Protokoll:
11149

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 11

  • date_rangeSitzungsnummer: 149

  • date_rangeDatum: 15. Juni 1989

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 00:09 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/149 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 149. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 15. Juni 1989 Inhalt: Glückwünsche zu den Geburtstagen der Abg. Vogel (Ennepetal), Susset, Dr. Unland, Dr. Hüsch und des Vizepräsidenten Westphal 11021 A Wahl der Abg. Frau Roitzsch als ordentliches Mitglied im Wahlprüfungsausschuß an Stelle des ausgeschiedenen Abg. Dr. Lammert 11021 B Erweiterung der Tagesordnung 11021 B Absetzung der Punkte 5 m, 7 und 19 von der Tagesordnung 11021 D Zur Geschäftsordnung Frau Teubner GRÜNE 11022 A Bohl CDU/CSU 11022 C Tagesordnungspunkt 4: a) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zur sozialen Dimension des Binnenmarktes (Drucksache 11/4340) b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Peter (Kassel), Dreßler, Heyenn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Europäischer Binnenmarkt und Soziale Demokratie (Drucksachen 11/4034, 11/4699) c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Dr. Hellwig, Bohl, Daweke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Cronenberg (Arnsberg), Heinrich, Dr. Thomae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Sozialraum Europäische Gemeinschaft (Drucksachen 11/4163, 11/4700) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Europäischer Binnenmarkt und soziale Demokratie (Drucksachen 11/3852, 11/4750) Dreßler SPD 11023 B Dr. Blüm, Bundesminister BMA 11025 A Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 11027 A Frau Würfel FDP 11029 A, 11037 B Peter (Kassel) SPD 11030 C Frau Dr. Hellwig CDU/CSU 11032 B Reimann SPD 11033 C Fuchtel CDU/CSU 11035 A Urbaniak SPD 11036 A Frau Beck-Oberdorf GRÜNE (Erklärung nach § 30 GO) 11037 D Tagesordnungspunkt 5: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der EG-Richtlinie zur Koordinierung des Rechts der Handelsvertreter (Drucksachen 11/3077, 11/4559) b) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zur Strategie des Europäischen Parlaments im Hinblick auf die Schaffung der Europäischen Union (Drucksache 11/4228) c) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zu den Beziehungen zwischen den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament (Drucksache 11/4229) II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Juni 1989 d) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Legislative Entschließung mit der Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat für eine Verordnung zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1107/70 des Rates über Beihilfen im Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr (Drucksache 11/3756) e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Verordnung des Rates über den Abbau von Grenzkontrollen der Mitgliedstaaten im Straßen- und Binnenschiffsverkehr (Drucksachen 11/4019 Nr. 2.37, 11/4535) f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Gurtanlegepflicht in Kraftfahrzeugen mit einem Gewicht von weniger als 3,5 Tonnen (Drucksachen 11/3703 Nr. 2.28, 11/4449) g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über den zulässigen Blutalkoholgehalt von Kraftfahrern (Drucksachen 11/4161 Nr. 2.21, 11/4558) h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über die Konsultierung und Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Flugverkehrsdienste und der Verkehrsflußregelung und Vorschlag für eine Entscheidung des Rates zur Ausdehnung der Entscheidung 78/174/EWG auf die See- und Luftverkehrsinfrastruktur und Vorschlag für eine Empfehlung des Rates über eine flexible und rationelle Nutzung des Luftraums (Drucksachen 11/4161 Nr. 2.19, 11/4597) i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Geschwindigkeitsbegrenzungen für bestimmte Kraftfahrzeugklassen in der Gemeinschaft (Drucksachen 11/4161 Nr. 2.23, 11/4557) Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Rock j) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für das Post- und Fernmeldewesen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Entschließung des Rates über die Stärkung der weiteren Koordinierung der Einführung des diensteintegrierenden digitalen Fernmeldenetzes (ISDN) in der Gemeinschaft bis 1992 (Drucksachen 11/4019 Nr. 2.39, 11/4479) k) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für das Post- und Fernmeldewesen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für einen Beschluß des Rates über hochauflösendes Fernsehen (HDTV) (Drucksachen 11/4019 Nr. 2.38, 11/4480) 1) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für die Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsregeln im Rahmen der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (Drucksachen 11/818, 11/4544) n) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments (Drucksache 11/4650) o) Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Entschließungsantrag der Abgeordneten Frau Beer, Dr. Mechtersheimer und der Fraktion DIE GRÜNEN zur Erklärung der Bundesregierung über die Ergebnisse des Europäischen Rates und der Gespräche in Washington (Drucksachen 11/1875, 11/4450) p) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Mitteilung der Kommission über ein Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über Forschung und technologische Entwicklung auf den Gebieten Rohstoffe und Rückführung (1990-1992) und Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur Annahme eines spezifischen Programms der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über Forschung und technologische Entwicklung auf den Gebieten Rohstoffe und Rückführung (1990-1992) (Drucksachen 11/4337 Nr. 25, 11/4669) q) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Juni 1989 III Vorschlag für eine Entscheidung des Rates zur Annahme von zwei spezifischen Programmen für Forschung und technologische Entwicklung auf dem Gebiet der Umwelt Step: Wissenschaft und Technologie für den Klimaschutz EPOCH: Europäisches Programm für Klimatologie und natürliche Risiken (Drucksachen 11/3831 Nr. 28, 11/4670) r) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Integration in den Europäischen Gemeinschaften (Berichtszeitraum Oktober 1988 bis März 1989) (Drucksache 11/4569) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Vollendung des europäischen Binnenmarktes zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Europapolitik (Drucksachen 11/3865, 11/3851 [neu], 11/4735) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament Entschließung zum Europa der Bürger (Drucksachen 11/3866, 11/3087, 11/4751) Dr. Dregger CDU/CSU 11040 B Frau Wieczorek-Zeul SPD 11044 B Mischnick FDP 11046 D Frau Vennegerts GRÜNE 11049 A Dr. Haussmann, Bundesminister BMWi . 11051 C Brück SPD 11053 A Kittelmann CDU/CSU 11055 A Häfner GRÜNE 11056 B Straßmeir CDU/CSU 11058 C Antretter SPD 11059B Dr. Zimmermann, Bundesminister BMV 11061 D Freiherr von Schorlemer CDU/CSU 11062 D Dr. Gautier SPD 11063 D Dr. Wulff CDU/CSU 11065 D Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister AA 11066 C Irmer FDP (Erklärung nach § 31 GO) 11081 A Frau Wieczorek-Zeul SPD (Erklärung nach § 31 GO) 11081 C Dr. Todenhöfer CDU/CSU (Erklärung nach § 31 GO) 11082 D Abstimmungen 11080 A Tagesordnungspunkt 6: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Lohnstatistik (Drucksachen 11/4118, 11/4766) 11083 B Tagesordnungspunkt 8: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung neuer Freihäfen und zur Änderung des Zollgesetzes (Drucksachen 11/4033, 11/4738, 11/4739) 11083 D Zusatztagesordnungspunkt 5: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines . . . Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften (Drucksachen 11/2218, 11/4643, 11/4647) 11084 A Tagesordnungspunkt 11: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen: Einwilligung in die Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in München-Bogenhausen, Möhlstraße 3, gemäß § 64 Abs. 2 BHO (Drucksachen 11/4067 [neu], 11/4446) 11084 B Tagesordnungspunkt 12: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 116 zu Petitionen (Drucksache 11/4656) 11084 C Tagesordnungspunkt 13: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Zweite Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung (Drucksachen 11/4189, 11/4430) 11084 C Tagesordnungspunkt 14: Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über einen Verhaltenskodex im Zusammenhang mit computergesteuerten Buchungssystemen (Drucksachen 11/3703 Nr. 2.26, 11/4616) 11084 D IV Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Juni 1989 Tagesordnungspunkt 15: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung und Ergänzung von Anhang II der Richtlinie 86/280/EWG betreffend Grenzwerte und Qualitätsziele für die Ableitung bestimmter gefährlicher Stoffe im Sinne der Liste I des Anhangs zur Richtlinie 76/464/EWG (Drucksachen 11/3832 Nr. 29, 11/4655) 11084 D Tagesordnungspunkt 16: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Festsetzung von Höchstgehalten an Rückständen von Schädlingsbekämpfungsmitteln auf und in bestimmten Erzeugnissen pflanzlichen Ursprungs, einschließlich Obst und Gemüse, sowie zur Änderung der Verfahrensvorschriften der Richtlinie 76/895/EWG über die Festsetzung von Höchstgehalten an Rückständen von Schädlingsbekämpfungsmitteln auf und in Obst und Gemüse (Drucksachen 11/4019 Nr. 2.36, 11/4671) 11085 A Zusatztagesordnungspunkt 6: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Beendigung des Bürgerkrieges in der Republik SUDAN (Drucksache 11/4747) 11085 B Tagesordnungspunkt 17: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Apel, Poß, Brück, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Steuerliche Behandlung der Grenzgänger (Drucksache 11/2328) 11085 C Zusatztagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes (Drucksache 11/391) 11085 C Tagesordnungspunkt 18: a) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Äußerungen von Regierungssprecher Bundesminister Klein zur Waffen-SS (Drucksache 11/4585) b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Äußerung des Regierungssprechers Bundesminister Klein zur Waffen-SS (Drucksache 11/4696 [neu]) Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE 11085 D Waltemathe SPD 11087 B Klein, Bundesminister BPA 11088 C Frau Dr. Sonntag-Wolgast SPD 11089 D Gerster (Mainz) CDU/CSU 11090 D Mischnick FDP 11092 B Lüder FDP (Erklärung nach § 31 GO) 11093 C Gerster (Mainz) CDU/CSU (Erklärung nach § 30 GO) 11094 A Vizepräsident Westphal 11087 B Zusatztagesordnungspunkt 8: Aussprache zu den Ereignissen in der Volksrepublik China Frau Geiger CDU/CSU 11094 D Dr. Ehmke (Bonn) SPD 11096 B Dr. Feldmann FDP 11097 D Frau Dr. Vollmer GRÜNE 11098 D Schäfer, Staatsminister AA 11099 D Antretter SPD 11101 A Dr. Stercken CDU/CSU 11102 B Frau Kelly GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 11103 B Tagesordnungspunkt 20: Beratung des Antrags der Abgeordneten Schäfer (Offenburg), Lennartz, Frau Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bericht zur Lage von Natur und Umwelt (Drucksache 11/4317) Lennartz SPD 11104 B Schmidbauer CDU/CSU 11106 C Dr. Knabe GRÜNE 11108 A, 11113 D Baum FDP 11108 D Dr. Töpfer, Bundesminister BMU 11110 D Dr. Wernitz SPD 11112 D Dr. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 11114 A Tagesordnungspunkt 21: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Frau Teubner, Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Raumplanungsgesetzes (Drucksachen 11/2666, 11/4678, 11/4679) b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Raumordnungsgesetzes (Drucksachen 11/3916, 11/4678) Frau Hasselfeldt, Bundesminister BMBau 11115 C Frau Teubner GRÜNE 11117 A Magin CDU/CSU 11118 B Großmann SPD 11120 A Dr. Hitschler FDP 11122 C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Juni 1989 V Tagesordnungspunkt 22: a) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Häfner und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Drucksache 11/4462) b) Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Trenz und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Ausländerinnen und Ausländer (Drucksache 11/4463) c) Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Trenz und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur rechtlichen Gleichstellung der ausländischen Wohnbevölkerung durch Einbürgerung und Geburt (Einbürgerungsgesetz) (Drucksache 11/4464) d) Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Trenz und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Niederlassung von Ausländern und Ausländerinnen (Niederlassungsgesetz für Ausländer und Ausländerinnen) (Drucksache 11/4466) Frau Trenz GRÜNE 11124 C Spranger, Parl. Staatssekretär BMI 11126 A Dr. Olderog CDU/CSU 11127 A Schröer (Mülheim) SPD 11129 C Dr. Hirsch FDP 11131 B Tagesordnungspunkt 23: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes (Drucksachen 11/2276, 11/4718, 11/4737) Frau Weyel SPD 11133 C Schartz (Trier) CDU/CSU 11135 C Frau Flinner GRÜNE 11139 A Heinrich FDP 11139 D Pfeifer, Parl. Staatssekretär BMJFFG 11140 D Tagesordnungspunkt 24: Beratung des Zwischenberichts der Enquete-Kommission: „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung" (Drucksache 11/3267) Kirschner SPD 11142 A Dr. Becker (Frankfurt) CDU/CSU 11144 B Frau Wilms-Kegel GRÜNE 11146 D Dr. Thomae FDP 11147 C Egert SPD 11150A Frau Limbach CDU/CSU 11152 A Jaunich SPD 11154 D Seehofer, Parl. Staatssekretär BMA 11157 A Tagesordnungspunkt 25: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Achte Zusammenfassung der Berichte von in Südafrika engagierten deutschen Unternehmen über die bei der Anwendung des Verhaltenskodex der Europäischen Gemeinschaft für Unternehmen mit Tochtergesellschaften, Zweigniederlassungen oder Vertretungen in Südafrika erzielten Fortschritte und deren Bewertung durch die Bundesregierung (Drucksache 11/3802) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Saibold, Frau Eid und der Fraktion DIE GRÜNEN: Kein Tourismusverkehr mit dem Apartheid-Staat (Drucksachen 11/3161, 11/4453) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Eid, Frau Schilling und der Fraktion DIE GRÜNEN: Unterstützung der Kriegsdienstverweigerer Südafrikas —15. Mai 1989, Internationaler Tag der Kriegsdienstverweigerer (Drucksache 11/4572) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Schmude, Ganseforth, Leidinger, Dr. Osswald, Dr. Timm, Toetemeyer, Verheugen, Weisskirchen (Wiesloch), Dr. Böhme (Unna), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD: Aufnahme südafrikanischer Kriegsdienstverweigerer in der Bundesrepublik Deutschland (Drucksache 11/4652) Frau Eid GRÜNE 11159 D Dr. Hornhues CDU/CSU 11160 D Dr. Schmude SPD 11161 D Irmer FDP 11162 D Dr. Riedl, Parl. Staatssekretär BMWi 11163 D Tagesordnungspunkt 26: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Börsengesetzes (Drucksachen 11/4177, 11/4333, 11/4721) Dr. Solms FDP 11165 B Tagesordnungspunkt 27: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit a) zum Antrag der Fraktion der SPD: Förderung von Frauen in Entwicklungsländern b) zum Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN: Frauen in der Entwicklungszusammenarbeit (Drucksachen 11/859, 11/1917, 11/3732) 11165 C VI Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Juni 1989 Tagesordnungspunkt 28: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Beruf der Rettungsassistentin und des Rettungsassistenten (Rettungsassistentengesetz) (Drucksachen 11/2275, 11/4542, 11/4664) Werner (Ulm) CDU/CSU 11166 B Wittich SPD 11167 A Frau Würfel FDP 11168 D Frau Wilms-Kegel GRÜNE 11169 B Pfeifer, Parl. Staatssekretär BMJFFG 11170 A Tagesordnungspunkt 9: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Deutsche Siedlungs- und Landesrentenbank (Drucksachen 11/2169, 11/4759) Dr. Meyer zu Bentrup CDU/CSU 11171 A Roth SPD 11171 D Rind FDP 11172 D Hüser GRÜNE 11173 D Dr. Voss, Parl. Staatssekretär BMF 11174 C Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung) : Fragestunde — Drucksache 11/4724 vom 9. Juni 1989 — Diskriminierung der Frauen durch die Bundesanstalt für Arbeit bei der Bewertung der Anforderungen an Uhrmacher MdlAnfr 14, 15 09.06.89 Drs 11/4724 Frau Würfel FDP Antw PStSekr Vogt BMA 11068 D ZusFr Frau Würfel FDP 11069A Wegfall der Fahrkostenerstattung für die Bewohner von Helgoland bei Arztbesuchen auf dem Festland nach Inkrafttreten des Gesundheits-Reformgesetzes MdlAnfr 16, 17 09.06.89 Drs 11/4724 Frau Blunck SPD Antw PStSekr Vogt BMA 11069 C ZusFr Frau Blunck SPD 11069 D ZusFr Frau Wollny GRÜNE 11070 C Auslegung der §§ 29 und 30 SGB V betr. Finanzierung der Kosten für Zahnersatz und kieferorthopädische Behandlung MdlAnfr 11, 12 09.06.89 Drs 11/4724 Kirschner SPD Antw PStSekr Vogt BMA 11070 D, 11071 C ZusFr Kirschner SPD 11071A, 11071 C ZusFr Frau Blunck SPD 11072 A Bemühungen von Bundesverteidigungsminister Dr. Stoltenberg um Verringerung der militärischen Tiefflugübungen über bundesdeutschem Territorium angesichts der Auffassung des Stabschefs der Zweiten Alliierten Taktischen Luftflotte über die Lufthoheit MdlAnfr 26, 27 09.06.89 Drs 11/4724 Dr. von Bülow SPD Antw PStSekr Wimmer BMVg 11072 B, 11072 D ZusFr Dr. von Billow SPD 11072 C, 11072 D Sicherheitsmängel der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten US-Kampfhubschrauber und Stand der Umrüstung der Typen Apache und Black Hawk MdlAnfr 28, 29 09.06.89 Drs 11/4724 Frau Wieczorek-Zeul SPD Antw PStSekr Wimmer BMVg 11073 B, 11074 A ZusFr Frau Wieczorek-Zeul SPD 11073C, 11074 B ZusFr Gansel SPD 11074 A, 11074 D ZusFr Dr. de With SPD 11075 A Abstimmung über die Einladung ausländischer Marineeinheiten zur Kieler Woche, insbesondere über das nuklear bestückte US-Schlachtschiff Iowa MdlAnfr 30, 31 09.06.89 Drs 11/4724 Gansel SPD Antw PStSekr Wimmer BMVg 11075 B, 11075 D ZusFr Gansel SPD 11075 B, 11075 D ZusFr Frau Schulte (Hameln) SPD 11076 B Vereinbarungen und Umweltprojekte seit Inkrafttreten des deutsch-deutschen Umweltabkommens MdlAnfr 37, 38 09.06.89 Drs 11/4724 Hiller (Lübeck) SPD Antw PStSekr Grüner BMU 11076 C ZusFr Hiller (Lübeck) SPD 11076 D Wiederaufarbeitung atomarer Brennelemente im Ausland unter Anwendung deutscher Sicherheitsstandards; Lagerung hochradioaktiver Abfälle aus französischen Atomanlagen in Gorleben MdlAnfr 39, 40 09.06.89 Drs 11/4724 Grünbeck FDP Antw PStSekr Grüner BMU 11077 C, 11078 D ZusFr Grünbeck FDP 11077 D, 11078 D ZusFr Frau Wollny GRÜNE . 11078 C, 11079 B Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Juni 1989 VII Fortschreibung des Aktionsprogramms „Rettet den Wald" MdlAnfr 41 09.06.89 Drs 11/4724 Dr. Knabe GRÜNE Antw PStSekr Grüner BMU 11079 C ZusFr Dr. Knabe GRÜNE 11079 C Nächste Sitzung 11175 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . .11177* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Punkt 27 der Tagesordnung (Antrag der Fraktion der SPD: Förderung von Frauen in Entwicklungsländern und Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN: Frauen in der Entwicklungszusammenarbeit) 11177* C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Juni 1989 11021 149. Sitzung Bonn, den 15. Juni 1989 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 16. 06. 89 Andres SPD 16.06. 89 * Frau Berger (Berlin) CDU/CSU 16. 06. 89 Bühler (Bruchsal) CDU/CSU 15. 06. 89 * Frau Conrad SPD 16. 06. 89 Daweke CDU/CSU 16. 06. 89 Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD 15. 06. 89 Engelhard FDP 15. 06.89 Esters SPD 16. 06.89 Frau Folz-Steinacker FDP 16. 06. 89 Francke (Hamburg) CDU/CSU 16. 06. 89 Frau Frieß GRÜNE 15. 06. 89 Gattermann FDP 15. 06. 89 Dr. Geißler CDU/CSU 16. 06. 89 Dr. Glotz SPD 16. 06. 89 Frau Dr. Götte SPD 15. 06. 89 Frhr. Heereman von Zuydtwyck CDU/CSU 15. 06. 89 Frau Hensel GRÜNE 16. 06. 89 Frau Hillerich GRÜNE 16. 06. 89 Hörster CDU/CSU 15. 06. 89 Ibrügger SPD 16. 06. 89 Klein (Dieburg) SPD 16. 06. 89 Kolbow SPD 16. 06. 89 ** Dr. Kreile CDU/CSU 16. 06. 89 Kuhlwein SPD 16. 06. 89 Kühbacher SPD 16. 06. 89 Lamers CDU/CSU 16. 06. 89 Lintner CDU/CSU 16. 06. 89 Dr. Mertens (Bottrop) SPD 15. 06. 89 Dr. Müller CDU/CSU 16. 06. 89 Neuhausen FDP 16. 06. 89 Niegel CDU/CSU 16. 06. 89 Frau Pack CDU/CSU 16. 06. 89 Petersen CDU/CSU 16. 06. 89 ** Reuschenbach SPD 16. 06. 89 Frau Rock GRÜNE 16. 06. 89 Dr. Schulte (Schwäbisch Gmünd) CDU/CSU 16. 06. 89 Tietjen SPD 16. 06. 89 Frau Dr. Timm SPD 15. 06. 89 Dr. Uelhoff CDU/CSU 16. 06. 89 Dr. Vondran CDU/CSU 16. 06. 89 Vosen SPD 15. 06. 89 Graf von Waldburg-Zeil CDU/CSU 16. 06. 89 Weisskirchen (Wiesloch) SPD 16. 06. 89 Dr. Wieczorek SPD 16. 06. 89 Wilz CDU/CSU 15. 06. 89 Frau Dr. Wisniewski CDU/CSU 16. 06. 89 Zumkley SPD 15. 06. 89 ** * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Punkt 27 der Tagesordnung (Antrag der Fraktion der SPD: Förderung von Frauen in Entwicklungsländern und Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN: Frauen in der Entwicklungszusammenarbeit) Frau Luuk (SPD): Die SPD-Fraktion brachte am 25. September 1987 den Antrag „Förderung von Frauen in Entwicklungsländern" ein. Nach der im März 1988 geführten Aussprache ging der Antrag in die Ausschüsse zur Beratung. Heute kurz vor Mitternacht steht dieser Antrag hier zur Abstimmung, und ich freue mich, daß wir es bei diesem Thema zu einer gemeinsamen Haltung gebracht haben. Die Kolleginnen der Koalitionsfraktionen haben das Anliegen unseres Antrages mit unterstützt. Allerdings haben wir dieser Gemeinsamkeit als Sozialdemokraten auch Opfer gebracht, halten wir doch weiterhin die Einrichtung eines eigenständigen Querschnittreferates im BMZ, das die Aufgabe der Frauenförderung auf allen Ebenen planen, überprüfen und in die Wege leiten sollte, für notwendig. Mit der Einrichtung eines Bauchladenreferates, das neben anderen Gesichtspunkten auch die Belange von Frauen zur Aufgabe hat, sind wir nicht zufrieden, selbst wenn dieses Referat inzwischen von einer Frau geleitet wird. Selbstbewußt singen die Afrikanerinnen „Wir sind die Welt, wir sind die Frauen", und auf der Weltfrauenkonferenz in Nairobi stimmten Frauen aus allen Ländern der Welt begeistert ein. Wie aber ist die Welt der Frauen in den Entwicklungsländern im Alltag? Der Frauenreichtum an Energie, Ideen und Tatkraft, an Tänzen und Liedern, Offenheit und Freundlichkeit beeindruckt. Er steht im krassen Gegensatz zu der Härte des Überlebenskampfes der Frauen. „Wir tragen eine schwere Last", meinen die Frauen aus Simbabwe. „Aber: wer soll sie tragen, wenn nicht wir Frauen?" Kolonialismus, politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, Welthandel und Weltwirtschaftsordnung prägen die Lage der Frauen: sie leisten zwar zwei Drittel aller Arbeitsstunden und sind in den meisten Ländern für die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zuständig. Dennoch sind sie es, die zuletzt schlafen und essen. Sie sind es, denen der Zugang zu Bildung und Ausbildung, bezahlter Erwerbsarbeit, Krediten und Grundbesitz und gesundheitlicher Grundversorgung fehlt. Sie tragen die Lasten der Unterentwicklung in ihren Ländern. Sie sind es aber auch, die „Entwicklung" bezahlen. Zu Recht beklagte Marie Schlei, die verstorbene erste und einzige Entwicklungsministerin der Bundesrepublik Deutschland, die zusätzlichen Lasten von Entwicklungshilfe auf dem Rücken der Frauen. Am Niger nahmen die Fischergenossenschaften Frauen ihren lohnenden Arbeitsplatz als Fischhändlerin und Zwischenhändlerin. In Sierra Leone verfaulten Fische am Strand, weil die Entwicklungsmaßnahmen des einheimischen Fischfangs nur an den Bedürfnissen der männlichen Fischer ausgerichtet waren. Die Frauen, die den Fisch verarbeiten und vermarkten, 11178* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Juni 1989 hatte „mann" vergessen. Die Nutzung des Bodens für Exportwirtschaft vertrieb Frauen von fruchtbarem Land, beschäftigte Männer als Lohnarbeiter und überließ Frauen und ihren Familien nur den Ertrag des kargen Bodens. Weder Geld noch Nahrung waren vorhanden. Die Folge: Hunger und Armut. Frauen suchen immer wieder Auswege: sie schuften als Bäuerinnen auf dem Lande, als sozial unabgesicherte Niedriglohnarbeiterinnen in den Freien Produktionszonen der Entwicklungsländer. Sie sind den Launen der Polizei ausgesetzt, wenn sie als Händlerinnen in den Städten Waren ohne Genehmigung verkaufen. Sie werden ausgebeutet als Hausgehilfinnen mit 15-Stunden-Tag. Sie tragen ihre Haut zu Markte als Prostituierte in Entwicklungsländern und in Europa, als gekaufte Ehefrauen von Europäern. Die hohe Verschuldung der Entwicklungsländer wirkt sich zusätzlich negativ aus. Frauen tragen die Verantwortung für die Familie und ihre Versorgung. Weltbank und Internationaler Währungsfonds nehmen Entwicklungsländer in den Würgegriff und verlangen ihnen Sparmaßnahmen ab, wenn sie ihnen Kreditwürdigkeit bescheinigen. Die Streichung der Subventionen für Brot und Bohnen, Mais und Reis, Strom, Gesundheit oder Bildung trifft immer die Frauen am härtesten; denn sie bezahlen mit weiterer Ausbeutung ihrer Person. Seit die Weltbank und die internationalen Entwicklungsagenturen fristgerecht zum Ende des UNO-Frauenjahrzehnts die Frau als Schlüssel zur Lösung der Probleme Überbevölkerung und Hunger entdeckten, gibt es eine neue Gefahr. Frauen sollen in die Entwicklungsprozesse ihrer Länder integriert werden. Da sich alle Entwicklungen an westlichen oder östlichen Entwicklungsmodellen orientieren, spitzen sich die Benachteiligungen der Frauen zu: zu ihrer Benachteiligung durch die fehlende Teilhabe an Entwicklung kommt die Benachteiligung als Frau in einem Industrialisierungsprozeß hinzu. Die Frau verliert ihre Rolle als Versorgerin. Sie kann sie nicht oder nur schlecht erfüllen. Sie verliert ihre sozialen und kulturellen Traditionen, weil sie sich auf neue Entwicklungswerte einläßt, ohne darauf vorbereitet zu sein oder ihre Auswirkungen zu kennen. Oft können Frauen sich gegen diese Integration nicht wehren, weil sie die einzige Chance für sie ist, den Teufelskreis von Unwissenheit, Hunger und Armut zu durchbrechen. Es gibt aber auch Frauen, die mutig genug sind, einen eigenen Entwicklungsweg zu versuchen. Sie gründen Selbsthilfeorganisationen oder Frauengruppen. Hier planen sie Projekte wie z. B. eine Schweine- oder Hühnerzucht, ein Bewässerungsprojekt und Gemüseanbau, Kunsthandwerk, Nähwerkstätten oder Lederverarbeitung. Sie planen und diskutieren, sie fangen an. Sie glauben an das, was sie tun. Diese Frauen und Frauengruppen sind es, mit denen wir Projekte machen müssen. Den Frauen fehlt es an Geld und an Ausbildung, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Wir müssen versuchen, durch Förderung dieser Projekte einen Beitrag zur Armutsüberwindung zu leisten und die Frauen zu unterstützen, auf einem von ihnen selbst gewählten Weg dieses Ziel zu erreichen. Dabei kann sich nur marginal etwas für die Frauen verändern, weil Welthandel und Weltwirtschaft die Situation der Frauen bestimmen. Was nützt ein Ausbildungsprogramm für Sekretärinnen, wenn die öffentliche Verwaltung keine Frauen einstellen kann? Was nützt ein Ausbildungsprojekt im Gemüseanbau, wenn die importierten Produkte billiger sind? Was nützt ein Nähprojekt, wenn doch Kleidung aus den Kleidersammlungen in Europa auf dem Markt billiger zu erwerben ist? Aber das Selbstwertgefühl, die Rolle und das Verhältnis von Männern und Frauen verändern sich durch die Frauenprojekte. Sie ermutigen Frauen, ihre Probleme als gesellschaftliche und nicht individuelle Fragen zu begreifen und ihren Anteil an Entwicklung zu hinterfragen. Und: die Frauen wollen Hilfe, weil sie überleben und besser leben wollen. Trotz aller Unterschiede in Kultur, Tradition und Wirtschaft teilen Mädchen aus allen Entwicklungsländern ein Schicksal: sie haben weniger Bildung und Ausbildung als Jungen. Und zwischen Analphabetentum und Armut besteht ein Zusammenhang. Unser Antrag will aber über die Förderung von Frauenprojekten hinausgehen. Wir wollen die Rahmenbedingungen ändern, um nachhaltige Wirkung für Frauen zu erzielen. Frauen und Entwicklung heißt: Die Frauen haben das Recht, den Entwicklungsprozeß ihre Landes mitzubestimmen und an der Entwicklung des Landes teilzuhaben, weil sie die gleichen Rechte wie die Männer haben. Dieser Anspruch ergibt sich nicht nur aus der UNO-Charta, sondern auch aus der Mehrzahl der Verfassungen der Länder. Dieser Anspruch verpflichtet uns, weil auch die Bundesrepublik Deutschland von der Gleichberechtigung der Frau ausgeht. Die Interessen und Bedürfnisse der Frauen sind in die Planung und Entscheidungsprozesse über Entwicklungszusammenarbeit einzubeziehen. Frauen sind nicht integrationsbedürftige Objekte zur Produktivitätssteigerung und Steuerung der Familienplanung, sondern als handelnde Subjekte zu betrachten. Strukturverbesserung der Gesellschaft müssen im Mittelpunkt von Entscheidungen stehen. Daher müssen alle Maßnahmen dahin gehend überprüft werden, inwieweit sie die Interessen und Bedürfnisse von Frauen beeinflussen und inwieweit sie positiv zu Strukturveränderungen beitragen, diese möglich machen oder Vorschläge von Frauen einbeziehen. Im Politikdialog kann sicher nur etwas durch die Demonstration unseres ernsthaften Bemühens erreicht werden. Außerdem wird eine weitere Vernetzung im nationalen und internationalen Bereich Resultate bringen. Es ist unsere gemeinsame Welt, in der wir leben und das Überleben gewährleisten müssen. Fangen wir an, den Frauen in den Entwicklungsländern ihr Überleben durch unsere Beiträge zu erleichtern. Ich bitte Sie, der vorliegenden Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zuzustimmen. Frau Männle (CDU/CSU): Frau sein in der Dritten Welt heißt: mehr arbeiten, aber weniger gelten als ein Mann, weniger verdienen, weniger essen, weniger Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Juni 1989 11179* lernen, weniger politisch mitbestimmen. Als der kenianische Präsident Arap Moi 1985 bei der Weltfrauenkonferenz zum Abschluß der Dekade der Frau der Vereinten Nationen im großen Konferenzzentrum von Nairobi vor rund 2 000 Delegierten aus aller Welt seine Begrüßungsansprache hielt, bezeichnete er — in treffenden Worten das Wesentliche zusammenfassend — die Frauen als das „Rückgrat der Gesellschaft" . Sicherlich meinte er in erster Linie die Frauen der Dritten Welt, aber wohl nicht nur sie. Ich frage mich: Waren Männer in diesem Bild als Kopf mitgedacht, der obenauf sitzt? Ein Rückgrat hält viel aus. Es ist fähig, Lasten zu tragen — so wie es z. B. die Frauen in der Dritten Welt Tag für Tag tun. Da werden Brennholz und Wasser zum Kochen oft kilometerweit herangeschleppt, Steine für ein Projekt herbeigeschafft, fast immer zusätzlich ein Kind auf dem Rücken, unter der sengenden Sonne, im Gedanken an die auch noch zu verrichtende Haus- und Feldarbeit oder den zu betreibenden Handel. Frauen — so stellte eine Studie der Vereinten Nationen fest — leisten — bezahlt, unterbezahlt oder unbezahlt — weltweit zwei Drittel aller Arbeitsstunden. Sie erbringen in den Entwicklungsländern beispielsweise drei Viertel aller Arbeitsleistungen auf dem Land. Sie spielen eine Schlüsselrolle in der Energie- und Wasserversorgung, in Hauswirtschaft, Ernährung, Gesundheit, Kindererziehung — zum Teil auch in Handwerk, Handel und moderner Industrieproduktion. Frauen leben jedoch häufig unter Bedingungen, die zu Benachteiligungen und Belastungen führen, welche ihnen die Erfüllung ihrer Aufgaben besonders erschweren. Denken wir hier nur beispielsweise an die schwierigen Lebensbedingungen sehr vieler Frauen in Indien. Mit Kolleginnen aller Fraktionen habe ich dort unlängst Frauenprojekte besucht. Angesichts des überaus harten Überlebenskampfes war ich fasziniert von der Kraft, die von den Frauen ausgeht, von ihrem erfolgreichen Bemühen, den Widerständen zu trotzen und die Schwierigkeiten zu besiegen. Sei es als Müllsammlerin oder als Lastenträgerin, hier wie auch in anderen Teilen der Dritten Welt zeigen Frauen, daß sie in der Lage sind, eine „Kultur des Überlebens" aus eigener Anstrengung aufzubauen. Frauen sind — allerdings nicht nur in der Dritten Welt — die einzige Mehrheit mit Minderheitenstatus hinsichtlich wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Mitsprache. Durch die Dekade der Frau der Vereinten Nationen ist jedoch so viel in Bewegung geraten, daß sich eine Entwicklung in Richtung auf ein selbstbestimmtes Leben für Frauen nicht mehr verhindern läßt. Sie kann verlangsamt oder beschleunigt, aber nicht mehr aufgehalten werden. Allen dürfte inzwischen einsichtig geworden sein, daß sich die Wirksamkeit der von uns und anderen geleisteten Entwicklungshilfe erhöht, wenn Frauen — Trägerinnen von Entwicklung — gezielt in den Entwicklungsprozeß einbezogen werden, wenn man sie an Entscheidungen bezüglich der Planung und Durchführung von Projekten beteiligt. Darüber hinaus — dies ist mir wichtig — hat Frauenförderung noch eine andere Dimension. Frauen haben einen Anspruch auf Förderung aus eigenem Recht. Auch Frauen müssen die Möglichkeit haben, in Staat und Gesellschaft, in der Wirtschaft und im Bildungswesen den ihnen zustehenden Platz einzunehmen. Eine Lesart, die Menschenrechte mit Männerrechten gleichsetzt, ist falsch und gefährlich. „Ich bin eher eine Frau der Tat als der Worte. " So stellte sich im vergangenen Jahr eine Frau aus der Dritten Welt bei einer öffentlichen Anhörung des Deutschen Bundestages vor. Meine Damen und Herren, auch bei uns kommt es darauf an, Tatkraft zu beweisen, politischen Willen gezielt in politisches Handeln umzusetzen — und zwar in der Unterstützung dieser Frauen. Im Rahmen der Förderung von Frauen in der Dritten Welt sind einige Schritte in die richtige Richtung bereits gegangen worden. Diese will ich hier ausdrücklich begrüßen, so vor allem die Schaffung des mit Frauenfragen befaßten Referates im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, das auf unser wiederholtes Anmahnen hin inzwischen von einer Frau geleitet wird, und so die vor genau einem Jahr erfolgte Vorlage des umfassenden Konzeptes für die Förderung von Frauen in den Entwicklungsländern. Der jetzt hier zur Debatte stehende Antrag „Frauen in der Entwicklungszusammenarbeit" enthält weitere darüber hinausgehende, wichtige Forderungen: Durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit sollen Forschungs- und Evaluierungsaufträge über kurz- und langfristige Auswirkungen von Entwicklungsprojekten auf die Lebenssituationen von Frauen vergeben werden; es sollen Fortbildungskurse durchgeführt werden für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums und der Entwicklungshilfeorganisationen, die für die besonderen Probleme von Frauen in der Dritten Welt sensibilisieren; statistisches Material zur sozio-ökonomischen Situation der Frau in den Entwicklungsländern soll gesammelt bzw. ergänzt und genutzt werden; Frauenförderung soll in der Öffentlichkeitsarbeit des Ministeriums stärkere Berücksichtigung finden; der Erfahrungsaustausch mit Nicht-Regierungsorganisationen soll verstärkt gesucht werden; Frauenförderung soll zum Gegenstand des internationalen Politikdialogs werden; bis Ende 1989 ist dem Deutschen Bundestag seitens des Ministeriums über die Umsetzung der Ziele im Bereich der Frauenförderung in der Dritten Welt Bericht zu erstatten. Daß wir uns innerhalb der Fraktionen der CDU/ CSU, der FDP und der SPD auf einen gemeinsamen Antrag einigen konnten, halte ich für einen großartigen Erfolg. Unsere Solidarität in der Dritte-Welt-Frauenförderungspolitik ist Zeichen für eine neue Art der Nord-Süd-Politikgestaltung: Kooperation statt Konfrontation, Solidarität statt Fraktionierung. Die ausscherenden GRÜNEN sollten unserem Antrag ruhig zustimmen. Meine Damen und Herren, das Rückgrat der Frauen der Dritten Welt ist gebeugt. Ungebeugt aber ist ihre Überlebensenergie, unvermindert ihre Fähigkeit, auch für andere Überleben zu sichern. In der von Katastrophenmeldungen gebeutelten entwicklungs- 11180* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Juni 1989 politischen Landschaft gibt es einen Lichtstreif: Das Rückgrat der Frauen trägt zugleich mit all der Last die Hoffnung auf ein zukünftig menschenwürdiges Leben für alle. Fördern wir Frauen über schöne Worte hinaus — aus eigenem Recht und zum Wohl der einen Welt. Frau Eid (GRÜNE):: Die vorliegenden Anträge sind die Konsequenz aus einer Negativbilanz der bisherigen entwicklungspolitischen Frauenförderung. Seit 1978, als im BMZ unter Ministerin Schlei ein Grundsatzpapier zur Frauenförderung verfaßt und eine halbe Stelle dafür eingerichtet worden war, ist nicht viel geschehen und allzuoft das Falsche. Die einen, stellvertretend sei die Weltbank genannt, sahen Frauen als „untergenutzte Ressource" an. Es galt, sie stärker und effektiver durch ihre Einbindung in die Geld- und Marktwirtschaft für die von außen bestimmten Entwicklungsziele einzusetzen. Auf der anderen Seite stehen, wie Christa Wichterich formuliert, die „nicht-staatlichen Frauenfreunde". Diese wollten mit ihren Maßnahmen die Frauen in der Dritten Welt zu Nutznießerinnen der Entwicklung machen mit dem Ziel von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. Ihnen allen ist gemeinsam eine gehörige Portion paternalistischer Überheblichkeit — und mit selbstkritischem Blick auf meine eigene Partei füge ich hinzu: auch eine kleine Portion maternalistischer Überheblichkeit. Alle glaubten zu wissen, was für die Frauen in der Dritten Welt gut ist. Sie setzten ihre Hoffnung auf die Beseitigung der Benachteiligung der Frauen durch Förderpläne, die die Integration der Frauen in den Entwicklungsprozeß sicherstellen sollten. Schon die bisherigen bescheidenen Ansätze der Frauenförderung deckten gravierende Fehler auf und führten u. a. zu folgenden Erkenntnissen: Erstens. Es gibt keine allgemein gültigen Modelle zur Frauenförderung, ebenso wenig, wie es den Königinnenweg der Frauenbefreiung gibt. Traditionen, soziokulturelle und ökonomische Bedingungen sind so unterschiedlich, daß Fördermaßnahmen für eine moslemische Frau im Jemen nicht automatisch richtig sind für eine Bäuerin in Haiti. Zweitens. Es wurde deutlich, daß Frauenförderung keine wirksame Maßnahme gegen Verarmung von Frauen, Entwertung ihrer Leistungen im Subsistenzbereich und Verlust ihrer traditionellen Rechte und sozialen Anerkennung ist. Dies alles sind Auswirkungen einer wachstumsund exportorientierten Entwicklungsstrategie, die die meisten Länder der Dritten Welt in den Weltmarkt einbinden. Diese Strategie schadet den Frauen und der Masse der Armen. Frauenförderung kann ihr nicht entgegenwirken. Drittens. Förderprojekte für Frauen eröffnen zwar den Betroffenen neue Lebenschancen und Handlungsspielräume. Sie haben sich jedoch insgesamt bisher als Bluff erwiesen, denn Frauen blieben von politischen und ökonomischen Schlüsselpositionen weitgehend ausgeschlossen. Die traditionelle Geschlechterhierarchie wurde nicht gestört, sondern lediglich modernisiert. Frauenprojekte können angesichts der strukturellen Benachteiligung von Frauen wenig ausrichten, zumal implizite Annahmen über die Rolle der Frau, die oft der Entwicklungszusammenarbeit zugrunde liegen, selbst zu einer Verfestigung dieser strukturellen Benachteiligung beitragen. Was für Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Klar ist — das hat Gudrun Lachenmann in ihrer kürzlich vom DIE veröffentlichten Studie herausgearbeitet —, daß Frauen der Zugang zu produktiven Ressourcen, zu Organisationsmöglichkeiten, zu Informationsnetzen und zu eigener entwicklungspolitischer Gestaltungsmacht geöffnet werden muß. Ich möchte anhand von einigen Beispielen verdeutlichen, was ich damit meine: Erstens. Zugang zu Wissen. Wissen und Information sind eine wichtige Ressource, die vielen Frauen vorenthalten wird. Allgemeines Wissen, aber auch Wissen über Frauen muß angemessen aufbereitet und für Frauen zugänglich sein. Zweitens. Zugang zur Technologie. Die Erfahrungen, speziell in Afrika, zeigen, daß Zuständigkeitsbereiche und in der Folge auch Einkommensbereiche oft von Männern übernommen werden, sobald Technologien eingeführt werden. Diesem Mechanismus ist entgegenzuwirken, indem die neuen Technologien in die Lebensorganisation der Frauen eingegliedert werden. Denkbar wäre z. B., wie Gudrun Lachenmann anhand des Netzwerkes „Development Alternatives with Women for a New Era" vorschlägt die Förderung von Frauentechnologiezentren zur „Entwicklung, Umsetzung und Verbreitung von technisch angepaßter, ökologisch sinnvoller und gesellschaftlich angemessener Technologie vor allem für die Frauenarbeitsbereiche des täglichen Bedarfs". Drittens. Zugang zu Organisationsmöglichkeiten. Viele Frauen haben erkannt, daß es für ihre Zukunft nicht ausreicht, bei fremdbestimmten, in der Regel von Männern dominierten Entwicklungsprogrammen „berücksichtigt" zu werden oder „partizipieren" zu dürfen. Sie haben sich vielerorts an der Basis organisiert; denn sie haben erkannt, daß eine Verbreiterung zu einer sozialen Bewegung die Voraussetzung ist für Teilhabe an gesellschaftlicher Macht und für den Zugewinn an Entscheidungs- und Kontrollbefugnissen. Christa Wichterich zitiert Frauen aus der Dritten Welt. Sie fordern: „Zukünftig eine verstärkte Förderung des Aufbaus von Frauenorganisationen und der Widerstandskämpfe gegen ökonomische, politische und patriarchale Unterdrückung — ohne ihnen das Konzept aus der Hand zu nehmen. " Das heißt — ich zitiere weiter — „Die Frauen als Subjekte mit eigenen Interessen, Vorstellungen und Träumen, die keineswegs mit denen der Männer übereinstimmen, ernst zu nehmen, damit sie Selbstbestimmungsrechte über ihr Leben und ihre Zukunft gewinnen können. " Zum Schluß ein paar Worte zu den Anträgen: Die Tatsache, daß wir GRÜNEN auch nach der Beratung im Ausschuß unseren eigenen Antrag aufrechterhielten, bedeutet nicht, daß ich meine, er sei um vieles besser als der gemeinsame Antrag von CDU/CSU, FDP und SPD. Einige Forderungen sind aus unserem Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Juni 1989 11181* Antrag ja auch übernommen worden. Der Antrag in der Beschlußempfehlung trifft jedoch hauptsächlich im Teil I einige Feststellungen, denen wir nicht zustimmen können. Ich schlage deshalb meiner Fraktion vor, sich zu enthalten. Frau Walz (FDP): Simone de Beauvoir hat vor Jahrzehnten visionär über das „Andere Geschlecht" geschrieben. Sie hat von einer besseren und schöneren, von einer gerechteren Welt geredet und geträumt, in der die Frauen kraft ihres Andersseins den Mut haben werden, das Schicksal einer solchen Welt mitzubestimmen. Anders als diese Hohepriesterin der Emanzipation gedacht hat, entscheiden heute die Frauen die Zukunft unseres Globus. Sie entscheiden darüber, ob das Bevölkerungswachstum gestoppt werden kann. Sie werden mit ihrer Fruchtbarkeit darüber bestimmen, ob wir in 30 bis 40 Jahren 8,5 oder sogar 14 Milliarden Menschen ernähren müssen. Zum Vergleich: heute 5,2 Milliarden, zu denen jährlich 90 Millionen bis zur Jahrhundertwende kommen werden. Es gehört tatsächlich nicht viel Phantasie dazu, um sich die Folgen für uns alle auszumalen. Nur, uns allen geht zuvor ein Schauer über den Rücken — manche meinen sogar, wir könnten auch dieses Problem wissenschaftsgläubig lösen —, aber dabei bleibt es. Meine Damen und Herren, Fruchtbarkeit wird zum Fluch, Mutter Erde verschlingt ihre Kinder; sie läßt sie verhungern. 8,5 oder 14 Milliarden Menschen wollen ernährt sein. Doch heute schon entziehen wir den Menschen ihre Ernährungs- und damit ihre Lebensgrundlage durch Raffgier und verantwortungsloses Handeln. Die tropischen Regenwälder werden vernichtet, der Akkerboden durch Wind und Wasser zerstört. Die Wüsten breiten sich aus, und durch Versalzen und Versumpfen, durch Pestizide und Fungizide vergiften und reduzieren Menschen Anbauflächen und damit Lebensmöglichkeiten. Am meisten davon betroffen sind die Ärmsten der Armen, sind die Frauen. In den ländlichen Gebieten wird ihnen die Existenzgrundlage entzogen, und sie werden gezwungen, ihre ausgelaugten, zerstörten Böden zu verlassen und in die Städte zu ziehen. Die Urbanisierung mit ihren katastrophalen Auswirkungen ist in vollem Gange. Die Situation der Frauen verbessert sich dadurch nicht, sie sind in einer ihnen entfremdeten Welt durch Analphabetentum und schlechte Ausbildung häufig einem unvorstellbaren Elend und Erniedrigung ausgeliefert. Frauen in ihrer traditionellen Rolle kochen für ihre Familien, sie bestellen das Land, und als Händlerinnen kämpfen und feilschen sie um das tägliche Brot. In vielen Ländern sichern sie und nicht die Männer die Existenz der Familie. Sie bestimmen über das Wohlergehen ihrer Kinder und entscheiden damit über die Zukunft und den Fortschritt eines ganzen Landes. Es sind also Frauen, die darüber bestimmen, ob die Politik ihrer Länder, ob unsere Hilfen erfolgreich sind, ob sie die Grundbedürfnisse der Menschen und Sehnsüchte der Menschen jenseits von Hunger und Not zu leben, erfüllen. Frauen sind es, die durch die Zerstörung ihrer natürlichen Umwelt gezwungen werden, ihre eigene Umwelt weiter zu zerstören. Brennstoffknappheit bringt sie dazu, auch noch den letzten Strauch, den letzten Baum abzuholzen. Viele gut gemeinte Projekte — auch deutscher Entwicklungshilfe — sind so buchstäblich als Rauch und Asche übrig geblieben. Durch Brennstoffknappheit sind Frauen gezwungen, Dung zu verbrennen, den sie als Düngemittel zur Erzeugung von Frucht dringend brauchen. Welch ein verhängnisvoller Kreislauf! Dies alles wissen wir inzwischen, doch Frauen in den Entwicklungshilfeprogrammen erfordern eine neue Kategorie des Nachdenkens. Manchmal hat es jedoch den Anschein, als weigerte sich die andere Hälfte der Welt, die männliche, die westliche, diesen simplen Zusammenhängen zu folgen. Und auch wir, die reichen Schwestern, reden über unsere armen Schwestern in der Dritten Welt, als seien wir Angehörige der Heilsarmee, die mit frommen Gesängen und klingendem Spiel um einen Beitrag für die warmen Suppen der Armen bitten. Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist das Erkennen von Zusammenhängen, was wir brauchen, ist ein Umdenken in unseren Absichten zur Entwicklung einer menschlichen Gesellschaft und zur Erhaltung der Schöpfung. Was wir deshalb nötig haben, ist das Erkennen: Frauen nehmen in dieser Welt eine wichtige Schlüsselrolle ein. Wir müssen erkennen, daß Frauen in vielen Ländern der Dritten Welt vorenthalten wird, was für uns selbstverständlich ist: Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, gleichberechtigtes Mitwirken an der Zukunft ihrer Länder. Wie sehr wir diese Prinzipien verletzen, zeigen unsere eigenen Entwicklungshilfeprogramme. Auch wir müssen lernen, die Frauen stärker bei der Formulierung unserer Absichten miteinzubeziehen. Für uns muß es selbstverständlich sein, Programme auf ihre nachteiligen Folgen für die Frauen zu untersuchen. Unsere Programme müssen sich in vielen Bereichen direkt an der Lebenswirklichkeit von Frauen orientieren, und sie müssen sensibel genug die kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Gegebenheiten von Frauen beachten. Unter anderem muß es darum gehen: Erstens. Unsere Bildungsprogramme müssen sich stärker an Frauen richten, sie einbeziehen. Zweitens. Familienplanungsprogramme allein helfen nicht, wir müssen den Ländern, die dazu in der Lage sind, beim Aufbau von sozialen Sicherungssystemen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Der unheilvolle Gleichklang Kinderzahl — soziale Sicherung muß aufgelöst werden. Drittens. Entscheidend wird in Zukunft für die Frauen der Dritten Welt die Gewährung von Existenzgründungs- und Sicherungsdarlehen sein, wobei wir auch hier hilfreich bei der Unterstützung neuer Formen des Spar- und Kreditwesens sein können. Viertens. Eine besondere Aufgabe kommt den Industrieländern mit ihrer hochentwickelten Forschung auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien zu. In den Ländern der Dritten Welt werden vor allem die Frauen und die Umwelt davon profitieren, wie schnell und wie preiswert diese Techniken eingesetzt werden können. 11182* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Juni 1989 Meine Damen und Herren, wir stehen am Anfang von Überlegungen, die dem anderen Geschlecht gelten und von deren offener und vorurteilsfreier Beurteilung auch unsere Chancen des Überlebens abhängen. Machen wir uns im Dialog mit den Entwicklungsländern zu den Fürsprechern der Frauen und ihrer Bedürfnisse! Repnik, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit: Frauen stellen die Hälfte der Weltbevölkerung. Sie leisten fast zwei Drittel aller Arbeit. Aber: Sie erhalten nur ein Zehntel des Welteinkommens, und sie besitzen weniger als ein Hundertstel des Weltvermögens. Der Beschlußempfehlung zur stärkeren Berücksichtigung der Frauen im Entwicklungsprozeß liegt einerseits ein breiter Konsens im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit — quer durch die Fraktionen — zugrunde; andererseits freut es mich, daß diese Beschlußempfehlung mit dem BMZ-eigenen Frauenkonzept vom Mai 1988 inhaltlich weitgehend übereinstimmt. Dies reicht von der „großen Linie" bis hin zu einzelnen Empfehlungen in dem Antrag des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Schade, daß sich die Fraktion der GRÜNEN der Ausschußempfehlung des AWZ nicht angeschlossen hat. Frauen nehmen in vielen Entwicklungsländern eine Schlüsselrolle ein, sie ziehen nicht nur Kinder auf. Häufig tragen sie die Hauptverantwortung für den Lebensunterhalt der ganzen Familie. Aber auch im Wirtschaftsleben, vor allem in der Landwirtschaft und im informellen Sektor der Städte, stehen Frauen oft im Zentrum. In Afrika und Asien produzieren Frauen 60 bis 80 % der Nahrungsmittel, in Lateinamerika erreicht ihr Produktionsanteil etwa 40 %. Diese Schlüsselfunktionen können aber vielfach nicht angemessen wahrgenommen werden, weil körperliche und psychische Belastung, häufige Geburten, Haus- und Feldarbeit, unzureichende Wasser- und Energieversorgung, Mängel in den Hygiene- und Wohnverhältnissen die Frauen bis zur Grenze körperlich und psychisch belasten. Damit nicht genug: Neben außerordentlichen Belastungen sind Frauen auch häufig groben Benachteiligungen ausgesetzt, die von ungleicher Behandlung vor Recht und Gesetz bis hin zu beschränktem Zugang zu Land, Kredit und Ausbildungsmöglichkeiten reichen. Auch in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit wurde der fundamentale Beitrag von Frauen zur Entwicklung lange Zeit nicht angemessen berücksichtigt. Dem Rechnung tragend, hat das BMZ ein Konzept erstellt und ein Frauenreferat gegründet. Auch damit soll sichergestellt werden, daß die Interessen der Frauen in allen Projekten und Programmen der deutschen Entwicklungshilfe angemessen berücksichtigt werden. Hauptziel hierbei ist ein gezielter Beitrag, der die besonderen Belastungen und Benachteiligungen von Frauen berücksichtigt und ihnen entgegenwirkt. So grundlegend wichtig Frauenförderung im sozialen und familiären Bereich ist, auch ihre Stellung in der Produktion, im Dienstleistungsgewerbe und im Handel muß gestärkt werden. Sie haben aber nur dann eine wirkliche Chance, eigenes Einkommen zu erwirtschaften, wenn sie, wie Männer, freien Zugang zu Produktionsfaktoren oder Aus- und Fortbildung haben. Dies soll erreicht werden, indem bereits bei der Planung unserer Projekte die Nöte und Interessen — und Potentiale — von Frauen berücksichtigt werden. Dabei ist es selbstverständlich, daß wir Frauenförderung als Querschnittsaufgabe verstehen für alle unsere Maßnahmen. Das heißt, daß wir grundsätzlich prüfen und berücksichtigen müssen, wie ein Vorhaben auf die spezifische Situation der Frauen wirkt, wo wir mit Veränderungen zu rechnen haben, ob diese erwünscht bzw. wie diese vermeidbar sind. Entscheidungssicherheit hierbei gewinnen wir durch ein größtmögliches Maß an Beteiligung der betroffenen Frauengruppen. Hierzu müssen wir das Vertrauen der Frauen gewinnen. In Situationen, in denen besondere Härten auf ihnen lasten, sind frauenspezifische Projekte angebracht. Frauen müssen in die Lage versetzt werden, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen nach eigenen Vorstellungen selbst zu verbessern. Wir wollen dazu beitragen, daß Frauen lernen, selbst zu organisieren, sich selbst zu helfen. Ich bin mir bewußt, daß der Handlungsspielraum zur Frauenförderung durch soziale, kulturelle und politische Rahmenbedingungen in den einzelnen Entwicklungsländern äußerst begrenzt ist. Wir müssen mit teilweise engagierten Widerständen rechnen. Darum sind schnelle Erfolgserwartungen unangebracht. Was mein Haus betrifft, haben wir damit begonnen, in einer Reihe von internen Fortbildungsveranstaltungen die Integration der Frauen in unsere Maßnahmen systematisch umzusetzen. Gleiche Anstrengungen werden bei unseren Durchführungsorganisationen gemacht: Gutachterrichtlinien, Projektfortschrittsberichte und Prüfungsleitfäden orientieren sich zunehmend an den spezifischen Bedürfnissen der Frauen. Nur wenn Frauen als eigene Zielgruppe bei Sektor- und Länderkonzepten bei Planung, Durchführung und Überprüfung unserer Maßnahmen volle Berücksichtigung erfahren, anerkennen wir die tiefgreifende Interdependenz von Entwicklungserfolgen und dem Beitrag, den gerade Frauen hierbei zu leisten vermögen. Die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit ist dann optimiert, wenn die Partnerschaft von Entwicklungsländern und Industrieländern durch einen offenen, intensiven Dialog um zentrale Fragen praktiziert wird. Dazu gehört untrennbar die Rolle der Frauen. Wir wollen nicht darüber hinweg reden — konsequentes Handeln ist angesagt. Wir haben die ersten Schritte getan. Frau Niehuis (SPD): Es sieht ganz so aus, als ob wir gleich mit großer Mehrheit einen Antrag zur Förderung von Frauen in Entwicklungsländern verabschieden werden. Dies ist für die Entwicklungspolitik sicherlich von großer Bedeutung. So wichtig und längst überfällig dieser Antrag auch ist, so wenig sollten wir enthusiastische Erwartungen an ihn stellen. Wenn man nach den verbalen Bekundungen ginge, so müßten wir heute schon viel weiter sein. Schon 1978 gab es ein Grundsatzpapier „Förderung der Frau in den Entwicklungsländern" , 1982 die von allen Parteien getragene Entschließung des Deutschen Bun- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Juni 1989 11183* destages, 1983 „Leitlinien der OECD" zu dieser Frage, 1984 ein Informationsvermerk des BMZ zu „Frauenprojekten in der Entwicklungszusammenarbeit", 1985 die dritte Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen usw. Auch in der ersten Lesung dieses Antrags hier im Plenum erweckten die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien den Eindruck, als sei die Regierung seit langem schon auf dem richtigen Weg. All dieses ist es, was mich skeptisch macht. Seit mindestens 11 Jahren bekundet die bundesrepublikanische Entwicklungspolitik die Bedeutung der Frauen im Entwicklungsprozeß. 11 Jahre, so meine ich, ist eine Zeitspanne, in der man schon konkrete Erfolge erwarten könnte. Als ein Erfolg wird das Mitte des Jahres 1988 im Zuge der Beratung des anstehenden Antrags vom BMZ herausgegebene „Konzept für die Förderung von Frauen in Entwicklungsländern" gelobt. Doch ein erneutes Papier ist noch nicht die Realisierung vorheriger Papiere. Hier brauchen wir konkrete Taten. Diese allerdings sind bis heute trotz aller verbalen Bekundungen nicht sichtbar, im Gegenteil. Um die Wirklichkeit bundesdeutscher Entwicklungshilfepolitik zu erfahren, braucht man nur in die vom BMZ herausgegebenen Evaluierungsberichte zu sehen. Seit 1976 wird im BMZ versucht, Projekte, wenn auch nur wenige, einer Erfolgskontrolle zu unterziehen. Bis einschließlich 1985 spielte die Frage, welche Auswirkungen bundesrepublikanische Entwicklungspolitik auf die Situation von Frauen in den Entwicklungsländern hat, keine Rolle. Erstmalig 1986 werden die Projektwirkungen auf die Situation der Frauen bewertet. Da Evaluierungskriterien sinnvollerweise mit Planungskriterien korrespondieren müssen, ist aus diesem Defizit zu schließen, daß die Berücksichtigung von Frauen auch in der Planung des BMZ zu diesem Zeitpunkt keine Rolle spielte. Dieses wird überdeutlich in der vom BMZ herausgegebenen Querschnittsanalyse mit dem Thema: „Auswirkungen von Projekten der Ländlichen Regionalentwicklung auf die Lebenssituation von Frauen". Das Ergebnis dieser Auswertungen des Zeitraumes 1985 bis 1987 ist: Entweder werden die Projektwirkungen auf die Frauen gänzlich ignoriert, oder der tatsächliche Nutzen frauenfördernder Maßnahmen bleibt hinter den Zielvorgaben zurück, oder gute Ansätze werden durch unzureichende Daten, konzeptionelle Mängel, wenig erprobte Förderinstrumente und Vorbehalte auf beiden Seiten beeinträchtigt. Gleiches sagt auch die 1988 veröffentlichte Querschnittsauswertung des BMZ über Projekte des Jahres 1986. Die nicht vorhandene Berücksichtigung der Frauen ist eine der gravierendsten Schwachstellen unserer Entwicklungspolitik. Mehrfach haben wir heute gehört, welche Schlüsselrolle die Frau in den Entwicklungsländern, speziell in der ländlichen Entwicklung, in der Bevölkerungsentwicklung, in der Armutsbekämpfung, in der Subsistenzwirtschaft usw. spielt. Im Weltbevölkerungsbericht 1989 wird dieses z. B. noch einmal ganz eindringlich betont. Und wir alle kennen doch das afrikanische Sprichwort: „Hilfst Du einem Mann, so nützt es einer Person. Hilfst Du einer Frau, nützt es der ganzen Familie. " Wieso frage ich mich allen Ernstes, ist es eigentlich möglich, daß es jahrzehntelang nicht aufgefallen ist, daß unsere Entwicklungspolitik nicht effektiv genug ist, ja sogar schädlich sein konnte, weil man schlichtweg die Frauen vergessen hat? Bis heute wäre die geringe Effektivität unserer Entwicklungsmaßnahmen nicht aufgefallen, wenn nicht die weltweite Frauenbewegung den Blick für die wahre Situation der Frauen und ihre Fähigkeiten geschärft hätte. Sicherlich liegt eine Ursache in der männlichen Alleinherrschaft in allen Planungs- und Durchführungsgremien, wodurch das Optimum menschlicher Leistungsfähigkeit auf männliche Leistungsfähigkeit reduziert blieb. Aber eine Ursache ist auch das technokratische Denken in der Entwicklungspolitik, ein Denken, das zwar den reibungslosen Ablauf von Projekten untersucht, aber nicht deren Nachhaltigkeit. Denn die Nachhaltigkeit ist es, die die Projekte weiterleben läßt, auch wenn die Entwicklungshelferinnen und -helfer das Land verlassen haben. Mein Appell an uns ist: Lassen Sie uns die Forderungen dieses Antrags durchsetzen, überprüfen wir deren Einhaltung, aber überprüfen wir auch die Nachhaltigkeit unserer Projekte, aller Projekte! Erst dann werden die Leistungen der Frauen für alle sichtbar werden.
Gesamtes Protokol
Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114900000
Die Sitzung ist eröffnet.
Zunächst einmal habe ich die angenehme Pflicht, dem Kollegen Vogel (Ennepetal), der am 2. Juni seinen 60. Geburtstag gefeiert hat, dem Kollegen Susset, der am 3. Juni seinen 60. Geburtstag gefeiert hat, dem Kollegen Vizepräsident Westphal, der am 4. Juni seinen 65. Geburtstag gefeiert hat, dem Kollegen Dr. Unland, der am 5. Juni seinen 60. Geburtstag gefeiert hat, und dem Kollegen Dr. Hüsch, der am 13. Juni seinen 60. Geburtstag gefeiert hat, die herzlichsten Glückwünsche, ich hoffe: im Namen des ganzen Hauses aussprechen zu dürfen.

