterlassenschaft des Golfkrieges, insbesondere auf der Seite des Irak — sind zu nennen. Ich glaube, daß in diesem Hexenkessel am Horn von Afrika die Waffen eine unheilvolle Rolle spielen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben es mit der These zu tun, daß in dem Maße, wie Frieden zwischen Ost und West hergestellt wird, die Konflikte in der Dritten Welt nicht nur nicht ausgeräumt werden, sondern sogar an Heftigkeit und Gefährlichkeit zunehmen können. Diese Konflikte sind für die betroffenen Menschen sehr viel verheerender, als es der Kalte Krieg zwischen Ost und West in den letzten Jahrzehnten gewesen ist.
Ich glaube, es ist hier schon deutlich geworden, daß daraus eine ungeahnte Herausforderung an die internationale Politik entsteht. Wir brauchen eine entschlossene konzertierte Aktion, und wir brauchen auch wirklich die nachdrückliche Beteiligung der deutschen Bundesregierung. Darum bitte ich insbesondere die beiden hier anwesenden Minister mit großem Ernst und großem Nachdruck.
Die Bundesrepublik ist bereit, sich nicht nur mit humanitärer Hilfe in Äthiopien zu engagieren — das werden wir sofort tun — , sondern sich auch mit Entwicklungshilfe nachhaltig zu engagieren, um diesem ärmsten Land Afrikas, einem der ärmsten Länder der Welt, nachhaltig zu helfen. Aber die Voraussetzungen dafür müssen durch die Beendigung des Krieges, durch wirtschaftliche Reformen, durch die Einführung von Demokratie und Mitbestimmung auch für dieses geplagte Volk geschaffen werden.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121015800
Frau Eid, Sie haben das Wort.

Ursula Eid-Simon (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121015900
Frau Präsidentin! Lassen Sie mich zum Schluß in den zwei Minuten, die ich noch habe, ein paar Worte zu den Aussichten für eine friedliche Lösung sagen.
Ende letzten Jahres begannen ja Vorverhandlungen zwischen der äthiopischen Regierung und der EPLF unter dem Vorsitz des Ex-Präsidenten Jimmy Carter. Am 28. November 1989 kamen beide Seiten schriftlich überein, offizielle Friedensverhandlungen unter dem Vorsitz von Jimmy Carter und Julius Nyerere zu beginnen. Als Beobachter wurden in Übereinstimmung drei Länder ausgesucht, nämlich Tansania, Kenia und Sudan. Entsprechend der Übereinkunft darf darüber hinaus jede Seite zwei weitere Beobachter ohne eine Einschränkung durch die andere Seite benennen. Äthiopien wählte Simbabwe und Senegal; die EPLF wählte die OAU und die UNO. Alle sieben Beobachter sollten dann gemeinsam eingeladen werden.
Nun weigert sich die äthiopische Regierung, die Einladung an die UNO mit zu unterschreiben. Die UNO argumentiert, ohne Zustimmung der äthiopischen Regierung könne sie nicht an diesen Verhandlungen teilnehmen. Die EPLF besteht auf der Einhaltung der Abmachungen der Vorverhandlungen.
Dies sind die Fakten. Trotzdem wird in der Öffentlichkeit der EPLF unterstellt, sie verzögere und boykottiere die Verhandlungen. Tatsache ist, daß sich die äthiopische Regierung nicht an die Vereinbarungen hält, und alles versucht, um den Eritrea-Konflikt nicht zu internationalisieren.
Meine Kollegen und Kolleginnen, diese Verhandlungen bieten eine Chance für eine friedliche Lösung. Ich fordere die Bundesregierung auf, Druck auf die äthiopische Regierung auszuüben, indem sie auf die Einhaltung der Abmachungen der Vorverhandlungen und die Weiterführung der Verhandlungen drängt. Ich fordere die Bundesregierung auf, in den Vereinten Nationen aktiv zu werden, um Schritte einzuleiten, die diese Verhandlungen forcieren können.

Dr. Jürgen Warnke (CSU):
Rede ID: ID1121016000
Nehmen Sie hier dazu Stellung, auch zu dem Gerücht, das ich gehört habe, daß Sie vorhaben, zusammen mit dem DDR-Entwicklungshilfeminister Ebeling nach Äthiopien zu reisen. Falls diese Pläne noch existieren, möchte ich Sie darum bitten,

(Dr. Holtz [SPD]: Davon Abstand zu nehmen!)

falls Sie nicht davon Abstand nehmen — ich habe Sie vorhin schon darum gebeten, nicht hinzureisen — , in Addis Abeba, wenn Sie dort anwesend sind, Bedingungen zu stellen, daß alle Schritte unternommen werden, damit die UNO die Beobachterrolle einnehmen kann. Es steht der UNO als friedenstiftender und friedenforcierender Einrichtung zu, auch in diesem Konflikt eine aktive Rolle zu übernehmen, so wie es bei Namibia der Fall war.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121016100
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.

Gerhart Rudolf Baum (FDP):
Rede ID: ID1121016200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann nicht sehen, daß die Bundesregierung ihre Verantwortung hier nicht wahrnehmen



Baum
würde. Sie hat vielfach Druck ausgeübt; sie hat vielfach Initiativen ergriffen, vor kurzem in der Europäischen Gemeinschaft, in der UNO und wo immer das möglich war.
Der Befund ist dennoch erschreckend genug. Die Vorredner haben das hier zum Ausdruck gebracht. Es ist die Tatsache, daß die vorhandene Hilfe nicht rechtzeitig genug zu den hungernden Menschen gebracht werden kann. Alle anderen Wege, die jetzt offenstehen, sind einem langwierigen Transportprozeß unterworfen. Der einzige Weg führt über diesen Hafen von Massaua, und dieser Hafen ist durch die kriegerischen Auseinandersetzungen und die kriegführenden Parteien blockiert, die ja ohnehin — wie Sie mit Recht gesagt haben, Herr Kollege — die hungernden Menschen als Mittel der Kriegsführung benutzen. Die Frage ist jetzt, wie man aus der aktuellen Situation herauskommt. Das Schiff kommt jetzt Mitte Mai vor den Hafen.

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Am Sonntagmorgen um 6.00 Uhr!)

Die äthiopische Regierung hat erklärt, daß die Sicherheit des Schiffes nicht gewährleistet sei. Dies ist eine etwas hohle Erklärung, denn die einzige Seite, von der die Sicherheit des Schiffes gefährdet werden kann, ist die äthiopische Regierung. Sie allein kann die Sicherheit des Schiffes gefährden.
Ich unterstütze nachdrücklich die Bundesregierung, die in Addis Abeba darauf hingewiesen hat, daß es hier nicht um Waffenlieferungen geht, sondern um Hilfeleistung für viele hunderttausend Menschen,
und daß diese Hilfe ihre Empfänger anders nicht erreichen kann. Das ist jetzt der Appell, der humanitäre Appell an die äthiopische Regierung.
Ich appelliere an die Befreiungsbewegung, daß sie zu diesem Zeitpunkt keine Waffenlieferungen in den Hafen läßt, daß also die kriegerischen Auseinandersetzungen während der Zeit ruhen, in der das Schiff gelöscht wird.

(Beifall bei der FDP)

Wir haben es hier mit einem politischen Konflikt zu tun, dessen Wurzeln tief reichen. Das ist hier schon gesagt worden. Eine friedliche Lösung dieses schrecklichen, über Jahrzehnte andauernden Konflikts muß das Ziel sein.
Wir haben es hier mit einem Stück Weltinnenpolitik zu tun. Hier sind nicht nur die von mir genannten Parteien gefordert, sondern wir alle; unsere Verantwortung ist gefordert. Ich finde es gut, daß wir heute darüber diskutieren. In einer Zeit, in der viele Wünsche der Deutschen in Erfüllung gehen, sollten wir keinen Zweifel daran lassen, daß wir für Menschenrechte, Menschenwürde in aller Welt unvermindert — wenn nicht verstärkt — kämpfen; gerade jetzt. Wir wollten das auch von seiten der FDP mit dieser Aktuellen Stunde deutlich machen.
Wir sehen, daß die Entwicklungen in Osteuropa, die Entwicklungen, die — genauer gesagt — von der Sowjetunion ausgehen, ihre Wirkungen in anderen Teilen der Welt haben, etwa in Namibia ihre Wirkung schon gehabt haben und in Angola zu Wirken anfangen. Es geht ja so etwas wie ein Hauch des Windes der
Freiheit auch über Afrika hinweg. Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß wir aus dieser schrecklichen Ohnmacht, in der wir uns hier befinden, in der wir nur reden und nicht handeln können, herauskommen und daß wir in eine Situation kommen, die alle Machthaber in der Welt davonfegt, die nicht ein Mindestmaß an Menschenwürde und Menschenrechten respektieren. Das sollten sich jetzt auch diejenigen vor Augen führen, die den Schlüssel dafür in der Hand haben, daß wir in den nächsten Tagen nicht das schreckliche Unglück erleben, daß dieses Schiff, das Hilfe bringen soll, dort das Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen wird. Es ist ein Appell in letzter Minute, ein Appell an die Vernunft und an die Achtung der Menschenwürde, ein humanitärer Appell.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121016300
Das Wort hat der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Herr Dr. Warnke.

Dr. Jürgen Warnke (CSU):
Rede ID: ID1121016400
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die internationale Gebergemeinschaft hat dafür gesorgt, daß genug Nahrungsmittel in Äthiopien sind, daß dort niemand zu hungern, geschweige denn zu verhungern braucht. Die Bundesregierung hat dabei ihren Anteil geleistet. Sie hat seit November 1989 81 000 t Nahrungsmittel im Wert von 53 Millionen DM bereitgestellt.
Wenn heute 2 Millionen bis 4 Millionen Menschen in Äthiopien von Hungersnot bedroht sind, liegt es nicht am Mangel an Nahrungsmitteln im Land; es liegt auch nicht an der Unzugänglichkeit der Wohnbereiche dieser Menschen, sondern es liegt einzig und allein daran, daß Bürgerkriegsparteien nicht bereit sind, den Hungernden Zugang zur Nahrung zu gewähren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte hier ausdrücklich feststellen: Das eindringliche Gespräch der Bundesregierung mit der Regierung in Addis Abeba hat Wirkung gezeitigt.

(Zuruf der Abg. Frau Eid [GRÜNE])

Heute können äthiopische kirchliche Organisationen Hilfslieferungen mit Lkw über die Südroute in vom Hunger bedrohte Gebiete unter Kontrolle der Aufständischen in Tigre bringen. Mit technischer Hilfe in Höhe von 10 Millionen DM trägt die Bundesregierung dazu bei, Reifen und Ersatzteile für diese Lkw sowie Zelte für die Zwischenlagerung von Nahrungsmitteln bereitzustellen. Ich möchte bei dieser Gelegenheit, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, den Menschen Dank aussprechen, die sich im Rahmen der Hilfswerke Gefahr für Leib und Leben aussetzen, um diese Hilfe an die Hungernden heranbringen zu können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dieser Dank gilt den äthiopischen Helfern genauso wie denen unserer privaten und kirchlichen Hilfswerke, von denen ich hier stellvertretend die Welthungerhilfe, das Hilfskomitee Cap Anamur, Brot für die Welt und Miserior erwähne.



Bundesminister Dr. Warnke
Das Gespräch mit der Regierung müssen und werden wir fortsetzen. Deshalb werde ich nach Äthiopien reisen,

(Frau Eid [GRÜNE]: Wann?)

weil die Südroute unzulänglich ist. Weder reicht ihre Transportkapazität aus, noch können die Menschen im eingeschlossenen Asmara oder in Eritrea über sie erreicht werden. Die Luftversorgung nach Asmara und die grenzüberschreitenden Operationen nach Eritrea, die ja auch von uns gefördert werden, können nie den notwendigen Bedarf decken.

(Frau Eid [GRÜNE]: Wann reisen Sie?)

Deshalb steht fest: Zur Vermeidung einer Hungerkatastrophe ist der Transport von Nahrungshilfe über den Hafen von Massaua und über die Nordroute zwingend notwendig.
Die Verhinderung des Zugangs von Hungernden zu bereitgestellten Nahrungsmitteln stellt einen Verstoß gegen die Menschenrechte dar. Ich unterstreiche dies angesichts der Drohungen, das Hilfsschiff unter Beschuß zu nehmen. Deshalb fordert die Bundesregierung die äthiopische Regierung wie die eritreische Befreiungsfront auf, Massaua und die Nordroute aus den Kriegshandlungen herauszunehmen und den sicheren Nahrungsmitteltransport zu gewährleisten. Dies könnte als erster Schritt auch in zeitlicher Beschränkung geschehen. Eine Woche im Monat freier Transport über Massaua bedeutet Lebensrettung für Hunderttausende.
Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, läßt keinen Zweifel daran, daß sie darüber hinaus eine militärische Lösung des Bürgerkriegskonfliktes in Äthiopien weder für wünschenswert noch für überhaupt denkbar hält und die unverzügliche Aufnahme von Verhandlungen über politische Lösungen für zwingend geboten erachtet.
Wir haben vor fünf Jahren erlebt, als bei der damaligen Hungersnot in Äthiopien eine ungeahnte und bis dahin nicht erreichte Welle der Hilfsbereitschaft durch unser Land ging, wie groß die Aufgeschlossenheit der Deutschen und übrigens auch der internationalen Bevölkerung war. Ich sage Ihnen voraus, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen: Wenn sich in diesem Jahr wieder eine Hungerkatastrophe — Gott behüte! — in Äthiopien ereignen sollte, wird die Reaktion ganz anders sein. Sie wird Verständnislosigkeit sein, sie wird den Tenor haben: Denen, die das im eigenen Land selbst verschulden, ist nicht zu helfen. Schwerer Schaden wird in der öffentlichen Meinung angerichtet werden, der über Afrika hinaus den Gedanken der Entwicklungszusammenarbeit weltweit diskreditieren wird. Dies allerdings sollten sich die Regierungen der Entwicklungsländer, der Länder in der Dritten Welt klarmachen und sollten es zur Maxime ihres Handelns werden lassen. Ich meine jene Länder, deren Stimmen uns heute in den Vereinten Nationen fehlen, damit die von ihnen zu Recht verlangte internationale Aktion wirksam werden kann, damit wir statt zu Appellen zu kraftvollem Handeln der Vereinten Nationen gelangen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121016500
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Niehuis.

Dr. Edith Niehuis (SPD):
Rede ID: ID1121016600
Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Minister, nachdem ich Ihren Beitrag eben gehört habe, habe ich doch den Eindruck gewonnen, daß Sie versuchen, die Situation in Äthiopien zu verharmlosen.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Ihr Beitrag hat sich doch sehr von dem unterschieden, was zuvor gesagt wurde.

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Das müssen Sie einmal begründen!)

Man hat den Eindruck gewonnen, es sei alles genügend da; man müßte nur noch dafür sorgen, daß es auch im Land verteilt werde. So habe ich es empfunden. Wir sollten die Debatte dieser Aktuellen Stunde nicht in diesem Tenor führen, sondern wir sollten wirklich sagen, worum es geht.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Die Situation in Äthiopien ist insbesondere im Norden nach wie vor katastrophal. Was eine Katastrophe ist, muß auch als solche bezeichnet werden. Wir sind auf dem Wege, dort die dritte Hungersnot in diesem Jahrzehnt zu haben, weil die internationale Hilfe einfach nicht zu den Leuten kommt, zu denen sie kommen müßte.

(Zuruf von der CDU/CSU: Genau das hat er gesagt!)

— Nein, er hat es verharmlost. Das war nicht nur mein Eindruck.

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Brauchen Sie so etwas, oder wie ist das?)

Die Hungernden in diesem zerstrittenen Land sind ein Spielball der um die Macht kämpfenden Parteien. — Das hat er gesagt. Ich sage ja nicht, daß alles falsch ist. Ich habe nur gesagt, sein Bericht habe den Eindruck erweckt, als verharmlose er die Situation in Äthiopien. — Mit meinen fünf Minuten komme ich jetzt nicht mehr zurecht. — Dennoch war es verharmlosend.
Es hat überhaupt keinen Sinn, wenn wir uns hierhin stellen und nur sagen, sie seien Spielball der Parteien in Äthiopien. Nein, wir müssen auch zugeben, daß Äthiopien ein trauriges Beispiel dafür ist, daß nationale und auch internationale Politik versagt hat. Die Situation in Äthiopien ist auch deshalb so, weil wir uns lange Zeit erlaubt haben, den Kalten Krieg des OstWest-Konfliktes zu führen. Wir haben zugelassen, daß die USA bis 1977 Waffen dorthin transportiert hat. Als die USA dann draußen waren, haben wir zugelassen, daß die Sowjetunion und ihre Verbündeten Waffen dorthin transportiert haben. Wir müssen heute mehr denn je sagen: Wer zuläßt, daß Waffen in Spannungsgebiete gesendet werden, der läßt auch zu, daß in diesen Spannungsgebieten gekämpft wird, der läßt auch Menschenrechtsverletzungen zu, der läßt solche katastrophalen Situationen wie die in Äthiopien zu. Wenn wir hören, daß sich dann, wenn die USA und die Sowjetunion das Land verlassen haben, andere wie die Golfstaaten und Israel anbieten, dann müssen wir dies ganz genauso verurteilen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)




Frau Dr. Niehuis
Wir dürfen dies nicht nur so dahinsagen, sondern wir müssen unsere Konsequenzen aus dieser Situation ziehen.
Dennoch: Wir wissen alle, daß Äthiopien nicht geholfen ist, und den Menschen dort schon gar nicht, wenn wir uns darauf einstellen, daß sie alle zwei Jahre Nahrungsmittelhilfe brauchen, damit sie nicht verhungern. Wir müssen uns darauf einstellen, daß Äthiopien in erster Linie ein Entwicklungsland ist.

(Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Äthiopien war schon einmal viel besser dran; es ist heruntergewirtschaftet!)

— Ja. — Wir müssen heute einfach feststellen, daß Krieg und Dürre dazu geführt haben, daß Äthiopien immer mehr zum Entwicklungsland geworden ist. Das, was heute leider erst zu später Stunde diskutiert werden wird, nämlich der gemeinsame Antrag zur Armutsbekämpfung in der Dritten Welt durch Hilfe zur Selbsthilfe, ist gerade für das ärmste Land dieser Welt — und das ist Äthiopien — angebracht. Wenn die Strukturen es erlauben, müssen wir hier endlich einmal eine vernünftige, d. h. auf eine dauerhafte Entwicklung ausgerichtete Politik machen. Darum dürfen wir heute, in einer Situation, in der alles im Schwange ist, wirklich nicht den Versuch machen zu verharmlosen.
Herr Minister, wenn Sie nach Äthiopien fahren, müssen Sie deutlich machen, daß Sie dies an bestimmte Bedingungen knüpfen. Wenn in Äthiopien Menschenrechte verletzt werden, kann man dort nicht sagen, das ist unsere innere Angelegenheit. Dies ist vielmehr eine internationale Angelegenheit, und da dürfen wir nicht sagen, wir mischen uns nicht ein, sondern da muß das auf den Tisch, was Sache ist. Wenn Sie hinfahren, sagen Sie dies! Erinnern Sie nicht nur Mengistu an all das, was er versprochen hat. Reden Sie auch mit den anderen rivalisierenden Parteien, damit wir eine Chance haben, daß sie wirklich an den Tisch kommen und sich an das Verhandlungsergebnis gebunden fühlen!

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121016700
Das Wort hat der Abgeordnete Vogel (Ennepetal).

Friedrich Vogel (CDU):
Rede ID: ID1121016800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst noch einmal unterstreichen, daß es zu begrüßen ist, wenn sich der Deutsche Bundestag heute mit einem der brennendsten Probleme der Dritten Welt befaßt. Ich möchte weiter unterstreichen, was in dem Zusammenhang von einigen meiner Vorredner gesagt worden ist, daß die eigentliche Ursache des Elends in diesem Lande der fortdauernde Bürgerkrieg ist, und ich möchte dazu auch sagen, daß die Verantwortung für die Fortdauer des Bürgerkrieges auf allen Seiten der Bürgerkriegsparteien zu suchen ist und daß alle ihren Beitrag leisten müssen, wenn es zur Beendigung dieses Bürgerkrieges kommen soll.
Ich möchte noch hinzufügen, daß es sich hier um einen Bürgerkrieg handelt, der von außen her nicht nur in Gang gehalten, sondern durch Waffenlieferungen zur Eskalation getrieben worden ist.

(Frau Eid [GRÜNE]: So ist es!)

Dies ist das eigentliche Elend, und das ist der eigentliche Grund, wo die internationale Völkergemeinschaft gerufen ist.
Wir wissen, dies ist inzwischen eine neue Variante des Stellvertreterkrieges, ein Stellvertreterkrieg für den Nahost-Konflikt. Nun kann man weiß Gott nicht sagen, daß sich die internationale Völkergemeinschaft nicht darum bemüht habe, den Nahost-Konflikt zu beenden, Frieden im Nahost-Konflikt herbeizuführen, und das ist bis heute nicht gelungen. Da liegt die wesentliche Ursache für diese Situation, die wir haben.
Den Vorwurf, daß der Herr Bundesminister Warnke die Situation verharmlost habe, fand ich ganz und gar unangemessen, Frau Kollegin.

(Dr. Holtz [SPD]: Weil er sagte, es seien genügend Nahrungsmittel im Land vorhanden!)

Ich sage durchaus noch einmal: Die eigentliche Ursache ist der Krieg, nicht das Fehlen von Nahrungsmitteln. Nicht einmal die Dürre ist Ursache dafür, daß über vier Millionen vom Hungertod bedroht worden sind, sondern die Bürgerkriegssituation macht es unmöglich, die Nahrungsmittel dahin zu bringen, wohin sie sollen. Das ist das eigentliche Problem.

(Dr. Holtz [SPD]: Es gibt immer mehrere Ursachen!)

Nun haben wir uns ja vorgenommen, unseren Beitrag durch eine Anhörung zu leisten, deren Wert davon abhängt — dies möchte ich auch sehr nachdrücklich betonen — , daß alle Parteien, die wir dazu eingeladen haben, auch dort hinkommen und daß wir uns auch so verhalten, daß die Bereitschaft vorhanden ist, auf allen Seiten zu dieser Anhörung zu kommen.
Frau Kollegin Eid, Sie sollten wirklich überlegen, ob Sie dieses Anliegen fördern, wenn Sie sozusagen im Anhang an die Anhörung noch eine eigene Anhörung am nächsten Tag unter der Federführung der GRÜNEN durchführen wollen. Es ist eine gutgemeinte Frage an Sie, ob dies sinnvoll ist und ob Sie nicht gut daran tun, im Interesse einer erfolgreichen Anhörung von diesem Vorhaben abzusehen.

(Dr. Holtz [SPD]: Das finde ich auch!)

Ich sage das ohne jede Schärfe. Ich habe hier einfach Sorge, daß dies, wenn auch nur als Vorwand, benutzt wird, sich daran nicht zu beteiligen.
Was aktuell ist, ist die Situation, die in Massaua entstehen kann, wenn der Plan verwirklicht wird, am Sonntagmorgen um 6 Uhr das Schiff im Hafen von Massaua landen zu lassen. Wir können dem Notärztekomitee die Verantwortung dafür nicht abnehmen. Wir können einen dringenden Appell an die äthiopische Regierung richten, diese Drohung zurückzunehmen, aber ich muß auch in gleicher Weise an die EPLF appellieren, die auf die Demarche der zwölf EG-Länder vom 13. April 1990 bis heute nicht geantwortet hat, obwohl sie Antwort innerhalb von fünf Tagen zugesagt hatte. Ich glaube, daß dort ein ebenso großes



Vogel (Ennepetal)

Maß an Verantwortung für die Situation zu suchen ist, die sich um Massaua ergibt, und deshalb der Appell an beide Seiten, nicht an eine Seite. Ich glaube, daß wir daran guttun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121016900
Der letzte Redner ist der Herr Abgeordnete Toetemeyer.

Hans-Günther Toetemeyer (SPD):
Rede ID: ID1121017000
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir über Ursachen sprechen, dann sollten wir so ehrlich sein und sagen, daß die schlimmen Auseinandersetzungen, die Bürgerkriegsauseinandersetzungen in Äthiopien, nicht vom Himmel gefallen sind. Sie sind das späte, schlimme Erbe der Kolonialzeit; darüber gibt es überhaupt keinen Zweifel.

(Zuruf des Abg. Baum [FDP])

— Wir waren nicht betroffen, Herr Kollege Baum. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

— Ja, wir wollen gegenüber uns selbst ehrlich sein. Wir müssen sehen, daß die willkürliche Grenzziehung in Afrika Ursache vieler kriegerischer Auseinandersetzungen heute ist. Darüber gibt es überhaupt keinen Zweifel.
Edgard Pisani hat in seinem im Jahre 1988 geschriebenen Buch „Für Afrika", das ich Ihrer Lektüre sehr empfehle, gesagt — ich zitiere einige Sätze — :
Schlimme Bilder, von denen man annimmt, daß sie der Wahrheit entsprechen, weil sie grauenvoll sind — sie stoßen ab, wecken aber w e der Verständnis n o c h den Wunsch zu verstehen.
Meine Damen und Herren, wenn es uns gelingen sollte — ich halte die Europäische Gemeinschaft in dieser Frage für besonders verpflichtet — , aus den von mir dargestellten Gründen Druck auszuüben, dann wird ja, selbst wenn wir einmal den für uns alle glücklichen Fall unterstellen, es werde zu einem Ende des Bürgerkriegs kommen, damit das Problem Äthiopien nicht beendet sein. Dann beginnen die Probleme ähnlich wie in anderen Ländern, ähnlich wie beispielsweise in Namibia. Dann werden wir darüber nachzudenken haben, was wir dann tun, damit sich dieses Land endlich selbst ernähren kann.
Ich verweise auf den Bericht der Weltbank vom vergangenen Jahr zu den Subsahara-Staaten Afrikas und zitiere aus Seite 4 einen Satz, der auch nach Beendigung des militärischen Konflikts für Äthiopien gilt:
Wenn Afrika auf Dauer Hunger abwenden will, dann muß die Wirtschaft dieser Staaten
— gemeint sind die Subsahara-Staaten —
um mindestens 4 bis 5 % pro Jahr wachsen. Vor allem die landwirtschaftliche Produktion muß diesen Prozentsatz erreichen.
Ich möchte also Ihre Blicke ein bißchen über den heutigen Tag hinaus auf die Dinge lenken, die auf uns zukommen; denn das Thema Äthiopien wird uns hier noch lange beschäftigen. Im gleichen Bericht der Weltbank wird darauf hingewiesen, welche Nahrungsmittelimporte die Subsahara-Staaten benötigen, wenn folgende Annahmen zugrunde gelegt werden
— ich nenne einmal drei Werte aus diesem Bericht — : Bei 2 % Wachstum der landwirtschaftlichen Produktion und gleichbleibender Geburtenrate — letztere Annahme ist im Augenblick sehr realistisch — benötigen allein die Subsahara-Staaten Afrikas, zu denen Äthiopien gehört, 240 Millionen Tonnen Mais pro Jahr. Unterstellt man einen anderen Wert, nämlich 4 % Wachstum der landwirtschaftlichen Produktion bei gleichbleibender Geburtenrate, dann benötigen sie immer noch 80 Millionen Tonnen Mais pro Jahr. Erst dann, wenn sich die Geburtenrate vermindert und ein Wachstum von 4 % unterstellt wird, ist die Selbstversorgung auch Äthiopiens möglich.
Meine Damen und Herren, auch diese Daten bitte ich heute im Blick zu haben, weil ich mich nach dem Verlauf der Diskussion — ich stimme den meisten Dingen, die meine Vorredner gesagt haben, zu; auch ich plädiere für nachhaltigen Druck auf beide kriegsführenden Parteien — veranlaßt sehe, Sie darum zu bitten, über den Frieden, der kommen muß — sonst können wir gar nichts tun — , die Probleme von morgen nicht zu vergessen.

(Beifall bei der SPD und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121017100
Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe nunmehr den Zusatztagesordnungspunkt 3 auf :
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN
Einsetzung des Ausschusses Deutsche Einheit
— Drucksache 11/7074 —
Interfraktionell ist für die Beratung ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden.
— Kein Widerspruch. So beschlossen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jahn (Marburg).

Gerhard Jahn (SPD):
Rede ID: ID1121017200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist an der Zeit: Seit Monaten behandelt der Bundeskanzler die Einheit Deutschlands als Veranstaltung des Kanzleramtes, seit Monaten hat die Koalition ihre Hand dazu hergegeben, das Parlament völlig auszuschließen. Die beiden Anträge der SPD-Fraktion vom 14. Februar und 24. April zur Mitwirkung des Parlaments wurden nicht behandelt. Das war dem einmaligen Gegenstand der Einigung der deutschen Staaten unangemessen, und es war auch unklug.

(Beifall des Abg. Conradi [SPD])

Die Einigung bedarf nicht nur, wie der Staatsvertragsentwurf ausweist, der Mitwirkung des Bundesrates, sondern auch eines redlichen Bemühens um eine breite Mehrheit. Die selbstverständliche Achtung, mit der die Regierung der DDR mit der Volkskammer zusammenarbeitet, zeigt, wie solche Fragen angegangen werden müssen.
Die Währungsunion und die Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft erfordern Entscheidungen, die



Jahn (Marburg)

Grundfragen der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung ebenso betreffen wie den Platz der Deutschen in Europa und der Welt.
Die Regierung allein kann die Grundlagen für die deutsche Einheit nicht legen. Sie muß die Gesetzgebungsorgane — das gilt für beide deutsche Staaten — schon in die Vorbereitung der Grundlagenentscheidungen einbeziehen. Das soll jetzt endlich geschehen.
Wir begrüßen das Zustandekommen des interfraktionellen Antrags. Wir danken den Präsidien der beiden deutschen Parlamente, die den Weg dazu geebnet haben mit ihrer Feststellung: Dies ist die Stunde der Parlamente.
Nach unserer Auffassung wäre es noch besser gewesen, wenn der Bundesrat voll eingebunden worden wäre. Auch der Beitrag der Bundesländer zur Einigung ist unverzichtbar. Auch für die Bundesländer gilt das Recht und die Pflicht, aus ihrer Verantwortung die Einigung mitzugestalten und nicht nur Entscheidungen der Bundesregierung nachzuvollziehen.
Die Aufgaben des Ausschusses sind klar: Er muß sich mit allen grundlegenden Fragen der Einigung auch aus eigenem Recht im Sinne des § 62 Abs. 1 der Geschäftsordnung befassen können. Ihm soll durch den Bundestag die tatkräftige Mitwirkung an der deutschen Einheit anvertraut werden. Er wird diese Aufgabe nur dann gut erfüllen können, wenn er die Rechte der zuständigen Ausschüsse des Bundestages achtet. Auf die Zusammenarbeit mit den Fachausschüssen ist er ohnehin angewiesen.
Auf Zusammenarbeit kommt es überhaupt an, insbesondere mit den Kolleginnen und Kollegen der Volkskammer, und zwar ebenso durch diesen Ausschuß wie durch die Fachausschüsse.

(Abg. Wüppesahl [fraktionslos] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121017300
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Gerhard Jahn (SPD):
Rede ID: ID1121017400
Die Einheit Deutschlands darf sich nicht erschöpfen in einem Ja oder Nein zu einem ersten Staatsvertrag.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121017500
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege Jahn?

Gerhard Jahn (SPD):
Rede ID: ID1121017600
Nein.

(Wüppesahl [fraktionslos]: Das sind parlamentarische Gepflogenheiten!)

Wir stehen erst am Anfang der Arbeit. Viel liegt noch vor uns. Die Interessen der beiden deutschen Staaten müssen aufeinander zugeführt werden, damit eine gemeinsame Verfassung, damit eine gemeinsame Klärung der Grenzfragen, damit eine gemeinsame Grundlage für die außenpolitische Absicherung der Einigung gefunden werden kann.

(Wüppesahl [fraktionslos]: Das ist alles ein Märchen!)

Der Deutsche Bundestag kann, will und muß mit Hilfe des Ausschusses Deutsche Einheit dazu seinen Beitrag leisten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121017700
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Rüttgers.

Dr. Jürgen Rüttgers (CDU):
Rede ID: ID1121017800
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundestag setzt heute auf Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion den Ausschuß Deutsche Einheit ein. Er wird sich zukünftig federführend mit allen grundlegenden Fragen der Wiedervereinigung befassen. Dazu gehört als erstes der Staatsvertrag, aber im weiteren Fortgang auch die Umsetzung des Beitritts der DDR nach Art. 23 des Grundgesetzes.
Ich möchte allen Fraktionen danken, daß sie unserem Vorschlag zugestimmt haben. Ich hoffe, daß wir uns in den ersten Sitzungen auch über das weitere Beratungs- und Entscheidungsverfahren schnell einigen können. Ich hoffe ebenfalls, daß damit das Genörgele über Verfahrensfragen endgültig vorbei ist. Ich habe es sowieso, verehrter Herr Kollege Jahn, nie verstanden. Vergleicht man nämlich die Informationspolitik dieser Bundesregierung in den letzten Monaten mit der Informationspolitik früherer Bundesregierungen etwa bei den Ostverträgen oder beim Grundlagenvertrag, so kann man die bisherige Beteiligung des Deutschen Bundestages nur als sehr gut bezeichnen.

(Lachen bei den GRÜNEN — Jahn [Marburg] [SPD]: Als Schulkinder haben wir das „Retourkutsche" genannt!)

— Hören Sie zu, verehrter Herr Kollege Jahn.
Bereits am 28. November letzten Jahres, also zweieinhalb Wochen nach Öffnung der innerdeutschen Grenze, hat es die erste Regierungserklärung des Bundeskanzlers hier im Deutschen Bundestag gegeben. Seitdem hat es sieben weitere Regierungserklärungen und Debatten zu deutschlandpolitischen Fragen — also im Schnitt jede zweite Sitzungswoche eine — gegeben.

(Jahn [Marburg] [SPD]: Wer sich entschuldigt, klagt sich an!)

Wer hier, verehrter Herr Kollege Jahn, etwas zu kritisieren hat, hat entweder nicht zugehört, oder er leidet an Vergeßlichkeit, oder er will nur von seiner eigenen Sprachlosigkeit ablenken.

(Jahn [Marburg] [SPD]: Das meinen Sie doch nicht im Ernst!)

Daß die Opposition in den letzten Wochen große Schwierigkeiten hatte und anscheinend noch hat, eine einheitliche Haltung zu entwickeln, hat wiederum wirklich weder die Bundesregierung noch die Koalition zu verantworten.

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ich will wegen der Kürze der Zeit nur ganz kurz an den Eiertanz der SPD zum Zehnpunkteplan des Bun-



Dr. Rüttgers
deskanzlers und an die dauernden Richtungskämpfe der GRÜNEN erinnern.

(Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Hat Ihnen dies das Bundeskanzleramt auf geschrieben?)

Ein Ende — das habe wir heute morgen gehört — ist noch nicht abzusehen. Ich zumindest weiß heute noch nicht, ob die GRÜNEN nun für oder gegen die Wiedervereinigung sind. Ich finde es wichtig, daß wir einen Konsens darüber haben, daß dieser Ausschuß ein normaler Bundestagsausschuß ist, der auf der Grundlage des Grundgesetzes und unserer Geschäftsordnung arbeitet. Dies heißt im Klartext, daß irgendwelche Gremien, die weder im Grundgesetz noch in irgendeiner bisherigen Geschäftsordnung vorgesehen sind, also etwa neue Ausschüsse zwischen Bundesrat und Bundestag oder gar zwischen Volkskammer und Bundestag,

(Dr. Vogel [SPD]: Unglaublich! „Gar"!)

nicht zum Tragen kommen können. Herr Dr. Vogel, mit uns sind solche Vorschläge nicht zu machen, weil wir ohne Wenn und Aber den Weg des Art. 23 gehen. Ich hoffe, daß wir von Ihnen in der nächsten Zeit in dieser Frage endlich auch einmal eine klare Antwort bekommen, damit wir wissen, ob man weiter damit rechnen muß, daß beabsichtigt ist, an unserem Grundgesetz herumzuexperimentieren.

(V o r sitz : Vizepräsident Stücklen)

Wir zumindest sagen: Wehret auch in solchen Fällen den Anfängen. Das heißt konkret, es gibt einen normalen Bundestagsausschuß, der — das muß natürlich zugegeben werden — weder ein Superausschuß noch ein Oberparlament werden kann, sondern in den nächsten Wochen viel Arbeit unter einem enormen Zeitdruck leisten muß.
Ich glaube, es ist wichtig, daß wir uns bei dieser Arbeit im Ausschuß des Sachverstands der anderen Fachausschüsse bedienen.
Wir können jetzt die Grundlage für Freiheit und Wohlstand in der DDR legen, aber wir können natürlich nicht die gesamte Erblast einer 40jährigen sozialistischen Mißwirtschaft in der DDR mit einem Schritt abräumen.

(Dr. Möller [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Voraussetzung für einen Erfolg ist, daß die Menschen in unserem Vaterland die Chance dieser Entwicklung sehen. Deshalb, so meine ich, ist es falsch, jetzt — wie die Ost-SPD oder der FDGB — dauernd mit Nachbesserungen zu kommen, Streiks anzudrohen, Nachschläge zu verlangen — und das, bevor die Verhandlungen für diesen Staatsvertrag überhaupt erst abgeschlossen sind.

(Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Ich denke, wir reden über die Einsetzung des Ausschusses!)

Wer will, daß die Bürger in der Bundesrepublik helfen, so gut sie können, darf ihre Hilfsbereitschaft nicht durch immer neue Forderungen überfordern; denn jede Mark muß von den Bürgern in Deutschland erarbeitet werden. Deshalb geht es hier nicht um Verteilen, sondern es geht um Hilfe zur Selbsthilfe.
Die Einsetzung des Ausschusses Deutsche Einheit, werte Kolleginnen und Kollegen, ist ein wichtiger Schritt. Wir haben in den nächsten Wochen sehr viel zu tun. Wir können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, einen 40jährigen Traum Wirklichkeit werden zu lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121017900
Das Wort hat Herr Abgeordneter Mischnick.

(Zuruf des Abg. Mischnick [FDP])

— Entschuldigung, mir ist Herr Mischnick gemeldet.

(Erneuter Zuruf des Abg. Mischnick [FDP] — Hüser [GRÜNE]: Frau Renger hatte mich gefragt, ob ich Herrn Mischnick vorlasse! — Gegenruf Mischnick [FDP]: Es war gemeldet, daß der Kollege Hüser als nächster dran ist! — Dr. Vogel [SPD]: Können wir die Sitzung jetzt fortsetzen? — Jahn [Marburg] [SPD]: Herr Präsident, können wir nicht knobeln lassen?)

— Herr Abgeordneter Mischnick, wir haben in der Geschäftsordnung die Regelung, daß sich Pro und Kontra einander abwechseln sollen.

(Mischnick [FDP]: Deswegen bin ich davon ausgegangen, daß jetzt Kollege Hüser redet! — Zuruf des Abg. Hüser [GRÜNE])

— Sie haben das geändert? — Dann sind Sie an der Reihe, Herr Hüser.

Uwe Hüser (GRÜNE):
Rede ID: ID1121018000
Frau Renger hatte mich gefragt, ob Herr Mischnick vor mir reden dürfe. Da habe ich gesagt: ja. Aber es ist auch so okay.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag ist hier und heute zusammengekommen, um einen neuen Ausschuß einzusetzen. Dies ist nicht irgendein Ausschuß, sondern es ist der Ausschuß Deutsche Einheit. Dieser Ausschuß soll 39 Mitglieder haben und damit der größte Ausschuß des Bundestags sein. Ich habe gedacht, daß zusammen mit den Stellvertretern und Stellvertreterinnen mindestens 78 Abgeordnete diesen Saal füllen würden. Dies ist nun leider nicht der Fall. Vielleicht ist der Ausschuß doch gar nicht ganz so wichtig.
In diesem neuen legislativen Planschbecken — entschuldigen Sie diesen vielleicht nicht ganz so parlamentarischen Ausdruck — soll sich nun die Crème de la crème des westdeutschen Parlamentsadels, allseits bekannt aus Funk und Fernsehen, tummeln, einschließlich der GRÜNEN. Wir haben nichts dagegen. Im Gegenteil: DIE GRÜNEN haben immer wieder eine stärkere Beteiligung des Parlaments, der parlamentarischen Beratungen, gefordert, auch und gerade in Zusammenarbeit mit der Volkskammer. Wir unterstützen ja auch die Einsetzung dieses Ausschusses.
Kritik an dem bisherigen Verfahren ist allerdings nicht nur angebracht, sondern aus unserer Sicht bitter nötig: Die Einsetzung dieses Ausschusses ist nach unserer Ansicht der letzte Versuch, das Parlament an dem Prozeß der deutschen Einheit zu beteiligen. Wir



Hüser
erinnern uns an die Erklärung, die die Präsidien von Bundestag und Volkskammer veröffentlicht haben. Ich möchte noch einmal daran erinnern, daß wir, die GRÜNEN, auch weiterhin aus dem Präsidium herausgehalten werden. Dies ist angesichts der Entwicklung in der DDR und angesichts der Tatsache, wie dort die Volkskammer organisiert ist und welche Oppositionsgruppen im Präsidium vertreten sind, ein Anachronismus. Die beiden Präsidien betonen also in einer gemeinsamen Erklärung die besondere Verantwortung der Parlamente angesichts dieser demokratischen Herausforderungen.
Wer allerdings das Parlament als Bremser oder als Hindernis begreift und der Meinung ist, das Kabinett könnte im Hauruck-Verfahren dieser bislang wohl größten Aufgabe unserer Demokratie gerecht werden, beweist vielleicht nur, daß er die Mütter und Väter des Grundgesetzes nicht verstanden hat; denn der Deutsche Bundestag ist vom Grundgesetz eingesetzt worden, die politischen Entscheidungen der Exekutive nicht nur zu sanktionieren, sondern Vorgaben zu machen und die Exekutive mit der Ausführung zu beauftragen.
Was allerdings mit dem Staatsvertrag bisher geschehen ist, ist das genaue Gegenteil. Da ändern auch die noch so vielen kurzfristig anberaumten Informationsgespräche nichts. Anstatt die vorhandenen demokratischen Institutionen des Parlaments zu nutzen, die Verhandlungen auf Regierungsebene von Beginn an mit dem Parlament zu koordinieren, wird jetzt auf den letzten Drücker ein neuer Ausschuß geschaffen, der zusammen mit den anderen Ausschüssen, die bereits vollendeten und formulierten Tatsachen mit dem parlamentarischen Segen versehen soll. Machen wir uns doch nichts vor: Ernsthafte Anregungen oder sogar Änderungen zum Staatsvertrag sind aus dem Parlament gar nicht möglich und wahrscheinlich auch gar nicht gewünscht.
Nach dem Motto, daß die Stunde des Notstands die Stunde der Exekutive ist, wird so eine politische Zeitnot herbeigeführt, die die GRÜNEN so nicht akzeptieren können und die wir ablehnen.
Dies zeigt auch unter Umständen, daß die Bundesregierung vielleicht etwas Angst vor der demokratischen Bewußtseinsentwicklung der Menschen in der DDR — und selbstverständlich auch bei uns in der Bundesrepublik — hat, daß sie vielleicht auch etwas Angst vor dem Volk und seinen parlamentarischen Vertretungen hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Vor Ihnen hat doch keiner Angst!)

Warum müssen die dringend notwendigen Hilfsmaßnahmen für die Menschen in der DDR unbedingt mit einem Staatsvertrag gekoppelt werden, der den Anschluß der DDR und nicht ein partnerschaftliches Zusammengehen beider deutschen Staaten bedeutet und der jede belebende Idee für einen gemeinsamen demokratischen Neuanfang im Keim erstickt?
Es handelt sich um einen äußerst wichtigen Staatsvertrag. Dabei mutet es eigenartig an, daß gerade dieser Staatsvertrag, der die Einheit beider deutschen Staaten betrifft, im Grunde genommen parlamentarisch wie ein x-beliebiges Doppelbesteuerungsabkommen behandelt wird. Wenn dies so weitergeht, wird auch dieser neue Ausschuß das nicht verhindern. Er wird eher nur eine Alibifunktion für die Regierung haben. Dies gilt es durch das Parlament konstruktiv zu verhindern, auch wenn wir uns bewußt sind, daß wir an dem Inhalt des Staatsvertrages nichts mehr ändern können.
Ich könnte an dieser Stelle noch einige Alternativen aufführen, die das Parlament und die Regierung hätten, um ein wirklich neues Gesamtdeutschland zu schaffen, das unter der Verantwortung seiner Geschichte integraler Bestandteil eines noch zu schaffenden ökologischen, friedlichen und sozialen Europas wäre. Die Zeit reicht aber nicht, da die letzte Minute angezeigt ist.
Wir werden uns durch diese protokollarische Konzession an das Parlament nicht befrieden lassen. Wir bestehen weiterhin auf einer konstruktiven Einschaltung der Politik ohne eine Zeithatz, die nach unserer Meinung die konstruktive Einschaltung des Parlaments eben nicht mehr ermöglicht.
Ich möchte am Schluß noch eine Bemerkung zu der Arbeitsweise und zu der Gestaltung dieses Ausschusses machen. Wie wir alle gehört haben, soll der Vorsitz auf Vorschlag der CDU/CSU von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth eingenommen werden.

(Conradi [SPD]: Aber erst eine Woche darauf!)

Wir halten dies nicht für gut. Sie machen hiermit nur deutlich, daß damit ein Superausschuß geschaffen werden soll, eine Art Notparlament. Wir hatten auch nicht erwartet — es wird wahrscheinlich auch nicht eintreffen — , daß die Regierungskoalition die Größe aufgebracht hätte, den Vorsitz der Opposition zu überlassen. Wie wir allerdings heute erfahren haben, wird dies zumindest für die erste Sitzung wohl der Fall sein.
Der einzige politische Grund, warum ich Ihnen wünsche, daß Frau Süssmuth den Vorsitz erhält, ist, daß dies deutlich macht, daß die Wählerinnen und Wähler, wovon ich ausgehe, am Sonntag Frau Süssmuth das Votum für den Bundestag und eben nicht für ihr Ministeramt in Niedersachsen geben werden. Von daher hat es etwas Gutes, wenn sie den Vorsitz übernimmt.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121018100
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.

Wolfgang Mischnick (FDP):
Rede ID: ID1121018200
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Jahn, Sie haben davon gesprochen, daß das Parlament bisher völlig ausgeschlossen gewesen sei. — Mit Sicherheit nicht. Wichtig ist, daß man in den zuständigen Ausschüssen Detailberatungen, soweit sie aus diesem Vertrag erforderlich werden, erst machen kann, wenn er vorliegt. Zweitens wissen wir doch sehr genau, daß Staatsverträge — es ist in diesem Fall notwendig, ei-



Mischnick
nen Staatsvertrag abzuschließen — etwas anders zu behandeln sind als Gesetzesvorlagen.

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Die werden auch erst beraten, wenn sie eingebracht sind!)

Drittens. Da, wo entsprechende gesetzliche Regelungen aus dem Staatsvertrag für uns notwendig sind, sollen sie in den Fachausschüssen beraten werden. Das ist vorgesehen.

(Wüppesahl [fraktionslos]: Es wird nur nicht gemacht!)

— Das wird schon kommen, keine Sorge.
Viertens. Interessen aufeinander zuführen: völlig richtig. Aber, Herr Kollege Jahn, lassen Sie mich das ganz deutlich sagen: Für mich ist der Ausschuß, den wir jetzt bilden, nicht ein Ausschuß, der die Aufgabe hat, die Einheit zu verzögern, sondern er soll dazu beitragen, daß sie so schnell wie möglich kommt,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

d. h. durch die parlamentarische Begleitung sicherzustellen.

(Jahn [Marburg] [SPD]: Aber Herr Mischnick, was soll diese Unterstellung! Wer redet denn von Verzögerung?)

— Ich habe gesagt, für mich hat das Bedeutung. Ich habe nicht gesagt, daß Sie verzögern. Für mich bedeutet das, daß die Einheit so schnell wie möglich kommen soll. Das bedeutet für mich, daß in diesem Ausschuß auch die Überlegung angestellt werden muß, wie wir so schnell wie möglich überflüssig machen, daß Staatsverträge erforderlich sind, wie durch die parlamentarische Beratung in einem gemeinsamen Parlament die Fragen gelöst werden, die für die Zukunft noch zu lösen sind. Das ist das, was ich als vorrangige Aufgabe für uns gemeinsam ansehe.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Fünftens. Der Kollege Hüser hat davon gesprochen, daß praktisch eine Art Notstandsparlament geschaffen werden soll. Herr Kollege, wissen Sie, es ist kein Notstand, der hier herrscht, sondern es ist eine Entwicklung, die wir über Jahrzehnte durch eine konsequente Politik herbeigeführt haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir sind froh, daß wir den Notstand überwinden. Dazu soll dieser Ausschuß mit beitragen.

(Hüser [GRÜNE]: Aber deswegen darf das normale Parlament nicht übergangen werden!)

Daß die beiden Ausschüsse, hier wie bei der Volkskammer, zusammenarbeiten werden, hat natürlich den doppelten Sinn, einmal das, was über den Staatsvertrag zu geschehen hat, entsprechend parlamentarisch zu begleiten, auf der anderen Seite aber auch vorzubereiten, was an gemeinsamen Bemühungen morgen und übermorgen notwendig und erforderlich ist.
Man hätte Angst vor dem demokratischen Bewußtsein: Wo haben Sie das nun wieder her? Da kann ich mich nur wundern.

(Hüser [GRÜNE]: Lassen Sie sich doch auf eine Volksabstimmung ein, Art. 146!)

Eines ist deutlich: Jeder, der sich die Mühe macht, in der DDR nicht nur auf Großkundgebungen, nicht nur mit Verantwortlichen in der Politik an den Spitzen zu sprechen, sondern auch mit den Menschen in den verschiedensten Bereichen, wird feststellen, daß den Wunsch, das Ziel, so schnell wie möglich zu einem gemeinsamen Parlament zu kommen, die überwiegende Mehrheit teilt, daß jede Verzögerung als falsch erachtet wird, daß durch jede Verzögerung Angstpsychosen, die noch vorhanden sind, von anderen gepflegt werden, weiter am Leben erhalten werden. Deshalb meine herzliche Bitte: Fassen wir diesen Ausschuß als einen Ausschuß auf, der möglichst bald seine Aufgabe als erledigt ansieht, weil wir ein gemeinsames deutsches Parlament haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121018300
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wüppesahl.

Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1121018400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Wiedervereinigung wurde bislang am Parlament vorbei vollzogen,

(Dr. Möller [CDU/CSU]: Das ist Quatsch, was Sie sagen!)

vielleicht aus dem Wunsch der CDU/CSU-FDP-Regierung heraus, nach Jahren blamabler Skandale, mittelmäßiger Politik und etlicher Pannen

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Sie sind die Inkarnation der Mittelmäßigkeit, Herr Wüppesahl! )

endlich einmal in dem wohligen Licht historischer Ereignisse zu stehen. Wer will denn ernsthaft bezweifeln, was ich eben formuliert habe: daß das Parlament im wesentlichen ausgeschaltet worden ist?

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Wir bezweifeln das! — Dr. Möller [CDU/CSU]: Sie sagen die Unwahrheit!)

Wir haben eben sogar erlebt — was ich wirklich als peinlich empfinde, zumal auch noch Beifall von den Koalitionsfraktionen kam — , daß sich Herr Mischnick auch noch die Geschicke der Revolution, die viel zu kurz tatsächlichen Einfluß auf die weiteren Abläufe hatte, angeeignet hat.
Herr Mischnick, Sie haben gesagt: Wir haben seit Jahren durch unsere konsequente Politik diese Veränderungen herbeigeführt.

(Mischnick [FDP]: Natürlich!)

Den Menschen, die in Leipzig, in Dresden, in OstBerlin für Freiheit und Menschenrechte auf die Straße gingen, Zuchthaus, Stasi-Verhöre und anderes mehr in Kauf nahmen, wird die Frucht ihrer jahrelangen Arbeit, der kurze Herbst der Revolution, durch exakt solche Formulierungen und das Gesamtverhalten die-



Wüppesahl
ser Bundesregierung — auch uns als Parlamentariern gegenüber — genommen.

(Frau Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Sie wissen doch gar nicht, was Sie sagen! — Mischnick [FDP]: Sie kennen die Menschen in der DDR nicht!)

Was ihnen in der DDR bleibt, ist zur Zeit eine Selbstbestimmung von Kohls, Seiters und Waigels Gnaden, nichts anderes. Natürlich hat der Kollege von den GRÜNEN recht: Es ist ein unausgesprochener QuasiNotstand, in dem die Bundesregierung jetzt die Vereinigung am Parlament vorbei durchzieht.

(Bohl [CDU/CSU]: Ist doch Unsinn!)

Es stellt eine Mißachtung gegenüber einer demokratischen Institution dar, für die Millionen Menschen, Herr Geschäftsführer der CDU/CSU,

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Sie sind ein geschichtsloser Geselle!)

Franzosen, Briten, Sowjetbürger und Amerikaner, ihr Leben ließen. Es stellt eine Mißachtung der Demokratie dar. Das ist symptomatisch für die Machtsucht der mittelmäßigen Regierung Kohl.

(Bohl [CDU/CSU]: Wie kann man so daneben sein?)

Ich habe in der Sachdebatte zu der Regierungserklärung von heute und auch zu der Regierungserklärung der letzten Sitzungswoche sehr deutlich ausgeführt, daß sich z. B. der Verfassungsausschuß, der Innenausschuß, bis heute trotz mehrfacher Mahnung und inzwischen sogar Beschlüsse nicht einmal ernsthaft mit der Problematik befaßt hat.
Das während der Jahre der deutschen Teilung immer wieder von den Bundesregierungen eingeklagte Recht der Menschen im anderen Teil Deutschlands auf Freiheit und Selbstbestimmung erweist sich im nachhinein als das, was es immer war, nämlich Propaganda. Eine Selbstbestimmung gibt es zur Zeit nicht. Nicht einmal wir hier im Parlament können mitbestimmen, sondern Sie ziehen Ihren Staatsvertrag so durch, wie Sie es für sinnvoll erachten, und kündigen jetzt auch noch über die Medien an, daß bis Ende dieser Woche die Expertengespräche über den Staatsvertrag abgeschlossen sein sollen. Was kann denn dieser Ausschuß noch groß bewirken? Dieser Ausschuß ist notwendig. Aber er wird zu spät eingesetzt, auch weil die Oppositionsfraktionen geschlafen haben.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Sie wissen gar nicht, was er bewirken kann, weil Sie nie da sind!)

Es wird wahrscheinlich noch drei Sitzungen geben, in denen substantiell wird gearbeitet werden können, in denen aber nicht groß etwas verändert werden dürfte.
Ich stelle zum Abschluß meiner Ausführungen folgenden Geschäftsordnungsantrag und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie trotz einer gewissen Erregung auf Grund der von mir gemachten Ausführungen, die Ihnen sicherlich nicht in Ihre politischen Überzeugungen passen, demokratische Spielregeln beherzigten: Ich möchte gerne als fraktionsloser Abgeordneter des
Deutschen Bundestages zu diesem 39köpfigen Gremium als beratendes Mitglied gehören.

(Jahn [Marburg] [SPD]: Das hat uns gerade noch gefehlt!)

Ich denke, es vergibt sich auch niemand etwas, wenn ich in der Weise, wie ich es auch im Innenausschuß mache, zu den Fragen, die dort diskutiert werden, gelegentlich das Wort erheben kann, vor allen Dingen auch die Informationen erhalte. Abstimmen darf ich sowieso nicht. So ist ja der Status eines beratenden Ausschußmitgliedes definiert.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das haben wir erlebt! Wenn Sie Anträge stellen, sind Sie gar nicht da! Es hat gar keinen Zweck, Sie dahinzuholen!)

Das ist der Geschäftsordnungsantrag, Herr Präsident, den ich auch zur Abstimmung zu stellen bitte. Ich beantrage also, daß das fraktionslose Bundestagsmitglied Wüppesahl als beratendes Ausschußmitglied diesem Ausschuß zugeschlagen wird.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den GRÜNEN — Walther [SPD]: Was machen wir mit der Trude Unruh? Will die auch noch da rein? — Wüppesahl [fraktionslos]: Die will nicht!)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121018500
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes Seiters.

Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1121018600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich war mir gar nicht sicher, daß ich in dieser Debatte das Wort nehmen sollte, weil es sich um die Einrichtung eines parlamentarischen Ausschusses handelt. Aber Sie werden verstehen, daß ich nach einigen Formulierungen, die in dieser Debatte gefallen sind, doch zwei, drei kurze Anmerkungen mache.
Herr Wüppesahl, alles, was Sie gesagt haben, geht völlig an der Tatsache vorbei, daß das Volk der DDR in zwei freien Wahlen entschieden hat, was es will. Es hat eine demokratisch legitimierte Regierung auf breiter parlamentarischer Basis gewählt, die jetzt mit uns verhandelt. Wir bemühen uns, mit dieser parlamentarisch breit legitimierten demokratischen Regierung die Einheit Deutschlands jetzt nach besten Kräften zu bauen. Das ist unser Beitrag, der sich von Ihrer Rede unterscheidet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Wüppesahl [fraktionslos] : An unserem Parlament vorbei!)

Im übrigen: Das Volk der DDR hat auch bei den Wahlen am vergangenen Sonntag, in Kenntnis des Ablaufs der bisherigen Gespräche — —

(Abg. Wüppesahl [fraktionslos] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Das geht leider nicht in der Aktuellen Stunde.

(Zuruf: Das ist keine Aktuelle Stunde!)




Bundesminister Seiters
— Ja, Sie haben recht. Es ist keine Aktuelle Stunde. Ich bin leider schon ein Jahr nicht mehr in diesem Amt.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121018700
Herr Bundesminister Seiters, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1121018800
Ja.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121018900
Bitte sehr!

Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1121019000
Herr Seiters, die Stoßrichtung meiner Kritik ging im Kern auf die Nichteinbeziehung unseres Parlaments, des bundesdeutschen Parlaments, und weniger auf die Tatsache, daß Sie selbstverständlich jetzt mit einer demokratisch legitimierten Regierung verhandeln, dies allerdings auch erst seit etwa dem 25. März dieses Jahres; am 18. März war die Wahl, und vorher war die Regierung nicht handlungsfähig.

(Dr. Möller [CDU/CSU]: Jeder, der wollte, konnte sich informieren!)

Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auf diese Kritik eingingen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ignorant erster Ordnung!)


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1121019100
Ich bin erst bei den ersten Sätzen, die ich hier vortragen wollte.

(Wüppesahl [fraktionslos]: Aber das ist die Frage!)

— Ich gehe darauf ein. Seien Sie ganz beruhigt.
Ich wiederhole: In Kenntnis aller Vorgänge und Umstände hat das Volk der DDR am letzten Sonntag noch einmal abgestimmt und in großer Breite — jedenfalls im Grunde — das Ergebnis der Volkskammerwahl und die Unterstützung dieser Regierung bestätigt.

(Wüppesahl [fraktionslos]: Das ist unstrittig!)

Drei kurze Anmerkungen, meine Damen und Herren. Die Bundesregierung begrüßt die Einrichtung dieses Ausschusses. Sie wird bei der konstituierenden Sitzung morgen einen Sachstandsbericht geben und auch in der Folgezeit selbstverständlich jederzeit zur umfassenden Unterrichtung und zur gemeinsamen Beratung zur Verfügung stehen, wie sich das gehört. Ich füge auch hinzu, daß wir alle, Bundesregierung, Bundestag und Bundesländer, vor der gemeinsamen Aufgabe stehen, die angestrebte Währungsunion, Wirtschafts- und Sozialunion rasch zu verwirklichen, als einen ersten bedeutsamen Schritt auf dem Wege zur deutschen Einheit, im Interesse unserer Landsleute in der DDR. Wir dürfen die berechtigten Hoffnungen und Erwartungen der Menschen nicht enttäuschen.
Der Zeitdruck, unter dem wir alle in diesen Wochen und Monaten stehen, ist nicht von uns bewirkt. Das ist schon gesagt worden. Er hat seine Ursache in dem rasanten und tiefgreifenden Wandel im anderen Teil Deutschlands. Dieser Wandel stellt uns alle und natürlich auch die Bundesregierung als diejenige, die zunächst einmal handelt und auch handeln muß, vor große Aufgaben, und erfordert die Anspannung aller Kräfte. Niemand kann in der heutigen Situation die Verantwortung auf sich nehmen, die Verwirklichung der Währungsunion und damit die Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung in der DDR auf irgendeine Weise zu verzögern.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Die Bundesregierung ist sich jedenfalls bewußt, daß die vor uns liegenden Aufgaben nur in einem verständnisvollen Zusammenwirken von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat gelöst werden können. Unsere Landsleute in der DDR erwarten von uns, daß wir dieser gemeinsamen Verantwortung gerecht werden.
Nun zu der Kritik, was die Informationspolitik der Bundesregierung anbetrifft. Ich halte sie für nicht berechtigt. Wir haben in den vergangenen Wochen und Monaten in diesem Parlament eigentlich ständig Debatten über die Deutschlandpolitik erlebt. Darauf ist bereits hingewiesen worden. Auch in den Ausschüssen wurde berichtet. Das gleiche gilt für die Unterrichtung der Länder. Es hat es noch nie gegeben, daß in einer solch kurzen Abfolge von Terminen die Chefs der Staats- und Senatskanzleien im Kanzleramt waren, um über die einzelnen Punkte unterrichtet zu werden und darüber zu beraten.

(Beifall des Abg. Dr. Rüttgers [CDU/CSU])

Was den Staatsvertrag anbetrifft: Die Bundesregierung hat in kürzester Zeit und unter erheblichen Anstrengungen, weil wir ja den Erwartungen gerecht werden wollen, ein Arbeitspapier für die Gespräche mit der DDR erstellt. Der Bundeskanzler hat das Arbeitspapier dem Ministerpräsidenten der DDR bei einem umfassenden Meinungsaustausch am 24. April 1990 in Bonn überreicht. Nun hören Sie gut zu: Unmittelbar danach, noch am gleichen Tag, hat der Oppositionsführer im Deutschen Bundestag die Unterlagen erhalten, die de Maizière von uns bekommen hatte,

(Zuruf von den GRÜNEN)

ebenfalls die Fraktionen des Deutschen Bundestages — alle Fraktionen des Deutschen Bundestages! —, das Präsidium des Deutschen Bundestages, alle Bundesländer. Am folgenden Tag wurden auch die Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden der damit besonders befaßten Ausschüsse des Deutschen Bundestages unterrichtet.
Ich wiederhole, was ich hier bereits am 27. April gesagt habe: Wenn wir gleichberechtigte Partnerschaft mit der DDR wirklich ernst nehmen und ernst meinen, dann muß der Regierungschef der DDR auch der erste sein, der die Vorschläge der Bundesregierung in die Hand bekommt;

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) alles andere wäre nicht akzeptabel.

Heute morgen sind erneut die Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden der besonders befaßten Ausschüsse im Kanzleramt zusammengekommen, um informiert zu werden, genauso wie schon in der vergangenen Woche. Gestern war ich im innerdeut-



Bundesminister Seiters
schen Ausschuß. Andere Minister waren in anderen Ausschüssen.
Ebenfalls informiert wurden die Vertreter der Länder. Ich komme gerade aus einer Sitzung, an der das Land Nordrhein-Westfalen als vorsitzführendes Land, das Land Bayern und im übrigen auch Berlin beteiligt waren, wobei wir mit Berlin unmittelbar in Kontakten stehen, weil Berlin besonders betroffen ist.
Morgen vormittag wird die Bundesregierung den neu zu bildenden Ausschuß informieren. Sobald der Vertrag mit der DDR ausgehandelt ist, wird die Bundesregierung ihn dem Parlament in dem dafür üblichen Verfahren zuleiten.
Ich sage noch einmal — hier soll niemand bei irgendwelcher Kritik empfindlich sein — : Jetzt geht es nun wirklich darum, das zu tun, was wir uns vorgenommen haben, und zwar nicht, weil sich diese Bundesregierung das ausgedacht hat, sondern vor dem Hintergrund, daß nur durch die Einführung der D-Mark in der DDR den Menschen in der DDR die Perspektive für eine schnelle Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lebenssituation gegeben werden kann, und vor dem Hintergrund der Tatsache, daß wir von Anfang November 1989 bis zum März 1990 360 000 Übersiedler hier in der Bundesrepublik gehabt haben. Der Übersiedlerstrom geht nunmehr Gott sei Dank zurück. Es geht darum, daß wir jetzt unsere Pflicht tun. Nicht mehr und nicht weniger haben wir uns vorgenommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121019200
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Abgeordnete Wüppesahl hat den Antrag gestellt, als beratendes Mitglied für diesen Ausschuß vorgesehen zu werden. Diese Frage, Herr Abgeordneter Wüppesahl, ist in der Geschäftsordnung geregelt, und zwar umfassend. Nach § 69 sind Sie, da es ein nichtöffentlicher Ausschuß ist, berechtigt, an dessen Sitzungen teilzunehmen. Zur Eigenschaft als beratendes Mitglied findet sich eine Regelung in § 57 Abs. 2. Dort heißt es:
Die Fraktionen benennen die Ausschußmitglieder und deren Stellvertreter.
Der Präsident benennt fraktionslose Mitglieder des Bundestages als beratende Ausschußmitglieder.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Er kennt noch nicht einmal seine eigenen Rechte, und dann will er uns hier über Demokratie belehren!)

Es ist also nicht eine Entscheidung des Bundestages, sondern eine Entscheidung des Präsidenten bzw. des amtierenden Präsidenten. Ich bitte Sie, sich an diese zu wenden.
Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 11/7074. Wer stimmt für diesen Antrag? — Gegenprobe! — Keine Gegenstimme. — Eine Enthaltung. Damit ist dieser Antrag mit großer Mehrheit angenommen.
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um weitere Zusatzpunkte zu erweitern. Es handelt sich um
Überweisungen im vereinfachten Verfahren und um Beratungen ohne Aussprache. Die Punkte liegen Ihnen in einer Ergänzung zur Zusatzpunkteliste vor.
10. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Entwicklungszusammenarbeit mit Vietnam — Drucksache 11/6734 —
11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Augustin, Austermann, Carstensen (Nordstrand), Feilcke, Frau Geiger, Glos, Dr. Grünewald, Frau Dr. Hellwig, Herkenrath, Höffkes, Hornung, Kittelmann, Krey, Dr. Kronenberg, Lenzer, Magin, Nelle, Dr. Olderog, Dr. Pohlmeier, Frau Rönsch (Wiesbaden), Ruf, Sauer (Stuttgart), Sauter (Epfendorf), Frau Schätzle, Schartz (Trier), von Schmude, Schneider (Idar-Oberstein), Schreiber, Dr. Schroeder (Freiburg), Schwarz, Spilker, Dr. Stark (Nürtingen), Dr. Stercken, Graf von Waldburg-Zeil, Frau Dr. Wisniewski und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hoppe, Dr. Feldmann, Frau Folz-Steinacker, Dr. Hoyer, Irmer, Nolting, Ronneburger, Frau Walz, Bredehorn, Kohn, Dr.-Ing. Laermann, Frau Seiler-Albring, Dr. Sohns, Timm und der Fraktion der FDP: Entwicklungszusammenarbeit mit Vietnam — Drucksache 11/7060 —
12. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 27 02 Titel 685 21 — Förderung besonderer Hilfsmaßnahmen gesamtdeutschen Charakters — Drucksachen 11/6521, 11/6990 —
13. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Weitere außerplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1990 bei Kapitel 60 04 apl. Titel 688 51 — Reise-Devisenfonds — Drucksachen 11/6436, 11/6991 —
14. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Außerplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1990 bei Kapitel 60 04 apl. Titel 885 01 — Aufstockung des ERP-Sondervermögens zugunsten der DDR — im ERP-Wirtschaftsplan apl. Kapitel 6 Titel 868 01 — Finanzierungshilfen für Investitionen in der DDR und Berlin (Ost) — Drucksachen 11/6620, 11/6992 —
15. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 Titel 686 12 — Humanitäre Hilfe im Ausland — Drucksachen 11/6425, 11/6993 —
16. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 apl. Titel 686 11 — Nahrungsmittelversorgung in der UdSSR —— Drucksachen 11/6504, 11/6994 —
Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 und 14 und die Zusatztagesordnungspunkte 4 und 5 sowie 10 und 11 auf:
5. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufassung des Bundesumzugskostengesetzes und zur Änderung sonstiger umzugskostenrechtlicher und reisekostenrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 11/6829 —



Vizepräsident Stücklen
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend)

Verteidigungsausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wittmann, Marschewski, Eylmann, Dr. Stark (Nürtingen), Dr. Hüsch, Seesing, Hörster, Helmrich, Geis und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Kleinert (Hannover), Funke, Irmer und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte
— Drucksache 11/6715 —
Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aussetzung der Brennrechtsveranlagung 1992/93
— Drucksache 11/6905 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß (federführend)

Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Binnenschiffsverkehrsgesetzes
— Drucksache 11/6779 —
Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr
14. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Soldatengesetzes
— Drucksache 11/6906 —
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß (federführend)

Innenausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß gem. § 96 GO
ZP4 Erste Beratung des von den Abgeordneten Glos, Spilker, Dr. Meyer zu Bentrup, Dr. Daniels (Bonn), Dr. Faltlhauser, Dr. Fell, Dr. Grünewald, Frau Dr. Hellwig, Dr. Neuling, Rossmanith, Schulhoff, Uldall, Dr. Vondran, Frau Will-Feld, Jäger, Kittelmann und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gattermann, Rind, Dr. Solms, Frau Seiler-Albring, Dr. Weng (Gerungen), Dr. Hitschler, Grünbeck, Bredehorn, Dr.-Ing. Laermann und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau
von Hemmnissen bei Investitionen in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR-Investitionsgesetz — DIG)

— Drucksache 11/7073 —
Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
ZP5 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Agrarsozialen Ergänzungsgesetzes (4. ASEG)

— Drucksache 11/7064 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
ZP10 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Entwicklungszusammenarbeit mit Vietnam
— Drucksache 11/6734 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
ZP11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Augustin, Austermann, Carstensen (Nordstrand), Feilcke, Frau Geiger, Glos, Dr. Grünewald, Frau Dr. Hellwig, Herkenrath, Höffkes, Hornung, Kittelmann, Krey, Dr. Kronenberg, Lenzer, Magin, Nelle, Dr. Olderog, Dr. Pohlmeier, Frau Rönsch (Wiesbaden), Ruf, Sauer (Stuttgart), Sauter (Epfendorf), Frau Schätzle, Schartz (Trier), von Schmude, Schneider (IdarOberstein), Schreiber, Dr. Schroeder (Freiburg), Schwarz, Spilker, Dr. Stark (Nürtingen), Dr. Stercken, Graf von Waldburg-Zeil, Frau Dr. Wisniewski und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hoppe, Dr. Feldmann, Frau Folz-Steinacker, Dr. Hoyer, Irmer, Nolting, Ronneburger, Frau Walz, Bredehorn, Kohn, Dr. -Ing. Laermann, Frau Seiler-Albring, Dr. Solms, Timm und der Fraktion der FDP
Entwicklungszusammenarbeit mit Vietnam
— Drucksache 11/7060 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vor-



Vizepräsident Stücklen
geschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe Zustimmung. Es ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 und die Zusatztagesordnungspunkte 6 bis 8 sowie 12 bis 16 auf:
6. Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Juli 1989 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Volksrepublik Bulgarien über die Schiffahrt auf den Binnenwasserstraßen
— Drucksache 11/6034 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr (14. Ausschuß)

— Drucksache 11/6877 —
Berichterstatter: Abgeordneter Ewen

(Erste Beratung 191. Sitzung)

b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. Oktober 1989 zu dem Abkommen vom 11. August 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen in der Fassung des Protokolls vom 30. November 1978
— Drucksache 11/6531 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuß)

— Drucksache 11/7071 —
Berichterstatter: Abgeordnete Glos Poß

(Erste Beratung 199. Sitzung)

Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Oktober 1989 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und zur Verhinderung der Steuerverkürzung
— Drucksache 11/6532 — Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuß)

— Drucksache 11/7071 —
Berichterstatter: Abgeordnete Glos Poß

(Erste Beratung 199. Sitzung)

Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 28. September 1989 zur Änderung des Abkommens vom 21. Juli 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und über gegenseitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern in der Fassung des Revisionsprotokolls vom 9. Juni 1969
— Drucksache 11/6533 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuß)

— Drucksache 11/7071 —
Berichterstatter: Abgeordnete Glos Poß

(Erste Beratung 199. Sitzung)

c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 10. November 1989 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
— Drucksachen 11/6741, 11/6907 (neu)
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)

— Drucksache 11/7091 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Unland

(Erste Beratung 206. Sitzung)

d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Bohl, Dr. Rüttgers, Frau Geiger, Dr. Stercken, Frau Hoffmann (Soltau), Dr. Czaja, Dr. Pohlmeier, Böhm (Melsungen), Frau Dr. Hellwig, Kittelmann, Dr. Schwörer und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Irmer, Frau Dr. Hamm-Brücher, Dr. Feldmann, Dr. Hirsch, Dr.-Ing. Laermann



Vizepräsident Stücklen
Dr. Weng (Gerlingen), Hoppe, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDP
Gleichstellung der deutschen Sprache als Amtssprache in europäischen Gremien
— Drucksachen 11/5953, 11/6632 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Wulff Brück
Frau Kottwitz
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (10. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2764/75 über die Regeln für die Berechnung eines Teilbetrages der Abschöpfung für geschlachtete Schweine und Nr. 2766/75 über die Liste der Erzeugnisse, für welche Einschleusungspreise festgesetzt werden und über die Regeln, nach denen der Einschleusungspreis für geschlachtete Schweine festgesetzt wird
Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2765/75 über die im Fall einer erheblichen Preiserhöhung auf dem Schweinefleischsektor anzuwendenden Grundregeln
— Drucksachen 11/5497 Nr. 2.14, 11/6634 —
Berichterstatter: Abgeordneter Koltzsch
f) Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zu den Ergebnissen der Anwendung der Einheitlichen Akte
— Drucksachen 11/3408, 11/6525 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Wulff Frau Wieczorek-Zeul Irmer
Dr. Lippelt (Hannover)

g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr (14. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission über die Weiterentwicklung der Zivilluftfahrt in der Gemeinschaft
— Drucksachen 11/5497 Nr. 2.21, 11/6500 —
Berichterstatter: Abgeordneter Ibrügger
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 159 zu Petitionen — Drucksache 11/6825 —
ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 160 zu Petitionen
— Drucksache 11/6986 —
ZP7 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 161 zu Petitionen
— Drucksache 11/6987 —
ZP8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN
Wahlen in Myanmar (Birma)

— Drucksache 11/7066 —
ZP12 Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 27 02 Titel 685 21 — Förderung besonderer Hilfsmaßnahmen gesamtdeutschen Charakters —— Drucksachen 11/6521, 11/6990 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Nehm Dr. Pfennig
Hoppe
Frau Vennegerts
ZP13 Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Weitere außerplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1990 bei Kapitel 60 04 apl. Titel 688 51 — Reise-Devisenfonds —— Drucksachen 11/6436, 11/6991 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Roth (Gießen) Dr. Weng (Gerlingen)
Dr. Struck
Frau Vennegerts
ZP14 Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung



Vizepräsident Stücklen
Außerplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1990 bei Kapitel 60 04 apl. Titel 885 01 — Aufstockung des ERP-Sondervermögens zugunsten der DDR —
im ERP-Wirtschaftsplan apl. Kapitel 6 Titel 868 01 — Finanzierungshilfen für Investitionen in der DDR und Berlin (Ost) -
- Drucksachen 11/6620, 11/6992 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Roth (Gießen) Dr. Weng (Gerlingen)
Dr. Struck
Frau Vennegerts
ZP15 Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 Titel 686 12 — Humanitäre Hilfe im Ausland —— Drucksachen 11/6425, 11/6993 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Rose Hoppe
Dr. Struck
Frau Vennegerts
ZP16 Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 apl. Titel 686 11 — Nahrungsmittelversorgung in der UdSSR —— Drucksachen 11/6504, 11/6994 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Rose Hoppe
Dr. Struck
Frau Vennegerts
Es handelt sich um eine Reihe von Vorlagen ohne Aussprache.
Wir kommen zuerst zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Vertragsentwurf mit der Regierung der Volksrepublik Bulgarien über die Schiffahrt auf den Binnenwasserstraßen — Drucksachen 11/6034 und 11/6877. Ich rufe auf das Gesetz mit den Art. 1 bis 7, Einleitung und Überschrift. Wer diesem Gesetz die Zustimmung geben will, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf zum Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft — Drucksachen 11/6531 und 11/7071.
Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer diesem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Eine Enthaltung. Dieses Gesetz ist mit großer Mehrheit angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Gesetzentwurf zum Doppelbesteuerungsabkommen mit der Italienischen Republik — Drucksachen 11/6532 und 11/7071 — ab.
Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Eine Enthaltung. Das Gesetz ist mit großer Mehrheit angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf zum Doppelbesteuerungsabkommen mit der Französischen Republik — Drucksachen 11/6533 und 11/7071.
Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Eine Enthaltung. Das Gesetz ist mit großer Mehrheit angenommen.
Wir stimmen jetzt über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertrag mit der Republik Polen über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen — Drucksachen 11/6741, 11/6907 (neu), 11/7091 — ab.
Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer diesem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Eine Enthaltung. Das Gesetz ist mit großer Mehrheit beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/6632. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 11/5953 mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung anzunehmen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Gegenprobe! — Eine Gegenstimme. Enthaltungen? — Drei Enthaltungen aus der Fraktion der SPD. Diese Ausschußempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu Verordnungen der Europäischen Gemeinschaften auf Drucksache 11/6634 ab.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Lesen Sie doch bitte die ganze Bezeichnung vor!)

Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Einstimmig angenommen.



Vizepräsident Stücklen
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/6525 zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament zu der Entschließung zu den Ergebnissen der Anwendung der Einheitlichen Akte. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Eine Enthaltung. Die Beschlußempfehlung ist mit großer Mehrheit angenommen.
Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zur Mitteilung der Kommission über die Weiterentwicklung der Zivilluftfahrt in der Gemeinschaft — Drucksache 11/6500 — ab. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Gegenprobe! — Eine Gegenstimme. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit großer Mehrheit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 6 h: Sammelübersicht 159 zu Petitionen. Wir stimmen zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7106 ab. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Eine Stimme. Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Der Änderungsantrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wer nunmehr der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/6825 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Mit Mehrheit ist also nach der Ablehnung des Änderungsantrages diese Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses angenommen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses — Sammelübersicht 160 zu Petitionen — auf Drucksache 11/6986. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Eine Enthaltung. Mit Mehrheit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/6987 betreffend Sammelübersicht 161. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Eine Enthaltung. Bei einer Reihe von Gegenstimmen ist die Beschlußempfehlung mit Mehrheit angenommen.
Wir kommen jetzt zum Zusatztagesordnungspunkt 8 und zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 11/7066. Wer stimmt für diesen Antrag? — Gegenprobe! — Keine Gegenstimme. Enthaltungen? — Keine Enthaltung. Der Antrag ist also einstimmig angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zu über- und außerplanmäßigen Ausgaben auf den Drucksachen 11/6990 bis 11/6994. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe! — Keine Gegenstimme. Enthaltungen? — Keine Enthaltung. Das ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel '77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur Erleichterung des Wohnungsbaus im Planungs-
und Baurecht sowie zur Änderung mietrechtlicher Vorschriften (Wohnungsbau-Erleichterungsgesetz — WoBauErlG)

— Drucksachen 11/5972, 11/6508, 11/6540,
11/6636, 11/6902, 11/7018 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Hüsch
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz über die Statistik der Straßenverkehrsunfälle (Straßenverkehrsunfallstatistikgesetz — StVUnfStatG)
— Drucksachen 11/5464, 11/6320, 11/6901, 11/7019 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Hüsch
Das Wort zur Abgabe einer Erklärung hat der Herr Abgeordnete Dr. Hüsch.

Dr. Heinz Günther Hüsch (CDU):
Rede ID: ID1121019300
Herr Präsident, ich erstatte den Bericht des Vermittlungsausschusses. Es gibt hierzu keine Beratung, und nachher will Herr Conradi eine Erklärung zur Abstimmung abgeben.

(Dr. Penner [SPD]: Und jetzt Hüsch aus Gewissensgründen!)

— Nein, jetzt Hüsch aus Sachgründen.
Herr Präsident, der Vermittlungsausschuß hat das Anrufungsbegehren des Bundesrates zum Wohnungsbau-Erleichterungsgesetz am 26. April 1990 beraten. Der Beschluß des Vermittlungsausschusses ergibt sich aus der Ihnen vorliegenden Drucksache 11/7018. Der Vermittlungsausschuß hat sich bei seinem Vorschlag von folgenden Erwägungen leiten lassen. Ausschlaggebend war die Überlegung, daß im Grunde jede über die bisherige Gesetzeslage, nämlich höchstens zwei Wohnungen, hinausgehende Erweiterung der Zulässigkeit des Baus von Wohnungen in bäuerlichen Anwesen die Gefahr des Entstehens von Splittersiedlungen in sich berge. Einer solchen Gefahr der Zersiedlung müsse unbedingt entgegengewirkt werden. Daher war der Vorschlag einer Höchstzahl von drei Wohnungen das Äußerste dessen, was mit dem Ziel des Ausschlusses der Zersiedlungsgefahr vereinbar erscheint.
Aus dem gleichen Grunde müsse der Auslegung vorgebeugt werden, daß in mit einem land- und forstwirtschaftlichen Wohngebäude in einem räumlich funktionellen Zusammenhang stehenden Gebäude bis zu drei Wohnungen eingerichtet werden könnten. Daher ist die Beschränkung auf insgesamt höchstens drei Wohnungen je Hofstelle vorgesehen, und zwar im Rahmen des am 1. Mai 1990 vorhandenen baulichen Bestandes.
Zur Erleichterung soll es allerdings für die Zulässigkeit der höchstens drei Wohnungen je Hofstelle nicht



Dr. Hüsch
darauf ankommen, daß die erforderlichen Anlagen der Versorgung und der Entsorgung im Zeitpunkt der Genehmigung bereits vorhanden sind. Vielmehr soll es ausreichend sein, wenn ihr späteres Vorhandensein im Zeitpunkt der Genehmigung gesichert ist. Das bedeutet, daß bei Erteilung einer Baugenehmigung die Anlagen der Versorgung und der Entsorgung noch nicht bestehen müssen, aber bei Bezug der Wohnungen vorhanden sein müssen.
Die in dem Vermittlungsvorschlag weiter enthaltenen zahlreichen Daten dienen der Anpassung des Gesetzestextes an den infolge des Vermittlungsverfahrens notwendig gewordenen späteren Inkrafttretenszeitpunkt, nämlich den 1. Juni 1990.
Herr Präsident, gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung hat der Vermittlungsausschuß beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Ich bitte, dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses die Zustimmung zu erteilen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121019400
Zu Punkt 7 a erteile ich Herrn Abgeordneten Conradi nach § 31 der Geschäftsordnung das Wort. Bitte sehr!

Peter Conradi (SPD):
Rede ID: ID1121019500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gemeinsame Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates für den Vermittlungsausschuß erlaubt keine Aussprache über das Vermittlungsergebnis, nur Erklärungen.

(Dr. Möller [CDU/CSU]: Das ist sehr gut!)

Es ist erstaunlich, daß ein Parlament etwas beschließen soll, über das es nicht reden darf.

(Dr. Hüsch [CDU/CSU]: Das haben Sie aber auch beschlossen!)

Ich will deshalb meine Zustimmung zum Vermittlungsergebnis in Form einer Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung begründen.

(Dr. Möller [CDU/CSU]: Das ist eine Umgehung!)

Erstens. Ich stimme dem Vermittlungsergebnis zu, Herr Präsident, meine Damen und Herren, weil ich begrüße, daß sich die Bundesratsmehrheit nach achtjähriger babylonischer Gefangenschaft, in treuer, oft blinder Gefolgschaft zur Bundesregierung nunmehr wieder auf die Wahrnehmung von Länderinteressen zu besinnen scheint.
Zweitens. Ich stimme dem Vermittlungsergebnis zu, Herr Präsident, obwohl der Anlaß für das Vermittlungsbegehren offenbar stärker dem Profilierungsbedürfnis der Regierung des Freistaates Bayern vor der Landtagswahl als dem Schutz des Außenbereichs zu verdanken ist.

(Bohl [CDU/CSU]: Das geht zu weit!)

Drittens. Ich stimme dem Vermittlungsergebnis zu, obwohl die Frage, ob in einem Bauernhof vier oder nur drei Wohnungen zulässig sind, weniger als nebensächlich ist und obwohl es hier nicht um ein Instrument zur Milderung der Wohnungsnot, sondern um ein Instrument zur Vermarktung der Landschaft für
Zweit- und Ferienwohnungen geht, und zwar mit allen schädlichen Folgen des zusätzlichen Autoverkehrs und der Abwasserbelastung.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das ist Quatsch!)

Viertens. Ich stimme dem Vermittlungsergebnis zu, obwohl andere Vorschriften des Gesetzes, die z. B. die Aufsiedlung von Weilern und Streusiedlungen betreffen, weitaus umweltschädlicher sind als die vierte Wohnung auf dem Bauernhof für den Münchner Zahnarzt.
Fünftens. Ich stimme dem Vermittlungsergebnis zu, Herr Präsident, weil das große Übel des sogenannten Wohnungsbau-Erleichterungsgesetzes durch dieses Vermittlungsergebnis geringfügig gemildert wird, und zwar nach dem guten alten Prinzip: Man soll dem kleineren Übel zustimmen. Das Wohnungsbau-Erleichterungsgesetz bleibt insgesamt aber trotzdem ein großes Übel.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD — Dr. Möller [CDU/ CSU]: Der Vermittlungsausschuß hat zwischen vier und drei Wohnungen eine richtige Entscheidung getroffen!)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121019600
Herr Abgeordneter Dr. Hüsch, haben Sie als Berichterstatter auch zu Punkt 7 b um das Wort gebeten?

(Dr. Hüsch [CDU/CSU]: Ja, Herr Präsident, aber erst muß über Punkt 7 a abgestimmt werden!)

Meine Damen und Herren, wir kommen zuerst zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Wohnungsbau-Erleichterungsgesetz. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß über die Änderungsvorschläge gemeinsam abgestimmt wird.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 11/7018? — Die Gegenprobe! — Eine Gegenstimme. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit großer Mehrheit ist die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Straßenverkehrsunfallstatistikgesetz auf Drucksache 11/7019.

(Zurufe von der SPD: Bericht!) — Darüber wollen Sie reden?


Dr. Heinz Günther Hüsch (CDU):
Rede ID: ID1121019700
Herr Präsident, das Gesetz sieht vor, daß ich Bericht erstatte.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121019800
Bitte sehr. Die Aufzeichnungen, die ich habe, sind heute ein bißchen durcheinander.




Dr. Heinz Günther Hüsch (CDU):
Rede ID: ID1121019900
Herr Präsident, wir haben eine gute parlamentarische Ordnung, und das Parlament tut gut daran, die Ordnung zu wahren.

(Beifall des Abg. Walther [SPD] — Jahn [Marburg] [SPD]: Sehr wahr!)

Deshalb erstattet der Vermittlungsausschuß seinen angemessenen Bericht.
Ich bedaure allerdings, daß ich der kleinen Schlauheit des Kollegen Conradi unter Ausnutzung von § 31 keine weitere Schlauheit hinzufügen darf.
Nun zum Thema. Der Vermittlungsausschuß hat das Anrufungsbegehren des Bundesrates zum Straßenverkehrsunfallstatistikgesetz am 26. April 1990 beraten. Der Beschluß des Vermittlungsausschusses ergibt sich aus der Ihnen vorliegenden Drucksache 11/7019.
Der Vermittlungsausschuß hat sich bei seinem Vorschlag, den § 5, wonach Sonder- und Zusatzaufbereitungen für Bundeszwecke vom Statistischen Bundesamt durchgeführt werden, zu streichen, von folgenden Erwägungen leiten lassen: Was im § 5 des Gesetzes an sich vorgesehen ist, ist bereits auf der Grundlage des geltenden Rechts möglich. Nach § 3 Abs. 1 Buchstabe b des Gesetzes über die Statistik für Bundeszwecke hat nämlich das Statistische Bundesamt ganz ausdrücklich die Aufgabe, „Zusatzaufbereitungen für Bundeszwecke und Sonderaufbereitungen durchzuführen, soweit die statistischen Ämter der Länder diese Aufbereitung nicht selbst durchführen", also nachrangig nach dem vorrangigen föderativen Recht der Länder.
Diese Regelung steht im Einklang mit der föderativen Struktur der Bundesrepublik und gilt für alle Bundesstatistiken.
Sie für einen Einzelfall zu durchbrechen, also eine vorrangige Zuständigkeit des Statistischen Bundesamtes herbeizuführen, hat der Vermittlungsausschuß keinen hinreichenden Anlaß gesehen. Die föderative Struktur unserer Verfassung ist eine höhere, bewährte verfassungsrechtliche Institution. Sie darf selbst in kleineren Fragen, wie beispielsweise, wer eine Statistik erstellt, nicht ohne zwingenden Grund verändert oder eingeengt werden.
Deshalb hat der Vermittlungsausschuß keinen hinreichenden Anlaß für § 5 des Gesetzes gesehen, zumal der Austausch von Informationen zwischen den Statistischen Landesämtern und dem Statistischen Bundesamt vermittels der modernen Datentechnik schnell und mühelos vonstatten gehen kann.
Wenngleich es sich um eine Kleinigkeit in der Gesetzgebung handelt, handelt es sich um ein wichtiges Detail der föderativen Ordnung. Dieser wollten wir den Vorrang vor einer Einzelregelung geben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121020000
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 11/7019 zum Straßenverkehrsunfallstatistikgesetz. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Gegenprobe! — Es gibt keine Gegenstimme. Enthaltungen? — Es gibt auch keine Enthaltungen. Diese
Beschlußempfehlung ist daher einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsgerichtsgesetzes und anderer arbeitsrechtlicher Vorschriften (Arbeitsgerichtsgesetz-Änderungsgesetz)

— Drucksache 11/5465 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß)

— Drucksache 11/7096
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Warrikoff

(Erste Beratung 185. Sitzung)

Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist eine Aussprache von 45 Minuten vorgesehen. — Das Haus ist damit einverstanden. Es wird also so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Dr. Warrikoff.

Dr. Alexander Warrikoff (CDU):
Rede ID: ID1121020100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Gesetzentwurf werden zwei verschiedene Punkte geregelt.

(Frau Steinhauer [SPD]: Drei!) — Er hat im Schwergewicht zwei Punkte.

Der eine Punkt bezieht sich auf die organisatorische Zuordnung der Arbeitsgerichte zu den Ministerien auf Landesebene. Bisher war es so, daß die Arbeitsgerichte und die Landesarbeitsgerichte auf der Ministeriumsebene von den Sozial- oder Arbeitsministern der Länder betreut wurden. Unser Entwurf will dies nicht etwa prinzipiell ändern — dieses Mißverständnis ist in den Diskussionen immer wieder aufgekommen, auch bei den Stellungnahmen der Sachverständigen — , sondern unser Entwurf will den Ländern die Möglichkeit geben, diese Frage selber zu entscheiden. Die Länder sollen also die Möglichkeit haben, zu entscheiden, ob sie die Arbeitsgerichte auch in Zukunft dem Sozialministerium zuordnen oder ob sie dies dem Justiz- oder Rechtspflegeministerium überlassen. Es wird keineswegs vorgesehen, daß das zwingend so oder so der Fall sein soll. Für uns ist das ein ganz wichtiger Gesichtspunkt, weil ja die Länder vor allem auf dem Gebiet der Verwaltung Aufgaben haben. Von daher sollte man so wenig wie möglich in die Art und Weise eingreifen, wie die Länder diese Verwaltung selbst organisieren. Wir sind also dafür und befürworten, daß den Ländern in Zukunft bei dieser Frage eine Alternative zusteht.
Wenn man das so hört — es soll den Ländern diese Möglichkeit gegeben werden — , dann fragt man sich zunächst, ob es überhaupt möglich ist, sich darüber aufzuregen. Ja, meine Damen und Herren, es ist möglich, sich darüber aufzuregen. Das ist auch in den ver-



Dr. Warrikoff
gangenen Debatten hier im Hause wie ebenso auch in den Ausschußsitzungen geschehen.

(Zuruf von der SPD: Das ist auch berechtigt!)

Es gab alle möglichen Gesichtspunkte, die Anlaß zu
solch einer Aufregung boten. Der ernsteste für mich
— das ist auch der, den ich behandeln möchte — ist der, daß uns vorgeworfen wurde, wir wollten damit einen unzulässigen Einfluß auf die Besetzung der Arbeitsgerichte ausüben, wir wollten also eine sachfremde Personalpolitik zu politischen Zwecken.

(Zuruf der Abg. Frau Steinhauer [SPD])

Ich habe schon im Ausschuß, Frau Steinhauer, diesen an sich unglaublichen Vorwurf scharf zurückgewiesen. Ich darf das auch hier tun. Wenn Sie überhaupt diesen Vorwurf erheben wollten, dann müßten Sie unserem Vorschlag zustimmen; mehr noch, Sie müßten dafür sorgen, daß die Arbeitsgerichte von den Arbeitsministern wegkommen. Wenn Sie nämlich eine Situation haben wollen, in der möglichst viel Objektivität gegeben ist,

(Lachen der Abg. Frau Steinhauer — Frau Steinhauer [SPD]: Nun kommen wir dahinter!)

wäre es sehr viel angemessener, die Auswahl der Richter oder die Bearbeitung dieser Fragen den Ministerien zu überlassen, die sachlich daran kein Interesse haben.

(Beifall bei der FDP)

Sie wollen genau das Gegenteil machen. Sie wollen ausgerechnet bei den Arbeitsgerichten die Zuordnung zu den Ministerien, die hier in der Sache Interessen haben.

(Zuruf von der SPD: Sie haben nicht richtig zugehört, Herr Kollege Warrikoff! — Frau Steinhauer [SPD]: Sie waren ja gar nicht da! Sie hätten während der Anhörung dabeisein sollen! Lesen Sie wenigstens einmal das Protokoll darüber nach!)

Die Justizministerien haben hier keine Interessen
— wir werden ja gleich hören, welche Argumente Sie haben —, und deswegen ist das so durchaus sehr richtig. — In der Anhörung war das Bild bunt. Einige der Angehörten haben hierzu auch unsere Position vertreten.

(Frau Steinhauer [SPD]: Wer denn?)

Und Sie haben auch alle so getan, als wollten wir eine zwangsweise Verordnung machen. Das ist überhaupt nicht der Fall.
Der zweite große Bereich, den wir regeln wollen — —

(Frau Steinhauer [SPD]: „Großer Bereich", da kann ich ja nur lachen!)

— Ja, Sie haben recht, Frau Steinhauer, für Sie sind ja Fragen des Kündigungsschutzes für Arbeitnehmer kein großer Bereich. Für uns ist das eine wichtige Sache.

(Zuruf von der SPD: Das ist ja schlimm!)

Wir gleichen die Kündigungsfristen für Arbeiter denen der Angestellten an.

(Frau Steinhauer [SPD]: Nein!)

Das ist ein wichtiger Punkt. Das heißt, für die Berechnung der Kündigungsfristen wird das Lebensalter von 25 Jahren gleichmäßig bei Arbeitern und Angestellten zugrunde gelegt. Dies ist zwar nur eine Verbesserung für Arbeiter, aber immerhin eine wichtige Verbesserung. Deswegen bedauere ich es — ich verstehe es nicht — , daß Sie dieser Verbesserung nicht zustimmen. Ihre Vorstellungen gehen weit darüber hinaus.
Wir haben dazu im Ausschuß ausführlich Stellung genommen. Sie wissen, daß die weitergehende Reform in dieser Frage nach unserer Auffassung u. a. zurückgestellt werden muß, bis wir die anstehenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten insgesamt zur Kenntnis nehmen können und das bei der Gesetzgebung auch berücksichtigen können.
Ich möchte auch ansprechen, daß Ihr Vorschlag, jedem Arbeiter — natürlich ganz unabhängig von der Qualifikation — einen Kündigungsschutz von 6 Wochen zum Quartalsende zu gewähren, gerade für die Arbeitnehmer, die möglicherweise weniger qualifiziert sind, durchaus ein Einstellungshemmnis sein kann. Wenn der Arbeitgeber weiß, daß er nur bis sechs Wochen vor dem Quartalsende kündigen darf, dann überlegt er sich vielleicht zweimal, ob er einstellt. Wir halten dies für ein Einstellungshemmnis

(Frau Steinhauer [SPD]: Das ist noch schlimmer als das Beschäftigungsförderungsgesetz!)

und sind deswegen der Ansicht, daß dies ein Weg — —

(von der Wiesche [SPD]: Kündigungsschutz nach Qualifikation!)

— Das ist eine böswillige Verdrehung, Herr von der Wiesche, die ich in aller Schärfe zurückweise! Wir wollen selbstverständlich ein Kündigungsrecht haben, das für Arbeiter ganz unabhängig von deren Qualifikation für alle gleich gilt. Ich habe nur gesagt: Wenn Sie den Kündigungsschutz sehr weit spannen, trifft dieses die weniger qualifizierten Arbeiter mehr. Das ist die Aussage. Diesen Zwischenruf, den Sie auch im Ausschuß gemacht haben, kann ich nur auf das schärfste verurteilen. Das ist eine böswillige Verdrehung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — von der Wiesche [SPD]: Was wollen Sie denn nun wirklich?)

— Das haben wir in unserem Gesetzentwurf zum Ausdruck gebracht. Wenn Sie das noch nicht begriffen haben, empfehle ich Ihnen, unseren Gesetzentwurf zu lesen. Dann werden Sie sehen, daß das eine vernünftige und angemessene Sache ist.
Meine Damen und Herren, soweit zu diesem Gesetz. Ich würde mich freuen, wenn es in diesem Hause eine breite Mehrheit findet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)





Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121020200
Das Wort hat Frau Abgeordnete Steinhauer.

Waltraud Steinhauer (SPD):
Rede ID: ID1121020300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Der heute zur Verabschiedung anstehende Gesetzentwurf der Bundesregierung beinhaltet drei Problemkreise. Lassen Sie mich mit dem ersten beginnen.
Das Arbeitsgerichtsgesetz soll geändert werden. Den Bundesländern soll die Bildung von Rechtspflegeministerien unter Einschluß der Arbeitsgerichtsbarkeit ermöglicht werden. Die Zuständigkeit des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung für das Bundesarbeitsgericht bleibt, weil grundgesetzlich verankert, erhalten.
Seit der Einbringung dieses Gesetzes habe ich mich bemüht, für diese Gesetzesänderung objektive Gründe zu erfahren. Trotz intensiver Nachfrage ist mir dies nicht gelungen. Auch in der Anhörung wurde kein stichhaltiges Argument für die Änderung der Zuständigkeit der Arbeits- und Sozialministerien für die Arbeitsgerichte gebracht. Einhellig ist zum Ausdruck gebracht worden, daß sich die bisherige Ressortierung bewährt hat.
Man ist auf Spekulationen angewiesen. Soll auf den Inhalt der Rechtsprechung eingewirkt werden? Die Äußerung, die Einbeziehung der Arbeitsgerichtsbarkeit in die Justiz — das haben wir eben auch wieder gehört — könne die Qualität der Bewerbungen verbessern, unterstellt, daß die bisherige Qualität zu wünschen übrig läßt. Wenn dann noch geäußert wird, daß innerhalb des Justizministeriums jeder nach seinen Leistungen beurteilt würde und so die Objektivität größer sei, dann kann man fast geneigt sein, zu meinen, daß bei einigen eine Diskriminierung der Arbeitsgerichtsbarkeit und insonderheit der Arbeitsminister der Länder beabsichtigt ist.
Dabei ist es ganz anders: Bewährt hat sich vielmehr die Kenntnis der Arbeitsrichter von der Arbeitswelt. Das hat Vertrauen wie zu keiner anderen Gerichtsbarkeit geschaffen.

(Kleinert [Hannover] [FDP]: Na, na! Das ist überraschend!)