(Beifall)

Dann kann ich Ihnen mitteilen, daß aus dem Wahlprüfungsausschuß der Abgeordnete Dr. Lammert aus den bekannten Gründen als ordentliches Mitglied ausgeschieden ist. Die CDU/CSU schlägt als Nachfolgerin die Abgeordnete Frau Roitzsch (Quickborn) vor. Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist offensichtlich der Fall. Damit, Frau Abgeordnete Roitzsch, sind Sie als ordentliches Mitglied des Wahlprüfungsausschusses gewählt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zum Stromverbund Bundesrepublik Deutschland — DDR (In der 148. Sitzung bereits erledigt.)

2. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß) zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Europäischer Binnenmarkt und soziale Demokratie — Drucksachen 11/3852, 11/4750 —
3. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses

(3. Ausschuß) zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Vollendung des europäischen Binnenmarktes

zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Europapolitik
— Drucksachen 11/3865, 11/3851 (neu), 11/4735 —
4. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses

(3. Ausschuß) zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP

zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zum Europa der Bürger — Drucksachen 11/3866, 11/3087, 11/4751 —
5. Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften — Drucksachen 11/2218, 11/4643, 11/4647 —
6. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Beendigung des Bürgerkrieges in der Republik SUDAN — Drucksache 11/4747 —
7. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes — Drucksache 11/391 —
8. Aussprache zu den Ereignissen in der Volksrepublik China
9. Aktuelle Stunde: Beschluß des Bundeskabinetts zur Einführung eines Visumzwangs für ausländische Kinder
Zugleich soll von der Frist für den Beginn der Beratung, soweit es zu einzelnen Punkten der Tagesordnung erforderlich ist, abgewichen werden.
Weiterhin sollen die Punkte 5 m, 7 und 19 der Tagesordnung abgesetzt werden. Die von der Fraktion DIE GRÜNEN beantragte Absetzung der Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b werde ich gleich im Anschluß behandeln lassen.
Sind Sie zunächst einmal mit der Ergänzung bzw. mit der Änderung der Tagesordnung — außer Punkt 21 — einverstanden? — Widerspruch erhebt sich nicht. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Meine Damen und Herren, die Fraktion DIE GRÜNEN hat beantragt, die Gesetzentwürfe der Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b — es handelt sich dabei um das Raumplanungsgesetz und um die Änderung des Raumordnungsgesetzes — von der Tagesordnung abzusetzen. Ich möchte fragen, wer für diesen Antrag stimmt.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das kann doch keiner ernsthaft wollen! — Heiterkeit)




Vizepräsident Cronenberg
— Wir sind in der Abstimmung.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Kann man den Antrag nicht mehr begründen?)

— Sie können, aber ich wollte dem Hause eigentlich eine Geschäftsordnungsdebatte heute morgen ersparen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich gehe einmal davon aus, daß das auch in Ihrem Interesse liegt. Wenn Sie sich zur Geschäftsordnung melden und darauf bestehen, das begründen zu wollen, kann ich das nicht verhindern. Aber ich wollte es Ihnen eigentlich erleichtern.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Ich melde mich hiermit!)

— Dann, bitte sehr, haben Sie, Frau Abgeordnete, das Wort.

Maria Luise Teubner (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114900100
Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen ja wenigstens wissen, warum wir diesen Antrag stellen, worüber wir hier abstimmen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)

Es handelt sich, wie gesagt, um den Gesetzentwurf zur Änderung des Raumordnungsgesetzes. Er soll heute abschließend beraten werden. Ein wesentliches Motiv für die jetzt vorgenommene Änderung war, daß damit den Anforderungen, die sich aus der EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung ergeben, für den Bereich der Raumordnung Genüge getan werde.
Allen hier ist bekannt, daß die Umsetzung der EG-Richtlinie in einem eigenen Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung in der Bundesrepublik immer noch nicht bewerkstelligt ist. Der Umweltausschuß wird mindestens noch eine Sitzung benötigen, um dieses Gesetz beschlußreif auszubrüten.
Das bedeutet, niemand hier, weder von der Koalition noch von der Opposition, kann heute bereits abschließend sagen, wie genau das Umweltverträglichkeitsverfahren im Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz einmal definitiv geregelt sein wird.
Von daher macht es unseres Erachtens überhaupt keinen Sinn, heute das Raumordnungsgesetz zu verabschieden, mit der Behauptung, es fülle den vom UVP-Gesetz — das immer noch nicht fertig ist — gegebenen Rahmen endgültig, korrekt und passend aus.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das ist seit Monaten so, Frau Kollegin!)

Nach dem heutigen Diskussionsstand muß daran sogar erheblich gezweifelt werden. Das UVP-Gesetz sagt z. B.: Im Raumordnungsverfahren können die raumbedeutsamen Auswirkungen eines Vorhabens auf die Umwelt geprüft werden. — Es verweist in der Begründung ausdrücklich auf den geringen Verbindlichkeitsgrad des Raumordnungsverfahrens. Diese Überlegungen entsprechen wohl kaum den Bestimmungen, die die EG-Richtlinie vorsieht. Das heißt aber nichts anderes, als daß sich aus den noch nicht abgeschlossenen Beratungen zum UVP-Gesetz durchaus noch Rückwirkungen, Ergänzungen und/oder Veränderungen für das Raumordnungsgesetz ergeben können.
Es macht daher unseres Erachtens überhaupt keinen Sinn, heute etwas zu verabschieden, was vielleicht in wenigen Monaten schon wieder novelliert werden muß, weil das Stammgesetz anders aussieht, als man es sich heute vorstellt.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114900200
Herr Abgeordneter Bohl, Sie wollten auch noch zur Geschäftsordnung sprechen? — Bitte sehr.

(Bohl [CDU/CSU]: Ich wollte nicht, aber ich muß wohl!)


Friedrich Bohl (CDU):
Rede ID: ID1114900300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der GRÜNEN ist aus zwei Gründen abzulehnen.
Zum einen ist es so, daß der federführende Ausschuß gerade die von Ihnen hier ins Spiel gebrachten Anregungen sehr wohl bei seinen Beratungen bedacht hat und daß die kommunalen Spitzenverbände und auch die Länder die Verabschiedung des Gesetzes jetzt, also noch vor der Sommerpause, wollen und dieses Gesetz auch dringend brauchen.
Als zweites Argument: Sie haben zugestimmt, diesen Gesetzentwurf auf die heutige Tagesordnung zu setzen. Wenn man einer Aufsetzung zustimmt, kann man nicht anschließend kommen und sagen: Wir wollen das wieder herunternehmen. Entweder wußten Sie damals nicht, was Sie taten, als Sie zustimmten, es auf die Tagesordnung zu nehmen, oder Sie wollten uns heute die Zeit stehlen.
Beide Gründe rechtfertigen die Ablehnung Ihres Geschäftsordnungsantrages.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114900400
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.
Dann kann ich zu der Abstimmung kommen. Wer stimmt für den Absetzungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Bei einer Enthaltung aus der Fraktion DIE GRÜNEN und Ablehnung der übrigen Fraktionen ist der Antrag abgelehnt.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 und den Zusatztagesordnungspunkt 2 auf:
4. a) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur sozialen Dimension des Binnenmarktes
— Drucksache 11/4340 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß



Vizepräsident Cronenberg
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Peter (Kassel), Dreßler, Heyenn, Dr. Ehmke (Bonn), Wieczorek-Zeul, Büchner (Speyer), Brück, Antretter, Adler, Andres, Becker-Inglau, Blunck, Dr. Böhme (Unna), Egert, Gilges, Dr. Götte, Haack (Extertal), Hasenfratz, Jaunich, Kirschner, Reimann, Schreiner, Schmidt (Salzgitter), Seuster, Steinhauer, Urbaniak, Weiler, von der Wiesche, Wittich, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Europäischer Binnenmarkt und Soziale Demokratie
— Drucksachen 11/4034, 11/4699 —
c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Dr. Hellwig, Bohl, Daweke, Fuchtel, Frau Geiger, Günther, Dr. Hoffakker, Kittelmann, Lowack, Dr. Pfennig, Freiherr von Schorlemer, Dr. Schwörer, Frau Verhülsdonk, Wissmann, Dr. Wulff und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Cronenberg (Arnsberg), Heinrich, Dr. Thomae, Frau Würfel, Eimer (Fürth), Irmer, Dr. Feldmann, Grünbeck, Neuhausen, Timm, Frau Walz und der Fraktion der FDP
Sozialraum Europäische Gemeinschaft — Drucksachen 11/4163, 11/4700 —
ZP2 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß) zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Europäischer Binnenmarkt und soziale Demokratie
— Drucksachen 11/3852, 11/4750 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Dr. Hellwig Frau Wieczorek-Zeul
Irmer
Dr. Lippelt (Hannover)

Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist eine Gesamtberatungszeit von 90 Minuten vorgesehen. Ich frage das Haus, ob es damit einverstanden ist. — Das ist offensichtlich der Fall.
Dann darf ich dem Abgeordneten Dreßler das Wort erteilen.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1114900500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der amtierende Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat am Montag dieser Woche in Luxemburg kundgetan, er würde eine Senkung bundesdeutscher Arbeitnehmererrungenschaften nur über seine Leiche zulassen. Weil ich immer wieder versucht bin, den treuherzigen Blüm-Formulierungen zu glauben, unterstelle ich, daß er das auch so meint.
Ich unterstelle weiter, daß sich dieser in bekannt lockerer Art formulierte Spruch auf sein politisches Überleben bezieht.

(Beifall bei der SPD)

Unter diesen Voraussetzungen stelle ich fest, Herr Blüm, daß Sie nahe daran sind, Ihren Spruch einlösen zu müssen. Zugelassen, im Sinne eines Nachgebens gegenüber Forderungen europäischer Partner, haben Sie zwar bisher keine Senkung sozialer Standards, aber doch nur deshalb, weil dies bisher kein europäischer Partner von Ihnen verlangt hat, Herr Blüm.

(Zuruf von der SPD: Vorbereitet hat er sich schon!)

Hier zu Hause, in der Bundesrepublik, ist es ja viel schlimmer: Den Abbau der von Ihnen so bezeichneten bundesdeutschen Arbeitnehmererrungenschaften haben Sie aktiv betrieben — und Sie betreiben diesen Abbau täglich weiter. Kein EG-Partner hat bisher verlangt, die Kündigungsschutzrechte der Schwerbehinderten einzuschränken. Kein EG-Partner hat verlangt, ungesicherte Arbeitsverhältnisse in größerem Umfang zuzulassen. Kein EG-Partner hat verlangt, das Streikrecht der Gewerkschaften mit dem unseligen § 116 AFG zu beschneiden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ach du meine Güte!)

Kein EG-Partner hat verlangt, den bewährten arbeitnehmerschutzrechtlichen Ladenschlußkompromiß aufzuweichen. Keiner hat verlangt, die Struktur der Bundespost zu zerschlagen, und kein EG-Partner hat verlangt, die Gesundheits- und die Pflegekosten einseitig auf Arbeitnehmer und Patienten abzuwälzen. Dies alles und vieles andere mehr haben Sie selber betrieben und betreiben es weiter, Herr Blüm.

(Beifall bei der SPD — Abg. Dr. Stavenhagen [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Sie hängen sich als vorgeblicher Verfechter der Arbeitnehmerrechte zwar medienwirksam aus dem Fenster, lassen aber gleichzeitig zu, daß Ihr Kabinettskollege Haussmann diese Arbeitnehmerrechte mit Hilfe seiner sogenannten Deregulierungskommission schon im Vorfeld torpediert. — Sie möchten das bestimmt hinterfragen, Herr Stavenhagen, bitte.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114900600
Herr Abgeordneter Stavenhagen, Sie haben das Wort.

Dr. Lutz G. Stavenhagen (CDU):
Rede ID: ID1114900700
Das ist richtig, Herr Kollege. Angesichts Ihrer wirklich zu Herzen gehenden Ausführungen: Ist es Ihnen entgangen, daß die Gewerkschaften den Bundeskanzler stets auffordern, in der EG das hohe Sozialniveau der Bundesrepublik Deutschland zu verteidigen? Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?

(Dr. Vogel [SPD]: Es ist halt noch etwas übriggeblieben!)


Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1114900800
Herr Kollege Stavenhagen, mit Verlaub: Was bleibt einer Gewerkschaft eigentlich anderes übrig, als einen im Amt befindlichen Regierungschef, der im Ministerrat sitzt, und sein Kabinett aufzufordern, uns nicht auf portugiesisches Niveau herab-



Dreßler
kommen zu lassen? Das ist doch wohl eine Zwangsläufigkeit. Haben Sie von der deutschen Gewerkschaftsbewegung eigentlich etwas anderes erwartet?
Worum es hier geht, Herr Stavenhagen, ist, daß wir nicht über portugiesisches Niveau reden. Wir reden vielmehr darüber, wie Sie seit sieben Jahren den Sozialstandard in der Bundesrepublik Deutschland kontinuierlich nach unten gedrückt haben und uns jetzt glauben machen wollen, Sie wollten für Rechte in Europa antreten. Darum geht es, Herr Stavenhagen.

(Beifall bei der SPD — Dr. Stavenhagen [CDU/CSU]: Die Gewerkschaften wollen, daß wir dieses Niveau verteidigen!)

Seit mehr als einem Jahr lotet diese weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit werkelnde, von mir erwähnte Kommission Möglichkeiten für einen weiteren nationalen Abbau von Arbeitnehmerrechten aus. Hier wird unter der Überschrift „Abbau von Marktregulierungen" auf dem Umweg über Tarif- und Sozialrechtseinschnitte der nächste Kahlschlag vorbereitet. Schon einige der an Arbeitnehmer- und an Arbeitgeberorganisationen gerichteten Fragen dieser Deregulierungskommission lassen ahnen, wohin diese Reise gehen soll: Zweiklassenarbeitsrecht, untertarifliche Löhne, Ausdehnung von Zeit- und Leiharbeit, Aufhebung des Vermittlungsmonopols der Bundesanstalt, weiterer Kündigungsschutz, Abb au und Abschaffung der Meisterprüfung. Ich nenne das einen Gruselkatalog, der aus der Feder der britischen Premierministerin kommen könnte. Was tut Herr Blüm? Er schweigt dazu.
Er schweigt bisher auch zu dem Brief des ehemaligen Wirtschaftsministers und jetzigen EG-Kommissars, Bangemann, in dem er die soeben genannten Vorschläge der Deregulierungskommission zur Forderung erhebt. Wie verträgt sich das Gewährenlassen dieser Deregulierungskommission eigentlich mit der Rede des Bundeskanzlers im Dezember letzten Jahres, in der er ankündigte, der Binnenmarkt dürfe nicht zum Vorwand für die Beseitigung wohlerworbener Rechte oder für den Ausstieg aus strengeren Schutzvorschriften werden, und ein Sozialdumping dürfe es nicht geben. Wenn es Herrn Kohl damit ernst wäre, dann hätte er den Unfug im Hause des Wirtschaftsministers schon lange unterbinden müssen, meine Damen und Herren. Deshalb bekennen Sie sich endlich mit Taten zur sozialen Dimension des Binnenmarktes und nicht nur mit Worten!

(Beifall bei der SPD)

Wir fordern Sie auf, aktiv zu werden und Einfluß auf die Kommission und den Europäischen Rat zu nehmen und nicht immer abzuwarten, bis die anderen etwas tun. Allerdings müßte man dann wissen, was man tun will. Das ist das eigentliche Grundproblem der Regierung. Sie weiß nicht — wie wir es bei der Quellensteuer und bei der Länge des Wehrdienstes, um nur die aktuellsten Beispiele zu nennen, deutlich erlebt haben — , was sie eigentlich will. Auch die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage macht dies deutlich. Ihr Gestaltungswille ist gleich Null. Auf konkrete Fragen werden ausweichende
oder ablehnende Antworten gegeben: wortreich, aber inhaltslos.
Wie will die Bundesregierung eigentlich erfolgreiche Verhandlungen führen, wenn sie nicht imstande ist, ihre eigene Position klar und deutlich zu beschreiben? Sie vermeidet offenbar bewußt, europäische Sozialpolitik zu formulieren, weil sie sich dann besser hinter dem Schutzschild Großbritannien verstecken kann. Die Antwort auf unsere Große Anfrage ist nicht nur oberflächlich, sondern auch in sich widersprüchlich. Der Beispiele gibt es viele, ich greife eines heraus.
Auf unsere Frage nach konkreten Maßnahmen der Kommission zur Verbesserung der Organisation betriebsärztlicher Dienste teilte die Bundesregierung lapidar mit, ihr sei nicht bekannt, ob die Kommission derartige Maßnahmen anstrebe. Im Klartext: In den über drei Monaten seit Einbringung der Anfrage hat die Regierung es nicht für nötig befunden, bei der Kommission diesbezügliche Informationen auch nur einzuholen. Dennoch sieht sie sich nicht gehindert, im nächsten Absatz mitzuteilen, zusätzliche Maßnahmen auf nationaler Ebene halte sie nicht für erforderlich, obwohl sie gerade ihre Unkenntnis von beabsichtigten Maßnahmen der Kommission kundgetan hat. Das begreife, wer will. Hier wird lediglich der einzige rote Faden der Sozialpolitik des Kabinetts Kohl wieder erkennbar: Tarnen, Täuschen und Aussitzen.

(Beifall bei der SPD)

Weil Sie nicht zur Formulierung klarer Positionen imstande sind, fordern wir Sie auf, unserem Entschließungsantrag „Europäischer Binnenmarkt und soziale Demokratie" vom Januar dieses Jahres zuzustimmen. Die besonders von Herrn Blüm mit Vorliebe vertretene Forderung nach konstruktiver Kritik der Opposition haben wir auch hier zum wiederholten Male erfüllt. Die zentralen Punkte unseres Antrags sind: rechtlich verbindliche Charta sozialer Grundrechte,

(Beifall bei der SPD)

verbindlicher Sozialgesetzgebungsfahrplan für den Binnenmarkt, sozialpolitisches Weißbuch, Verabschiedung der Richtlinien zu Teilzeit-, Zeit- und Leiharbeit, verbindliche Garantie der paritätischen Mitbestimmung im nationalen Bereich, Arbeitnehmermitbestimmung im europäischen Gesellschaftsrecht und nicht zuletzt die Herstellung tatsächlicher Chancengleichheit von Frauen und Männern.
Ein weiterer Punkt, auf den ich mit Nachdruck hinweisen möchte, stimmt mich sehr bedenklich. An keiner Stelle der Antwort der Bundesregierung ist das Europäische Parlament erwähnt. Obwohl wir mit verschiedenen Fragen die Möglichkeit eröffnet haben, eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem durch die Einheitliche Europäische Akte deutlich gestärkten Parlaments darzustellen, ist diese Regierung offenbar nicht bereit und nicht auf die Idee gekommen, das von großen Mehrheiten getragene Engagement des Parlaments für die aktive Gestaltung der sozialen Dimension zu nutzen. Dies hätte ja vorab die Entwicklung einer in sich schlüssigen Konzeption vorausgesetzt. Diese Aufgabe hat die Regierung jedoch bisher nicht erfüllt.



Dreßler
Mit unserer Großen Anfrage haben wir der Bundesregierung die Chance gegeben, ihre Position zu klären. Diese Chance hat die Bundesregierung nicht genutzt. Meine Damen und Herren, der Schlüssel zur sozialen Dimension zu Europa liegt in Wahrheit in Bonn. Warum soll eine Bundesregierung, warum soll ein Arbeitsminister mit rhetorischem Einsatz für Arbeitnehmerrechte in Europa glaubwürdig erscheinen, wenn diese Regierung und Herr Blüm gleichzeitig zu Hause errungene Rechte systematisch verschlechtern?

(Beifall bei der SPD und Zustimmung der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

Nein, meine Damen und Herren, die sozialpolitische Glaubwürdigkeitslücke der Bundesregierung ist das Ergebnis einer rückschrittlichen Politik in Bonn. Wer zu Hause Arbeitnehmerrechte abbaut, Herr Blüm, der soll uns nicht erzählen, er wolle in Europa das Gegenteil tun.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114900900
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1114901000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was hat Herr Dreßler gesagt? Diese Regierung hätte den Sozialstaat heruntergedrückt? Herr Dreßler hat das Bild des ruinierten Sozialstaats gemalt. Ich antworte darauf mit einem Zitat:
Zwischen Dänemark und der Bundesrepublik auf dem einen und Portugal und Griechenland auf dem anderen Extrem klaffen die Lebensstandards in Europa weit auseinander. Die Bundesrepublik gehört gewiß zu den Ländern, die sich eines besonderen Wohlstands erfreuen. Das drückt sich in einem relativ dichten sozialen Netz sozialer Sicherheit und einem vergleichsweise festen Fundament der Arbeitnehmerrechte aus.
Franz Steinkühler, Funktionärskonferenz der IG Metall in Krefeld am 19. Januar.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich versichere Ihnen: Franz Steinkühler gehört nicht der christdemokratischen Union an.

(Lachen bei der CDU/CSU) Ich zitiere aber weiter:

Nachlässigkeit, intellektuelle Borniertheit und straffälligen Leichtsinn wirft die SPD-Euopaabgeordnete Heinke Salisch großen Teilen der bundesrepublikanischen Linken, ihrer eigenen Partei und den Gewerkschaften in der Europapolitik vor.
Zitat:
Der erste Programmentwurf der SPD behandelt die Europäische Gemeinschaft jedenfalls nicht als wesentliche Rahmenbedingung sozialdemokratischer Politik.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Norbert, daß du lesen kannst, wissen wir ja, sag doch einmal etwas zur Sache!)

— Ich nehme nur die Stichworte auf.
Was hat Herr Dreßler gesagt? Er sagte: täuschen, tarnen, aussitzen.

(Dreßler [SPD]: Richtig!)

— Herr Dreßler, das würde ich an Ihrer Stelle am heutigen Tag ganz sicher nicht sagen, nachdem Sie gestern zugeben mußten, daß Sie in Ihrer Sonntagszeitung Unwahrheiten über die Gesundheitsreform verbreitet haben.

(Zurufe von der SPD)

— Sie mußten gestern zugeben, daß Sie Unwahrheiten verbreitet haben und daß Sie darauf verzichten, diese Unwahrheiten weiterhin zu verbreiten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das haben Sie wissentlich getan! — Zurufe von der SPD)

— Das nur zur Einstimmung, meine Damen und Herren.
1992 wird unter den Jahren des Jahrhunderts ganz sicherlich zu den guten Jahren zählen. Es gibt ja auch andere Jahresdaten: 1914, 1939; danach folgten schlimme Jahre. 1992 — dessen bin ich sicher — wird als Jahr der friedlichen Einigung Europas in Erinnerung bleiben: Grenzen fallen, Schlagbäume werden weggeräumt; es entsteht ein europäischer Binnenmarkt.
Der Binnenmarkt muß mehr sein als ein reiner Wirtschaftsmarkt. Wie Wirtschaft für uns nicht nur Markt ist, sondern Soziale Marktwirtschaft — eine Ordnung, die Freiheit und Solidarität, Wettbewerb und soziale Verantwortung verbindet — , so ist der Binnenmarkt für uns mehr als ein Raum für Bilanzen, Banken, Unternehmen. Der Binnenmarkt muß Sozialraum sein. Wir wollen das soziale Europa. Europa wird die Herzen der Bürger nur als soziales Europa erreichen.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Laß die Sprüche! Sag, was du machst!)

Wir brauchen einen gemeinsamen Grundstandard sozialer Rechte. Deshalb unterstützt die Bundesregierung eine Gemeinschaftscharta sozialer Grundrechte.

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Warum lehnt ihr dann unseren Antrag ab?)

Wir haben uns im Rat entschieden für diese Grundrechte eingesetzt, im Unterschied zu anderen EG-Ländern. Wir wünschen uns allerdings eine Charta konkreter Rechte der Arbeitnehmer im freien Europa. Wir wollen einen handfesten Katalog von Grundstandards, z. B. Mindesturlaub, Kündigungsschutz, Verbot der Kinderarbeit, Koalitionsfreiheit, Gleichstellung von Mann und Frau, Mutterschutz, Elternurlaub. Ich denke, auch zur Sonntagsarbeit muß Europa Stellung beziehen. Wir unterstützen die europäische Kommission auf dem Weg, in Europa einen solchen Grundrechtsstandard herzustellen.

(Zuruf der Abg. Frau Wieczorek-Zeul [SPD])

— Frau Kollegin, vielleicht überzeugt Sie Herr Breit,
wenn ich Sie nicht überzeuge. Herr Breit sagte am
10. Juli 1988: „Bundesregierung und DGB sind sich



Bundesminister Dr. Blüm
einig, daß die politische Integration auch die Sozial- und Gesellschaftspolitik einbeziehen muß. Wir sehen es deshalb als Erfolg an, daß zwischen DGB und Bundesregierung Übereinstimmung besteht, daß bei Schaffung des europäischen Binnenmarktes wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ziele gleichermaßen von Bedeutung sind." — Ich stelle fest: wir befinden uns in dieser Frage Schulter an Schulter mit den deutschen Gewerkschaften, und das stört die SPD anscheinend.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kollege Dreßler, wenn ich Ihre geschätzte Aufmerksamkeit noch einmal in Anspruch nehmen darf: Am Montag dieser Woche hat der Rat der Arbeits- und Sozialminister in Luxemburg endgültig die Rahmenrichtlinien für den Arbeitsschutz verabschiedet. Er hat damit rechtsverbindliche Mindestanforderungen auf diesem wichtigen Gebiet geschaffen. In dem halben Jahr unserer Präsidentschaft ist für den Arbeitsschutz konkret mehr getan worden als in zehn Präsidentschaften vor uns: eine Rahmenrichtlinie, fünf Einzelrichtlinien; zwei Drittel davon sind bereits als allgemeine Standpunkte verabschiedet. Und dann stellen Sie sich hin und sagen, wir würden nur reden. Sie verwechseln sich mit uns; das ist der Unterschied.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Wir wollen nicht nur rechtsverbindliche Normen, sondern auch konkrete Anwendung. Deshalb geht es nicht nur darum, Programme zu verabschieden, Richtlinien zu beschließen, sondern auch darum, für ihre Einhaltung zu sorgen.
Meine Damen und Herren, neben der Einheitlichkeit wird es in Europa sicherlich weiterhin Unterschiede geben. Das ist ja auch ein Vorteil. Vielfalt liegt im Blut Europas. Es ist unser bestes Erbstück.
Wir haben ein gewachsenes Sozialsystem. Andere Länder haben andere Sozialsysteme. Wir haben unterschiedliche Sozialkulturen. Man kann unser Gesundheitssystem nicht mit dem englischen harmonisieren oder unser Alterssicherungssystem mit dem französischen. Innerhalb Europas ist der Standard sozialer Sicherheit in der Bundesrepublik Spitze, und wir opfern diese sozialstaatlichen Errungenschaften nicht der europäischen Integration.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, es geht nicht darum, Vorsprünge abzubauen — den Vorsprung haben wir — , sondern es gilt, Verspätungen aufzuholen. Das ist der Weg der Integration.
Wir sind europäischer Vorreiter. Wenn unser Sozialstaat so schlecht wäre, wie ihn die SPD darstellt, dann weiß ich gar nicht, warum Sie ihn dauernd gegenüber der europäischen Integration schützen wollen. Es gäbe ja gar keinen Grund, ihn zu schützen. Wir wollen zusammen mit Gewerkschaften, mit Arbeitgebern unsere Errungenschaften erhalten.
Zu unserer Sozialkultur gehört Partnerschaft. Deshalb verteidigen wir Mitbestimmung. Sie ist im übrigen ein wichtiger Standortvorteil. Sozialer Friede ist ein wichtiger Standortvorteil. Sozialer Friede, Partnerschaft, Kooperation — das bringen wir ein. Wir haben einen zweiten Standortvorteil: hoher Bildungsgrad, hohe Qualifikation der Arbeitnehmer. Mit dieser Ausstattung — Partnerschaft, Kooperationswille, Bildung und Qualifikation — haben wir gute Ausgangspunkte.
Ich will hinzufügen, daß auch wir Verspätungen haben. Wir haben beispielsweise Verspätungen in Sachen Arbeitszeit. Wir sind in Sachen Teilzeit ein Entwicklungsland in Europa.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mit dem Ladenschluß haben Sie doch gerade wieder Ihr Eiszeitdenken vorgeführt. Mit dem Ladenschluß sind Sie europäische Eiszeit.
Unsere Schul- und Ausbildungszeiten sind viel zu lang. Auch da werden wir im Rahmen der europäischen Herausforderung eine neue Antwort finden müssen. Lebenslanges Lernen, das ist das Gebot der Stunde. Das Lernen muß nicht in das erste Drittel des Lebens gezwungen werden.
Auch unsere Reformen — Rentenreform, Gesundheitsreform — sind wichtige Beiträge für den europäischen Binnenmarkt. Sie sind Konditionsübungen.

(Zustimmung der Abg. Frau Wieczorek-Zeul [SPD])

— Es tut Ihnen weh, daß Sie das alles nicht erreicht haben. Wir haben die Reformen durchgeführt, die Sie versäumt haben.
Wir haben damit den Beitragszahlern insgesamt 25 Milliarden DM erspart und so die Lohnnebenkosten gesenkt, was eine wichtige Voraussetzung ist, um unsere Arbeitsplätze in Europa erhalten zu können. Ohne die Gesundheitsreform wären die Beiträge gestiegen, und wir hätten uns auf dem europäischen Binnenmarkt selber k. o. geschlagen.

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Was hat das denn mit dem Binnenmarkt zu tun!)

Ich denke, daß der europäische Binnenmarkt seine Hauptaufgabe in der Schaffung neuer Arbeitsplätze hat. Fachleute schätzen, daß es um bis zu 5 Millionen neuer Arbeitsplätze geht. Insofern ist der europäische Binnenmarkt auch eine große Hoffnung für die Arbeitnehmer.
Wir sind gut gerüstet für eine neue Epoche Europas. Es soll und muß eine soziale Epoche sein, die soziale Heimat der Arbeitnehmer.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114901100
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1114901200
Bitte schön.

Alwin Brück (SPD):
Rede ID: ID1114901300
Herr Bundesminister, wollen Sie mit Ihrem Hinweis auf die Lohnnebenkosten das dumme Geschwätz der Arbeitgeber wiederholen, daß die Bundesrepublik Deutschland ein schlechter Standort ist? Die Arbeitgeber haben damit ja auch Angst vor Europa geweckt.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1114901400
Nein. Ich habe gerade gesagt, daß wir ein guter



Bundesminister Dr. Blüm
Standort sind. Es gibt bei uns sozialen Frieden und hohe Qualifikation. Aber es bleibt dabei, daß die Beitragslast Arbeitnehmer und Arbeitgeber erdrückt und daß wir auch aus Solidaritätsgründen zu diesen Reformen gezwungen sind. Sie sind ein wichtiger Beitrag, im europäischen Wettbewerb konditionsstark zu bleiben.
Ich bleibe dabei: Unser Beitrag muß sein, in Europa einen sozialen Raum zu schaffen, in dem die Bürger zu Hause sind. Unser erster und wichtigster Schritt waren Fortschritte beim Arbeits- und Gesundheitsschutz für Arbeitnehmer. Das ist im übrigen das Wichtigste für Arbeitnehmer. Krebserzeugende Stoffe müssen in Palermo genauso verboten werden wie in Bochum, in Bochum genauso wie in Liverpool. Hier sind wir während unserer Präsidentschaft konkrete Schritte vorangekommen. Wir reden nicht über Europa; wir schaffen das soziale Europa.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Ihr schafft noch nicht einmal die soziale Bundesrepublik!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114901500
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beck-Oberdorf.

Marieluise Beck-Oberdorf (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1114901600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Werbung der etablierten Parteien und auch diese Veranstaltung heute morgen sollen den Wählerinnen und Wählern vorspiegeln, sie hätten direkten Einfluß auf europäische Strukturen und Entscheidungen. Deswegen sollen sie auch mit dieser Veranstaltung an die Wahlurnen getrieben werden.

(Dreßler [SPD]: Das war ein Aufruf, daß die GRÜNEN zu Hause bleiben sollen!)

Das ist weit gefehlt. Welche europäische Bürgerin weiß überhaupt, was und von wem in der EG entschieden wird? Machen Sie doch einmal Umfragen auf der Straße. Hat sie als europäische Wahlbürgerin überhaupt eine Kontrolle über delegierte Entscheidungen? Mitnichten. Die Wahl zum Europäischen Parlament ist eine demokratische Fassade für ein demokratiefernes Machtkartell von Regierungen, Euro-Bürokratie und Wirtschaftsinteressen, das auf EG-Ebene die Weichen stellt.
Wenn Sie von der SPD das bestreiten, möchte ich Sie allerdings einmal fragen, welches Demokratieverständnis Sie haben. Das müßten Sie hier einmal darlegen.
Ohne daß eine weitere Einflußnahme der nationalen Parlamente möglich wäre, werden in den nächsten Jahren ca. 80 To der Steuer- und Wirtschaftsgesetzgebung auf EG-Ebene transferiert, wo sie keiner demokratischen Öffentlichkeit und Kontrolle mehr unterworfen sind, jedenfalls keiner, die diesen Namen verdient.
Wir GRÜNEN kratzen mit unserem Nein zum EG-Binnenmarkt in seiner geplanten Form am Selbstverständnis einer europäischen Integration, die den Raum eines Europa ohne Grenzen, den wir auch haben, aber in anderer Form, eben auf die Realität einer
westeuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft reduziert.

(Brück [SPD]: Sagen Sie konkret, was Sie wollen!)

Wir nehmen es nicht hin, daß wichtige Politikbereiche, die von der Öffentlichkeit mitbestimmt werden müßten, in Brüssel zentralisiert werden, so wie der Binnenmarkt '92 es vorsieht.
Nun hängen wir absolut nicht an den nationalstaatlichen Strukturen des 19. Jahrhunderts. Aber wir wollen auch keine Nation Europa, die diese Strukturen — nur in größerem Maßstab — wiederholt. Dezentrale, föderalistische und subsidiäre Ordnungs- und Entscheidungsprinzipien sind der grüne Weg nach Europa. Damit, so glauben wir, kommen wir dem vielbeschworenen Europa der Bürgerinnen näher als durch die Freiheiten, die Sie uns im Augenblick anbieten, nämlich das Kapital, Waren, Dienstleistungen und Personen grenzüberschreitend handeln oder gehandelt werden können.
Jeder Zentralismus ist antieuropäisch. So ist es nicht verwunderlich, daß sich hinter der europäischen Idee vielfach diejenigen verschanzen, deren fixe Idee es ist, Großtechnologien, z. B. Rüstung, Raumfahrt, Gentechnik und Informatik, als d i e europäische Wirtschaftszukunft zu deklarieren, um die EG als dritte ökonomische Supermacht für den Kampf um die Weltmärkte aufzurüsten.
Die Regierungsparteien — und in der Tendenz auch die SPD, wie wir im Wahlkampf beobachten konnten — wollen glauben machen, die sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Binnenmarktes seien nur positiv zu bewerten. Eine solche Vereinfachung der Tatbestände halten wir für außerordentlich gefährlich.
Sind die Befürchtungen der Gewerkschaften, daß ein soziales Dumping im Rahmen des EG-Binnenmarktes stattfinden wird, berechtigt? Sind die Widerstände von Verbraucherinnen und Umweltinitiativen gegen die Übermacht wirtschaftlicher Interessen in der EG rational? Oder handelt es sich um irrationale Ängste, wie die EG-Apologeten behaupten?
Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD ist jedenfalls geeignet, diese Befürchtungen und Widerstände zu verstärken. Der Kernsatz in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD zum Binnenmarkt und zu sozialer Demokratie lautet: Der Binnenmarkt verstärkt die Chancen für mehr Wachstum und ist insoweit schon selbst eine soziale Tat. — Das ist nicht nur die Wiederkehr der alten Illusionen eines Wirtschaftswachstums ohne Grenzen, sondern es ist auch das Versprechen an die Bevölkerung, daß hohes Wirtschaftswachstum und hohe Produktivität wie schon in den 60er und 70er Jahren mit hohen Einkommenszuwächsen und hohen sozialen Standards gleichzusetzen sind.
Wir haben im politischen Diskurs in dieser Gesellschaft in den letzten Jahren eigentlich anderes gelernt. Diese Gleichung ist trügerisch geworden. Hohe Produktivität ist heute keine Garantie mehr für soziale Wohlfahrt, und das beklagen Sie von seiten der SPD ja



Frau Beck-Oberdorf
auch ständig. Wirtschaftswachstum und Beschäftigung sind heute weitgehend entkoppelt. Die Kluft zwischen geschützten und ungeschützten Arbeitsverhältnissen vergrößert sich zunehmend. Die Langzeiterwerbslosen, die Lohnabhängigen mit unzureichender Qualifikation oder mit gesundheitlichen Handikaps werden vom regulären Arbeitsmarkt zunehmend abgehängt.
Die Kluft zwischen Wohlstandsregionen, in denen sich die modernen Wachstumsindustrien konzentrieren, und verarmten Krisenregionen nimmt zu. Das heißt: Wir haben heute auch bei steigenden Wachstumsraten eine steigende Zahl von Verlierern innerhalb der Gesellschaft, in den Regionen und in Zukunft auch zunehmend innerhalb Europas.
Genauso realitätsblind ist die Verdrängung der ruinösen Folgen des wirtschaftlichen Wachstumswahns für die natürlichen Lebensgrundlagen. Die Diskussion um die ökologischen Grenzen des Wachstums, die in den 70er Jahren immerhin bis in die CDU und die Industrie vorgedrungen war, scheint heute angesichts der phantastischen Aussichten auf neue Gewinne, neue Wachstumschancen und neue wirtschaftliche Macht im Rahmen des EG-Binnenmarktes wie vom Tisch gefegt. Das ist ein großer Rückschritt, ein großer Verlust und kein Fortschritt.
Es geht nicht mehr um die überlebensnotwendige Selbstbeschränkung der Industriegesellschaft — und das ist die eigentliche Jahrhundertfrage — , sondern um die Selbstbehauptung der Wirtschaftsmacht EG im Kampf um den Weltmarkt. Wir können die Bundesregierung selbst als Kronzeugen anrufen, daß die vielbeschworene soziale Dimension des Binnenmarktes nichts ist als ein leeres Versprechen.
Dazu muß man sich die Antwort der Bundesregierung in der Großen Anfrage anschauen. Dort wird von ihr selbst gesagt:
Die Vorstellungen der EG-Kommission zur sozialen Dimension des Binnenmarkts sind zur Zeit noch nicht erkennbar.
Es geht weiter: Das Arbeitsdokument der Kommission enthält, wie in der Einleitung der Antwort auf die Große Anfrage selbst bestätigt wird, wenig konkrete Zielvorstellungen und auch keine zeitlichen Vorgaben. Das ist das, was Sie als soziale Dimension des Binnenmarkts verkaufen wollen.
Mit anderen Worten: Die EG ist eine rein wirtschaftspolitische Veranstaltung. Es wird ein Markt konstruiert, der sich weitgehend unbeeinflußt von sozialen Mindeststandards und Schutzrechten für Arbeitnehmerinnen und Verbraucherinnen entfalten kann. So erteilt die Bundesregierung der Forderung nach einer EG-weiten Arbeitszeitordnung mit Höchstarbeitszeiten und Regelungen zur Begrenzung von Wochenend-, Schicht- und Nachtarbeit eine klare Absage. EG-weite Regelungen über Elternurlaub und Urlaub aus familiären Gründen werden von der EG-Kommission hartnäckig abgelehnt.

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Bitte?! — Peter [Kassel] [SPD]: Es gibt einen Entwurf, und da steht es gerade drin! Versuchen Sie es mit Lesen! Wir sind wirklich keine Freunde der Kommission!)

— Von der Kommission.

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Kommission ist nicht gleich Rat!)

— Sie müssen einmal gucken: Wo kommt es denn durch? Es kommt ja nicht durch.

(Peter [Kassel] [SPD]: Versuchen Sie es einmal mit Lesen!)

— Gut, ich versuche es einmal mit Lesen, Herr Peter. Das habe ich im ersten Schuljahr eigentlich gelernt.

(Brück [SPD]: Man hat seine Vorurteile, und die läßt man sich nicht durch besseres Wissen zerschlagen!)

Für EG-weite Mindestsicherung, für die Wechselfälle von Erwerbslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder zur Absicherung von Mindesteinkommen im Alter sieht die Bundesregierung weder Bedarf noch Durchsetzungschancen auf EG-Ebene. Die EG-Kommission hat bereits abgelehnt, Aufträge der öffentlichen Hand im Rahmen der EG an soziale Kriterien zu knüpfen, z. B. an die Gleichbehandlung von Frau und Mann oder die Einhaltung von Tarifverträgen. Einziges Regulativ soll der Preis sein.

(Dr. Gautier [SPD]: Das stimmt doch nicht! Das ist schlicht falsch!)

Es geht um Kostensenkung, um Preiswettbewerb, auch wenn dabei soziale und ökologische Folgekosten ausgeklammert bleiben.

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Das ist der Rat und nicht die Kommission! — Peter [Kassel] [SPD]: Ich bin für ein europäisches Seminar!)

Die soziale Dimension des Binnenmarkts besteht vor allen Dingen aus großen Lücken, was durchaus gewollt ist. Es entspricht dem wirtschaftsliberalen Kredo, das die Befreiung des Marktes von sozialen und ökologischen Regierungen als Königsweg zur Steigerung der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt fordert. Der tatsächliche Effekt dieser sozialpolitischen Lücken ist eine Vergrößerung der Spielräume für die Wirtschaft. Die Belegschaften und Gewerkschaften werden aber in eine Standortkonkurrenz hineingetrieben, wo sie nicht ausreichend Gegenmacht haben. Das wäre im Endeffekt das Sozialdumping, das von den Gewerkschaften auch beschrieben wird.
Der schon längst erfolgten Internationalisierung der Wirtschaft stehen national organisierte Gewerkschaften und zum Teil nur lokal zusammengeschlossene soziale Bewegungen gegenüber. Das ist eine der Hauptgefahren, die uns in diesem Wirtschaftseuropa blühen. In gewisser Hinsicht erleben wir heute auf EG-Ebene Parallelen zur Herausbildung der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften als sozialer Gegenmacht in der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts. Der EG-Binnenmarkt, wie er sich heute abzeichnet, ohne demokratische Kontrolle und ohne eine soziale Gegenmacht ist eine Kombination von Kapital und staatlicher Bürokratie. Wir betrachten es deshalb als eine vordringliche Aufgabe, alle Ansätze



Frau Beck-Oberdorf
zur internationalen Zusammenarbeit sozialer, ökologischer und demokratischer Bewegungen zu fördern und zu unterstützen.
Das ist eine der Hauptaufgaben, die die GRÜNEN im Europäischen Parlament und in den EG-Institutionen wahrnehmen müssen: die Vernetzung der Gegenwehr von unten zu fördern und damit dem Europa der Konzerne ein soziales, demokratisches und ökologisches Europa von unten entgegenzusetzen.

(Beifall der Abg. Frau Garbe [GRÜNE] — Kittelmann [CDU/CSU]: Da hat ja nur ein einziger geklatscht!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114901700
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Würfel.

Uta Würfel (FDP):
Rede ID: ID1114901800
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das zusammenwachsende Europa wird weit mehr sein als ein großes, hervorragend funktionierendes Warenhaus. Ich denke, es lohnt sich, einmal im Alltagsgetriebe innezuhalten und darüber nachzudenken, was die soziale Dimension Europas in ihrer ganzen Tragweite eigentlich bedeutet. Da ich eine Politikerin bin, die an der Basis stark verwurzelt ist,

(Jahn [Marburg] [SPD]: Bravo!)

habe ich in den vergangenen Wochen die Mitmenschen meiner Umgebung befragt, was für sie die soziale Dimension Europas ist. Ich kann Ihnen sagen, daß die meisten zwar wußten, was „Sozialhilfe" und „asozial" bedeutet, daß sie sich aber unter dem Begriff „soziale Dimension" so gut wie gar nichts vorstellen konnten und lediglich die Eingeweihten, also die, die mit Sozialpolitik zu tun hatten, den Begriff einigermaßen definieren konnten. Wenn es schon bei der Mehrheit der Bevölkerung — nach meiner Umfrage — so ist, daß nicht bekannt ist, was „soziale Dimension" ist, um wieviel schwieriger würde es dann bei dieser seltsamen deutsch-englischen Wortschöpfung des „Sozialdumping". Deswegen will ich mich, wenn ich jetzt in meinen Ausführungen hier über die soziale Dimension des europäischen Binnenmarktes spreche, bemühen, möglichst verständlich zu sprechen; denn ich finde es immer sehr seltsam, wenn Politiker und auch Sachverständige Wortschöpfungen gebrauchen, mit denen sie unter Umständen etwas verschleiern können, weil sie sich scheuen, eindeutig deutsch zu reden. Und mit dem Begriff des Sozialdumping scheint das wohl so zu sein.

(Beifall bei der FDP)

Im Grunde, meine Damen und Herren, geht es bei dieser sozialen Dimension um das Faszinierendste, was wir in den vergangenen Jahrzehnten erlebt haben; denn es geht um nichts anderes als darum, daß die Lebensbedingungen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von zwölf verschiedenen Ländern und 324 Millionen Menschen einander angeglichen werden. Alle Menschen dieses vereinten Europas, das wir anstreben, sollen dieselben Rechte und auch dieselben Pflichten haben. Das bedeutet, daß wir alle gesellschaftlich relevanten Gruppen ins Blickfeld nehmen müssen: die Arbeitnehmer, die Familien, die Kinder, die Kirchen, die Gewerkschaften, die Selbständigen, die Rentner, die Witwen, die Alleinerziehenden und die Behinderten, um nur einige zu nennen. Und es geht darum, daß das bei den verschiedenen sozialen Sicherungssystemen bisher Erreichte miteinander verglichen wird und man das Beste und das Bewährte auswählt.
Das heißt also, daß die verschiedenen sozialen Sicherungssysteme im Wettstreit miteinander liegen; denn es gibt kein Land in der Europäischen Gemeinschaft, das nicht auf irgendeinem Gebiet der nun zu treffenden Gemeinschaftsregelungen einen Vorsprung gegenüber dem anderen hätte. Zum Beispiel ist der Arbeitsschutz in Dänemark weiter entwickelt als in anderen EG-Ländern. In den Niederlanden beispielsweise existieren im Umweltbereich weitergehende Regelungen als in anderen europäischen Ländern. In der Bundesrepublik ist die Mitbestimmung am weitesten entwickelt. Und wieder andere Länder sind führend beim Verbraucherschutz und bei den lebensmittelrechtlichen Vorschriften.
Übrigens schneidet die Bundesrepublik im Vergleich der sozialen Sicherungssysteme recht gut ab. Wir sehen es an den Veröffentlichungen der Gewerkschaften,

(Dr. Blüm [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

von denen wir vorhin gehört haben und in denen sie darauf hinweisen, daß es keine Abstriche am Erreichten geben dürfe.

(Beifall bei der FDP)

Andererseits gibt es natürlich auch bei uns Bleigewichte, nämlich zu hohe Lohnzusatzkosten, eine starke Verkrustung des Arbeitsmarktes, unzureichende Arbeitszeitflexibilität. Die Diskussion um die Veränderung der Ladenschlußzeiten war ein Trauerspiel ohnegleichen.

(Beifall bei der FDP)

Auf der anderen Seite liegen unsere absoluten Pluspunkte in der hohen Produktivität, in der Qualifikation unserer Arbeitnehmer, in der guten Infrastruktur und in dem ausgewogenen Instrumentarium von Mitbestimmungsrechten und Mitwirkungsrechten, das in der Vergangenheit entscheidend zum gesellschaftlichen Frieden beigetragen hat.
Andererseits steht allerdings außer Frage, daß wir unsere Wettbewerbsvorteile nicht aufs Spiel setzen dürfen; denn angesichts technologischer Umwälzungen, wirtschaftlicher Verschiebungen und des industriellen Strukturwandels ist der Erfahrungsaustausch als Instrument der Annäherung zugleich auch ein Element des Zusammenhalts der Gemeinschaft; denn dieser Erfahrungsaustausch fördert das Verständnis der jeweiligen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation und natürlich auch der Grundwerte, um die es geht.
Meine Damen und Herren, das Faszinierendste an der ganzen Tragweite der sozialen Dimension Europas ist für mich, daß erst einmal geistige Schranken eingerissen werden mußten und daß erhebliche innere Widerstände und ideelle Grenzen überwunden sein werden, wenn es am 1. Januar 1993 so weit sein wird, daß die materiellen Schranken innerhalb der Zwölfergemeinschaft gefallen sein werden. Hier meine ich die hölzernen und eisernen Schlagbäume,



Frau Würfel
die unsäglichen Kontrollen und die langwierigen, erniedrigenden Zollformalitäten.
Meine Damen und Herren, was vor 40 Jahren noch ein Traum war, ist Wirklichkeit geworden: Aus Erzfeinden wurden Freunde und Partner, aus Herabsetzung des anderen wurde Anerkennung, aus Vorurteilen wurde Partnerschaft, und aus Abneigung wurde Sympathie. Ich finde es einfach phantastisch, was sich gerade in den vergangenen Jahren auf europäischer Ebene getan hat, wie die Völker bereits zusammengewachsen sind, wie groß das Verständnis füreinander geworden ist

(Beifall bei der FDP)

und wieviel mehr an Freiheit ab 1993 dem einzelnen Bürger Europas geboten werden wird.
Immer mehr Menschen in Europa begreifen, daß wir alle gemeinsame historische Wurzeln haben und daß die kulturelle Dimension Europas geprägt ist durch das Bekenntnis zur Demokratie, zur Gerechtigkeit und zur Freiheit. Wir sind stolz darauf, daß es europäische Frauen und Männer waren, die unser kulturelles Erbe in die ganze Welt hinausgetragen haben. Denken wir an Jeanne d'Arc, Béla Bartók, Hildegard von Bingen, Brahms, Cervantes, Madame Curie, Dante, Goethe, Kant, Columbus, Liszt, Magellan, Florence Nightingale, Leonardo da Vinci, Voltaire und Wagner, um nur einige herausragende Beispiele zu nennen.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Das waren schon eine ganze Menge!)

Die europäische Integration setzt eine neue, auf dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen europäischen Kultur beruhende Solidarität voraus. Für ein Zusammenwachsen der Völker Europas ist gesamteuropäisches Denken des einzelnen unerläßlich;

(Beifall bei der FDP)

denn ein vereintes Europa wird nicht verordnet, sondern ein Europa der Bürger wächst von unten herauf zusammen. Nachdem Europa nun ein reiches kulturelles Erbe hat, kann es also nur darum gehen, diesen kulturellen Reichtum in seiner ganzen Vielfalt auszuschöpfen.
Ich denke, daß es die Jugend ist, die eine ganz zentrale Rolle bei dem Zusammenwachsen Europas spielen wird. Es geht also auch darum, die Möglichkeiten des Erlernens von Sprachen zu verbessern. Im Grunde genommen müßte man es schon in der Grundschule ermöglichen, die Sprache des Nachbarlandes zu lernen; denn unsere Jugend ist es, die vollenden wird, was wir uns heute vorstellen.
Das wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Europa, das wir gemeinsam schaffen wollen, verlangt den festen Willen und die Fähigkeit, sich in die Mentalität des Nachbarn einzufühlen und sie zu achten. Es erfordert besonders die Bereitschaft, voneinander zu lernen. Hier sind liberal denkende Menschen gefragt; denn nur aus liberaler Geisteshaltung heraus wird Europa vollendet werden.

(Peter [Kassel] [SPD]: Da kriegt man ja eine Gänsehaut!)

Jenseits von Vorurteilen und Vorbedingungen wird Europas Jugend zusammenwachsen, wird die Jugend die Hände über die Grenzen hinweg ausstrecken und mit Begeisterung und der Zukunftsvision eines menschlichen Europas im Herzen die gemeinsame Heimat aufbauen helfen. Unsere Jugend wird sich den globalen Herausforderungen der Zukunft als Europäer stellen, weil sie Europa nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen akzeptieren wird.

(Beifall bei der FDP)

Laßt uns in Zukunft alle als Europäer denken, handeln und leben. Laßt uns an Europa glauben und Europa mit Leben erfüllen. Ich denke, es lohnt sich für uns alle.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Das war aber schwach!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114901900
Das Wort hat der Abgeordnete Peter (Kassel).

Horst Peter (SPD):
Rede ID: ID1114902000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Würfel, ich glaube, das, was eben Ihre Schlußapotheose war, ist einer der Gründe dafür, daß wir befürchten müssen, daß die Begeisterung für Europa möglicherweise nicht so weit geht, wie die politische Identifikation mit Europa einfach gehen müßte.
Es geht bei Wahlen um Politik und bei Europawahlen um europäische Politik.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Deshalb muß am Sonntag jedem klar sein, daß es um politische Grundentscheidungen und nicht um die Frage geht, mit welchem Herzen wir jeweils gerade Europa abfeiern. Es geht auch nicht um den Binnenmarkt, sondern es geht um eine Politik, die den Binnenmarkt sozial gerecht gestaltet. Das ist die Position der Sozialdemokraten.

(Beifall bei der SPD)

Wenn wir soziale Demokratie in Europa fordern, dann wissen wir auch, daß es da konkret werden muß. Herr Minister Blüm, es hilft gar nichts, zum dritten und vierten Mal die Begeisterung für das soziale Europa hier zu feiern, gleichzeitig aber, wenn es konkret wird, vor den Arbeitgebern einzuknicken und sich bei den sozialen Grundrechten auf die Widerstände der Frau Thatcher zu berufen und zu sagen: Hier läuft nichts.

(Beifall bei der SPD)

So ist in der Tat die Lösung der Frage, ob es gleichzeitig mit der Entwicklung des Binnenmarktes eine europäische Sozialverfassung gibt — das steckt nämlich hinter dem Begriff von der Charta sozialer Grundrechte in der EG — , entscheidend dafür, ob die Arbeitnehmer, die Gewerkschaften und die Bevölkerung den Binnenmarkt akzeptieren oder nicht. Es ist eine Kernfrage der Akzeptanz des Binnenmarktes, ob es soziale Gesetze in Europa gibt.
Die Kernfrage der Diskussion um die europäische Sozialverfassung spitzt sich auf die Frage der Rechtsverbindlichkeit sozialer Grundrechte in den Mitgliedstaaten zu. Das ist offensichtlich etwas, was die



Peter (Kassel)

Arbeitgeber in der Bundesrepublik fürchten wie der Teufel das Weihwasser.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es ist ein Unding, daß jeder Produzent einer Ware oder Anbieter einer Dienstleistung in Europa sein Recht auf den freien Zugang zu den nationalen Märkten vor dem Europäischen Gerichtshof einklagen kann, daß aber ein Arbeitnehmer, der sich in der Wahrnehmung essentieller sozialer Grundrechte eingeschränkt sieht, ob es nun Gewerkschaftsrecht oder Kündigungsschutz oder etwas anderes ist, vom europäischen Rechtsweg ausgeschlossen ist. Ein Europa, das die Arbeitnehmer vom europäischen Rechtsweg ausschließt, ist nicht das Europa der Arbeitnehmer.