Die Kenntnis der Arbeitswelt ist gerade für den Arbeitsrichter von großer Bedeutung, weil es keine andere Gerichtsbarkeit gibt, die mangels gesetzlicher Regelungen durch die Rechtsprechung so große Lükken ausfüllen muß. Viele von der Rechtsprechung entwickelte Grundsätze finden in den Gesetzen später ihren Niederschlag. Auch dies spricht ja wohl nicht für eine mangelnde juristische Qualifikation.
Einen besonderen Stellenwert in der Arbeitsgerichtsbarkeit haben auch die ehrenamtlichen Richter. Die Arbeitsgerichte leisten somit einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Ausgestaltung unseres sozialen Rechtsstaates. Sie tragen zum sozialen Frieden bei. Das Vertrauen wird erschüttert, wenn von Land zu Land unterschiedliche Regelungen bestehen.
In der Begründung des Gesetzentwurfes wird lapidar auf den Wunsch einiger Bundesländer verwiesen, die sich gehindert sähen, ein Rechtspflegeministerium für die Aufsicht über sämtliche Gerichte zu schaffen. Dabei wird jedoch nicht beachtet, daß eine
unterschiedliche Ressortierung in den Ländern zu einer Zersplitterung führt. Die neue Regelung würde bedeuten, daß in den Bundesländern unterschiedliche Ministerien für die Arbeitsgerichtsbarkeit zuständig sein können. Das heißt, die Bund-Länder- bzw. die Länder-Länder-Abstimmung wäre erheblich erschwert. Eine praxisfernere, möglicherweise formal juristischere und weniger soziale Rechtsprechung ist nicht auszuschließen. Alle, die mit der Arbeitsgerichtsbarkeit zu tun haben, lehnen eine Änderung der Ressortierungsvorschriften ab.
Der oftmalige Personalaustausch in das Arbeitsministerium war positiv für die Arbeitsrichter, indem sie Verwaltungserfahrungen erhielten. Andererseits bekamen die Arbeitsminister bzw. -senatoren Kenntnis über die jeweils aktuellen materiellen und prozessualen Probleme der Arbeitsgerichtsbarkeit. Diese Verbindung würde durch eine andere Ressortierung so gut wie abgeschnitten.
Den engen Zusammenhang zwischen der arbeitsrechtlichen und der sozialpolitischen Zuständigkeit der Arbeitsminister für die Arbeitsgerichtsbarkeit bejaht nach wie vor auch die Bundesregierung in ihrer Begründung. Sie weist jedenfalls darauf hin, daß z. B. die Dauer der Arbeitsgerichtsverfahren nicht nur ein justizpolitisches, sondern vor allem auch ein sozialpolitisches Problem sei. Warum will sie also mit dem hier vorliegenden Gesetz die Umressortierung ermöglichen?
Es ist auch nicht unerwähnt zu lassen, daß die Gefahr nicht auszuschließen ist, daß ein Verwaltungsmehraufwand und Reibungsverluste entstehen. Ein ständiger ressortübergreifender Abstimmungsbedarf wird heraufbeschworen. Die Bundesregierung verweist in der Gesetzesbegründung auch darauf, daß das Besondere an der Arbeitsgerichtsbarkeit die Tatsache ist, daß die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände an allen Instanzen maßgeblichen Anteil haben. Sie verweist auch darauf, daß die ehrenamtlichen Richter aus diesem Kreise kommen und die Arbeitsminister mit diesen Verbänden die Arbeitsrechtspolitik gestalten. Die Kontinuität soll auch bei einer Umressortierung aufrechterhalten bleiben. Warum also die Ressortierung ändern? Was steckt eigentlich dahinter?
Maßgebliche Arbeitsrechtler haben die bisherige Regelung als ausgezeichnet bewertet. Eine gesetzliche Änderung soll ohne sachliche Begründung erfolgen. Warum nur? Wenn dahinter die personelle Durchlässigkeit stecken sollte, so kann man nur sagen, daß diese bereits heute grundsätzlich gegeben ist.

(Kleinert [Hannover] [FDP]: Grundsätzlich!)

Ich kann dann allerdings die Befürchtungen der Arbeitsrichter nicht von der Hand weisen, eine Umressortierung solle die Durchlässigkeit verstärken. Künftig gäbe es dann zwar Landesarbeitsgerichtspräsidenten, die aus der Justiz kommen, während ein Arbeitsrichter wie heute auch künftig kaum eine Chance hätte, eine Präsidentenstelle an einem Landgericht zu erhalten. Dann muß man wieder vermuten, daß einigen Juristen Beförderungschancen gegeben werden



Frau Steinhauer
sollen ohne Rücksicht darauf, ob sie Kenntnisse von der Betriebs- und Arbeitswelt haben oder nicht.
Ich kann meine Ausführungen in der ersten Beratung des Gesetzentwurfs nur wiederholen: Es handelt sich um ein völlig überflüssiges, unsoziales Gesetzesvorhaben. Das Gesetz beinhaltet einen historischen Rückschritt. Gerade die Gewerkschaften und die von ihnen vertretenen Arbeitnehmer müssen in der beabsichtigten Änderung der Zuständigkeitsaufteilung eine Verkennung der Besonderheiten des Arbeitsrechts sehen. Der Versuch des Abbaus bisher anerkannter sozialstaatlicher Grundprinzipien muß befürchtet werden. Im Klartext heißt das: Es drängt sich der Verdacht auf, daß das Arbeitsrecht als solches inhaltlich verändert werden soll. Dieses Gesetz reiht sich damit in die Serie von Einschränkungen von Arbeitnehmerrechten der Wende- Regierung ein.

(Zustimmung bei der SPD)

Sachliche Begründungen für Gesetze sind nicht mehr gefragt. Bewährte Regelungen, die den Sozialstaat ausgestaltet und den sozialen Frieden gestützt haben, werden gefährdet. Darf dies Grundlage von Gesetzgebungsarbeit sein? Die Befürworter dieses Gesetzentwurfs sollten sich einmal mit Fachleuten unterhalten. Als Lektüre empfehle ich das Protokoll der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung.
Lassen Sie mich zu diesem Problem abschließend noch sagen, daß der Gesetzentwurf die zu erwartende deutsche Einigung und die dann zu schaffende einheitliche Gerichtsbarkeit völlig unberücksichtigt läßt.
Im nächsten Teil des vorliegenden Gesetzentwurfes soll die unterschiedliche Berechnung der Kündigungsfristen von Angestellten und Arbeitern vereinheitlicht werden. Die Bundesregierung kommt damit einem seit 1982 — also seit sage und schreibe fast 8 Jahren — vorliegenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts nach. Bei Arbeitern zählte bisher lediglich die Betriebszugehörigkeit nach dem 35. Lebensjahr, während Angestellte Beschäftigungszeiten ab dem 25. Lebensjahr angerechnet erhalten. Fast ein Jahrzehnt hat die Bundesregierung gebraucht, um diese Minimallösung vorzulegen. Die SPD-Fraktion hat schon verschiedentlich — auch in der vergangenen Legislaturperiode — nicht nur eine umfassende Regelung der Berechnung der Fristen für die Kündigung von Arbeitern und Angestellten gefordert, sondern auch darauf hingewiesen, daß die Angleichung der Kündigungsfristen überfällig ist. Die eingebrachten Anträge hat die Mehrheit dieses Hauses mehrfach abgelehnt.
Wir halten diesen heute vorliegenden halbherzigen Änderungsvorschlag für absolut unzureichend und bestehen auf der Verabschiedung unseres vorliegenden Gesetzentwurfs, der die unterschiedliche Regelung von Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten beseitigen soll. Ich bringe auch heute noch einmal zum Ausdruck: Solche unterschiedlichen Kündigungsfristen mögen in eine ständische Gesellschaft gehören, in einer modernen Industriegesellschaft haben solche Ungleichbehandlungen von Arbeitern und Angestellten nichts mehr zu suchen.

(Beifall bei der SPD)

Die während der Beratung von Koalitionsabgeordneten geäußerte Meinung, eine längere Grundkündigungsfrist, also eine Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten, verhindere die Einstellung von minderqualifizierten Arbeitern und Arbeiterinnen, kann man nur mit Befremden zurückweisen. Diese geäußerte Begründung muß doch den Verdacht stärken, daß es nur um den Arbeitnehmer, hier den Arbeiter, als Ware geht; der Schutz des Arbeiters als Mensch hat dahinter zurückzustehen. Was ist das für eine Auffassung von Sozialpolitik in einem sozialen Rechtsstaat?
Nun wird auch noch der Kündigungsschutz bei den Fristen in Frage gestellt. Seit acht Jahren haben Sie eine Prüfung der Angelegenheit zugesagt; das Ergebnis ist sehr mager. Flott ist die Bundesregierung immer nur dann, wenn es um den Abbau von Arbeitnehmerrechten geht. Ich erinnere an das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz und an den § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes. Wahrlich eine einseitige Haltung zugunsten der Arbeitgeber und zum Nachteil der Arbeitnehmer! Politik immer nur zum Nachteil des sozial Schwächeren! Auf diesem Gebiet sind Sie sehr schnell; bei der Verbesserung von Arbeitnehmerrechten ist noch nicht mal Schneckentempo gefragt.
Sie werden aber bei der Beratung unseres Gesetzentwurfs alsbald gefordert werden, nachzuweisen, wie ernst Sie es mit der Verbesserung von Arbeitnehmerrechten und mit der Gleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten nehmen. Länger können sie nicht auf Tauchstation gehen. Wenn Sie länger Arbeiter und Angestellte bei den Kündigungsfristen unterschiedlich behandeln wollen, bringen Sie, meine Herren und Damen von der Koalition, zum Ausdruck, daß Sie die letzten Reste der Klassengesellschaft unter den Arbeitnehmern aufrechterhalten wollen.

(Widerspruch bei der FDP)

Sozusagen in der letzten Minute haben Sie in den vorliegenden Gesetzentwurf noch die Art. 4 a bis c eingebracht. Welche Flickschusterei die Koalition bei der Gesetzesarbeit betreibt, kommt hierbei ganz deutlich zum Ausdruck. Die Bestimmungen sollten zunächst dem 19. Gesetz zur Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz angehängt werden. Da wären diese Regelungen sicher von keinem Menschen gesucht worden. Es handelt sich nämlich um eine längst überfällige Korrektur, den Begriff „Wahlmänner" aus dem Mitbestimmungsgesetz zu entfernen und eine der Gleichberechtigung gemäße Formulierung zu wählen, die klarstellt, daß auch Frauen in Mitbestimmungsgremien hineingewählt werden können. Die Bundesregierung mußte erst durch eine Petition dazu aufgefordert werden.
Zu der Problematik der geschlechtsneutralen Bezeichnungen liegt der Bundesregierung längst ein Antrag der SPD-Fraktion vor. Die anderen Fraktionen haben unterschiedliche Vorlagen eingebracht. Es wäre angezeigt gewesen, die Gleichberechtigungsformulierungen im Mitbestimmungsgesetz im Zusammenhang mit den hier angeführten Vorlagen zu regeln. Nunmehr wird durch die Formulierung „Delegierte" ein neutraler Begriff im Bereich der Mitbestimmungsgesetze gewählt.
Unsere Zustimmung zu dieser Einzelbestimmung ändert nichts daran, daß wir das Gesetz insgesamt



Frau Steinhauer
ablehnen müssen, weil wir die Änderung der Resultierungsmöglichkeit der Arbeitsgerichte von den Länderarbeitsministern in ein Rechtspflegeministerium für einen sozialpolitischen Rückschritt halten.
Die Angleichung der Kündigungsfristberechnung für Arbeiter und Angestellte, ohne die eigentlichen Fristen anzupassen, beweist, daß die Bundesregierung nicht bereit ist, das Arbeitsrecht nennenswert fortzuentwickeln, sondern überholte, rein zufällige Unterscheidungen zum Nachteil der Arbeiter und Arbeiterinnen weiter bestehen lassen will. Dies kann als Relikt des vorigen Jahrhunderts bezeichnet werden.
Nicht überflüssiges, sozial rückschrittliches Beharren auf überholten Bestimmungen, sondern Fortentwicklung und damit Ausbau des sozialen Rechtsstaats ist gefragt. Dabei werden Sie uns an Ihrer Seite haben, aber nicht bei einem solchen heute zur Beschlußfassung anstehenden Gesetz.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121020400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert (Hannover).

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID1121020500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Man sollte doch zweckmäßigerweise das Ding vom Kopf auf die Füße stellen. Frau Steinhauer, ich bin ja vollkommen Ihrer Meinung: Erstens hat sich die Arbeitsgerichtsbarkeit große Verdienste erworben. Zweitens gilt das nicht nur für die Berufsrichter, sondern genauso für die ehrenamtlichen Richter. Damit ist in unserer Rechtsgeschichte sehr viel Gutes bewirkt worden; das ist ganz unbestreitbar.

(Beifall bei der FDP — Frau Steinhauer [SPD]: Aber?)

Aber wir haben die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die ähnliche Verdienste für sich in Anspruch nehmen kann, wir haben die Finanzgerichtsbarkeit, wir haben die Sozialgerichtsbarkeit — alles spezielle Zweige unserer Gerichtsbarkeit, denen es nur an einer Bestimmung mangelt, wie sie sich in § 14 Arbeitsgerichtsgesetz findet und die besagt, daß sich das, was sich auf diesem Gebiet an Rechtsprechung abspielt, in jedem Bundesland, landauf, landab, nur vom Arbeitsminister geregelt werden könne. Eine solche Bestimmung fehlt allen anderen aus guten Gründen eingerichteten besonderen Gerichtsbarkeiten.
Hier wird nun eine Zufälligkeit, die Sie vielleicht einmal hätten erklären sollen — —

(Frau Steinhauer [SPD]: Sie waren bei der Beratung ja nie da!)

— Darum spreche ich davon, die Sache vom Kopf auf die Füße zu stellen. Sie hätten uns vielleicht einmal erklären sollen, warum man nur in der Arbeitsgerichtsbarkeit, nicht aber bei den anderen genannten speziellen Gerichtsbarkeiten die Organisationsgewalt ganz ausdrücklich einem speziellen Minister zuschreibt. An einer solchen Erklärung fehlt es.
Wir wollen deshalb — mit dieser abstrakten Erwägung allein wäre die Regelung schon genügend begründet — nicht in die Organisationsgewalt der Länder hineinregieren, anders, als bei allen anderen Gerichtsbarkeiten, sondern wir möchten es den Ländern überlassen, die Dinge so zu regeln, wie sie es für vernünftig halten.
Das ist übrigens, wenn Sie das nach den Bundesländern durchdeklinieren, kein so einwandfrei parteipolitisch zuzuordnendes Problem. Da gibt es ganz beachtliche Unterschiede. Das Land Bayern z. B. hat es für richtig gehalten, alle Sondergerichtsbarkeiten jeweils dem Fachminister zuzuordnen, und ist bis zum heutigen Tage dabei geblieben. Kein Mensch wird das ändern wollen, und wir werden es auch nicht können. Wer die Bayern kennt, weiß, daß das ganz klar ist. Es wäre schade um die Luft, die man darauf verwendete, das hier auch nur auszusprechen.
Auf der anderen Seite hat in Schleswig-Holstein der freidemokratische Justizminister Leverenz einmal — —

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das ist schon lange her!)

— Das ist sehr lange her; aber ich möchte doch die Gelegenheit nutzen, des vor einigen Jahren verstorbenen Kollegen und Freundes Leverenz zu gedenken, der nicht aus Gründen, die Sie hier argwöhnen, sondern um dem ratsuchenden Publikum den Zugang zu allen Gerichten gleichermaßen zu erleichtern, als erster gesagt hat, er wolle ein Rechtsprechungsministerium haben. Er konnte es in dem hier zur Rede stehenden Fall wegen der Bestimmung, die wir als eine völlig überflüssige Sonderbestimmung jetzt aufheben wollen, nicht tun. Aber eines konnte Herr Leverenz tun: Er hat in Lübeck ein Gerichtshaus gebaut, in dem alle Gerichte untergebracht sind. Das hat auch für die Arbeitsgerichtsbarkeit und wegen ihrer Sonderstellung gerade für die Arbeitsgerichtsbarkeit den großen Vorteil, daß man sie als ein Stück unserer Rechtsprechung und nicht als irgend etwas ganz Besonderes versteht. Es ging ihm also um ein Gericht wie jedes andere, und er wollte erreichen, daß jeder, der zum Arbeitsgericht will, „zum Gericht" fährt und sich nicht erkundigen muß, auf welchen skurrilen Umwegen er die z. B. im Stadtgebiet von Hannover sehr sorgfältig verstreuten Plätze erreicht, weshalb man sogar sagen könnte, daß sich dort dieses Gericht dem Zugang geradezu mutwillig entzieht. Das sind die praktischen Folgen besonders für die Arbeitnehmer, nämlich daß sie nicht einmal dort hinfinden können und daß sie das Arbeitsgericht nicht so allgemein mit dem Begriff Gericht verbinden können, wie das sonst der Fall ist.

(Beifall bei der FDP — Frau Steinhauer [SPD]: Da lach' ich mich doch tot!)

Auf Grund dieser ganz einfachen praktischen Dinge sollten wir wenigstens gestatten, daß die zuständigen Justizminister — wenn das Kabinett des Landes es so will —

(Frau Steinhauer [SPD]: Ihre Spezies befördern können!)

das gleichmäßig regeln. — Ich habe schon mehrfach versucht, Ihnen das zu sagen, Frau Steinhauer.
Es gibt Richter, die sagen: Wir haben jetzt beim Arbeitsgericht fantastische Beförderungsstellen, und zwar dadurch, daß man das Landesarbeitsgericht zu einer Art Oberlandesgericht erklärt hat, was mit dem



Kleinert (Hannover)

sonstigen Gerichtsaufbau nicht so ohne weiteres übereinstimmt. — Ich muß das mit der R-Stellen-Einstufung hier nicht weiter ausführen. Da sagen Sie: Jetzt haben wir die schönen Beförderungsstellen, und nun kommen sie aus der ordentlichen Gerichtsbarkeit und stürzen sich darauf.
Es könnte ja an der Einordnung dieser R-Stellen etwas falsch sein. Aber das ist noch lange kein Grund, daraus den Schluß zu ziehen, diese Leute müßten unter sich bleiben, damit sie es besser haben als andere — obwohl das systematisch nicht stimmt; mit diesem Argument sind Sie gekommen.
Mir hat eine führende Persönlichkeit — übrigens keine Sozialdemokratin, sondern eine Christdemokratin — aus dieser Gerichtsbarkeit kürzlich gesagt: Was Sie da machen, ist doch ungeheuerlich. Wir verschwinden mit unserem bißchen Gerichtsbarkeit im Etat des Sozialministeriums und können uns jeden Wunsch erfüllen lassen, den wir haben. Kommen wir ins Justizministerium, dann sind wir eine von vielen anderen gerichtlichen Stellen und werden genauso gleich behandelt wie alle anderen auch.

(Frau Steinhauer [SPD]: Genauso schlecht!)

Das können Sie doch ernsthaft nicht wollen. — Dazu muß ich allerdings sagen: Falls das so sein sollte, wollen wir das schon; denn wir möchten gerne eine Gerichtsbarkeit und das Vertrauen der Bevölkerung in eine Gerichtsbarkeit, gleich, wie sie im einzelnen auch unterteilt sein sollte.
Wenn Sie einen Blick in die DDR werfen — Sie haben das Thema vorhin kurz gestreift — , dann werden Sie feststellen: In der Koalitionsvereinbarung dort drüben, die von der SPD-Ost mit getragen worden ist, hat man gesagt: Wir wollen bei der zu errichtenden ordentlichen Gerichtsbarkeit Kammern haben, in denen jeweils arbeits-, sozial- und auch verwaltungsrechtliche Fragen gesondert behandelt werden. So hat es auch bei uns einmal angefangen.
Nun soll man nicht sagen: Wir wollen das alles zurückführen, aber wir wollen es mindestens einheitlich haben, und wir wollen es gleichwertig haben. Wir wollen nicht den Eindruck von irgend etwas Besonderem entstehen lassen. Deshalb freuen wir uns sehr, daß wir heute endlich nach vielen Jahrzehnten zur Erfüllung dieser Forderung kommen. Dafür danke ich allen Beteiligten sehr herzlich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121020600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoss.

Willi Hoss (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1121020700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das hier vorliegende ArbeitsgerichtsgesetzÄnderungsgesetz behandelt im wesentlichen zwei Punkte; ich will das noch einmal darstellen. Es hat erstens den Sinn, die Zuständigkeit für die Arbeitsgerichtsbarkeit, die bisher bei den Arbeits- und Sozialministerien der Länder liegt, zu ändern und die Möglichkeit zu schaffen, sie dem Justizministerium oder einem Rechtspflegeministerium zuzuordnen. Das ist der eine Punkt.
In einem zweiten Punkt — in einer Nebenbestimmung — will das Gesetz eine Angleichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten erreichen. Die Kollegin Steinhauer hat diesen zweiten Punkt, der nicht den Hauptzweck dieses Gesetzes ausmacht, schon dargestellt. Es geht dabei darum, daß in diesem Gesetz der Eindruck erweckt wird, als ob man etwas in der Richtung täte, die Kündigungsfristen — die Berechnung der Fristen — der Arbeiter denen der Angestellten anzugleichen — ein Problem, das schon längst überfällig ist. Im Grunde wird hier aber nur so getan, als ob. Es wird versäumt, wirklich eine Gleichheit der Bedingungen von Arbeitern und Angestellten, die ohnehin im Bereich der Wirtschaft, in Tarifverträgen und anderen Bestimmungen schon akut ist und vorgenommen wird, auch hier gesetzlich zu sichern. Das versäumt der Entwurf, weil er nur eine kleine Ausnahmebestimmung aufnimmt und verändert.
Im Ausschuß wird sogar gesagt, daß es richtig sei, bei den Kündigungsfristen einen Unterschied zwischen qualifizierten Arbeitnehmern und weniger qualifizierten Arbeitnehmern zu machen, und daß sich schon daraus eine unterschiedliche Behandlung in dieser Frage herleiten lasse, was natürlich völlig hanebüchen ist.
Nun aber zu dem eigentlichen Punkt des Gesetzes. Wir haben eine Anhörung gemacht. Dazu haben wir neun Verbände eingeladen: den Deutschen Richterbund, den Deutschen Arbeitsgerichtsverband, 52. Konferenz der Präsidenten der Landesarbeitsgerichte, Union der Leitenden Angestellten, Neue Richtervereinigung, Gewerkschaftsbund usw. Von diesen neun Verbänden haben sich in einer ausführlichen Anhörung sieben gegen Veränderungen in dem hier vorgeschlagenen Sinne ausgesprochen und haben das auch begründet. Ich glaube, diese Argumente, die von denen vorgetragen worden sind, die aus der Sache heraus mit diesen Fragen beschäftigt sind, darf man nicht unterschätzen, wenn man einigermaßen hochhalten will, daß das, was an der Basis der Gesellschaft gedacht und erfahren wird, in den Gesetzen seinen Niederschlag finden muß.
Es war zum einen ein wesentliches Argument, daß die Arbeitsgerichtsbarkeit — es ist ein besonderes Gericht, das sich mit besonderen Fragen beschäftigt — schon seit 1926 den Arbeits- und Sozialministerien zugeordnet ist, daß das nur in der Zeit während des Zweiten Weltkrieges geändert wurde und daß man gleich nach dem Krieg aus gutem Grund diese Zuordnung wiederhergestellt hat, weil es für die Rechtsprechung im Bereich der Arbeitsgerichte ungeheuer wichtig ist, die Nähe zur Produktion, zur Technikentwicklung, zu Arbeitszeitfragen und zu Mitbestimmungsfragen zu haben. Man muß eine genaue Kenntnis der Vorgänge haben und als Richter auch ein Einfühlungsvermögen in die Arbeitswelt. Das ist für die Abläufe in diesem Bereich ungeheuer befruchtend.
Es wurde zweitens argumentiert, daß das vom Grundgesetz her abgedeckt ist. Art. 95 Abs. 2 des Grundgesetzes z. B. sieht gerade vor, daß die Berufung der Richter an die obersten Gerichtshöfe des Bundes dem für das jeweilige Sachgebiet zuständigen Bundesminister zuzuweisen ist, und zwar genau aus dem Grunde, weil es darauf ankommt, die Nähe zu



Hoss
der Sache zu finden, damit die Entscheidungen möglichst realitätsnah sind.
Wir sehen, da sich die Verbände in dieser Weise geäußert haben, überhaupt keinen Grund, eine solche Änderung durchzuführen. Es fragt sich: Warum wird das eigentlich gemacht? Das liegt nahe — damit komme ich zum Schluß — : Es ist so, daß die FDP diesen Gesetzentwurf sogar gegen Widerstand im Bereich der CDU durchgesetzt hat, es sozusagen zu einer kleinen Koalitionsfrage gemacht hat, daß das Problem endlich behandelt wird. Die FDP ist von der sozialen Seite her Vertreterin des Mittelstandes, des Handwerks und dieser Bereiche. Dort herrscht die Meinung vor, daß die Arbeitsgerichte zugunsten der Arbeitnehmer zu sozial entscheiden würden. Der von Ihnen hier vorgelegte Gesetzentwurf dient einzig und allein dazu, Ihre Klientel zu befriedigen. Das geht auf Kosten der Arbeitnehmer. Wir GRÜNEN lehnen das ab.
Danke.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121020800
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Vogt.

Wolfgang Vogt (CDU):
Rede ID: ID1121020900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gesetz, das zur Verabschiedung ansteht, enthält drei gleichgewichtige Schwerpunkte.
Erstens. Den Ländern wird künftig freigestellt, ob sie die bisherige Zuständigkeit der Arbeitsminister für die Arbeitsgerichtsbarkeit beibehalten oder die Zuständigkeit der Justizverwaltung vorsehen wollen. Diese Ressortierungsneuregelung ist nicht ohne Probleme. Die Bedenken, die bei der Sachverständigenanhörung geäußert worden sind, sind durchaus ernst zu nehmen. Dennoch meine ich: Dem justizpolitischen Anliegen der Länder — und nur darum geht es —, die die verschiedenen Gerichtsbarkeiten in einem Rechtspflegeministerium zusammenfassen wollen, sollte Rechnung getragen werden. Der Bund sollte nicht — dies ist eine verfassungspolitische Frage — in die Organisationszuständigkeit der Länder eingreifen. Alles andere, was sonst noch in den vorliegenden Gesetzentwurf hineingeheimnist wird, entspringt einer blühenden Phantasie.
Es geht also nicht darum, den Ländern die Ressortierung der Arbeitsgerichtsbarkeit vorzuschreiben. Wir wollen ihnen nur die Möglichkeit für eine eigene Organisationsentscheidung geben. Ob sie von der Möglichkeit Gebrauch machen und die bisherige Zuständigkeit der Arbeitsminister ändern, ist ihre Sache.
Das Arbeitsgerichtsgesetz stimmt künftig in seiner Ressortierungsregelung mit dem Sozialgerichtsgesetz überein. Beim Bund bleibt die Zuständigkeit für die Arbeitsgerichtsbarkeit, beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Alle Redner dieses Hauses haben ja bestätigt, daß sich diese Zuordnung bewährt hat. Auch das zeigt, daß die Bundesregierung den Grund für die Neuregelung nicht darin sieht, daß sich
die bisherige Zuordnung zu den Arbeitsressorts nicht bewährt habe.
Zweitens. Das Arbeitsgerichtsgesetz-Änderungsgesetz sieht eine Angleichung der gesetzlichen Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte vor.

(Frau Steinhauer [SPD]: Nein!)

Nach dem geltenden Recht bestehen für Arbeiter und Angestellte bei längerer Betriebszugehörigkeit verlängerte Kündigungsfristen. Für die Berechnung der Betriebszugehörigkeit waren bei Angestellten bisher alle Zeiten nach der Vollendung des 25. Lebensjahres zu berücksichtigen, bei Arbeitern erst die Zeiten vom vollendeten 35. Lebensjahr an. Künftig ist für die Berechnung der Betriebszugehörigkeit auch bei Arbeitern das 25. Lebensjahr entscheidend. Der Fortschritt für die Arbeiter liegt auf der Hand.
Der SPD geht es mit ihrem Entwurf eines zweiten Arbeitsrechtsbereinigungsgesetzes darum, die Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte allgemein auf dem Niveau der Angestellten zu novellieren.

(Hoss [GRÜNE]: Das ist ja wohl richtig!)

Frau Kollegin Steinhauer, wenn Sie die unterschiedlichen Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte ein Relikt des 19. Jahrhunderts genannt haben, hätten Sie sicherlich in den 70er Jahren lange Zeit gehabt, hier eine Änderung der Rechtslage vorzuschlagen. Sie haben das aber nicht getan.

(Hoss [GRÜNE]: Das ist kein Grund, das heute nicht zu machen!)

Ich glaube auch, daß Sie sich mit dem Arbeitsrechtsbereinigungsgesetz und dem, was Sie hier vorhaben, wiederum nicht darum kümmern, was wirtschaftlich tragbar und sozial vertretbar ist.
Nach Auffassung der Bundesregierung haben die beteiligten Ausschüsse Ihren Gesetzentwurf zu Recht abgelehnt. Sämtliche in Ihrem Entwurf angesprochenen Unterschiede bei den Kündigungsfristen und auch weitere Regelungen des bestehenden Arbeitsrechts, die zwischen Arbeitern und Angestellten unterscheiden, liegen dem Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung vor. Die Bundesregierung will die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts — und die damit verbundene Klärung des verfassungsrechtlichen Handlungsspielraums für den Gesetzgeber — abwarten. Wir brauchen eine abgewogene Regelung, eine Regelung, die einerseits davon ausgeht, daß die herkömmliche Abgrenzung zwischen Arbeitern und Angestellten überholt ist, die andererseits aber berücksichtigt, daß eine zu starke Anhebung gerade im Bereich der Grundkündigungsfristen zu Einstellungssperren führen kann. Für eine solch grundlegende Änderung des gesetzlichen Arbeitsrechts wie die Angleichung der für Arbeiter und Angestellte geltenden Regelungen benötigen wir nicht nur Zeit für eine ausgiebige Beratung, sondern auch einen politischen Grundkonsens zwischen den betroffenen gesellschaftlichen Gruppen. Um ihn zu erreichen, müssen wir den verfassungsrechtlichen Handlungsspielraum des Gesetzgebers kennen.
Drittens. Das Gesetz erfüllt ein frauenpolitisches Anliegen: Wir sind uns alle in dem Ziel einig, daß die Gesetzessprache von Begriffen befreit werden muß,



Parl. Staatssekretär Vogt
die geschlechtsdiskriminierend wirken. Ein in diesem Zusammenhang immer wieder herausgestelltes Negativbeispiel sind die Wahlmänner, die nach dem Mitbestimmungsrecht im Falle der mittelbaren Wahl die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeiternehmer zu wählen haben. Wir haben daher im Mitbestimmungsergänzungsgesetz den Begriff „Wahlmänner" durch „Delegierte" ersetzt, als wir im Rahmen des Gesetzes zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung am 1. Dezember 1988 die Neugestaltung des Wahlverfahrens des Mitbestimmungsergänzungsgesetzes nach dem Muster des Mitbestimmungsgesetzes beschlossen haben.
In der Zwischenzeit hat der Wahlvorstand eines großen Unternehmens in einer Petition gefordert, daß auch im Mitbestimmungsgesetz der Begriff „Wahlmänner" ersetzt werden soll. Der Bundestag hat am 28. September 1989 einstimmig beschlossen, die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen und sie den Fraktionen zur Kenntnis zu geben, und die Bundesregierung zur Berichterstattung innerhalb eines Jahres über die Ausführung des Beschlusses aufgefordert. Wir erfüllen das Petitum. Das Mitbestimmungsrecht wird redaktionell bereinigt. Das Wort „Wahlmänner" wird durch „Delegierte" ersetzt. Bewerkstelligen läßt sich dieses Vorhaben jetzt nur auf dem Wege eines Änderungsantrags zu dem vorliegenden Gesetzentwurf. Ich glaube, daß sich das in diesem Fall verantworten läßt, da wir in der Sache lediglich eine von uns erst kürzlich getroffene Entscheidung aufgreifen.
Ich bedanke mich für die zügige Beratung des Gesetzentwurfs im zuständigen Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und bitte um Zustimmung zu dem Gesetz.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Jahn [Marburg] [SPD]: Nein!)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121021000
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsgerichtsgesetzes und anderer arbeitsrechtlicher Vorschriften in der Ausschußfassung, Drucksachen 11/5465 und 11/7096.
Ich rufe den Art. 1 in der Ausschußfassung auf. Wer diesem Artikel zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Art. 1 ist angenommen.
Ich rufe Art. 2 in der Ausschußfassung auf. Wer diesem Artikel zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen?
— Keine Enthaltungen, drei Gegenstimmen aus der Fraktion der GRÜNEN. Damit ist der Art. 2 mit großer Mehrheit angenommen.
Ich rufe Art. 3 in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt dafür? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen?
— Keine Enthaltung, drei Gegenstimmen aus der Fraktion der GRÜNEN. Damit ist Art. 3 mit großer Mehrheit angenommen.
Ich rufe Art. 4 in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt zu? — Wer ist dagegen? — Keine Gegenstimmen. Wer enthält sich? — Keine Enthaltung. Art. 4 ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Art. 4 a in der Ausschußfassung auf. Wer ist dafür? — Wer ist dagegen? Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen aus der Fraktion der GRÜNEN ist Art. 4 a mit großer Mehrheit angenommen.
Ich rufe Art. 4 b in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt dafür? — Wer ist dagegen? — Keine Gegenstimme. Enthaltungen? — Keine Enthaltung. Damit ist Art. 4 b mit großer Mehrheit angenommen.
Ich rufe Art. 4 c in der Ausschußfassung auf. Wer ist dafür? — Wer ist dagegen? — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Art. 4 c ist damit einstimmig angenommen.
Ich rufe Art. 5 in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist dieser Art. 5 angenommen.
Ich rufe Art. 6 in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt zu? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Keine. Mit Mehrheit ist dieser Art. 6 in der Ausschußfassung angenommen.
Es bleibt noch über die Einleitung und Überschrift abzustimmen. Wer stimmt dafür? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit sind Einleitung und Überschrift angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung.
Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Dieser Gesetzentwurf ist mit Mehrheit in der dritten Lesung angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Wernitz, Schäfer (Offenburg), Adler, Bachmaier, Bernrath, Blunck, Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Ibrügger, Kiehm, Kisslinger, Koltzsch, Kretkowski, Lennartz, Müller (Düsseldorf), Müller (Schweinfurt), Oostergetelo, Dr. Osswald, Pfuhl, Reuter, Dr. Schöfberger, Schütz, Sielaff, Stahl (Kempen), Weiermann, Weiler, Weyel, Wimmer (Neuötting), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Umweltverträgliche Landwirtschaft
— Drucksachen 11/4879, 11/6146 —
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (10. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Garbe, Kreuzeder und der Fraktion DIE GRÜNEN
Schutz vor Pflanzenbehandlungsmitteln
— Drucksachen 11/276, 11/6555 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Carstensen (Nordstrand)




Vizepräsident Stücklen
Hierzu liegen Entschließungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/7088 und 11/7090 vor.
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist eine gemeinsame Aussprache von einer Stunde vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe, Sie stimmen zu. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Wernitz.

Dr. Axel Wernitz (SPD):
Rede ID: ID1121021100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der ökologische Umbau der durch Technisierung, Chemisierung, Rationalisierung, Intensivierung und auch Spezialisierung gekennzeichneten Landwirtschaft ist eine der drängendsten Aufgaben zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat schon in seinem Sondergutachten „Umweltprobleme der Landwirtschaft" 1985 und weiter in seinem Umweltgutachten 1987 auf die Natur- und Umweltbelastung durch die Landwirtschaft hingewiesen. Ich nenne einzelne Stichworte:
Angesichts der weiträumigen Zerstörung natürlicher Lebensräume und des erschreckenden Aussterbens vieler Tier- und Pflanzenarten, angesichts der Gefährung des Grund- und Trinkwassers durch Nitrate, chemische Pflanzenbehandlungs- und Schädlingsbekämpfungsmittel aus der Intensivlandwirtschaft, angesichts der Luftverunreinigung durch Ammoniak, Stickoxide, Methan und verwehte und verdunstete Pestizide aus der Landwirtschaft, angesichts der Schädigung des Bodens durch Verdichtungen, Erosion, stoffliche Belastungen, u. a.durch schadstoffbelastete Klärschlämme und Dünger und angesichts der Schadstoffbelastung der Nahrungsmittel, wie sie im Sachverständigengutachten, aber auch im neuen Umweltbericht 1990 des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit aufgezeigt werden, wird ein dringender Handlungsbedarf zur Lösung dieser Probleme von keinem mehr bestritten.
Ein Gesamtmaßnahmenkatalog zur Durchsetzung einer umweltverträglichen Landwirtschaft wird von uns Sozialdemokraten seit langem gefordert. Aber die Umweltminister- und Agrarministerkonferenz bzw. die Bundesregierung konnten sich bisher weithin nur auf unverbindliche Absichtserklärungen verständigen.

(Zuruf von der SPD: Ein Trauerspiel!)

Die dringend notwendige ökologische Orientierung der landwirtschaftlichen Produktion ist bisher nur in Ansätzen erkennbar. Nur ein kleiner Teil der landwirtschaftlichen Betriebe hat sich zu einem kontrollierten ökologischen Landbau verpflichtet. Klare Regeln umweltschonender Landwirtschaft, die flächendeckend eine natur- und umweltverträgliche Land- und Forstwirtschaft verpflichtend vorschreiben, liegen noch nicht vor.
Die umfangreiche, aber weithin doch unbefriedigende Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage und der noch umfangreichere Umweltbericht 90 sind beide zugleich auch Dokumente für Untätigkeiten und Versäumnisse der Bundesregierung,

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

soweit es nämlich darum geht, die dringend erforderlichen Maßnahmen zum Schutz von Natur, Wasser, Boden, Luft und Klima auch und insbesondere in bezug auf die Land- und Forstwirtschaft durchzusetzen.
Ich nenne auch hier wiederum einzelne Schwerpunkte:
Erstens. Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, die schon in der vorigen Legislaturperiode als dringlich eingestufte grundlegende Reform des Bundesnaturschutzgesetzes durchzusetzen.

(Sehr wahr! bei der SPD)

Flächendeckend müssen die Belange des Naturschutzes bei der Landschaftsplanung und bei der Verhinderung von Eingriffen mit erheblichen Auswirkungen auf den Naturhaushalt durchgesetzt werden. Der Naturschutz darf sich nicht auf die Erhaltung von sogenannter Restnatur in einigen Biotopen beschränken.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Die SPD wird in Kürze den vom Arbeitskreis Umwelt und Energie erarbeiteten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes im Bundestag einbringen.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Stimmt es, daß ihr keinen Ausgleich für die Landwirte mehr bezahlen wollt?)

Zur Beratung und Befassung damit sind alle Fraktionen herzlich eingeladen — das ist auch eine Antwort darauf —; man wird dann sicherlich auch darüber reden müssen, in welchem Umfang Ausgleichsleistungen zu zahlen sind und an welcher Stelle sie gesetzessystematisch zu regeln sind.

(Zurufe von der CDU/CSU: Sie haben es abgelehnt! — Bredehorn [FDP]: Gar keine, habt ihr gesagt!)

— Ja, sicherlich. Darüber wird man reden müssen.
Zweiter Punkt. Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, die Belastung des Grundwassers und des Trinkwassers durch Nitrat und Pestizide mit wirksamen Maßnahmen zu stoppen. Bundesrat und Umweltministerkonferenz haben die Bundesregierung zu vorsorgenden Maßnahmen zur Vermeidung des Pestizideintrags ins Grundwasser aufgefordert. Ein Verbot aller schwer abbaubaren Pflanzenschutzmittel, die ins Grundwasser und Trinkwasser gelangen, die Verschärfung des Pflanzenschutzgesetzes und insbesondere der Zulassungs- und Anwendungsbedingungen sind dringend erforderlich, um die eigentlich schon seit 1985 nach der EG-Trinkwasserrichtlinie vorgeschriebene Einhaltung der Pestizidgrenzwerte sicherzustellen.

(Beifall bei der SPD)

Eine formale Änderung der Trinkwasserverordnung in bezug auf Ausnahmegenehmigungen im Notfall schützen unser Trinkwasser ebensowenig wie ein weiteres Kritisieren des als Vorsorge-, als Quasi-Nullwert festgelegten Grenzwerts von 0,1 Mikrogramm



Dr. Wernitz
pro Liter. Chemische Industrie und Landwirtschaft müssen konsequent ihren Beitrag dazu leisten, daß die schleichende Verseuchung des Trinkwassers gestoppt wird. Das ist kein Vorwurf; das ist eine Feststellung und eine Mahnung an alle Beteiligten.
Die Bundesregierung ist bisher nicht in der Lage, die Nährstoffeinträge aus der Landwirtschaft in Flüsse, Seen und in Nord- und Ostsee wirksam zu begrenzen. Daß dies in anderen Staaten auch so ist — wir waren erst vor kurzem in Dänemark, in Kopenhagen, bei dem dortigen EG-Ausschuß; ein interessantes Instrument —, ist kein Trost, sondern unterstreicht nur die Dringlichkeit entsprechender Regelungen. Eine den Schutz des Oberflächen- und Grundwassers berücksichtigende Düngemittelanwendungsverordnung ist deshalb ebenso überfällig wie eine Verschärfung des Düngemittelgesetzes und eine wirksame Beschränkung der Massentierhaltung, unter anderem durch Änderung des Gesetzes über die Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das hat damit überhaupt nichts zu tun!)

Dritter Punkt. Die Bundesregierung ist bis heute nicht in der Lage, die erforderlichen Maßnahmen zum Bodenschutz in ein Bodenschutzprogramm mit konkreten Inhalten, Prioritäten und Zeit- und Kostenrahmen festzulegen und umzusetzen. Die dringliche Novellierung der Klärschlammverordnung steht bis heute aus. Sie ist in der Tat dringlich.
Vierter Punkt. Zur Verminderung der Schadstoffbelastung der Nahrungsmittel müssen endlich für alle relevanten Umweltschadstoffe wie Blei, Cadmium, Arsen, Nitrat Höchstmengenfestlegungen in der Schadstoffhöchstmengenverordnung für Lebensmittel vorgenommen werden.
Fünfter Punkt. Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, die Förderung der Landwirtschaft auf die bäuerlichen Familienbetriebe, die umweltverträglich wirtschaften, zu konzentrieren und umweltbelastende Großbetriebe z. B. mit einer Strukturabgabe an den Kosten der Umweltsanierung zu beteiligen.

(Bredehorn [FDP]: Das ist doch falsch!)

Sechster Punkt: Viele Maßnahmen müssen im Interesse gleicher Wettbewerbschancen auf EG-Ebene durchgesetzt werden. Die geplante Pflanzenschutzzulassungsrichtlinie muß allerdings noch überarbeitet werden, damit nicht bei uns verbotene Pestizide über diese EG-Regelungen wieder verwendet werden können.

(Beifall bei der SPD)

Daß wir den Beschlußantrag der GRÜNEN ablehnen, ist darin begründet, daß der Antrag nicht aktuell und nicht sachgerecht ist. In dem Zusammenhang haben wir im Umweltausschuß gesagt, und zwar mit breiter Mehrheit: Die Bundesregierung wird aufgefordert, hierüber noch einmal auf EG-Ebene zu verhandeln, anschließend die Rückkoppelung zu uns vorzunehmen, und dann wäre das gesetzgeberische Ergebnis zu bewerten. — Ich wollte das hier nur einmal verkürzt sagen.
Siebter Punkt: Der Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der DDR enthält im
Umweltbereich, wie jeder weiß, noch große Defizite. Es kann nicht hingenommen werden, daß bei uns die Landwirtschaft zu Natur- und Umweltschutz verpflichtet wird und daß in der DDR die zum Teil katastrophale Umweltzerstörung durch die dort betriebene Landwirtschaft weitergeht. Das muß man ganz klar sagen.
Meine Damen und Herren, zur Rettung der Nordsee und der Ostsee sowie zum Schutz insbesondere der Elbe müssen auch für die Landwirtschaft wirksame Regeln für eine umweltverträgliche Bewirtschaftung möglichst schnell durchgesetzt werden.

(Sauter [Epfendorf] [CDU/CSU]: Jetzt wird er vernünftig!)

— Verehrter Herr Kollege, wie jeder hier im Hause bemühe ich mich, vernünftig zu sein. Dies sollte man bei aller unterschiedlichen Bewertung inhaltlicher Positionen akzeptieren. Das gehört zum parlamentarischen Stil.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wir setzen darauf, daß die weitere parlamentarische Beratung unserer Großen Anfrage „Umweltverträgliche Landwirtschaft" die notwendigen zusätzlichen Impulse gibt, um den Zielen einer umweltverträglichen Landwirtschaft konkret und, wie wir hoffen, schneller näherzukommen. Darum geht es uns mit dieser Großen Anfrage. Ich hoffe, dies ist nicht in den Wind gesprochen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121021200
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kroll-Schlüter.

Hermann Kroll-Schlüter (CDU):
Rede ID: ID1121021300
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Wernitz, zuerst das Gemeinsame: Es geht nicht um die Restnatur; da haben Sie recht. Es geht nicht darum, daß wir Enklaven bilden nach dem Motto: Da machen wir es ganz richtig, damit wir an den anderen Stellen um so mehr sündigen können. Das wäre zwiespältig. Vielmehr geht es um eine ganzheitliche Betrachtung und um ganzheitliche Aktionen.
Abgewöhnen sollten wir uns die schablonenhafte Kritik an den größeren Betrieben. Es gibt viele größere Betriebe, die sehr umweltverträglich wirtschaften, und es gibt Kleinbetriebe, die infolge ihrer ganz schlechten Struktur überhaupt nicht in der Lage sind, umweltverträglich zu wirtschaften.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Wo denn?) — So konkret wollte ich nicht werden.

Aber wir alle wollen — um noch einmal eine Gemeinsamkeit festzustellen — eine umweltverträgliche Landwirtschaft, genauso wie wir eine umweltverträgliche Industrie wollen.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Wo denn?)




Kroll-Schlüter
Wir wollen auch eine umweltverträgliche Freizeitgestaltung

(Frau Flinner [GRÜNE]: Golfplatz! — Weiterer Zuruf von den GRÜNEN: Und vor allem eine umweltverträgliche Regierung!)

und vor allem ein umweltverträgliches Leben. — Wenn Ihnen meine Nähe zu Ihnen in diesem Punkt unangenehm ist, dann kann ich das auch sofort beseite lassen, um die Unterschiede herauszuarbeiten. Aber es ist doch sicherlich nicht schlimm, wenn man auch ein paar Gemeinsamkeiten feststellt.
Wenn über dieses Ziel Einigkeit besteht, dann vor allem wegen der Gefährdungen, denen unsere natürlichen Lebensgrundlagen unterworfen sind. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat dieser Tage folgendes gesagt:
Die Erhaltung einer intakten und lebenswerten Umwelt für uns und unsere Kinder ist zu einer der zentralen Fragen unserer Zeit geworden. Der oft unmäßige Griff nach den Ressourcen der Erde sowie die Belastung von Boden, Luft und Wasser mit Schadstoffen haben den Naturhaushalt an die Grenzen seiner Belastbarkeit gebracht, seine Funktion zum Teil empfindlich gestört oder teilweise schon unwiderruflich geschädigt. Die Folgen für Menschen, Tiere und Pflanzen als Teile des Ökosystems können lebensbedrohend sein, wenn diese Entwicklung nicht korrigiert wird.
Soweit das Zitat.
Wir wollen korrigieren, aber nicht nur korrigieren, sondern auch vorbeugen,

(Zuruf von den GRÜNEN: Dann machen Sie doch mal, nicht nur schön schwätzen!)

Grundlagen entwickeln, die Korrekturen erst gar nicht notwendig machen.
Wenn Sie die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Fragen sorgfältig gelesen hätten — ich gehe davon aus —, dann könnten auch Sie feststellen: Es ist viel geschehen; es sind gute neue Grundlagen gelegt worden, nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch europaweit. Auch durch eine Korrektur der Agrarpolitik ist ein besserer Weg unter den hier in Rede stehenden Gesichtspunkten eingeschlagen worden.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Wo denn? — Frau Teubner [GRÜNE]: Warum merkt man nichts davon?)

Für die Land- und Forstwirtschaft hat der Aspekt der Umweltverträglichkeit eine besondere Bedeutung, da sie ja immerhin vier Fünftel der Gesamtfläche der Bundesrepublik Deutschland bewirtschaftet. Zudem hat sie im Gegensatz zu anderen Bereichen vorrangig mit der lebenden Natur zu tun. Die enge Verbindung des Landwirts mit den Lebensvorgängen in der Natur und seine Abhängigkeit von ihr haben ihn traditionell und aktuell zum Heger und Pfleger der Natur gemacht.

(Lachen bei der SPD — Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: „Heger und Pfleger"! — Stahl [Kempen] [SPD]: Also, also! — Dr. Göhner [CDU/CSU]: Warum lachen die? Das wollen wir festhalten!)

— Ich stelle fest: Die SPD behauptet das Gegenteil. Ich gebe das ausdrücklich zu Protokoll.
Es besteht daher auch bei den Landwirten, vor allem bei den Landwirten bäuerlicher Familienbetriebe, genug Bereitschaft, sich den Zielen der umweltverträglichen Landwirtschaft zu verpflichten.

(Stahl [Kempen] [SPD]: Das ist richtig; aber Sie müssen mehr unterstützen und mehr propagieren und der EG mehr helfen! — Frau Teubner [GRÜNE]: Und die anderen?)

— Also, es war doch vor allem die Förderungspraxis der 70er Jahre,

(Frau Flinner [GRÜNE]: Ja!)

die die Landwirtschaft zum Teil gezwungenermaßen davon abgelenkt hat, zu erkennen — und entsprechend zu handeln — , wie notwendig eine umweltverträgliche Landwirtschaft ist.
Aus volkswirtschaftlicher Sicht geht es um die Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit hochwertigen und gesunden Nahrungsmitteln zu angemessenen Preisen.
Aus betriebswirtschaftlicher Sicht muß die Tätigkeit des Landwirts ihn befähigen, ein angemessenes Einkommen zu erwirtschaften.
Aus umweltpolitischer Sicht muß dies in für die Umwelt schonender und schützender Art und Weise geschehen.
Nun ist es ja so, daß die hier manchmal deutlich werdenden Zielkonflikte durch die Dominanz des einen oder anderen Ziels nicht gelöst werden können. Vielmehr geht es darum, zu integrieren und alle angesprochenen Ziele gleichzeitig zu erreichen. Und da gilt eben: Was ökonomisch sinnvoll ist, muß auch ökologisch richtig sein; und was ökologisch richtig ist, wird auch einen großen ökonomischen Ertrag erbringen. Wenn es nicht so ist, begehen wir Fehler, die entweder den Ertrag mindern

(Frau Flinner [GRÜNE]: Dann brauchen wir keine Flächenstillegung mehr!)

oder so große Schäden anrichten, daß der zunächst erzielte Gewinn nicht mehr als solcher betrachtet werden kann.

(Frau Dr. Timm [SPD]: Fabelhaft!)

Die Agrarpolitik dieser Bundesregierung war und ist eindeutig darauf ausgerichtet, in diesen Zusammenhängen Lösungen herbeizuführen.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Und deswegen demonstrieren die Bauern?)

Dies zeigt sich durch die vielfältigen Gesetzesinitiativen; im einzelnen: Novellierung des Pflanzenschutzgesetzes 1986, Änderungen des Wasserhaushaltsgesetzes 1986,

(Frau Flinner [GRÜNE]: Und was hat's gebracht?)

Düngemittelgesetz 1989,

(Frau Flinner [GRÜNE]: Was hat's gebracht?)




Kroll-Schlüter
die Zuständigkeit der Länder zum Erlaß von Rechtsverordnungen zur Gülleausbringung etc.
Aber vielleicht noch wichtiger als diese Einzelmaßnahmen ist eine Orientierung der Agrarpolitik im EG-Bereich. Darf ich sagen: Umorientierung?
Zu den entscheidenden Weichenstellungen im Frühjahr 1988 gehörten die Einschränkung der staatlichen Preis- und Abnahmegarantien, die Honorierung der Minderproduktion und die weitgehend produktionsneutrale Gewährung direkter Einkommenshilfen. Die ohne Rücksicht auf das Marktgleichgewicht durchgeführte Agrarpolitik — in den 70er Jahren und frühen 80er Jahren — ist damit endgültig passé. Das meine ich mit der „Wende europaweit".
Produktionsbegrenzungen, Flächenstillegungen, auch Extensivierungsprogramme verringern vor allem den Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln und tragen so — nicht nur, aber auch — zur Erfüllung umweltpolitischer Ziele bei.
Hier ist es doch europaweit — ich sage konkreter: in der Europäischen Gemeinschaft — zum ersten Mal gelungen, sowohl den Aspekt der Einkommenssicherung der Landwirtschaft als auch den Gesichtspunkt des Umweltschutzes zu integrieren.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Und auf den anderen Flächen wird um so mehr „gegiftet"!)

Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Ein Schritt in die falsche Richtung! Sonst hätten es auch die anderen EG-Länder schon gemacht!)

In diesem Zusammenhang darf ich auch darauf verweisen, daß wir keine „Agrarfabriken" wollen, in denen der Tierschutz mißachtet und verantwortungslos mit Arzneimitteln umgegangen wird und Gülle und Chemikalien bedenkenlos eingesetzt werden. Wir wollen aber auch keine Betriebe, die so schlecht strukturiert sind, daß sie überhaupt nicht umweltfreundlich produzieren können. Da ist nun einmal der bäuerliche Familienbetrieb nicht nur das beste Leitbild, sondern wir haben mit ihm auch die besten umweltschonenden Produktionserfahrungen. Auch von daher ist ei der Betrieb, den wir in besonderer Weise fördern möchten.
Unser Ziel ist also eine umweltgerechte Landwirtschaft in Europa. Wer sich in der DDR, in der Tschechoslowakei, in Ungarn und in anderen ost- und südosteuropäischen Ländern bewegt hat, der weiß, wie notwendig auch hier die entsprechenden Investitionen sind. Fangen wir bei uns an! Versuchen wir, es europaweit durchzusetzen, beziehen wir andere Länder, die nach Europa wollen, mit ein. Dann können wir sagen: Das ist eine integrative Politik, wir haben gelernt, es sind Fortschritte erzielt worden, wir können die Zukunft damit am besten gestalten, und zwar vor allem auch die Zukunft der Landwirtschaft.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121021400
Wollen Sie noch eine Zwischenfrage zulassen?

Hermann Kroll-Schlüter (CDU):
Rede ID: ID1121021500
Das kommt mir jetzt sehr gelegen.

Jan Oostergetelo (SPD):
Rede ID: ID1121021600
Herr Kollege, Sie haben, wie ich finde, zu Recht gesagt, daß die bäuerlich strukturierte Landwirtschaft letztlich die Landwirtschaft ist, die am ehesten in der Lage ist, den Ausgleich zwischen Ökologie und Ökonomie fertigzubringen. Ich frage: Warum haben Sie denn nicht zugestimmt, daß die Hilfe auf diese Strukturen begrenzt wird, und verhindert, daß Betriebe in Größenordnungen von über 2 Millionen Hähnchen oder 12 750 Mastschweinen noch bäuerlich genannt werden? Denn wir sind hier ja einer Meinung.

Hermann Kroll-Schlüter (CDU):
Rede ID: ID1121021700
Also,

(Zurufe von der SPD: Nicht ausweichen! — Antworten Sie!)

ich habe ja schon mal dazwischengerufen, Ihre phantastischen Rechnereien stimmen Gott sei Dank mit der Wirklichkeit nicht überein. Was wir fördern, ist tatsächlich nicht der von Ihnen skizzierte Betrieb, sondern der bäuerliche Familienbetrieb. Dabei soll es auch bleiben.
Vielen Dank, daß Sie mir zugehört haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1121021800
Das Wort hat Frau Abgeordnete Flinner.

Dora Flinner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121021900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema unserer heutigen Debatte heißt umweltverträgliche Landwirtschaft. Dabei müssen wir bedenken, daß 80 % der Fläche unseres Landes landwirtschaftlich bewirtschaftet wird. Das heißt, wir sprechen über die Umweltverträglichkeit der Nutzung des überwiegenden Teiles unserer Landschaft. Immer wieder ist in der Antwort der Bundesregierung zu lesen, daß wir in einem dicht besiedelten, hochindustrialisierten Land leben, ja, daß die Landwirtschaft zunehmend gesellschaftspolitische Funktionen zur Pflege der Landschaft als Freizeit- und Erholungsraum übernimmt.

(Vorsitz: Vizepräsident Cronenberg)

Was bedeutet das in der Konsequenz? Zum einen ist der Regierung der Industriestandort Bundesrepublik wichtiger als der Agrarstandort. Die Landwirtschaft wird politisch schon längst der industriellen Wirtschaft untergeordnet. Dazu paßt, daß auf EG-Ebene immer wieder die deutschen Bauern den Interessen der Industrie geopfert werden.
Weiterhin bekommt die Landwirtschaft immer mehr die Funktion der Bereitstellung und Pflege von Erholungslandschaft. Die Funktion der Erzeugung von gesunden Lebensmitteln wird ihr immer mehr entzogen. Die Kulturlandschaft wird damit zu einem reinen Schaustück, einem Muster ohne Wert. Bäuerinnen und Bauern werden hierdurch, wenn sie nicht in die agrarindustrielle Intensiv- und Großproduktion von Nahrungs- und Industrierohstoffen gehen, zu Gärtnern und Wächtern eines riesigen landschaftlichen Erholungsparks, der mit bäuerlicher Landwirtschaft noch so viel Ähnlichkeit hat wie eine Unterhaltungsshow mit dem Deutschen Bundestag. Die Regierung
16554 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn. Donnerstag. den 10. Mai 1990
Frau Flinner
versucht, den Anschein zu erwecken, daß sich die Landwirtschaft immer mehr in ökologischen Bahnen bewege, daß die Umweltprobleme der Landwirtschaft immer besser in den Griff zu kriegen seien.
Die Agrarminister des Bundes und der Länder haben sich, so heißt es vielversprechend, um die „Grundsätze einer ordnungsgemäßen Landwirtschaft" verdient gemacht. Aber meine Damen und Herren, was ist denn ordnungsgemäße Landwirtschaft? Jeder Landwirt bei uns würde sicher bestätigen, daß er selbst ordnungsgemäße Landwirtschaft betreibt. Eigentlich müßte alles in Ordnung sein. Doch weshalb müssen immer mehr Wassergewinnungsanlagen und Brunnen geschlossen werden? Weshalb sind immer mehr Lebensmittel mit Rückständen von Pestiziden belastet? Weshalb leiden immer mehr Menschen unter schädlichen Einwirkungen von Spritzmitteln und unter Allergien, die dadurch zum Ausbruch kommen?
Etwa 20 % der 6 300 Wasserversorgungsunternehmen im Bundesgebiet können den Grenzwert für Pestizide im Trinkwasser nicht einhalten. Die Ausnahmeregelungen bei Überschreitung des Grenzwertes verstoßen gegen EG-Recht. Vor dem Europäischen Gerichtshof ist deshalb eine Klage wegen mangelhafter Umsetzung der EG-Richtlinien anhängig.
Im Rahmen des Forschungsvorhabens Bundesweites Lebensmittelmonitoring wurde festgestellt, daß über 80 % der untersuchten Erdbeerproben Pestizide enthielten. 4 % der Proben enthielten sogar nicht zugelassene Pflanzenschutzmittel mit einem Gehalt von über 0,1 Milligramm pro Kilogramm.
Die Auswertung des Nitratgehalts bei Kopfsalat ergab, daß über ein Drittel der in- und ausländischen Proben den Richtwert von 3 000 Milligramm pro Kilogramm überschritten. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen erlauben bundesweite und repräsentative Aussagen über die Belastung.

(Sussett [CDU/CSU]: Waren es nicht Nanogramm?)

— Nein. Nanogramm haben wir z. B. bei Dioxin, Herr Susset. Davon haben wir in Baden-Württemberg genug. Seien Sie mal still!
Die Novellierung des Pflanzenschutzgesetzes und das novellierte Düngemittelgesetz, das hier schon angesprochen wurde, haben diese katastrophalen Werte nicht verhindert. Kein Wunder: Die sogenannte „gute fachliche Praxis", die diese Novellierungen festschreibt, sorgt dafür, daß die Ausbringung der boden- und wassergefährlichen Stoffe unvermindert fortgesetzt wird. Und das ist nach Meinung der Regierung „ordnungsgemäße Landwirtschaft" !
Doch es kommt noch schlimmer: Die EG-Kommission hat uns eine Richtlinie zum Inverkehrbringen von EWG-zugelassenen Pflanzenschutzmitteln beschert. Während einerseits, wie gesagt, die Brüsseler Eurokraten die Bundesrepublik wegen mangelhafter Umsetzung des Wasserschutzes verklagen wollen, haben sie andererseits beste Aussichten, mit diesem Dokument zu den Brunnenvergiftern Europas zu werden. Denn die Richtlinie, von der Chemieindustrie lebhaft begrüßt, würde die Umweltziele der einzelnen
Länder unterlaufen. Ein Pestizid, das in einem EG-Land zugelassen, aber in der Bundesrepublik aus Gründen des Umwelt- und Gesundheitsschutzes verboten wäre, dürfte dann hier ohne weitere Analysen trotzdem angeboten und von den Landwirten natürlich angewendet werden.

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Das haben wir doch mittlerweile längst geklärt!)

Zum Maßstab des Umweltschutzes im Binnenmarkt wird dann das EG-Land mit den jeweils laxesten Umweltbestimmungen. Erfahrungsgemäß kommen die Folgen des unverantwortlichen Pestizideinsatzes oft erst nach Jahren und Jahrzehnten ans Licht, nämlich wenn die Rückstände in Boden und Grundwasser gewandert sind.
Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, den Richtlinienentwurf der Kommission auf das schärfste zurückzuweisen. Unsere Anträge entsprechen den Forderungen des Bundesverbandes der deutschen Gas- und Wasserwerke. Wir fordern das Verbot der Anwendung und Produktion von Pestiziden, die im Grundwasser nachgewiesen wurden, und das Verbot der Produktion von solchen, die in der Bundesrepublik nicht zugelassen, aber für den Export bestimmt sind.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Schließlich können wir doch nicht so tun, als ob diese Gifte nicht auch anderswo die Umwelt schädigen würden. Die Gesundheit der Menschen in anderen Ländern wird durch diese Gifte ebenso angegriffen wie die der Menschen bei uns.
Auch in unserer Republik zugelassene Mittel müssen überprüft werden. An der Zulassung und der Überprüfung müssen die Umweltverbände beteiligt werden.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das fehlte auch noch!)

— Das glaube ich; das wollen Sie natürlich nicht.
Wir alle sind uns einig, daß nur der Verzicht auf die Anwendung von Agrargiften in der Landwirtschaft deren Eintrag in das Grundwasser auf Dauer verhindern kann. Die Agrarpolitik kann sich daher langfristig nicht an der drastischen Verminderung von Pestiziden vorbeidrücken. Je eher eine solche Verminderung erfolgt, desto besser für Menschen und Umwelt.
Herr Kiechle — er ist heute nicht anwesend — spricht sich in der „FAZ" vom 24. April für die Hinwendung der Landwirtschaft zu schonenden Formen in der Landnutzung und Tierhaltung aus. Herr Kiechle, Sie wollen die Schönheiten der Natur erhalten, die Vielfalt der Landschaften sichern und die Funktionsfähigkeit der ländlichen Gebiete bewahren. — So schreiben Sie es jedenfalls.
Doch warum lehnen Sie dann alle Initiativen, die uns diesem Ziele näherbringen, ab? Ich lese in Ihrer Antwort, die Bundesregierung nehme die Beurteilung des Sachverständigenrates für Umweltfragen hinsichtlich der Umweltgefährdungen und -schäden durch die Landwirtschaft sehr ernst. Doch die angeführten Maßnahmen von Flächenstillegungen über



Frau Flinner
die Produktionsaufgaberente bis zum Strukturgesetz haben uns nicht zu einer gesunden, tragfähigen Landwirtschaft gebracht, im Gegenteil: Sie haben noch zur Verschlimmerung der ökologischen Situation beigetragen. Damit werden unsere Bauern nicht wettbewerbsfähiger, sondern verlieren weiter Marktanteile und ihre Produktionsgrundlagen. Der Boden und die Natur werden weiter gefährdet.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121022000
Frau Abgeordnete Flinner, zunächst einmal möchte der Abgeordnete Heinrich gerne eine Zwischenfrage stellen. Außerdem muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihre Redezeit überschritten ist.

Dora Flinner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121022100
Ich habe noch einen Satz, Herr Präsident; dann bin ich fertig.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121022200
Das ist ja sehr beruhigend; denn Sie überschreiten Ihre Zeit deutlich.

Dora Flinner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121022300
Ich möchte jetzt wenigstens noch den einen Satz sagen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121022400
Machen wir es so: Erst kommt der Satz, dann die Zwischenfrage.

Dora Flinner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121022500
Das Ziel einer umweltverträglichen Landwirtschaft ist nur über den Weg einer flächendeckenden Ökologisierung der Landbewirtschaftung, wie wir sie fordern, zu erreichen. Dies erfordert eine neue, eine ökologische Agrarpolitik.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121022600
So, Herr Abgeordneter Heinrich.

Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1121022700
Frau Kollegin Flinner, Sie haben soeben behauptet, durch Flächenstillegungen werde die Umwelt zusätzlich belastet. Ich bitte Sie, mir einen Beweis dafür zu liefern, wie durch das Düngeverbot und durch das Verbot des Ausbringens von Pflanzenbehandlungs- und Pflanzenschutzmitteln eine zusätzliche Belastung der Umwelt stattfinden kann.

Dora Flinner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121022800
Ich möchte Ihnen das gerne sagen, Herr Heinrich. Es ist folgendermaßen: Die Bauern, die Flächen stillegen und dabei noch einen Viehbetrieb haben, brauchen die Fläche erstens für die Gülle. Diese müssen sie dann auf die Restfläche intensiver ausbringen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Das ist falsch!)

— Das ist richtig so. Wo sollen die Bauern sie denn hinbringen?
Zweitens brauchen sie auch Futtermittel für ihr Vieh. Sie dürfen ja den Aufwuchs nicht füttern; dieser muß deponiert werden. Diese Deponien sind meines Erachtens genehmigungspflichtig. Wo sollen die Bauern mit dem Aufwuchs hin?

(Zurufe von der CDU/CSU)

— Sie sagen, das stimme so nicht. Aber das stimmt natürlich!

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Eure Leguminosenbrache macht uns Schwierigkeiten!)

— Die Leguminosen werden ja verfüttert.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Auch die Knöllchenbakterien?)

— Nein, die Knöllchenbakterien werden nicht verfüttert.
Aber ich möchte zu Ihrer Frage noch folgendes erläutern: Wenn man den Aufwuchs nicht füttern darf, muß mehr Futter zugekauft werden. Ich kann mir keinen Landwirt vorstellen, der einen Betrieb hat und Flächen stillegt. Das geht einfach nicht, weil er diese Flächen braucht. Zum anderen sehe ich auch bei uns, daß die Flächen, die stillgelegt sind, sehr verunkrauten, weil sie nicht wenigstens einmal im Jahr gemäht werden.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121022900
Frau Abgeordnete Flinner, ich verstehe ja, daß Sie die Chance, die Ihnen der Abgeordnete Heinrich geboten hat, ausnutzen. Doch das Ganze entwickelt sich nun so allmählich zu einer Fragestunde, wobei Sie die Rolle der Parlamentarischen Staatssekretärin zu übernehmen scheinen. Herr Parlamentarischer Staatssekretär von Geldern wird hier gleich noch sprechen.

(Abg. Kalb [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Ich kann Ihre Zwischenfrage nicht zulassen; es tut mir schrecklich leid. Wir sind vier Minuten über die Zeit. Sie haben noch einen Satz. Weitere Zwischenfragen lasse ich beim besten Willen nicht zu. Ich bitte um Verständnis.

Dora Flinner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121023000
Wenn diese Flächen dann umgebrochen werden, muß wieder sehr viel Chemie eingesetzt werden, um des Unkrauts Herr zu werden.
Wenn Sie hier anschneiden, daß die Knöllchenbakterien beim biologischen Anbau von Luzernen Schwierigkeiten machen, dann frage ich Sie, ob es bei einer fünfjähigen Flächenstillegung, wenn eingesät ist und das Feld umgebrochen wird, nicht die gleichen Schwierigkeiten gibt. Denn die Luzerne bleiben nur drei Jahre liegen.
Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121023100
Nun hat der Abgeordnete Bredehorn das Wort.

Günther Bredehorn (FDP):
Rede ID: ID1121023200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung legt mit ihrer Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion eine bemerkenswert positive Bilanz ihrer Umweltgesetzgebung im Bereich der Landwirtschaft vor. Daran kann auch die polemische Panikmache der SPD und der GRÜNEN, modern und fortschrittlich wirtschaftende Landwirte als d i e Umweltzerstörer hinzustellen, nichts ändern.
16556 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn. Donnerstag, den 10 Mai 1990
Bredehorn
Die Vorschläge der SPD für ein neues Naturschutzgesetz, die der Herr Kollege Schäfer Anfang dieser Woche vorgestellt hat, gehen ja ebenfalls in diese Richtung. Ich finde es schon atemberaubend, was die SPD mit unseren Landwirten vorhat. Mit ihren Vorschlägen zum Naturschutzgesetz will sie ein Genehmigungsverfahren für die landwirtschaftliche Nutzung von Flächen einführen.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das kann ja wohl nicht angehen!)

Sie will die Ausgleichsregelung für Landwirte, die in Naturschutzgebieten unter eingeschränkten Bedingungen wirtschaften müssen, verhindern. Sie hat schließlich vor, in Naturschutzgebieten die Anwendung von mineralischem Dünger, von Pflanzenschutzmitteln und auch von organischem Dünger generell zu verbieten.

(Zuruf von der CDU/CSU)

Ich muß einfach einmal das zitieren, was der Herr Schäfer dazu formuliert hat; es ist so veröffentlicht worden.

(Zuruf von der SPD: Wo ist denn der Schäfer? — Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Der besucht gerade eine LPG!)

Darüber hinaus lehnt die SPD generelle Entschädigungen für Verdienstausfälle von Land- und Forstwirten bei umweltverträglichem Verhalten ab. Das würde das Verursacherprinzip durch das Gemeinlastprinzip ersetzen, begründete Schäfer den Entschluß der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion.

(Zuruf von der SPD: Das steht aber nicht im Gesetz!)

Das Naturschutzgesetz sei ein Umweltschutzgesetz und kein Subventionsgesetz.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Da hat man den Bock zum Schäfer gemacht!)

Ich kann mir nicht vorstellen, meine Damen und Herren von der SPD, daß Sie über Ihre Vorschläge ausreichend lange nachgedacht haben. Ich meine, dies ist ein Schuß aus der Hüfte, der vielleicht vor zwei wichtigen Landtagswahlen beeindrucken soll. Ich weiß allerdings nicht, ob dieser Schuß nicht doch nach hinten losgehen wird.
Versetzen wir uns einmal in die Lage eines Landwirtes, der jetzt schon unter der Preisdruckpolitik der EG gehörig zu leiden hat. Der soll nun in die Mühlen eines behördlichen Genehmigungsverfahrens geraten, wenn er entscheiden will, ob er im nächsten Jahr statt Zuckerrüben Mais anbaut.
Jeder Landwirt muß diese Vorschläge als eine Art Berufsverbot auffassen. Viele Landwirte, die in Wasserschutzgebieten oder in Gebieten wirtschaften, in denen wegen der notwendigen Naturschutzgesichtspunkte nur mit eingeschränkter Intensität gewirtschaftet werden kann,

(Zuruf von der SPD: Fahr' nicht gleich die „dicke Berta" auf!)

werden sich doch fragen, ob die SPD mit ihren Vorschlägen ihnen letztlich die wirtschaftliche Existenz
entziehen will; denn ohne die vorgesehenen Ausgleichszahlungen, wie wir sie im Rahmen der Novellierung des Naturschutzgesetzes einbringen wollen, ist die Erwirtschaftung eines normalen Einkommens nicht mehr möglich. Die SPD sollte hier also wirklich noch einmal ganz intensiv nachdenken.
Unsere Nahrungsmittel sind, was Qualität, Preiswürdigkeit und Rückstandsbelastung anbelangt, noch nie so gut gewesen wie heute. Dies verdanken wir auch unseren gut ausgebildeten, tüchtigen Landwirten,

(Sehr gut! bei der SPD)

die ihre Höfe nach den modernsten Erkenntnissen, aber auch unter Beachtung der Erfordernisse der Gesunderhaltung von Boden und Wasser ordnungsgemäß bewirtschaften.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Demonstrativer Beifall bei der SPD)

Aber auch die Politk hat durch die Umweltgesetzgebung, z. B. im Pflanzenschutzgesetz, in der Pflanzenschutzanwendungsverordnung, im Düngemittelgesetz, im Wasserhaushaltsgesetz bis hin zum Lebensmittelgesetz,

(Frau Flinner [GRÜNE]: Alles gesetzlich gesichert!)

gute Voraussetzungen geschaffen.
Wir haben in der Bundesrepublik auch im Vergleich zu anderen EG-Staaten einen hohen Standard erreicht, dürfen uns aber auf unseren Lorbeeren nicht ausruhen. Eine umweltverträgliche Landwirtschaft muß tagtäglich neu erarbeitet werden. Auf neue Probleme muß mit zeitgerechten und geeigneten Maßnahmen reagiert werden.
Die Zielsetzung ist klar: Wir wollen eine wirtschaftliche Agrarproduktion mit einer dauerhaften Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen verbinden. Daher sollte staatliches Handeln stärker von zwei Grundgedanken geprägt sein. Erstens. Mit marktwirtschaftlichen Instrumenten, d. h. ökonomischen Anreizen, erreichen wir die besten Ergebnisse zur Erhaltung einer gesunden Umwelt.
Zweitens. Schutz der Umwelt und der Natur ist nur mit und nicht gegen die Landwirte möglich.
Interessant ist in diesem Zusammenhang eine jüngere Untersuchung darüber, wieweit umweltorientiertes Verhalten in der Landwirtschaft tatsächlich ausgeprägt ist. Diese Untersuchung wurde von dem Umweltminister des Landes Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegeben. Danach ist positives Umweltverhalten bei den größeren Vollerwerbsbetrieben stärker vorhanden als bei den kleineren Betrieben, die meist Nebenerwerbsbetriebe sind und die noch eher nach dem Motto verfahren: „Viel hilft viel" .
Wichtige Kontrollinstrumente wie Bodenuntersuchungen, das Führen von Schlagkarteien, Feldspritzgerätekontrollen oder auch das Einholen von Rat von Umweltexperten sind auf den großen Betrieben eindeutig häufiger zu finden.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)




Bredehorn
Die Gründe liegen auf der Hand: Betriebsleiterqualifikation und Informationsstand sind dort in der Regel besser, Kontakte zur Beratung sind reger.
Bei der Untersuchung der Frage, wie Landwirte verschiedene umweltpolitische Maßnahmen wie Auflagen und Vorschriften bewerten, ergab sich eine klare Präferenz für ökonomische Anreize auf freiwilliger Basis. Ich meine, wir können daraus einiges ableiten: Die Landwirtschaft benötigt mehr unternehmerische Spielräume, auch zur Lösung von Umweltproblemen. Staatliche Rahmenbedingungen sollten und müssen diese Spielräume erweitern.
Lassen Sie mich noch etwas zum Extensivierungsgesetz sagen, durch das ja jetzt eine staatlich geförderte Extensivierung auf EG-Ebene möglich ist. Bei dem Wechsel zu einer weniger intensiven Bewirtschaftung müssen die Landwirte bestimmte Kriterien in der Düngung, im Pflanzenschutz und in der Tierhaltung einhalten. Im wesentlichen ist auf den Einsatz chemisch-synthetischer Produktionsmittel zu verzichten. Der durch die Extensivierung während der Umstellungsphase entstehende Einkommensverlust wird durch staatliche Zuwendung ausgeglichen. Durch eine solche Extensivierung werden zweifellos Umweltbelastungen, die durch Landbewirtschaftung entstehen, minimiert. Ich würde mir wünschen, daß hier von der EG, aber auch von uns noch praktikablere Regelungen getroffen werden, damit dieses Programm noch stärker angenommen wird, damit die Akzeptanz dieses Extensivierungsprogramms bei den Landwirten entsprechend steigt.
Trotzdem spreche ich mich aber ganz klar gegen die von einigen Oppositionspolitikern immer wieder aufgestellte Forderung nach einer generellen und flächendeckenden Extensivierung aus.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Eine solche generelle Extensivierung will man ja durch eine radikale Verteuerung von Produktionsmitteln erreichen, also z. B. durch Einführung einer Stickstoffsteuer oder eben durch entsprechende, massive Verteuerung von Pflanzenschutzmitteln. Um die wirtschaftlichen Nachteile für die Landwirte wieder auszugleichen, bietet man als Patentrezept die gestaffelten Erzeugerpreise an. Das ist wirklich ein Weg in die Planwirtschaft. Damit werden wir die Probleme nicht lösen können.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Das stimmt so auch nicht!)

Das lehne ich prinzipiell ab. Ich kann vor einer solchen Politik, wie gesagt, nur warnen.
Auch in Zukunft brauchen wir in der Landwirtschaft noch wirtschaftliches Wachstum, um unsere Natur zu erhalten und die Probleme der Umwelt zu lösen. Die Maßstäbe einer umweltverträglichen Agrarpolitik sollten nicht vom Grad der Intensität vorgegeben werden, sondern auf ordnungsgemäßen, umweltorientierten und ökonomischen Kriterien beruhen und sich an den Grundsätzen guter fachlicher Praxis orientieren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der Landwirtschaft muß die ökonomische und ökologische Perspektive erhalten bleiben. Deshalb ist die
Forderung, dort, wo es aus Gründen des Umwelt- und Naturschutzes erforderlich ist, mehr Fläche für den Naturschutz auszuweisen und den Landwirten, die dort unter eingeschränkten Bedingungen wirtschaften, einen entsprechenden Ausgleich zu zahlen, auch folgerichtig. Dies ist eine Forderung, die meine Fraktion seit langem beharrlich erhebt und die wir nun auch umsetzen müssen.
Eine weitere Möglichkeit, ökonomische Erfordernisse in ökologische Bedürfnisse einzufügen, sehe ich bei einer stärkeren Anwendung des integrierten Pflanzenbaus. Diese Art der Pflanzenproduktion — also vielseitige Fruchtfolgen, gezielte Düngung, standortgerechte Sortenwahl, Anwendung des Schadschwellenprinzips beim Pflanzenschutz, mechanische Unkrautbekämpfung — verspricht umweltverträglichere Verfahren mit gleichzeitig ökonomischem Erfolg.
Ein anderes Beispiel, wie ökonomische und ökologische Interessen gleichzeitig erreicht werden können, sind z. B. auch Güllebörsen und Güllebanken, wie sie in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen durchaus vernünftig funktionieren. Landwirte mit wenig Fläche kooperieren hier mit Landwirten, die viel Fläche haben, zum gegenseitigen Nutzen und mit Vorteilen für die Umwelt.
Es gibt nur wenige Bereiche, meine Damen und Herren, die so eng miteinander verbunden sind wie Landwirtschaft und Umwelt. Die Landbewirtschaftung dient ökonomischen Zielen und kommt dabei zwangsläufig mit ökologischen Erfordernissen in Konflikt. Der Schutz von Umwelt und Natur, die Erhaltung der Kulturlandschaft, gesunder Böden und gesunden Wassers sind nur mit und nicht gegen die Landwirtschaft möglich.

(Lennartz [SPD]: Jawohl!)

Der Landwirt ist auf die Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts angewiesen. Im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie ist er in besonderem Maße gefordert und Zielkonflikten ausgeliefert. Unter ökologischen Aspekten ist der Landwirt Opfer und Täter zugleich: Opfer, weil die Erzeugung und zum Teil auch die Qualität seiner Produkte unter den Immissionen der Industriegesellschaft leiden, Täter dadurch, daß Landwirte rund 80 % der Fläche des Bundesgebietes bewirtschaften und zwangsläufig in die Fauna und Flora sowie in die natürlichen Stoffkreisläufe eingreifen. Schließlich liegt es im Wesen der Landwirtschaft, mit den natürlichen Lebensgrundlagen wie Boden und Wasser umzugehen und daraus Nahrungsmittel zu produzieren.
Die Bundesregierung und auch die Bundestagsfraktionen der FDP und CDU/CSU haben eine ganze Anzahl von gesetzlichen Regelungen wie etwa das Pflanzenschutzgesetz , das Düngemittelgesetz, das Wasserhaushaltsgesetz und das Bundesnaturschutzgesetz initiiert, die sicherstellen sollen, daß die Agrarproduktion unter größtmöglicher Beachtung einer heilen Natur und Umwelt erfolgt. Wir brauchen auch in Zukunft Regelungen, die Verbesserungen im Umweltbereich bringen. Aber ich appelliere auch an alle Landwirte, aus eigener Einsicht in Zukunft noch umweltverträglicher zu wirtschaften.



Bredehorn
Danke schön.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121023300
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. von Geldern.

Dr. Wolfgang von Geldern (CDU):
Rede ID: ID1121023400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die Bundesregierung ist die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen von zentraler politischer Bedeutung. Boden, Wasser und Luft müssen soweit wie möglich vor schädlichen Stoffeinträgen gesichert, der Artenreichtum von Tieren und Pflanzen erhalten und die landschaftliche Vielfalt bewahrt werden.
Die Bundesregierung setzt die agrarpolitischen Rahmenbedingungen so, daß die Landwirtschaft die an sie zu stellenden Umweltanforderungen auch erfüllen kann. Der Grundsatz lautet: mit und nicht gegen die Landwirtschaft Natur- und Umweltschutzpolitik zu betreiben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Lassen Sie mich bitte einige aktuelle Fakten im Hinblick auf das Handeln der Bundesregierung in diesem Sinne nennen.

(Stahl [Kempen] [SPD]: Da sind wir aber gespannt!)

Die Novellierung des Pflanzenschutzgesetzes von 1986 mit erheblich verschärften Bestimmungen hinsichtlich der Zulassung und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln. Pflanzenschutzmittel dürfen nur noch nach guter fachlicher Praxis angewandt werden. Dazu gehört die Berücksichtigung der Grundsätze des integrierten Pflanzenbaus.
Mit der Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung von 1988 wurde die Zahl der Pflanzenschutzmittel, die einem Anwendungsverbot oder einer Anwendungsbeschränkung unterliegen, aus Gründen des Natur- und Gewässerschutzes deutlich erhöht.
Die Pflanzenschutz-Sachkundeverordnung von 1987 regelt den Nachweis der erforderlichen fachlichen Kenntnisse und Fertigkeiten. Die Anforderungen an Pflanzenschutzgeräte sind verschärft worden. Zur Zeit prüfen wir eine Aufzeichnungspflicht für Pflanzenschutzmittel.
Das novellierte Düngemittelgesetz von 1989 sieht vor, daß Düngemittel nur nach guter fachlicher Praxis angewandt werden dürfen. Dazu gehört, daß die Düngung nach Art, Menge und Zeit auf den Bedarf der Pflanzen und des Bodens unter Berücksichtigung der im Boden verfügbaren Nährstoffe und organischen Substanzen sowie auf die Standort- und Anbaubedingungen ausgerichtet wird. Auch hier prüfen wir eine Aufzeichnungspflicht für Düngemittel.

(Lennartz [SPD]: Sie kontrollieren das natürlich!)

— Das ist etwas anderes als Ihre Polemik, wenn ich Fakten über das gesetzgeberische Handeln der letzten Zeit nenne.

(Zustimmung bei der FDP)

In der Düngemittelverordnung sind 1986 und 1987 Höchstgehalte für mehrere Schwermetalle neu eingeführt bzw. weiter gesenkt worden. Auf Grund der fünften Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz von 1986 kann sowohl die Düngung als auch die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln eingeschränkt oder verboten werden. Unabhängig von bestehenden oder geplanten Wasserversorgungsanlagen können Schutzgebiete ausgewiesen werden, um das Abschwemmen und den Eintrag von Bodenbestandteilen, Düngeoder Pflanzenbehandlungsmitteln in Gewässer zu verhüten.
Auf Grund des Abfallgesetzes von 1986 wurden die maximalen Schwermetallgehalte von Klärschlämmen festgelegt, die auf landwirtschaftlich oder gärtnerisch genutzte Böden aufgebracht werden sollen. Die Anforderungen der Klärschlammverordnung werden in Kürze weiter verschärft. Die Länder sind zum Erlaß von Rechtsverordnungen zur Gülleausbringung ermächtigt und haben davon bereits Gebrauch gemacht.
Große Bedeutung mißt die Bundesregierung der Ausbildung der Landwirte bei. Leistungsfähige Betriebe haben nicht nur ein zufriedenstellendes Einkommen, sondern sie wirtschaften auch umweltfreundlicher. Die These, die schon durch manche Beiträge durchschien, daß es nämlich generell umweltfreundlicher sei, einen kleinen Betrieb zu bewirtschaften, und generell umweltfeindlicher, einen größeren Betrieb zu bewirtschaften, stimmt einfach nicht. Es kommt auf die Qualität des Landwirts selbst, auf seinen Ausbildungsstand und nicht auf die Betriebsgröße an.

(Oostergetelo [SPD]: Herr Staatssekretär, das ist genauso falsch wie umgekehrt!)

Allerdings füge ich auch hinzu: Dies gilt im Rahmen bestimmter Grenzen. Dabei denke ich an das, was wir in der DDR vorfinden. Dort können wir ja nun wirklich Agrarfabriken besichtigen.
Noch einige weitere Bemerkungen zur DDR. Die landwirtschaftliche Flächennutzung in der DDR-Landwirtschaft ist im Gegensatz zu den Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland durch eine industriemäßige Landwirtschaft mit hohem Spezialisierungsgrad gekennzeichnet. Das ist die traurige Realität im real existierenden Sozialismus gewesen. Die Trennung von pflanzlicher und tierischer Erzeugung ist äußerst strikt erfolgt. Hinzu kommt, daß die Struktur der landwirtschaftlichen Betriebe extrem groß ist.
Daraus ergeben sich ganz erhebliche Umweltprobleme: Boden, Wasser und Luft sind durch stoffliche Belastungen stark betroffen, die Bodenerosion und -verdichtung hat erhebliche Ausmaße erreicht. Die Größe der Betriebsstrukturen beeinträchtigt die Lebensräume wildlebender Tiere und Pflanzen in besonderer Weise.
Ich sehe die äußerst dringliche Lösung für diesen Teil Deutschlands vor allem darin, daß wieder die Zusammenführung von Tier- und Pflanzenproduktion stattfindet,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)




Parl. Staatssekretär Dr. von Geldern
eine Verkleinerung der Betriebsgrößen, ein Übergang zu standortgerechter Pflanzenproduktion, eine Erweiterung der Fruchtfolgen, Rückführung der Schlaggrößen, Differenzierung der Bewirtschaftungsintensitäten, Stärkung der Grünlandstandorte, verstärkte Ausweisung von Wasserschutz- und Naturschutzgebieten und eine Förderung von Erstaufforstungen in waldarmen Gebieten.
Aber lassen Sie mich neben diesen großen und für die Perspektive ganz Deutschlands wichtigen Fragen jetzt auch ganz aktuell etwas zu dem sagen, was wir heute vorgetragen bekommen haben und in den letzten Tagen über den Entwurf für eine Naturschutznovelle aus der SPD-Fraktion hören konnten. Ich halte diesen Entwurf für unseriös, weil hier nämlich der Versuch unternommen wird, Naturschutz nicht mit der Landwirtschaft, sondern ganz eindeutig gegen sie und auf ihre Kosten durchzuführen.
Ich möchte das an zwei Beispielen belegen. Nach dem SPD-Entwurf soll das Naturschutzgesetz ein Obergesetz zu allen landwirtschaftlichen Fachgesetzen werden. Die daraus folgenden Einschränkungen gegenüber der bisher vorgeschriebenen guten fachlichen Praxis sollen dann aber in keiner Weise ausgeglichen werden. Dagegen befürworten auch die Naturschutzverbände aus gutem Grunde eine Ausgleichsregelung zugunsten der Landwirtschaft.
Schließlich soll in Naturschutzgebieten nach Vorstellungen der SPD die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln, mineralischen und organischen Düngemitteln, von Klärschlämmen bundesweit verboten werden. Das läuft — ich will das mal so deutlich sagen, wie man es nennen muß — auf ein allgemeines Verbot der Landwirtschaft in Naturschutzgebieten hinaus.
Die Bundesregierung unternimmt erhebliche Anstrengungen in allen Bereichen — ich habe einige Fakten stichwortartig nennen können — , um unsere Natur und Umwelt zu erhalten. Aber wir sind nicht bereit, die Lasten für den Umweltschutz einseitig und nur der Landwirtschaft aufzubürden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dort, wo Beschränkungen notwendig sind, die über das im Recht der Land- und Forstwirtschaft vorgeschriebene Maß der guten fachlichen Praxis noch hinausgehen, müssen diese Lasten dann auch solidarisch getragen werden.
Die Bundesregierung ist bereit, den Landwirten in der Bundesrepublik Deutschland auch in Zukunft weitere Auflagen zuzumuten, manchmal auch schärfere, als das in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und schon gar in Drittländern der Fall ist. Aber diese einseitigen Belastungen haben ihre ökonomische Grenze in der Wettbewerbsfähigkeit unserer Bauern gegenüber ihren Konkurrenten in der Gemeinschaft. Deshalb drängen wir massiv auf eine Harmonisierung der Umwelt- und Naturschutzbestimmungen in der Europäischen Gemeinschaft auf dem höchstmöglichen Niveau.
Die Bundesregierung folgt dabei nicht dem Ansinnen der SPD, die Landwirtschaft durch übertriebene, einseitige Auflagen förmlich aus der Produktion zu drängen.

(Heinrich [FDP]: Die war schon immer landwirtschaftsfeindlich!)

Überall dort, wo Beschränkungen über das im Recht der Land- und Forstwirtschaft vorgesehene Maß der guten landwirtschaftlichen Praxis hinausgehen, muß die Solidargemeinschaft zu einer Minderung der Belastungen bereit sein.
Naturschutz und Umweltschutz können nicht auf dem Rücken einer einzigen Bevölkerungsgruppe ausgetragen werden, sondern das bedarf der Anstrengungen aller. Ich möchte das zum Schluß mit einem Bild sagen, weil das auch die Theoriehaftigkeit vieler Äußerungen, die ich hier schon gehört habe, zeigt. Wer glaubt, vom grünen Tisch aus vorschreiben zu können, daß auch ein alter und morscher Baum, der auf das Hausdach zu fallen droht, nicht mehr gefällt werden darf, erreicht damit nur, daß kein neuer Baum gepflanzt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121023500
Herr Staatssekretär, sind Sie noch bereit, die Frage des Abgeordneten Oostergetelo zu beantworten?

Dr. Wolfgang von Geldern (CDU):
Rede ID: ID1121023600
Gerne. Offenkundig soll nicht ausgenutzte Redezeit durch Zwischenfragen verschenkt werden.

Jan Oostergetelo (SPD):
Rede ID: ID1121023700
Herr Staatssekretär, Sie haben das wahrscheinlich nicht mitbekommen — in der Debatte kann das passieren — : Der Kollege Heinrich hat gesagt, die SPD sei immer schon landwirtschaftsfeindlich gewesen. Sind Sie bereit, mir zuzugeben, daß während der sozialliberalen Koalition die Einkommen der Bauern höher waren als in den Jahren danach?

Dr. Wolfgang von Geldern (CDU):
Rede ID: ID1121023800
Während der Zeit, von der Sie gerade sprechen, sind ganz schlimme Fehlentwicklungen in der europäischen Agrarpolitik zugelassen worden, die zu korrigieren wir heute allergrößte Mühe haben.

(Lachen bei der SPD — Stahl [Kempen] [SPD]: Waren die Einkommen wesentlich höher oder nicht? — Oostergetelo [SPD]: Daran ist die FDP also mit schuld!)

Ich sage Ihnen, was wir gerade in der europäischen Agrarpolitik für ein Erbe übernommen haben: die Überschußsituation, eine hemmungslose Mengenproduktion. Das ist nicht nur zu Lasten der landwirtschaftlichen Einkommen, sondern auch zu Lasten der Umwelt geschehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121023900
Nun hat die Abgeordnete Frau Weyel das Wort.

Gudrun Weyel (SPD):
Rede ID: ID1121024000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Durch die Regierungserklärung des heutigen Vormittags ist zunächst einmal die große Argardebatte, die für morgen vorgesehen war, verschoben



Frau Weyel
worden. Das mag im Hinblick auf die Schwierigkeiten der Landwirtschaft und die Frage der wirtschaftlichen Sicherung der Bauern sicher einigen Wahlkämpfern ganz gut ins Konzept passen.
Wie Sie bemerkt haben, dreht sich die jetzige Debatte in erster Linie um die umweltverträgliche Landwirtschaft mit Ausnahme des Beitrages von meinem Kollegen Wernitz, der mehr die Umweltfragen angesprochen hat. Diese Perspektiven der Landwirtschaft möchte ich jetzt aus unserer Sicht auch noch einmal etwas zu erläutern versuchen.
Gerade im Vorfeld des europäischen Binnenmarktes, aber auch im Hinblick auf die Währungs- und Wirtschaftsreform der DDR und das Zusammenführen der beiden deutschen Staaten ist es die Aufgabe der Politik, in der Landwirtschaft für eine Harmonisierung in wichtigen Bereichen wie Umwelt- und Naturschutz, Pflanzenschutz, Tierschutz, Lebensmittel-, Arzneimittel-, Futtermittelrecht, Baurecht und Währungsparitäten zu sorgen. Nur mit einer solchen gezielten, durch die Politik vorgegebenen Harmonisierung bekommen wir überschaubare landwirtschaftliche Verhältnisse.

(Beifall bei der SPD)

Mit der Durchsetzung einer Harmonisierung dieser Rechtsgebiete steht und fällt auch die Durchsetzung der agrarpolitischen, der umweltpolitischen und auch der verbraucherpolitischen Ziele — letztere dürfen wir ja nicht vergessen — , die mit dieser Frage verbunden sind. Die Regierung hat eigentlich in ihrer Antwort nichts Neues gebracht, sondern uns eben das erzählt, was uns auch Herr von Geldern gerade gesagt hat, nämlich das, was wir eigentlich alles schon gewußt haben.

(Stahl [Kempen] [SPD]: Gebetsmühlenhafte Wiederholung! — Lennartz [SPD]: Keine Perspektive!)

Diese Antworten weisen eigentlich nicht in die Zukunft. Daß wir für all diese Bereiche jeweils ein hohes Schutzniveau brauchen, ist wohl selbstverständlich.

(Susset [CDU/CSU]: Wir warten auch darauf, etwas zu erfahren, was wir noch nicht wissen!)

— Das erfahren Sie gleich von mir. Sie wissen es natürlich, Herr Susset.
Der Landwirt ist nicht nur Erzeuger von Nahrungsmitteln und anderen Produkten, er hat nicht nur durch seine Arbeit die Landschaft mitgestaltet,

(Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Jetzt sagen Sie mal etwas, was wir noch nicht wissen!)

er ist auch Unternehmer, der die betrieblichen Entscheidungen selbständig trifft.

(Sehr gut! bei der FDP)

Dabei ist er aber im Gegensatz zur Industrie an den Standort gebunden und hat meistens nicht die Wahl, ihn zu wechseln. Gerade deshalb kann er verlangen, daß ihm verläßliche Rahmenbedingungen gegeben werden, auf die er sich einstellen kann, Rahmenbedingungen, in die er seine unternehmerischen Planungen einfügt und für die er dann auch allein die Verantwortung trägt.

(Beifall bei der SPD)

Die Kurzatmigkeit der Landwirtschaftspolitik in der letzten Zeit hat ihm das Wirtschaften entschieden schwerer gemacht. Die Bundesregierung, Herr von Geldern, hat eben in den letzten Jahren nicht die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß er langfristig planen konnte. Vielmehr ging es oft im Galopp. Ich erinnere nur an die Flächenstillegung, die als die große Entlastung gepriesen wurde. Während aber bei uns viele Bauern Flächen stillgelegt haben, ist das im übrigen Europa nicht durchgesetzt worden, so daß jetzt die deutsche Landwirtschaft einen schlechteren Ausgangspunkt als zuvor hat.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Genau so ist es!)

Ich erinnere an unsere Debatte in der letzten Woche über den Herauskauf der Milchquoten, bei denen wir diesselbe Erscheinung haben. Gerade in den Bereichen, in denen es wenig Alternativen gibt, wird sehr viel Milch angeboten.

(Bredehorn [FDP]: Das ist doch nicht wahr, Frau Kollegin! Sie kennen doch die Zahlen!)

Das bedeutet, daß für die nächste Generation nichts mehr da ist. Sie wird auch nicht in der Lage sein, privat irgendwo Milch herauszukaufen.

(Susset [CDU/CSU]: Wir haben ja die Chance, das zu korrigieren!)

— Gut, dann müssen wir es korrigieren. Wenn Sie das tun, Herr Susset, dann sind wir durchaus dabei; denn wir haben davor gewarnt. Herr Gallus könnte es bestätigen.
Negative Auswirkungen der Landwirtschaft auf die Umwelt wurden in erster Linie durch eine verfehlte Agrarpolitik in der Vergangenheit begünstigt. Ich gebe gerne zu: Auch in Zeiten der sozialliberalen Regierung wurden Zuschüsse auf die Quantität gezahlt und damit eine erhöhte Produktion ohne Rücksicht auf die Umweltbedingungen begünstigt. Aber nicht die Landwirte sind schuld, sondern die falsch gesetzten Rahmenbedingungen, die zur Intensivierung führten.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Was alles daraus entstanden ist, ist schon mehrfach gesagt worden. Man muß sehen: Auch die Qualität der Nahrungsmittel ist durch manche Maßnahmen beeinträchtigt worden.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Verbessert worden!)

Wir haben zwischenzeitlich jedoch deutlich gemacht, daß es so nicht weitergehen kann. Bei unseren Vorstellungen über den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft messen wir auch einer umweltverträglichen Landwirtschaft große Bedeutung zu.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121024100
Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten? — Bitte schön, Herr Abgeordneter Heinrich.




Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1121024200
Frau Kollegin, wären Sie bitte so gut und würden Sie mir bestätigen, daß die Qualität der Nahrungsmittel noch nie so gut war wie derzeit?

(Widerspruch bei der SPD und den GRÜNEN)


Gudrun Weyel (SPD):
Rede ID: ID1121024300
Nein, das kann ich Ihnen nicht bestätigen, Herr Heinrich. Sie sind sicher bakterienfreier und dergleichen. Aber gucken Sie sich einmal z. B. einen Apfel an. Was wir heute als Äpfel auf dem Markt haben, sieht schön aus, schmeckt aber fad.

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Was? Dann gehen wir beide einmal auf den Markt!)

Die alten Apfelsorten finden Sie heute nicht mehr auf dem Markt. Gehen Sie einmal z. B. in die Versuchsanstalt Geisenheim.

(Susset [CDU/CSU]: Weil sie nicht gekauft werden!)

— Ja, eben, Herr Susset. Genau das ist doch das Problem. Wir haben bei den Verbrauchern eine falsche Vorstellung darüber, was Qualität ist.

(Beifall bei den GRÜNEN — Heinrich [FDP]: Wer ist „wir"?)

— Diejenigen, die durch die Handelsklassen dafür gesorgt haben, auf Größe, Fleckenlosigkeit und Schönheit zu achten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir wollen mit einer solchen sozial- und umweltverträglichen Landwirtschaft gute Nahrungsmittel erzeugen. Wir wollen aber auch die Erhaltung und Pflege, die Wiederherstellung vielfältiger und gesunder Lebensräume für Menschen, Tier und Pflanzen. Es handelt sich um eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe. Dazu werden in bestimmten Fällen zusätzliche Instrumente erforderlich sein, die finanziell längerfristig abzusichern sind. Für die Erfüllung dieser umfangreichen Aufgaben müssen wir zuallererst die Bedingungen für das bisherige Mengenwachstum beseitigen und Bedingungen für ein qualitatives Wachstum schaffen.
Die Rahmenbedingungen der EG und des Bundes müssen eine sozial- und umweltverträgliche Landwirtschaft begünstigen. Dazu gehört, daß alle Instrumente der Agrarpolitik in den Dienst einer solchen umweltverträglichen Landwirtschaft gestellt werden. Wir haben beispielsweise bei der Rückführung der Überschußerzeugung der Extensivierung den Vorzug vor der Flächenstillegung gegeben. Die jetzige Erfahrung gibt uns recht.

(Heinrich [FDP]: Wir machen beides!)

Auch bei der Suche nach Produktionsalternativen muß neben der Wirtschaftlichkeit die Umweltverträglichkeit gegeben sein. In einigen Bereichen, wie bei Fasern, Ölen und Fetten, ist das der Fall, nicht jedoch bei den von Ihnen als Wahlgeschenk geförderten Biospritanlagen in Ahausen-Eversen und neuerlich in Groß Munzel in Niedersachsen. Diese Anlagen sind auch bei Vollauslastung nicht wirtschaftlich und bedürfen laufender Subventionen von derzeit 1,20 DM pro Liter, um den Sprit überhaupt konkurrenzfähig einsetzen zu können.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Sind die Windkraftanlagen wirtschaftlicher?)

— Ich spreche von den Biospritanlagen.
Aber auch die Umweltbilanz ist negativ. Mit hohem Energieeinsatz werden die Grundstoffe für den sogenannten Biosprit von der Landwirtschaft erzeugt. Wir lehnen deshalb diese sogenannten Alternativen ab.
Auch zum Naturschutzgesetz habe ich noch eine Kleinigkeit zu sagen.

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Dazu ist noch eine Menge zu sagen!)

Sie haben unseren Gesetzentwurf offensichtlich nicht ordentlich gelesen.

(Zuruf von der SPD: Das tun sie nie!)