(Beifall bei der SPD)

Das ist der Grund dafür, Herr Minister Blüm, daß der Deutsche Bundestag am 1. Juni die Bundesregierung aufgefordert hat, sich im Rat für einen Kernbestand einheitlicher, verbindlicher und in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltender sozialer Grundrechte einzusetzen. Das ist auch für mich der Grund dafür gewesen, daß ich Ihnen, Herr Bundesarbeitsminister, in einem Brief den Rat gab, für die europäische Öffentlichkeit auf der Grundlage des Bundestagsbeschlusses einen Gegenakzent zu der schroffen Ablehnung jeglicher verbindlicher sozialer Grundrechte durch Frau Thatcher zu setzen.
Ihre Reaktion, Herr Bundesarbeitsminister, ist einesteils zu begrüßen. Sie haben in der Tat eine klare Aussage für verbindliche, einklagbare soziale Grundrechte gemacht. Das verdient Unterstützung.
Andererseits haben Sie allerdings das Einstimmigkeitserfordernis für eine Sozialcharta so weit herausgestellt, daß zu befürchten ist, daß Sie mit diesem Hindernis der Einstimmigkeit gleichzeitig für die Arbeitgeber, die das ja alles nicht wollen, eine Beruhigung schaffen wollen und auf der anderen Seite dem Bundeskanzler den Spagat zwischen sozialem Image auf europäischer Ebene und dem Deregulierungsdruck aus der Wirtschaft, von der FDP, vom Bundeswirtschaftsminister und sicherlich auch von Graf Lambsdorff weiter so erlauben. Ein Spagat ist ja eine Funktion der Länge der jeweiligen Beine. Wenn Sie mit dem Einstimmigkeitserfordernis hier die Begrenzung setzen, dann verdient einiges von dem, was Sie gesagt haben, durchaus unser Mißtrauen.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114902100
Herr Abgeordneter Peter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stavenhagen?

Horst Peter (SPD):
Rede ID: ID1114902200
Ja.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114902300
Bitte, Herr Abgeordneter.

Dr. Lutz G. Stavenhagen (CDU):
Rede ID: ID1114902400
Herr Kollege, meinen Sie wirklich, daß es die Privatidee von Herrn Blüm war, das Einstimmigkeitserfordernis herauszustellen, oder glauben Sie nicht, daß das vielleicht im EWG-Vertrag begründet sein könnte?

Horst Peter (SPD):
Rede ID: ID1114902500
Ich stelle fest, daß in dem Vorschlag zu einer feierlichen Erklärung der Kommission die Frage, ob Art. 118a mit die Rechtsgrundlage für einige Bereiche, die in einer Sozialcharta geklärt werden müssen, bieten könnte, die Kommission dazu gebracht hat, zu sagen, es sei noch nicht ausdiskutiert, ob es ein Einstimmigkeits- oder ein Mehrheitserfordernis gebe. Dann ist es um so weniger verständlich, wenn der Herr Bundesarbeitsminister diese Frage ex cathedra von sich aus entscheidet. Das ist der Grund für unser Mißtrauen.

(Beifall bei der SPD)

Sie wissen, es gibt da durchaus noch einen Diskussionsprozeß mit erheblichen Auswirkungen darüber, ob das Europäische Parlament im Kooperationsverfahren mitentscheiden kann, was ja die Durchsetzungschancen erhöhen würde, oder nicht.

(Dr. Stavenhagen [CDU/CSU]: Wir können Sie beruhigen: Ihr Mißtrauen ist nicht berechtigt!)

— Ihrem Lächeln, Herr Staatsminister, entnehme ich, daß Sie es so sehen wie ich.
Herr Bundesarbeitsminister, für mich ist sehr interessant: Wie wird denn auf dem Gipfel in Madrid die Mehrheit bei einer Charta sozialer Grundrechte sein? Wird das 11 : 1 sein? Wenn es 11 : 1 sein wird, sollte der Bundeskanzler tatsächlich mal seine Freundschaft zu Frau Thatcher überprüfen, ob er sie dann nicht zu der zwölften Stimme bringen könnte, um damit die Frage der Einstimmigkeit zu einem Scheinproblem zu machen. Es ist dem Herrn Bundeskanzler zu empfehlen, einmal den Tiefgang seiner Freundschaft zu Frau Thatcher in diesem Zusammenhang zu überprüfen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, auf Frau Beck-Oberdorf gehe ich heute nicht ein, obwohl ich es in sozialpolitischen Fragestellungen gerne tue. Hier empfiehlt es sich tatsächlich, einmal parlamentarisch zu überprüfen, ob wir Europaseminare machen sollten, damit endlich klar ist, in welchen Institutionen welche Papiere jeweils gerade erörtert werden. Sonst ist das keine Basis für eine sinnvolle Auseinandersetzung.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Sprechen Sie zu Ihrer Partei?)

Zu den Inhalten einer Sozialcharta: Die Sozialdemokraten haben in ihrem Antrag zum sozialen Europa dargelegt, welches die notwendigen Grundrechte für Arbeitnehmer sind; Kollege Dreßler hat das ausgeführt. Es ist hier nur wichtig, daran zu erinnern: Diese sozialen Grundrechte sind nach unserer Auffassung Mindestrechte, d. h. wenn Staaten weitergehende Rechte, einen höheren sozialen Stand erreicht haben, dann brauchen sie diesen Stand nicht aufzugeben, sie können ihn auch weiterentwickeln.
Herr Bundesarbeitsminister, nur noch einmal die Erinnerung daran: Deutschland ist nicht überall Spitze.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Vor allem nicht bei den Ministern! — Dr.-Ing. Kansy [CDU/ CSU]: Die Opposition ist schlecht!)




Peter (Kassel)

Im Gegenteil, wir sind durch den Prozeß des nationalen Sozialabbaus an der einen oder anderen Stelle hinter andere Länder zurückgefallen. Die deutschen Arbeitnehmer könnten auf die Arbeitnehmerrechte als gewerkschaftliche Rechte in Italien stolz sein. Die erwerbstätigen Frauen in der Bundesrepublik müßten auf den sozialen Standard, den erwerbstätige Frauen in Frankreich erreicht haben, neidisch werden, und das Problem der Pflegebedürftigkeit ist in den Niederlanden besser geregelt als bei Ihrem kümmerlichen Versuch eines Gesundheits-Reformgesetzes.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU)

Von daher ist das Bild von Jacques Delors von der Sozialcharta als dem sozialen Fahrstuhl im europäischen Haus, wo jede Nation in der Etage, in der sie sich befindet, in den nach oben fahrenden Fahrstuhl einsteigen kann, an sich ein gutes Bild, um den Bürgern deutlich zu machen, um was es bei dem Aufbau eines sozialen Europas geht. Bauen wir dieses Haus allerdings gleichzeitig mit dem Fahrstuhl, und bauen wir den Fahrstuhl nicht hinterher ein; denn dann würde es nach allen Erfahrungen wesentlich teurer! Das sagt Ihnen jeder, der schon einmal ein Haus gebaut hat.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114902600
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hellwig.

Dr. Renate Hellwig (CDU):
Rede ID: ID1114902700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland steht im Zeichen des Gorbatschow-Besuchs. Was interessiert Herrn Generalsekretär Gorbatschow besonders an uns? Ihn interessiert unser Wirtschaftssystem besonders. Ihn interessiert, von uns zu lernen. Er sollte in Köln ursprünglich vor deutschen Arbeitern sprechen; er hat es vorgezogen, mit der deutschen Industrie zu sprechen.

(Zuruf von der SPD: Heute spricht er in Dortmund vor Arbeitern! — Peter [Kassel] [SPD]: Das ist eine Steigerung, vom Bundeskanzler bis nach Dortmund!)

Er tat es nicht, um etwa die deutschen Arbeitnehmer zu beleidigen, sondern er tat es, um das Bestmögliche für seine sowjetischen Arbeitnehmer zu tun; denn er weiß, er braucht genau solche Unternehmer, wie es unsere deutschen Unternehmer sind, um das Bestmögliche für seine sowjetischen Arbeitnehmer zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn jemand auf der Suche nach einem Modell ist, wie er ein marodes Wirtschaftssystem nach vorn bringen kann, wie er es marktwirtschaftlich stärker, sozial gerechter und besser machen kann, dann landet er — wie Gorbatschow — bei uns. Die Komplimente können Sie alle in der Zeitung nachlesen. Er sagte ganz zufrieden: „Jetzt brechen politische und wirtschaftliche Eisenvorhänge zusammen; wir sind auf dem Weg zu einer sozialistischen Marktwirtschaft. " So Zitat Gorbatschow.
Hoffentlich macht diese Erkenntnis allmählich auch bei unseren Linken Platz.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Sie gehören doch zu den Linken der CDU, Frau Hellwig!)

Wie sagte Gorbatschow so schön: Alte Befehlsadministrationen liegen bei ihm im Kampf mit der Marktwirtschaft.
Meine Damen und Herren, diese Voraussetzung, daß der Markt das Herzstück auch jeder Sozialpolitik ist, diese Erkenntnis vertreten übrigens beide deutschen Tarifpartner, also nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch die Gewerkschaften. Es war für mich bei der Anhörung, die ich im Auftrag der CDU/CSU-Fraktion zum Thema EG-Sozialraum durchführte, sehr interessant, daß beide Tarifpartner gleichzeitig und gleichermaßen daran interessiert waren, das hohe deutsche soziale Niveau auch im EG-Binnenmarkt im näheren Zusammenwachsen zu halten. Geradezu Stilblüten kann ich zitieren, wenn einerseits der Arbeitgebervertreter sagt, daß die hohen Löhne angesichts der hohen Produktivitätsrate durchaus gerechtfertigt sind, und wenn andererseits der Arbeitnehmervertreter sagt, daß man nicht alle Arbeitsplätze in Deutschland halten muß, sondern daß man durchaus schlecht bezahlte Arbeitsplätze auch in andere Länder abwandern lassen sollte, weil dies das beste Mittel gegen Sozialdumping sei. — Meine Damen und Herren, so ehrlich, so offen und so voller Komplimente wird von beiden Tarifpartnern über unser System gesprochen, wenn es darum geht, es innerhalb der EG mit anderen zu vergleichen.
Mein lieber Norbert Blüm, Herr Minister, auch Ihnen kann ich eine freudige Nachricht mitgeben.

(Zurufe von der SPD: Die hat er immer nötig!)

Bei dieser Anhörung wurde unser deutsches Krankenversicherungssystem von beiden Tarifpartnern als vorbildlich gelobt.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

Man sagte, daß die öffentlichen Gesundheitssysteme wesentlich teurer und nicht so effizient sind. Man verglich es auch mit anderen Beitragssystemen und stellte z. B. fest, daß in der französischen Krankenversicherung der einzelne bis zu 30 % der ambulanten Versorgung selbst tragen muß. Das sage ich all denjenigen, die darüber jammern, daß unsere Selbstbeteiligung so hoch sei.
Meine Damen und Herren, die Wünsche nach weiterer Reform unseres Krankenversicherungssystems gingen in die folgende Richtung:

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114902800
Frau Dr. Hellwig, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Renate Hellwig (CDU):
Rede ID: ID1114902900
Nein, meine Zeit ist zu kurz. Es tut mir leid.
Erstens. Der erste Wunsch beider Tarifpartner war eine weitere Kostendämpfung. Ich hätte mir gewünscht, Norbert Blüm, auch in Ihrem Interesse, daß



Frau Dr. Hellwig
dieses auch im Rahmen der Gesundheitsreform offener gesagt worden wäre.
Zweitens. Ein weiterer Wunsch war es, mehr zugunsten der Versorgung Älterer zu tun — weniger Ärzte und mehr Pflegekräfte forderte der DGB. Genau das ist die Zielrichtung, in die die Reform auch geht.
Kommen wir zu dem anderen Punkt, der in der öffentlichen nationalen Diskussion mit die größte Rolle im Bereich der Sozialpolitik spielt, zum Thema Arbeitslosigkeit. Dazu nur ein paar Verlaufs- und Vergleichszahlen: Europaweit lag die Arbeitslosenquote 1984 bei 10,8 %, und sie ist bis 1988 auf 10,3 % abgesunken. Das ergab sich aus der Statistik in der Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU. In Deutschland betrug die Arbeitslosenquote im Jahre 1984 7,1 %, und 1988 6,4 %. Jetzt kommt der zweite, angeblich so unsoziale Staat, Großbritannien. Hier betrug die Arbeitslosenquote 1984 11,4 % und 1988 8,7 %. Im Vergleich dazu betrug die Arbeitslosenquote in einem sozialistisch regierten Staat, nämlich in Frankreich, 1984 9,9 % und 1988 10,4 %. Also frage ich: Wer hat hier die besseren Rezepte zum Abbau der Arbeitslosigkeit?

(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD: Wenn das der Bundeskanzler hört!)

Ich kann Ihnen auch noch Spanien nennen. Die Arbeitslosenquote der Frauen stieg hier von 23,4 % auf 28,4 %. Was wahr ist, muß wahr bleiben. Es sind ganz einfache Statistiken.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Bei aller Freundschaft kann man sich auch durchaus Wahrheiten ins Gesicht sagen, mein lieber Herr Brück, das wissen Sie. Das ist der Vorteil einer guten Freundschaft.
Meine Damen und Herren, eigentlich besteht jetzt bei uns Deutschen die Gefahr, wenn wir ehrlich sind, daß unsere deutschen Bundesbürger sagen: Ja, es ist toll, Frau Hellwig. Was Sie hier sagen, stimmt alles. Wozu brauchen wir überhaupt noch den Binnenmarkt? Am besten machen wir gar nichts weiter, denn im Grunde haben wir so große Vorteile, die nur bleiben können.
Meine Damen und Herren, für uns ist der Binnenmarkt die entscheidende ehrliche Entwicklungshilfe gegenüber unseren Nachbarn. Das tun wir nicht aus Altruismus, sondern zu unserem eigenen Nutzen. Denn wirtschaftlich starke und soziale Nachbarn, denen es genauso gut geht wie uns, sind die besten Nachbarn. Dies ist die beste Friedens- und Sicherheitspolitik für unser eigenes Volk. Der erste Teil der Europäischen Gemeinschaft, als Italien in den 60er Jahren aufgeholt hat, ist ein Beweis dafür, daß dann, wenn die Grenzen offen sind und die weniger Entwikkelten die Chance einer hochbeschleunigten Entwicklung haben, es den Besseren in diesem Markt nicht etwa schlechter geht, sondern daß sie von dem Wachstum der anderen profitieren. Genau das wird auch in Zukunft der Fall sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist unsere Form der Fortentwicklung. Wir sind Spitze. Aber wir sind nicht eitel, sondern gleichzeitig selbstkritisch genug, diese Tatsache, daß wir Spitze sind, dazu zu benutzen, uns weiter zu reformieren. Dazu gehört die Öffnung im Rahmen des Binnenmarkts.
Ein Wort noch an die GRÜNEN, Frau Beck-Oberdorf. Die Zwergenrepublik der GRÜNEN, von denen immer so schön gesagt wird: „Wir brauchen keine Harmonisierung; denn alles soll von unten klein, klein kommen", ist genau der Wildwuchs, in dem extreme soziale Unterschiede die Gefahr des sozialen Dumpings in sich bergen, wenn der Unternehmer in einem weniger sozialen Land glaubt, sich durch weiteres Drücken von Schutzrechten Wettbewerbsvorteile gegenüber solchen Staaten wie uns zu sichern. Deswegen kann ich der SPD nur zustimmen, wenn sie mit uns gemeinsam eine Sozialcharta und damit gemeinsame Mindeststandards fordert. Das ist der Zentralismus, den wir im Interesse der größeren sozialen Gerechtigkeit in Europa brauchen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114903000
Das Wort hat der Abgeordnete Reimann.

Manfred Reimann (SPD):
Rede ID: ID1114903100
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Mit der Schaffung des europäischen Binnenmarkts sind Probleme verbunden, die die Bürger und Bürgerinnen in unserem Land nachhaltig in ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen betreffen werden. In meinen Ausführungen will ich auf das Problem des Arbeitsschutzes eingehen, aber auch einige Gedanken zur Sicherung des Verbraucherschutzes vortragen.
In der Bewertung des Arbeitsschutzes in der EG gehen die Meinungen weit auseinander. Tatsache ist, daß mit dem Art. 118 a des EWG-Vertrags, wonach die Mitgliedstaaten die Verbesserung insbesondere der Arbeitsumwelt fördern wollen, um die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen, gute Möglichkeiten zur Gestaltung des Arbeitsschutzes auf dem Wege von Mehrheitsentscheidungen gegeben sind, obwohl eine Vielzahl von Vorhaben am Einstimmigkeitsprinzip gescheitert sind.
Der derzeit erörterte Entwurf der Sozialcharta wird ein Fortschritt zur Verbesserung des Arbeitsschutzes sein, wenn es zur Konkretisierung der Schutzbestimmungen kommt. Wenn nicht, besteht die Gefahr, daß man sich entweder auf niedrige Standards einigt oder daß das Vorhaben dem Einstimmigkeitsprinzip gleich zum Opfer fällt, obwohl es dringend notwendig, ja unumgänglich ist, die Mindeststandards in den rückständigen Mitgliedsländern anzuheben.
Der Bundeskanzler hat den Gewerkschaften zugesichert, daß mit der Schaffung des EG-Binnenmarkts kein Sozialdumping und kein Abbau von Arbeitnehmerrechten verbunden sind. Wie vertrauenswürdig ist eigentlich ein Bundeskanzler, der seit seinem Machtantritt keine Gelegenheit ausgelassen hat, Arbeitnehmerrechte in der Bundesrepublik bis zur Unerträglichkeit abzubauen?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Widerspruch bei CDU/CSU und der FDP)




Reimann
Der EG-Binnenmarkt muß auch unter dem Aspekt handfester Interessen der multinationalen Konzerne gesehen werden. Ihnen geht es um den Wegfall von Handelshemmnissen und den Aufbau neuer Märkte. Diesem Vorhaben der Bundesregierung jetzt noch ein sozialpolitisches Mäntelchen umzuhängen, darauf könnte an sich verzichtet werden. Es fragt sich — wenn ich heute morgen dem Herrn Arbeitsminister richtig zugehört habe — : War denn der von der Bundesregierung betriebene Sozialabbau in den vergangenen Jahren der Preis für den Einstieg nach Europa?

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Nein!)

Wichtig ist die Erkenntnis für die Arbeitnehmer in Europa, daß sie sich nicht gegeneinander ausspielen lassen dürfen. Die Gefährdung der Menschen durch gesundheitsgefährdende Arbeitsstoffe ist die gleiche — es ist richtig, was der Minister darüber sagt — , ob sie den portugiesischen Arbeitnehmer oder den deutschen trifft. Deshalb müssen die Standards im Arbeitsschutz in ganz Europa einheitlich nach oben gedrückt werden. So verstehen wir die soziale Dimension des Binnenmarkts.

(Beifall bei der SPD)

Der Umwelt- und Gesundheitsausschuß des Europäischen Parlaments hat in diesen Tagen eine Vielzahl von Anträgen zur Verbesserung des Arbeitsschutzes verabschiedet: Vom Initiativrecht der Arbeitnehmer bei Fragen des Gesundheitsschutzes im Betrieb bis zur Vermeidung eintöniger Arbeit. Voraussetzung dafür, daß diese Anträge als Richtlinien in Kraft treten, ist allerdings, daß die Beschlüsse des Europäischen Parlaments vom Ministerrat nicht einstimmig zurückgewiesen werden. Aus England hört man dazu keine guten Botschaften.
Die Haltung der Bundesregierung läßt sich an ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage zum Thema Europäischer Binnenmarkt und soziale Demokratie festmachen. Sinngemäßes Zitat: Im engen Kontakt mit den Sozialpartnern will sich die Bundesregierung für eine Reihe konkreter, rechtlich verbindlicher und einklagbarer Mindestregelungen im arbeitsrechtlichen Bereich einsetzen.
Zum einen begrüßt die Bundesregierung, wie ihre Antworten zeigen, das sogenannte Richtlinienpaket der EG zum Arbeitsschutz und verweist immer wieder auf ihre angebliche Initiativrolle bei der Einbringung neuer Vorschläge zum Arbeitsschutz, zum anderen lese ich aus ihren Antworten, daß sie offenbar der irrigen Meinung anhängt, in der Bundesrepublik seien durch bestehende Arbeitsschutzregelungen paradiesische Zustände erreicht.

(Zuruf von der FDP: Noch nicht! — Kittelmann [CDU/CSU]: Als Christen wissen wir, daß das Paradies woanders ist!)

Wer weiß, wie viele Arbeitnehmer in der Bundesrepublik durch berufsbedingte Gesundheitsschäden zu Frührentnern werden oder in jahrelangen Prozessen um die Anerkennung ihrer Berufserkrankung kämpfen müssen, wer nur ein bißchen Einblick in die Arbeitswelt hat, der kann sich über eine solche Haltung nur wundern.

(Zuruf von der CDU/CSU: Eine maßlose Übertreibung!)

Gleichzeitig versäumt es die Bundesregierung nicht, darauf hinzuweisen — —

(Kittelmann [CDU/CSU]: Ach, immer dieses pessimistische Bild!)

— Ach, hören Sie mal, mit Ihren Zwischenrufen bewegen Sie doch höchstens noch die Luft im Saal, mehr nicht; hören Sie doch mal auf damit!

(Beifall bei der SPD)

Gleichzeitig versäumt es die Bundesregierung nicht, darauf hinzuweisen, daß zur Erreichung eines einheitlichen Arbeitsschutzniveaus in der Europäischen Gemeinschaft die bundesdeutschen Arbeitnehmer sich erst einmal ein paar Jahre gedulden sollten. Während die Arbeitnehmer wieder einmal zum Maßhalten angehalten werden, wird den Unternehmer durch den Vorrang des Wirtschaftsprinzips in der EG Tür und Tor geöffnet.
Wir — das sagen wir überall recht deutlich — wollen kein Europa der Banken und Konzerne, der kalten Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien; wir wollen das soziale Europa.

(Beifall bei der SPD — Frau Würfel [FDP]: Wir auch!)

Wir fordern den Erhalt und Ausbau hart erkämpfter Arbeitnehmerrechte, wir wollen nicht den Abbau zulassen.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Wer will denn etwas anderes?)

Derzeit werden den 160 Millionen Arbeitnehmern in der EG mit Abstand nicht die Vorteile geboten, die den Unternehmern geboten werden. Hier steht die Bundesregierung in der Pflicht, die Nachteile der Arbeitnehmer auszugleichen

(Zuruf von der CDU/CSU: Das sind doch unsinnige Fronten!)

und Arbeitsschutzregelungen bei uns und in der EG weiter zu verbessern.
Die Wahrung der Verbraucherinteressen ist ein weiteres Problem des EG-Binnenmarktes. Die Bundesregierung begreift Verbraucherschutz als Bestandteil der Wirtschaftspolitik. In vielen Bereichen des Verbraucherschutzes hinkt die Bundesrepublik total hinterher. Selbst geschaffenes Recht droht den Bach hinunter zu gehen. In der Bundesrepublik sind z. B. die Bestrahlung von Lebensmitteln und die Einfuhr bestrahlter Lebensmittel verboten. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, sich für das Verbot der Lebensmittelbestrahlung in der EG einzusetzen.

(Zuruf von der SPD: Umsonst!)

Die Europäische Gemeinschaft umfaßt einen Markt von mehr als 320 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern. Wir meinen, sie haben ein Recht auf Schutz vor gefährlichen Chemikalien in Lebensmitteln, vor krebserzeugenden Stoffen und Schwermetallen in der Umwelt, vor schädlichen Nebenwirkungen



Reimann
von Arzneimitteln, vor fehlerhaften Geräten im Haushalt. Deshalb sagen wir Sozialdemokraten: Wir brauchen nicht nur einen guten und ständig zu verbessernden Arbeitsschutz, sondern wir brauchen auch einen guten und ständig zu verbessernden Verbraucherschutz auf einem einheitlich hohen Niveau.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114903200
Das Wort hat der Abgeordnete Fuchtel.

Hans-Joachim Fuchtel (CDU):
Rede ID: ID1114903300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Diskussion um die soziale Ausgestaltung Europas fällt auf, daß sich die Union etwas leichter tut als die SPD.

(Lachen der Frau Wieczorek-Zeul [SPD])

Wir sagen: Die sozialen Errungenschaften in Deutschland waren noch nie so hoch wie heute. Im Interesse der Bürger und vor allem auch der Arbeitnehmer soll sich daran nichts ändern, auch nicht im Rahmen des Europäischen Binnenmarktes.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was Europa betrifft, so stimmen Sie uns ja, was den Erhalt hoher Standards angeht, noch zu; gleichzeitig aber beschwören Sie ständig den sozialen Niedergang und die soziale Trostlosigkeit in unserem Land. Und das, meine Damen und Herren, paßt eben nicht zusammen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen, weil Sie das selber erkennen, flüchten sich auch manche von Ihnen in so pessimistische Aussagen und Stimmungsmachen, wie wir sie heute wieder vom Kollegen Dreßler vernommen haben.
Der Kollege Peter hat hier vorhin erklärt, der Bundesarbeitsminister würde sich nicht genügend einsetzen und würde nicht die deutschen Standpunkte vertreten. Gerade die jüngste Diskussion um die Sozialcharta ist ein Beispiel dafür, daß er es tatsächlich tut. Er hat den englischen Forderungen widerstanden wie eine deutsche Eiche.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Ein Mann wie ein Baum — sie nannten ihn Bonsai!)

Meine Damen und Herren, zu Pessimismus besteht überhaupt kein Anlaß, schon gar nicht für uns Deutsche.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Unsere Erfolge im europäischen Export haben Millionen von Arbeitsplätzen gesichert. Europa als solches ist für uns bereits sozialer Fortschritt. Natürlich wird der Binnenmarkt — das sage ich ganz deutlich — zu noch mehr Wettbewerb herausfordern, aber unsere Stärke war doch bisher schon die hohe Produktivität, und nur so konnten wir uns überhaupt diese vielen sozialen Errungenschaften leisten, nur so konnten wir sie sichern.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: So ist es!)

Jetzt geht es um den Ausbau ähnlicher Entwicklungen in anderen Staaten Europas. Die Harmonisierung der Sozialstandards kann nur gelingen, wenn der unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungsstand der einzelnen Länder berücksichtigt wird; denn eine rasche Harmonisierung der Sozialstandards in Richtung auf das höchste Niveau würde zum Abbau bestehender Wettbewerbsvorteile der weniger entwickelten Regionen führen. Die Folge wären die Schwächung schwacher Regionen und eine stärkere Ausrichtung von Investitionen auf die ohnehin leistungsfähigeren Regionen.
Aber hier kommt uns die Erfahrung aus der Sozialen Marktwirtschaft zugute. Die Soziale Marktwirtschaft hat uns gelehrt, daß mit Ausdehnung des wirtschaftlichen Erfolgs sehr wohl soziale Grundnormen etabliert und entwickelt werden können. Unsere Vision heißt deswegen: Soziale Marktwirtschaft auch in Europa. Es ist ein Verdienst, ja, es ist geradezu d a s Verdienst der deutschen Bundesregierung, daß sie in den letzten beiden Jahren das Normengefüge geschaffen hat, das für eine solche Entwicklung notwendig ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was jetzt geschehen muß, steht eigentlich in der Beschlußempfehlung zur heutigen Debatte, die im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung gemeinschaftlich von Opposition und Regierungsfraktionen formuliert wurde und die ich zu unterstützen bitte, nämlich:
Erstens. Wir brauchen als nächsten Schritt einen Kernbestand einheitlicher verbindlicher Grundrechte, die in den Mitgliedstaaten unmittelbar gelten.
Zweitens. Wir unterstützen die Schaffung von sozialen Mindeststandards auf breiter Ebene unter gleichzeitigem Erhalt unserer hohen nationalen Standards.
Drittens. Wir wollen im Bereich der sozialen Sicherheit nicht auf die gewachsenen Strukturen verzichten.
Viertens. Wir bestehen auf dem Erhalt der Mitbestimmung.
Fünftens. Wir wollen vor allem durch ein Weißbuch die soziale Entwicklung an die wirtschaftliche Entwicklung koppeln. Darauf kommt es nach meiner Meinung an: daß es kein Abhängen der sozialen Entwicklung von der wirtschaftlichen Entwicklung gibt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die soziale Dimension des Binnenmarktes hat bereits begonnen, Wirklichkeit zu werden. Wir sind nicht an der Stunde Null. Allein zum Arbeits- und Gesundheitsschutz sind zwischenzeitlich 62 Richtlinien ergangen. Wir treten darüber hinaus dafür ein, den Rechtsrahmen des Art. 118 a des EWG-Vertrages zur Beschleunigung des regelbaren Spektrums zu nutzen. Denn der dort niedergeschriebene Begriff „Arbeitsumwelt" reduziert sich keineswegs auf Beschaffenheitsanforderungen an Arbeitsstätten und technische Hilfsmittel oder den Schutz vor gefährlichen Stoffen oder arbeitsbezogene Verhaltensvorschriften, sondern umfaßt auch Elemente der Arbeitsorganisation, der humanen Gestaltung des Arbeitsab-



Fuchtel
laufes oder der Mitwirkungs- und Informationsrechte der Arbeitnehmer.

(Zustimmung bei der SPD)

Während es auf dem Gebiet des Art. 118 um zügige Weiterarbeit geht, müssen unsere sozialen Sicherungssysteme und sozialen Transferleistungen im Blick auf den Modus EG-weiter Inanspruchnahme überprüft werden. Sicher ist, daß auf Grund der Vielfalt der über lange Zeit gewachsenen Regelungen Anpassungen auf diesem Gebiet generell nur sehr langsam vor sich gehen werden. Aber klar ist auf der anderen Seite auch, daß wir uns mit dem Modus als solchem auseinandersetzen müssen. Die Ausgestaltung des Spielraums sollte stärker durch unsere Regierungen und durch unsere Parlamente vorgenommen werden als durch den Europäischen Gerichtshof. Wer beispielsweise Arbeitslosengeld bezieht, muß für die sofortige Arbeitsaufnahme im Lande verfügbar sein. Daran darf sich nichts ändern.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114903400
Das Wort hat der Abgeordnete Urbaniak.

Hans-Eberhard Urbaniak (SPD):
Rede ID: ID1114903500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Fuchtel, wenn Sie sagen, die Sozialdemokraten würden sich schwertun mit Europa, dann sage ich Ihnen: Die SPD hat für ein einheitliches und soziales Europa schon gekämpft, als es noch keine CDU und CSU gab. Das will ich Ihnen einmal sagen.

(Beifall bei der SPD — Kittelmann [CDU/ CSU]: Dabei sind Sie schwach und alt geworden!)

Frau Kollegin Hellwig, wir lernen alle. Ob die Menschen aus Ost, West oder Süd zu uns kommen oder wir dahin gehen: wir lernen alle. Wenn heute Herr Gorbatschow vor über 10 000 Stahlarbeitnehmern in Dortmund bei der Hoesch AG darüber spricht — diesen Besuch haben die Betriebsräte erwirkt — eine großartige Leistung unserer Kolleginnen und Kollegen aus den Betrieben — , dann lernen wir alle, wie auch Sie aus dem Prozeß sozialdemokratischer Ostpolitik gelernt haben.

(Beifall bei der SPD)

Das ist heute das Ergebnis, und wir freuen uns, daß Herr Gorbatschow die Gelegenheit wahrnimmt, heute vor über 10 000 Stahlarbeitern in Dortmund seine Gedanken darzulegen.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das ist gut!)

Das ist eine ganz wichtige Sache, auch für unser demokratisches Selbstverständnis in der Bundesrepublik; Sie stimmen zu, Herr Dregger.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, es geht in Europa vor allen Dingen um die Frage der Mitbestimmung. Die Mitbestimmung, die wir seit fast 50 Jahren praktizieren — nach 1945 von den Gewerkschaften durchgesetzt, damals mit den Alliierten

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Konrad Adenauer war auch beteiligt!)

hier in der Bundesrepublik Deutschland, in dem Restbestand Deutschlands — , hat dafür gesorgt, daß der Wiederaufbau der Montanindustrie die Voraussetzung für das gedeihliche wirtschaftliche Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland war. Dieses wird keiner verkennen.
Nun aber haben wir es mit der sozialen Dimension Europas zu tun, und wir wissen nicht recht, wie die Entwicklung auf diesem Felde sein wird. Delors als Vorsitzender der Kommission hat dazu klare Überlegungen angestellt. Wären sie von den Mitgliedstaaten akzeptiert worden, brauchten wir uns keine Sorgen zu machen. Aber wir kommen in dieser Frage leider nicht so voran, wie wir das wünschen.
Darum ist es notwendig, daß wir immer wieder betonen, daß die Arbeitnehmerrechte die in unserer Betriebsverfassung und in der Mitbestimmung gelten, durchaus ein Beispiel für Europa in dieser sozialen Dimension sein können und daß es immer gut ist, wenn man zu einem Konsens zwischen Unternehmern und Gewerkschaften, Betriebsräten und Arbeitnehmern kommt. Denn wo dieser Konsens verlorengeht, ist keine gedeihliche Entwicklung in den Betrieben und in der Gesellschaft möglich. Darum muß ich die Bundesregierung auffordern, sich stärker als bisher ins Zeug zu legen.
Es ist auch nicht klar, wie die Positionen des Ministers für Arbeit und Sozialordnung und des Wirtschaftsministers in dieser Frage sind. Denn der Kollege Blüm ist in seiner Darlegung dafür, die Mitbestimmung auszubauen. Herr Haussmann — das können wir in einer Dokumentation vom Dezember 1988 nachlesen — ist zwar für den Erhalt, aber nicht für den Ausbau. Wer weiß, was in seinem Ministerium dazu vorbereitet wird! Er sollte dazu Stellung nehmen.

(Zuruf von der SPD: Er traut sich nicht!)

Uns Sozialdemokraten ist klar, daß, wenn sich der Binnenmarkt realisiert, wir mit einer großen Konzentrationswelle rechnen müssen. Schon jetzt kaufen sich Unternehmungen in alle möglichen Bereiche ein. Die Amerikaner haben sich darauf eingestellt und wollen ihren Einfluß ebenfalls durch diese Maßnahmen geltend machen. Hier wird wirtschaftliche Macht in einem Ausmaß organisiert, wie wir das bisher nicht gekannt haben. Wir müssen, nach dem Beispiel Bundesrepublik, wirtschaftliche Macht durch Mitbestimmung teilen. Da, wo sie geteilt ist, sind wir mit den Problemen fertig geworden.
Darum sage ich hier noch einmal eindeutig: Der Binnenmarkt kann doch nicht eine Konzentrationswelle zur Organisierung von wirtschaftlicher Macht sein. Es muß vielmehr die soziale Flankierung und die paritätische Mitbestimmung eingebaut werden, damit wir nicht unter die Räder kommen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Dies ist für uns Sozialdemokraten eine ganz wichtige Sache. Wenn wir sagen: soziale Dimension und



Urbaniak
europäische Demokratie, dann müßte es für europäische Demokraten, egal in welchem Land sie leben, selbstverständlich sein, dieses Instrument, die deutsche Mitbestimmung, überall offensiv zu vertreten, weil wir die besten Erfahrungen damit gemacht und die breiten Schichten der Bevölkerung davon schließlich profitiert haben.
Also: Machtteilung ist nötig. Dies kann nur durch Beteiligung der Arbeitnehmer im Rahmen der Betriebsverfassung oder des europäischen Betriebsrats geschehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es ist nötig, Betriebsräte auf dem Gebiet der europäischen Aktiengesellschaft zu installieren und die Mitbestimmungsrechte auch mit den Gewerkschaften und den Arbeitnehmern zu organisieren. Nur so, glaube ich, werden wir mit der zu erwartenden Konzentrationswelle, die keiner abwehren kann, fertig, meine Damen und Herren.
Darum heißt soziale Dimension für uns: konkrete Mitwirkungs-, Beteiligungs-, aber vor allen Dingen Mitbestimmungsrechte, um wirtschaftliche Macht zu teilen, den Mißbrauch zu verhindern, damit wir dadurch nicht in eine Schieflage kommen. Das verstehen wir unter der sozialen Dimension Europas.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114903600
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Würfel.

(Dr. Gautier [SPD]: Noch einmal? Hat sie zweimal etwas zu sagen?)


Uta Würfel (FDP):
Rede ID: ID1114903700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um Ihre Frage zu beantworten: Ich hatte die Uhr falsch abgelesen. Auch das muß man lernen, wenn man hier Politik macht. Also darf ich den Mittelteil meiner Rede noch bringen.
Was die Sozialpolitik auf europäischer Ebene angeht, so sind wir Liberalen der Auffassung, daß das Zusammenwachsen Europas auch in seiner sozialen Dimension nicht bedeuten kann, mit dem Rasenmäher der Harmonisierung alles und möglichst alles auf einmal auf ein Niveau bringen zu wollen; denn umfassende zentralistische Einheitsregelungen werden den Realitäten von Palermo bis Dublin und von Kopenhagen bis Athen nun wirklich nicht gerecht. Wir müssen wissen, daß die Vielfalt Europas mit seinen gewachsenen Strukturen nicht nur historisches Erbe, sondern zugleich auch seine Stärke ist, eine Stärke, die in Individualität, Flexibilität, Dynamik und gegenseitig befruchtender Kreativität liegt. Gerade deshalb kann man den Hinweis Hermann Rappes, daß die jeweils fortschrittlichsten Länder möglicherweise in dem einen oder anderen Bereich gelegentlich einen Stillstand zu ertragen haben werden, damit andere Länder auf das entsprechende Niveau nachziehen können, nur unterstreichen.
Für uns Freie Demokraten kann es in einem sozialen Europa keine Orientierung am niedrigsten sozialen Niveau in der Gemeinschaft geben. Sozialpolitik bedeutet für uns: Bieten wir den schwächeren Mitgliedstaaten die Chance, als erstes Ziel ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten zur Entfaltung zu bringen,
damit sie auf diese Weise die Voraussetzungen für mehr Wohlstand und Beschäftigung schaffen können!
Es ist im übrigen nicht zutreffend, daß sich die Europäische Gemeinschaft in der Vergangenheit nicht umfassend mit sozialpolitischen Vorstellungen befaßt hätte. Bereits auf der Pariser Gipfelkonferenz von 1972 gab es ein Kommuniqué mit dem Inhalt, daß das wirtschaftliche Wachstum der Europäischen Gemeinschaft an sich kein Ziel darstelle, sondern daß es darum gehen müsse, eine verbesserte Lebensqualität und höhere Lebensstandards für alle zu erreichen.
Das drei Jahre später, also 1975, verabschiedete Aktionsprogramm sah bereits konkrete Maßnahmen und ausreichende Mittel zur Sicherung der Vollbeschäftigung ebenso vor wie verbesserte Arbeitsbedingungen, eine stärkere Beteiligung der Sozialpartner an den Entscheidungen der Gemeinschaft in Wirtschafts- und Sozialfragen und die Beteiligung von Arbeitnehmern in betrieblichen Gremien.
Ein weiteres Programm aus dem Jahre 1984 forderte Maßnahmen im Bereich der Beschäftigung von Frauen und Jugendlichen, die Berücksichtigung sozialer Aspekte bei der Einführung neuer Technologien sowie bei der Umschulung, bei der Aus- und Weiterbildung, bei der Familienpolitik und bei Fragen des Alters, also bei dem gesamten Themenkomplex, mit dem auch wir uns hier im Deutschen Bundestag auseinanderzusetzen haben.
Bereits damals fand eine besondere Berücksichtigung des Gesamtkomplexes der Veränderungen, die sich aus der Einführung neuer Technologien in den Betrieben ergeben, nämlich die Neuordnung der Arbeit, die Anwendungsbereiche der neuen Technologien, die Gesundheitsfragen, die Arbeitszeit, die Dauer der Arbeit und die verschiedenen Beschäftigungsverhältnisse.
Auch der Ministerrat hat sich mehrfach mit der Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern bei den gesetzlich geregelten betrieblichen Sicherungssystemen beschäftigt und Richtlinien erlassen. Diese Richtlinien müssen nun von den nationalen Parlamenten umgesetzt werden. Sie sind es noch keineswegs in jedem Falle.
Dennoch bin ich der Meinung, daß Europa in dem Sinne zusammenwachsen wird, der für uns alle selbstverständlich sein wird. Unsere hohen gesellschaftlichen Standards auf allen Ebenen werden beibehalten, und die übrigen EG-Länder werden entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit nachziehen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114903800
Nach § 30 unserer Geschäftsordnung erteile ich der Abgeordneten Frau Beck-Oberdorf das Wort.