Wir sind der Auffassung: Die Vorstellung, daß ein Landwirt von Natur aus ein Naturschützer ist, ist heute überholt; darin sind sich die meisten einig. Daraus resultiert: Man sollte den Landwirt so behandeln wie alle anderen, ihn also weder bevorzugen noch benachteiligen gegenüber anderen, die die Landschaft in Anspruch nehmen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Das ist im Grunde genommen der Grundsatz, der in unserem Entwurf zum Naturschutzgesetz enthalten ist. Über einzelne Passagen kann man ja immer noch reden, wenn das Gesetz in die Beratung kommt.

(Bredehorn [FDP]: Das ist Unsinn, was Sie da sagen!)

Ich möchte noch auf die Begriffe der „guten fachlichen Praxis" und des „integrierten Pflanzenbaus" kommen, den Herr von Geldern immer wieder angepriesen hat. Beide Begriffe sind leider nicht präzise genug bestimmt. Wenn wir diese Begriffe genauer bestimmen, können wir dem Landwirt bei seinem Wirtschaften mehr Sicherheit verschaffen. Dann kann man nämlich sagen, ob er sich umweltkonform verhalten hat oder nicht.
Auch die Förderung der ökologischen oder alternativen Landwirtschaft außerhalb der bestehenden Vereinigungen, wo das ja kontrolliert wird, setzt genauere Kriterien voraus.
Die Entwicklung der gesetzlichen Normen ist sicher notwendig. Ebenso wichtig aber ist die Umsetzung. Dazu ein Beispiel aus dem Pflanzenschutzgesetz. Im Pflanzenschutzgesetz wird die Anwendung von Pflanzenbehandlungsmitteln auf land- und forstwirtschaftlich sowie gärtnerisch genutzte Flächen beschränkt. Ausnahmen bedürfen der Genehmigung. Wir haben als Gesetzgeber — Herr Susset, Sie wissen noch, wie wir im Ausschuß entschieden darum gerungen haben — ausdrücklich Ausnahmen für bundeseigene Einrichtungen abgelehnt. Jetzt nimmt die Bundesbahn für sich in Anspruch, ihre Gleisanlagen ohne Einschränkung mit Herbiziden zu behandeln.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Das hat sie schon immer gemacht! Seit Jahrzehnten!)




Frau Weyel
Das ist ein Verstoß gegen das bestehende Gesetz. Herbizide auf dem Bahnkörper gefährden das Grundwasser genauso wie Herbizide, die der Landwirt benutzt.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Hier ist die Regierung zum Handeln aufgefordert. Da ich die beiden Herren Staatssekretäre sehe, fordere ich Sie beide auf, sich einmal dem Verkehrsminister zu widersetzen,

(Frau Garbe [GRÜNE]: Es gibt Alternativen!)

der hier ausdrücklich gesetzwidrige Maßnahmen befürwortet.

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Der kommt gar nicht hierher! — Beifall bei den GRÜNEN)

Wir brauchen die Fortführung gesetzlicher Normen. Dazu gehören die erwähnte schlagspezifische Aufzeichnungspflicht, die Einführung der Gülleverordnung, die konsequente Umsetzung der umweltschonenden Bestimmungen und die Weiterentwicklung des Pflanzenschutzes. Insbesondere ist das Zulassungsverfahren zu überprüfen.
Besonderes Schwergewicht ist auf die Entwicklung von solchen Pflanzenschutzmitteln zu legen, die eine kurze Abbauzeit und einen Abbau in nicht gefährliche Stoffe bieten. Im Zulassungsverfahren muß geregelt werden, daß das gefördert wird.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Richtig!)

Lassen Sie mich zum Abschluß noch einmal sagen: Wir wollen die vielfältige Landwirtschaft. Weder der Große noch der Kleine ist der Sünder, nicht der Haupterwerbslandwirt oder der Nebenerwerbslandwirt. Es gibt vielmehr in allen Betriebsformen und bei allen Betriebsgrößen Landwirte, die gut arbeiten und an die Umwelt denken.

(Beifall bei der SPD — Sehr gut! bei der CDU/ CSU)

Es gibt die Sünder in allen Ebenen. Deswegen sollten wir aufhören, immer den einen zu suchen, der der Sünder ist, und alle anderen freizusprechen. Ich denke, mit einer solchen vernünftigen Betrachtungsweise, die auch wir haben, werden wir zusammenkommen.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121024400
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Göhner.

Dr. Reinhard Göhner (CDU):
Rede ID: ID1121024500
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Weyel, vor allem wegen Ihres versöhnlichen Schlusses möchte ich Ihnen zunächst einmal sagen: Ich werde Ihnen in der ersten Sitzungswoche im September dieses Jahres eine Tüte voll schmackhaftester Äpfel aus meinem Wahlkreis mitbringen. Sie sehen zwar auch gut aus, aber ich garantiere Ihnen, sie werden auch außerordentlich schmackhaft sein. Sie sollten nicht die Mär
verbreiten, daß sich bei den Äpfeln eine Rückbildung der Geschmäcker eingestellt hätte.

(Frau Weyel [SPD]: Wir können tauschen! Ich bringe Ihnen aus meinem Garten auch gute Äpfel mit!)

Ich möchte die spärlichen verbliebenen Minuten nutzen, um nur zu einigen Stichworten etwas zu sagen. Zunächst etwas, was mich bei all diesen Diskussionen um Landwirtschaft und Umwelt — auch heute wieder bei den Beiträgen aus der Opposition — stört: Ich finde die einseitige Vereinfachung dieser Diskussion unzulässig. Das Thema hat doch verschiedene Seiten. Dazu gehört sicher auch die Darstellung der Probleme durch intensive Landwirtschaft: Rückgang von Arten- und Biotopvielfalt, Belastungen des Wassers vor allem dort, wo wir leichtere Böden und intensivere Veredelung haben.
Zu dieser Diskussion gehört aber ebenso, daß die Landwirtschaft auch belastet ist durch Umweltverschmutzung industrieller Art,

(Frau Flinner [GRÜNE]: Das ist richtig!)

beispielsweise durch Schwefeldioxid, was einen erheblichen wirtschaftlichen Düngungsaufwand durch die Landwirte verursacht; beispielsweise durch die Schwermetalle, die nicht von der Landwirtschaft verursacht werden, sondern aus anderen Quellen kommen.
Wenn wir über Umweltbelastungen reden, beispielsweise über die in verschiedenen Beiträgen erwähnten Nitratbelastungen, gehört zur Diskussion, daß der weitaus größte Teil dieser Umweltbelastungen nicht aus der Landwirtschaft kommt. Sie ist an den Belastungen zwar beteiligt, aber gerade bei diesem Thema müssen wir akzeptieren, daß die stärkste Belastung unserer Gewässer mit Nährstoffen sozusagen namens des Umweltschutzes durch die kommunalen Kläranlagen erfolgt.
Ich will damit überhaupt nicht die Diskussion verniedlichen, die besonders in Gebieten mit durchlässigen, leichten Böden und hoher Veredelungskonzentration besteht. Aber wenn wir diese Diskussion glaubhaft führen wollen, muß sich der Staat, die öffentliche Gemeinschaft, in diesem Fall die Kommunen, erst einmal selbst in die Pflicht nehmen und dafür sorgen, daß die größte Quelle von Nährstoffbelastungen beseitigt wird.
Meine zweite grundsätzliche Bemerkung und Sorge ist immer wieder die Forderung nach Konkretisierung der Regelungen. Diese Forderung ist auch jetzt wieder von den Oppositionsrednern erhoben worden. Sie steht schon in Ihrer im übrigen verdienstvollen Anfrage; schon deshalb verdienstvoll, weil wir damit ein ausgezeichnetes Dokument durch die Antwort der Bundesregierung erhalten haben. Wer sie übrigens noch nicht gelesen haben sollte und mit Landwirtschaft und Umwelt zu tun hat, dem empfehle ich dringend, sie als Nachschlagewerk zurückzulegen. Es ist ein sehr lohnendes und sehr umfangreiches Dokument.
Sie haben also mehrfach gefordert, die Regeln der umweltverträglichen, ordnungsgemäßen Landwirtschaft rechtsverbindlich zu konkretisieren. Das läuft



Dr. Göhner
auf eine TA-Landwirtschaft hinaus. Ich habe große Sorgen, ob das jemals funktionsfähig wäre. Das würde eine Bürokratisierung zur Folge haben, bei der Sie für die unterschiedlichsten Bedingungen der Landwirtschaft, also nicht nur für die unterschiedlichsten Böden, sondern auch für die unterschiedlichsten Produktionsverfahren, Produktionsweisen und für die angebauten Produkte, allgemeine Regeln hätten, die Sie nicht handhaben können und die im übrigen eine irre Bürokratie verursachen. Das ist sozusagen die Vorstellung, daß Sie hinter jedem Düngerstreuer oder hinter jedem Güllefaß einen Beamten herlaufen lassen wollen, um genau zu kontrollieren, ob diese Regeln auch eingehalten werden.
Deshalb ist der Weg, den die Landwirtschaftsminister der Bundesländer eingeschlagen haben, der richtige mit den entsprechenden Empfehlungen.

(Stahl [Kempen] [SPD]: Herr Dr. Göhner, wer will das denn? Bauen Sie keine Türken auf!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121024600
Sind Sie bereit, eine Frage der Frau Abgeordneten Weyel zu beantworten?

Dr. Reinhard Göhner (CDU):
Rede ID: ID1121024700
Gerne.
Frau Weyel: Herr Göhner, es geht ja nicht darum, daß jede Handlung in jeder Einzelheit beschrieben wird. Aber denken Sie vor allen Dingen an den Aus- und Weiterbildungsbereich. Wir haben im Pflanzenschutzgesetz schon so etwas eingerichtet, daß nämlich der, der Pflanzenbehandlungsmittel benutzt, geschult sein muß, wie er sie benutzen soll. Eine Landwirtschaft der guten fachlichen Praxis kann so aussehen,

(Kalb [CDU/CSU]: Sie wissen ganz offenbar nicht über die Entwicklung Bescheid!)

daß man dann, wenn neue, verbesserte Verfahren kommen, tatsächlich sagt, das sollten nur die Leute benutzen, die damit vertraut sind und die das können. Das kann man doch in einem weiten Maße in die Ausbildung einbauen.

Dr. Reinhard Göhner (CDU):
Rede ID: ID1121024800
Frau Kollegin Weyel, völlig einverstanden! Vielleicht sollte ich Sie nicht nur zum Apfelessen in meinen Wahlkreis einladen, sondern auch zum Besuch der Landwirtschaftsschule und der höheren Landbauschule. Dort werden Sie finden, daß genau das praktiziert wird.

(Carstens [Nordstrand] [CDU/CSU]: Die haben gute Lehrer!)

Allerdings müßten Sie dann den Schülern dort sagen, daß das, was namens des Umweltschutzes zu Recht gelehrt wird — die Grundsätze des integrierten Pflanzenschutzes — von der Opposition exakt in Frage gestellt wird.

(Frau Weyel [SPD]: Das ist doch nicht wahr! — Stahl [Kempen] [SPD]: Wo ist das?)

— Lesen Sie es doch in den vorliegenden Entschließungsanträgen der GRÜNEN beispielsweise nach.
Lesen Sie aber auch Ihre eigene Anfrage nach; wenn
Sie schon die Antwort der Regierung nicht lesen, sollten Sie wenigstens Ihre Anfrage nachlesen.
Lassen Sie mich noch ein Wort zur Diskussion um das Naturschutzgesetz sagen. Herr Kollege Wernitz, Sie haben uns empfohlen, diesen Entwurf intensiv zu diskutieren. Herr von Geldern, der Staatssekretär, hat schon gesagt, der Entwurf sei — übrigens auch wegen der Verfahrensweise — unseriös. Sie als langjähriger Ausschußvorsitzender in diesem Hause wissen, daß man in den wenigen Sitzungswochen, die uns noch verbleiben, ein so umfangreiches Gesetzeswerk nicht beraten kann.
Aber das, was mich noch viel mehr stört, ist die Tatsache, daß Sie das Hauptproblem, das wir durch ein neues Naturschutzgesetz regeln müssen, einfach ignorieren, nämlich die Problematik, die sich daraus ergibt, daß wir in Naturschutzgebieten Landwirten erhöhte, über die allgemein geltenden Regeln der umweltverträglichen Landwirtschaft hinausgehende Anforderungen zumuten, so daß die Landwirte entschädigt werden müssen. Wenn wir an dieser Stelle sagen, das wollen wir gerade nicht regeln, aber wir wollen die Bedingungen der Landwirtschaft in solchen Naturschutzgebieten so weit verschärfen, daß Landwirtschaft dort — da hat der Staatssekretär völlig recht — faktisch nicht mehr möglich ist, dann ist das ein Beitrag zur Verhinderung von Naturschutzgebieten. Denn bei dieser Politik hätte doch jeder Landwirt Tinte gesoffen, der nicht zum Gegner von Naturschutz wird, weil Sie mit dem, was Sie vorhaben, einen Angriff auf seine Existenz planen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Eine letzte Bemerkung bezüglich der Problematik Landwirtschaft und Umwelt in der DDR. Ich habe mir dort einige große Schweinemastbetriebe angesehen. Ich glaube, daß hier nicht nur die schon angesprochene Verbindung von Pflanzen- und Tierproduktion wieder erforderlich ist, sondern mittelfristig schlicht und einfach auch die Schließung solcher Betriebe. So werden etwa in Orla in Thüringen bei 160 000, 170 000 Schweinemastplätzen täglich 6 000 Kubikmeter Gülle erzeugt und in Güllelagunen, in Gülleseen eingeleitet. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie aus Mastbetrieben Gülle in Bäche und Seen eingeleitet wurde.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Das wird doch auch bei uns gemacht!)

Das ist einer von zahlreichen Anschlägen auf die Gesundheit und auf die Umwelt. Leider bewahrheitet sich auch in der Landwirtschaft in der DDR, daß die Aussage richtig ist:

(Frau Flinner [GRÜNE]: Gehen Sie nach Forchheim! Da wird das auch gemacht!)

Je sozialistischer eine Gesellschaft und je staatlicher eine Wirtschaft, desto größer die Umweltverschmutzung.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121024900
Damit sind wir am Ende der Aussprache. Wir kommen zu den Entschließungsanträgen der Fraktion der GRÜNEN auf den Drucksa-



Vizepräsident Cronenberg
Chen 11/7088 und 11/7090. Es wird beantragt, diese Entschließungsanträge zu überweisen, und zwar zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und zur Mitberatung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Es ist so beschlossen.
Nun kommen wir zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 11/6555. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der GRÜNEN auf Drucksache 11/276 abzulehnen. Wer dieser Auschhußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Ich rufe nun Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiedereinführung des WeihnachtsFreibetrags
— Drucksache 11/5370 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuß)

— Drucksache 11/6263 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Meyer zu Bentrup Poß
b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/6264 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Roth (Gießen) Dr. Weng (Gerlingen)
Dr. Struck
Frau Vennegerts

(Erste Beratung 171. Sitzung)

Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Da sich kein Widerspruch erhebt, kann ich dies als beschlossen feststellen.
Meine Damen und Herren, dann möchte ich mit der Debatte beginnen. Das Wort hat der Abgeordnete Poß.

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1121025000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei dem heute zur Entscheidung anstehenden Gesetzentwurf der SPD-Fraktion geht es um die Korrektur eines besonders ungerechten Teils der Steuerreform 1990. Wir wollen nämlich die Streichung des Weihnachtsfreibetrags rückgängig machen.
Die Arbeitnehmer werden bei der Steuerreform in mehrfacher Weise benachteiligt. Die Tarifänderung mit der Senkung des Spitzensteuersatzes ist in erster Linie auf die Entlastung hoher und höchster Einkommen ausgerichtet. Die Arbeitnehmer mit normalem Einkommen mußten ihre Entlastung durch die 1989 erfolgte Erhöhung der Verbrauchsteuern bereits vorfinanzieren. Hinzu kommen die bekannten speziellen Steuererhöhungsmaßnahmen für Arbeitnehmer wie die höhere Besteuerung der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit, die Besteuerung der Belegschaftsrabatte, die Streichung des Essensfreibetrags und die Kürzung der Arbeitnehmersparzulage.

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Jetzt kommen wieder die alten Sachen!)

— Man kann die bekannten und richtigen Tatsachen nicht oft genug betonen, Herr Kollege Faltlhauser.

(Beifall bei der SPD)

Die Menschen haben ein kurzes Gedächtnis. Ich habe Verständnis dafür, daß Sie das gerne aus dem Gedächtnis der Menschen streichen wollen. Da können wir leider nicht mitmachen.
Besonders deutlich wird die arbeitnehmerfeindliche Steuerpolitik bei der Streichung des Arbeitnehmer- und des Weihnachtsfreibetrags. Die Streichung des Weihnachtsfreibetrags führt dazu, daß die Steuerbelastung des Weihnachtsgeldes auf neue Rekordhöhen ansteigt. So müssen z. B. Ledige mit einem Weihnachtsgeld von 2 400 DM eine Mehrbelastung von 147 DM hinnehmen. Für Verheiratete ohne Kinder mit einem Weihnachtsgeld von 3 600 DM ergibt sich eine Steuererhöhung von 150 DM. Verheiratete mit zwei Kindern müssen bei einem Weihnachtsgeld von 5 200 DM mehr Steuern in Höhe von 128 DM zahlen. Das sind die von der Bundesregierung vorgelegten Zahlen.

(Zuruf des Abg. Dr. Solms [FDP])

— Tut mir leid, das habe ich im Moment nicht vorrätig. Vielleicht kann der Staatssekretär Carstens auf diese Frage gleich eingehen.
Besonders schlimm trifft es die mitarbeitenden Ehefrauen, die nach Steuerklasse V besteuert werden. Hier ergibt sich z. B. bei einem Weihnachtsgeld von 1 300 DM eine Steuererhöhung von 146 DM und damit glatt eine Verdoppelung der bisherigen Steuerbelastung. Das heißt, die Arbeitnehmer werden ausgerechnet zu Weihnachten, Herr Solms, zur Finanzierung der Steuergeschenke für Spitzenverdiener zur Kasse gebeten.

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Unglaublich! — Hüser [GRÜNE]: Unverschämtheit!)

Diese ungerechte Steuerpolitik wollen wir korrigieren.

(Beifall bei der SPD)

Ein erster Schritt ist der heute zur Abstimmung anstehende Gesetzentwurf.
Nun behaupten die Mitglieder der Regierungskoalition immer wieder, der Weihnachtsfreibetrag sei überhaupt nicht gestrichen worden, sondern zusammen mit dem Arbeitnehmerfreibetrag in dem neuen Arbeitnehmerpauschbetrag aufgegangen.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Dies ist jedoch eindeutig falsch.


(Andres [SPD]: Täuschung!)





Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121025100
Herr Abgeordneter Jäger möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1121025200
Bitte, Herr Jäger. Vizepräsident Cronenberg: Bitte sehr.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1121025300
Herr Kollege Poß, können Sie mir einmal erklären, wie der Grundgedanke, den Sie mit Ihrem Gesetzentwurf verfolgen, mit der Ideologie vereinbar ist, der Sie z. B. bei den Kinderfreibeträgen folgen, wo Sie sagen, daß ein Freibetrag schon deswegen nicht in Frage komme, weil der Großverdiener von diesem Freibetrag einen wesentlich größeren Steuervorteil habe als der kleine Arbeitnehmer?

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1121025400
Von der Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrags, der zum Ausgleich einkommensspezifischer Nachteile — ich empfehle Ihnen die Lektüre des Beirates beim Bundesfinanzministerium zu diesem Punkt — geschaffen wurde, profitieren alle Arbeitnehmer. Die Wirkung des Kinderfreibetrages, so wie Sie das im Familienlastenausgleich regeln, ist so, daß in der Tat der Spitzenverdiener fast dreimal so stark entlastet wird wie der Normalverdiener, Herr Jäger.

(Uldall [CDU/CSU]: Wäre es nicht sinnvoll, jedem ein Weihnachtsgeld auszuzahlen?)

Nun behaupten die Mitglieder der Regierungskoalition immer wieder, der Weihnachtsfreibetrag — —

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121025500
Der Abgeordnete Jäger möchte nachhaken.

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1121025600
Auf die steuersystematische Frage können Sie vielleicht noch einmal in anderem Zusammenhang zurückkommen.
Es ist in der Tat so, daß jedenfalls Professor Spahn von der Uni Frankfurt diese Auffassung vor dem Beirat vertreten hat, daß man darauf verzichten könne. Aber ich erinnere daran — ich glaube, Sie waren sogar dabei, Herr Jäger — , was Professor Neumark und Professor Littmann in der Anhörung zum Steuerreformgesetz speziell zu dem Punkt gesagt haben. Ich will es mir ersparen, das hier weiter auszuführen.

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Da hat er nicht zugehört!)

Es ist eindeutig falsch, zu sagen, daß dieser Freibetrag in dem neuen Arbeitnehmerpauschbetrag aufgegangen sei. Schauen Sie sich einmal das von Ihnen verabschiedete Steuerreformgesetz an. In Art. 1 Nr. 20 steht:
In § 19 werden die Absätze 3 bis 5 aufgehoben.
Der Weihnachtsfreibetrag war bisher in § 19 Abs. 3 geregelt. Diese Vorschrift wurde mit dem Steuerreformgesetz aufgehoben. Ist das etwa keine Streichung?
Wenn der Werbungskostenpauschbetrag von bisher 564 DM auf 2 000 DM angehoben und in Arbeitnehmerpauschbetrag umbenannt wird, so ist dies nicht nur formal, sondern auch materiell-rechtlich etwas vollkommen anderes als der Weihnachtsfreibetrag. Durch den Arbeitnehmerpauschbetrag werden
Werbungskosten bis zur Höhe von 2 000 DM pauschal abgegolten. Ein Arbeitnehmer, dessen tatsächliche Werbungskosten 2 000 DM übersteigen, hat von dem Pauschbetrag nichts, weil er ohnehin seine höheren Werbungskosten geltend machen kann. Beim Weihnachtsfreibetrag, Herr Jäger, würde jeder Arbeitnehmer unabhängig von der Höhe seiner Werbungskosten entlastet werden.

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Genau!)

Für Arbeitnehmer, deren tatsächliche Werbungskosten mehr als 920 DM im Jahr betragen, bedeutet die Streichung von Weihnachts- und Arbeitnehmerfreibetrag auch bei der erhöhten Werbungskostenpauschale eine echte Mehrbelastung.

(Abg. Jäger [CDU/CSU] meldet sich erneut zu einer Zwischenfrage)

— Ich bitte um Entschuldigung. Ich möchte jetzt mit dem Text durchkommen. Vielleicht erledigt sich die Frage auch, wenn Sie meinen weiteren Ausführungen zuhören. Andernfalls können Sie sich ja noch einmal melden.
Der neue Arbeitnehmerpauschbetrag führt dazu, daß sich bei vielen Arbeitnehmern die Werbungskosten nur noch in geringerem Umfang oder überhaupt nicht mehr steuermindernd auswirken. Die Arbeitnehmer werden beim Lohnsteuerjahresausgleich oder bei der Einkommensteuerveranlagung nicht mehr so viel zurückerhalten wie bisher. Auch dies ist eine Folge der Steuerreform. Diese Belastung der Arbeitnehmer wird jedoch erst nach der Bundestagswahl spürbar.

(Uldall [CDU/CSU]: Sie zahlen weniger Steuern! Dann kriegen sie auch weniger erstattet, Herr Poß! Ist doch logisch!)

— Warten Sie ab, Herr Kollege!
Dagegen werden die Arbeitnehmer die Steuererhöhung durch die Streichung des Weihnachtsfreibetrags sofort bei der Auszahlung des Weihnachtsgeldes Ende dieses Jahres zu spüren bekommen. Die Arbeitnehmer werden dann erkennen, daß die Bundesregierung ihre Versprechungen gebrochen hat, der Weihnachtsfreibetrag werde nicht gestrichen.
Noch am 9. September 1987 hat der damalige Bundesfinanzminister Stoltenberg hier im Bundestag erklärt, daß der Arbeitnehmer- und der Weihnachtsfreibetrag durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geschützt seien. Die Gründe, die das Bundesverfassungsgericht als Rechtfertigung für den Arbeitnehmer- und Weihnachtsfreibetrag genannt hat, nämlich die zeitnahe Besteuerung der Arbeitnehmer und die geringeren steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer gegenüber den Unternehmen, bestehen nach wie vor.

(Dr. Solms [FDP]: Nein, Vollverzinsung!)

Inzwischen haben auch einzelne Kollegen aus der Unionsfraktion erkannt, daß die Streichung des Weihnachtsfreibetrags die Arbeitnehmer gegenüber den anderen Steuerpflichtigen benachteiligt und nicht gerechtfertigt werden kann. So haben letzter Tage die CDU-Sozialausschüsse die Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrags gefordert, vielleicht im Blick
16566 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 210. Sitzung. Bonn, Donnerstag. den 10. Mai 1990
Paß
auf die Landtagswahlen in Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen. Man muß sich nur einmal anschauen, was die Frau Süssmuth in diesen Tagen in Niedersachsen alles zum Familienlastenausgleich erzählt.

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Das ist aber platt!)

Auch die Bayerische Staatsregierung, Kollege Faltlhauser, Kollege Glos, fordert in ihrem Bayernmodell die Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrags,

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Schlechtes Gewissen! — Zurufe von der CDU/CSU)

wenn auch nur in Höhe von 480 DM. Meine Herren von der CSU — Damen sind nicht da —, erklären Sie uns doch bitte, warum Sie den Weihnachtsfreibetrag erst streichen und gleichzeitig seine Wiedereinführung für die nächste Legislaturperiode versprechen!

(Beifall bei der SPD)

Wenn es Ihnen mit der Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrages wirklich ernst sein sollte, dann stimmen Sie doch hier und heute unserem Gesetzentwurf zu!

(Beifall bei der SPD)

Ich fordere auch den Bundesfinanzminister Dr. Waigel nochmals auf, sich eindeutig zu der Forderung der Bayerischen Staatsregierung zu äußern. Dies ist eine Frage der Glaubwürdigkeit der Politik und der Moral. Wenn vor den anstehenden Landtagswahlen in Bayern der Parteivorsitzende der CSU die Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrags verspricht, während derselbe Mann als Bundesfinanzminister diese Forderung ablehnt,

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Das ist wahr!)

ist dies dann nicht eigentlich beschämend, Herr Staatssekretär?

(Zuruf von der SPD: So sind die von der CSU!)

Leider läßt sich der Bundesfinanzminister, wenn es um dieses Thema geht, regelmäßig durch seinen Staatssekretär vertreten. Herrn Dr. Waigel fällt es offensichtlich schwer, die Funktion des CSU-Vorsitzenden mit der des Bundesfinanzministers in Einklang zu bringen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Oder soll hier wieder einmal ganz bewußt versucht werden, die Öffentlichkeit in der Steuerpolitik zu täuschen? Darin haben Sie ja Erfahrung!

(Zuruf von der CDU/CSU: Ach, geh!)

Die Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrags ist als erster Schritt zur Korrektur der ungerechten Steuerreform auch und gerade im Hinblick auf die Vorgänge im Zusammenhang mit der deutschen Einheit richtig und wichtig. Die Nöte und Probleme der Menschen hier dürfen nicht in Vergessenheit geraten.

(Beifall bei der SPD)

Die soziale Gerechtigkeit darf nicht wegen der deutschen Einheit von der Tagesordnung der westdeutschen Politik verschwinden.

(Zurufe von der SPD: Im Gegenteil! — Das hat die nie interessiert!)

Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesfinanzminister, der Kollege Dr. Voss, hat vor kurzem erklärt, daß verfügbare Ressourcen zur Zeit vordringlich für Hilfen im Zusammenhang mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten eingesetzt werden sollten.

(Hört! Hört! bei der SPD)

Die Bundesregierung beabsichtige daher nicht, dem Deutschen Bundestag die Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrages vorzuschlagen. — Die Arbeitnehmer sind damit die ersten, denen die Bundesregierung finanzielle Lasten für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten aufbürdet.

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Oh, jetzt kommt wieder die Neidpolitik von Lafontaine! Die ist doppelbödig und hinterhältig!)

Gleichzeitig wurde aber von der Regierungskoalition gleichsam über Nacht mit der Abschaffung der Börsenumsatzsteuer, der Gesellschaftsteuer und der Wechselsteuer

(Zuruf von der SPD: Kommt alles den Arbeitnehmern zugute!)

ein neues Steuergeschenk für Kapitalanleger und Banken in Höhe von jährlich 1,6 Milliarden DM ab 1991 durchgesetzt.

(Hört! Hört! bei der SPD — Glos [CDU/CSU]: Sie vergleichen schon wieder Zwetschgen mit Birnen!)

Dies ist immerhin die Hälfte der Kosten für die Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrags. — Herr Glos, Sie oder Ihr Kollege Faltlhauser werden die Widersprüche innerhalb der CSU und innerhalb des Bundesfinanzministeriums gleich sicherlich auflösen können.

(Zurufe von der CDU/CSU)

— Die unangenehmen Sachen lassen Sie den Faltlhauser machen. So sind Sie.

(Kraus [CDU/CSU]: Er kann es! — Zuruf von den GRÜNEN: Er hat das dickste Fell!)

Die Regierungskoalition will auch an den angekündigten neuen Steuersenkungen für Unternehmen und Spitzenverdiener in einer Größenordnung von 25 Milliarden DM und mehr festhalten. Die ungerechte und unsoziale Steuerpolitik der letzten Jahre soll damit fortgesetzt werden.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Während für die Beseitigung des Weihnachtsgeldskandals im Hinblick auf die finanziellen Belastungen durch die DDR angeblich kein Geld vorhanden ist, will die Koalition fast zehnmal so teure Steuergeschenke an Spitzenverdiener und Großunternehmen verteilen. Ich fordere die Kollegen aus den Koalitions-



Poß
fraktionen auf, hier und heute zu erklären, wie sie ihre Versprechungen finanzieren wollen.

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Mehrwertsteuer! — Gegenruf des Abg. Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Das Gespenst geht um!)

Damit keine Mißverständnisse auftreten: Die Kosten für die Herstellung der deutschen Einheit können sozial gerecht finanziert werden. Wir haben hierzu unsere Vorschläge gemacht, nämlich vor allem Einsparungen im Verteidigungshaushalt, mittelfristig Umwidmung der Kosten der Teilung. Auch für die wichtigsten Korrekturen der ungerechten Politik der Bundesregierung, wie die Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrags, sind ausreichend Finanzierungsmöglichkeiten vorhanden.
Die Steuerschätzung der nächsten Woche wird zeigen, daß die Steuerbelastung der Arbeitnehmer weiter zunimmt und mit höheren Steuereinnahmen als bisher zu rechnen ist.

(Glos [CDU/CSU]: Weil die Einkommen steigen; das ist doch logisch!)

Die wichtigste steuerpolitische Aufgabe der nächsten Legislaturperiode wird sein, den sich abzeichnenden Anstieg der Steuerbelastung der Arbeitnehmer mit durchschnittlichem Einkommen zu verhindern. Die Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrags ist hierzu ein erster wesentlicher Schritt.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121025700
Herr Abgeordneter, Herr Jäger möchte noch einmal eine Zwischenfrage stellen.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1121025800
Herr Kollege Poß, nachdem Sie vom unsozialen Verhalten der Koalition gesprochen haben, muß ich Sie doch noch einmal fragen: Können Sie denn ernsthaft bestreiten, daß Ihr Antrag auf Wiedereinführung dieses Freibetrags dazu führt, daß z. B. ein Generaldirektor 53 % des Weihnachtsbetrags absetzen kann — der Freibetrag wird ja vom zu versteuernden Einkommen abgezogen — , während ein Kleinarbeiter 19 % dieses Freibetrags als Steuerentlastung hat? Das heißt, Sie schlagen ein Gesetz vor, das den Reichen begünstigt und den Kleinen weniger begünstigt.

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Heuchler!) Können Sie mir das widerlegen?


Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1121025900
Wenn das so wäre, Herr Jäger, dann dürften Sie ja nie z. B. für die Erhöhung des Kinderfreibetrags sein,

(Zuruf von der CDU/CSU: Nein, nein, nein; den können Sie damit nicht vergleichen!)

von dem — im Gegensatz zum Spitzensteuersatz — alle gleichermaßen profitieren. — Es ist übrigens das erste Mal, daß ich aus Ihren Reihen, Herr Jäger, höre, daß es Sie stört, wenn Generaldirektoren stärker entlastet werden.

(Jäger [CDU/CSU]: Ich möchte Ihre Erklärung haben!)

Das ist aber wohl nicht das Problem.
Das Problem ist vielmehr, daß Sie die Ungerechtigkeiten, die ich aufgezeigt habe, nicht korrigieren wollen. Warum ist denn Ihr sozialer Flügel jetzt für die Wiedereinführung, warum ist denn die CSU für die Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrags? Um den Generaldirektor zu entlasten oder um mehr Steuergerechtigkeit herzustellen?
Dagegen sehe ich keinen finanziellen Spielraum, Herr Jäger — dazu könnten Sie sich vielleicht äußern — , für die geplante Steuerentlastung für Spitzenverdiener und Großunternehmen.
Derartige Steuergeschenke sind auch sachlich nicht zu begründen. Die vielen wissenschaftlichen Untersuchungen der letzten Monate über die Höhe der Steuerbelastung im internationalen Vergleich unter Berücksichtigung der Bemessungsgrundlage haben gezeigt, daß ein pauschaler Entlastungsbedarf bei der Unternehmensbesteuerung nicht besteht. Das machen auch die neuesten Zahlen über die Entwicklung der Unternehmensgewinne und der Exporte deutlich. Hinzu kommen die neuen Perspektiven für die bundesdeutschen Unternehmen durch den Einigungsprozeß. Sie werden mittelfristig davon profitieren.
Jetzt wäre die Frage, Herr Jäger, wie Sie sich denn zu diesen Entlastungsabsichten äußern, von denen in der Tat der Generaldirektor mit dem Spitzeneinkommen überproportional begünstigt wird.

(Zustimmung der Abg. Frau Matthäus-Maier [SPD])

Sie sollten sich also nicht Argumente zusammenklauben, um Ihre unsoziale Steuerpolitik in diesem Parlament zu kaschieren.
Durch die Vorgänge in der DDR und in anderen osteuropäischen Ländern werden neue Absatzmärkte geschaffen. Die Bundesrepublik Deutschland wird als Brücke zu den osteuropäischen Ländern noch attraktiver werden. Die Unternehmen in der Bundesrepublik werden zumindest mittelfristig davon profitieren.

(Glos [CDU/CSU]: Das ist doch gut!)

— Natürlich, das stelle ich ja auch fest. Da sind wir doch einer Meinung. Oder nicht?
Dies wird auch dadurch gefördert, daß nach dem soeben vorgelegten Entwurf eines DDR-Investitionsgesetzes neue Steuervergünstigungen für bundesdeutsche Unternehmen bei Investitionen in der DDR im Volumen von 700 Millionen DM — mit steigender Tendenz in den nächsten Jahren — eingeführt werden sollen.

(Glos [CDU/CSU]: Noch ist nichts verabschiedet!)

— Das ist geplant! (Glos [CDU/CSU]: Sind Sie dagegen?)

— Nein, nein; ich beschreibe nur die Situation, Kollege Glos. Wir sind uns da in der Einschätzung weitgehend einig.
Wenn aber die Situation für die bundesdeutsche Wirtschaft, auch in der Erwartung, so erfreulich ist, dann fragt man sich doch, warum Sie angeblich aus Wettbewerbsgründen auf der Entlastung um 25 Mil-



Poß
harden DM und mehr in den nächsten Jahren bestehen. Oder haben Sie Ihre Absichten revidiert? Dann könnten Sie das heute hier erklären. Es ist ja möglich, daß ein Kollege von Ihnen etwas dazu sagt.
Wer bei dieser Leistungsfähigkeit noch Entlastungsbedarf sieht, gleichzeitig aber der Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrags widersprechen will, den kann also kein Mensch verstehen. Wer dennoch eine Steuersenkung für Unternehmen und für Spitzenverdiener im Volumen von 25 Milliarden DM will, muß entweder die Kreditaufnahme spürbar erhöhen, noch weiter in das soziale Netz der Bundesrepublik einschneiden oder die Finanzierung über eine Steuererhöhung an anderer Stelle, z. B. über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, vornehmen.

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Das haben die vor!)

Um die Größenordnung plastisch zu machen: Eine Unternehmenssteuersenkung von 25 Milliarden DM entspricht einer Mehrwertsteueranhebung um zwei bis drei Prozentpunkte.

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Von was reden Sie jetzt eigentlich?)

Ich fordere Sie daher auf: Verzichten Sie auf Ihre Pläne zur Steuersenkung für Spitzenverdiener und Großunternehmen,

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Davon reden wir doch heute gar nicht!)

die nur auf Kosten der breiten Masse der Bürger und Verbraucher finanziert werden können! Stimmen Sie unserem Antrag auf Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrags zu, der den notwendigen ersten Schritt zur Korrektur der unsozialen Schieflage der Steuerreform 1990 bedeutet! So kann auch die Steuerpolitik ihren Beitrag dazu leisten, daß die soziale Gerechtigkeit nicht unter die Räder kommt.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Wir werden ja jetzt alle Klarstellungen bekommen.

(Hüser [GRÜNE]: Weihnachten abschaffen!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121026000
Das Wort erteile ich dem Abgeordneten Dr. Faltlhauser.

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1121026100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist erstaunlich, was uns hier an Beweglichkeit geboten wird. Da beklagt sich der Kollege Poß wortgewandt, daß den Arbeitnehmern etwas ganz Ungerechtes zugemutet wird, nämlich dieser Arbeitnehmerpauschbetrag von 2 000 DM; der sei sozial ungerecht.
Es lohnt sich, den Bericht des Finanzausschusses zu diesem Gesetzeswerk nachzulesen. Da steht auf Seite 49 — ich zitiere nur zwei Sätze —, daß „die SPD-Fraktion diesen Pauschbetrag nicht für annehmbar hält", weil die Hälfte aller Arbeitnehmer weniger als 564 DM Werbungskosten geltend macht; dies bedeute für diese 13,8 Millionen Arbeitnehmer, daß für sie der Arbeitnehmerpauschbetrag eine neue Steuervergünstigung ist. Damals haben Sie beklagt, daß dieser große neue Arbeitnehmerfreibetrag von 2 000 DM den Arbeitnehmern 13,8 Millionen zusätzliches Geld bringt; und heute sagen Sie genau umgekehrt, daß dieser Arbeitnehmerfreibetrag den Arbeitnehmern nur schade.

(Dr. Solms [FDP]: Genauso ist es!)

Dann haben Sie ganz mühsam in den Zahlen der Beschlußempfehlung gekramt, um irgendwelche negativen Wirkungen des Wegfalls der 600 DM zu begründen. Da gibt es tatsächlich in einer Tabelle einen ganz schmalen Bereich in der Steuerklasse V. Da gibt es einige Zuzahlungen auf Grund der Progression, freilich nur im Dezember, also wenn die Leute ihr Weihnachtsgeld bekommen. Nicht beachtet sind dabei die übrigen Befreiungen durch die Steuerreform. Alle übrigen Tabellen, die sich ebenfalls in der Beschlußempfehlung finden, zitieren Sie nicht. Bei 98 % aller Fälle ist keinerlei negative Wirkung zu spüren. Sie greifen die 2 % heraus, um die Leute zu verdummen.

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Das ist doch dummes Zeug!)

— Liebe Frau Kollegin, die Jahre 1988 und 1989 waren es, die für Zahlenakrobaten in der Steuerpolitik bestimmt waren, draußen in politischen Sonntagsreden ebenso wie hierherin. Sie haben ständig irgendwelche Luftschlösser vorgerechnet, die in der Wirklichkeit nicht nachzuvollziehen waren.

(Abg. Frau Matthäus-Maier [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121026200
Herr Abgeordneter Dr. Faltlhauser, gestatten Sie?

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1121026300
Aber die Zeiten

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Aha!)

der theoretischen und mühsam konstruierten Zahlenbeispiele

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Jetzt kommt es!)

sind vorbei.

(Zurufe von der SPD: Nein!)

Wir sind im Jahr 1990; und in dem regiert die Realität. Die Bürger draußen müssen sich nicht mehr von Herrn Poß oder von Frau Matthäus-Maier — Sie hat es sicher soeben wieder vorgehabt — vorrechnen lassen, was ihnen angeblich vorenthalten wurde.

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Warum haben Sie Angst vor einer Zwischenfrage?)

Die Bürger spüren vielmehr selber seit der JanuarLohnabrechnung, daß diese Steuerreform der KohlRegierung eine große Reform ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das gilt nicht nur für die 45 Milliarden DM Gesamtentlastung, sondern jeder einzelne Arbeitnehmer spürt das in seinem Geldbeutel.

(Abg. Poß [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)




Dr. Faltlhauser
Der Herr Steinkühler und die Frau Wulf-Mathies brauchen mindestens drei Lohnrunden, .. .

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121026400
Herr Abgeordneter, darf ich klarstellen, generell lehnen Sie Zwischenfragen ab?

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1121026500
Ja.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121026600
Okay. Dann bitte ich, das zu respektieren.

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1121026700
. . .um den Arbeitnehmern so viel an Mehr in die Kasse zu ertrotzen, wie diese Steuerreform den Arbeitnehmern bringt.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Hört! Hört! — Poß [SPD]: Stimmen meine Zahlenbeispiele etwa nicht?)

Aber die SPD hat offenbar diese Realität, die jeder einzelne in seiner Tasche spürt, noch nicht mitbekommen

(Poß [SPD]: Stimmen meine Zahlenbeispiele nicht, Herr Faltlhauser?)

und rechnet weiterhin Schlachten nach, die sie schon längst verloren hat.

(Kraus [CDU/CSU]: Sehr war! — Poß [SPD]: Stimmen meine Zahlen nicht, Herr Faltlhauser?)

Ich sage Ihnen, Herr Poß: Die Bürger hören Ihnen gar nicht mehr zu, weil sie wissen, daß Ihre theoretischen Rechnungen nicht zutreffen.

(Hüser [GRÜNE]: Ihre Zahlen glauben die Ihnen schon lange nicht mehr!)

Ärgerlich ist es natürlich trotzdem, wenn Sie den Leuten zumindest verfälschende Zahlenspielchen vormachen.

(Poß [SPD]: Das sind Zahlen der Bundesregierung!)

Natürlich verliert derjenige, Herr Poß, der als Vater von zwei Kindern ein Monatsgehalt von 3 000 Mark hat — nehmen wir mal dieses Beispiel — , durch den Wegfall des Weihnachtsfreibetrages von 600 DM im Vergleich von 1989 zu 1990 progressionsbedingt 20 Mark von seinem Weihnachtsgeld. Der gleiche Mann hat aber im Weihnachtsmonat insgesamt immer noch 85 Mark Entlastung, und im gesamten Jahr hat er 1 234 Mark Entlastung. Das ist das Entscheidende! Das ist das, was die Leute spüren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich werde bei den Ausführungen der Opposition den Eindruck nicht los, daß Sie sich letztlich darüber ärgern, daß der Staat hier durch unsere Steuerreform auf Steuereinnahmen verzichtet.

(Poß [SPD]: Warum fordern Sie dann die Wiedereinführung des Freibetrages? — Weitere Zurufe von der SPD)

Sie wollen lieber den Leuten das Geld aus der Tasche nehmen, um es mit einer großzügigen Geste über den Verteilungstopf gönnerhaft wieder zurückzugeben.

(Poß [SPD]: Warum fordert die CDU die Wiedereinführung des Freibetrages?)

Ich lese gerade ein interessantes Buch. Da heißt es, meine Damen und Herren, auf Seite 386 — ich darf das mit Genehmigung des Präsidenten zitieren — :
Doch die SPD findet an dem Steuerthema nur wenig Gefallen. Das liegt sicherlich auch daran, daß Steuerpolitik kompliziert ist.
— Vielleicht ist's für die SPD auch diesmal ein bißchen zu kompliziert.
Hier kann man nicht einfach mit Schlagworten hantieren.

(Glos [CDU/CSU]: Das muß ein guter Mann geschrieben haben!)

Wesentlich aber ist wohl, daß viele Sozialdemokraten lieber Wohltaten verteilen: die Erhöhung des BAföG, bessere Renten, mehr Arbeitslosenhilfe, große Beschäftigungsprogramme zum Abbau der Arbeitslosigkeit, eine kräftige Erhöhung unserer Entwicklungshilfe. Sie haben unsere Steuerpolitiker im Verdacht, ihnen dafür die finanziellen Möglichkeiten nehmen zu wollen.
Der Mann hat recht, und er muß es wissen; denn der Schreiber ist der Herr Apel.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU — Uldall [CDU/CSU]: Das ist eine Überraschung! — Poß [SPD]: Aber er hat hier im Plenum etwas anderes erklärt, als er in dem Buch ausgeführt hat!)

Sein Buch ist eben gerade herausgekommen und im Buchhandel erhältlich für 39,80 DM inklusive persönlicher Widmung. Ich empfehle dieses Buch jedem, insbesondere denen, die den Herrn Vogel besonders mögen.

(Zurufe von der SPD)

Also Herr Apel bestätigt damit die Quintessenz Ihrer Opposition zur Steuerreform, die auch heute wieder deutlich wird: Sie wollen eigentlich mehr Steuern und nicht weniger!

(Poß [SPD]: Warum haben Sie denn Angst vor einer Zwischenfrage?)

Wir haben die Leute draußen von Steuern entlastet. Wir wollen weniger Steuern und weniger Staat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich doch — Herr Poß, damit Sie nicht so laut dazwischenschreien müssen — als CSU-Politiker einiges zum Vorschlag der Bayerischen Staatsregierung zur Wiedereinführung eines Arbeitnehmerfreibetrages sagen. Dann können Sie sich beruhigen und Ihre Stimme etwas schonen. Es gibt keinen Zweifel daran, daß die Arbeitnehmerpauschale von 2 000 Mark, die die 600 Mark eingebunden hat, einen Progressionseffekt im Weihnachtsmonat — in der Regel im Dezember oder November — auslöst. Deshalb hätte eine Vielzahl von Kollegen, die auch hier sitzen, eigentlich eine andere Regelung bevorzugt, nämlich eine Dreizehntelung. Das wäre systematisch vernünftig und nach unseren Vorstellungen auch gerecht gewesen. Diese Regelung ist damals an der Polemik der Medien und an der Polemik der Opposition gescheitert. Ich bedauere das. Auch die Bayerische Staatsre-



Dr. Faltlhauser
gierung begründet ihren Vorschlag ausdrücklich damit, daß diese Dreizehntelung nicht zum Zuge kam.

(Poß [SPD]: Da war der Apel schuld?!)

Die 480 DM zusätzlich zu den 2 000 DM Arbeitnehmerfreibetrag, wie sie die Bayerische Staatsregierung vorschlägt, wären ja durchaus diskutierbar. So was ist doch kein Glaubensdogma! Dieser Vorschlag wurde allerdings am 20. Juni 1989 gemacht. Das war also weit vor dem 9. November, dem historischen Datum. Heute ist dieser Vorschlag unter anderen Gesichtspunkten zu sehen. Die Verwirklichung des Vorschlages mit den 480 DM würde nämlich 2,8 Milliarden DM kosten.

(Poß [SPD]: Der Tandler hält an seinem Modell fest!)

Wir müssen die Wertigkeiten bei dem, was bedeutsam ist und was wir im Haushalt machen, neu gewichten. Wenn wir nicht alles neu auf die Waagschale legen, dann sind wir der historischen Situation nicht gerecht geworden.

(Beifall bei der CDU/CSU — Poß [SPD]: Was ist mit den Unternehmenssteuern?)

Deshalb sage ich heute in der Abwägung, daß eine Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrages — mit 480 DM oder 600 DM —, um die Progressionswirkung abzumindern, aus haushaltspolitischen Gründen nicht vertretbar ist. Das sage ich ausdrücklich auch als Bayer.
Ich bitte Sie von der Opposition aber, die ständig wiederholte Leier endlich einzustellen und sich mit uns gemeinsam zu überlegen, wie wir die Haushaltsprobleme in den nächsten Wochen und Monaten lösen können.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121026800
Das Wort hat der Abgeordnete Hüser.

Uwe Hüser (GRÜNE):
Rede ID: ID1121026900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie Sie wohl zugeben, diskutieren wir zu einer nicht gerade angemessenen Jahreszeit ein sehr weihnachtliches Thema. Wir können uns aber nicht immer die Zeit aussuchen, wann wir bestimmte Themen diskutieren. Die von der Regierungsmehrheit gewollte Steuerreform bewirkt, daß den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in gut einem halben Jahr eine Bescherung besonderer Art zugeteilt wird. Das Finanzamt wird — je nachdem — im November oder Dezember zuschlagen wie noch nie, zumindest was den Freibetrag betrifft.
Ungeachtet aller sonstigen fiskal- und verteilungspolitischen Argumente schicke ich vorweg, daß es aus unserer Sicht weder christlich noch mitmenschlich ist, gerade zu Weihnachten die Steuerbelastung in die Höhe steigen zu lassen. Die Steuerreform ist nämlich auch ohne die Streichung des Weihnachtsfreibetrages schon für die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abschreckend genug. Wir haben dieses Thema hier schon oft genug diskutiert. Ich möchte mich deswegen auf einige Argumente beschränken.
Zunächst kann man feststellen, daß die Bundesregierung das Geld zur Finanzierung ihrer Steuergeschenke allen Bürgerinnen und Bürgern schon vorneweg abgenommen hat. Denn obwohl gerade der Nettofinanzierungsteil des Bundes nur ungefähr 8 Milliarden DM beträgt, wurden die Verbraucherinnen und Verbraucher mit 11 Milliarden DM zur Kasse gebeten.

(Uldall [CDU/CSU]: Nennen Sie mir doch mal einen, der mehr Steuern zahlt!)

Bezeichnenderweise traten die Steuererhöhungen bereits ein Jahr vor den Senkungen in Kraft. Der Skandal ist hierbei, daß gerade jenes Drittel der Bevölkerung — Herr Uldall, da könnten Sie gut zuhören — , das von der Verbrauchssteuererhöhung betroffen ist, von Ihren Steuersenkungsplänen nämlich überhaupt nichts hat, sondern davon sehr negativ betroffen worden ist. Dieses Drittel ist nur von der Finanzierungsseite betroffen worden.
Die von Anfang an unübersehbare Umverteilung von unten nach oben wird durch diesen Akt augenfällig verstärkt. Ich erinnere auch daran, daß durch das Steuerreformgesetz 1990 die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fast zweieinhalb mal so stark belastet wurden wie die Unternehmer. 1% der Steuerentlastung wurde auf die 20 % der Bezieher der unteren Einkommen verteilt. Das oberste Fünftel der Einkommensbezieher hat 56 % der gesamten Entlastung bekommen. Das ist wahrlich keine soziale Großtat.
Die unsoziale Umverteilung wurde auch noch dadurch verstärkt, daß durch den Verzicht auf eine gerechte und umfassende Besteuerung von Kapitaleinkünften — die Diskussion um die Quellensteuer ist uns allen noch erinnerlich — , durch die Wiederausweitung des sogenannten Flickprivilegs und durch die Steuervorteile für die Beschäftigung von Haushaltshilfen, Gärtnern und Chauffeuren, um nur einige Punkte zu nennen, weitere Steuerverzichte in Milliardenhöhe zugunsten von Kapitalanlegern, Unternehmern und Gutbetuchten beschlossen wurden.
Schauen wir uns das Finanzvolumen an, um das wir uns heute streiten, dann müßten wir doch etwas stutzig werden. Nach ihren eigenen Angaben erwartet die Bundesregierung von der Streichung des Weihnachtsfreibetrags Steuermehreinnahmen von ungefähr 1 bis 1,2 Milliarden DM. Das ist genau die gleiche Summe, um die die Höchstverdiener durch Senkung des Spitzensteuersatzes entlastet werden. Zu diesem Steuergeschenk haben Sie, Herr Solms — Sie reden wohl noch nach mir —, damals gesagt, daß dies ja nun wirklich kein wesentlicher Betrag ist. Ich kann Ihnen, wenn man sich die Gesamtsumme ansieht, nur zustimmen. Aber wenn dies richtig ist, dann frage ich, warum die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wegen eines so unwesentlichen Betrages so schikaniert werden.
Übrigens ging es kürzlich auch in anderen Gesetzen um einen Steuerverzicht, der nur einen kleckerlichen Betrag ausmachte. Herr Poß hat vorhin schon davon gesprochen. Ich meine die Abschaffung der Börsenumsatzsteuer. Das war ein Steuerverzicht von ungefähr 1 Milliarde DM. Ich denke, dies zeigt sehr deutlich, in welche Richtung die Regierungspolitik geht.



Hüser
In der nächsten Legislaturperiode — auch das ist von Ihnen mehrfach angekündigt worden — , wird die Steuersenkungspolitik der Bundesregierung weiter betrieben, aber nicht zugunsten der weniger verdiendenden Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Wir werden vielmehr noch ganz andere Dimensionen beschreiten. Wenn es nach Ihnen geht, dann soll nämlich die Besteuerung der Unternehmen in einer Größenordnung von 20 bis 25 Milliarden DM gesenkt werden. Das ist ja ein Vielfaches von dem, worüber wir heute diskutieren, obwohl der Exportboom und auch explodierende Gewinne der Unternehmen dies wirklich überhaupt nicht notwendig erscheinen lassen.
Hinzu kommen die Milliarden DM, die uns die deutsche Einheit kosten wird und die uns diese auch kosten soll. Das sagen auch wir. Wir müssen dafür tief in die Tasche greifen, obwohl wir noch nie von der Bundesregierung wirklich gehört haben — wahrscheinlich werden wir es auch vor der Bundestagswahl nicht mehr beziffert bekommen — , wie hoch die Kosten denn nun wirklich sein werden.
Alles in allem — so wird uns auf jeden Fall von den offiziellen Kommuniqués immer wieder eingetrichtert — sind solche Steuererleichterungen auch für die Unternehmen aus wirtschaftlichem und steuerlichem Wachstum zu finanzieren. Wenn man diesen Erzählungen Ihrerseits Glauben schenken darf, so denke ich, taucht doch erst recht die Frage auf: Wieso ist denn bei einem solchen Wachstum und bei solchen wirklich riesigen Steuereinnahmen — wenn man den Vorberichten der Steuerschätzung glauben darf, wird das ja auch noch so weiter anhalten —, bei solchen Wirtschaftszahlen ein so lächerlicher Betrag wie 1 Milliarde DM für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nicht mehr zu finanzieren? Da kann mit einer soliden Haushaltslage, Herr Faltlhauser, denke ich, überhaupt nicht argumentiert werden.

(Poß [SPD]: Das ist ein Scheinargument!)

Die GRÜNEN werden deshalb dem Antrag der SPD auf Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrages zustimmen.
Vorhin kamen hier einige Zwischenfragen und auch Zwischenrufe. Ich denke, wenn wir uns jetzt erst einmal darüber einigen können, daß wir diesen Weihnachtsfreibetrag wieder einführen, können wir in einem zweiten Schritt sagen, daß wir dies dann so ändern, daß jeder Arbeitnehmer einen Freibetrag erhält oder eine Steuerschuld in Höhe von 200 DM als Festbetrag erlassen bekommt. Darüber, denke ich, könnten wir uns einigen. Über diesen Punkt — Herr Jäger ist nicht mehr da — brauchen wir uns, denke ich, überhaupt nicht zu streiten.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121027000
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1121027100
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Ich kann die Argumente, die zu dieser Steuerreform immer wiederholt werden, jetzt eigentlich nur noch schwer ertragen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Poß, wer ein bißchen volkswirtschaftlich denkt, muß doch einmal die Ergebnisse sehen. Wir haben Steuerentlastungen von nahezu 50 Milliarden DM, und diese sind im wesentlichen in den Kassen der Arbeitnehmer angekommen. Die Arbeitnehmer sind zufrieden darüber. Gleichzeitig hat sich die Finanzsituation der öffentlichen Haushalte dramatisch verbessert. Das zeigt eben, daß die Steuereinnahmen deshalb gestiegen sind, weil die Steuern im Tarif gesenkt worden sind. Denn dadurch ist die Leistungskraft der Wirtschaft und der Arbeitnehmer gesteigert worden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das Soziale an der Steuerreform ist nicht die kleinliche Rechnung von wegen dieses Freibetrages und jenes Freibetrages, sondern das Soziale ist, daß wir heute in der Bundesrepublik nahezu 28 Millionen Beschäftigte haben, mehr als je in ihrer Geschichte.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Hüser [GRÜNE]: Und eine Arbeitslosenzahl von zwei Millionen! Das interessiert die Arbeitslosen überhaupt nicht!)

Es geht der Wirtschaft besser als seit vielen Jahren, und gleichzeitig sind die öffentlichen Haushalte in Ordnung. Ein besseres ökonomisches Ergebnis kann man kaum erzielen. Das ist doch der Schwerpunkt. Lassen Sie uns über die wichtigen, die zentralen politischen Aufgaben streiten und nicht über die einzelnen Freibetragsregelungen, obwohl natürlich auch zu diesen viel zu sagen wäre.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121027200
Herr Dr. Solms, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Poß zuzulassen? — Bitte sehr, Herr Poß.

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1121027300
Herr Kollege Solms, Sie sind sicherlich bereit, uns zwar nicht an dieser Stelle, aber überhaupt die Rechnung aufzumachen, wie denn 50 Milliarden DM in den Taschen der Arbeitnehmer angekommen sind, wie Sie behauptet haben.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1121027400
Ich habe gesagt, die dreistufige Steuerreform hat nahezu 50 Milliarden DM bei den Steuerpflichtigen belassen. Wie Sie selbst wissen, Herr Kollege Poß, ist der Großteil in den Kassen der Arbeitnehmer geblieben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das zeigen nun einmal alle Berechnungen. Ich kann Ihnen das jetzt nicht nachweisen.
Ein gut Teil ist auch bei den Unternehmen geblieben. Das ist gut so, weil die Unternehmen das Geld benutzt haben, um mehr zu investieren, und weil sie mehr investiert haben, haben sie mehr Arbeitsplätze geschaffen. Genau diesen Prozeß müssen wir jetzt fortsetzen und dürfen ihn nicht zurückdrehen, denn wir haben die Aufgabe, den Wirtschaftsaufschwung oder die Wirtschaftsrevolution in der DDR zu bewerkstelligen. Das geht auch nur, indem unsere Unternehmen bereit sind, dort zu investieren. Dafür brauchen sie das Geld.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Poß [SPD]: Über die Rechnung werden wir uns noch unterhalten!)




Dr. Solms
Denken Sie doch einmal darüber nach, wie sich die öffentlichen Haushalte entwickelt haben. Die Nettoneuverschuldung im letzten Jahr ist bei den Gemeinden total ausgeblieben; sie haben sogar einen Positivfinanzierungssaldo von 2 Milliarden DM gehabt. Bei den Ländern und beim Bund hat sich die Nettoneuverschuldung halbiert — bei den Ländern auf etwas über 7 Milliarden DM und beim Bund auf etwas über 15 Milliarden DM.

(Poß [SPD]: Und weshalb?)

Das sind Zahlen, von denen wir vorher nur geträumt haben.

(Uldall [CDU/CSU]: Weil die Wirtschaft gut läuft!)

In diesem Jahr sind die Steuereinnahmen — das ist das allererstaunlichste — trotz der Steuersenkungen, trotz der Steuerreform absolut gestiegen — noch zusätzlich. Das heißt, die Steuerreform ist total durch die zusätzlichen Steuereinnahmen ausgeglichen worden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Poß [SPD]: Durch Wachstum und Inflation!)

Das ist ein ganz gewaltiger Prozeß, das ist ein ganz gewaltiges Ergebnis, mit dem wir uns wirklich sehen lassen können.
Es wäre falsch, diese Fragen jetzt nicht in den Vordergrund zu stellen und nun anzufangen, über die Steuerreform und ihren Sinn zu diskutieren und sie zum Teil zurückzunehmen.
Im übrigen bin ich davon überzeugt, Herr Poß — darüber haben wir ja schon öfter geredet; ich habe Ihnen einige Wetten angeboten — : Wenn Sie die Regierungsmehrheit hätten, würden Sie in jedem Fall den geradlinigen Tarif nicht revidieren;

(Glos [CDU/CSU]: So ist es!)

Sie würden ihn behalten, weil auch Sie erkannt haben, daß dies ein wirklich erstaunlich gutes Ergebnis ist, ein Ergebnis, das wir seit Jahrzehnten angestrebt haben und nun endlich erreicht haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, es ist ja so, daß der Wegfall des Weihnachtsfreibetrages und des Arbeitnehmerfreibetrages zwar formal und rechtlich — darin gebe ich Ihnen völlig recht — durch die neue Arbeitnehmerpauschale nicht ausgeglichen wird, aber im wirtschaftlichen Ergebnis wird der Wegfall ausgeglichen. Und das ist doch das, was die Menschen interessiert. Im übrigen ist das ein erheblicher Beitrag zur Steuervereinfachung; denn in 75 % der Fälle müssen sich die Arbeitnehmer nicht mehr mit ihren Finanzämtern um die Höhe und die Angemessenheit von Werbungskosten streiten, sondern sie können die Beamten mit ihren Anträgen verschonen, weil sie die Werbungskosten insoweit ohnehin anerkannt bekommen.
Zum Schluß möchte ich nur noch eine Bemerkung machen, und zwar zu der immer widersprüchlicher werdenden Politik oder den immer widersprüchlicher werdenden Aussagen der SPD im Zusammenhang — auch bezüglich der Steuerpolitik — mit der deutschen Einheit.
Die nordrhein-westfälische SPD wehrt sich strikt, Beiträge für die Finanzierung der deutschen Einheit zu leisten, weil sie meint, sie hätte dafür nicht die Finanzmasse zur Verfügung.

(Poß [SPD]: Auch das ist verkürzt wiedergegeben! — Zuruf von der SPD: Das ist nicht nur verkürzt wiedergegeben, sondern das ist falsch!)

Die SPD-Ost, von Ihnen, nämlich von der SPD im Westen, beraten — wie alle wissen — , stellt im Rahmen der Verwirklichung der deutschen Einheit Anträge auf unakzeptable Nachforderungen bei den Sozialausgaben, obwohl alle wissen, daß das Angebot der Bundesregierung äußerst großzügig ist und höhere Leistungen den Steuerzahlern in der Bundesrepublik nicht zuzumuten sind. Gleichzeitig fordern Sie, daß hier 3 Milliarden DM nolens volens schnell noch einmal verteilt werden, obwohl Sie wissen, daß die finanziellen Anspannungen in den nächsten Jahren eben auch uns durchaus beanspruchen werden, auch die hohe Leistungskraft der Bundesrepublik und der deutschen Wirtschaft beanspruchen werden.

(Poß [SPD]: Deshalb sind Sie für Unternehmensteuersenkung!)

Was wollen Sie? — Das ist die Frage. Was ist die Strategie der SPD in der Finanzpolitik in einem gesamten Deutschland? — Sie müssen sich irgendwann zu einer klaren Linie durchringen. Sie müssen eine klare Linie besetzen und auch erklären. Es kann nicht so sein, daß Herr Lafontaine als Kanzlerkandidat das eine sagt, die Finanzpolitiker hier etwas anderes sagen, daß in anderen Ländern etwas Drittes gesagt wird und schließlich die SPD in Ost-Berlin wieder eine andere Forderung aufstellt. Das wird bei dem Wähler nicht ankommen.

(Uldall [CDU/CSU]: Für jeden etwas!)

Sie haben sich ja vor dem Wähler zu rechtfertigen, nicht vor dem kleinen Kreis von Finanzpolitikern heute in diesem Saal. Ich bitte Sie sehr, hier doch für Klärung zu sorgen, damit wir uns dann im Wahlkampf ehrlich auseinandersetzen können.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Poß [SPD])


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121027500
Herr Abgeordneter, ich glaube nicht, daß Sie eine Antwort geben wollen. Ich nehme an, Sie wollen eine Frage stellen.

(Poß [SPD]: Ja ich möchte eine Frage stellen!)

— Dann bin ich beruhigt.

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1121027600
Herr Kollege Solms, sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß sich die Landesregierung Nordrhein-Westfalen im Vereinigungsprozeß voll zur Länderverantwortung bekannt hat, dies allerdings an gewisse Voraussetzungen geknüpft hat, und nur die Position, die der Bund bezogen hat — auf Vorschlag von Herrn Carstens — , natürlich negiert hat, und daß es im übrigen eine Deckungsgleichheit zwischen dem, was ich hier für die SPD-Bundestagsfraktion erklärt habe, und dem, was die SPD-geführte Landesregierung Nordrhein-Westfalen erklärt hat, gibt: Ver-



Poß
wendung der Steuermehreinnahmen, Kosten der Teilung, Umschichtung im Haushalt?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121027700
Also, Herr Abgeordneter Poß, ich glaube, das buchen wir einmal nicht unter einer Frage, sondern unter einer Kurzintervention.

(Walther [SPD]: Ja, Kurzintervention!)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1121027800
Herr Präsident, ich bin sehr dankbar für diese Intervention, weil Herr Poß in der Intervention gleichzeitig zum Ausdruck gebracht hat, daß er sich widerspricht. — Sie können nicht sagen, Sie sind solidarisch beim Beitrag für die Finanzierung der gesamtdeutschen Vereinigung, aber Sie lehnen das ab, was die Bundesregierung vorschlägt. Nun hat die Bundesregierung ja schließlich die Kompetenzen in der Verhandlung mit anderen Staaten, Vorschläge zu machen. Dem hat sich ein Bundesland anzupassen.

(Müntefering [SPD]: Zu wessen Lasten gehen denn die Vorschläge?)

Sie kann nicht sagen: Das finanzieren wir nicht. Wir sind zwar bereit, irgend etwas zu finanzieren, aber alles, was vorgeschlagen wird, finanzieren wir nicht. Das geht natürlich nicht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Poß [SPD]: Sie hat Prioritäten gesetzt, genau wie wir Prioritäten setzen! Bei uns gibt es keine Widersprüche bezüglich dieser Prioritäten!)

— Wir wollen die Diskussion beenden, das führt nicht weiter.

(Müntefering [SPD]: Die FDP hat keine Ministerpräsidenten! Die können gut reden!)

Ich sage nur: Die ökonomischen Auswirkungen unserer Finanzpolitik können sich sehen lassen. Ein besseres Ergebnis kann man in so wenigen Jahren gar nicht vorführen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121027900
Und nun hat der Abgeordnete Dr. Meyer zu Bentrup das Wort.

(Dr. Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: Ich verzichte!)

— Das ist nicht bis zum Präsidenten durchgekommen. Aber ich möchte nicht versäumen, mich im Namen des Hauses bei Ihnen zu bedanken!
So kann ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Carstens (Emstek) das Wort erteilen.

Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1121028000
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte damit beginnen, auch mit Blick auf vorher, vor allem von der Opposition gemachte Äußerungen, folgendes zu betonen: Im Vergleich zu unserer die Bürger schonenden Steuerpolitik hat die damalige SPD-geführte Bundesregierung die Steuerzahler geradezu geschröpft.

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU) Diese Aussage ist mit Sicherheit berechtigt.

Wir haben jetzt, im Jahre 1990, die niedrigste Steuerquote seit 30 Jahren. Diese Zahl besagt eigentlich alles.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Uldall [CDU/CSU]: Das ist eine Steuerbelastung wie zu Adenauers Zeiten!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121028100
Herr Staatssekretär, der Abgeordnete Poß möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. — Bitte sehr.

Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1121028200
Herr Kollege Carstens, sind Sie bereit, zu bestätigen, daß die Lohnsteuerquote seit der Wende kontinuierlich gestiegen ist: von 16,2 % 1982 bis zu dem Spitzenwert von 18,5 % im Jahre 1989?

(Uldall [CDU/CSU]: Das ist kein Maßstab! Das ist rechnerisch falsch!)


Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1121028300
Zunächst einmal möchte ich zum Ausdruck bringen, daß nach dem neuen Tarif 1990 etwa 500 000 Steuerzahler von gestern heute überhaupt keine Steuern mehr zahlen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Und wenn die Realeinkommen unserer Arbeitnehmer bei uns Gott sei Dank Jahr für Jahr steigen, dann steigt durch die Progression auch eine gewisse prozentuale steuerliche Belastung. Selbstverständlich. Aber wenn die Leute mehr verdienen und wir sie mit der niedrigsten Steuerquote seit 30 Jahren schonend behandeln, dann wollen wir das Geld, was dann an Steuern noch reinkommt, auch gerne annehmen.

(Poß [SPD]: Die steuerliche Belastung des Durchschnittsarbeiters ist gestiegen! — Uldall [CDU/CSU]: Die Lohnsteuerquote ist kein Maßstab!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121028400
Herr Abgeordneter Uldall, der Staatssekretär hat das Wort. — Bitte sehr.

(Uldall [CDU/CSU]: Ich möchte den Kollegen Poß nur von einem Irrglauben befreien!)

— Das können Sie an anderer Stelle austragen, aber bitte nicht jetzt und nicht hier. — Herr Staatssekretär, fahren Sie fort.

Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1121028500
Wir haben überhaupt keine Probleme, unsere Steuerpolitik in der Öffentlichkeit zu vertreten, da ja inzwischen alle Steuerzahler die Auswirkungen der dritten Entlastungsstufe im Januar 1990 auf ihrem eigenen Konto feststellen konnten. Das einzige, womit wir in öffentlichen Veranstaltungen noch zu kämpfen haben, ist die Frage: Weswegen verkauft ihr das nicht besser? In der Sache gibt es überhaupt keine Mängel, überhaupt keine Bemängelungen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Es wird lediglich die Frage gestellt: Weswegen kommt das eigentlich in der Öffentlichkeit nicht noch besser rüber? Die ständig wiederkehrende Behauptung, wir würden in absehbarer Zeit die Steuern erhöhen, muß ich ebenfalls erneut und ganz eindeutig zurückwei-



Parl. Staatssekretär Carstens
sen. Wir sind eben nicht eine Steuererhöhungspartei, sondern die letzten Jahre haben eindeutig bewiesen: Wir sind eine Steuersenkungspartei und -regierung. So wird es auch bleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir denken nicht an neue Steuererhöhungen. Dies ziehen wir überhaupt nicht in Betracht. Die Begründungen dafür waren eben sehr überzeugend; hierauf brauche ich also nicht weiter einzugehen.
Ich möchte die SPD noch auf einen Widerspruch in ihrer Argumentation hinweisen. Einerseits spricht sie von notwendigen Steuererhöhungen, aus welchen Gründen auch immer. Ich möchte eigentlich gerne einmal wissen, ob Sie überhaupt Steuererhöhungen wollen. Wenn Sie sie wollen, dann beantragen Sie sie doch!

(Poß [SPD]: Wer spricht denn hier von Steuererhöhungen?)

Auf der anderen Seite ist hier von einer Steuerentlastung in Höhe von 3 Milliarden DM die Rede. Sie sollten sich vorher überlegen, ob Sie Steuererhöhungen und Steuersenkungen beantragen wollen.
Wenn hier die Frage aufgeworfen wird, wer das denn eigentlich will, so verweise ich auf die vor einigen Wochen im Deutschen Bundestag geführte Debatte, in der es um den Nachtragshaushalt ging. Damals hat Frau Matthäus-Maier davon gesprochen, daß sie auf unserer Seite eine Steuererhöhung unterstelle. Das hörte sich so an, als ob sie es sich wünschte, um uns darüber in Schwierigkeiten bringen zu können.

(Beifall bei der CDU/CSU — Poß [SPD]: Wenn Sie nicht auf die Unternehmenssteuersenkung verzichten!)

Meine Damen und Herren, das eigentliche Thema heißt ja Weihnachtsfreibetrag.

(Walther [SPD]: Das ist wahr, Herr Staatssekretär!)

Wir haben die Thematik im Oktober 1989 umfassend und ausgiebig debattiert. Damals hat die SPD ihre Ausführungen unter das Motto gestellt: Wartet einmal ab; spätestens bis zur Bundestagswahl, spätestens bis zum Dezember 1990 wird die Bundesregierung die entsprechende Korrektur schon noch vornehmen. Meine Damen und Herren von der SPD, auf diesen Schritt warten Sie noch heute, und zwar vergebens, und dies zu Recht.

(Poß [SPD]: Sie haben doch 1989 die Verbrauchsteuern erhöht!)

Bundesminister Dr. Waigel hat sich bereits im vorigen Jahr klar gegen den von Ihnen unterbreiteten Vorschlag ausgesprochen. Wir fühlen uns auch durch die zwischenzeitlich eingetretenen Entwicklungen bestärkt und bestätigt. Nicht zuletzt fühlen wir uns dadurch bestärkt und in unserem Kurs bestätigt, daß wir nun vor Herausforderungen größeren Ausmaßes stehen. Wir haben den festen Willen, all dies zu schultern und zu bewältigen, ohne die Steuern zu erhöhen. Daher meine ich schon sagen zu dürfen, daß unser Kurs auch insoweit bestätigt wird.
Ich möchte betonen, daß die Bundesregierung in der Sache unverändert an ihrem Kurs festhält und daß hierfür folgende Überlegungen entscheidend sind. Der frühere Weihnachtsfreibetrag von 600 DM ist zusammen mit dem früheren Arbeitnehmerfreibetrag von 480 DM und mit dem früheren Werbungskostenpauschbetrag von 564 DM in dem neuen Arbeitnehmerpauschbetrag von 2 000 DM aufgegangen. Der neue Arbeitnehmerpauschbetrag ist um 356 DM höher als die Summe der früheren Pausch- und Freibeträge. Dies bedeutet, daß der neue Arbeitnehmerpauschbetrag von 2 000 DM in der großen Mehrzahl aller Fälle eine höhere Entlastungswirkung entfaltet als die früheren Pausch- und Freibeträge zusammen. Dies alleine zeigt schon, daß die Einbeziehung des Weihnachtsfreibetrages in den neuen Arbeitnehmerpauschbetrag gerade auch in sozialer Hinsicht gut gerechtfertigt werden kann. Davon, daß dies ungerecht sei, kann überhaupt keine Rede sein.
Die gefundene Regelung muß vor allen Dingen auch im Zusammenhang mit der Verwirklichung der weitgehenden Tarifsenkungen bei der Einkommen- und Lohnsteuer gesehen werden. Wir haben eine nachhaltige und dauerhafte Steuerentlastung insbesondere für die Arbeitnehmer und für Familien mit Kindern erreicht. Ihr Umfang wird deutlich, wenn man jene Zahlenvergleiche anstellt, die von einigen Kollegen aus der Koalition angestellt worden sind. Es ist ja überhaupt keine Seltenheit, daß sich jemand in einer Versammlung hinstellt und öffentlich erklärt, bei einem ganz normalen Einkommen habe er jetzt im Vergleich zu 1985 rund 2 000 DM netto mehr in der Tasche. Dies ist wirklich keine Seltenheit. Es sind auch, wie gesagt, 500 000 Steuerzahler von gestern steuerfrei gestellt worden. Was ist das für ein sozialer Schritt! Auch das muß in dem Zusammenhang berücksichtigt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121028600
Sind Sie bereit, eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Poß zu beantworten?

Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1121028700
Ich möchte jetzt den Rest ohne Zwischenfragen fortsetzen.
Drittens. Die Entlastungswirkungen der ab Januar dieses Jahres in Kraft gesetzten Maßnahmen gehen sehr weit, weiter als die meisten Bürger zur Zeit noch meinen, auch bezogen auf den Weihnachtsmonat. Betrachtet man die Gesamtsteuerbelastung im Weihnachtsmonat, also die Steuerbelastung des normalen Monatslohns und des Weihnachtsgeldes zusammen, so zeigt sich, daß diese in der weit überwiegenden Zahl aller Fälle in diesem Jahr 1990 geringer sein wird als im vergangenen Jahr. Das ist ein ganz entscheidender Punkt, und das werden die Steuerzahler im November/Dezember 1990 auch feststellen, wenn sie die Zahlenvergleiche anstellen. Nun kommt der Zusatz: In den wenigen Fällen, in denen die Steuerbelastung im Dezember dieses Jahres, also 1990,

(Poß [SPD]: Die Arbeitnehmerpauschale ist lediglich eine Erhöhung des Werbungskostenpauschbetrages! Das hat mit dem Weihnachtsfreibetrag nichts zu tun!)




Parl. Staatssekretär Carstens
höher sein wird als 1989, steht ihr ein Mehrfaches an Entlastung in den übrigen Monaten des Jahres gegenüber. Ein Mehrfaches!

(Poß [SPD]: Haben Sie die Verbrauchsteuern dazugerechnet?)

Unter dem Strich haben also alle Arbeitnehmer eine geringere Lohnsteuerbelastung als früher. Das kann zweifelsfrei festgestellt werden.

(Poß [SPD]: Das ist zweifelsfrei falsch! Die Zahlen sind anders!)

Entscheidend ist nicht allein die Steuerbelastung im Weihnachtsmonat, sondern natürlich die Steuerbelastung des Jahresarbeitslohns.

(Poß [SPD]: Hier wird mit getürkten Zahlen gearbeitet! Das ist aber typisch für diese Regierung!)

Es muß die Gesamtsteuerbelastung des Jahres gesehen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir vertrauen darauf und sind sicher — damit möchte ich meine Ausführungen beenden — , daß die Bürger, die diese Erfahrung über elf Monate des Jahres dann gemacht haben werden, bei Erhalt der Sonderzuwendung diesen Zusammenhang berücksichtigen, um die Einzelheiten wissen und erkennen, daß sie zusammengerechnet Ende 1990 erheblich weniger belastet sind, als das noch zu SPD-Zeiten der Fall gewesen wäre.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Poß [SPD]: Das ist falsch!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121028800
Da mir weitere Wortmeldungen nicht vorliegen, kann ich die Aussprache schließen.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Wiedereinführung des Weihnachts-Freibetrags. Es handelt sich um die Drucksachen 11/5370 und 11/6263. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/6263 die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion der SPD. Auch hier ist es ständige Praxis, daß wir über die Ursprungsvorlage abstimmen.
Ich rufe jetzt die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in der zweiten Beratung abgelehnt worden, und nach unserer Geschäftsordnung unterbleibt verständlicherweise die weitere Beratung.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 11 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Eid, Volmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Armutsbekämpfung in der Dritten Welt — Drucksache 11/6088 —
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP
Armutsbekämpfung in der Dritten Welt durch Hilfe zur Selbsthilfe
— Drucksache 11/6137 —
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 45 Minuten vor. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall.
Dann können wir mit der Debatte beginnen. Das Wort hat zunächst Frau Abgeordnete Eid.

Ursula Eid-Simon (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121028900
Herr Präsident, ich habe zehn Minuten Redezeit.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121029000
Das müssen wir mal überprüfen. Gibt es da eine Vereinbarung, Herr Abgeordneter Hüser? — Bei 45 Minuten ist Ihre Debattenzeit natürlich mit fünf Minuten richtig eingestellt. Ich weiß nicht, ob es eine Vereinbarung im Ältestenrat gibt.

(Hüser [GRÜNE]: Auf meinem Zettel steht „eine Runde " !)

Wenn das nicht der Fall ist, Frau Abgeordnete Eid, dann tut es mir leid.

Ursula Eid-Simon (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121029100
Es ist schade, wenn ich zehn Minuten reden wollte und jetzt feststellen muß, daß ich nur fünf Minuten reden kann.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121029200
Ich habe Verständnis für Ihr Problem; Sie haben sich ja anders vorbereitet. Ich lasse es einmal durch die Geschäftsführer klären und bin auch bereit, zunächst dem Abgeordneten Schreiber das Wort zu geben, wenn Sie wollen, damit wir Zeit für die Klärung gewinnen.
Herr Abgeordneter Schreiber, ich nehme an, daß Sie nichts dagegen haben, jetzt sofort das Wort zu ergreifen. — Sie haben das Wort.

Werner Schreiber (CDU):
Rede ID: ID1121029300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So kooperativ ist der Bundestag, daß wir selbstverständlich wechseln, aber natürlich nur im Sinne der Rednerliste, nicht im Sinne der Argumente und dessen, was wir miteinander zu diskutieren haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die armen Bevölkerungsschichten in den Entwicklungsländern stellen die Mehrheit der Menschheit. Dennoch werden sie von der internationalen Entwicklungspolitik bisher eher wie eine Randgruppe behandelt. So haben sich die meisten Entwicklungsprogramme bisher nicht direkt an die Armen gerichtet.
Dies verwundert im Grunde genommen, zumal die Bevölkerungsexplosion, die Umweltzerstörung und viele Konflikte in der Dritten Welt vor allem als Folge der Massenarmut gesehen werden müssen. Wenn unsere Entwicklungszusammenarbeit glaubwürdig bleiben will, muß sie daher Erfolge bei der Überwindung der Armut vorweisen können. Dies ist sicherlich zwischen den Entwicklungspolitikern unstrittig.
Unser Antrag, der heute zur Abstimmung vorliegt, versucht, aus drei Jahrzehnten Entwicklungszusammenarbeit die Konsequenzen zu ziehen:



Schreiber
Erstens. Massenarmut kann nur von innen heraus, also von den armen Bevölkerungsschichten selbst, nachhaltig bekämpft werden.
Zweitens. Dies ist möglich, denn die Armen sind selbsthilfefähig. Unabhängig davon, wie arm Männer und Frauen sind, sie sind immer in der Lage, für sich selbst aktiv zu werden. Es ist beeindruckend, welche Kreativität und Initiative sie entfalten, wenn sich ihnen Entwicklungschancen bieten, die durch die Entwicklungspolitik, aber auch durch die Rahmenbedingungen in ihrem Land bedingt und gesteuert sind. Die Armen brauchen also kein Wohlfahrtsprogramm und keine Sozialhilfe, sondern können sich durch eigene Leistung aus der Armut befreien.
Drittens. Die Gesellschaft muß ein Umfeld schaffen, in dem die einzelnen ihre Fähigkeiten im produktiven, kulturellen und politischen Bereich entwickeln und nutzen können. Dies ist oft — ich füge hinzu: leider — nur durch Druck von unten möglich, indem die Armen ihre Rechte als Staatsbürger geltend machen. Eine möglichst große Zahl von Menschen muß sich in selbstverwalteten Gruppen organisieren, Menschenrechte und Chancengleichheit einfordern. Ziel ist dabei die volle Beteiligung der Betroffenen an allen für sie wichtigen Entscheidungen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Armutsbekämpfung ist daher eine politische Aufgabe, und sie ist zugleich die zentrale Aufgabe unserer Entwicklungszusammenarbeit. Unsere Arbeit wird dieser Forderung nur gerecht, wenn sie die nachhaltige und umfassende Partizipation der Armen am Entwicklungsprozeß nachweislich fördert.
Ich füge hinzu: Vorsicht vor Etikettenschwindel! Zu viele Projekte haben bisher nur die relative Position der Eliten in den Entwicklungsländern verbessert. Was lediglich oben ansetzt, sickert nicht durch. Deswegen nutzen höhere Weltmarktpreise für Rohstoffe allein nichts — ich unterstreiche: allein nichts —,

(Frau Eid [GRÜNE]: Aber auch!)

solange sie von den Eliten abkassiert werden. Dies gilt auch für bessere Exportkonditionen oder mehr Entwicklungshilfetransfer. Deshalb sind die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen zwar wichtig — sie sind sehr wichtig; das ist keine Frage —, aber mindestens ebenso wichtig ist die Gestaltung der Rahmenbedingungen in den einzelnen Entwicklungsländern selbst.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Das ist wahr! — Frau Eid [GRÜNE]: Das haben wir nie bestritten!)

Ob sich daher die staatliche Entwicklungszusammenarbeit darauf beschränken kann, mittels ihres Hilfsangebots an die Lernfähigkeit und den guten Willen der meist wenig demokratisch legitimierten Regierungen zu appellieren, sie mögen doch ihre Macht und ihre Vorrechte freiwllig abgeben, bezweifle ich. Auch die staatlichen Programme und Projekte müssen daher nachweisen, daß sie die ärmeren Bevölkerungsgruppen zur nachhaltigen Selbsthilfe bringen und ihre Beteiligungsrechte fördern.
Staatliche und private Entwicklungsorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland haben sich auf ein sich gegenseitig ergänzendes Vorgehen in den Entwicklungsländern geeinigt. Wir erwarten, daß diese Komplementarität weiter vertieft wird. Wir haben in einer ganzen Serie von Gesprächen zwischen den Entwicklungspolitikern und mit den Kirchen diese Seite, die Kooperation und die Ergänzung der staatlichen und privaten Hilfe, miteinander diskutiert und diese Gedanken erörtert.
Mit dem Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten kommen neue Herausforderungen auf uns zu. Wir begrüßen, daß die Bevölkerung der DDR trotz gegenwärtig anderer Prioritäten an ihrem Engagement für die Dritte Welt festhält. Ich habe in den letzten Monaten viele beeindruckende Gespräche geführt, aus denen deutlich wurde, daß die Menschen trotz ihrer eigenen Problemlage die Solidarität mit den Menschen der Dritten Welt nach wie vor mit einer gewissen Priorität versehen. Die Menschen in der DDR können durch ihr überzeugendes und erfolgreiches „Wir sind das Volk" gerade zur Partizipation und Selbstorganisation in den Entwicklungsländern viel beitragen. Die Entwicklung in der DDR macht deutlich, daß ordnungspolitische Rahmenbedingungen, nämlich Soziale Marktwirtschaft und Demokratie, als die zwei Seiten der Medaille mit Namen „Entwicklung" zusammengehören.
Ein Satz zum Antrag der GRÜNEN.

(Frau Eid [GRÜNE]: Hervorragend ist er!)

Wir sind schon einiges von den GRÜNEN gewöhnt, Frau Kollegin Eid. Es ist dennoch erstaunlich, wie Sie es fertig brachten, zuerst unseren gemeinsamen Antrag mitzutragen, um dann kurz vor der Verabschiedung eine völlige Kehrtwendung zu vollziehen und in einem eigenen Antrag genau das Gegenteil zu behaupten, nämlich daß Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe angesichts anderer Schwerpunkte im Grunde belanglos ist.
Ihr Antrag geht von anderen Armutsursachen aus.

(Frau Eid [GRÜNE]: Von den Armutsursachen geht unser Antrag aus!)

Er schwächt unser Anliegen einer direkten Armutsbekämpfung durch Selbstorganisation und subsidiäre Hilfe. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.

(Frau Eid [GRÜNE]: Herr Kollege, das ist bedauerlich; denn er ist der beste!)

Meine Damen und Herren, die heutige Abstimmung über die Anträge setzt keinen Schlußpunkt. Im Gegenteil: Meine Fraktion wird die entwicklungspolitische Kernaufgabe „Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe" unvermindert weiter parlamentarisch begleiten. Wir werden dabei folgendes besonders aufmerksam verfolgen — ich sage das mit einem Blick auf die rechte Seite zu unserem Bundesminister — :
Erstens. Selbsthilfe ist kein Sonderprogramm, kein Reservat für Nichtregierungsorganisationen, keine angehängte Komponente, sondern Basis der Entwicklungszusammenarbeit. Wird dies — das werden wir auch in Zukunft fragen — in den künftigen Maßnahmen und Konzeptionen befolgt?
Zweitens. Konzentriert sich unsere Entwicklungszusammenarbeit auf die unteren 50 % der Einkom-



Schreiber
menspyramide der Menschen in den Entwicklungsländern? Findet dies seinen Niederschlag in den Projekten der Finanziellen und Technischen Zusammenarbeit?
Drittens. Werden zunehmend flexible Fonds zur angepaßten Förderung von Selbsthilfeprozessen und Mittel zu Versuchsprojekten in der Finanziellen Zusammenarbeit bereitgestellt?
Viertens. Wird der Dialog zwischen staatlichen und nicht staatlichen Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit, der durch die Entwicklungspolitische Sondereinheit des BMZ eingeleitet wurde, fortgeführt, und welche konkreten Verbesserungen bringt er?
Fünftens. Werden die Grundsätze einer Entwicklungspolitik für, mit und durch die Armen den Regierungen der Entwicklungsländer verdeutlicht und deren Priorität im Politikdialog vertreten?
Sechstens. Erhalten alle entwicklungspolitischen Entscheidungsträger auf allen Ebenen nach und nach die Chance einer persönlichen Erfahrung mit der Armut in der Dritten Welt, indem sie sich der Situation sozusagen persönlich aussetzen? Dazu gehört auch das von den GRÜNEN kritisierte Exposure-Programm.
Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, daß wir dem ersten Bericht der Bundesregierung über die Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe mit besonderer Erwartung entgegensehen.
Meine Damen und Herren, dieser Antrag belebt das zu oft mißbrauchte und abgenutzte Schlagwort von der Hilfe zur Selbsthilfe mit neuen konkreten Inhalten.
Die Initiative ist eine unserer Antworten auf die Klagen über die angeblich wirkungslose oder sogar tödliche Entwicklungshilfe. Sie ist ein Beitrag des Parlaments zu der in diesem Moment laufenden Eine-WeltKampagne. Unser Antrag baut auf den Beobachtungen und Erfahrungen der gemeinsamen Arbeitsgruppe „Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe" auf, auf der Anhörung, die wir 1988 durchführten, und auf der Analyse erfolgreicher Projekte. Ich erwähne nur die beeindruckende Leistung der Grameen-Bank und ihres Initiators, Professor Yunus. Die Frauen der Grameen-Bank, die zum ärmsten Bevölkerungsteil Bangladeschs gehörten, haben uns und einer wachsenden Zahl entwicklungspolitisch Interessierter bewiesen, daß jedem Menschen Selbsthilfe möglich ist, wenn ihm Vertrauen in seine Fähigkeiten geschenkt wird und Entfaltungsspielraum vorhanden ist.
Arbeiten wir daran, daß die Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe von unserer gesamten Gesellschaft als unsere gemeinsame Aufgabe für die 90er Jahre begriffen wird! Sie ist Hilfe, die ankommt. Deshalb werden wir sehr kritisch die Entwicklungspolitik betrachten im Hinblick darauf, ob dieser Ansatz, den wir für unverzichtbar halten, auch in unseren Projekten, in unserer Entwicklungspolitik nach wie vor sichtbar wird und ob dieser Antrag auch nach wie vor getragen wird.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1121029400
Frau Abgeordnete Eid, nunmehr haben Sie das Wort und die von Ihnen gewünschte Redezeit.

Ursula Eid-Simon (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1121029500
Herzlichen Dank, Herr Präsident.
Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Obwohl im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit angestrebt und auch versucht wurde, einen von allen Parteien getragenen Antrag in den Bundestag einzubringen, hat sich meine Fraktion nach sorgfältigster Überlegung entschlossen, einen eigenen Antrag vorzulegen; denn es wurde klar: Mit einem Antrag zur Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe wird ein neues, strategisch wichtiges Entwicklungskonzept von grundlegender Bedeutung und größter Reichweite vorgelegt, mit dem eine neue Weichenstellung der Entwicklungspolitik vorgenommen werden soll. Die Weichen sollen so gestellt werden, daß die Wirtschaftslage der unteren 50 % der Bevölkerung in der Dritten Welt durch Mobilisierung ihrer produktiven Fähigkeiten und ihrer Beteiligung am Entwicklungsprozeß nachhaltig verbessert wird.
Gegen diese Absicht als solche ist aus Sicht der GRÜNEN nichts einzuwenden. Allerdings — das ist unsere entscheidende Kritik — bürdet das Konzept der Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe die Hauptlast der Armutsbekämpfung und die Verantwortung für die Ursachen der Armut den verarmten Menschen auf. Die im Antrag von CDU/CSU, FDP und SPD in Nebensätzen enthaltenen Verweise auf die Hauptursachen der Verarmung und deren notwendige Veränderungen sind nicht akzeptabel.

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist eine krampfhafte Ausflucht!)

Wir wissen doch, daß die entscheidenden Ursachen der Armut — wie dies auch die kirchlichen Zentralstellen formuliert haben — in gesellschaftspolitischen sowie in nationalen und internationalen wirtschaftlichen Zusammenhängen gesucht werden müssen.
Wir wissen, daß seit Ausbruch der Schuldenkrise 1982 Armut und Not vieler Völker in der Dritten Welt wachsen. Das Krisenmanagement von IWF und Weltbank führte in vielen Ländern zu weiterer sozialer Verelendung. Wir wissen z. B., daß in Madagaskar 1985 Mütter ihre Kinder versteigert haben in der Hoffnung, sie auf diese Weise am Leben zu erhalten, nachdem das Land 1980 ein Abkommen mit dem IWF geschlossen hatte, das zu einer rapiden Verschlechterung der Lage der armen Bevölkerung führte.

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Aber die Programme sind doch verbessert worden!)

Allein der Verfall der Rohstoffpreise führte zwischen 1981 und 1986 für Schwarzafrika zu einem Einnahmeverlust von 100 Milliarden US-Dollar.
Die gegenwärtig verfolgte Integration der DritteWelt-Länder in den Weltmarkt und die von IWF und Weltbank verfolgte Strukturanpassungspolitik sowie die derzeit betriebene Handels- und Finanzpolitik setzen katastrophale globale Rahmenbedingungen. Dies



Frau Eid
wird seit langem auch in UN-Zusammenhängen wie z. B. der Ökonomischen Kommission für Afrika heftig kritisiert.
Die Anerkennung dieser Tatsachen soll von der Eigenverantwortung der Dritte-Welt-Länder keineswegs ablenken. Selbsthilfe und Partizipation der Bevölkerung können nur in demokratischen politischen Strukturen gedeihen. Freie Wahlen, Organisationsfreiheit und direkte Teilhabe der armen und verarmten Bevölkerungsmehrheit an Planung, Entscheidung und Umsetzung von Politik auf allen Ebenen sind notwendige Voraussetzungen für einen von der Mehrheit der Bevölkerung getragenen und ihr zugute kommenden Entwicklungsprozeß.
Daraus folgt, daß die Stoßrichtung der Armutsbekämpfung eine ganz andere sein muß als die, die hier in Ihrem Antrag vorgeschlagen wird. Die Stoßrichtung müßte sein:
Erstens. Umfassende Schuldenstreichung ist dringend geboten, um den Ländern der Dritten Welt eine Chance für eine wirtschaftliche Neuordnung zu geben; denn erst wenn die Last der Devisenerwirtschaftung durch Exportproduktion wegfällt, haben die betroffenen Länder die Möglichkeit zu einer selbstbestimmten, an den Bedürfnissen der Bevölkerung und am Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen orientierten Entwicklung.
Zweitens. Im Bereich der internationalen Handelsbeziehungen sind tiefgreifende Änderungen vorzunehmen. Nicht Liberalisierung zugunsten der starken Nationen, sondern stärkere Regulierung auf der Basis internationaler Abkommen ist gefordert; denn DritteWelt-Ländern, die extrem vom Export einiger weniger Rohstoffe abhängig sind, müssen aus einem zu schaffenden Fonds der Industrieländer finanzielle Hilfen zur Diversifizierung und strukturellen Veränderung ihrer Wirtschaft gegeben werden. Nur so können Rohstoffpreise auf lange Sicht stabilisiert werden.
Drittens. Angesichts der katastrophalen Auswirkungen der Strukturanpassungspolitik darf die Bundesrepublik ihre Politik nicht länger den entwicklungspolitischen Vorgaben von IWF und Weltbank unterwerfen.
Viertens. Armut muß selbstverständlich auch aktiv vor Ort bekämpft werden, und zwar durch Maßnahmen zum Abbau von Nahrungsmitteldefiziten, durch dauerhafte kleinbäuerliche Nahrungsmittelproduktion und ungehinderte Vermarktung der Produkte. Unverzichtbare Voraussetzung ist in vielen Ländern eine Landreform und die Beendigung der Zerstörung lokaler Märkte durch Nahrungsmittelhilfe, mit der die EG die Probleme ihrer Überschußproduktion löst.
Fünftens. Die Menschenrechte müssen gewahrt und die Entwicklung eines demokratischen Umfeldes muß unterstützt werden.
Sechstens. Maßnahmen zur sofortigen Beseitigung von Umweltzerstörung müssen getroffen werden.
Dies z. B. wären richtige Schritte auf dem Weg zur Armutsbekämpfung. Statt dessen bürdet der Antrag von CDU/CSU, FDP und SPD die gesamte Last den Armen, den Opfern dieser internationalen Verarmungspolitik, auf, und dies sind in der Mehrheit
Frauen. Selbsthilfeförderung als Strategie der Armutsbekämpfung durch die Armen selbst und als Krisenmanagement an der Basis zielt vor allem auf die Frauen ab. Die Frauen wurden in den letzten Jahren als unermüdliche Armutsbekämpferinnen entdeckt, schreibt Christa Wichterich. Sie sind
ebenso zuverlässig wie kreativ, Mitglied einer Selbsthilfegruppe im städtischen Slum oder einer Spargemeinschaft auf dem Land ... In der Tat sind es Frauen, die, durch wachsende Verelendung gezwungen, der Entwicklungspolitik das neue Stichwort der Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe lieferten, indem sie kollektiv ihr Leben organisierten.
Auch Claudia von Braunmühl schreibt im Informationsdienst des Deutschen Frauenrates, daß es vor allem die Frauen sind, denen die Last der Überlebenssicherung ganz konkret von morgens bis abends überantwortet wird. Sie rackern sich ab, um ihre Kinder satt zu kriegen, sie pflegen die Kranken in der Familie, sie marschieren kilometerweit, um Wasser herbeizutragen, sie helfen, Gemeinschaftshäuser zu errichten, und vieles mehr. Sie fangen durch ihre Arbeit all das auf, was ehedem an materieller und sozialer Infrastruktur durch staatliche Leistungen bereitgestellt wurde. Das heißt dann zynischerweise Selbsthilfe.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Renger)

Gleichzeitig stellt Claudia von Braunmühl meines Erachtens zu Recht klar, daß Armutsbekämpfung und Überlebenssicherung, selbst wenn sie heute die zentralen Begriffe der öffentlich geführten entwicklungspolitischen Diskussion sind, nichts, aber auch gar nichts mit Entwicklung zu tun haben. Im Gegenteil: Nach drei Entwicklungsjahrzehnten und Ausgaben in Milliardenhöhe für Entwicklungshilfe steht am Ende die Armutsbekämpfung; fürwahr: eine epochale Kapitulationserklärung!
Entwicklung hat mit Befriedigung von Grundbedürfnissen, mit Entfaltung von Lebenskräften und mit verantwortlichem Gestalten von Lebensverhältnissen zu tun. Über die Selbstorganisation des Elends soll sie ja gerade hinausführen.
Aus diesem Grunde bin ich zutiefst überzeugt, daß nur der Antrag der GRÜNEN den derzeitigen entwicklungspolitischen Herausforderungen wirklich Rechnung trägt. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Unterstützung für unseren Antrag.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Sie meinen, daß Sie im Alleinbesitz der Wahrheit sind!)

— Nein, ich finde aber, daß es um den Wettbewerb der besten Ideen geht. Ich meine, unsere Idee ist in diesem Fall die beste.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121029600
Das Wort hat Frau Abgeordnete Folz-Steinacker.

Sigrid Folz-Steinacker (FDP):
Rede ID: ID1121029700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zuerst darf ich einmal ganz herzlich meine Kinder begrüßen — zwei sitzen



Frau Folz-Steinacker
da oben auf der Tribüne — und dann meine Patenkinder: Hallo.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU — Bindig [SPD]: Die Meldung war zwar richtig, aber für die Debatte weniger wichtig!)

Liebe Frau Kollegin Eid, da Sie zutiefst enttäuscht sind,

(Frau Eid [GRÜNE]: Jawohl!)

bin ich nun aber auch enttäuscht. Denn es war wohl Tatsache, daß Sie unserem gemeinsamen Antrag sehr zugetan waren und ihm am Anfang auch zugestimmt haben.

(Frau Eid [GRÜNE]: Nein! Das ist doch Quatsch!)

Meine Damen und Herren, angesichts der historischen Ereignisse eines sich vereinigenden Deutschlands und der Chancen für die Gestaltung der Zukunft Europas dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, daß Massenarmut, Bevölkerungswachstum, unzureichende Bildung sowie eine zunehmende Bedrohung und Zerstörung der Umwelt die heutige Situation in ganz großen Teilen der Welt kennzeichnen.

(Beifall bei der FDP)

Nach einer Schätzung der Weltbank aus dem Jahre 1988 leben inzwischen fast eine Milliarde Menschen in absoluter Armut. Die Zahl der Armen wächst trotz einer seit mehr als dreißig Jahren geleisteten internationalen Entwicklungshilfe immer noch. In vielen Ländern der sogenannten Dritten Welt haben wir es dabei mit den Wechselwirkungen im Teufelskreis von Armut zu tun: hohes Bevölkerungswachstum, vermehrter Druck auf die natürlichen Ressourcen, Umweltzerstörung, verschärfte Armut. Unsere Aufgabe, meine Damen und Herren, muß es daher sein, diesen verderblichen Kreislauf möglichst an vielen Stellen gleichzeitig aufzubrechen und die Entwicklungsländer bei der Sicherung einer auf Dauer tragfähigen Entwicklung nachhaltig zu unterstützen.