Marieluise Beck-Oberdorf (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1114903900
Ich habe keine Veranlassung, Ihnen zu mißtrauen. Da Sie sagen, daß die Regelung für Elternurlaub und Urlaub eben nicht in der Kommission, sondern im Rat steckengeblieben sind, möchte ich das hier korrigieren. Ich möchte Ihnen keinen Vorwand geben, über unsere Hauptfrage hinwegzutäuschen, ob unter den demokratischen



Frau Beck-Oberdorf
bzw. nichtdemokratischen Bedingungen und der Konzentration der Wirtschaft, die Sie ja selber beschreiben, im Augenblick überhaupt eine Chance auf Erfolg für ein soziales Europa besteht.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114904000
Nach dieser Klarstellung kommen wir zum Ende der Aussprache. Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlage auf Drucksache 11/4340 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Widerspruch dagegen erhebt sich nicht; so ist dies beschlossen.
Zu den Tagesordnungspunkten 4 b und 4 c — das sind die Großen Anfragen — liegen keine Abstimmungsbegehren vor.
Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses ab. Sie liegt Ihnen auf Drucksache 11/4750 vor. Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? Die Beschlußempfehlung ist angenommen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114904100
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 und die Zusatztagesordnungspunkte 3 und 4 auf:
5. a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der EG-Richtlinie zur Koordinierung des Rechts der Handelsvertreter
— Drucksache 11/3077 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

— Drucksache 11/4559 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Hörster Dr. de With

(Erste Beratung 103. Sitzung)

b) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur Strategie des Europäischen Parlaments im Hinblick auf die Schaffung der Europäischen Union
— Drucksache 11/4228 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Auswärtiger Ausschuß (federführend)

Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
c) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zu den Beziehungen zwischen den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament
— Drucksache 11/4229 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Auswärtiger Ausschuß (federführend)

Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Legislative Entschließung mit der Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat für eine Verordnung zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1107/70 des Rates über Beihilfen im Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr
— Drucksache 11/3756 —
Überweisungsvorschlag des Ältestensrates: Ausschuß für Verkehr
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr (14. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über den Abbau von Grenzkontrollen der Mitgliedstaaten im Straßen- und Binnenschiffsverkehr
— Drucksachen 11/4019 Nr. 2.37, 11/4535 —
Berichterstatter: Abgeordneter Haungs
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr (14. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Gurtanlegepflicht in Kraftfahrzeugen mit einem Gewicht von weniger als 3,5 Tonnen
— Drucksachen 11/3703 Nr. 2.28, 11/4449 —
Berichterstatter: Abgeordneter Kretkowski
g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr (14. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über den zulässigen Blutalkoholgehalt von Kraftfahrern
— Drucksachen 11/4161 Nr. 2.21, 11/4558 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Daubertshäuser
h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr (14. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung



Vizepräsident Cronenberg
Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über die Konsultierung und Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Flugverkehrsdienste und der Verkehrsflußregelung
Vorschlag für eine Entscheidung des Rates zur Ausdehnung der Entscheidung 78/174/EWG auf die See- und Luftverkehrsinfrastruktur
Vorschlag für eine Empfehlung des Rates über eine flexible und rationelle Nutzung des Luftraums
— Drucksachen 11/4161 Nr. 2.19, 11/4597 —
Berichterstatter: Abgeordneter Tillmann
i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr (14. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über
Geschwindigkeitsbegrenzungen für bestimmte Kraftfahrzeugklassen in der Gemeinschaft
— Drucksachen 11/4161 Nr. 2.23, 11/4557 —
Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Rock
j) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für das Post- und Fernmeldewesen (15. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Entschließung des Rates über die Stärkung der weiteren Koordinierung der Einführung des diensteintegrierenden digitalen Fernmeldenetzes (ISDN) in der Gemeinschaft bis 1992
— Drucksachen 11/4019 Nr. 2.39, 11/4479 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Börnsen (Ritterhude) Bühler (Bruchsal)
k) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für das Post- und Fernmeldewesen (15. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluß des Rates über hochauflösendes Fernsehen (HDTV)

— Drucksachen 11/4019 Nr. 2.38, 11/4480 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Börnsen (Ritterhude) Bühler (Bruchsal)
1) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für die Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsregeln im Rahmen der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge
— Drucksachen 11/818, 11/4544 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Schwörer
n) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments
— Drucksache 11/4650 —
o) Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß) zum Entschließungsantrag der Abgeordneten Frau Beer, Dr. Mechtersheimer und der Fraktion DIE GRÜNEN
zur Erklärung der Bundesregierung über die Ergebnisse des Europäischen Rates und der Gespräche in Washington
— Drucksachen 11/1875, 11/4450 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Lamers Voigt (Frankfurt)

Dr. Lippelt (Hannover)

p) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie (18. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission über ein Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über Forschung und technologische Entwicklung auf den Gebieten Rohstoffe und Rückführung (1990-1992)

Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur Annahme eines spezifischen Programms der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über Forschung und technologische Entwicklung auf den Gebieten Rohstoffe und Rückführung (1990— 1992)

— Drucksachen 11/4337 Nr. 25, 11/4669 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Lenzer Frau Bulmahn
q) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie (18. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Entscheidung des Rates zur Annahme von zwei spezifischen Programmen für Forschung und technologische Entwicklung auf dem Gebiet der Umwelt
Step: Wissenschaft und Technologie für den Klimaschutz
EPOCH: Europäisches Programm für Klimatologie und natürliche Risiken
— Drucksachen 11/3831 Nr. 28, 11/4670 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Lenzer Frau Ganseforth



Vizepräsident Cronenberg
r) Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Integration in den Europäischen Gemeinschaften (Berichtszeitraum Oktober 1988 bis März 1989)

— Drucksache 11/4569 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Sportausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Forschung und Technologie
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß
ZP3 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß)

zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Vollendung des europäischen Binnenmarktes
zu dem Antrag der Fraktion der SPD Europapolitik
— Drucksachen 11/3865, 11/3851 (neu), 11/4735 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Dr. Hellwig Frau Wieczorek-Zeul
Dr. Feldmann
Dr. Lippelt (Hannover)

ZP4 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß)

zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zum Europa der Bürger
— Drucksachen 11/3866, 11/3087, 11/4751 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Dr. Hellwig Brück
Frau Dr. Hamm-Brücher
Dr. Lippelt (Hannover)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte von 21/2 Stunden vorgesehen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann kann ich dies als beschlossen feststellen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat Herr Abgeordneter Dregger das Wort.

Dr. Alfred Dregger (CDU):
Rede ID: ID1114904200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Europa-Debatte unmittelbar nach den Besuchen der Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika und des noch andauernden Besuchs des sowjetischen Generalsekretärs gibt uns Anlaß, über die Lage unseres Landes, über seine Stellung in Europa und seine Beziehungen zu den Weltmächten nachzudenken. Politisch-militärisch ist die Bundesrepublik Deutschland eine Mittelmacht. Wirtschaftlich ist sie als dritte Industrie- und erste Exportnation mit einer D-Mark, die zu einer wichtigen Reservewährung geworden ist, eine Großmacht.
Drei politische Grundentscheidungen haben diesen ungewöhnlichen Aufstieg in vier Jahrzehnten möglich gemacht: die Entscheidung für die atlantische Allianz, die Entscheidung für den europäischen Zusammenschluß und die Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft.
Die atlantische Allianz gab und gibt uns Sicherheit. Nur mit Hilfe der atlantischen Weltmacht Amerika ist es möglich, die geographische Nähe der Weltmacht Sowjetunion auszutarieren, hier an der Teilungsgrenze zwischen Ost und West. Abrüstung und verbesserte Beziehungen zur Sowjetunion, die wir erhoffen, die wir erstreben und die wir erwarten, ändern an der geopolitischen Situation nichts. Solange Europa geteilt ist, behält daher die militärische Präsenz der USA auf unserem Kontinent ihre Bedeutung.

(Jäger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Deshalb begrüßen wir, daß durch das Ergebnis des Brüsseler NATO-Gipfels und durch den Besuch des amerikanischen Präsidenten Bush in Bonn die Allianz neue Kraft gewonnen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nicht weniger wichtig war und ist unsere Entscheidung für den europäischen Zusammenschluß. Durch ihn wurden aus verfeindeten Nachbarn zunächst Verbündete und schließlich Freunde. Der europäische Zusammenschluß trägt zudem der Tatsache Rechnung, daß wir nicht mehr in einem europäischen, sondern in einem Weltmächtesystem leben. Nur der Zusammenschluß verleiht den europäischen Nationen eine hörbare Stimme im Konzert der Weltmächte. Ohne den europäischen Zusammenschluß kann auch die Teilung Deutschlands und Europas nicht überwunden werden.

(Jäger [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Nur im europäischen Verbund können wir dieses Ziel mit einiger Aussicht auf Erfolg angehen. Ein deutscher Alleingang, der bei unseren Verbündeten Zweifel an unserer Verläßlichkeit wecken würde, würde nicht nur das nationale Ziel verfehlen; er würde bewirken, daß wir uns bald zwischen den Stühlen wiederfänden — eine sehr unangenehme Position.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sehr richtig! — Brück [SPD]: Das müssen Sie Herrn Todenhöfer sagen!)

Auch die dritte Grundentscheidung von 1949, die für die Soziale Marktwirtschaft, hat ihre Bedeutung behalten, ja, ihre Bedeutung nimmt zu, als Weltmodell. Soziale Marktwirtschaft ist etwas anderes als kapitalistische Marktwirtschaft.

(Frau Vennegerts [GRÜNE]: Ist sie auch!)




Dr. Dregger
Das soziale Klima bei uns ist anders und besser als in manchen unserer westlichen Nachbarländer; meine Kollegen, u. a. Herr Fuchtel, haben begründet, woran das liegt. Bei der Debatte um den Sozialraum Europa lehnt die CDU/CSU, um es noch einmal zu sagen, eine Nivellierung der Sozialstandards ab. Wir bleiben bei unseren Sozialstandards.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Solange die Produktivität bei uns am höchsten ist, können auch die Sozialstandards die besten sein. Beides hängt zusammen; um beides müssen wir uns bemühen. Es ist bemerkenswert, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund dazu auffordert, in Europa die deutschen Standards zu halten. Der DGB weiß, daß wir in dieser Hinsicht seine besten Verbündeten sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, Soziale Marktwirtschaft ist auch etwas anderes als sozialistische Wirtschaft. Als politisches und wirtschaftliches System ist der Sozialismus von China bis Polen gescheitert.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Die Alternative in den sozialistischen Ländern lautet heute: Unterdrückung des Volkes mit militärischen Mitteln, Beispiel China, oder Reformen, Beispiel Sowjetunion, Ungarn, Polen.
Es ist bemerkenswert, daß die Reformtheoretiker in den genannten Ländern vor allem Ludwig Erhard und unsere Soziale Marktwirtschaft als Beispiel hinstellen. Von Karl Marx ist nicht mehr die Rede.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

72 Jahre nach der Oktoberrevolution erleben wir den weltweiten Sieg der Ideen von Ludwig Erhard über die Ideen von Karl Marx.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir Christlichen Demokraten und Christlich Sozialen sind stolz darauf, daß wir mit Ludwig Erhard und mit der FDP dieses Modell einer neuen Wirtschaftsordnung, das heute zum Weltmodell geworden ist, entwickelt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die ökonomische, die soziale und die politische Stellung unseres Landes hängt davon ab, meine Damen und Herren, daß die drei genannten Grundentscheidungen nicht in Frage gestellt werden. Sie mußten sämtlich gegen die SPD durchgesetzt werden. Spätere Annäherungen der SPD an diese Positionen sind innerparteilich immer umstritten geblieben. In dem von der SPD ganz offenbar angestrebten Regierungsbündnis mit den GRÜNEN würden diese Grundentscheidungen — also für die atlantische Allianz, für den europäischen Zusammenschluß und für die Soziale Marktwirtschaft — ihre tragende Rolle verlieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dieser Grundwiderspruch zwischen Rot-Grün und der Politik von CDU/CSU und FDP bestimmt die politische Auseinandersetzung, um die es in Deutschland und Europa geht. Das ist die eigentliche Frage.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was wird aus Deutschland und Europa? Die Teilung Berlins, Deutschlands und Europas, das Gegenüber hochgerüsteter Paktsysteme in Deutschland bestimmen die Gegenwart. Wir empfinden das nahezu 50 Jahre nach dem Kriege als anormal und unbefriedigend. Wenn wir diesen Zustand ändern wollen, müssen wir die Trümmer des Kalten Krieges wegräumen und schrittweise ein neues Europa bauen. Eine stetig wachsende Menschheit kann sich die Reibungsverluste politischer und militärischer Konfrontationen nicht mehr leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Zusammenleben und die Zusammenarbeit aller mit allen wird zur Bedingung menschlicher Existenz.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sehr wahr!)

Dazu gehört, meine Damen und Herren, daß wir die berechtigten Sicherheitsbedürfnisse des jeweils anderen beachten. Wir müssen erkennen, was er als militärische Bedrohung empfindet, und wir müssen das bei der eigenen Sicherheitsplanung berücksichtigen. Es ist wichtig, daß wir die Angst voreinander verlieren.
Wir müssen darüber hinaus Vertrauen schaffen, durch technische, ökonomische und ökologische Zusammenarbeit auch mit den Ländern der sozialistischen Welt und durch einen lebhaften kulturellen Austausch, an dem möglichst viele Menschen, vor allem möglichst viele junge Menschen beteiligt sein sollten.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

Nur so kann Wirklichkeit werden, was der sowjetische Außenminister Schewardnadse am 19. Januar 1989 auf der KSZE-Folgekonferenz in Wien, der Entwicklung etwas vorauseilend, wie folgt beschrieben hat. Es ist eine bemerkenswerte Aussage. Schewardnadse hat gesagt: „Die Wiener Konferenz hat den Eisernen Vorhang ins Wanken gebracht, seine rostigen Pfeiler geschwächt, neue Breschen hineingeschlagen und seinen Zerfall beschleunigt."

(Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Jetzt muß bloß noch die Mauer weg!)

Das faßt alle unsere Hoffnungen und die Politik, die wir seit langem betreiben, zusammen.
Meine Damen und Herren, unser nationales Schicksal ist in das Schicksal Europas eingebettet. Die deutsche Frage muß im gesamteuropäischen Zusammenhang gesehen und gelöst werden. Die Gemeinsame Erklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl und Generalsekretär Michail Gorbatschow mit ihren bemerkenswerten Bekenntnissen zur Würde des Menschen als dem obersten Wert der Politik, zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und zum Vorrang des Völkerrechts spricht auch von der Architektur einer gesamteuropäischen Friedensordnung. Dafür Vorschläge zu erarbeiten ist auch und vor allem unsere Aufgabe. Kein Volk kann an einer gesamteuropäischen Friedensordnung mehr interessiert sein als das unsere.
Zur gesamteuropäischen Friedensordnung werden zwei große Staatenunionen gehören müssen: die USA



Dr. Dregger
im Westen und die Sowjetunion im Osten. Zwischen ihnen liegt das alte Europa von Polen bis Portugal, das geteilt ist. Dieses alte Europa von Polen bis Portugal könnte — das ist meine Vision — zur friedenserhaltenden Mitte zwischen den Weltmächten werden. Es wäre nicht offensivfähig, weil es die Eigenständigkeit seiner Nationen nicht aufhöbe, sondern ihnen nur ein schützendes Dach böte, das ihre Vielfalt erhält.
Wenn die Sowjetunion weiterhin auf Reformkurs, den Vorrang der inneren Entwicklung und die Zusammenarbeit mit Europa und den USA setzt, wie das zur Zeit der Fall ist, wird der Zeitpunkt kommen, zu dem sie es auch für ihre eigenen Interessen als nützlicher empfinden wird, mit einem eigenständigen Europa zusammenzuarbeiten, statt auf einem System von Zwangsverbündeten zu bestehen, das Stalin nach dem Krieg gegen den Willen der Völker geschaffen hat.
Noch ist diese gesamteuropäische Friedensordnung eine Vision. Aber ihre Verwirklichung würde den Bedingungen und Notwendigkeiten an der Wende zum 21. Jahrhundert gerecht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Was würde sie bedeuten? Sie würde bedeuten, daß die militärische Konfrontation der Weltmächte auf europäischem Boden ein Ende fände. Sie würde es der Sowjetunion ermöglichen, ihre Ressourcen in die innere Entwicklung ihres großen Landes zu stecken statt in eine im Grunde unsinnige Überrüstung. Sie würde die USA von Lasten befreien, die diese im Hinblick auf ihre globale Verantwortung immer schwerer drücken. Die USA tragen diese Lasten ja auch im Interesse der Allianz.
Die gesamteuropäische Friedensordnung mit diesen drei Staatenunionen — USA, Europa zwischen Polen und Portugal, Sowjetunion — würde schließlich, da sie die Teilung überwinden würde, die verletzte Würde Europas und seiner Nationen wiederherstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, der Zusammenschluß Europas von Polen bis Portugal kann sich nur schrittweise vollziehen. Die Vereinigung Westeuropas, die ihm vorausgehen wird, muß immer die gesamteuropäische Entwicklung im Auge behalten. Wir im Westen dürfen uns nicht nach Osten hin abschotten. Wir müssen Optionen für eine Zusammenarbeit über die jetzigen Systemgrenzen hinweg offenhalten.
Das wird auch bei den europäischen Gemeinschaften möglich sein, deren Aufgabe nicht die Sicherheitspolitik ist. Eine Arbeitsteilung zwischen WEU und EG bietet sich nach meiner persönlichen Auffassung ohnehin an.

(Jäger [CDU/CSU]: Richtig!)

Die WEU könnte zum europäischen Pfeiler der atlantischen Allianz ausgebaut werden und dieser dadurch
eine zweipolige, nämlich eine europäisch-amerikanische Struktur geben.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Auch damit einverstanden! — Voigt [Frankfurt] [SPD]: Voll unsere Linie!)

— Vielen Dank. — Westeuropa erhielte auf diese Weise auch sicherheitspolitisch eine eigene Identität, die es ihm ermöglichte, an allen Verhandlungen der Weltmächte teilzunehmen, die seine Sicherheit betreffen. In Reykjavik war das noch nicht möglich.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Wenn sich die EG auf die Erarbeitung einer Wirtschafts- und Währungsunion konzentrierte, dann könnte sie sich öffnen: zunächst den demokratischen Staaten Mitteleuropas, die den Status der Neutralität gewählt haben, z. B. Österreich, das daran interessiert ist.

(Zuruf von der CDU/CSU: Finnland!)

Die EG könnte sich auch gegenüber Ländern wie Ungarn und Polen öffnen,

(Beifall des Abg. Voigt [Frankfurt] [SPD])

wenn diese demokratische Strukturen und die Einhaltung der Menschenrechte verwirklichen. Und diese Aussicht besteht ja, das ist ja durchaus denkbar.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Jugoslawien nicht vergessen!)

— Wenn das so sein sollte, aber ich sehe es da noch nicht so. — Die angesehene trilaterale Kommission hat diese von mir gegebenen Anregungen aufgegriffen und besondere Assoziierungsabkommen zu diesem Zweck vorgeschlagen.
Meine Damen und Herren, wie steht die Sowjetunion dazu? Die Sowjetunion hat in jüngster Zeit mehrfach, zuletzt in der Gemeinsamen Erklärung von Generalsekretär Gorbatschow und Bundeskanzler Helmut Kohl, ihre Bereitschaft bekundet, den Völkern Europas, auch den Völkern Ost- und Ostmitteleuropas, einen eigenständigen Weg zu ermöglichen.
Ich hatte gestern ein interessantes Gespräch mit Vertretern der Volksfront aus dem Baltikum.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Ich mit Sagladin, ich sage es gleich!)

Es war sehr interessant. Herr Jakowlew, der mein Gesprächspartner in Moskau und hier war, ist Vorsitzender der Kommission des Obersten Sowjets, die ja den Auftrag hat, mit der baltischen Volksfront zu verhandeln.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das ist ein Unterschied!)

Die Vertreter der Volksfront haben es begrüßt, daß Jakowlew diese Aufgabe erhalten hat.
Meine Damen und Herren, das Zusammenwachsen Europas von Polen bis Portugal, also die gesamteuropäische Friedensordnung, und das damit verbundene Zusammenwachsen Deutschlands werden nicht am Anfang der jetzt eingeleiteten Entwicklung stehen.



Dr. Dregger
) Vorausgehen wird die Bildung der Politischen Union Westeuropas.

(Zuruf von der CDU/CSU: Hoffentlich!)

Nahziel ist der europäische Binnenmarkt, der größte Markt der Erde. Dieses für das Jahr 1992 anvisierte Ziel hat dem europäischen Einigungsprozeß neuen Schwung gegeben. Es ist in Europa unbestritten, daß diese neue Aktivität in der europäischen Entwicklung vor allem zwei Männern zu verdanken ist: dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl, vor allem in der Zeit seiner Ratspräsidentschaft, und Jacques Delors, dem Präsidenten der Kommission.

(Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. Paintner [FDP])

Dem sollten alle zustimmen, auch hier in diesem Hause, verehrter Herr Ehmke. Es ist nämlich wahr.

(Zurufe von der SPD)

Nächste Stufe nach dem europäischen Binnenmarkt wird eine Wirtschafts- und Währungsunion sein, die diesem Markt den politischen Rahmen gibt. Vorläufer der Währungsunion ist das Europäische Währungssystem, das noch nicht vollständig ist. Ein wichtiger Partner, Großbritannien, fehlt noch.

(Zuruf von der SPD: Jetzt kommt Helmut Schmidt!)

Aber dieses EWS hat bisher schon auch in den Ländern zu einer Politik der Geldwertstabilität beigetragen, die dieses Ziel vorher nicht als vorrangig betrachtet haben. Dieses EWS war erfolgreich.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Ein Gruß nach Hamburg!)

— Ja, einverstanden. Helmut Schmidt hat eine wesentliche Rolle dabei gespielt. —

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Frau Vennegerts [GRÜNE]: Jetzt habt ihr es doch noch geschafft! — Kittelmann [CDU/CSU]: So objektiv sind wir!)

Dieser Prozeß der Harmonisierung der Wirtschafts- und Währungspolitik in der EG muß einen bestimmten Reifegrad erreicht haben — und jetzt spreche ich eine umstrittene Frage an —, ehe durch starre Wechselkurse auf das Instrument von Auf- und Abwertung verzichtet und ehe eine Gemeinschaftswährung geschaffen werden kann, die dann für alle in gleicher Weise gilt.
Das Europäische Parlament, das am kommenden Sonntag gewählt wird, wird größere Aufgaben haben als seine Vorgänger. Der Binnenmarkt und insbesondere die Wirtschafts- und Währungsunion bedürfen eines Verfassungsrahmens. Diese Verfassung sollte föderal sein. Sie sollte den Nationalstaaten, aber auch den Regionen und insbesondere den Gemeinden und Gemeindeverbänden ein Höchstmaß an Eigenständigkeit und Selbstbestimmung garantieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Es ist ein Grundsatz der christlichen Soziallehre: Alles, was die kleinere Gemeinschaft erfüllen kann, soll die größere nicht an sich reißen.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sagen Sie das nicht der CSU!)

Dafür einzutreten, meine Damen und Herren, ist unsere deutsche Aufgabe,

(Conradi [SPD]: Jetzt muß er selber lachen!)

weil diese Prinzipien in unserer Geschichte wie auch in unserer heutigen Staatspraxis eine größere Bedeutung haben als in allen anderen Ländern, die Föderalismus noch etwas lernen müssen.
Die Tatsache, daß wir das einzige Mitgliedsland der EG sind, das geteilt ist, gibt uns Veranlassung, auf einer Bestimmung in der künftigen europäischen Verfassung zu bestehen, die unser nationales Ziel berücksichtigt. Wir wollen das nicht negativ durch einen Austrittsvorbehalt, sondern positiv durch eine entsprechende Aufforderung an den europäischen Verfassungsgeber zum Ausdruck bringen. Diese Aufforderung ist in dem Entschließungsantrag von CDU/ CSU und FDP wie folgt formuliert:
Deshalb fordert der Deutsche Bundestag die Regierungen der Staaten der EG, die Institutionen der EG und das Europäische Parlament auf, bei der Ausarbeitung des Entwurfs für eine Europäische Union als gemeinsames Ziel zu verankern, die Teilung Deutschlands und Europas zu überwinden.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP und der SPD — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Umgekehrt wäre besser!)

Das ist konstruktive Politik. Ich würde mich sehr freuen, wenn auch die Sozialdemokraten diesem Vorschlag zustimmen würden.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Wir würden es umstellen, dann ist es in Ordnung!)

Meine Damen und Herren, Präsident Bush hat nach dem NATO-Gipfel in Brüssel, auf dem es galt, deutsche Sicherheitsinteressen in die Allianz einzubringen, was wir, wenn auch in einem Kompromiß, mit Erfolg getan haben, der Bundesrepublik Deutschland gegenüber von der Partnerschaft in einer Führungsrolle gesprochen. Er hat damit anerkannt, daß die Allianz ihren Weg in die Zukunft nur finden kann, wenn er von der Bundesrepublik Deutschland voll und führend mitgestaltet wird. Ich hoffe, daß es das neue Verhältnis zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland sein wird, daß alle wesentlichen Entscheidungen in engster Abstimmung getroffen werden, wie es einmal bei Bundeskanzler Adenauer und dem Außenminister Dulles der Fall gewesen ist.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Mit allen westeuropäischen Staaten!)

— Ich bin ja nicht dagegen.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Sonst kommen wir in ein falsches Licht!)

— Ich bin aber nicht der Anwalt aller Staaten, sondern ich bin als gewählter Abgeordneter des deutschen



Dr. Dregger
Volkes der Anwalt der Bundesrepublik Deutschland.

(Brück [SPD]: Es wäre aber ein gutes Prinzip des amerikanischen Präsidenten!)

Ich gehe auf ein Wort des amerikanischen Präsidenten ein, das aber — dieser Meinung bin ich auch — niemand anderen ausschließen soll und darf.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Es ist wichtig für uns, das immer wieder festzustellen!)

Meine Damen und Herren, Generalsekretär Gorbatschow unterschrieb mit dem Bundeskanzler die Feststellung, Bonn und Moskau hätten angesichts ihres Gewichts in den jeweiligen Bündnissen eine zentrale Bedeutung für die Lage in Europa und das Verhältnis zwischen Ost und West. Ich glaube, auch das ist zutreffend. Beide Aussagen, die des amerikanischen Präsidenten und die des sowjetischen Generalsekretärs, zeigen das Ausmaß der Verantwortung, aber auch des Vertrauens, das unserem Land und seiner Regierung entgegengebracht wird. Es ist gewiß keine Überheblichkeit, wenn ich feststelle: Nicht nur unsere Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, sondern auch die Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik der von Helmut Kohl geführten Bundesregierung sind erfolgreich, ja, ich möchte sagen: sehr erfolgreich.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114904300
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1114904400
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war eine Rede, die wir in ihrem außenpolitischen Teil gerne gehört haben, weil viele unserer sozialdemokratischen Positionen darin wiederzufinden waren. Ich denke, die historische Redlichkeit gebietet, auch zu sagen, daß die Entwicklung, was die europäische Perspektive anlangt, die hier als Möglichkeit aufgezeigt worden ist, ohne die sozialdemokratische Ost- und Entspannungspolitik Willy Brandts und ohne den KSZE-Prozeß so nicht hätte zustande kommen können.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Insofern wäre es vielleicht schön gewesen, Herr Dr. Dregger, wenn Sie auch ein Wort der Selbstkritik zum damaligen Verhalten in bezug auf die KSZE und Ihrem Abstimmungsverhalten dazu gesagt hätten.

( V o r s i t z : Vizepräsident Stücklen)

Ein Zweites — das will ich auch kritisch anmerken — : Europäische Gesinnung zeigt sich nicht nur in den Visionen, die wir für die großen weltpolitischen Perspektiven entwickeln, sondern europäische Gesinnung zeigt sich auch darin, wie wir auf unserem Boden mit unseren europäischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern umgehen.

(Beifall bei der SPD)

Ich hätte von Ihnen, Herr Dr. Dregger, gerne auch ein Wort der Selbstkritik oder der Zurücknahme von Äußerungen gehört, daß Ausländer auf unserem Boden keine Mitbürger seien, sondern daß sie Gäste seien — so haben Sie es ausgedrückt. Wir sagen: Die Men-
schen, die auf unserem Boden leben, die hier bei uns sind, sind unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger. — Das ist für uns europäische Gesinnung und europäische Grundhaltung.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

Ich hätte gerne von Ihnen auch ein Wort dazu gehört, daß die CDU in Hessen mit der Übernahme rechtsextremer Agitation im hessischen Kommunalwahlkampf — Stichworte: Frankfurt und NPD — rechtsextreme Positionen großgeredet

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Ist doch unwahr!)

und salonfähig gemacht hat.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Sie reden das Thema hoch, von morgens bis abends! Das ist Ihre Verantwortung!)

Ich erinnere daran, daß die NPD in Frankfurt gesagt hat, die CDU plagiiere ihre Forderungen.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Was die sagt, ist für Sie maßgebend? Unerhört, zitiert hier die NPD! Sie machen sie durch Dauerzitate hoffähig! — Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Kümmern Sie sich mal um die Linksradikalen, und kooperieren Sie nicht mit ihnen!)

Ich sage das deshalb, weil wir in diesem Europawahlkampf mit den Rechtsextremen massiv zu tun haben.
Wir stellen den subjektiv guten europapolitischen Willen mancher Regierungsmitglieder und auch manche Erfolge im europapolitischen Bereich nicht in Frage. Wir müssen aber auch sagen — dafür hat es heute morgen wieder einmal ein unrühmliches Beispiel gegeben — : Daß es verbreitete Ängste in der Bevölkerung gegenüber dem EG-Binnenmarkt gibt, hängt nicht mit dem EG-Binnenmarkt zusammen, sondern hängt mit einer Reihe europapolitischer Fehlleistungen der Bundesregierung zusammen

(Kittelmann [CDU/CSU]: Da kann man sich nur halb totlachen!)

und u. a. mit der Tatsache, daß Mitglieder dieser Bundesregierung allzuoft die Europäische Gemeinschaft als Ausrede für unsoziale Politik vorschieben. Herr Blüm hat heute morgen ein schreckliches Beispiel dafür geliefert.

(Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Dreßler hat ein schreckliches Beispiel dafür geliefert! Blüm hat doch den Steinkühler zitiert!)

Wer die Gesundheitspolitik dieser Bundesregierung als Notwendigkeit für den Einstieg in den EG-Binnenmarkt darstellt, der demotiviert die Menschen in dieser Bundesrepublik geradezu,

(Beifall bei der SPD) zur Europawahl zu gehen.


(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Der Blüm muß die Thatcher ärgern!)

Im übrigen, wer die Europäische Gemeinschaft und die Notwendigkeit des Binnenmarkts so geringschätzt, daß er ausgemusterte Minister dieser Regie-



Frau Wieczorek-Zeul
rung zur EG-Kommission schickt, der darf sich nicht wundern, wenn sich die Wertschätzung der Europäischen Gemeinschaft in der Bevölkerung noch in Grenzen hält.

(Mischnick [FDP]: Unter der Gürtellinie!)

Wer sich nach außen den Anschein des europäischen Umweltmusterknaben gibt, sich dann aber dabei erwischen lassen muß, etwa 18 Verfahren der Europäischen Kommission wegen Verletzung geltenden EG-Umweltrechts — —

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114904500
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer?

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1114904600
Nein, Ulrich Irmer, in der augenblicklichen Situation nicht. Ich muß auf die Zeit Rücksicht nehmen.
Wer sich also mit etwa 18 Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof wegen Verletzung geltenden EG-Rechts durch die nationale Gesetzgebung konfrontiert sieht, der muß sich den Vorwurf gefallen lassen, sich selbst schön- und die Europäische Gemeinschaft schlechtgeredet zu haben.
Nein, wenn die Europäische Gemeinschaft dieser Bundesregierung und den sie tragenden Parteien überlassen bliebe, gäbe es weniger Anlaß zur Ermutigung. Es ist gut, daß es das Europäische Parlament gibt, denn Anstand und Ehrlichkeit gebieten, daß die Bundesregierung auch heute hier sagt: Daß z. B. überhaupt ein Beschluß des EG-Ministerrats zum umweltfreundlichen Auto und zu besseren Abgaswerten zustande gekommen ist, ist nicht das Ergebnis der Tätigkeit dieser Bundesregierung, sondern es ist dem Europäischen Parlament zu danken, das die EG-Kommission in diesen Fragen überzeugt hat und dann vom Ministerrat nur noch einstimmig hätte überstimmt werden können. Deshalb ist an dieser Stelle, auch wenn wir uns die Zeitfaktoren anders gewünscht hätten, ein großes Lob dem Europäischen Parlament, der Sozialistischen Fraktion

(Beifall bei der SPD)

und dem zuständigen Berichterstatter Kurt Vittinghoff auszusprechen, denn er hat geschafft, was mehrere Bundesregierungen nicht hingebracht haben.

(Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Ein toller Mann!)

— Daran können Sie sich ein Beispiel nehmen, Herr von Schorlemer. Das haben Sie noch nicht hingekriegt.
Damit bin ich bei einer zentralen Forderung der SPD-Bundestagsfraktion — Herr Dr. Dregger, wir würden uns freuen, wenn Sie insoweit das in die Praxis umsetzen würden, was Sie zum Europäischen Parlament gesagt haben — : Wir wollen, daß die Rechte, die Kompetenzen, die Zuständigkeiten des Europäischen Parlaments gestärkt werden. Deshalb haben wir heute zu dieser Debatte einen Antrag vorgelegt. Wir bitten, darüber heute abzustimmen. Wir sind der Meinung, daß das Europäische Parlament der wirkliche Motor für ökologischen, für sozialen und demokratischen Fortschritt ist. Deshalb braucht es alle
Rechte, die einem von der Bevölkerung gewählten Parlament wirklich zustehen.
Der Grundfehler ist nämlich, daß der Deutsche Bundestag bei der Ratifizierung der Römischen Verträge 1957 seine Zustimmung nicht von parlamentarischer Mitbestimmung und Kontrolle der Gemeinschaftspolitik abhängig gemacht hat. Im Ministerrat, in der Vertretung der Regierungen, ist es deshalb zu einer Machtanhäufung gekommen, die allen demokratischen Grundsätzen Hohn spricht.

(Zustimmung bei der SPD)

Es ist schön, Perestroika und Glasnost da zu bejubeln, wo es uns nichts kostet. Machen wir doch beim Ministerrat Ernst mit Perestroika und Glasnost. Glasnost: Der Ministerrat soll öffentlich tagen, damit europäische Bürger und Bürgerinnen sehen können, was dort entschieden wird.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Was brauchen wir russische Ausdrücke, um europäische Politik zu machen? Das ist ja der Höhepunkt der Verwirrung!)

Perestroika: Das Europäische Parlament braucht Gesetzgebungsbefugnisse, die gleichgewichtig neben dem Ministerrat sein müssen. Da geht es um wirkliche Veränderungen, die einfach notwendig sind, wenn dieses Parlament die europäischen Bürger und Bürgerinnen in ihren Interessen angemessen vertreten soll.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Situation, vor der wir uns jetzt befinden, ist unerträglich: Zur Verwirklichung des EG-Binnenmarktes gibt es 300 Gesetze, die unter Ausschluß realer parlamentarischer Entscheidungen sowohl bei uns im Bundestag als auch im Europäischen Parlament verabschiedet werden. Die Entscheidungen über die Fragen, wie viele Verbraucherrechte Menschen in der Europäischen Gemeinschaft und bei uns z. B. bei der Liberalisierung des Kapitalverkehrs oder der Dienstleistungen erhalten, welche Steuersätze verwirklicht werden, können nicht einem öffentlich unkontrollierten Gremium wie dem Ministerrat überlassen bleiben. Deshalb sagen wir: Schluß mit den wohlfeilen Erklärungen zu den Rechten des Europäischen Parlaments. Stimmen Sie unseren präzisen Forderungen zu, die wir heute vorgelegt haben.
Wir sagen: Gleichgewichtige Gesetzgebungsbefugnis für das Europäische Parlament neben dem Ministerrat. Das Parlament soll künftig den Präsidenten der EG-Kommission wählen können und ihm damit verpflichtet sein. Schluß damit, daß die Regierungen das unter sich ausmuscheln.
Das Europäische Parlament soll alle Haushaltsbefugnisse erhalten, die sich auf alle Ausgaben beziehen, vor allem aber auch auf die Agrarausgaben. Da ist es nämlich besonders notwendig.

(Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Darauf kommen wir noch!)

Internationale Abkommen sollen der Zustimmung des Europäischen Parlaments bedürfen.
Wir wollen, daß das Europäische Parlament spätestens bis zur Halbzeit der neuen Legislaturperiode



Frau Wieczorek-Zeul
konkrete Vorschläge zur Reform der EG-Verträge entwickelt und daß diese die Grundlage für eine parlamentsfreundliche Reform der EG-Verträge werden. Das wollen wir bis Ende 1991 erreicht haben. Deshalb bitte ich Sie sehr: Stimmen Sie unserem Antrag zu. Das ist nämlich ein Test dafür, ob Sie es mit Ihren Forderungen ernst meinen oder ob sie nur drei Tage vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Deutschen Bundestag wolkig vertreten werden.
Im letzten Jahrhundert gab es bei der Einigung der deutschen Kleinstaaten die Alternative: parlamentarisch über die Paulskirche oder obrigkeitsstaatlich über Preußen. Die Geschichte hat zugunsten der obrigkeitsstaatlichen Einigung entschieden. In diesem Jahrhundert stehen wir vor der Frage: Parlamentarische Einigung über das Europäische Parlament oder obrigkeitsstaatlich über den Ministerrat unter Ausschluß parlamentarischer Entscheidung? Wir fordern Sie auf: Tragen Sie dazu bei, daß in diesem Jahrhundert die demokratische, parlamentarische Einigung Europas obsiegt.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In den letzten Wochen und Monaten — jetzt schließe ich an das an, was mein Vorredner vorhin in der Diskussion angesprochen hat — leuchtet eine Vision von Europa auf, die in unserer Zeit Wirklichkeit werden könnte: ein Europa, das die SPD meinte, als sie nach den Leiden des Ersten Weltkrieges 1925 die Vereinigten Staaten von Europa forderte und damit alle ost- und westeuropäischen Staaten meinte, ein Europa, für das Menschen in den Gefängnissen und Konzentrationslagern des Nationalsozialismus gelitten haben und gestorben sind, ein Europa, das heute in der Europäischen Gemeinschaft, im Europäischen Parlament, zeigt, daß Sicherheit nicht durch Waffen und Militär, sondern durch Zusammenarbeit entsteht, ein Europa, das seine Konflikte friedlich und zivilisiert austrägt, nicht durch militärische Schlachten, sondern notfalls durch Redeschlachten, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dregger [CDU/CSU])

Das ist unser Ansatz. So müssen europäische Einigung und Zusammenarbeit sein.
Wir haben eine Europäische Gemeinschaft, die durch ihre Offenheit für die Kooperation mit den osteuropäischen Ländern bereits jetzt — dabei ist das Europäische Parlament vorangegangen — ein Geflecht der Zusammenarbeit über die Blockgrenzen hinweg entwickelt hat. Es gibt heute Kooperationsverträge zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Ungarn, der CSSR und demnächst mit der Sowjetunion.
Wir haben eine Vision von Europa, das seine Aufspaltung überwindet und gesamteuropäische Institutionen schafft. So wie es heute undenkbar ist, daß zwischen Deutschland und Frankreich jemals wieder ein Krieg ausgetragen wird, um wirtschaftliche oder andere Konflikte scheinbar zu lösen, so muß es undenkbar sein, daß zwischen west- und osteuropäischen Ländern jemals wieder ein Krieg entsteht. Deshalb ist auch keine Grundlage für Aufrüstung und für all diese
Dinge, die uns jahrzehntelang hohe Kosten gebracht haben, vorhanden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU])

Diese Verpflichtung, die Aufspaltung zu überwinden, ist eine besondere Verpflichtung der Deutschen. Denn die Aufspaltung Europas in Militärblöcke ist das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges, der vom HitlerFaschismus entfesselt worden ist. Es ist unsere Pflicht als Deutsche, einen Akt der Wiedergutmachung an einem Kontinent zu leisten, der durch diese Schuld des Hitler- Faschismus aufgespalten worden ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts dieser Perspektiven wäre es eine schreckliche Vorstellung, wenn bei dieser Chance zu europäischer Versöhnung und Verständigung Rechtsextreme ins Europäische Parlament einzögen. Unser Appell geht deshalb an dieser Stelle an die Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik. Gehen Sie am 18. Juni zur Wahl, und tragen Sie mit hoher Wahlbeteiligung dazu bei, daß Rechtsextreme nicht im deutschen Namen im Europäischen Parlament sitzen!