(Beifall bei der FDP)

Die Bekämpfung der Armut muß sich dabei gegen deren eigentliche Ursachen richten, d. h. vor allem gegen das enorme Bevölkerungswachstum sowie gegen eine unangemessene Struktur- und Sozialpolitik in einer Vielzahl von Entwicklungsländern. Notwendig sind wirtschaftliche und entwicklungspolitische Strategien, die vor allem folgende Ziele und Erfordernisse miteinander verbinden: einmal die Förderung eines nachhaltigen nichtinflationären Wirtschaftswachstums, zum zweiten die Befähigung aller Menschen zu einer breiteren Beteiligung an den Produktionsprozessen und sozial gerechtere Verteilung des hieraus erwachsenden Nutzens, zum dritten die Sicherung einer dauerhaften, ökologisch tragfähigen Entwicklung und natürlich die Reduzierung des enormen Bevölkerungswachstums in solchen Ländern, wo dieses Wachstum eine nachhaltige Entwicklung verhindert.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Holtz [SPD])

Der Aktivierung von Eigeninitiative und Selbsthilfe kommt in diesem Zusammenhang natürlich eine ganz entscheidende Bedeutung zu. Dauerhafte Erfolge einer Selbsthilfeförderung lassen sich nur unter politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erzielen, die eine Partizipation und Entfaltung breiter Bevölkerungsschichten sowie den Aufbau demokratischer Strukturen ermöglichen.

(Frau Eid [GRÜNE]: Da hast du recht!)

Es sollten daher künftig insbesondere jene Entwicklungsländer, welche die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Entwicklung und Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen an gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen und die Freiraum für privatwirtschaftliche Initiative in einer sozial und ökologisch verpflichteten marktwirtschaftlichen Ordnung schaffen, bevorzugt unterstützt werden, Frau Kollegin. Bei aller Bedeutung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der Zwänge, die sich aus den äußerst schwierigen Verhältnissen und ungünstigen sozioökonomischen Voraussetzungen für die meisten Entwicklungsländer ergeben: Die Verantwortung dafür, daß es zu einer umfassenden Entfaltung der Selbsthilfekräfte kommt und Eigeninitiative zu einem bestimmenden Faktor der Entwicklungspolitik wird, liegt weitgehend bei den Ländern der Dritten Welt selbst. Die Konzentration auf die eigenen Kräfte und Fähigkeiten ist der eigentliche Entwicklungsmotor und muß es auch sein, denke ich.

(Dr. Holtz [SPD]: Arbeite nicht soviel!) — Ich muß leider abkürzen.

Die Förderung von Privatinitiativen und der schrittweise Abbau direkter Abhängigkeiten vom Staat sind gleichzeitig ein ganz wesentlicher Beitrag für eine eigenständige wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung. Die Förderung sollte vor allem darauf zielen, Selbsthilfestrukturen zu stärken, Selbsthilfeansätze zur Entwicklung ländlicher Räume zu unterstützen, kleinbäuerliche Landwirtschaft, Handwerk und natürlich auch das Kleingewerbe zu fördern.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dabei gilt es, die vorhandene Bereitschaft und die Fähigkeiten zur Selbstorganisation und eben auch zur gemeinsamen Problemlösung zu unterstützen.
Im Interesse dieser Zielsetzungen ist die staatliche Entwicklungszusammenarbeit zugunsten des privaten Sektors unter Nutzung aller Formen und natürlich Instrumente privatwirtschaftlicher Zusammenarbeit umzustrukturieren.
Darüber hinaus, meine Damen und Herren, muß Bevölkerungspolitik künftig ein wesentlicher Schwerpunkt der Entwicklungszusammenarbeit sein, da Bevölkerungswachstum eine entscheidende Ursache für zunehmende Armut und Umweltzerstörung in vielen Ländern der Dritten Welt ist.

(Frau Eid [GRÜNE]: Da stimmen wir eben nicht überein, liebe Sigrid!)

— Etwas darf ich nicht vergessen — entschuldige, ich muß abkürzen — : Ebenfalls muß — und das ist wieder in deinem Sinne — die zentrale Rolle der Frau im Entwicklungsprozeß ganz besonders beachtet wer-



Frau Folz-Steinacker
den. — Leider muß ich meine Ausführungen bezüglich der Frauen etwas kürzen.
Die Bemühungen der Entwicklungsländer um einen eigendynamischen Entwicklungsprozeß und eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit sind durch den weltweiten Abbau von Handelshemmnissen und Wettbewerbsbeschränkungen und hier insbesondere wieder durch den Verzicht auf protektionistische Maßnahmen nachhaltig zu unterstützen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ferner, meine Damen und Herren, sind die internationalen Anstrengungen zur Lösung der weltweiten Verschuldungsprobleme verstärkt fortzusetzen. In diesem Zusammenhang möchte ich die gerade erfolgte 50%ige Kapitalaufstockung beim Internationalen Währungsfonds doch noch einmal ganz ausdrücklich begrüßen.

(Dr. Holtz [SPD]: Das sind Kredite; die erhöhen die Schuldenlast!)

Stabilisierungsbemühungen der betroffenen Länder, insbesondere eine stabilitätsorientierte Finanz- und marktorientierte Wirtschaftspolitik im Rahmen der erforderlichen Strukturanpassung, sind dabei ein unverzichtbarer Bestandteil von Entschuldungsmaßnahmen.
Ich denke, unser gemeinsamer Antrag — es ist ein gemeinsamer Antrag — ist Ausdruck der Entschlossenheit — und wir sind entschlossen —, Armutsbekämpfung in der Dritten Welt durch Hilfe zur Selbsthilfe in den Mittelpunkt aller entwicklungspolitischen Bemühungen zu stellen.

(Frau Eid [GRÜNE]: Das ist eben ein falscher Punkt!)

Der untrennbare Zusammenhang zwischen der Achtung der Menschenrechte, der Nichtdiskriminierung, der Demokratie und der auf privater Initiative beruhenden sozialen und ökologischen Marktwirtschaft muß dabei Grundlage für die Verwirklichung wirtschaftlicher Entwicklung und eben auch sozialer Gerechtigkeit sein.
Gemeinsames Handeln ist gefordert, um „eine Welt für alle" zu schaffen, in der menschliche Würde nicht mehr von Hunger und Armut verletzt wird.
Liebe Uschi, wir hatten heute nachmittag eine Aktuelle Stunde über Äthiopien. Da waren wir uns alle einig.

(Frau Eid [GRÜNE]: Da warst du gar nicht da!)

— Ich war da — und wie!
Im Namen der FDP-Bundestagsfraktion bitte ich um Zustimmung zu dem vorliegenden Antrag.
Danke.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121029800
Das Wort hat der Abgeordnete Schanz.

Dieter Schanz (SPD):
Rede ID: ID1121029900
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der fast interfraktionell, durch
CDU/CSU, SPD und FDP, zustande gekommene Antrag wird von meiner Fraktion voll getragen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Frau Eid, beim Thema Armutsbekämpfung insbesondere in der Dritten Welt ist die Tatsache, daß sich die im Streit liegenden Parteien bei solchen Themen zusammenfinden, schon ein Wert an sich. Dann könnte man über die eine oder andere unterschiedliche politische Position hinwegsehen, weil das ein Signal in Richtung Menschen in der Dritten Welt ist.
Die Armutsbekämpfung in diesem Sinne als vordringliche Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit zu bezeichnen ist richtig. Diesen Weg als Königsweg zu nennen liegt mir natürlich fern. Erfolg und Mißerfolg dieses neuen Instrumentes hängen auch von den Rahmenbedingungen ab, die der Staat, die Staaten, für eine gedeihliche Selbsthilfe zu setzen bereit sind. Die Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe darf sich nicht allein oder vornehmlich auf den individualistischen Begriff der Hilfe zur Selbsthilfe reduzieren. Neben der Reaktivierung der Eigenkräfte ist die Einbindung der Selbsthilfeprozesse breitenwirksam zu gestalten. Organisationen des formalen Sektors, z. B. Genossenschaften, Gewerkschaften, Parteien, Handwerks- oder Handelskammern sowie Einrichtungen der Aus- und Fortbildung müssen zur Bekämpfung der Armut einbezogen und gestärkt werden.
Aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung ist auch ablesbar, welche kollektiven Anstrengungen — organisierter Kampf beispielsweise — nötig sind, um Chancengleichheit, Entwicklung gegen verkrustete Herrschaftsstrukturen und im Kampf gegen Privilegieninhaber durchzusetzen. Es müssen also politische und gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, die individuelle und kollektive Selbsthilfeinstrumentarien erst ermöglichen.
Auch andere Bedingungen, z. B. weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen, von denen hier immer die Rede ist — die Terms of trade, Verschuldungsproblematik etc. — , dürfen heute und bei dieser Debatte überhaupt nicht außer acht gelassen werden. Nach meiner Überzeugung sind alle Instrumentarien der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, so gut sie sein mögen oder gemeint sein mögen, ergebnis- und erfolglos, wenn diesen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen unter dem Gesichtspunkt einer gerechten Weltwirtschaftsordnung nicht entgegengewirkt wird.

(Dr. Holtz [SPD]: Richtig!)

Wir Entwicklungspolitiker sollten uns auch davor hüten, diese Instrumentarien wie Evangelien vor uns herzutragen und vorzubeten und glauben zu machen, wir könnten die Nord-Süd-Problematik, den -Konflikt — besser gesagt — im umfassenden Sinn lösen. Diese Betrachtungsweise ist nach meinem Verständnis von Grund auf unpolitisch und geht auch an der Bewußtseinslage breiter Bevölkerungsschichten in unseren Ländern vorbei. Das heißt: Alle diese wohlgemeinten Instrumentarien der Zusammenarbeit im bilateralen Verhältnis zwischen Nehmer- und Geberländern,



Schanz
aber auch im multilateralen Sinne dürfen nicht an den Egoismen der Menschen in den Geber- oder Nehmerländern scheitern, sondern erfordern explizit internationale Solidarität.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Frau Folz-Steinacker [FDP])

Es sind also weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen zu fordern bzw. zu gestalten, die wirklich gerecht sind. Der Abbau von Handelsschranken, der Abbau der Diskriminierung von Exporten der Entwicklungsländer, die Entschuldung der Dritte-Welt-Länder von Fall zu Fall und eine gerechte Fiskalpolitik, die Überschuldung und Verschuldung schon im Ansatz vermeidet, sind wichtiger und hilfreicher als alle noch so gutgemeinten Reparationsinstrumentarien. Hierzu gehört für die Bundesrepublik Deutschland und für alle EG-Mitgliedstaaten vor allem schon eine ökologisch und ökonomisch vernünftige und gerechte Agrarpolitik,

(Frau Eid [GRÜNE]: So ist es!) welche Überschüsse vermeidet


(Frau Eid [GRÜNE]: Jawohl!)

und Überschüsse nicht als Exportminen gegen Entwicklungsländer einsetzt. Jede Tonne Weizen, meine Damen und Herren, jede Tonne Fleisch, die bei uns subventioniert, in Dritte-Welt-Ländern oder in Schwellenländern abgesetzt wird, zerstört dort bäuerliche Existenzen und vernichtet positive Ansätze der Hilfe zur Selbsthilfe.

(Frau Eid [GRÜNE]: Ja!)

Damit die benachteiligten Völker ihre Situation erst erkennen und daraus ableiten können, welche Hilfsmöglichkeiten sie haben oder einfordern dürfen, müssen Bildung und Ausbildung im Vordergrund aller Bemühungen stehen. Nur der wissende Mensch weiß um seine Benachteiligung, weiß, warum er benachteiligt ist. Nicht zuletzt paßt hier der Begriff „Wissen ist Macht" in die politische Auseinandersetzung.
In der logischen Konsequenz meiner Ausführungen ist festzuhalten, daß ein wesentlicher Bestandteil eines auf Selbsthilfe beruhenden Entwicklungsprozesses die Beteiligung ist. Die Politik zur Förderung von Selbsthilfe muß auch eine Politik zur Förderung von innen getragener gesellschaftlicher Prozesse sein. Die Geberländer haben über den Politikdialog auf solche Prozesse hinzuwirken. Die Selbsthilfepolitik muß auf Beteiligung der Mehrheit der Bevölkerung am politischen Leben aufbauen.

(Frau Eid [GRÜNE]: So ist es!)

Insofern ist diese Politik auch Einmischung. Das hat mit Paternalismus überhaupt nichts zu tun.
Die Politik der Bundesrepublik auf diesem Feld muß also über Parteinahme für die ärmeren Bevölkerungsschichten deutlich machen, daß unsere Bemühungen nicht zur Stabilisierung maroder Herrschaftsstrukturen führen, nicht Eliten bedienen, die auf Armutsbekämpfung selbstverständlich überhaupt keinen Wert legen. Eine solche Grundüberzeugung oder Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit ist nicht neutral und auch nicht partnerschaftlich. Die staatliche und insbesondere die nichtstaatliche Entwicklungszusammenarbeit hat sich also vornehmlich auf die Bekämpfung der Massenarmut zu konzentrieren.
Bessere Ernährung, bessere Gesundheit, bessere Bildung für Kinder und bessere Wohnverhältnisse für alle sind nur über Möglichkeiten zu steigenden Einkommen erzielbar. Dies setzt aber strukturelle und gesellschaftliche Veränderungen in den Nehmer- und Geberländern voraus. Wer von gerechteren oder gerechten Wirtschaftsstrukturen und Handelsbeziehungen redet bzw. diese fordert, muß damit beginnen, im eigenen Verantwortungsbereich die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen. Die Ausrichtung der Bemühungen auf die Entwicklungsländer — oder anders ausdrückt: Nehmerländer — verengt die Wirkungsmöglichkeiten und macht zudem deutlich, daß eigentlich Bevormundung statt Zusammenarbeit gemeint ist.
Wir bewerten die Arbeit der interfraktionellen Arbeitsgruppe als einen Teilansatz zur positiven Lösung. Ich betone nochmals: Als Königsweg bezeichnen wir dies nicht.
Die SPD-Fraktion weist allerdings darauf hin, daß sie auch darauf achten wird und achten muß, daß die politische Absicht dieses Antrags, nämlich einen ins Gewicht fallenden Anteil der deutschen Entwicklungszusammenarbeit der direkten Armutbekämpfung zuzuleiten, der entwicklungspolitischen Praxis der Bundesregierung entspricht. So heißt es denn auch richtig im letzten Absatz auf der ersten Seite unseres Antrags:
Derartige entwicklungsfördernde Rahmenbedingungen müssen von der zwischenstaatlichen Wirtschafts- und Entwicklungspolitik angestrebt werden. Die Industrieländer müssen zur Umgestaltung ihrer Politikbereiche bereit sein . . .
Die Verengung auf den Etat 23 oder auf das BMZ hilft überhaupt nicht.
Massenarmut in den Ländern der Dritten Welt behindert die Entwicklung aller. Darüber dürfte unter uns Entwicklungspolitikern eigentlich kein Streit ausbrechen. Darauf, verehrte Kolleginnen und Kollegen, werden wir zu achten haben.
Die Mobilisierung der kreativen und produktiven Fähigkeiten der Armen und die Förderung ihrer Beteiligung am wirtschaftlichen Entwicklungs- wie am politischen Willensbildungsprozeß sind traditonelle Grundanliegen der deutschen Sozialdemokratie. Wir wissen aus eigener Erfahrung nur zu gut, daß die Befriedigung der Bedürfnisse der breiten Massen nur über politische Organisationen, kollektiven Kampf und Selbstbestimmung erreicht werden könnte.
Basierend auf der Sachverständigenanhörung vom 20. Juni 1988 eröffnet der gemeinsame Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der FDP und der SPD die vielleicht einmalige Chance, selbsthilfebezogene Armutsbekämpfung über alle Parteigrenzen hinweg zu einem wesentlichen Gestaltungsprinzip der deutschen Entwicklungszusammenarbeit zu machen. Ob oder inwieweit diese Chance genutzt werden kann, kann sich jedoch nur in der Praxis erweisen. Dieser Praxistest steht noch aus.



Schanz
Wenn Skepsis angebracht ist, dann deshalb, weil in der Vergangenheit der Vorwurf, die deutsche Entwicklungspolitik diene in erster Linie deutschen Exportinteressen, und Armutsbekämpfung spiele nur eine untergeordnete Rolle, nicht immer überzeugend widerlegt werden konnte. Zweifelhafte Großprojekte, sogenannte weiße Elefanten, stehen weiterhin allzuoft im Vordergrund, während im Vergleich dazu meines Erachtens die zur Armutsbekämpfung eingesetzten Mittel nach wie vor zu gering sind.

(Beifall bei SPD)

Wenn weiterhin in neueren Verlautbarungen des BMZ eine Konzentration der Mittel auf weniger Projekte und deren raschere Übergabefähigkeit gefordert wird, so scheint uns dies im Widerspruch zu den Notwendigkeiten selbsthilfeorientierter Vorhaben der Armutsbekämpfung zu stehen. Diese bedingen nicht nur die Förderung vielfältiger lokaler und von ihrer Natur her tendenziell eher kleinerer Vorhaben.
Meine Damen und Herren, wirksame Armutsbekämpfung verlangt vor allem auch die Unterstützung von in aller Regel langwierigen Prozessen der Selbsthilfe und der gesellschaftlichen Organisation benachteiligter Bevölkerungsschichten, die gerade nicht unter das Diktat der raschen Übergabefähigkeit gestellt werden dürfen. Man muß Geduld auch mit denen haben, die keine Chance hatten, zu lernen, ihre Interessen in Freiheit und Deutlichkeit durchzusetzen. Man muß Geduld mit denen haben, die vielleicht nicht warten wollen, bis wir bereit sind, das zu geben, was wir geben könnten. Wir müssen beachten, daß der in Europa eingeleitete Einheits- oder Einigungsprozeß nicht erneut zur Benachteiligung und zur Ungerechtigkeit für die Menschen in der Dritten Welt wird.

(Frau Folz-Steinacker [FDP]: Sehr richtig!)

Insofern, Kolleginnen und Kollegen, zusammengefaßt und zum Schluß: Die Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe ist ein weiteres, von uns aus betrachtet vernünftiges Instrument. Alle Instrumente zusammen ersetzen nicht eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, ersetzen nicht gerechtere Rahmenbedingungen, von denen hier immer wieder die Rede ist. Ich bin überhaupt skeptisch, ob mit dem begrenzten Anteil deutscher Entwicklungszusammenarbeit im staatlichen wie im nichtstaatlichen Bereich diese Ungerechtigkeiten ausgeglichen werden können. Die anderen Politikbereiche — die Finanzpolitik, die Wirtschaftspolitik im nationalen wie im übernationalen Sinn — müssen hinzugefügt werden, um erfolgreich der Armutsbekämpfung zu dienen.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121030000
Das Wort hat der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Herr Dr. Warnke.

Dr. Jürgen Warnke (CSU):
Rede ID: ID1121030100
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP unterstreicht, daß die ganz überwiegende Mehrheit des Deutschen Bundestages wichtigen Grundfragen der Entwicklungszusammenarbeit übereinstimmend nähertritt. Ich meine, die Öffentlichkeit wird der Ersetzung der in vielen Bereichen notwendigen und unvermeidlichen parteipolitischen Auseinandersetzung durch sachliche Zusammenarbeit in einer Grundfrage der Entwicklungspolitik mit Genugtuung begegnen.
Der Antrag stellt den richtigen Gesamtzusammenhang her. Armutsbekämpfung und Entwicklung verlangen vor allem geeignete Rahmenbedingungen in den jeweiligen Ländern, Rahmenbedingungen, die die Entfaltung von Eigeninitiative, von Selbsthilfe und die schöpferische Beteiligung der Bevölkerung am Entwicklungsprozeß zulassen.
Diese Kernaussage des Antrags wird durch den Zusammenbruch der Staatswirtschaften in Mittel- und Osteuropa eindrucksvoll belegt.
Diese Ereignisse machten es jedermann deutlich: Dauerhafte Entwicklung und Freiraum für wirtschaftliche Initiative des einzelnen, Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen an politischen Entscheidungen und nicht zuletzt Achtung der Menschenrechte bedingen einander. Es besteht ein zwingender Zusammenhang zwischen offenen und verantwortlichen demokratischen Systemen und der Leistungsfähigkeit von Wirtschaftsordnungen.
Entwicklungsfördernde Rahmenbedingungen, das heißt nicht zuletzt auch eine solide Wirtschafts- und Haushaltsgestaltung. Regierungen, die ihre Wirtschaftspolitik notorisch fehlorientieren oder die Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Organe nicht eindämmen, sondern noch begünstigen, müssen aber mit deutlichen Konsequenzen rechnen, bis hin zur Einstellung staatlicher deutscher Hilfe.

(Frau Folz-Steinacker [FDP]: Sehr richtig!)

Wir folgen damit auch einer Linie, die die Weltbank für Afrika herausgearbeitet hat: nicht mehr bloße Absichtserklärungen für Reformen honorieren, sondern unsere Entwicklungshilfe an tatsächlichen Verbesserungen der Rahmenbedingungen für Entwicklung und Armutsbekämpfung ausrichten.
Die Chancen für eine solche Politik des konsequenten Bestehens auf Armutsbekämpfung als Voraussetzung für Entwicklungspartnerschaft stehen gut. Die revolutionären Veränderungen in Osteuropa und bereits vorher der Volksaufstand gegen Marcos auf den Philippinen waren vielen Regimen in Ländern der Dritten Welt ein Menetekel. Das Bewußtsein „Wir sind das Volk" greift Platz, auch in der Dritten Welt.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat wesentliche Folgerungen des Antrags aufgegriffen. Damit gehe ich auf Fragen ein, die Kollege Schreiber hier gestellt hat.
Erstens. Auch in Großvorhaben der Kapitalhilfe steckt eine unmittelbare Chance zur Armutsbekämpfung, die durch Beteiligung der Betroffenen wahrgenommen werden kann. Dafür den großen deutschen Entwicklungsinstitutionen die Augen geöffnet zu haben ist ein Ergebnis gemeinsamer Bemühungen der 80er Jahre. Viele Menschen haben daran gearbeitet: im Parlament, in den Kirchen, in Nicht-Regierungsor-



Bundesminister Dr. Warnke
ganisationen wie in Regierungsinstitutionen. Hier hat eine geistige Wende stattgefunden. Sie beruht auf der Erkenntnis, daß Entwicklungszusammenarbeit zu Ergebnissen nur dann führen kann, wenn sie durch die personale Mitte, wenn sie von Menschen zu Menschen stattfindet. Erst von dort erfährt auch der größte Kapitaleinsatz seine Sinnhaftigkeit. Es geht eben nicht nur um wirtschaftliche, es geht immer auch um menschliche Zusammenarbeit. Daß der Antrag dieses gemeinsame Verständnis bekräftigt, begrüße ich ganz besonders.
Zweitens. Ministerium und Durchführungsorganisationen haben dem Schwerpunkt Armutsbekämpfung im Sinne des Antrags auch institutionell Rechnung getragen und dafür besondere Arbeitseinheiten eingerichtet.
Drittens. Die Bundesregierung hat die Konsequenzen aus der Erfahrung gezogen, daß in vielen Entwicklungsländern Frauen den größten Beitrag zur Bekämpfung der Armut leisten — oder leisten würden, wenn sie den richtigen Freiraum zur Entfaltung ihrer Kreativität bekämen.

(Frau Folz-Steinacker [FDP]: Sehr richtig!)

Die Berücksichtigung der Situation und der Selbsthilfepotentiale der Frauen ist fester Bestandteil bei allen Vorhab en der deutschen Entwicklungszusammenarbeit.
Viertens. Die Zusammenarbeit mit Nicht-Regierungsorganisationen in den Entwicklungsländern im Bereich Selbsthilfeförderung wurde erheblich ausgeweitet. Vor allem im Umwelt- und Ressourcenschutz sehe ich in Zukunft Möglichkeiten für eine noch engere Zusammenarbeit. Mit den deutschen Umweltorganisationen sind regelmäßige Konsultationen vereinbart worden. Sie sollen sich, ausgehend von der globalen Dimension der Umweltgefährdung, auf konkrete Vorhaben der deutschen Entwicklungshilfe, aber z. B. auch der Weltbank, beziehen, um so zur Verbesserung der Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der gemeinsamen Entwicklungsanstrengungen beizutragen. Der Schwerpunkt Umweltschutz, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist nicht Konkurrenz, sondern Verstärkung des Schwerpunkts Armutsbekämpfung. Ohne erfolgreiche Armutsbekämpfung gibt es keine Chance, jenen verhängnisvollen Kreislauf von Armut, erhöhtem Bevölkerungswachstum — Sie haben das hervorgehoben, Frau Kollegin Folz-Steinacker — , verstärkter Umweltzerstörung und noch größerer Armut zu durchbrechen.
Fünftens. Für armutsorientierte Projekte wird Kapitalhilfe statt als Kredit künftig als Zuschuß gegeben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle, die in der Entwicklungshilfe Verantwortung tragen, können uns nicht oft genug klarmachen, daß Hilfe nur Erfolg haben kann, wenn sie nicht über die Köpfe der Menschen hinweggeht, sondern deren Wertvorstellungen und Ziele aufgreift. Das ist das gemeinsame Ziel der Bundesregierung und des Antrags der drei Fraktionen — und nicht das Überstülpen einer wie auch immer beschaffenen ideologischen Glocke. Ich stimme Ihnen, Herr Kollege Schanz, zu. Es ist kein Königsweg. Es ist noch viel weniger ein neues Patentrezept, das hier ausgebrütet worden ist. Aber es ist
eine Voraussetzung für die Überwindung der Armut
in der Dritten Welt, und zwar eine besonders wichtige
— nicht mehr, nicht weniger.
Hinzu kommen müssen Lösungen für weltwirtschaftliche Probleme, z. B. der Abbau von Protektionismus und die Sicherung fairer Handelsbeziehungen. Das heißt, auch die Industrieländer müssen entwicklungsfördernde Rahmenbedingungen für die Armutsbekämpfung in der Dritten Welt setzen. Wir wissen, dieses Ziel ist nicht erreicht, aber auf dem Wege dorthin ist uns der Antrag der drei Fraktionen in Fortführung einer guten Tradition der Zusammenarbeit zwischen Opposition und Regierungskoalition aus Zeiten, in denen diese Rollen anders als heute verteilt waren, eine nützliche und hilfreiche Wegweisung.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121030200
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimung über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6088 betreffend Armutsbekämpfung in der Dritten Welt. Wer stimmt dem Antrag der GRÜNEN zu? — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist mit Mehrheit bei Enthaltung der SPD abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 11/6137. Wer stimmt diesem Antrag zu?
— Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist bei Enthaltung der GRÜNEN mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Weiss (München), Frau Rock, Dr. Briefs, Frau Hillerich, Dr. Knabe, Frau Nickels, Stratmann, Such, Frau Dr. Vollmer, Volmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Bahnpolitik in Nordrhein-Westfalen — Zur Lage der Zweigstrecken der Deutschen Bundesbahn („Nebenbahnen")

— Drucksache 11/5080 —
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7105 vor.
Im Ältestenrat ist für diese Beratung ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden.
— Ich sehe keinen Widerspruch. Das ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Rock.

Helga Brahmst-Rock (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1121030300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor fast neun Monaten, ganz genau am 16. August 1989, haben wir unsere Große Anfrage zur Bahnpolitik in Nordrhein-Westfalen und zur Lage der Zweigstrecken der Deutschen Bundesbahn eingereicht, zu einem Zeitpunkt also, zu dem von Wahlkampf oder von Betreiben desselben aus dem Bundestag heraus keine Rede sein konnte. Uns ging und geht es auch nicht um Wahlkampfpolemik, sondern es geht uns um das Aufzeigen eines Ist-Zustandes, um das



Frau Rock
Aufzeigen der Situation des öffentlichen Personennahverkehrs — speziell des schienengebundenen Verkehrs — jenseits der Ballungsgebiete.
In allgemeinen Reden wird, gebetsmühlenartig wiederkehrend, von allen Fraktionen betont, wie notwendig die Aufrechterhaltung bzw. die Wiederherstellung eines öffentlichen Personennahverkehrs eigentlich sei. In der Betonung des Wortes „eigentlich" liegt auch der große Unterschied. Die Regierungskoalition braucht ihn eigentlich, aber nicht tatsächlich. Die SPD-Fraktion braucht ihn eigentlich auch, sieht aber die Schwierigkeit der Mittelbereitstellung. Schließlich hat Nordrhein-Westfalen eine SPD-geführte Landesregierung, und die ist über die getroffenen Rahmenvereinbarungen mit der Bundesbahn nicht unschuldig an der desolaten Lage der Zweigstrecken der Deutschen Bundesbahn in NordrheinWestfalen.
Wir halten einen funktionierenden öffentlichen Personennahverkehr, der ganz wesentlich von der Bedienung über die Schiene getragen wird, für ein Stück Daseinsvorsorge, das allen Bewohnern und Bewohnerinnen eines Bundeslandes im gleichen Umfang zur Verfügung stehen muß.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Denn nur ein öffentlicher Verkehr, der allen zur Verfügung steht, ist es wert, aus Steuermitteln, die von allen Bewohnerinnen und Bewohnern eines Landes erwirtschaftet werden, gefördert zu werden. Sie können nicht ganze Landesteile von diesem Instrument der Daseinsvorsorge abkoppeln.
Wenn Sie diesen Weg nicht gehen wollen, weil Sie an der eingeschränkten betriebswirtschaftlichen Sichtweise für den Schienennahverkehr festhalten, dann gehen Sie ab von dem oft propagierten Ziel der Freiheit der Wahl des Verkehrsmittels; dann manifestieren Sie für die Mehrheit der Bevölkerung, nämlich für die 52 % , die außerhalb der Ballungsgebiete wohnen, einen Autobenutzungs- und damit Umweitverschmutzungszwang. Das ist nicht nur volkswirtschaftlich kurzsichtig, sondern aus umweltpolitischer Sicht unverantwortlich.
Wenn Sie heute nicht bereit sind, eine Verkehrswende einzuleiten, hinterlassen Sie unseren Kindern und Enkelkindern eine Hypothek, die aus eigener Kraft von ihnen nicht abgearbeitet werden kann.
Ein Blick über die Grenzen zu unseren Nachbarn in den Niederlanden oder in der Schweiz zeigt, wie Schienenverkehr auch in ländlichen Gebieten modern und betriebswirtschaftlich betrieben werden kann. Auch in der Bundesrepublik gibt es einzelne hoffnungsvolle Ansätze, allerdings nicht bei der Bundesbahn, sondern im Bereich der nicht bundeseigenen Eisenbahnen, und diese befinden sich auch nicht in Nordrhein-Westfalen.
Hier sind Mut, Phantasie und finanzielle Mittel gefordert, um die Situation der Zweigstrecken der Deutschen Bundesbahn zu verbessern und um Modellprojekte unter Einbeziehung von Regionalbahnen in Gang zu setzen. Wenn die Bahn in die Lage versetzt wird, attraktive Angebote im Hinblick auf die Häufigkeit der Zugverbindungen, auf verbessertes Wagenmaterial und auf die Einbindung eines Schienennahverkehrs in das Gesamtangebot des öffentlichen Personennahverkehrs zu machen, könnte sie durchaus einen Konkurrenten zum Verkehrsträger Auto darstellen.
Verstärkte Investitionen im Bereich neuer Wagen stellen überdies einen Beitrag zur Sicherung der Arbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen dar; denn ein maßgeblicher Anteil der bundesdeutschen Waggonindustrie hat seinen Sitz in Nordrhein-Westfalen.
Auch Investitionen im Schienenbereich tragen zur Sicherheit von Arbeitsplätzen insbesondere in Nordrhein-Westfalen bei. Aber daran — so scheint es — hat die Bundesregierung kein besonderes Interesse.
Ebenso wie immer wieder die Notwendigkeit eines öffentlichen Personennahverkehrs betont wird, wird vor dem drohenden Verkehrsinfarkt gewarnt, der mit Sicherheit auf uns zurollen wird. Die bislang vorliegenden Prognosen des Landes Nordrhein-Westfalen gehen von einer Verdoppelung des Verkehrsvolumens, das über die Straße abgewickelt wird, aus. Diese Prognosen wurden allerdings vor der Öffnung der Grenze zur DDR und den übrigen Ostblockstaaten abgegeben.
Das Heil für die Bewältigung dieser Blechlawine wird sowohl von der Bundesregierung als auch von der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen seit Jahren in immer weiteren Straßenbaumaßnahmen gesehen, wohl wissend, daß heute geplante Maßnahmen erst in zehn bis zwanzig Jahren umgesetzt werden können, daß die Mittel für den Straßenbau in immer stärkerem Maße für die Unterhaltung des bestehenden Straßennetzes eingesetzt werden müssen, daß weiterer Straßenbau zusätzlichen Verkehr schafft, der dann erneut bewältigt werden muß, und daß Straßenbaumaßnahmen in unvertretbar hohem Maße Landschaft verbrauchen, die sowohl in Nordrhein-Westfalen wie anderswo in diesem Land nur in sehr begrenztem Umfang zur Verfügung steht. Im übrigen werden Straßenbaumaßnahmen von immer weniger Leuten gewünscht und geteilt.
All diesen Argumenten sollten Sie endlich Rechnung tragen und auf einen Ausbau der Schienenverbindungen auch in Nordrhein-Westfalen setzen, statt mit vereinten Kräften einen Abbau zu betreiben. Denn nur dort, wo es attraktive, funktionierende Schienenverbindungen gibt, können die Bahnen auch Zubringerfunktionen zu den Ballungszentren wahrnehmen. Wenn die Bahn gezwungen wird, sich aus ländlichen Bereichen zurückzuziehen, kann sie weder den Beitrag zur Daseinsvorsorge noch den Beitrag zum Umweltschutz leisten.
Wir nehmen die Situation der Bahn in NordrheinWestfalen als die eines Schienennetzes zwischen Ballungszentren des Rhein-Ruhr-Gebiets überwiegend in Nord-Süd-Richtung wahr. In den übrigen Regionen, in der Eifel, am Niederrhein, im Münsterland, in Ost- und Südwestfalen, gibt es anstelle eines attraktiven Angebotes lediglich ein schwarzes Loch, ein Nichts. In der Praxis stellt es sich als unendlich schwierig heraus, Modellprojekte für Regionalbahnen, die von privaten Initiativen getragen werden, überhaupt genehmigt zu bekommen.



Frau Rock
Ziel unserer Großen Anfrage ist es auch, uns nicht nur auf unsere Wahrnehmung und auf die von Initiativen und Umweltverbänden vorgelegten Zahlen und Materialien zu stützen, sondern hierzu auch die Stellungnahme der Bundesregierung zu haben. Offensichtlich ist aber unsere Wahrnehmung und sind die Zahlen und Materialien der Umweltverbände und Initiativen von der Bundesregierung nicht zu widerlegen. Wahrscheinlich hatte sie sehr wohl den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen und die dort laufende Kampagne im Auge, als sie sich für die Beantwortung der Großen Anfrage so lange Zeit gelassen hat.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121030400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bauer.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1121030500
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Frau Rock, ich möchte zunächst auf Ihre Ausführungen eingehen. Sie sprachen davon, daß dieser Zeitpunkt nichts mit dem Wahlkampf zu tun habe. Nun, ich meine genau das Gegenteil.

(Beifall bei der CDU/CSU — Frau Rock [GRÜNE]: Die Große Anfrage ist von uns unter dem 16. August 1989 eingereicht worden!)

Sie wußten genau, daß die Bundesregierung angekündigt hatte, daß sie diese Anfrage Mitte Mai beantworten wird. Wenn Sie dann am 10. Mai diesen Entschließungsantrag hier einbringen, dann kann ich das nur als Wahlkampf werten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Regierung hatte wegen des Umfangs dieser Großen Anfrage — sie enthält 48 detaillierte Fragen! — um diese Zeit gebeten. Insofern ist es völlig unverständlich, wenn Sie das jetzt zur Diskussion stellen und dann auch noch sagen, daß dies ohne Wahlkampfabsichten geschehe.

(Frau Rock [GRÜNE]: Wie hat es die Regierung dann geschafft, eine Große Anfrage von Ihnen innerhalb der Regelantwortzeit zu beantworten? — Gegenruf des Abg. Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das war möglich, weil wir klare Fragen stellen!)

Zunächst gilt es zu diesem Thema festzuhalten, daß nach unserem Grundgesetz die Ausgestaltung und die Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs in erster Linie Sache der Länder und der Gemeinden ist. Gleichwohl fördert der Bund den öffentlichen Personennahverkehr jährlich mit weit über 6 Milliarden DM, Frau Rock.

(Frau Rock [GRÜNE]: Das ist viel zuwenig!)

Diese Förderung ist notwendig und sinnvoll, weil der öffentliche Personennahverkehr erstens Mobilitätschancen sichert und erhöht, zweitens Energie rationell verwendet, drittens umweltfreundlich ist, viertens zu einer größeren Verkehrssicherheit beiträgt, fünftens städtebauliche Entwicklungsmöglichkeiten wiedergewinnt. sechstens eine gute Alternative gegenüber dem Individualverkehr darstellt und siebtens
und letztlich aus allen diesen Gründen unverzichtbar ist.

(Frau Rock [GRÜNE]: Und warum fordern Sie dann den weiteren Ausbau des Straßenverkehrs?)

Zu einer Verbesserung dieser Verkehre sind also alle im Sinne einer konstruktiven Zusammenarbeit aufgerufen.
Anfragen dieser Art allerdings, Frau Rock, wie wir sie heute auf Veranlassung der GRÜNEN im Plenum beraten, tragen kaum zur Problemlösung bei. Bestenfalls zeugen sie vom großen Wissensdurst einiger Kollegen. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob es bei den gewaltigen anstehenden Problemen — z. B. im Bereich der deutsch-deutschen Verkehrspolitik — sinnvoll ist, die Mitarbeiter von Ministerien mit dem Zusammentragen von statistischem Material zu beschäftigen.

(Frau Rock [GRÜNE]: Im August war von der Öffnung der Grenze noch keine Rede!)

Auch wenn Wahlkampfzeit ist: Nicht das Zählen von Eisenbahnschwellen bringt uns im öffentlichen Personennahverkehr weiter, sondern eine solide Arbeit an der Problembewältigung.

(Beifall des Abg. Dr. Rüttgers [CDU/CSU])

Was uns auch nicht weiterbringt, ist eine permanente Verteufelung des Autos und von allem, was damit zusammenhängt. Einzig und allein ein Gesamtkonzept, das alle Verkehrsträger integriert, ist zukunftsorientiert und wird den anstehenden Herausforderungen gerecht.
In diesem Zusammenhang dürfen die Vorstellungen der SPD nicht unerwähnt bleiben. „Nach den Worten von Wolfgang Roth sollen über die Energieverteuerung ,Verhaltensänderungen erzwungen werden' ". — So nachzulesen in der „Verkehrs-Rundschau" vom 28. April 1990.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich! — Frau Rock [GRÜNE]: Das ist genau richtig!)

Benzinpreiserhöhungen um 50 Pf je Liter, Preiserhöhungen beim Dieselkraftstoff von 40 Pf pro Liter — ich freue mich über Ihren Zwischenruf! — sind ein „Fortschritt '90" — wie Sie ihn nennen — , den die Wähler Gott sei Dank in Zukunft entsprechend werten werden, und das ist gut so.

(Beifall des Abg. Dr. Rüttgers [CDU/CSU] — Becker [Nienberge] [SPD]: Das glauben wir!)

Für die GRÜNEN ist ja selbst ein Literpreis von 5 DM angeblich zumutbar.

(Frau Rock [GRÜNE]: Lesen Sie doch einmal mehr als die Überschrift, Herr Kollege!)

Nur, meine Damen, meine Herren, vor allem die Bewohner des ländlichen Raumes müßten unter diesen harten Belastungen noch mehr an Chancengleichheit einbüßen.
Nicht zu vergleichen mit der Anfrage der GRÜNEN ist der Bericht der Bundesregierung über den öffentlichen Personennahverkehr. Hier werden Möglich-



Bauer
keiten aufgezeigt und Alternativen vorgestellt: Erstens Verlagerung der konzeptionellen und organisatorischen Zuständigkeit in den kommunalen Bereich. Zweitens Einbindung sowohl öffentlicher als auch privater Verkehrsträger und drittens stärkere Verlagerung der Finanzverantwortung zu den Ländern hin, hier aber im Sinne eines gezielteren Einsetzens der Mittel.

(Frau Rock [GRÜNE]: Und wo bleibt die Verantwortung des Bundes?)

Ein Maßanzug muß in der Region geschneidert werden.

(Frau Rock [GRÜNE]: Ach was?)

Da eine direkte Übertragung der zur Verfügung stehenden Mittel auf die einzelnen Regionen nun einmal effizienter ist, muß hier nach Lösungsmöglichkeiten gesucht werden.
Bei diesen Überlegungen erwarten wir sowohl von der Deutschen Bundesbahn als auch vom Land Nordrhein-Westfalen, daß sie einen ausreichenden öffentlichen Personennahverkehr vorhalten und diesen verbessern. Besonders wichtig ist dabei die Steigerung der Attraktivität des öffentlichen Personennahverkehrs. Ein wichtiger und entscheidender Schritt in diese Richtung ist die 1988 abgeschlossene „Rahmenvereinbarung zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und der Deutschen Bundesbahn". Bedauerlich ist, daß diese Vereinbarung durch die nordrhein-westfälische Landesregierung nur äußerst zögerlich zustandekam und so bereits Investitionen der Bundesbahn, vor allem im Fahrzeugpark, an NordrheinWestfalen vorbeigingen. Hier hat die nordrhein-westfälische Landesregierung eindeutig versagt.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: So ist es!)

Die CDU-Landtagsfraktion wollte bereits bei der Beratung des nordrhein-westfälischen Nachtragshaushaltes 1989 entsprechende Zeichen setzen. Sie beantragte, einen nicht unerheblichen Teil der Mittel des Strukturhilfegesetzes des Bundes zur Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs, speziell des Schienenverkehrs, einzusetzen, und zwar 22,2 Millionen DM als Investitionszuschüsse für nichtbundeseigene Eisenbahnen und weitere 22,2 Millionen DM für Maßnahmen zur Ausfüllung dieser Rahmenvereinbarung.
Im Verkehrsausschuß des Landes Nordrhein-Westfalen wurden Änderungsvorschläge der CDU/CSU-Fraktion, die in die richtige Richtung gingen, alle von der Mehrheitsfraktion abgelehnt. Auch dieses Verhalten der SPD-Fraktion im Land Nordrhein-Westfalen ist kontraproduktiv für die Interessen des Landes.
Denn solche Modelle würden auch für andere Nebenstrecken in Nordrhein-Westfalen neue Chancen eröffnen. Ich denke hier z. B. an die Erfttalbahn zwischen Euskirchen und Bad Münstereifel.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Richtig!)

Durch eine Stillegung dieser Bahn würde der ohnehin strukturschwache Eifelraum eine weitere Verschlechterung der verkehrlichen Infrastruktur und damit eine zusätzliche Benachteiligung erfahren.

(Beifall des Abg. Dr. Rüttgers [CDU/CSU])

Vor allem die Stadt Bad Münstereifel hat hier im Einsatz um den Erhalt dieser Strecke meine volle Unterstützung.
In diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt auch die Intervention unseres Bundeskanzlers für ein Aufhalten der Stillegung dieser Strecke zu begrüßen. Durch seine Intervention wurde der Bundesbahn ja aufgetragen, zunächst einige Untersuchungen anzustellen, bevor die Einleitung eines Verfahrens zur Umstellung bzw. Einstellung des Schienenverkehrs erfolgt.
Das Beispiel Erfttalbahn, meine Damen und Herren, zeigt aber auch sehr anschaulich die Unzulänglichkeit der nordrhein-westfälischen Verkehrspolitik. Am ehesten würde natürlich eine Zunahme des Reisendenaufkommens — das ist auch mir klar — zum Erhalt dieser wie auch anderer gefährdeter Strecken beitragen. Allerdings brauchen wir hier auch endlich Konzepte der nordrhein-westfälischen Landesregierung.

(Frau Rock [GRÜNE]: Was ist denn mit Ihrem eigenen Konzept?)

Sie wird nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Ziel muß sein — und das muß zusammen mit der Deutschen Bundesbahn verfolgt werden —, möglichst viele Strecken so zu gestalten, daß sie erhalten werden können. Durch eine gezielte Ausdünnungspolitik darf nicht ein langsames Sterben gewollt vorprogrammiert werden.
Die kommunalen Gebietskörperschaften im ländlichen Raum vor allem auch im Hinblick auf ihre finanziellen Möglichkeiten vergleichbar mit den Ballungsräumen zu behandeln sollte Prämisse einer guten Landespolitik sein — einer guten Landespolitik, die in Nordrhein-Westfalen bisher nicht zu erkennen ist.
Der Bund kommt auf jeden Fall seiner Aufgabe nach und leistet seinen Beitrag für ein ausgewogenes Verkehrsangebot im öffentlichen Personennahverkehr bzw. Schienenpersonennahverkehr. Dies ist an den entsprechenden Haushaltsansätzen des Bundes im Gegensatz zu denen des Landes Nordrhein-Westfalen eindeutig abzulesen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Rock [GRÜNE]: Kann man daraus schließen, daß Sie sich für die Aufhebung der Plafondierung einsetzen?)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121030600
Das Wort hat der Abgeordnete Hasenfratz.

Klaus Hasenfratz (SPD):
Rede ID: ID1121030700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Bauer, daß die nordrhein-westfälische Landesregierung gute Politik gemacht hat, ist seit zehn Jahren an den Ergebnissen abzulesen.

(Bauer [CDU/CSU]: Sie möchten aber wieder Nummer 1 werden! Also, so gut kann das nicht sein!)

— Wir werden auch nach dem 13. Mai wieder die Nummer 1 sein, die wir auch bisher gewesen sind.

(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, man sollte annehmen, daß die bisherige Verzögerungs- und Hinhaltetaktik der Bundesregierung eigentlich hinläng-



Hasenfratz
lich bewiesen hat, wie ernst sie die Lage und die Belange der Bahn nimmt. Sage und schreibe über vier Jahre hat sich die Bundesregierung Zeit gelassen, bis sie den Bericht über den öffentlichen Personennahverkehr in der Fläche vorgelegt hat. Hier von einem Dilemma zu sprechen ist fast zu gelinde ausgedrückt.
Die Verkehrspolitik der Bundesregierung steckt in einer Sackgasse. Jahrelang hat sie ihr Heil in einer beispiellosen Förderung des Kraftverkehrs gesucht.

(Frau Rock [GRÜNE]: Immer noch!)

Das Bundesbahnstreckennetz bleibt weit hinter den Erfordernissen zurück. Modernisierung, Anhebung der Geschwindigkeit, Taktverkehr, modernes Wagenmaterial unterblieben. Die Bahn hat sich in den letzten Jahrzehnten lediglich auf die Beschleunigung und Modernisierung des Verkehrs auf den großen Magistralen und auf die Einrichtung des IntercityVerkehrs und jetzt des Interregio-Zugsystems konzentriert. Außerdem blieb die Erreichbarkeit der Bahn auf dem Stand der Zeit, in der Fußwege bis zu 5 km oder Anfahrten mit dem Fahrrad bis zu 15 km als normal angesehen wurden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Da wollen Sie wieder hin?)

Wen wundert es da, daß dieses Angebot nicht akzeptiert wird? Der Teufelskreis ist perfekt: Mangelnde Bahnbenutzung und Fahrplanausdünnung bedingen sich wechselseitig. Schließlich werden Spät- und Wochenendverkehre eingestellt, Strecken werden letztendlich stillgelegt, und der private Pkw-Verkehr bricht zusammen. Wir stehen vor dem Verkehrsinfarkt. Es entstehen Verhältnisse, die für das öffentliche Wohl und für die Umwelt nicht mehr tragbar sind. Der Verkehr erstickt nicht nur im Stau, er erstickt zugleich auch das städtische Leben und die Natur.
Nach Umfrageergebnissen leidet die Hälfte der Bundesbürger unter Verkehrslärm. Die Abgase verpesten in unerträglicher Weise unsere Luft. Keine Katalysatortechnik vermag über die dramatische Umweltzerstörung — ich nenne nur die Stichworte Weltklimakatastrophe und Ozonloch — hinwegzutäuschen. Nach Untersuchungen der Bundesanstalt für Straßenwesen und verschiedenen anderen wissenschaftlichen Studien zufolge belaufen sich die durch Unfälle, Luftverschmutzung und Landschaftsverbrauch verursachten Kosten des Verkehrs auf rund 50 bis 100 Milliarden DM pro Jahr. Weit über 90 % entfallen allein auf den Straßenverkehr. Der überwiegende Teil dieser sozialen Kosten wird jedoch nicht dem jeweiligen Verursacher angelastet, sondern der Allgemeinheit aufgebürdet.
Man muß sich einmal klarmachen, daß hier eine massive Subventionierung gerade derjenigen Verkehrssysteme betrieben wird, die die höchsten Umweltschäden verursachen. Legt man die untere Schätzgrenze von 50 Milliarden DM pro Jahr zugrunde, so beläuft sich die Subventionierung des Straßenverkehrs durch die Allgemeinheit auf 5,9 Pf je Tonnen- bzw. Personenkilometer. Die entsprechenden spezifischen Kosten der Bahn betragen dagegen nur 0,8 Pf je Tonnen- bzw. Personenkilometer.
Eine Repräsentativbefragung des Infas-Instituts, die im Auftrag des Verkehrsforums Bahn durchgeführt wurde, hat ergeben, daß 50 To der Bevölkerung in der Bundesrepublik dem Ausbau der Schieneninfrastruktur Vorrang einräumen. 10 % plädieren für einen weiteren Ausbau des Autobahnnetzes. Mehr Straßenbau kann hierauf ja wohl nicht die Antwort sein. Das einzige vernünftige verkehrspolitische Konzept ist der Ausbau und die Förderung des umweltfreundlichen Schienenverkehrs.
Dennoch: Die Investitionen für den Bundesfernstraßenbau betragen 4,6 Milliarden DM, die Investitionszuschüsse für den Streckenausbau 1,2 Milliarden DM. Diese Zahlen hat die Bundesregierung für den Haushalt 1990 beschlossen. Wo bleibt da die Realisierung Ihrer Ankündigungspolitik mit dem vielversprechenden Titel „Für eine umweltfreundliche Bahn" ? Die Investitionen für die Schienenwege sind laufend gekürzt, die für die Straßen sind ständig aufgestockt worden. Die Bundesregierung hat immer wieder ihr verkehrs- und bahnpolitisches Versagen demonstriert. Statt umweltschädlichen Verkehrsträgern die von ihnen verursachten Kosten anzulasten, wird ein stärkeres Wachstum des Straßen- und Luftverkehrs bei der weiteren Entwicklung des Güterund Personenverkehrs hingenommen.
Die Bundesregierung stellt doch Ursache und Wirkung auf den Kopf, wenn sie das Management der Bahn kritisiert und zugleich die Entscheidungen hinauszögert, die verkehrspolitisch notwendig sind, um der Bahn endlich die Wettbewerbsbedingungen zu geben, die ihre Konkurrenten schon lange haben.