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Je höher die Wahlbeteiligung ist, um so geringer sind die Chancen, daß diese Gruppierungen die 5-%-Hürde überspringen. Das Europa von morgen dürfen wir nicht den Ewiggestrigen überlassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben erlebt, wie Haß gegen Minderheiten und gegen andere Nationen und Fremdenfeindlichkeit Europa ins Verderben gestürzt haben. Wir brauchen ein Europa der guten Nachbarschaft, der friedlichen Zusammenarbeit und der Völkerverständigung nach außen und — ich füge hinzu — auch nach innen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114904700
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.

Wolfgang Mischnick (FDP):
Rede ID: ID1114904800
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein kurzer historischer Rückblick. Vor über 45 Jahren tobten in Europa noch die Schlachten. Da machte sich in Frankreich bereits ein Mann Gedanken über die Zukunft des alten Kontinents. Es war Jean Monnet. Mit einer ebenso einfachen wie kühnen Idee gab er den Anstoß zur europäischen Einigung, als er schrieb — ich zitiere — :
Es wird in Europa keinen Frieden geben, wenn die Staaten auf der Grundlage der nationalen Souveränität wiedererrichtet werden. Die europäischen Länder sind zu klein, um ihren Völkern das unerläßliche Maß an Wohlstand und sozialer Entwicklung bieten zu können. Daher müssen die Staaten Europas sich zu einer Föderation oder einem europäischen Gebilde zusammenschlie-



Mischnick
ßen, das sie zu einer gemeinsamen wirtschaftlichen Einheit zusammenwachsen läßt.
Später hieß sein Vorschlag an den französischen Außenminister Robert Schuman: Kohle und Stahl, die alten Streitobjekte zwischen Frankreich und Deutschland, sollten gemeinsam verwaltet werden.
Dieser Mann der ersten europäischen Stunde, der mit seinen Gedanken die Stunde Null zur Stunde Eins für Europa gemacht hat, verdient gerade in diesen Tagen unser Gedenken und unsere Anerkennung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Er war es, der den Weg geöffnet hat. Ich wüßte genau, daß ein Mann, wenn er noch hier säße, an ihn erinnerte. Herbert Wehner hat uns nämlich immer daran erinnert, daß Jean Monnet diesen Weg geöffnet hat.
Meine Damen und Herren, es scheint, seit es die Römischen Verträge gibt, ein Dauerzustand zu sein: Niemand ist mit Europa zufrieden. In dieser Unzufriedenheit vergessen wir völlig, was schon geleistet wurde und tagtäglich in Europa geleistet wird. Gäbe es den Gemeinsamen Markt nicht, ginge es uns allen schlechter.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Die Gemeinschaft ist ein erstrangiger Faktor der Weltwirtschaft, geachtet, manchmal sogar gefürchtet. Man rechnet mit der Gemeinschaft in allen Teilen der Welt. Die Einheitliche Europäische Akte, die erfreulicherweise zustande gekommen ist, hat, so meine ich, für die Gemeinschaft eine entscheidende weitere Phase eingeleitet. Sie gibt uns auf, schrittweise nunmehr die europäische Union zu verwirklichen. Es geht auch darum, Schritt für Schritt zu möglichst weitgehender Übereinstimmung in der Außen- und Sicherheitspolitik zu kommen. Die Zeit erlaubt es mir nicht, darauf näher einzugehen.
Daneben stehen aber noch andere für die ganze Gemeinschaft wichtige Aufgabenbereiche der Politik auf der Tagesordnung: der Umweltschutz, die Kulturpolitik, Abbau, ja Beseitigung der Grenzen und schließlich auch das Verhältnis der Gemeinschaft zu den Entwicklungsländern. Ich begrüße und befürworte es sehr, daß man die Umweltpolitik in den Koordinierungskatalog der Gemeinschaft aufgenommen hat, ein wenig spät, aber gerade noch zur rechten Zeit, wenn man die vielen guten Worte in der Gemeinschaft jetzt endlich in energische Taten umwandelt. Allmählich begreifen immer mehr den Ernst der Lage: Umweltschutz ist kein Spleen der Deutschen, sondern eine gesamteuropäische Pflicht und Verantwortung.
Als Hans-Dietrich Genscher als Innenminister 1970 die erste Umweltministerkonferenz einberief, belächelte man ihn in den anderen Staaten. Heute hat man erkannt, daß wir rechtzeitig auf die Probleme hingewiesen haben. Die Einigung der EG-Umweltminister, die hier schon erwähnt worden ist, auf strenge Abgasgrenzwerte für Kleinwagen, die nur — das ist zutreffend — durch massiven Druck des Europäischen Parlaments zustande kam, hat erneut bewiesen, daß Bewegung in die Umweltpolitik gekommen ist. Nur ist es nicht so, daß, während das Parlament diesen Druck ausgeübt hat, die deutsche Bundesregierung etwa gebremst hat; sie hat in der ganzen Zeit versucht, die Dinge voranzutreiben, und mit dem Parlament ist es dann gemeinsam gelungen, dies durchzusetzen.
Nach unserer Meinung muß die EG eine wirkliche Umweltgemeinschaft werden. Wir fordern deshalb auch ein EG-Umweltamt nach dem Vorbild des bewährten deutschen Umweltbundesamts. Dieses EG-Umweltamt sollte sich auch für eine Zusammenarbeit mit den Nachbarn im Osten öffnen, damit ganz Europa im Umweltschutz Fortschritte erzielt. Wir können hier in Europa Modelle erstellen, die über Europa hinaus in der ganzen Welt nützlich sein können.
Lassen Sie mich aber auch einen anderen Bereich kurz ansprechen: In den Programmen der elektronischen Medien muß sich Europa stärker als bisher widerspiegeln. Es ist manche Debatte dieses Hauses übertragen worden, wo wir uns gefragt haben, warum das geschah. Daß die Europadebatte nicht übertragen wird, ist für mich unbegreiflich.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Die Medien sollten mehr dazu beitragen, europäisches Bewußtsein zu vermitteln, denn wir dürfen natürlich im Zusammenhang mit der Verwirklichung des Binnenmarktes unseren Lebensinhalt nicht nur auf die materiellen Aspekte, auf das rein ökonomische verkürzen. Wir müssen das kulturelle Erbe der europäischen Nationen nun zu einer gemeinsamen europäischen Identität zusammenführen, denn gerade die kulturellen Gemeinsamkeiten bilden ein starkes Band, das Europa einigen und zusammenhalten kann. Um dieses Band auch politisch weiter zu festigen, müssen wir in der Gemeinschaft ein Europa der Bürger verwirklichen. Hierzu gehört vor allem ein Europa ohne Grenzen. Ohne die Beseitigung der Grenzkontrollen wäre die Wirtschaftsdynamik wesentlich schwächer und die Schaffung einer politischen Ordnung für Europa um so schwieriger. Der Gemeinschaft würden dadurch nicht nur die Kosteneinsparung von 8 bis 9 Milliarden ECU, also rd. 20 Milliarden DM entgehen, sondern auch die Einbußen an politischer Glaubwürdigkeit, an Wirtschaftswachstum und Beschäftigung wären weitaus schlimmer.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die Verkehrspolitik ist der Bereich, in dem die Bürger das Zusammenwachsen Europas zur Zeit mit am intensivsten spüren. Der Wegfall der Grenzkontrollen und bessere Verkehrsverbindungen bedeuten schnellere Erreichbarkeit vor allem der Urlaubs- und Ausflugsorte. Aber auch für die Wirtschaft hat doch die europäische Verkehrspolitik eine Schlüsselrolle. Wir müssen unsere Verkehrsinfrastruktur so ausbauen, daß wir ein attraktiver Standort für die Wirtschaft bleiben. Ein wichtiges Glied der europäischen Verkehrspolitik ist nach meiner Überzeugung das Schienenhochgeschwindigkeitsnetz.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und des Abg. Voigt [Frankfurt] [SPD])

Die Bahn ist das geeignete Transportmittel für die
Strecken, die im Binnenmarkt zurückzulegen sind.
Wir brauchen ein einheitliches europäisches Flugsi-



Mischnick
cherungssystem. Gott sei Dank haben sich die Verkehrsminister darauf verständigt. Ich hielte es für eine gute Idee, wenn die Flugsicherungszentrale ihren Sitz in Frankfurt am Main, dem Luftkreuz Europas, hätte.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und des Abg. Voigt [Frankfurt] [SPD])

Lassen Sie mich noch ein Kapitel ansprechen, das von vielen vielleicht als nebensächlich angesehen wird. Auch die Schiffahrt wird, ob im Binnenland oder auf hoher See, immer mehr von Europa geprägt. Ich begrüße es, daß das deutsche Zweitregister, für das die Freien Demokraten jahrelang gekämpft haben, jetzt Modell für ein europäisches Register ist. Es zeigt sich, daß wir nicht nur im deutschen, sondern auch im europäischen Interesse rechtzeitig richtig gehandelt haben.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, der Straßenverkehr in der EG bleibt natürlich unser Sorgenkind. Der Binnenmarkt bietet innovativen Unternehmen des Transportgewerbes gute Chancen, wenn endlich starre Marktordnungen abgebaut werden. Aber Liberalisierung und Harmonisierung gehören für uns zusammen. Das sind die Voraussetzungen dafür, um erfolgreich zu sein.

(Beifall bei der FDP)

Die Kooperation zwischen den einzelnen Verkehrsträgern, vor allem zwischen Schiene und Straße, ist das Gebot der Stunde.
Meine Damen und Herren, die demokratische Entwicklung der EG-Institutionen hat mit der wachsenden Bedeutung der Gemeinschaft nicht Schritt gehalten. Auf Initiative der Freien Demokraten wird der Deutsche Bundestag der Bundesregierung heute einen klaren Arbeitsauftrag mit auf den Weg geben. Damit soll mit anderen Regierungen ein Entwurf zur Änderung des EWG-Vertrages erarbeitet werden, der unseren Forderungen nach der demokratischen Weiterentwicklung der EG entspricht. Ich bin sicher, das neu gewählte Europäische Parlament wird das unterstützen. Zentraler Bestandteil der Demokratie ist für uns das Parlament. Wir müssen also beim weiteren institutionellen Ausbau der EG aufpassen, daß wir in der Gemeinschaft nicht ganz andere Prinzipien demokratischer Gewaltenteilung schaffen, als wir sie in den Mitgliedstaaten befolgen.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Dr. Dregger [CDU/CSU])

Wenn angesichts der Entwicklung in Osteuropa Parlamente mehr Rechte bekommen sollen, dann muß das Europäische Parlament vorangehen und darf nicht hinter dem hinterherhinken, was dort zur Zeit passiert.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und des Abg. Voigt [Frankfurt] [SPD])

Einen anderen, einen politisch-emotionalen Aspekt möchte ich kurz ansprechen. Mancher Bürger sorgt sich, die nationale Identität eines Volkes, einer Nation könnte von einer europäischen Superstruktur erdrückt werden. Diese Sorge ist unbegründet, denn
Europa kann sich nur, ja es muß sich auf das Selbstbewußtsein der europäischen Völker gründen.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Richtig!)

Langsam reift auch das Bewußtsein, daß Verstand und Herz sich zur Gemeinschaft bekennen können, ohne dabei die nationale Identität preiszugeben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, bei aller notwendigen Konzentration auf die Vollendung des Binnenmarktes und die weitere Integration der EG dürfen wir niemals vergessen, daß Europa nicht an den Grenzen der Gemeinschaft endet. Ich bin davon überzeugt, daß die handelspolitische Vernunft siegen wird. Es kann und wird keine Festung EG-Europa geben, die dann mit der Welt in dauerndem Streit liegen würde.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und des Abg. Voigt [Frankfurt] [SPD])

In einer veränderten, durch neues Denken gekennzeichneten Zeit erhält Europa die Chance, eine neue, beispielhafte Ordnung zu schaffen. Wir können die Welt, in der wir leben, so gestalten, daß das Gefühl der wechselseitigen Bedrohung vom gegenseitigen Vertrauen abgelöst wird. Dazu eröffnet die Gemeinsame Erklärung von EG und RGW viele neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Es gilt, die geschichtlichen Chancen zu nutzen, die in der neuen, durch die Politik von Generalsekretär Gorbatschow endlich möglich gewordenen Entwicklung liegen. Es gilt, daß Bewußtsein eines gemeinsamen europäischen Hauses zu nutzen, um die europäische Friedensordnung zu schaffen, von der der Harmel-Bericht des westlichen Bündnisses schon 1967 sprach.
Das verlangt: erstens die Verwirklichung der Menschenrechte , zweitens durchlässige Grenzen, drittens Kommunikation und kulturellen Austausch, viertens Reiseverkehr und Ausreisemöglichkeiten, fünftens einen umfassenden Sportverkehr, sechstens den Austausch von Jugendlichen und Studenten, siebtens eine umfassende wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Hinter diesen Forderungen stehen wir, und wir wollen sie verwirklichen.
In der Vergangenheit wurde manchmal versucht, Europa mit Gewalt zu einen. Das führte immer ins Unglück. Einen wir Europa aus Einsicht und mit freiem Willen. Es ist die schönste, die lohnendste historische Aufgabe, die uns auch im Interesse der deutschen Frage in unserer Geschichte gestellt wurde. Sie fordert die besten Kräfte unseres Volkes heraus.
Erkennen wir unseren Reichtum in der Vielfalt. Erkennen wir unsere Stärke in der Einheit.
Es geht jetzt darum, daß Europa seine Rolle für die Gestaltung der eigenen Zukunft und für die Gestaltung der Zukunft der Menschheit findet.
Europa umfaßt alle Europäer vom Atlantik bis zum Ural. Für Europa ist eine Ordnung gefordert, in der alle Europäer Frieden und die individuelle Freiheit finden.



Mischnick
Dafür werden wir weiterhin unser ganzes Bemühen einsetzen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114904900
Das Wort hat Frau Abgeordnete Vennegerts.

Christa Vennegerts (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114905000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die GRÜNEN sind die einzige Partei, die eine umfassende Alternative zum EG-Europa, zum Binnenmarkt vorlegt.

(Kittelmann [CDU/CSU] : Das nennen Sie Alternative!)

Wir übernehmen nicht wie die CDU/CSU und die FDP euphorisch die Konzeption eines Binnenmarkts '92.
Leider scheint sich auch die SPD mit dem geplanten Wirtschaftsmoloch EG-Europa abzufinden. Mehr noch, sie stellt die durch den geplanten Binnenmarkt vermeintlich entstehenden wirtschaftlichen Vorteile für die Bundesrepublik in den Vordergrund ihrer Argumentation nach dem Motto: Wir sind die Gewinner.
Wer wie die anderen Pateien den Binnenmarkt nach überholten Wirtschaftszielen, z. B. nach der Höhe der Exportsteigerung, beurteilt, betreibt eine kurzsichtige, ökologisch und sozial unverantwortliche Politik.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es reicht eben nicht aus, glühende Bekenntnisse — wie auch hier wieder — für ein starkes Europa abzulegen, ohne zu prüfen, ob diese schönen Wünsche und Vorstellungen auch nur die geringste Realisierungschance haben.
Während die anderen Parteien ein liberales, ein soziales Europa fordern, geht bezeichnenderweise die EG-Kommission davon aus, daß 20 multinationale Unternehmen sich die Märkte der wichtigsten Branchen in der EG untereinander aufteilen werden.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Hört! Hört! — Kittelmann [CDU/CSU]: Überzogene Verdrehung!)

Das ist der Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Das wissen auch Sie von der SPD. Das hat nichts mit der Verbreitung von Ängsten zu tun, denn die ersten Weichen zum Europa der Konzerne sind schon gestellt. Immer mehr Menschen erkennen die vom Binnenmarkt ausgehenden Gefahren.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114905100
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Christa Vennegerts (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114905200
Ja, wenn Sie es nicht auf meine Redezeit anrechnen, Herr Präsident.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Wird gekürzt!)


Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1114905300
Frau Kollegin, würden Sie zustimmen, daß das, was Sie schildern, nicht das Ergebnis des EG-Binnenmarkts, sondern eines Prozesses der Internationalisierung von Kapital-, Finanz-und Wirtschaftsbeziehungen und -verflechtungen ist und daß die Europäische Gemeinschaft und der EG-Binnenmarkt eine Chance sein könnten, sich in diesen
internationalen Wirtschaftsbeziehungen und -verflechtungen mit dem Ziel der Sicherung unserer sozialen Demokratie zu behaupten? Könnten Sie das als Konzeption verstehen und unterstützen?

Christa Vennegerts (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114905400
Ich habe Sie sehr wohl verstanden, Frau Kollegin. Aber ich kann Ihnen nicht zustimmen, weil ich nicht blauäugig bin. Ich weiß sehr wohl, daß es internationale Verflechtungen gibt. — Normalerweise ist es üblich, daß man die Antwort im Stehen abwartet, aber es ist wohl auch hier im Parlament kein Stil mehr vorhanden.
Aus meiner Sicht ist es der EG-Binnenmarkt — ich denke, das wissen Sie; ich habe auch mit den Gewerkschaften diskutiert, die uns in diesen Fragen auch recht geben — , durch den der Konzentrationsprozeß der Wirtschaft beschleunigt wird. Da, glaube ich, müssen Sie mir recht geben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich kann Ihnen jemanden zitieren, dem Sie wahrscheinlich mehr glauben werden als uns GRÜNEN, wie das halt immer so ist. Es ist jemand, der das wohl am klarsten formuliert hat, den ich hiermit zitiere; es ist der Präsident des Bundeskartellamtes, Professor Kartte. Er ist auch dem Herrn Haussmann gut bekannt. Er ist Mitglied der CDU und hat Formulierungen gefunden, die allen Europa-Euphorikern ins Stammbuch geschrieben gehören. In einem Beitrag im „Spiegel", warnt er vor der Machtübernahme durch Wirtschaftsbosse. Zitat, meine lieben Kollegen und Kolleginnen:
Wozu haben wir die Fürsten abgeschafft, wenn wir uns jetzt einer neuen Aristokratie von Unternehmensführern ausliefern sollen? Wir müssen aufpassen, daß wir Europa nicht zum riesigen Rollfeld für die multinationalen Konzerne einebnen.
Das sagt ein CDU-Mitglied. Wer hat denn hier recht?

(Kittelmann [CDU/CSU]: Die CDU hat über eine Million Mitglieder!)

Professor Kartte faßt diesen Gedanken in einem Satz zusammen: Oligarchie der Konzerne? — Nein danke! Das könnte von uns kommen, aber es war Herr Kartte, der dies sagte. Deshalb sind Ihre Einwendungen nicht richtig.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Hat er das als CDUMitglied oder als Präsident gesagt?)

In einem Punkt, glaube ich, sind wir uns einig: Dreh- und Angelpunkt unserer Vorschläge für eine Alternative zum geplanten Binnenmarkt ist die Forderung nach einer Demokratisierung der EG und ihrer Institutionen. Die Rolle, die das EG-Parlament in seiner jetzigen Form spielt, ist eine Farce. Denn letztendlich entscheidet der Ministerrat. Wir dagegen schlagen unter anderem vor, ein föderales Element einzubauen, nämlich eine Kammer der Regionen.
Für uns GRÜNE ist die Frage der Ökologie ein zentraler Punkt unseres Gegenkonzeptes zum Binnenmarkt. Die Luftverschmutzung kennt keine Grenzen. Die Nordsee stirbt, weil alle Staaten Abwässer einleiten. Wesentliche Aufgabe der EG muß es daher sein,



Frau Vennegerts
Umweltprobleme transnational, d. h. in enger Kooperation mit anderen Ländern zusammen anzugehen.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Genau!)

Die GRÜNEN streben den europaweiten Ausstieg aus der Atomenergie an. Aufgabe auf EG-Ebene wäre es, Ausstiegsszenarien unter Berücksichtigung der besonderen Gegebenheiten der einzelnen Länder zu erstellen. Gerade im Umweltschutz ist es unseres Erachtens sinnvoll und erforderlich, daß das Europäische Parlament die gesetzgebende Kompetenz mit der Möglichkeit weitergehender nationaler Maßnahmen bekommt.
In Fragen der Umweltpolitik verschanzt sich die Bundesregierung immer hinter der EG, die es angeblich nicht möglich mache, eine stringente und konsequente Umweltpolitik zu betreiben. Dies ist eine bewußte Irreführung der Öffentlichkeit.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Sie verwirren die Öffentlichkeit!)

Nach Art. 100a Abs. 4 und Art. 130 des EG-Vertrages sind weitergehende nationale Maßnahmen gerade im Umweltschutzbereich heute schon erlaubt, wenn sie eine Regierung im Interesse der Bürgerinnen und Bürger und der Umwelt für erforderlich hält.

(Zuruf von den GRÜNEN: Genauso ist es!)

Das heißt, ein nationales Vorpreschen, z. B. ein nationaler Alleingang in der Katalysatorfrage, ist möglich, meine Damen und Herren! So ist die Rechtslage.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es besteht die Gefahr, daß in der EG eine Umweltpolitik des kleinsten gemeinsamen Nenners betrieben wird.

(Voigt [Frankfurt] [SPD]: Das ist richtig!)

Wir GRÜNEN treten dagegen für die Festschreibung von ökologischen Mindeststandards unter konsequenter Anwendung der genannten Artikel des EG-Vertrages ein; d. h. konkret, die relativ höheren Standards würden dort, wo sie bereits gelten, beibehalten.
Wie wenig die EG-Institutionen in der Lage und willens sind, auf die ökologische Herausforderung zu reagieren, beweist ihre völlig verfehlte Verkehrspolitik. Es ist an der Zeit, zu begreifen, daß Verkehrspolitik Gesellschaftspolitik ist und nicht ein zielloses Herumdoktern an einzelnen Symptomen. Die Bundesregierung setzt nicht einmal die wenigen positiven Vorschläge der EG um, wo sie es könnte; siehe die Diskussion um das Tempolimit 130. Daran zeigt sich die Macht der deutschen Autolobby, was sonst.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Mit der Realisierung des Binnenmarktes wird laut offizieller Prognosen der Lkw-Verkehr innerhalb der Binnengrenzen der EG um 40 % , in stärker frequentierten Transitregionen wie Bayern und Baden-Württemberg um bis zu 70 % zunehmen,

(Zuruf von den GRÜNEN: Hier sollte der Verkehrsminister einmal zuhören, er interessiert sich gar nicht dafür!)

und dies in einer Situation, wo bereits jetzt den Straßen der Verkehrsinfarkt droht.

(Zuruf von den GRÜNEN: Das interessiert die nicht!)

Das angekündigte Nachtfahrverbot für Lkw in Österreich begrüßen wir ausdrücklich.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Dort wird endlich ernst gemacht mit der Forderung, den Güterverkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern.
Auch das Fehlen einer wirksamen Fusionskontrolle und Wettbewerbspolitik bzw. die taktische Verzögerung der entsprechenden Bemühungen auf europäischer Ebene muß hier angesprochen werden.

(Zuruf von der FDP)

— Da gucke ich den Herrn Haussmann an! — Vor wenigen Tagen war in der Presse wieder zu lesen, daß sich das Wirtschaftsministerium außerstande sieht, die EG-Richtlinien zur Einführung der Fusionskontrolle mitzutragen, weil damit angeblich industriepolitische Verzerrungen zementiert würden.

(Bundesminister Dr. Haussmann: Richtig!)

— Sie bestätigen das; na wunderbar, kann ich da nur sagen. Und dann, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, wollen Sie mir weismachen, daß Ihr EG-Binnenmarkt diese Gefahren nicht in sich birgt! Das kann ich nicht mehr verstehen.
Wir GRÜNEN haben einen Entwurf für ein europäisches Wettbewerbsrecht vorgelegt und bringen ihn nächste Woche als Antrag ein. Grundlegende Ausgangsposition ist für uns, daß die Europäische Gemeinschaft jedem Land, also auch den kleineren und wirtschaftlich schwächeren Ländern, die Voraussetzungen für eine eigenständige ökonomische Entwicklung gewähren muß. Der bereits heute sich anbahnende Konzentrationsprozeß in der Wirtschaft wird dazu führen, daß wenige Großkonzerne die wirtschaftliche und letztlich die politische Macht erhalten und daß eine regionale, dezentral organisierte Wirtschaftspolitik verhindert wird.
Der geplante Binnenmarkt beinhaltet Gefahren. Europaweiter Sozialabbau, die Absenkung ökologischer Standards, eine immense Zunahme des Lkw-Verkehrs, die weitere Zerstörung der regionalen Vielfalt, ungehemmtes Wirtschaftswachstum mit all den bekannten negativen Folgen, das sind unsere berechtigten Befürchtungen. Wer wie die SPD und natürlich auch die CDU/CSU und die FDP ein allgemeines Bekenntnis zu Europa ablegt, ohne die Entwicklung einer Alternative voranzutreiben und die Vision eines anderen Europa aufzuzeigen, findet sich mit den fatalen Weichenstellungen des Binnenmarktes ab und resigniert letztendlich vor den Bürokraten und den Wirtschaftsbossen in der EG.

(Beifall bei den GRÜNEN — Widerspruch bei der CDU/CSU — Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Sie reden wie Herr Schönhuber!)

Wenn der Binnenmarkt in seiner derzeitigen Konzeption Realität wird, wird die bereits existierende Spaltung Europas in Militärblöcke noch um einen



Frau Vennegerts
Wirtschaftsblock ergänzt. Der westeuropäische Pfeiler der NATO wird zur eigenständigen Festung Westeuropa. Nach unserer Auffassung bietet dies keine Perspektive, sondern zementiert den Block Westeuropa, was Sie ja angeblich auch nicht mehr wollen. Die GRÜNEN stehen für eine Politik der Blocküberwindung. Die Frage der Blockzugehörigkeit muß und wird in den Hintergrund treten, wenn die die gesamte Menschheit bedrohenden Folgen des Wettrüstens und der ökologischen Zerstörung vermieden werden sollen.
Der Besuch von Generalsekretär Gorbatschow in der Bundesrepublik sollte auch dem letzten hier klargemacht haben, daß die Entwicklung in den osteuropäischen Staaten in Richtung Frieden, Abrüstung, Kooperation und damit letztlich Blocküberwindung geht. Diese Entwicklung gilt es aufzunehmen.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Dazu werden Sie tolle Beiträge leisten!)

Ökonomische und politische Integration darf deshalb nicht auf die zwölf Staaten der EG beschränkt bleiben.
Herr Dregger, der Beschluß auf dem Brüsseler NATO-Gipfel, den Sie vorhin gewürdigt haben, ist, wie ich aus der Sowjetunion und auch aus dem Umkreis von Gorbatschow höre,

(Zurufe von der CDU/CSU: Oho!)

für die Entwicklung der UdSSR, die zur Zeit läuft, kontraproduktiv. So sieht die Wahrheit aus!

(Kittelmann [CDU/CSU]: Das werden Ihnen die Millionen Sowjetbürger aber sehr danken!)

In der gemeinsamen Erklärung, die Herr Kohl und Herr Gorbatschow in dieser Woche unterschrieben haben, heißt es:
Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion betrachten es als vorrangige Aufgabe ihrer Politik, ... zur Überwindung der Trennung Europas beizutragen.
Generalsekretär Gorbatschow sagte während seines Besuchs in Köln:

(Zurufe von der CDU/CSU: Ihnen?)

Jetzt brechen politische und wirtschaftliche Eisenvorhänge zusammen, aber der Bereich der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Beziehungen ist auch ein Prüfstein für Aufrichtigkeit der Politik, Einklang zwischen Wort und Tat.
Wir GRÜNEN erstreben eine Politik, die sich auch gegen eine neue Art von Blockbildung richtet, gegen den geplanten Wirtschaftsmoloch EG-Binnenmarkt. Wir treten ein für eine Alternative in Richtung eines Europa, das eine sozial und ökologisch ausgerichtete Politik betreibt, um ein gemeinsames europäisches Haus zu bauen, in dem alle Bewohner gleichberechtigt sind.

(Beifall bei den GRÜNEN — Kittelmann [CDU/CSU]: Lesen Sie einmal die Reden der Republikaner, da werden Sie viel Ähnlichkeit finden! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU: Wie Schönhuber!)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114905500
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Wirtschaft.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1114905600
Herr Präsident! Verehrte, liebe Kolleginnen und Kollegen! Vieles klingt sehr defensiv, vieles klingt aber auch erschreckend provinziell, wie es die letzte Rede gezeigt hat.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Trotz aller Unterschiede zwischen Sozialdemokraten, Christdemokraten und Liberalen haben die klassischen demokratischen Parteien hier im Deutschen Bundestag die Aufgabe, anderen europäischen Ländern zu zeigen, daß wir in diesem Grundziel, Europa zu wollen, übereinstimmen und daß wir uns gegen linke und rechte Europa-Verweigerer zur Wehr setzen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wenn mit Herrn Bush, wenn mit Herrn Gorbatschow und wenn in Tokio Gespräche stattfinden, hat das historisch damit zu tun, daß das Militär an Bedeutung verliert und daß die Verfassung von Wirtschaft und Technologie weltweit an Wert gewinnt.
Deshalb müssen deutsche Politiker ja sagen zu einem größeren Europa; denn auch die Bundesrepublik wäre im internationalen Konzert zu klein.
Deshalb ist es im Interesse von Arbeitnehmern, von Verbrauchern, auch von kleinen Selbständigen, daß wir hier nicht erneut provinzielle Argumente vorführen, sondern daß wir um den besten Weg zu Europa streiten, aber nicht um eine Verweigerung gegenüber dieser europäischen Idee.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Auch wenn sich die klassischen Parteien im Prinzip einig sind, so gibt es nach wie vor — das soll auch heute nicht verschwiegen werden — beträchtliche Unterschiede in der Philosophie des europäischen Marktes. Ich sage es ganz deutlich: Wir Liberalen wollen kein zentralistisches, kein bürokratisches Europa, kein gleichmacherisches Europa, kein Europa, das einen Ansatz zur totalen Harmonisierung zeigt.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Aber wir werden es auch nicht schaffen, dem Europa den deutschen Stempel allein aufzudrücken.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Auch wahr!)

Wir werden im Umweltschutz noch andere europäische Länder benötigen. Deshalb empfehle ich eine europäische Gesinnung und nicht eine provinzielle Gesinnung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir wollen ebenfalls nicht — wir können es uns vor allem aus Arbeitsmarktgründen auch nicht leisten — ein Europa, das sich abschließt, ein protektionistisches Europa. Wir wollen ein offenes, nach innen und außen offenes Europa, das mehr Marktwirtschaft, mehr Individualität zuläßt und das damit die Chancen der einzelnen, der kleinen Selbständigen, der Verbraucher, der Arbeitnehmer, sichert.
Meine Damen und Herren, die Vorboten des Binnenmarktes zeigen sich längst in der deutschen Beschäftigungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik. Es wäre mit nationalen Maßstäben nicht mehr erklärbar, daß



Bundesminister Dr. Haussmann
wir das Beschäftigungswachstum vierteljährlich aufstocken. Das sind nicht mehr nationale Wirtschaftsmaßnahmen, das sind die Vorboten des Binnenmarktes.
Wenn wir in diesem Jahr erstmalig in der Nachkriegsgeschichte — 40 Jahre Bundesrepublik — einen absoluten Rekord an Beschäftigungsverhältnissen von über 27 Millionen erreichen, dann hat das etwas mit Binnenmarkt zu tun

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

und nicht mit der Verweigerung gegenüber einem größeren europäischen Markt.
Abgesehen von Luxemburg haben wir in der Bundesrepublik inzwischen die geringste Jugendarbeitslosigkeit. Auch dies ist nicht mehr nur mit nationalen Methoden erklärbar. Vielmehr hat es damit zu tun, daß sich unsere Wirtschaft auf den Binnenmarkt vorbereiten muß und daß sich andere europäische Länder vor allem mit Hilfe deutscher Maschinen und Investitionsgüter auf den Binnenmarkt vorbereiten. Deshalb geht es uns in der Bundesrepublik gut, weil andere Länder bereit sind, in diesen Binnenmarkt einzutreten, und weil uns das nützt.
Natürlich — das gebe ich zu — gibt es auch Probleme. Es gibt Probleme der Konzentration; es gibt auch das Problem, daß viele andere EG-Länder unsere Sozialstandards zumindest kurzfristig nicht übernehmen können. Das sind aber eher Probleme der Sozialpolitik anderer europäischer Länder.
Das böse Wort vom Sozialdumping ist nun wirklich ein schlimmes Schlagwort.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist eine bewußte Lüge!)

Das sollten wir Deutschen nicht einbringen.
Die Probleme in den anderen europäischen Ländern bestehen darin, daß sie im Sozialbereich nicht in kurzer Zeit den hohen deutschen Standard erreichen, aber nicht umgekehrt. Es gibt niemanden, auch niemanden im Bundeswirtschaftsministerium, der von der deutschen Mitbestimmung, der von der vorbildlichen deutschen Sozialgesetzgebung Abschied nehmen will.

(Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es!)

Was wir sagen, ist nur: Wenn wir im Umweltschutz Vorreiter bleiben wollen, wenn wir den höchsten sozialen Standard halten wollen, dann müssen wir in vielen anderen Bereichen beweglicher, kreativer, offener und aktiver sein. Dann können wir dies halten, aber nicht umgekehrt.
Meine Damen und Herren, bei allen europäischen Diskussionen mit Gewerkschaften, mit Arbeitgebern und mit Arbeitnehmern zeigen sich drei Dinge, die die Bundesrepublik einzubringen hat.
Soziale Marktwirtschaft wird erwünscht. Auch von sozialistischen Regierungen wird mehr soziale Marktwirtschaft praktiziert, z. B. in Spanien.
Mittelstand. Meine Damen und Herren, warum ist die Handelsbilanz so positiv? Sie ist so positiv, weil
sich nicht nur die Großindustrie, sondern auch unsere mittleren Betriebe europaweit engagieren.

(Beifall des Abg. Kittelmann [CDU/CSU])

Meine Damen und Herren, was von uns im Finanz- und Währungsbereich erwartet wird, ist Stabilität und Solidität.
Ich glaube, wenn die Bundesrepublik und die Wähler dafür sorgen, daß diese drei Trumpfkarten der Bundesrepublik, mehr Marktwirtschaft in Europa, mehr Mittelstand in Europa und mehr Finanz- und währungspolitische Stabilität, unser Beitrag für diesen Binnenmarkt sind, dann sorgen wir nicht nur für eine ökonomische und soziale Aufwärtsentwicklung in unserem Land, sondern auch für die Arbeitnehmer in anderen Ländern. Der Binnenmarkt ist kein Nullsummenspiel. Die Arbeitsplätze, die derzeit in Spanien entstehen, gehen nicht zu Lasten der Bundesrepublik,

(Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es!)

sondern zugunsten der Bundesrepublik. Das halte ich für positiv. Das sollte bei dieser Debatte auch unseren Wählern mitgeteilt werden.
Ein Punkt, der mich besonders berührt, ist die Frage: Wie verändert sich der Mittelstand im Binnenmarkt? Andere Länder wollen von unserer Mittelstandspolitik lernen. Andere Länder wissen, daß die Stärke des deutschen Mittelstands unsere Trumpfkarte ist. Die Bundesregierung wird deshalb den deutschen Mittelstand auf seinem Wege in das gemeinsame Europa nicht im Stich lassen. Wir sorgen dafür, daß ab September ein Mittelstandstelefon für jeden Mittelständler zum Ortstarif erreichbar ist, wo er optimale Informationen bekommt.
Ich setze mich bei allen Gesprächen in Brüssel dafür ein, daß Deutsch eine vollwertige dritte Arbeitssprache ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Kleine und mittlere Betriebe haben keine Übersetzungsbüros wie die Großkonzerne. Deshalb ist es von vitalem Interesse, daß auch komplizierte Verordnungen nicht mit sechwöchiger Verspätung in schlechtem Deutsch, sondern von Anfang an in einem verständlichen Deutsch erscheinen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) — Ich bedanke mich für die Unterstützung.

Meine Damen und Herren, mein Fazit ist: Wir, die Bundesrepublik gehen mit recht guten wirtschaftlichen Voraussetzungen in diesen Binnenmarkt. Woran es in der deutschen Diskussion hapert, ist häufig die Einstellung. Der internationale Wettbewerb, nicht nur in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten von Amerika und Japan, schenkt uns nichts, er belohnt aber Leistung, Kreativität und soziale Ausgeglichenheit. Deshalb können wir uns in der Bundesrepublik auch nach 40 Jahren keine Midlifecrisis leisten.

(Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Das kennen wir gar nicht!)




Bundesminister Dr. Haussmann
Das beste Mittel gegen die Anzeichen einer manchmal durchscheinenden Midlifecrisis, Frau Kollegin,

(Frau Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Wie schreibt man das?)

ist eine neue Herausforderung, wie sie uns der Binnenmarkt stellt. Deshalb glaube ich, wir sollten uns dieser europäischen Herausforderung stellen — ohne Selbstgefälligkeit, aber auch ohne falsche Bescheidenheit. Vielleicht sollte Europa auch in manchen Bereichen, z. B. des Ladenschlusses, der Flexibilität, der Individualisierung der Arbeitszeiten, für neues Denken sorgen. Manchmal war heute morgen zu häufig von altem Denken die Rede.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114905700
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brück.

Alwin Brück (SPD):
Rede ID: ID1114905800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, mich hier mit der Europapolitik der GRÜNEN auseinanderzusetzen. Aber nach dem, was Sie, Frau Kollegin Vennegerts, gesagt haben, muß ich das tun.
Sie haben der Bundesregierung mangelnde Stringenz in ihrer Europapolitik vorgeworfen. Dem stimme ich ausdrücklich zu.

(Beifall bei der SPD)

Es wäre aber gut, Sie dächten einmal darüber nach, ob nicht auch in Ihrer Europapolitik Stringenz fehlt.
Sie haben gesagt, daß Wind und Wasser in Europa keine Grenzen kennen.

(Frau Vennegerts [GRÜNE]: Richtig!)

Das ist natürlich richtig. Aber welche Schlußfolgerungen ziehen Sie denn daraus? Das heißt doch nur, daß wir die Umweltprobleme auf europäischer Ebene losen müssen.

(Frau Vennegerts [GRÜNE]: Das habe ich gesagt!)

Als jemand, der an der Grenze wohnt und einen Wahlkreis an der deutsch-französischen Grenze vertritt, weiß ich, wovon ich rede. Mit europäischer Kleinstaaterei werden Sie unsere Umweltprobleme nicht lösen.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU — Frau Vennegerts [GRÜNE]: Das habe ich gesagt!)

— Jetzt rufen Sie dazwischen: „Das habe ich gesagt." Aber welche Konsequenzen ziehen Sie denn daraus? Sie müssen doch politische Einrichtungen schaffen, die diese Politik gestalten.

(Frau Vennegerts [GRÜNE]: Ja, das wollen wir ja!)

Also brauchen wir auf lange Sicht die Europäische Union.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: So ist es! — Frau Vennegerts [GRÜNE]: Nicht diese, sondern eine andere!)

Wer wie Sie für eine multikulturelle Gesellschaft in der Bundesrepublik eintritt, der muß doch auch für die Öffnung der Grenzen in Europa sein.

(Frau Vennegerts [GRÜNE]: Das habe ich doch alles gesagt!)

Wenn wir diese Grenzen öffnen wollen, dann müssen wir den Binnenmarkt schaffen.

(Frau Vennegerts [GRÜNE]: Nicht diesen, einen anderen! — Gegenruf der Abg. Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Diesen, es gibt keinen anderen!)

Das heißt doch nicht, daß wir mit allen Entwicklungen in der Europäischen Gemeinschaft von vornherein einverstanden sind. Wir, die Politiker, sind doch aufgerufen, diese Europäische Gemeinschaft so zu gestalten, wie wir es für richtig halten.
Deshalb ist es notwendig, daß die Bürgerinnen und Bürger am kommenden Sonntag die Mehrheiten in das Europäische Parlament schicken, die die richtige Politik machen.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Also die CDU/ CSU!)

Da halte ich es für falsch, schon vorhandene Ängste der Bürgerinnen und Bürger noch zu schüren.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP — Frau Vennegerts [GRÜNE]: Man muß sie aber nennen!)

Ich kann ja verstehen, daß aus Ihrer Sicht eine niedrige Wahlbeteiligung ganz richtig sein könnte, weil Sie hoffen, daß Ihre Anhänger zur Wahl gehen. Ich halte es aber für ganz gefährlich, Ängste zu schüren. Es gibt ja diese Ängste schon.
Wir sollten uns als Politiker auch hüten, die Bürgerinnen und Bürger zu beschimpfen; denn — das will ich ganz offen sagen — es gibt den Eindruck, daß es gar keinen Sinn ergibt, zur Wahl zu gehen, weil das Europäische Parlament nichts zu sagen hätte. Es hat ein bißchen mehr zu sagen, als viele glauben, aber natürlich noch nicht ausreichend.

(Frau Vennegerts [GRÜNE]: Viel zu wenig! Das wissen Sie!)

Ich kann die europäischen Regierungen nur auffordern, alles zu tun, damit das Europäische Parlament Rechte erhält. Ich will hier ganz offen gestehen, daß ich es beim besten Willen nicht verstehen kann, daß das Land, in dem die parlamentarische Demokratie entstanden ist, den meisten Widerstand leistet. Ich will hier auch offen sagen, daß mir kein Begriff einfällt, mit dem ich meine Verärgerung über die britische Premierministerin ausdrücken könnte, den der Präsident nicht rügen würde. Vielleicht schließe ich mich einem ihrer konservativen Vorgänger, nämlich Edward Heath, an. Aber ich will das von ihm benutzte Wort nicht zitieren, damit ich mich bei den hier anwesenden Frauen nicht unbeliebt mache.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt macht er uns neugierig!)

Ich denke, daß wir Rechte für das Europäische Parlament nicht nur brauchen, weil wir im Grundsatz für mehr Demokratie in Europa eintreten müssen, son-



Brück
dern weil wir längst in eine Situation gekommen sind, in der einstimmige Beschlüsse des Ministerrates kaum noch machbar sind. Wir haben uns gestern im Unterausschuß für Fragen der Europäischen Gemeinschaft über die Probleme bei der Harmonisierung der Steuern in der Gemeinschaft unterhalten. Diese Harmonisierung ist ja nur mit einstimmigen Beschlüssen möglich. Ich würde keine Wette mehr darauf eingehen, daß diese einstimmigen Beschlüsse noch rechtzeitig zustande kommen, damit wir am 1. Januar 1993 mit dem Binnenmarkt wirklich beginnen können.
Deshalb wäre es besser, wir würden schwierige Entscheidungen so fällen, wie sie in demokratischen Gemeinschaften gefällt werden, nämlich in den Parlamenten mit Mehrheit. Auch deshalb braucht das Europäische Parlament mehr Rechte.
Ich habe schon gesagt, daß es Ängste und Unbehagen bei den Menschen gibt. Mir ist das jetzt im Wahlkampf in vielen Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern, vor allem mit älteren Bürgern, deutlich geworden.

(Häfner [GRÜNE]: Haben Sie uns nicht vorgeworfen, von Ängsten zu sprechen?)

Wir müssen uns aber fragen, wer denn dafür verantwortlich ist. Ich will dafür ein Beispiel nennen.
Welcher Teufel hat eigentlich die Bundesregierung geritten, als sie sich vor dem Europäischen Gerichtshof wegen der „Reinheit" der Wurst verklagen ließ. Sie hat sich verklagen lassen, weil sie zu feige war, den Interessenverbänden in der Bundesrepublik Deutschland zu erklären, daß keinerlei Schaden entsteht, wenn beispielsweise in der Wurst auch pflanzliche Bestandteile sind.

(Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Sie haben doch auch beim Bier mitgemacht!)

— Ich nehme den Zwischenruf gerne auf. Wir hätten alle zusammen spätestens beim Reinheitsgebot für das deutsche Bier lernen sollen, daß es falsch ist, europäische Gerichte immer anzurufen oder sich verklagen zu lassen, damit man dann später sagen kann: Wir sind ja nicht schuld, das hat der Europäische Gerichtshof getan, und damit alle Schuld auf Europa schieben kann — als ob wir uns vergiften würden. Ich kenne französische Lebensmittelvorschriften, und da könnten wir uns manchmal eine Scheibe abschneiden.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114905900
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Eigen? — Bitte schön.

Karl Eigen (CDU):
Rede ID: ID1114906000
Herr Kollege, kann man denn jetzt veröffentlichen, daß Sie allein oder die SPD-Fraktion dafür sind, daß der Verbraucher durch Mischprodukte mit pflanzlichem und tierischem Eiweiß möglicherweise getäuscht werden soll? Kann man das so veröffentlichen?

Alwin Brück (SPD):
Rede ID: ID1114906100
Ich würde Ihnen gern einmal vorlesen, was es in deutscher Wurst zur Zeit geben darf, und das ist nur ein Auszug: Nitrit, Zellulose, Aluminium, Ammoniumsulfat, Kaliumsorbat, Calcium, usw. usf.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Ich will Ihnen ganz persönlich gestehen: Ich weiß gar nicht, ob mir die Wurst mit pflanzlichen Bestandteilen so gut schmeckt, aber ich würde darum bitten, daß ich danach, ob sie mir schmeckt oder nicht, entscheiden darf, ob ich sie nun kaufe oder nicht kaufe.

(Eigen [CDU/CSU]: Das war ein wirklich primitiver Vergleich! Ich habe noch eine Zusatzfrage! — Freiherr von Schorlemer [CDU/ CSU] : Lesen Sie einmal, was in Selterswasser ist!)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114906200
Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage? — Bitte sehr.

Karl Eigen (CDU):
Rede ID: ID1114906300
Mit solchen diffamierenden Äußerungen kann man natürlich alles beweisen. Es zeigt nur, daß Sie über die tatsächlichen Verhältnisse, mit welcher Würze und mit welchen Dingen man eine hervorragende deutsche Wurst aus tierischen Produkten herstellt, relativ wenig Kenntnisse haben. Lesen Sie einmal vor, was in einem Mineralwasser enthalten ist!

Alwin Brück (SPD):
Rede ID: ID1114906400
Herr Kollege Eigen, ich nehme an, daß Sie auf diese Frage keine Antwort erwarten. Es war nur eine Meinungsäußerung von Ihnen.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114906500
Sie gestatten eine weitere Zwischenfrage? — Bitte sehr, Herr Gautier.

Dr. Fritz Gautier (SPD):
Rede ID: ID1114906600
Herr Brück, würden Sie meine Meinung teilen, daß der deutsche Verbraucher nicht ganz so dumm ist, wie ihn einige darstellen wollen, und der deutsche Verbraucher bei einer richtigen Kennzeichnung schon selber entscheiden könnte, was für ihn schmackhaft und gut ist?

Alwin Brück (SPD):
Rede ID: ID1114906700
Natürlich. Ich habe ja gesagt: Auch ich möchte für meine Person danach entscheiden, ob mir die Wurst schmeckt oder nicht. Ich weiß, obwohl ich französische Pâté kenne, in der pflanzliche Bestandteile sind, gar nicht, ob sie mir immer schmecken wird. Aber der Verbraucher ist da erwachsen genug.
Jetzt hoffe ich, Herr Präsident, daß mir all die Fragen nicht auf die Zeit angerechnet werden.
Ich möchte zum Schluß noch auf eines eingehen. Es gibt auch noch die Angst, die die Rechtsradikalen den Mitbürgerinnen und Mitbürgern jetzt in diesem Wahlkampf einjagen. Da habe ich kürzlich eine Anzeige der falschen Republikaner gelesen, in der es hieß: Wir wollen in Europa Deutsche bleiben. — Ja, als was denn sonst werden wir in diesem Europa leben? Natürlich werden wir in Europa unsere deutsche Sprache, unsere deutsche Kultur bewahren; die Franzosen werden Französisch sprechen und ihre französische Kultur bewahren, die Italiener Italienisch sprechen. Ich füge hinzu: Ich hoffe, daß möglichst viele Europäer dann auch noch die Sprache ihrer Nachbarstaaten sprechen. Europa würde ärmer werden, wenn wir nicht diese Vielfalt unserer Kultur bewahrten. Es macht gerade die Stärke der europäischen Kultur aus, daß hier eine Vielfalt der Kulturen besteht. Hier werden von den sogenannten, den falschen Republikanern doch nur vorhandene nationale Gefühle primitiv für nationalistische Zwecke mißbraucht. Wer sein Herz immer noch an europäische Kleinstaaterei



Brück
hängt, dem empfehle ich, ab und zu einen Blick auf alte Karten aus der deutschen und europäischen Geschichte mit dem bunten Fleckerlteppich der deutschen Kleinstaaten zu werfen. Kolleginnen und Kollegen können das im Flur des Alten Hochhauses tun; dort hängen diese Karten. Das ist immer sehr lehrreich. Und wer als Ewiggestriger inbrünstig die erste Strophe des Deutschlandliedes, nämlich „Deutschland, Deutschland über alles", anstimmt, sollte bedenken, daß Hoffmann von Fallersleben das Lied nicht deshalb geschrieben hat, weil er unser eigenes, das deutsche Volk über die anderen Völker dieser Welt erheben wollte, so wie der Text dann von den Nazis mißbraucht und auch diskreditiert wurde, sondern weil Hoffmann von Fallersleben Deutschland über die vielen kleinen deutschen Staaten erheben wollte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich bin sicher: Lebte Hoffmann von Fallersleben heute, er würde eine Hymne auf Europa schreiben.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114906800
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kittelmann.

Peter Kittelmann (CDU):
Rede ID: ID1114906900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vor uns liegende Binnenmarkt hat für eine Aufbruchstimmung gesorgt. In immer stärkerem Maße erkennen die Menschen in den Mitgliedsländern die große Chance, die sich ihnen bietet. Für die Bundesrepublik Deutschland heißt das — man kann es nicht oft genug wiederholen —, daß der deutschen Wirtschaft, vor allen Dingen unserem Mittelstand, in Zukunft ein Markt von 320 Millionen Menschen zur Verfügung steht. Es ist erfreulich, daß dieses Bild positiv aufgenommen wird, daß die Öffentlichkeit darauf anspringt.
Daran wird sich auch nichts ändern, wenn sich Skeptiker und Pessimisten zu Wort melden. Liest man einige Stellungnahmen weniger Verbände, könnte man meinen, daß dieser gemeinsame Binnenmarkt über uns kommen wird wie einst die Plagen über Ägypten.
Die Art und Weise, in der die GRÜNEN — das haben sie heute wieder bewiesen — ein verfälschendes Bild von Europa zeichnen und in der sie demagogisch und unverantwortlich Fakten verdrehen, erinnert zum Teil an die Sprache der Republikaner. Das muß ich Ihnen hier sehr offen sagen.

(Lachen bei den GRÜNEN — Häfner [GRÜNE]: Unglaublich!)

Meine Damen und Herren, immer wieder wird behauptet, Deutschland sei der Zahlmeister Europas; der deutsche Steuerzahler müsse dies alles finanzieren. Um es eindeutig festzustellen: Das ist falsch. Wer dies behauptet, handelt wider besseres Wissen.
Die deutsche Wirtschaft hat im letzten Jahr für 308 Milliarden DM deutsche Produkte in die europäischen Partnerländer exportiert. Das war mehr als die Hälfte der Exporte der Bundesrepublik. Um die Entwicklung darzustellen: Das ist fünfzehnmal so viel wie
noch 1960. Allein diese Exporte garantieren 20 % der Arbeitsplätze in der Bundesrepublik Deutschland; das ist jeder fünfte Arbeitsplatz. Wir wissen: insgesamt ist jeder dritte Arbeitsplatz bei uns vom Export abhängig.
Auch hier sollten wir nicht stehen bleiben. Die Wirtschaft der Bundesrepublik wird der große Gewinner des gemeinsamen Marktes sein und damit alle Bürger in der Bundesrepublik Deutschland, seien es Arbeitnehmer, Mittelständler oder auch Arbeitgeber.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Die Bauern nicht?)

Dies ist übrigens auch die Voraussetzung für eine gerechte Sozialpolitik, über die wir heute schon ausführlich gesprochen haben.
Die deutsche Politik war hervorragend am Durchbruch hin zur Erreichung des Binnenmarkts beteiligt. Ich darf es wiederholen: Mitentscheidend war die Ratspräsidentschaft von Helmut Kohl im Jahre 1988. Der Sozialist Jacques Delors hat dazu gesagt: In diesen sechs Monaten der deutschen Präsidentschaft sind mehr Probleme gelöst worden als in den letzten zehn Jahren. — Wenn Europa so weit vorangekommen ist, dann ist dies vor allen Dingen ein Verdienst der Bundesregierung unter der Führung von Helmut Kohl.

(Beifall des Abg. Eigen [CDU/CSU])

Die Deutschen brauchen den Binnenmarkt nicht zu fürchten. Unsere Exportstruktur beweist: Unsere Betriebe sind dem Wettbewerb in Europa und dem weltweiten Wettbewerb gewachsen. Es gibt immer noch Leute, die uns weismachen wollen, nur die Großbetriebe profitierten vom Binnenmarkt. Nein, vor allen Dingen der Mittelstand wird der große Gewinner des Binnenmarkts sein.

(Zuruf von den GRÜNEN: Wo beginnt der?)

In Vorschau auf den Binnenmarkt steigen die Investitionen an, und die Zahl der Arbeitsplätze — vor allen Dingen in mittelständischen Unternehmen — nimmt zu.
Herr Haussmann, Sie haben unsere volle Unterstützung, wenn Sie dem Mittelstand hier Hilfe bei der Überwindung bürokratischer Hemmnisse zusagen.
Wer heute mit skeptischer Miene durch die Republik läuft, der muß wissen: Die Arbeitnehmer und Unternehmer in der Bundesrepublik Deutschland, die Akademiker und Arbeiter werden die Herausforderung Binnenmarkt konstruktiv annehmen. Sie werden die Bedürfnisse erkennen, die auf dem europäischen Markt bestehen. Die CDU/CSU hat zu einem frühen Zeitpunkt anläßlich einer Anhörung zum Thema „Verwirklichung des Binnenmarktes" ein Gespräch mit Verbänden und wissenschaftlichen Instituten geführt. Hierbei hat sich gezeigt, daß auch auf seiten der Gewerkschaften die Bereitschaft besteht, über alle Polemik und Schwarzseherei hinaus die Aufgabe der Verwirklichung des Binnenmarkts als gemeinsame Zukunftsaufgabe bis zum Jahre 2000 zu sehen.
Meine Damen und Herren, es gibt Leute, die sagen: Der Binnenmarkt wird unsere Probleme der Arbeitslosigkeit nicht lösen. Das Gegenteil wird der Fall sein.



Kittelmann
Der Cecchini-Bericht erwartet von der Verwirklichung des Binnenmarktes zwischen 2 und 5 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze. Das ist eine riesige Chance, die es zu nutzen gilt.
Verantwortliche Umweltpolitik wird Schwerpunkt der gemeinsamen Politik aller EG-Länder sein. Aber auch hier wird die Bundesrepublik Vorreiter sein, wie wir in den letzten Wochen erfolgreich in der EG bewiesen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Binnenmarkt bedeutet: Wir werden auch die nationalen Egoismen nach innen aufgeben müssen. Europa wird keine Grenzen mehr trennen. Dabei waren in der Vergangenheit oft diejenigen Grenzen die schlimmsten, die man nicht sehen konnte: tarifäre Handelshemmnisse und vieles andere mehr.
Protektionismus darf es in der EG nicht geben, weder nach außen noch nach innen.
Wenn wir sehen, was vor uns liegt, ob das die Fragen der Dritten Welt sind, ob das die Fragen des Handels mit den Ostblockländern sind, ob es die Fragen der Solidarität mit den Ländern im südlichen Bereich der EG sind, dann sehen wir auch, daß die Bundesrepublik Deutschland eine besondere Verantwortung hat. Dieser besonderen Verantwortung wird und muß sie sich stellen. Für die CDU/CSU ist der EG-Binnenmarkt, ist die weitere Entwicklung der EG eine große Herausforderung. Ich freue mich, daß in der heutigen Diskussion bisher sehr viel Gemeinsames erkannt worden ist, bei allem Unterschied im Detail.
Ich möchte Herrn Mischnick recht geben: Es wäre eine Chance für die Medien gewesen, diese Veranstaltung direkt zu übertragen, um die immer noch spürbare Unwissenheit der Bürger über Europa zu beseitigen und eine Chance zu eröffnen, zu erkennen, wer in Deutschland nach vorn schaut.
Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Flinner [GRÜNE]: Seien Sie doch froh, daß sie das nicht gemacht haben! Es ist doch kaum jemand da! Das ist das Beispiel dafür, wie wenig Sie für Europa tun!)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114907000
Das Wort hat der Abgeordnete Häfner.

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1114907100
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gefahr beginnt im Denken. Denken kann gefährlich sein. Zugleich ist es das einzig Rettende, der einzige Grund, von dem aus sich Bewußtsein und Veränderung entfalten kann. Bewußtsein drückt sich vor allem in der Sprache aus. Deshalb muß man auf die Sprache sehr genau achten. Sie kann auch verräterisch sein.
„Europa" nennen wir den schrecklichen Torso, von dem hier die Rede ist. „Europadebatte", „Europawahl", „Europäisches Parlament" — wer oder was gibt uns das Recht dazu? Schon der Name ist eine arrogante und elitäre Anmaßung; das Gebilde noch viel mehr. Es ist eine schallende Ohrfeige für viele Menschen und viele Länder Europas, die hieran nicht beteiligt sind, denn Europa ist wahrhaft mehr und
anderes als diese EG, schon geographisch, aber auch geistig, kulturell, wirtschaftlich und politisch.
Das sollten wir sehr deutlich sagen.

(Lamers [CDU/CSU]: Sie setzen doch Ihre Hoffnung auf Europa!)

Zu Europa gehört — ich glaube, das muß ich Ihnen, Herr Lamers, am allerwenigsten sagen — die DDR genauso wie die BRD, gehört Polen genauso wie Großbritannien, gehört Ungarn genauso wie Frankreich. Das sollten wir uns hier ins Bewußtsein rufen. Zu Europa gehören auch Finnland, die Schweiz, die neutralen Staaten, die aus durchsichtigen Gründen nicht nur nicht beteiligt, sondern auch gar nicht gewünscht sind in diesem neuen Gebilde. Man lese etwa nur den Aufsatz von Helmut Schmidt zum Beitrittswunsch von Teilen der österreichischen Regierung, in dem er sehr deutlich die militärpolitischen Absichten und Hintergründe anspricht, von denen aus ein Beitritt Österreichs nicht wünschenswert erscheint.
Europa ist also mehr als diese vordemokratische Marketingorganisation west- und südeuropäischer Industriestaaten mit Namen EG.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114907200
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1114907300
Wenn es nicht auf die Redezeit angerechnet wird, immer gern.

Karl Lamers (CDU):
Rede ID: ID1114907400
Das ist so üblich, Herr Kollege.
Würden Sie mir zugeben, Herr Kollege, daß die Tatsache, daß zunehmend mehr Länder des Comecon, aus dem anderen Teil unseres Kontinents, ein immer engeres Verhältnis zur Europäischen Gemeinschaft gewinnen möchten, bis hin zum Beitrittswunsch, ein Indiz dafür ist, daß die Europäer im anderen Teil unseres Kontinents nicht nur nichts gegen die Einigung im Westen unseres Kontinents haben, sondern darauf ihre Hoffnungen setzen?

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1114907500
Selbstverständlich gestehe ich den Zusammenarbeitswunsch zu. Ich will aber deutlich machen, daß europäische Integration weit mehr heißt, als ein west- und südeuropäisches Staatengebilde zu bauen und dann diesen Ländern zu sagen: seht zu, wo ihr bleibt.
Ich meine zweitens, daß allein schon die Redlichkeit in der Sprache von uns verlangt, daß wir den Menschen, den Bürgerinnen und Bürgern immer sagen, daß Europa mehr und anderes ist als die EG, und daß wir den hohen wie falschen Begriff Europa in diesem Zusammenhang vorsichtig verwenden bzw. ganz vermeiden und uns dringend der Aufgabe einer gesamteuropäischen Einigung und Zusammenarbeit bewußt bleiben sollten.
Ich war kürzlich mehrmals in Ungarn und habe mit den Menschen und Politikern dort gesprochen. Ich weiß, was ich hier sage. Ich weiß, wie stark der Wunsch in diesen Ländern ist, mit uns zusammenzuarbeiten. Und ich weiß aber auch, wie groß die Angst ist, daß diese Länder von dem Gebilde der EG ausgesperrt werden, daß sie bestenfalls noch als Rohstoffund als Absatzmarkt ge- und mißbraucht werden, daß



Häfner
sie aber nicht gleichberechtigt beteiligt werden, in keiner Weise.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die noch viel größeren Aufgaben einer gesamteuropäischen Friedenspolitik können ja von einer solchen einseitigen Entwicklung und Abschottung aus gar nicht angegangen werden. Die Bundesrepublik hat sich immer nur auf eine Seite gestellt, hat sich aktiv auf die Spaltung eingelassen. Die Wiedervereinigung war immer nur eine rhetorische Floskel, die das bloß verdecken sollte. Und ich fürchte, daß wir gerade jetzt, in einer Zeit, in der in diesen Ländern — da gebe ich Ihnen völlig recht — beide Hände ausgestreckt werden, diese schnöde zurückweisen

(Lamers [CDU/CSU]: Das tun wir doch nicht! Das Gegenteil ist richtig!)

und die Spaltung Europas erneuern und vertiefen. Das ist meine Einschätzung.

(Dr. Wulff [CDU/CSU]: Kompletter Stuß!)

Wir GRÜNEN wollen keine Wiedervereinigung, weil wir das Modell des Nationalstaates und des Einheitsstaates, und zwar gerade auch für Deutschland, für überholt halten.

(Dr. Wulff [CDU/CSU]: Von Ihnen wird nichts anderes erwartet!)

Vielleicht haben wir nicht nur die Tragik der Teilung, sondern auch die Chance der Teilung, nämlich zu erkennen, daß Identität in unserer Zeit für ein Land weit mehr und anderes sein kann, als Nationalstaaterei, daß sie eigentlich überhaupt erst jenseits nationalstaatlicher und Großmachtssehnsüchte beginnen kann.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Sie leben ja auch im freien Teil Deutschlands! Fragen Sie einmal, was die Menschen drüben denken! Diese bornierte Arroganz!)

Wir wollen aber auch — und da bitte ich Sie, jetzt einen Moment zuzuhören — keine Großmacht Europa oder Westeuropa. Wir wollen keinen europäischen Superstaat, der die übrige Welt und auch Osteuropa bestenfalls als Rohstofflager und Absatzmarkt mißbraucht, sondern wir wollen eine tatsächliche gesamteuropäische Zusammenarbeit, und zwar in all den uns angehenden Fragen, die hier zu Recht erwähnt wurden, und das sind ja Fragen, die Ost und West gleichermaßen betreffen. Nehmen Sie die grenzüberschreitende Umweltverschmutzung, nehmen Sie die Fragen der Abrüstung und des Friedens, und nehmen Sie auch die Fragen des kulturellen Austausches und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit.
Aus diesen Gründen finde ich es nicht nur sachlich falsch und außerdem semantisch und inhaltlich blühenden Unsinn, sondern ich finde es auch gefährlich, wenn die SPD — um mich noch zurückhaltender auszudrücken — überall im Bundesgebiet auf ihre Plakate schreibt: „Wir sind Europa. " Ich kann diesen Satz noch nicht einmal denken.
Die Slogans der CDU-Plakate möchte ich hier lieber nicht zitieren. In ihnen lebt sozusagen der Kalte Krieg nach innen, geboren aus der schieren Angst um den Verlust der Macht. Ich denke, diese Plakate, diese
Sprüche, die angeblich aus der Grundsatzabteilung Ihrer Partei stammen, kommen nicht aus der „Abteilung Grundsatz", sondern aus der „Abteilung Bodensatz" Ihrer Union,

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

die offenbar größer ist, als ich bisher vermutet habe. Denn die Gleichsetzung von GRÜNEN und Republikanern, die hier von Herrn Kittelmann soeben vorgenommen worden ist, ist eine Unverschämtheit. Ich glaube, das kann man so deutlich sagen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Ich glaube, es gibt kaum Parteien, die weiter auseinanderliegen.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Ich habe von der Sprache gesprochen!)

Ich glaube übrigens, daß Sie den Republikanern sehr viel näherstehen als wir; aber das ist nicht mein Thema.

(Beifall bei den GRÜNEN und des Abg. Roth [SPD])

Wir wollen nach vorn, über den Nationalstaat hinaus, die Republikaner wollen zurück. Wir wollen nach vorn, hin zu mehr Demokratie, die Republikaner wollen auch hier zurück. Und so ist es eigentlich auf allen Gebieten.
Das bringt mich zu einem ganz zentralen Punkt. Denn wie sieht es mit der Demokratie in dieser EG aus? Die EG ist nicht nur undemokratisch, sondern sie ist vordemokratisch. Gewaltenteilung als Wesensmerkmal der Demokratie — das haben wir doch alle noch in der Schule gelernt — gibt es dort gar nicht. Dort entscheiden nicht die Bürger, wie die Demokratie es verlangen würde, dort entscheiden auch nicht die Parlamente. Es gibt zwar ein Parlament, aber das hat so gut wie nichts zu sagen. In der EG entscheiden die Regierungen. Die Regierungen — und das muß man sich einmal bewußt machen — machen sich ihre Gesetze praktisch selbst. Und wir stehen dann als Deutscher Bundestag da — auch heute wieder mit den mehr als 30 Vorlagen allein in dieser Debatte, von denen hier interessanterweise fast niemand spricht — und wissen gar nicht, was wir damit tun sollen. Denn während wir so tun, als würden wir entscheiden, sind die eigentlichen Entscheidungen längst gefallen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Deshalb ist eine solche EG nicht nur aus den eingangs genannten Gründen, sondern auch deshalb abzulehnen, weil hier in unvorstellbarem Ausmaß Demokratie abgebaut wird und weil dieser Demokratieabbau von den Regierungen ganz bewußt zu etwas benutzt wird, was ich gerne als eine „Thatcherisierung Europas" bezeichnen würde, d. h. zum Abbau von Standards im Umweltbereich, im sozialen Bereich und in vielen weiteren Bereichen, zum Abbau von Standards, die in einzelnen Ländern erreicht worden sind, und zwar in einer Weise, wie er in dem jeweiligen Land selbst niemals durchsetzbar wäre.
Nehmen wir einmal die Grenzwertdiskussion bei radioaktiven Nukliden in der Luft, im Wasser, in den



Häfner
Lebensmitteln. Das wäre hier niemals durchsetzbar und ist absolut lebensgefährlich, was in dem Zusammenhang auf dem Weg über Brüssel diskutiert wird. Das darf und kann nicht hingenommen werden.
Deshalb ist es wichtig — und ich möchte hier ja auch ganz konkrete Vorschläge machen —, daß wir sagen: Die europäische Einigung kann nur bedeuten, daß — und das ist nötig — wir die Freizügigkeit erhöhen, daß wir z. B. Berufsabschlüsse anerkennen, Ausbildungsabschlüsse anerkennen, daß wir die Zollschranken abbauen. All das ist sinnvoll und nötig. Es ist weiter nötig, daß wir im Umweltbereich, in sozialen Fragen und in vielen anderen Bereichen gemeinsame Standards aufstellen, aber Standards, die nicht unterschritten, sehr wohl aber überschritten werden dürfen. Wo kommen wir denn hin, wenn es den Ländern quasi verboten würde, im Sozialbereich, im Umweltbereich mehr zu machen, als die EG-Minister auskungeln

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

bzw. als die Banken, die Bürokraten und die Lobby-vertreter, die zu Tausenden in Brüssel um die Kommission und den Rat herumsitzen, zusammen mit den Regierungsvertretern dort ausbrüten, an der Bevölkerung und an den Interessen der Bevölkerung vorbei?
Deshalb sagen wir nicht nein zu Europa. Das haben Sie falsch verstanden. Wir sagen ja zu Europa. Wir sagen nein zu diesem Gebilde einer EG und haben eine Fülle anderer Vorstellungen, von denen ich nur kurz einige weitere nennen will; die Forderung nach Mindeststandards habe ich bereits skizziert.
Eine Vorstellung ist, daß die Kompetenzen und Zuständigkeiten innerhalb der Organe nach dem basisdemokratischen Prinzip völlig neu verteilt werden müssen, daß die Kompetenzen von Kommission und Rat reduziert, die Kompetenzen des Parlaments erhöht werden müssen, daß Elemente direkter Demokratie, also Bürgerbeteiligung sowohl in Anhörungsverfahren als auch in unmittelbaren Entscheidungsrechten — Volksbegehren und Volksentscheid — eingeführt werden müssen, daß darüber hinaus Instrumente wie Verbandsklage, Akteneinsicht und ein striktes Öffentlichkeitsprinzip eingeführt werden müssen.
Neben all diesen institutionellen Fragen — lassen Sie mich damit schließen — ist Demokratie auch eine Frage der Größe. Wir sollten uns daran erinnern, daß Europa seine historische, seine kulturelle und seine heutige Bedeutung auch durch die Vielgestaltigkeit von Lebensräumen, von Kulturen, von Lebensstilen entwickelt hat.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114907600
Herr Abgeordneter, ich habe Ihre Redezeit großzügig erweitert.

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1114907700
Ich war nicht sicher, wie Sie mit der Redezeit verfahren, die Sie vorhin bei der Zwischenfrage trotz meiner Bitte die Uhr nicht angehalten haben.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114907800
Das habe ich Ihnen angerechnet.

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1114907900
Ich danke Ihnen und komme zum Schluß.
Diese Vielgestaltigkeit müssen wir erhalten. Deshalb ist es wichtig, Europa von unten aufzubauen und nicht, wie es gegenwärtig geschieht, von oben einen neuen Zentralismus oder Eurokratismus.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN — Rappe [Hildesheim] [SPD]: Das ist grüner Nationalismus!)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114908000
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Straßmeir.

Günter Straßmeir (CDU):
Rede ID: ID1114908100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Aspekt der Europäischen Gemeinschaft ist die Vermehrung von sozialer Sicherheit durch wirtschaftliches Wachstum. Eine Grundvoraussetzung dafür ist, daß die Verkehrswirtschaft in der Lage ist, die Wirtschaftsräume untereinander sinnvoll zu verbinden. Deswegen haben wir immer wieder an uns Politiker die Frage zu stellen, ob wir ordnungspolitisch, strukturpolitisch oder auch konzeptionell unseren Ansprüchen und Forderungen gewachsen sind.
Lassen Sie mich das an einem ganz einfachen Beispiel erläutern. Die Mobilität wird wachsen. Der Austausch von Gütern wird wachsen. Bis zum Jahre 2000 wird im Güterverkehr ein Zuwachs von 40 % erwartet werden. Aber es gibt auch Dinge, die den Schatten vorauswerfen. Eine bescheidene Liberalisierung im Flugverkehr oder eine weltweite Entwicklung haben bereits dazu geführt, daß über dem engen geographischen Raum Westeuropas der Stau zum Regelfall geworden ist, auch in Deutschland selbst. Ich meine, das ist nicht nur eine nationale Aufgabe — hier bin ich dem Bundesverkehrsminister Dr. Zimmermann besonders dankbar, daß er zunächst im eigenen Land ansetzen will, um mehr Flexibilität im personellen wie auch im technischen Bereich zu bewirken —, sondern es bedarf auch einer europäischen Lösung.
Für die Sicherheit im Flugverkehr brauchen wir eine Luftverkehrskontrolle und eine Verkehrsflußsteuerung. Ansätze zarter Art bei EUROCONTROL gibt es bereits. Aber erstaunlich ist schon, meine Damen und Herren, wir haben für diesen Bereich in Europa 40 Dienststellen und 22 unterschiedliche Systeme, wobei die Anzahl der Dienststellen gar nicht das Entscheidende wäre. Aber die Systeme sind strekkenweise nicht einmal untereinander kompatibel. Im ernstesten Fall muß manchmal sogar noch das Telefon herhalten. Das kann es wohl nicht sein.
Ein weiterer Punkt, wo noch ein gewisser Nachholbedarf europäischer Art besteht, ist ein wirklich durchgreifendes Eisenbahnkonzept. Ich glaube schon, daß es durch die größeren Räume, durch die höheren Geschwindigkeiten, die in der Bahn gefahren werden können, aber auch durch die Knappheit des Luftraumes und die begrenzte Aufnahmefähigkeit unserer Straßen durchaus sinnvoll erscheint, das umweltfreundliche, das sichere Verkehrsmittel Eisenbahn zu stärken.
Aber auch hier gibt es Fragen, die zu klären sind. Warum kann der TGV nicht in der Bundesrepublik Deutschland, der ICE nicht in Frankreich fahren?



Straßmeir
Warum müssen unterschiedliche Stromversorgungs-
und Signaltechniken Europa scheitern lassen? Hier könnten die Regierungen tätig werden, insbesondere deshalb, weil es sich um Staatsunternehmungen handelt. Das heißt, es könnte sogar im Wege der Anordnung einiges geschehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

All diese Punkte brauchen nicht darüber hinwegzutäuschen, daß natürlich auch der Straßenverkehr, daß das Europastraßennetz wie das Hochgeschwindigkeitsnetz der Eisenbahn weiter ausgebaut werden müssen. Ich glaube auch, daß in diesem Hause bei allen Auseinandersetzungen überhaupt kein Zweifel darüber besteht, daß der Straßengüterverkehr Zuwachs haben wird und daß er nicht wegzudenken ist. Nur, es kann keine Alternative der Bahn sein, zu sagen: Die werden schneller spurten als wir, weil sie mittelständisch strukturiert sind. Und deswegen müssen wir mit Verlusten rechnen. — Nein, auf beiden Feldern muß aktive Politik betrieben werden.
Wir haben auf dem Wege nach Europa versprochen, daß Liberalisierung mit Harmonisierung einhergehen solle. Die Bundesregierung hat auf diesem Feld Erfolge erstritten. Ich denke an Maße und Gewichte, an Sozialvorschriften. Der schwerste Brocken ist noch nicht ausgestanden. Das sind die Fiskalverzerrungen in den Belastungen. Hier haben wir mit der Straßenbenutzungsgebühr einen Weg beschritten, der wenigstens ein Einstieg oder ein Anreiz sein soll, eine europäische Diskussion zu beschleunigen, um zu einem einheitlichen europäischen System zu kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Also, Harmonisierungsbeschleuniger und nicht etwa ein falscher Weg nach Europa, der hier gegangen werden soll.
Auch ich glaube, daß das Straßengüterverkehrsgewerbe mittelständisch orientiert den Weg gehen kann. Wir werden es dabei nach all unseren Kräften unterstützen. Eines sollen Sie als Gewißheit mitnehmen: Der Verkehrsmarkt ist eine Wachstumsbranche. Hier gilt es, daß wir uns den deutschen Anteil in einem europäischen System sichern.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114908200
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Antretter.

Robert Antretter (SPD):
Rede ID: ID1114908300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stimmen darin überein, Herr Kollege Straßmeir, daß es zu Europa und zur EG keine Alternative gibt. Dies hat auch der Verlauf der Debatte deutlich gemacht. Auch daß wir den europäischen Binnenmarkt brauchen, ist unbestritten. Auch darüber, daß leistungsfähige Verkehrssysteme für ein geeintes Europa eine unverzichtbare Voraussetzung sind, gibt es Einvernehmen. Aber Sie ziehen aus diesen Herausforderungen entweder die falschen oder gar keine Konsequenzen, z. B. im Blick auf die Interessen der deutschen Verkehrswirtschaft.
Der europäische Straßengüterverkehr braucht faire Wettbewerbsbedingungen. Ich stelle dem ausdrücklich voran: Auch wer wie wir will, entschieden will, daß Güter über lange Strecken auf die Schiene kommen, kann nicht akzeptieren, daß der verbleibende Straßengüterverkehr zu ungleichen Bedingungen und zu Lasten der deutschen Verkehrsunternehmen stattfindet.
Mit einem Wort also: der europäische Straßengüterverkehr braucht faire Wettbewerbschancen. Er wird derzeit geprägt durch massive Wettbewerbsverzerrungen. Allein bei der Kraftfahrzeugsteuer und der Mineralölsteuer gibt es erhebliche Differenzen zu Lasten der deutschen Verkehrsunternehmen.
Die Liberalisierung des Verkehrsmarkts, wie Sie sie verstehen, wird zu einem ungeheuerlichen Verdrängungsprozeß zwischen den einzelnen Verkehrsunternehmen führen. Das Gegenteil davon zu erreichen, wäre das Gebot der Stunde. Der Druck auf die Personalkosten, der schon jetzt sehr hoch ist, wird zunehmen. Bei der Bundesbahn erleben wir dies jetzt schon tagtäglich. Fast grenzenlos wird Personal abgebaut, wird der Leistungsdruck erhöht. Ein nahezu gleiches Verkehrsaufkommen wie vor 30 Jahren bewältigen heute halb so viele Eisenbahner wie damals.
Im Güterverkehrsgewerbe zwingt eine zunehmende Zahl von Großunternehmen die bisher bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmer in die sogenannte Selbständigkeit. Sie werden zu Subunternehmern der Großen gemacht. Durch diese Entlassung in die Selbstausbeutung verlieren die Betroffenen alle in langem gewerkschaftlichen Kampf erstrittenen Rechte wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Jahresurlaub, festen Lohn und geregelte Arbeitszeit. Gezwungenermaßen tauschen sie einen sicheren Arbeitsplatz gegen ein Leben als abhängiger Subunternehmer, der stets vom Ruin bedroht ist. Und oftmals wird die ganze Familie eingespannt, nur um den finanziellen Zusammenbruch zu vermeiden.
Diese soziale Ausbeutung wird von einer Ausbeutung der Natur flankiert. Der Verkehr ist inzwischen zum größten Luftverschmutzer geworden.