(Beifall bei der SPD)

Die SPD verfolgt eine Gesamtkonzeption zur Stabilisierung und Konsolidierung der Bundesbahn, damit diese sich aus eigener Kraft in einem sich wandelnden Verkehrsmarkt behaupten kann. Mit einem Zukunftsprogramm für die Deutsche Bundesbahn wurde ein umfassendes Reformkonzept zur Verbesserung der rechtlichen und der finanziellen Rahmenbedingungen der Deutschen Bundesbahn vorgelegt. Statt Privatisierungsabsichten der Bundesregierung nachzugeben, muß die Bahn ein Unternehmen mit gestaltender Kraft für eine ökologische Verkehrspolitik auf breiter Ebene werden.
Während in den Ballungsgebieten in der Tat positive Entwicklungen des Schienenpersonennahverkehrs durch Investitionen in Strecken und Fahrzeugen festzustellen sind, sieht die Situation in ländlichen Gebieten leider völlig anders aus. Der Schienenpersonennahverkehr in der Fläche wurde jahrelang bewußt vernachlässigt: schlechte Fahrpläne mit nur wenigen Zugpaaren pro Tag, geringe Reisegeschwindigkeiten, veraltete, unbequeme Fahrzeuge, schlechte Anschlüsse, ungepflegte, oftmals veraltete Bahnanlagen sind in ländlichen Regionen leider immer noch die Regel.

(Zuruf von der SPD: Und kalte Wartehallen!)

Ist es da verwunderlich, daß die Kunden ausbleiben?
Nur ein Drittel der Gesamtleistung der Bundesbahn
im Schienenpersonennahverkehr entfällt auf den Ver-



Hasenfratz
kehr in der Fläche, und dies, obwohl 56,5 Prozent der Bevölkerung in diesen Regionen wohnen.
Der desolate Zustand des Schienennahverkehrs in der Fläche und die hier praktizierte Abwärtsspirale sind keineswegs unabänderlich. Dies zeigen uns unsere Nachbarländer, wie die Schweiz, Niederlande und Österreich. Oft genügt eine Angebotsverbesserung durch Fahrplanverdichtung oder eine bessere Abstimmung zwischen Schiene und Bus. Beispiele gibt es auch in unserem Raum, z. B. die Strecken Bonn—Euskirchen, Haltern—Bottrop und Dorsten—Bottrop.
Wir haben Gesetzentwürfe auch über den Ausbau des Schienenwegenetzes der Bundesbahn vorgelegt. Darin fordern wir folgendes: einen Bedarfsplan für den Ausbau des Schienenwegenetzes, der analog dem für die Bundesfernstraßen vom Bundestag beschlossen wird. Die Kosten für den Bau und die Unterhaltung des Schienenwegenetzes werden vom Staat übernommen. Die Bahn zahlt eine Gebühr entsprechend dem Umfang der Schienennutzung, der Staat trägt die Verluste der Bundesbahn, die ihr der Staat im Interesse des Allgemeinwohls auferlegt hat. Der Bund hilft, die Bahn zu entschulden und übernimmt einen Teil der Schulden in den Bundeshaushalt, und die überhöhten Versorgungslasten der Bundesbahn werden in den Bundeshaushalt übernommen.
Es gilt, die strukturell angewachsenen Probleme der Deutschen Bundesbahn im wirtschafts-, finanz- und unternehmenspolitischen Bereich zu lösen und die bahnpolitischen Entscheidungen nicht den fiskalischen Interessen des Bundesfinanzministers auszuliefern.
Die Koalitionsgruppe „Bahn" hat eine Reihe vernünftiger Vorschläge für die Bundesbahn gemacht. Es gab große — zumindest verbale — Übereinstimmungen mit den Gesetzentwürfen der SPD-Bundestagsfraktion: Übernahme des Schienennetzes als staatliche Infrastrukturmaßnahme, Einführung einer Infrastrukturabgabe, Trennung von staatlicher, gemeinwirtschaftlicher und unternehmerischer Verantwortung. Übriggeblieben ist ein Trauerspiel; denn die Koalitionsabgeordneten haben wider besseres Wissen vor der Bundesregierung gekuscht.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat längst die Zeichen der Zeit verstanden. Seit Mitte der 60er Jahre wird hier dem ÖPNV eine Vorrangstellung eingeräumt. Vorbildlich ist der Aufbau eines leistungsfähigen städtischen und regionalen Schienennetzes aus S- und Stadtbahnen.

(Bauer [CDU/CSU]: Wo bleibt der ländliche Raum?)

Zur Stärkung des ÖPNV sind von 1971, Herr Kollege Bauer, bis 1988 Investitionshilfen von mehr als 1,2 Milliarden DM bereitgestellt worden. Die flächendeckenden Verkehrsverbünde in Nordrhein-Westfalen sind vorbildlich.
Die politischen Veränderungen in der DDR und in den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern wirken sich massiv auf die Verkehrsentwicklung aus. Gerade für das Land Nordrhein-Westfalen, das auf Grund seiner Lage, seiner Wirtschaftskraft und seines
Bevölkerungspotentials eine exponierte Stellung einnimmt, zeichnen sich ökologische und verkehrliche Herausforderungen ab. Die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen praktiziert konkreten Umweltschutz in der Verkehrspolitik.
Die Landesregierung fordert unter der Prämisse „Vorrang der Bahn im Personen- und Güterverkehr" eine engere Verknüpfung des Streckennetzes beider deutschen Eisenbahnen sowie den Ausbau des kombinierten Güterverkehrs und von Güterverkehrszentren.

(Richter [FDP]: Das hat mit der Anfrage nichts zu tun!)

Die SPD-Landesregierung fordert in Umsetzung unseres Grundsatzprogramms: Wir wollen Verkehrsträger, die ökonomisch wie ökologisch überzeugen. Die Wettbewerbsbedingungen wollen wir zugunsten solcher Vekehrsträger verändern, die weniger Energie brauchen und die Umwelt weniger belasten. Daher muß die Bahn Vorrang erhalten. Der Ausbau des ÖPNV in Ballungsgebieten und in der Fläche bleibt unser vorrangiges Ziel.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121030800
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Richter.

Manfred Richter (FDP):
Rede ID: ID1121030900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schon die Art der Fragestellung zeigt im Grunde die Vorurteile der GRÜNEN gegen die Politik von Bundesregierung und Deutscher Bundesbahn. Da spekulieren Sie z. B. über eine vorsätzliche Schädigung des Wirtschaftsergebnisses und versuchen, dies mit internen Vermerken zu belegen. Lassen Sie sich gesagt sein, daß die Koalitionsfraktionen und diese Bundesregierung schon darauf achten, daß die Unkenrufe nicht zutreffen. Es werden keine Rationalisierungsmaßnahmen in der Schublade versteckt, um dann Umstellungen auf Busverkehr oder Stillegungen vorzubereiten. Der Bundesverkehrsminister hat den Bahnvorstand angewiesen, im Vorfeld oder während der Verfahren zur Umstellung bzw. Einstellung des Schienenverkehrs auf den betroffenen Strecken der Betriebspflicht in vollem Umfang nachzukommen.
Die Lage der Nebenbahnen stellt sich in Zahlen wie folgt dar: Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland ein Schienennetz mit einer Länge von 27 000 Kilometern. Davon sind ein Drittel Zweigstrecken. Seit 1960 ist die Länge der Zweigstrecken um ein Drittel zurückgegangen. Durch die Rahmenvereinbarungen mit den Bundesländern ist sichergestellt, daß auf mehr als 75 To der in diesen Abmachungen erfaßten Strecken der Schienenverkehr längerfristig gesichert ist.
Der Wagenpark des Schienenpersonennahverkehrs umfaßt über 8 000 Fahrzeuge, deren Modernisierung geplant ist. In den nächsten vier Jahren werden 25 neue S-Bahn-Züge, zehn Einzelfahrzeuge, 41 Wagen sowie 189 neue Nahverkehrswagen beschafft.
Grundlage für die Weiterentwicklung des ÖPNV der Bahn sind vor allem die Rahmenvereinbarungen



Richter
mit den Ländern. Der Regierungskommission „Bahn" wird durch die nötigen Maßnahmen nicht vorgegriffen, da es sich nur um geringfügige Korrekturen am Bahnnetz handelt. Aber diese Kommission wird auch sehen, daß die Benutzung der Schiene ständig zurückgegangen ist.

(Frau Rock [GRÜNE]: Woran liegt das denn?)

Betrachtet man die Prognosen, kann man erkennen, daß sich in Nordrhein-Westfalen der Personenfernverkehr von 1985 bis 2010 um 3 % erhöhen wird, der Güterverkehr aber um 16 % abnehmen wird.
Angesichts dieser Zahlen fällt dem Landesverkehrsminister Zöpel nichts anderes ein, als die Lkw vor dem Ruhrgebiet zwangsweise auf die Bahn zu verladen. Unser Land, meine Damen und Herren, ist auf eine leistungsfähige Infrastruktur angewiesen.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Bauer CDU/CSU)

Wer mit Zwang die Wirtschaft auf einen bestimmten Verkehrsträger treiben will, ist auf dem Irrweg. Wir brauchen eine attraktive Kombination aller Verkehrsträger, um konkurrenzfähig zu bleiben.
Die Zahl der bei der Bahn Beschäftigten hat sich in Nordrhein-Westfalen seit 1960 halbiert. Das ist aber kein Spezifikum dieses Bundeslandes, sondern eine überlebenswichtige Maßnahme für die ganze Bahn gewesen. Ich möchte dem Personal der Deutschen Bundesbahn von dieser Stelle aus meine Hochachtung aussprechen. Dort sind erstklassige Beamte, gute Mitarbeiter tätig. Ich weise auch darauf hin, daß sich gerade die FDP immer für die Interessen des öffentlichen Dienstes eingesetzt hat und viele Verbesserungen auch für die Mitarbeiter der Bahn durchgesetzt hat.
In einer Frage wird auch die Schnellbahnstrecke Köln—Rhein/Main angesprochen. Ich möchte hier noch einmal deutlich machen, daß dieses Stück des europäischen Schnellbahnnetzes so schnell wie möglich kommen muß. Die Umweltverträglichkeitsprüfung wird ergeben, welche Variante die endgültige sein wird. Eines möchte ich aber für die FDP hier klarstellen: Wir wollen den Anschluß des Flughafens Köln/Bonn. Wenn in dieser Woche Verbände die Anbindung abgelehnt haben, so zeigt das, daß diese Gruppen das wesentliche Problem der Verkehrspolitik nicht erkannt haben. Es kommt darauf an, mit einer Verknüpfung der Verkehrträger das ziellose Nebeneinander zu beenden. Es geht nicht an, die Belastungen des Flugverkehrs zu beklagen, jede Ausweichmöglichkeit aber dann strikt abzulehnen.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Bauer [CDU/CSU])

Nur ein Verbundsystem von Luft, Schiene und Straße kann den Anforderungen des Verkehrs gerecht werden. Auch der ICE muß durch ein abgestimmtes Angebot des Schienenpersonennah- und -regionalverkehrs ergänzt werden. Wer aus ideologischen Gründen einen oder mehrere Verkehrsträger aus diesem Miteinander ausschließt, handelt kurzsichtig.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Bauer [CDU/CSU])

Wir haben hier neulich über die Lage des öffentlichen Personennahverkehrs in der Fläche diskutiert. Mein Kollege Ekkehard Gries hat darauf hingewiesen, daß mit den bisherigen Methoden der Kollaps des ÖPNV in der Fläche nicht mehr aufzuhalten ist. Ein moderner Staat wie die Bundesrepublik Deutschland ist verpflichtet, Bevölkerung und Wirtschaft auch in der Fläche eine gute Erschließung auch durch öffentliche Verkehrsangebote zu garantieren. Aber nur vor Ort kann ein vernünftiges und flexibles Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln geplant werden. Wir brauchen einen Maßanzug, wie die Bundesregierung treffend bemerkt. Wer Zusatzleistungen bestellt, muß sie auch bezahlen.
Das gilt auch für Nordrhein-Westfalen. Statt Herrn Zöpels Utopien nachzujagen, sollte sich das Land an den Kosten für einzelne Strecken beteiligen. Allerdings — das will ich auch sagen — müssen auch die Kommunen und Kreise finanziell so ausgestattet werden, daß sie sich ebenfalls engagieren können.
Den Ländern wurde mit dem Strukturhilfegesetz und dem Aufkommen aus der erhöhten Kfz-Steuer für Diesel-Pkw eine Möglichkeit gegeben, Investitionen im Verkehrsbereich zu fördern. Das alles verschwindet in Nordrhein-Westfalen im großen Topf. Für den sonst von der SPD so laut gepriesenen Schienenverkehr bleibt offenbar kein Geld übrig, wie das Beispiel der Kursbuchstrecke 472 Karst—Neuss zeigt. Die FDP ist guter Hoffnung, daß sich dies nach der Landtagswahl am kommenden Sonntag ändert.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121031000
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Schulte.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1121031100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten hier keine Große Anfrage, sondern eine Ansammlung von Fragen zur Statistik in einer schier endlosen Geschichte. Die Verlängerung der Frist war allen Fraktionen rechtzeitig bekannt. Ich kann deswegen die vorher geäußerte Kritik von Frau Rock nicht verstehen.
Zur Sache selber: Im Land Nordrhein-Westfalen wurde im Jahre 1988 die Rahmenvereinbarung geschlossen. Dies gibt der DB und ihren Mitarbeitern genauso wie den Kunden und den Kommunen Sicherheit. Allerdings war Nordrhein-Westfalen eines der letzten Länder, die eine solche Vereinbarung abgeschlossen haben.

(Frau Rock [GRÜNE]: Weil sie sich gegen bestimmte Vorhaben bis zuletzt gewehrt haben!)

Es geht jetzt darum, konkrete Lösungen in der Region zu finden. Das ist besser für die Nutzer, und es wird für den Steuerzahler billiger sein.
Ich empfehle den GRÜNEN und der SPD, die Rahmenvereinbarungen anzuschauen. Die SPD-Landes-



Parl. Staatssekretär Dr. Schulte
regierung hat durch ihre zögerliche Haltung viel versäumt. Ich empfehle jetzt mitzuhelfen, eine örtlich optimale Lösung zu finden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121031200
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zu dem Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/7105. Es ist beantragt worden, diesen Entschließungsantrag federführend an den Verkehrsausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu überweisen. Sind Sie mit der Überweisung einverstanden? — Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Zusatzprotokollen I und II zu den Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949
— Drucksache 11/6770 —Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß (federführend) Innenausschuß
Verteidigungsausschuß
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sind Sie mit dieser Abweichung von der Tagesordnung einverstanden?

(Reuter [SPD]: Wir sind sehr einverstanden!)

— Das habe ich mir gedacht. Dann ist das so beschlossen. *)
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung auf Drucksache 11/6770 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. — Auch damit ist das Haus einverstanden.
Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Daniels (Regensburg), Hüser und der Fraktion DIE GRÜNEN
Nichtgenehmigungsfähigkeit des Atomkraftwerkes Mülheim-Kärlich
— Drucksache 11/5983 —
Überweisungsvorschlag :
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu 10 Minuten für jede Fraktion vereinbart worden.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Frau Präsidentin, bei diesem Tagesordnungspunkt sind die anwesenden Fraktionsredner ebenfalls der Meinung, daß wir die Reden zu Protokoll geben sollten!)

*) Anlage 2
— Ist das Haus auch mit dieser Abweichung von der Tagesordnung einverstanden? Dann können die Redebeiträge zu Protokoll gegeben werden. — Das ist so beschlossen. * * )
Zu diesem Punkt müssen wir eine Überweisung vornehmen. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5983 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Ist das Haus auch damit einverstanden? — Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
— Drucksache 11/7072 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend) Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß gem. § 96 GO
Es handelt sich um die Direktwahl der Berliner Abgeordneten. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Lüder aus Berlin.

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1121031300
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Daß wir uns heute abend hier noch einmal mit der Thematik der Direktwahl zum Bundestag befassen, hat eine Vorgeschichte, die sicherlich in der Kürze der Zeit dieser Debatte nicht vollständig und umfangreich aufgeklärt werden kann.

(Kalisch [CDU/CSU]: Das ist wahr!)

Sie haben den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Kenntnis genommen, und Sie wissen, daß es vorher auch einen Entwurf gab, den der Bundesinnenminister vorbereitet hatte, der aber nicht durch das Kabinett gelaufen ist.
Wir haben dieses Thema in den Ausschüssen schon gestern behandelt, weil die sozialdemokratische Fraktion einen eigenen Antrag eingebracht hatte. Wir hatten uns alle schon vor Monaten darüber verständigt, daß dieser Entwurf hier beraten werden sollte. Aus Gründen, die ich selbst nicht nachvollziehen kann — ich sage dies in allem Freimut — , ist die Diskussion gestern nicht so gelaufen, daß wir ein konstruktives Miteinander zum Entwurf gehabt hätten. Es wurden vielmehr Zufallsmehrheiten genutzt, ich formuliere bewußt nicht: ausgenutzt.

(Kalisch [CDU/CSU]: Sie sind eben ein netter Mensch!)

Ich bedaure, daß die Diskussion um die Einführung des Direktwahlrechts für meine Berliner Mitbürger, um die Einführung eines demokratischen Wahlverfahrens in West-Berlin bei der Wahl zum Deutschen Bundestag, in den letzten Wochen zu so etwas wie einem billigen Schmierentheater auszuarten schien. Dabei hatte doch alles so gut und ernsthaft begonnen.
* *) Anlage 3



Lüder
Die Verantwortlichen in Bonn bemühten sich um Berlin. Insbesondere möchte ich drei Namen mit gleichem Gewicht nennen.
Bundesaußenminister Genscher hat durch sein persönliches Engagement, beginnend auf der NATO-Ministerkonferenz im Herbst letzten Jahres, fortgesetzt durch den aktiven Einsatz seiner Beamten, die außenpolitischen Voraussetzungen dafür geschaffen, daß wir heute überhaupt über diesen Entwurf sprechen können. Nur durch das grüne Licht der Außenpolitik war es möglich, uns diesem Thema zu nähern.
Der zweite Name. Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl gab das Startsignal für die Diskussion dieses Themas. Sein Engagement für das Berliner Wahlrecht — als er seinen Disput mit Walter Momper beigelegt hatte — öffnete innenpolitische Türen.
Der dritte Name. Der Regierende Bürgermeister Walter Momper hatte, zu Anfang von einigen belächelt, mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit und Konsequenz das Ziel formuliert, in Zeiten innerdeutscher Normalisierung und im Vorfeld der deutschen Einigung die gleichberechtigte Beteiligung Berlins und der Berliner Vertreter am Willensbildungsprozeß des Bundes herbeizuführen.
Meine Damen und Herren, ich gehöre zu denen, die in den vergangenen Wochen und Monaten Zweifel hatten und diese auch geäußert haben, ob wirklich alle Seiten dieses Hauses schon zur nächsten Wahl die Direktwahl wollen, um auch stimmberechtigte Berliner Abgeordnete im Deutschen Bundestag zu haben. Ich will ganz offen ansprechen: Als vor wenigen Tagen der Berliner Oppositionsführer den vom Bundesinnenminister zu Recht als verfassungswidrig bezeichneten Vorschlag machte, nicht Wahlkreise zu bilden, sondern Listen zu wählen, auf denen alle untergebracht werden könnten, hat die Diskussion um dieses Thema einen Tiefpunkt erreicht, der nachwirken wird. Es war das erste Mal, daß ein früherer Regierender Bürgermeister von Berlin öffentlich einen Vorschlag unterbreitet hat, den der für die Verfassung zuständige Bundesminister öffentlich als verfassungswidrig bezeichnen mußte.
Meine Damen und Herren, jetzt kommt es darauf an, zur Vernunft der Verantwortlichen zurückzukehren. Die Irritationen in den Ausschüssen am gestrigen Tage sollten uns daran nicht hindern. Wenn sich Persönlichkeiten wie Hans-Dietrich Genscher, Helmut Kohl und Walter Momper gemeinsam auf einen Weg gemacht haben, sollte der Deutsche Bundestag dem Anliegen folgen und ihm zum Erfolg verhelfen.

(Beifall bei der FDP)

Die Koalition unterbreitet Ihnen heute einen Vorschlag, der nur in zwei Wahlkreisfragen von dem der Opposition abweicht. Wahlkreisgrenzen dürfen nicht zur Trennlinie der Demokratie werden. Sie sollten dem Vorschlag folgen, den die Koalition unterbreitet, der sich an dem orientiert, was die Regelvorstellung des Bundeswahlgesetzes will.
Danke.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121031400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wartenberg.

Gerd Wartenberg (SPD):
Rede ID: ID1121031500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Diskussion und das Verfahren, damit die Berlinerinnen und Berliner endlich direkt wählen können, ist in einer Art und Weise abgelaufen, die an Peinlichkeit nicht mehr zu überbieten ist. Diese Peinlichkeit geht eindeutig zu Lasten

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Von Herrn Momper!)

der CDU. Ich nehme hier die Kollegen der FDP im Innenausschuß ausdrücklich aus, die sich sehr frühzeitig und bis zum Schluß um eine vernünftige gemeinsame Lösung bemüht haben. Das heißt, die anderen Parteien waren sich eigentlich alle einig, eine vernünftige, schnelle Lösung hinzukriegen. Nur die CDU hat zum einen, um das Wahlrecht möglichst überhaupt zu verhindern, und zum zweiten, weil ein innerparteilicher Konflikt offensichtlich sehr groß war, ein Modell präferiert, daß die anderen Parteien eigentlich nicht akzeptieren wollten, das sie aber jetzt sogar zu akzeptieren bereit sind.

(Kalisch [CDU/CSU]: Sie wissen doch, daß das alles nicht stimmt!)

— Nun hören Sie erst einmal gut zu, Herr Kalisch. Sie haben mindestens bis April versucht, die Wahlen insgesamt zu verhindern.

(Kalisch [CDU/CSU]: Das stimmt ebenfalls nicht!)

Immer wieder hat es Äußerungen gegeben. Sie haben dann, als es sich überhaupt nicht mehr vermeiden ließ, einen Vorschlag gemacht, nämlich in Berlin nicht acht Wahlkreise — nach Bundeswahlgesetz — , sondern 22 Wahlkreise einzuführen. Der Regierende Bürgermeister Momper mußte sich mit Herrn Diepgen über dieses alberne Modell im Fernsehen streiten. Herr Diepgen hat das mit einer Bravour verteidigt bis zur Peinlichkeit. Zwei Tage später kam ein Brief von Herrn Schäuble an den Berliner Senat, in dem wortwörtlich steht, das Modell der Berliner CDU und des Herrn Diepgen sei eindeutig verfassungswidrig.

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Nun bleiben wir doch mal sachlich und werden Sie nicht polemisch!)

— Was heißt denn polemisch? — Der CDU-Innenminister schreibt an den Berliner Senat, daß seine Parteifreunde in Berlin ein verfassungswidriges Modell vorgeschlagen haben. Sagen Sie: Wo gibt es denn so was? Alle haben Ihnen das vorher gesagt. Seit Januar war dieses Modell weg. Besprechungen zwischen Innensenator, Innenministerien und Berliner Parteien zeigten das. Aus Sorge um Konflikte, die offensichtlich unauflösbar sind, haben Sie lieber auf ein verfassungswidriges Modell zurückgegriffen, als daß Sie eine vernünftige Lösung herzustellen versucht haben.

(Kalisch [CDU/CSU]: Erstens stimmt es nicht, und zweitens würde ich zum Thema kommen!)




Wartenberg (Berlin)

— Bester Mann, dieser Brief existiert nun einmal, und er ist auch der Berliner Presse übergeben worden. Das Thema ist, daß Sie sich völlig verrannt haben.

(Kalisch [CDU/CSU]: „Bester Mann" , das stimmt doch nicht!)

Dann haben Sie versucht, ein Modell durchzusetzen, das ohne Frage legitim ist, gegen das überhaupt nichts spricht; jeder kann sich für ein Modell entscheiden. Das Modell aber, das Sie präferiert haben, ist bei der Kürze der Zeit wegen des Aufstellungsmodus höchst ungünstig, weil es die Berliner Bezirke zerschneidet. Der Rat der Bezirksbürgermeister, d. h. alle SPD- und alle CDU-Bezirksbürgermeister, hat sich gegen dieses Modell ausgesprochen. Der CDU-Bezirksbürgermeister von Steglitz hat eine öffentliche Presseerklärung gegen den Vorschlag der CDU gemacht.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Sehen Sie mal, so demokratisch sind wir!)

Das heißt, die CDU-Spitze in Berlin, getrieben von ihren Abgeordneten, hat gegen den Rest der Welt versucht, eine unvernünftige Sache durchzusetzen.
Nun ist in dieser Woche eine Entwicklung eingetreten, die dem Ganzen wirklich die Krone aufsetzt.

(Egert [SPD]: Eine Groteske!)

Die Sozialdemokraten haben prophylaktisch im März einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, um dann, wenn die Alliierten die Zustimmung geben würden, so schnell wie möglich die Beratungen durch Parlament und Bundesrat zu ziehen.

(Egert [SPD]: Das war wahrlich konstruktiv!)

Dieser Gesetzentwurf ist in erster Lesung schon vor einigen Wochen durch das Parlament gegangen und lag dem Innenausschuß zweimal zur Beratung vor.
Am Montag, nach schwierigen Gesprächen innerhalb der Koalition, ist beschlossen worden, einen eigenen Gesetzentwurf der CDU einzubringen, der dazu führt, daß das Berliner Wahlrecht erst Ende Mai/Anfang Juni in Kraft gesetzt werden kann, obwohl Ihr Gesetzentwurf diese Woche als Änderungsantrag zum SPD-Entwurf hätte beschlossen werden können. Dies war ein Angebot im Innenausschuß. Wir haben gesagt: Wir sind für das Wahlrecht. Wenn Sie die Mehrheit für Ihre Wahlkreiseinteilung haben, akzeptieren wir das.

(Kalisch [CDU/CSU]: Wir haben keinen Zeitdruck!)

Denn uns geht es in erster Linie um das Wahlrecht. Sie hatten nicht einmal die Stärke, auf einen so konstruktiven Vorschlag einzugehen. Die anderen Kollegen der CDU im Innenausschuß, aber auch im innerdeutschen Ausschuß haben uns signalisiert, solch eine Blamage der Berliner CDU sei wirklich peinlich.
Das heißt, nur aus Verzögerungstaktik, ohne inhaltlich etwas zu bewegen, wird dieses Gesetz um vier Wochen verschoben, und alle Berliner Parteien haben eine ganz kurze Frist bis zur Sommerpause, um die Kandidaten aufzustellen.

(Kalisch [CDU/CSU]: Das wissen sie schon seit Januar!)

Damit muß auch der innerparteiliche Willensbildungsprozeß abgekürzt werden. Die Parteien dürfen bekanntlich erst in dem Augenblick die Formalien einleiten, wenn der Bundesrat beschlossen hat. Vorher ist es nicht möglich.
Der demokratische Prozeß wird also abgekürzt, in Berlin entstehen Schwierigkeiten, und gewonnen wird inhaltlich überhaupt nichts. Man faßt sich wirklich an den Kopf, weil man immer wieder darüber sinniert: Was will die Berliner CDU oder was will die Bundes-CDU, die sich dem Drängen der Berliner CDU schweren Herzens angeschlossen hat?

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Die Berliner CDU hat sich immer für die Direktwahl ausgesprochen! Es ist nicht richtig, was Sie sagen!)

Diese Entwicklung kann nur unter zwei Gesichtspunkten bewertet werden: entweder man hofft immer noch, man könne verzögern und es käme nicht dazu, oder Sie haben offensichtlich Angst, einen Änderungsantrag zum SPD-Gesetzentwurf zu stellen, damit es formal nicht so ausgeht, als hätte die SPD das Erstgeburtsrecht, und das alles bei einer wesentlichen Frage der Demokratie, nämlich den Wählern das Recht auf Direktwahl zu geben. Das ist wirklich Polkwitz.
Ein Kollege hat in der Innenausschußsitzung etwas entgeistert geseufzt: Und diese Berliner CDU will auch noch Hauptstadtpartei werden! Das ist das Peinlichste, was jemals abgelaufen ist.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Nun übertreiben Sie nicht! Langsam reicht es ja!)

Meine Damen und Herren, wir stehen jetzt vor einer absurden Situation. Am Freitag hätte im Bundesrat das Wahlrecht für die Berliner installiert werden können. Auf Grund einer überhaupt nicht nachvollziehbaren Entscheidung der CDU/CSU-Fraktion, deren Bewertung auch in der Presse absolut negativ ist, wird das um vier Wochen verzögert. Es ändert sich überhaupt nichts. Die Wahlkreiseinteilung der CDU hätte gestern durchgesetzt werden können, übrigens auch noch durch einen Änderungsantrag in den mitberatenden Ausschüssen. Auch da wäre das noch möglich gewesen. Es wäre alles das möglich gewesen. Das entsprechende Angebot ist im Ausschuß gemacht worden. Trotzdem wurde es nicht gemacht.
Meine Damen und Herren, die CDU wird selber damit umgehen müssen, auch innerparteilich in Berlin, wo es deswegen ein bißchen Ärger gibt, weil es den Interessen einiger Bezirke bei Ihnen widerspricht.

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Zerbrechen Sie sich nicht unseren Kopf!)

Es ist zweitens so, daß Sie nicht in der Lage sind, den
Berlinerinnen und Berlinern einen Ablauf, zu präsen-



Wartenberg (Berlin)

tieren, bei dem man in einer der Sache angemessenen Form zu Direktwahlen kommt.

(Heyenn [SPD]: Aber das wird der Kittelmann nie begreifen!)

Sie haben vielmehr eine Polkwitzdiskussion in Gang gesetzt.
Wir werden dem CDU-Antrag natürlich zustimmen, weil wir für das Wahlrecht sind. Das ist ganz klar. Aber das hätten Sie schon gestern haben können.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Kittelmann [CDU/CSU]: Das war reiner Mitleidsbeifall!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121031600
Das Wort hat der Abgeordnete Kalisch.

Joachim Kalisch (CDU):
Rede ID: ID1121031700
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Wartenberg, das war von solcher Polemik und Unsachlichkeit, daß ich mich ganz doll beeilen muß, um einen Sachbeitrag unterzubringen.

(Egert [SPD]: Sagt einer einmal die Wahrheit, dann muß er sich den Vorwurf anhören, es sei Polemik! Das ist ungeheuerlich! Das sagen Sie wider besseres Wissen!)

Ich muß sehr schnell machen, damit ich alles unterbringe.
Dazu kommt natürlich das Verständnis für den Kollegen Wartenberg: Wenn die Politik der SPD seit langem schon auf dem falschen Bein hurra schreit, muß er natürlich einen Buhmann finden und muß sich entlasten.

(Egert [SPD]: Wer schreit hier hurra? — Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Lesen Sie einmal die „Frankfurter Allgemeine"! )

Ziel des vorliegenden Entwurfs ist es, das geltende Bundeswahlgesetz so zu ändern, daß die Berliner Bundestagsabgeordneten schon bei der bevorstehenden Bundestagswahl am 2. Dezember auf die gleiche Weise wie ihre westdeutschen Kollegen gewählt werden können. Das ist möglich geworden, nachdem die drei westlichen Alliierten der Einleitung der erforderlichen Gesetzgebung zugestimmt haben. Wir erwarten allerdings, daß gleichzeitig mit der Verabschiedung des Gesetzes die Frage des vollen Stimmrechts durch die Aufhebung der alliierten Vorbehalte zufriedenstellend gelöst wird.

(Wartenberg [Berlin] [SPD]: Das ist doch alles gelöst!)

Zugleich hoffen wir, daß die Übernahme von Bundesgesetzen sowie die Geltung des Bundesverfassungsgerichts auch in Berlin alsbald einer vernünftigen Lösung zugeführt werden.

(Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es!)

Bereits am 10. Januar 1990 hat die CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin einen Antrag auf Direktwahl der Berliner Abgeordneten zum Bundestag eingebracht. Hierauf möchte ich wegen der unsinnigen Behauptung der Berliner SPD, des Berliner Senats, wir wollten die Direktwahl verhindern — Herr Wartenberg hat es eben wiederholt —,

(Heyenn [SPD]: Zu Recht! — Meneses Vogl [GRÜNE]: Zumindest verzögert!)

ausdrücklich hingewiesen haben. Wir wollen sie um so mehr, weil wir glauben, daß Wahlen in Berlin gleichzeitig ein Votum der Berliner über die verfahrene Politik des grünroten Senats,

(Lachen bei der SPD)

angefangen von der Wissenschaftspolitik, hier insbesondere dem Rauswurf der Akademie der Wissenschaften, Mompers erneutem Wortbruch zum HahnMeitner-Institut bis hin zu Fragen der Kindertagesstätten und zur Verkehrspolitik, sein werden.

(Egert [SPD]: Wollen Sie diese Attacke auf mein Zwerchfell fortsetzen?)

Der heute eingebrachte Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen bezieht sich in seiner Einteilung der Wahlkreise auf jene erste Senatsvorlage des Statistischen Landesamtes Berlin vom 16. Januar 1990, die wir nach wie vor als vernünftig und einsichtig empfinden. Erst später ist der Berliner Senat — und in seinem Gefolge auch die SPD-Fraktion — davon abgewichen und hat eine andere, vorwiegend von parteipolitischen Gesichtspunkten gefärbte Wahlkreiseinteilung vorgeschlagen, der wir nicht mehr zustimmen konnten.

(Wartenberg [Berlin] [SPD]: Der Steglitzer CDU-Bürgermeister ist nun ein Sozialdemokrat?)

Nach dem Bundeswahlgesetz soll die Bevölkerungszahl in den einzelnen Wahlkreisen möglichst etwa bei 220 000 deutschen Einwohnern liegen. Abweichungen nach oben und unten sollen jeweils nicht mehr als 25 % und dürfen nicht mehr als 33 % betragen. Nach dem Modell des Berliner Senats, das die SPD vollständig übernommen hat, ist die 25 %-Grenze jedoch in mehreren Wahlkreisen ganz klar überschritten.

(Abg. Egert [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Wenn nachher noch Zeit übrig ist, gerne.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121031800
Sie gestatten keine Zwischenfrage?

Joachim Kalisch (CDU):
Rede ID: ID1121031900
Nein.
Gerade bei einer Neugründung von Wahlkreisen im Rahmen eines neuen Wahlrechts dürfen nach unserer demokratischen und rechtlichen Auffassung bei den Wahlkreisen die Schwankungsbereiche nicht zu hoch sein, damit keine Ausnahmeregelung in Anspruch genommen werden muß. Der gesetzgeberische Sinn einer Ausnahmeregelung ist ein Verzicht auf ständige Neuschneidung von Wahlkreisen auf Grund der Fluktuation innerhalb bestehender Wahlkreise. Es ist auch möglich, daß gravierende Unterschiede in der Gewichtung der einzelnen Stimmen zu Wahlanfechtungen führen können. Eine Schwankungsbreite bei den Wahlkreisen zwischen 170 000 und 270 000 Einwoh-



Kalisch
nern, wie dies der Entwurf der SPD vorsieht, erscheint uns als unverantwortbar hoch.

(Wartenberg [Berlin] [SPD]: Bringen Sie Ihre Wahlkreise doch ein! Dann stimmen wir doch zu!)

Die Bindung an Bezirksgrenzen, wie es dem Entwurf der SPD entspricht, kann dabei nicht als Gegenargument gelten. Der Vorschlag der Koalitionsparteien hat den entscheidenden Vorteil — auch das haben Sie nicht erwähnt, Herr Wartenberg —, daß die in Berlin bestehenden Bezirksgrenzen weitgehend eingehalten werden. Lediglich bei den Bezirken Charlottenburg und Steglitz wird eine Aufteilung auf zwei Wahlkreise notwendig. Dabei folgt die Wahlkreisgrenze geographisch markanten Merkmalen wie beispielsweise der Spree und dem Teltow-Kanal.

(Heyenn [SPD]: Pause!)

— Ich schaffe es sonst nicht.
Meine Fraktion ist deshalb mit der willkürlichen Festlegung der Wahlkreise im SPD-Entwurf in keiner Weise einverstanden. Wir würden damit ein Gesetz beschließen, das von Anfang an den Keim der Änderungspflicht in sich trüge. Dies hat bereits vor Wochen der Partei- und Fraktionsvorsitzende der Berliner CDU, Eberhard Diepgen, dem Berliner Innensenator Pätzold eindeutig brieflich mitgeteilt. Auch das haben Sie nicht erwähnt.
Daß die SPD dennoch mit einem unveränderten Entwurf angetreten ist, zeigt klar, was sie will, nämlich vordergründigen populistischen Beifall und Parteitaktischen Vorteil, nicht jedoch sachliche und konstruktive Arbeit leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Heyenn [SPD]: Sagen Sie, glauben Sie das eigentlich selbst?)

— Ja, sicher. Ich glaube es, und Sie wissen es.

(Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Glaube macht stark!)

Die Berliner Bevölkerung ist aber viel zu klug, um solchem leichtgewichtigem Gerede auf den Leim zu gehen. Wenn es nämlich um die Abwägung, ob man möglichst gleiche Wahlkreise oder die Einhaltung von Bezirksgrenzen will, stellt sich letzten Endes die Frage : Haben Wahlgerechtigkeit und Wahlgleichheit oder hat die Einhaltung von Verwaltungsgrenzen Vorrang? Wir sind der Ansicht, daß Wahlgerechtigkeit in jedem Fall den Vorrang hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei der im Gesetzentwurf vorgeschlagenen Neuregelung handelt es sich um ein verfassungsrechtlich ausgewogenes Konzept. Dem Prinzip der Wahlgleichheit und den Grundsätzen des Bundeswahlgesetzes wird hier optimal Rechnung getragen.

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Das ist der entscheidende Punkt, Herr Kollege!)

Vor diesem Hintergrund hoffe ich, daß die SPD ihren Gesetzentwurf zurückziehen wird und daß alle
Fraktionen des Deutschen Bundestages unserem Gesetzentwurf zustimmen werden. — Schönen Dank.

(Egert [SPD]: Hat er noch Zeit? Ich würde gern noch eine Frage stellen!)

— Habe ich noch Zeit?

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121032000
Hochverehrter Herr Kollege, würden Sie noch eine Zwischenfrage gestatten?

Joachim Kalisch (CDU):
Rede ID: ID1121032100
Aber gern. Vizepräsidentin Renger: Herr Kollege Egert!

Jürgen Egert (SPD):
Rede ID: ID1121032200
Herr Kollege Kalisch, ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört.

(Kalisch [CDU/CSU] : Das freut mich!)

Und ich habe mich gefragt: Warum reden Sie eigentlich über den Tatbestand hinweg? Wenn Sie Direktwahl wollen, hätten Sie gestern einfach Ihre Vorstellungen im Innenausschuß zur Abstimmung stellen können, dann hätten wir heute einen beschlossenen Gesetzentwurf. Warum haben Sie das eigentlich nicht gemacht?

Joachim Kalisch (CDU):
Rede ID: ID1121032300
Der Kollege Lüder — —

(Egert [SPD]: Ach, der Kollege Lüder ist schuld daran?)

— Moment; sind Sie dran oder ich? Der Kollege Lüder hat Ihnen die Geschichte, die Historie dieses Entwurfs geschildert. Ich dachte, es sei nicht mehr nötig, noch einmal zu sagen, wie das Auf und Ab ging. Es ging ja nicht darum, daß wir es verhindern wollten.

(Lachen bei der SPD)

Sie wissen genau, daß die westlichen Alliierten nicht zugestimmt haben und daß sie gegen — —

(Wartenberg [Berlin] [SPD]: Aber gestern hatten sie zugestimmt!)

— Da lag unser Entwurf schon da, und Sie werden uns gestatten, daß wir unseren Gesetzentwurf einbringen, wann immer wir das wollen.

(Wartenberg [Berlin] [SPD]: Über vier Wochen für die Berliner verzögert!)

Verehrter Herr Egert, der Zeitdruck, der hier simuliert wird,

(Unruhe)

ist absolut unrichtig. Sie haben doch schon seit langem die Möglichkeit, in Ihren Parteien Parteitage anzusetzen und sich zu überlegen, was kommt.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121032400
Herr Kollege Kalisch, der Kollege Lüder würde Ihnen auch noch gerne eine Frage stellen. Gestatten Sie das?

Joachim Kalisch (CDU):
Rede ID: ID1121032500
Ja, bitte.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121032600
Bitte, Herr Kollege Lüder!

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1121032700
Herr Kollege Kalisch, da Sie mich zitiert haben, frage ich Sie, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich in meiner Rede, zu der ich Wort



Lüder
für Wort stehe, sowohl in der schriftlichen als auch in der mündlichen Fassung, zu der Frage, die Ihnen eben gestellt wurde, warum die Abstimmung gestern im Innenausschuß so verlaufen sei, kein Wort gesagt habe.

Joachim Kalisch (CDU):
Rede ID: ID1121032800
Meine Antwort, die ich gegeben habe, bezog sich auf die Historie. Das war der Abschluß für uns.

(Widerspruch bei der SPD)

Wir wollten den Gesetzentwurf, den wir auf dem Tisch hatten, einbringen.

(Wartenberg [Berlin] [SPD]: Auf die Frage antworten!)

— Das ist die Antwort!

(Anhaltende Zurufe)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121032900
Meine Damen und Herren, da der Abgeordnete gefragt worden ist, muß man Ihm auch die Chance geben zu antworten. Würden Sie das jetzt vielleicht zulassen!

Joachim Kalisch (CDU):
Rede ID: ID1121033000
Wir haben unseren Gesetzentwurf fertig gehabt und zum frühestmöglichen Zeitpunkt vorgelegt. Sie haben Ihren Gesetzentwurf vorgelegt, als die Alliierten noch nicht zugestimmt hatten. So, das war es.

(Beifall bei der CDU/CSU — Egert [SPD]: Wenn es das war!)

Ich danke Ihnen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121033100
Meine Damen und Herren, es gibt noch weitere Wortmeldungen. Wir sind noch nicht am Ende. Das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Meneses Vogl.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1121033200
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über ein Thema, das schon längst hätte erledigt werden können, wenn der demokratische Anspruch der Berliner Bevölkerung, nämlich ihre Bundestagsabgeordneten direkt wählen zu können, von allen Bundestagsparteien ernst genommen worden wäre. Wenn überall in Europa die Bürger frei wählen können, so ist es nicht einzusehen, warum die West-Berliner von diesem Recht ausgeschlossen sein sollen. Das ist Konsens, oder besser gesagt: Das war Konsens.
Nach dem 9. November 1989 wurde deutlich, daß dieses Ziel greifbarer geworden war. Zu diesem Zeitpunkt war auch die CDU der Meinung, daß die Verwirklichung dieses selbstverständlichen Rechtes vorangetrieben werden müsse. Was aber die CDU in den darauffolgenden Monaten von sich gegeben hat, kann nur als eine Verhöhnung der Demokratie zugunsten parteipolitischer Interessen bezeichnet werden.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ach du lieber Gott!)

Herr Wartenberg hat noch einmal mit aller Deutlichkeit beschrieben, wie das ganze Verfahren abgelaufen ist.
Die Tatsache, daß wir heute in Zeitnot geraten sind und die Berliner um ihr Recht bangen müssen, ist nur der CDU, ausschließlich der CDU zuzurechnen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121033300
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kittelmann?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1121033400
Nein, ich mache es genau so wie der Kollege Kalisch.
Sie haben die parlamentarischen Beratungen bewußt verzögert und sich nicht gescheut, die abenteuerlichsten Vorschläge zu unterbreiten, die mit Wahlrechtsgleichheit und Verfassungsmäßigkeit nichts zu tun haben.

(Kalisch [CDU/CSU]: Jetzt kommt das nächste Märchen!)

Die Gründe dafür sind im Verlaufe der Diskussion deutlich geworden; Ihre pedantische und peinliche Suche nach Hindernissen hat Sie entblößt.
Die Berliner CDU fürchtet eine Stabilisierung und Bestätigung der rot-grünen Mehrheit in der Stadt

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Da haben wir gar keine Angst!)

— hören Sie mal zu, Herr Gerster! —, und für die Bundespartei und für den Bundeskanzler ist eine solche Vorstellung ein Alptraum,

(Zuruf von der CDU/CSU: Ach du lieber Gott!)

der ihn vielleich um seine Wiederwahl bringen könnte.
Nun hat die CDU in letzter Minute beschlossen, in die Beratungen einzutreten, nachdem die FDP gedroht hatte, für den SPD-Entwurf zu stimmen. Die Berliner FDP hat ein deutliches Interesse daran, daß diese Diskussion beschleunigt wird; denn bliebe alles beim alten, würde sie keinen Vertreter in den Bundestag der 12. Legislaturperiode entsenden können. Somit würde Herr Lüder sein Mandat verlieren, zumindest als Berliner.

(Dr. Hoyer [FDP]: Das wäre ein schlimmer Verlust! — Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Du liebe Zeit, das sind doch Spekulationen, die nicht hierher gehören!)

Heute haben wir es mit einem Antrag der CDU zu tun, der eigentlich nicht neu ist. Er wird von der FDP unterstützt, weil für sie nicht die Aufteilung der Wahlkreise, sondern einfach die Tatsache, daß im Dezember neu gewählt werden soll, maßgeblich ist. So erklärt sich die anfängliche Unterstützung des SPD-Antrags durch die FDP.
Die vorgeschlagene Aufteilung der Wahlkreise in diesem Antrag zeigt wiederum, daß für die CDU nicht vorrangig ist, was die Berliner wollen, sondern die Aufrechterhaltung von Dominanz in bestimmten Gebieten der Stadt und die Sicherung von Bundestagsplätzen für strategisch für sie wichtige Politiker.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Sie haben überhaupt keine Ahnung von Berliner Zuschnitten!)




Meneses Vogl
Zwei Beispiele belegen dies sehr deutlich, und zwar die vorgeschlagenen Wahlkreise 252 und 253. Die CDU-Domäne Zehlendorf wird um den Teil von Steglitz ergänzt, in dem die CDU ebenfalls traditionell die Mehrheit hat.
In diesem Wahlkreis kandidiert Heinrich Lummer, der ausdrücklich und selbstsicher erklärt hat, daß er Bundestagsabgeordneter bleiben wird; „wird", wohlgemerkt. Er hat in Berlin immer dafür gesorgt, die erzkonservative, extrem rechts eingestellte Wählerschaft für die CDU zu sichern. Sein Wunsch ist also für die CDU Befehl, es sei denn, die CDU will auf diese Wähler verzichten. Sie will und kann es aber nicht; denn Herr Lummer soll schließlich die Stimmen der Reps für die CDU garantieren bzw. zurückgewinnen.
Deshalb muß seine Partei einen Wahlkeis so zurechtschneiden, daß Herr Lummer auf jeden Fall ein Direktmandat erhält. Eine andere Konstellation würde seine direkte Wahl gefährden bzw. würde ihn in parteiinterne Konkurrenz mit anderen Parteifreunden bringen, die ebenfalls ein Direktmandat wollen und für die CDU wählerträchtig sind.
Dies ist der Fall beim Wahlkreis 253.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Aber Sie kriegen nie direkt einen Wahlkreis!)

Er besteht aus Wilmersdorf und aus dem Teil von Charlottenburg, der der CDU ein Direktmandat sichert. Dort kandidiert nämlich Herr Kittelmann, der, wie sein Parteifreund Lummer, auch nach Bonn will und für die CDU wählermäßig wichtig ist.

(Kalisch [CDU/CSU]: Reden Sie zum Wahlgesetz?)

Herr Lummer darf also nicht gegen Herrn Kittelmann kandidieren, sondern beide sollen ein Direktmandat erhalten.
So entsteht der Wahlkreisvorschlag, der uns hier von der CDU präsentiert wird. Das ist allerdings ein Hohn. Allein parteipolitische Interessen kennzeichnen diesen Vorschlag; demokratische Kriterien und der Wille der Berliner Bevölkerung sind zweitrangig.
Wir können da nur an die CDU-Kollegen, zumindest an die Bonner Kollegen appellieren: Lassen Sie zugunsten eines sauberen, demokratischen Verfahrens doch endlich Ihren Machterhaltungstrieb ruhen; akzeptieren Sie doch endlich Ihre in Berlin erlittene Wahlniederlage — die Sie noch immer nicht verwunden haben —, und erkennen Sie doch endlich an, daß Sie für die nächsten Jahre in Berlin in die Opposition gehören! Der einzige Gewinner dieser Einsicht kann nur Berlin sein.
Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sie kommen nie in die Gefahr, direkt gewählt zu werden!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121033500
Meine Damen und Herren, das Wort hat die Senatorin für Bundesangelegenheiten des Landes Berlin, Frau Dr. Pfarr.

(Zuruf von der CDU/CSU: Uns bleibt auch nichts erspart! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1121033600
Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Ihnen bleibt zwar nichts erspart; aber ich muß mich sehr kurz fassen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch gut so!)

Deshalb wird es mir nicht gelingen, die neuesten Begründungen, die die CDU für die Verweigerung Ihrer Zustimmung zum Direktwahlrecht bisher vorgetragen hat, zu widerlegen. So wechselnd und so schillernd sie auch jeweils waren, eines waren sie immer, nämlich unzutreffend.

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)

Für den Senat von Berlin kann ich an dieser Stelle nur noch Dank sagen.

(Zuruf des Abg. Kittelmann [CDU/CSU])

— Ja, aber doch nicht, wenn Sie gegen das Direktwahlrecht der Berlinerinnen und Berliner so intensiv gearbeitet haben, wie Sie es getan haben; dann doch nicht!

(Kittelmann [CDU/CSU]: Wählen wir, oder wählen wir nicht?)

— Gegen Ihren Willen!

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist eine Unverschämtheit! — Schulze [Berlin] [CDU/ CSU]: Das ist eine unglaubliche Behauptung, Frau Senatorin! Das glauben Sie doch selber nicht! — Zuruf von der CDU/CSU: Ich habe das nicht anders erwartet!)

Dank sagen möchte ich für den Senat von Berlin an das Auswärtige Amt, das sich die ganze Zeit sehr intensiv, sehr konsequent um die Durchsetzung des Direktwahlrechts gegenüber den Alliierten bemüht hat; den Alliierten selbst, die ermöglicht haben, daß dieses Direktwahlrecht nun zur Anwendung kommen kann, und schließlich der SPD-Bundestagsfraktion, die durch ihren Gesetzesvorschlag deutlich gemacht hat, daß wir willens sind, dieses Direktwahlrecht auf jeden Fall durchzusetzen.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: War das schön, als es noch qualifizierte Minister gab!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1121033700
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 11/7072 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Bevor wir die Sitzung beenden, habe ich einen Ordnungsruf an Frau Matthäus-Maier zu erteilen. Sie hat



Vizepräsidentin Renger
den Kollegen Jäger einen Heuchler genannt. Dies verdient einen Ordnungsruf.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Aber das hat sie bestimmt nicht so gemeint, Frau Präsidentin! — Heiterkeit bei allen Fraktionen)

Mit diesem Ordnungsruf kommen wir zum Schluß der heutigen Tagesordnung.

(Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Sehr schön, Frau Präsidentin!)

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. Mai, 9 Uhr ein.
Ich wünsche einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.