(Zustimmung bei der SPD)

Alle Fachleute sind besorgt über drohende Klimaveränderungen, das Ozonloch über Nord- und Südpol und die Ozonbelastung in der Atemluft. Über 50 % des Waldes sind geschädigt. Hauptverursacher für diese Entwicklungen sind die Stickoxidemissionen, von denen 57 % aus dem Straßenverkehr stammen. Der Verkehr ist in vorderer Linie an der Verseuchung des Trinkwassers beteiligt. Und schließlich: Er verbraucht 20 % unserer Energievorräte.
Herr Verkehrsminister, so, als ob es all das nicht gäbe, lassen Sie zu, daß eine europäische Verkehrspolitik gerade die Verkehrsträger fördert, die besonders umweltschädlich sind.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114908400
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Robert Antretter (SPD):
Rede ID: ID1114908500
Natürlich.




Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1114908600
Herr Abgeordneter, nach den wohltuenden Worten möchte ich Sie als leidgeprüften Anwohner eines Alpengebietes fragen: Glauben Sie erstens, daß die Bundesregierung im Interesse der deutschen oder europäischen Bevölkerung handelt, wenn sie in der Weise, wie es gegenwärtig geschieht, auf die österreichische Regierung Druck ausübt, und glauben Sie zweitens, daß die österreichische Regierung die Möglichkeit zu Einschränkungen im Güterverkehr über die Alpen überhaupt noch hätte, wenn Österreich — heute wird gemeldet, daß es Mitglied werden möchte — Mitglied der EG wäre?

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Deshalb muß es ja vorher passieren!)


Robert Antretter (SPD):
Rede ID: ID1114908700
Herr Kollege, Sie dürfen mich beim Wort nehmen, wenn ich nicht im weiteren Verlauf meiner Rede noch auf diese Frage eingehe. Ich möchte jetzt aus zeitökonomischen Gründen fortfahren. Ich nehme dazu ausführlich Stellung. — Ich bedanke mich für Ihr Verständnis.
Wenn Sie nicht wollen, Herr Bundesverkehrsminister, daß den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes die Europäische Gemeinschaft gestohlen bleiben kann, dann müssen Sie Schluß machen mit der Bevorzugung von Nutzfahrzeugen aus anderen EG-Ländern.
Die Position der Sozialdemokraten hierzu ist seit je klar: Mehr Marktwirtschaft im Verkehrsbereich setzt voraus, daß die unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen gleichzeitig und gleichwertig harmonisiert werden. Aber Sie kämpfen in Brüssel nicht für eine verantwortliche europäische Verkehrspolitik. Sie treten nicht für eine radikale Umorientierung der Verkehrspolitik ein, die nötig wäre.
Im Gegenteil: Sie üben — damit komme ich auch zur Antwort auf die Frage des Kollegen von den GRÜNEN — Druck auf die Alpenländer aus, Sie ignorieren, daß die Menschen immer weniger bereit sind, mit dem Lärm und den Abgasemissionen der deutschen Transportfahrzeuge zu leben. Das Nachtfahrverbot in Tirol ist die notwendige Folge einer europäischen Verkehrspolitik, die auf die elementaren Bedürfnisse der Menschen zuwenig Rücksicht nimmt.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Ich sage Ihnen: Das wird kein Einzelfall bleiben. In anderen Ländern wird es ähnliche Entwicklungen geben.
Da ist es zu wenig, wenn Ihnen, Herr Minister Zimmermann, etwa auf entsprechende Fragen des „heute"-Journals nichts anderes als die versteckte Drohung einfällt, Österreich den möglichen Eintritt in die Europäische Gemeinschaft zu verwehren, zumal Sie in derselben Sendung ja zugegeben haben, daß sich der Verkehr nicht von heute auf morgen entwikkelt hat.
In der Tat, es war seit Jahren vorauszusehen, was sich auf den Straßen der Alpenländer abspielen würde. Seit langem ist klar, daß die im Alpenraum besonders niedrigen Belastbarkeitsgrenzen der natürlichen Lebensgrundlagen entlang der Transitkorridore längst überschritten sind, daß Gesundheit und Existenzgrundlagen der Bevölkerung längst gefährdet sind, daß in Tirol und Vorarlberg kein Kandidat mehr in ein Parlament gewählt wird, der sich gegen das Nachtfahrverbot ausspricht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Terror!)

Obwohl der jetzt angekündigte Schritt Österreichs nur eine Frage der Zeit war, hat sich die Bundesregierung — ebenso wie übrigens auch die bayerische Staatsregierung; selbstverständlich kann die EG-Kommission von dieser Kritik nicht ausgenommen werden — selbstherrlich auf die Wirkung angekündigter Vergeltungsmaßnahmen verlassen so etwa nach dem Motto: Die werden sich schon nicht trauen.

(Roth [SPD]: Sicher!)

Sie sollten an der Seite dieser Länder stehen, wenn Sie das Schlimmste auch für unsere Verkehrswirtschaft in Auswirkung dieser Schritte verhindern wollen. Sie sollten sie nicht darüber im unklaren lassen, daß auch die Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik größtes Interesse daran haben, vor dem Brüsseler Straßenverkehrsfanatismus geschützt zu werden. Sie sollten die EG-Kommission zu einer Kurskorrektur auffordern und nicht Druck auf Österreich und die Schweiz ausüben.

(Beifall der Abg. Frau Flinner [GRÜNE])

Sie sollten der Kommission sagen, wenn sie mit ihrer Verkehrspolitik so weiter macht wie bisher, wird sie den Ruf Europas in Umweltfragen ruinieren. Sie sollten in Brüssel deutlich machen, daß wir vor Eintritt in den EG-Binnenmarkt Pflöcke einschlagen werden, wenn keine verkehrspolitische Vernunft zu erwarten ist.
Nicht nur der Alpenländer wegen sollten Sie dies tun; die Bundesrepublik Deutschland ist das größte Transitland in Europa. Allein deshalb hätten Sie schon längst durchsetzen müssen, daß insbesondere für den europäischen Transitverkehr ein Gesamtverkehrskonzept erstellt wird, in dem der grenzüberschreitende kombinierte Verkehr wachsende Aufgaben übernehmen muß. Dazu gehört: Der alpenüberquerende Verkehr muß bereits durch die Bundesrepublik Deutschland auf der Schiene transportiert werden.

(Beifall der Abg. Frau Wieczorek-Zeul [SPD] und Frau Flinner [GRÜNE])

Nun komme ich zu einem traurigeren Kapitel christdemokratischer, christlich sozialer und liberaler Kontinuität in der Verkehrspolitik. Ich meine das Tempolimit. Wenn Sie, Herr Bundesverkehrsminister, auf die Frage eines Fernsehpublizisten, ob denn die Unfallzahlen nicht doch ein Tempolimit erzwängen, mit der durch keine Erfahrungswerte mehr zu rechtfertigenden Antwort kommen, ein generelles Tempolimit sei nicht nötig, weil es keine steigenden Unfallzahlen gebe, dann ist dies nicht nur falsch, was die Zahlen betrifft, sondern es ist unverantwortlich, was die Schwere der Unfälle angeht, und es ignoriert letztlich alle Erkenntnisse, die wir bei Modellversuchen bekommen haben und die selbst Ihr eigenes Haus und ihm angeschlossene Behörden einräumen müssen.
Wir wissen natürlich — wer wüßte es besser — : Die Ingenieure der deutschen Automobilindustrie und die Arbeiterinnen und Arbeiter von Ingolstadt über Mün-



Antretter
chen, Neckarsulm, Zupfenhausen, Untertürkheim, Rüsselsheim und Köln bis Wolfsburg machen die besten Autos der Welt.

(Roth [SPD]: Bochum!) — Diejenigen von Bochum dazu.

Aber, meine Damen und Herren, jenen Kreisen, die an vorderster Front stehen, wenn es gegen den sozialen Fortschritt und das Mitbestimmungsrecht geht, war und ist auch kein Argument jemals zu fadenscheinig gewesen, wenn es darum ging, von der Politik als richtig erkannte Maßnahmen für die Umwelt, und sei es nur ein paar Jahre, hinauszuschieben.
Das war so, als die Verkehrsminister Gscheidle und Hauff erfolgreich den Bleigehalt im Benzin gesenkt haben. Da wurde das Totschlagsargument Arbeitsplätze in die Diskussion gebracht. Gott sei Dank: Die Luft wurde sauberer; aber es hat keinen Arbeitsplatz gekostet.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Das war so, als Sie längst kein Auto ohne Katalysator mehr in die Vereinigten Staaten exportieren durften. Da haben Sie uns noch erzählt, das sei ohne betriebliche Belastungen, die Arbeitsplätze kosten würden, nicht möglich. Ich bin sicher: Das Gegenteil wird sich als richtig herausstellen, wenn die jüngsten Beschlüsse von Brüssel, die von Frau Wieczorek-Zeul heute bereits gewürdigt wurden, einigermaßen Wirkung zeigen.
Diesen Leuten ist auch kein Argument zu verantwortungslos, wenn es darum geht, ein Tempolimit zu verhindern. Da können die Amerikaner noch solange Tempo 90 auf ihren 6- und 8spurigen Highways fahren; da können die Kanadier Tempo 100 fahren und die Italiener die besten Erfolge mit ihren Tempolimits in den Ferien erzielen. Sie werden uns weiterhin einreden, daß ein Tempolimit mehr Staus verursacht, obgleich das Gegenteil der Fall ist, daß ein Tempolimit mehr Umweltschäden verursacht, obgleich längst bewiesen ist, daß dies nicht stimmt, daß ein Tempolimit mehr Gefahren verursacht, weil man angeblich ermüdet, obgleich alle Versuche das Gegenteil beweisen.
Ich möchte Sie ermutigen, Herr Minister Zimmermann, am Beispiel des Tempolimits einmal zu zeigen, wer das Sagen in diesem Staat hat. Es geht um mehr Rechte — so haben wir heute festgestellt — für das Europäische Parlament. Aber es geht darüber hinaus für alle Parlamente darum, wer eigentlich die Macht ausübt.
In Brüssel verhindert Peugeot strengere Abgaswerte gegen den Willen des Europäischen Parlaments. Bei uns bestimmt Coca Cola über die Plastikeinwegflaschen über den Kopf des Bundestages hinweg.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

In Kiel sprechen Kernkraftwerksbetreiber der Politik das Recht ab, aus der Kernenergie auszusteigen, ohne Rücksicht auf die neuen Mehrheitsverhältnisse im schleswig-holsteinischen Landtag.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es wird höchste Zeit, daß Abgeordnete aller Parlamente dagegen aufstehen und sagen: Es darf nicht sein, daß Großunternehmen und Bürokratien immer mehr Macht bekommen und die vom Volk gewählten Abgeordneten immer weniger zu sagen haben.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Auch wenn das Europäische Parlament noch immer zu wenig Kompetenzen hat, die Abgeordneten in Straßburg haben ihre Möglichkeiten ausgeschöpft. Mehr und mehr müssen Kommission und Rat den Überlegungen des Parlaments entsprechen. An klaren Voten der europäischen Volksvertretung kommen sie immer weniger vorbei. Wir haben deshalb Vertrauen und setzen Hoffnungen in das Europäische Parlament.
Bei unseren Erwartungen steht die europäische Verkehrsmarktordnung ganz oben. In vielen EG-Ländern wurde in den letzten Jahren durch den Neu- und Ausbau von Strecken sowie die Beschaffung von Hochgeschwindigkeitszügen eine Renaissance des Schienenverkehrs eingeleitet; nun kommt es darauf an, diese Möglichkeiten zu verknüpfen.
Unsere Forderungen an die europäische Verkehrspolitik konzentrieren sich auf drei Punkte: die Gleichstellung der Bahn mit ihren Konkurrenten, die Förderung des sozialen Fortschritts und den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Ein Europa des sozialen Fortschritts, das hilft, die Gräben zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West, zwischen arm und reich zuzuschütten, ein Europa, das sich aktiv für den Erhalt unserer Umwelt einsetzt, das sind die Bausteine, mit denen wir Europa errichten müssen. Die Gewinner werden dann die Bürger und Bürgerinnen dieses Kontinents sein, und alle demokratischen Kräfte, die hier in diesem unseren Parlament sind, werden mit dem verstärkten Vertrauen unserer Wähler ausgestattet werden, und jene, die mit den Schlagworten und den Rezepten des vorigen Jahrhunderts der Zukunft in den Weg treten, werden vor den Türen des Hauses bleiben, in dem wir ein Europa der Freiheit, der Menschenrechte, des Friedens und der Solidarität bauen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114908800
Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Verkehr das Wort.

(Schreiner [SPD]: Lügen haben kurze Beine!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1114908900
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Die Rede des Kollegen Antretter war leider ein Musterbeispiel dafür, wie man mit Tempolimit und Tempo 130 umgeht; es war nämlich reine Ideologie, sonst nichts.

(Beifall bei der CDU/CSU — Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Sie haben doch von der EG überhaupt keine Ahnung! Das umweltfreundliche Auto haben Sie nicht durchgesetzt! — Weitere Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)




Bundesminister Dr. Zimmermann
Aber mit Ideologie kommt man gerade beim deutschen und europäischen Verkehr nicht weiter, und das bestimmt selbstverständlich auch unser Verhältnis zur Schweiz und zu Österreich. Der Verkehrsministerrat in Luxemburg hat einstimmig dem zuständigen EG-Kommissar aufgetragen, die Verhandlungen zu führen, weil der Brenner-Verkehr zu 31 % von der Bundesrepublik Deutschland, zu 85 % von allen EG-Ländern frequentiert wird. Deswegen ist das eine Angelegenheit der Europäischen Gemeinschaft.
Wir drohen überhaupt niemandem, wir wollen uns nur nicht gern vorstellen, wie das ist, wenn deutsche, italienische, holländische und alle anderen schweren Lastfahrzeuge um 22 Uhr in Österreich stehenbleiben oder nicht nach Österreich hineinfahren und um 5 Uhr gemeinsam wieder starten. Den Anblick dieser paar tausend Lastwagen möchte ich mir bitte ersparen. Wenn nichts geschieht, stellen wir uns bitte vor: Der österreichische Lkw fährt weiter durch Italien und durch die Bundesrepublik Deutschland und winkt seinen Kollegen, die draußen am Straßenrand die Zwangsrast von 7 Stunden veranstalten müssen, zu.

(Stratmann [GRÜNE]: Dann können die endlich mal ausschlafen!)

Das möchte ich mir auch einmal vorstellen. Das sind die Probleme, und die sind nicht mit Ideologie und solchen Appellen, wie Sie sie hier gerade vorgetragen haben, zu lösen.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114909000
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Brück?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1114909100
Gerne.

Alwin Brück (SPD):
Rede ID: ID1114909200
Herr Bundesminister, würden Sie sagen, es sei Ideologie, daß Sie sich dann, wenn jede Nacht Tausende von schweren Lkw an Ihrem Fenster vorbeifahren, dagegen beschweren würden? Ist das dann Ideologie?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1114909300
Natürlich nicht. Nur ist diese Brennerautobahn nicht vom Himmel gefallen, sie wird auch nicht von der EG finanziert, sondern der Tiroler Landeshauptmann, mein alter Freund Eduard Wallnöfer, hat zweieinhalb Jahrzehnte seines Lebens damit verbracht, diese Autobahn endlich auf die Beine zu bringen, nämlich zur Entlastung der alten Brennerstraße. So ist das natürlich.

(Dr. Soell [SPD]: Aber doch nicht mit dem Verkehrsbesatz! Das ist das Fünfbis Sechsfache! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Selbstverständlich mit Einverständnis der Wiener Regierung. Das ist ganz klar, alle haben an einem Strick gezogen.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114909400
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1114909500
Sie gestatten, daß ich meine lächerlichen fünf Minuten Redezeit jetzt auf andere Weise verbringe, als mit Ihnen hier ein Rede- und Antwortspiel aufzuführen.
Wir nehmen diesen europäischen Verkehrsmarkt sehr ernst. Alle Verbände waren schon beim neuen Verkehrsminister. Nur, nach 50 Tagen Amtszeit, möchte ich bitte nicht für alles verantwortlich gemacht werden, was in den letzten 40 Jahren an Verkehrspolitik gewesen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

100 Tage müßten es schon sein. Das gilt auch beim neuen Verkehrsminister.

(Zurufe von der SPD)

Bei Herrn Dollinger und Herrn Warnke haben jedenfalls die Schiene und die Bundesbahn eine neue Zukunft erhalten. Diese Zukunft haben sie bei Ihnen nie gehabt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei Ihnen, bei den Herren SPD-Verkehrsministern, war die Sache ganz traurig. Das wissen Sie ganz genau. Jetzt, nachdem die Bundesbahn im letzten Jahr 6 Milliarden DM investierte, in diesem Jahr 6 Milliarden DM investiert und wo der Personalabbau, der notwendig war, ohne soziale Härten verkraftet worden ist, hat die Bahn wieder Zukunft. Sie dürfen mir glauben, daß ich bei sämtlichen Gewerkschaften, die für die Bahn zuständig sind, war. Wir hatten durchaus den Eindruck, daß die Gewerkschaften der deutschen Verkehrspolitik und diesem Verkehrsminister Zutrauen in bezug auf seine Durchsetzungsfähigkeit und in die Zukunftsvisionen entgegenbringen, die er für die Deutsche Bundesbahn hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen lassen wir uns auch vom europäischen Markt nicht schrecken. Wir brauchen selbstverständlich Harmonisierungen. Wenn wir Liberalisierung wollen, ist die Harmonisierung genauso wichtig. Jene Dinge, wo die Deutschen unterbewertet sind und wo sie zu große Lasten zu tragen haben, müssen weg. Es ist das Ziel unserer Verkehrspolitik, daß hier Gleichheit und Harmonie bei aller Notwendigkeit der Liberalisierung herrschen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben überhaupt keine Beschwerden und Bedenken, daß uns das nicht gelingt. Weil es die fiskalische Liberalisierung noch nicht gibt, machen wir die Straßenbenutzungsgebühr. Bei allen Herausforderungen, die auch in der europäischen Verkehrspolitik zu bewältigen sind, gilt: Wir begreifen Europa als Chance, zu der es keine Alternative gibt. Wir nehmen die Zukunftsperspektiven auf. Wir werden sie gemeinsam mit unseren Partnern lösen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114909600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Freiherr von Schorlemer.

Freiherr Reinhard von Schorlemer (CDU):
Rede ID: ID1114909700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Europäische Gemeinschaft, deren große Vorteile für die deutsche Wirtschaft gerade auch als Exportwirtschaft hier zu Recht herausgestellt worden ist, wäre nicht gegründet worden, wenn zu Beginn die Landwirtschaft nicht als voll integrierter Politikbereich ein-



Freiherr von Schorlemer
bezogen worden wäre. Für mich hat deshalb auch die deutsche Landwirtschaft gleichsam die Eintrittskarte für den erfolgreichen Zug Europas bezahlt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zunächst war dies einfach. Mengenprobleme drückten uns nicht. Aber schon bald stellte sich heraus, daß zwei wesentliche Punkte — und wahrscheinlich war dies auch gar nicht möglich — nicht geregelt worden waren. Dies war zum einen die Schaffung einer gemeinsamen Währung — wobei ich überhaupt nicht verkenne, wie schwierig das ist — und zum anderen die Verhinderung von nationalen Wettbewerbsverzerrungen. Dies sind — neben der Lösung des Mengenproblems — für mich die entscheidenden Punkte, warum z. B. im Vergleich der Einkommenssituation im Betriebsbereich von Vollerwerbsbetrieben in den Jahren 1983 und 1986 durchschnittlich nach den Niederlanden, Dänemark, Belgien/Luxemburg, Großbritannien und Frankreich mit 22 400 DM an sechster Stelle je Arbeitskraft die deutsche Landwirtschaft liegt, wobei der Spitzenreiter, die Niederlande, bei 50 400 DM pro AK liegt. Trotzdem — und dies sage ich mit aller Ausdrücklichkeit — gibt es zu Europa — auch für die deutsche Landwirtschaft — keine Alternative.
Aber was folgere ich daraus? Wir unterstützen leidenschaftlich den Bundeskanzler — und dies gerade aus agrarischer Sicht — , konsequent weiter für eine gemeinsame Währungspolitik und Währung zu kämpfen, wobei die Stabilitätspolitik der Bundesbank und der Bundesregierung nicht verhandelbar sind. Ich bin weiter davon überzeugt, daß nach 1993 mit beginnendem Binnenmarkt diese Forderung sehr lautstark von vielen anderen Politik- und Wirtschaftsbereichen unterstützt wird. Daher muß der Grenzausgleich bis zu einer generellen Regelung weiter bestehen bleiben, denn solange es keine einheitliche Währung in der EG gibt, müssen währungspolitische Unterschiede ausgeglichen werden. Aber das Abbauen von Wettbewerbsverzerrungen muß dabei nicht aus dem Auge verloren werden. Ich nenne hier als Beispiel sieben Punkte.
Erstens. Noch vorhandene Unterschiede bei der Mehrwertsteuer.
Zweitens. Große Strukturunterschiede.
Drittens. Unterschiedliche Anwendung von EG-Verordnungen, z. B. im Umweltschutz.
Viertens. Unterschiedliche Belastungen im Baurecht.
Fünftens. Unterschiedliche Tierschutzbestimmungen.
Sechstens. Unterschiedliche lebensmittelrechtliche Bestimmungen. — Verehrter Herr Kollege Brück, Sie haben vorhin zitiert, was alles in der Wurst drin ist. Ich habe hier z. B. Angaben über alles, was im Sprudel ist. Das versteht wahrscheinlich nur der Chemiker Fritz Gautier. Die anderen können das gar nicht ensprechend aufnehmen. — Verehrte Kollegin, da ich sehr daran interessiert bin, daß sogleich auch noch der verehrte Kollege Prof. Wulff zu Wort kommt, bitte ich um Verständnis dafür, daß ich hier auf Zwischenfragen nicht eingehen werde.
Siebentens geht es um völlig unterschiedliche Vermarktungsstrukturen. Ich sage damit nicht, daß Bestimmungen im Umweltschutz, im Tierschutz und bei lebensmittelrechtlichen Fragen unwichtig sind. Sie müssen europäisch einheitlich sein und dürfen sich nicht wettbewerbsverzerrend für die deutsche Landwirtschaft auswirken. Das bedeutet kein Zurück, sondern die Forderung schnellerer, genereller, einheitlicher und gemeinsamer Regelungen in der EG.
In den vergangenen Jahren sind erhebliche finanzielle Mittel zur Unterstützung der Landwirtschaft in diesen Bereich geflossen. Sie galten der Mengenregelung. Nur, zur Zeit erleben die Bauern der Bundesrepublik Deutschland ein unsolidarisches europäisches Verhalten. Die deutschen Landwirte greifen das Angebot des erfolgreichen EG-Gipfels unter deutscher Präsidentschaft auf, nehmen zur Mengenbegrenzung Flächen aus der Produktion und legen sie still. Die meisten EG-Partner nehmen dieses Angebot sehr restriktiv auf.
Dadurch entsteht folgendes Ergebnis. Die Getreidemengen überschreiten in der EG 160 Millionen t. Es greifen nunmehr Preisabschläge von jährlich 3 % und die Beibehaltung der Mitverantwortungsabgabe. Das ist natürlich für die Deutschen völlig unverständlich. Sie haben doch durch Flächenherausnahme schon ihren Mengenbegrenzungsanteil erbracht. Jetzt werden sie auch noch zum Preissenkungsanteil herangezogen.

(Frau Wollny [GRÜNE]: So ist das! — Eigen [CDU/CSU]: Ganz unerhört!)

Daher an den Herrn Bundeskanzler und die Bundesregierung die herzliche Bitte auch von dieser Stelle: Das muß auf dem nächsten europäischen Gipfel zur Sprache kommen, damit die Verdrossenheit über unsere europäischen Partner innerhalb der Landwirtschaft nicht weiter steigt.
Die Mengenbegrenzung ist auch deshalb für die Europäische Gemeinschaft notwendig, weil wir nur dadurch bei den GATT-Verhandlungen mit NichtEG-Ländern zu Ergebnissen kommen.
Ich bin überzeugt, daß sich die Bundesregierung, vornehmlich unser Bundeskanzler, engagiert für die Interessen der deutschen Landwirte in Europa einsetzen. Einige Punkte, die geregelt werden müssen, habe ich hier angesprochen. Denn es ist so, wie es unser Bundespräsident Richard von Weizsäcker anläßlich der Grünen Woche 1989 in Berlin formulierte:
Ich denke, keiner entzieht sich mehr der zwingenden Erkenntnis, daß Europa um seiner selbst willen und wegen seiner globalen Verantwortung an seinen agrarpolitischen Problemen nicht wird scheitern dürfen.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114909800
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gautier.

Dr. Fritz Gautier (SPD):
Rede ID: ID1114909900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Abgeordneter Schorlemer, ich werde mich wahrscheinlich zu Ihrer großen Enttäuschung nicht mit all den Sachen auseinandersetzen,



Dr. Gautier
die im Sprudelwasser sind. Sie müssen mir sonst längere Redezeit geben, damit ich Ihnen das erklären könnte, falls ich es denn kann.
Ich habe die Absicht, mich mit ein paar Argumenten auseinanderzusetzen, die heute morgen in der Debatte gebracht wurden. Zunächst gehe ich auf die von den GRÜNEN aufgestellte Behauptung ein, die Europäische Gemeinschaft sei ein großer Moloch, und es herrsche ein Zentralismus, wo Bürokraten in Brüssel zusammensitzen, die nichts anderes im Kopf haben, als die Bürger zu bescheißen und zum ManchesterKapitalismus zurückzukommen.

(Häfner [GRÜNE]: Stimmt das nicht? — Frau Flinner [GRÜNE]: Ist das dann anders?)

Sie sagen: Diese EG wollen Sie nicht. Zugleich stellen Sie eine Palette von Forderungen auf, was dieses Europa alles machen soll. Man muß sich entscheiden,

(Häfner [GRÜNE]: Aber wie?)

was für ein Bild von Europa man haben will und was man dort institutionell verwirklichen will. Ich glaube, Ihr Bild ist etwas getrübt, denn die Wirklichkeit sieht etwas anders aus. Da Sie des Zeitungslesens sicher kundig sind, verweise ich beispielsweise auf etwas, was heute in der „Frankfurter Rundschau" steht, nämlich daß Europa offensichtlich mehr als die Verwirklichung von Markt — oder wie auch immer — ist. Da steht: „EG klagt gegen Bonn wegen Verletzung der Vogelschutzrichtlinie bei der Eindeichung der Ley-bucht. "

(Frau Wollny [GRÜNE]: Toll!)

Zum Beispiel ist Europa auch ein Ansatz für Internationale Umweltpolitik. Das wollen wir als Sozialdemokraten, das wollen wir auch inhaltlich gestalten. Sie selber haben heute morgen in der Geschäftsordnungsdebatte — da waren Sie noch nicht da; das war eine Kollegin von Ihnen — die Absetzung der Raumordnungs-Novelle beantragt, weil es eine ungenügende Umsetzung der Umweltverträglichkeitsprüfung der Europäischen Gemeinschaft sei.
Das heißt, es gibt eine Palette von Dingen, die wir eigentlich gemeinsam teilen, nämlich daß in der Europäischen Gemeinschaft Fortschritte in wesentlichen umweltpolitischen Fragen erbracht werden, und zwar auch für die Bundesrepublik Deutschland. Auf diesem Weg wollen wir weitergehen. Als wir gestern im Wirtschaftsausschuß die Diskussion mit den Vertretern der EG-Kommission über entwicklungspolitische Fragen, nämlich die Fortsetzung und Neufassung des LoméAbkommens hatten, haben ihre eigenen Vertreter gesagt, das die Europäische Gemeinschaft mit dem Lomé-Abkommen eine relativ vorbildliche Entwicklungspolitik betreibt, und zwar im Gegensatz zu vielen anderen Institutionen. Sie müssen sich da schon einmal verständigen auf irgendein Bild von der Gemeinschaft, das Sie dann haben und das Sie anschließend politisch gestalten wollen.
Wenn wir Sozialdemokraten ja zum Binnenmarkt sagen, dann stehen wir auch dazu. Das ist aber auch mehr, denn auch die kulturelle Vielfalt ist ein Teil von Europa. Dazu zählen dann eben auch Austauschprogramme für Studenten und für Auszubildende. Dazu gehört aber auch, daß man solche Programme auch
mal mitfinanzieren muß. Hier ein Wort an die Bundesregierung: Bei dem Programm Erasmus und anderen hat es genügend Schwierigkeiten gegeben, bis die Bundesregierung im Finanzausschuß zustimmte.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ist doch geregelt! — Staatsminister Frau Dr. Adam-Schwaetzer: Wir finanzieren doch!)

— Jetzt, nach langem Druck stimmten sie dem ja auch zu; aber es bedurfte starken Drucks, um das zu erreichen.
Nun zur Frage Zentralismus und regionale Entscheidungen. Wahrscheinlich ist niemand hier im Raum — wir als Sozialdemokraten sind sicher nicht dafür — , der sagt, es solle alles in Brüssel entschieden werden. Das ist doch Unsinn. Was vor Ort in der Gemeinde oder im Lande entschieden werden kann, soll auch dort entschieden werden. Es kann aber doch nicht Gegenstand unserer Politik sein, daß das Land Niedersachsen die Währungshoheit bekommt. Das ist doch wohl ein bißchen illusionär.

(Beifall und Heiterkeit bei der SPD)

Herr Stratmann, wir wollen die Währungsunion auf europäischer Ebene weiter vorantreiben, weil wir glauben, nur so einen Teil politischer Autonomie wiedergewinnen zu können. Denn, je kleinstaaterischer wir darangehen, desto mehr wird die Währungspolitik ausschließlich von Washington entschieden. Wir wollen aber dort wieder selber ein Wort mitreden können. Das ist der Sinn dessen, wenn wir sagen, wir wollen die Währungsunion in Europa verwirklichen.
Ein zweiter Punkt betrifft Zentralismus und Bürokratie, was ja in vielen Reden vorkam. Natürlich muß man versuchen die Bürokratie, wo sie unsinnig ist, auf jeder Ebene zu bekämpfen und zu beseitigen, egal ob auf europäischer, auf nationaler oder auf Landesebene. Da können wir alle ein Lied von singen. Deswegen haben wir z. B. auch einen Ansatz, den wir für zu zentralistisch hielten, heute auf der Tagesordnung. Es wurde schon gesagt, keiner redet über das, was wir auf der Tagesordnung haben. Lesen Sie doch einmal die Dokumente. Zum Beispiel steht heute auf der Tagesordnung die EG-Richtlinie zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften bei der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge. So heißt es korrekt. Wenn Sie da mal einen Blick hineinwerfen, dann werden Sie feststellen, daß wir mehrheitlich dem Bundestag einen Beschluß dahingehend vorschlagen, daß wir zentralistische Eingriffsmöglichkeiten seitens der EG-Kommission, die bis zur Aussetzung des Verfahrens bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge bis vor Ort gehen sollen, nicht haben wollen, weil wir das für zu zentralistisch halten. Wir meinen hingegen, daß die Rechtsvorschriften durchweg von denjenigen, die die Verwaltung in den Gemeinden oder auf Landesebene machen, durchaus eingehalten werden können, ohne daß dies zentralistisch von Brüssel aus geschehen muß.

(Zuruf von den GRÜNEN: Sehr richtig!)

Es ist aber auch so, daß wir in vielen Bereichen eine erfreuliche Entwicklung innerhalb Europas haben. Es ist die Hoffnung vieler Menschen, daß die weitere europäische Einigung gerade zu einer größeren re-



Dr. Gautier
gionalen Autonomie führt, und zwar nicht nur bei uns, sondern auch in vielen anderen Ländern. Gucken Sie sich nur die Diskussionen in Italien, in Spanien und überall an, wo man sich mehr Möglichkeiten verspricht, all das regional zu entscheiden, was man so entscheiden will.
Lassen Sie mich dazu ein Beispiel anführen. Wir diskutieren im Augenblick überall in den Regionen die Frage der Neufassung der EG-Regional- und Sozialfondspolitik. Das erste Mal ist dort erfreulicherweise durchgesetzt worden, daß jetzt eine abgestimmte Regional- und Sozialfondspolitik, ausgehend von den Regionen, formuliert werden muß. Das heißt, Regionalvertreter setzen sich zusammen und sagen: Was müssen wir bei uns in der Region machen? Anfragen aus der Industrie, Erschließungsgebiete, Qualifikation von Arbeitnehmern, Infrastruktureinrichtungen und so weiter. Man erstellt einen Regionalplan, der dann global durch die Europäische Gemeinschaft bezuschußt wird. Dies bedeutet, der Bund ist damit außen vor, die Bundesregierung nimmt dies nur noch zur Kenntnis, und die Länder besprechen diesen Plan direkt mit Brüssel, indem sie sagen: Wir wollen ein FünfJahres-Programm machen, bitte schön, finanziert es uns mit 50, 60 oder 70 Millionen DM!
Dies ist doch eine positive Entwicklung, die wir als Sozialdemokraten aus regional- und sozialpolitischer Sicht ausdrücklich begrüßen.
Noch eine Anmerkung zu dem Hinweis, es gäbe in Brüssel so viel Bürokratie. Natürlich gibt es auch in Brüssel Bürokraten, wie auch hier in Bonn; davon haben wir hier genug. Wenn man aber dann zur gleichen Zeit fordert, wie es heute morgen zum Beispiel Herr Haussmann zu Recht getan hat, daß zu einer vernünftigen Politik für kleine und mittlere Unternehmen auch gehört, daß diese Unternehmen Zugang zu den Informationen haben müssen, und zwar in deutscher Sprache, dann bedeutet dies eben, daß mehr Dokumente ins Deutsche übersetzt werden müssen. Das ist doch ganz einfach. Dann werden die Dokumente nicht nur in Englisch und Französisch, sondern zu Recht auch in Deutsch vorliegen. Aber wir müssen dann eben auch Übersetzer anstellen. Wenn jemand dies dann Bürokratie nennt, dann verstehe ich die Welt nicht mehr. Man muß seine Forderungen da schon einigermaßen aufeinander abstimmen.

(Zustimmung)

In den zwei mir verbleibenden Minuten möchte ich noch ganz kurz auf zwei Punkte eingehen. Es fiel hier auch das Schlagwort: Wir wollen kein Europa nur der Banken und Konzerne, wir wollen ein anderes Europa gestalten. Besonders interessant finde ich das im Hinblick auf die Äußerungen von Graf Lambsdorff und der FDP in den letzten zwei Wochen. Sie sagen z. B.: Wir wollen die Bankenmacht begrenzen, die in Deutschland und in Europa zu groß ist. Das klingt gut. Wir als Sozialdemokraten haben im Bundestag auch einen Antrag zur Begrenzung der Bankenmacht eingebracht. Ganz erstaunlich finde ich aber, wie Worte und Taten z. B. bei der FDP auseinanderfallen. Vor einem halben Jahr haben wir hier im Bundestag die EG-Richtlinie über das Bankenniederlassungsrecht behandelt. In dieser EG-Richtlinie war die Begrenzung der Beteiligung von Banken an Nichtbanken
vorgesehen, und zwar mit einem bestimmten Prozentsatz; auf Details will ich nicht eingehen. Sie von der FDP und der CDU haben exakt diese Vorschrift aus der Bankenrechtskoordinierungsrichtlinie herausgestrichen, weil Sie dies nicht wollten. Heute aber gehen Sie in die Öffentlichkeit und sagen: Das wollen wir jetzt aber wieder hereinhaben.

(Zustimmung bei der SPD)

Man muß sich schon einmal überlegen, ob das nicht einfach schlichter Opportunismus ist. Sie haben Angst davor, jetzt bei der Europawahl unter 5 % zu kommen, und machen hier ein bißchen Populismus, um sich dann, wenn es ernst wird, bei den Abstimmungen anders zu verhalten.
Die letzte Anmerkung: Viele Ängste von Bürgern rühren ja daher, daß sie tatsächlich, daß sie real von Politiken der Gemeinschaft oder der Bundesregierung betroffen sind. Die Menschen haben Angst um ihre Zukunft. Herr Mischnick, Sie haben heute morgen in Ihrer Rede den Vertrag der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl angesprochen, den EGKS-Vertrag. Ich verstehe schon die Ängste vieler Bürgerinnen und Bürger im Saarland oder in NordrheinWestfalen oder auch bei mir in der Region, wo wir auch noch Kohlebergbau haben, die Ängste der Bürger, die nicht wissen, was auf sie zukommt. Und warum wissen sie nicht, was auf sie zukommt? Weil die eigene Regierung selber offensichtlich nicht weiß, was sie energiepolitisch eigentlich will. Sie läßt sich die europäische Energiepolitik von einem Konzernchef diktieren. Da heißt es dann innerhalb von zwei Wochen „kehrt, marsch marsch", weil die Energiewirtschaft selber sagt, wie die Energiepolitik in Europa aussehen soll. Dies kann nicht Gegenstand von vernünftigen demokratischen Verfahren sein. Wir im Bundestag und im Europäischen Parlament müssen energiepolitisch eine vernünftig aufeinander abgestimmte Willensbildung in Gang bringen, um den Menschen auch wieder Zuversicht geben zu können. Das ist exakt das, wozu die Koalition offensichtlich nicht in der Lage ist. Aus diesem Grunde wäre es gut, wenn wir in Zukunft auf europäischer Ebene eine stärkere Verantwortlichkeit der Sozialdemokraten verwirklichen könnten.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114910000
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wulff.

Dr. Otto Wulff (CDU):
Rede ID: ID1114910100
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mir scheint eines heute etwas zu kurz gekommen zu sein. Es ist die Frage der gemeinsamen europäischen Währungspolitik. Ich bin der Meinung, daß wir die Währungsunion umsetzen sollen, daß wir alles tun wollen, damit es in Europa zu einer einheitlichen Geldpolitik und insbesondere eines Tages auch zu einer europäischen Zentralbank kommt, wie es im Delors-Bericht gesagt und gefordert wird. Das alles ist richtig, und das wollen wir auch. Nur neige ich gerade in Fragen der Währungspolitik zu großer Nüchternheit. Ich glaube, daß ein unrealistisches Marschtempo in die monetäre Einheit



Dr. Wulff
Europas nicht tunlich ist, und ich will Ihnen auch sagen, warum.
Wir haben unter den Zwölf so unterschiedliche Wohlstandsentwicklungen, die uns daran hindern, eine Währungsunion vorschnell durchzusetzen. Wir müssen vielmehr versuchen, die verschiedenen Wohlstandsentwicklungen in Europa zunächst einander so anzugleichen, daß alle am Wohlstand teilnehmen können und daß eine Angleichung von Entwicklungsgeschwindigkeiten im Hinblick auf den Wohlstand erfolgt.
Ich bedaure, daß man gerade auch heute durch „Theorien des großen Sprungs" in der Politik zuviel Ungeduld zeigt, insbesondere auf dem Gebiet der Währungspolitik.
Meine Damen und Herren, stellen Sie sich einmal vor, bei der gegenwärtigen Situation in Europa wären Randzonen wie Griechenland oder Portugal nicht mehr in der Lage, unterschiedliche Entwicklungen durch Währungsschnitte auszugleichen, was bei einer festgeschriebenen Währungsunion nicht mehr möglich wäre. Dann würden wir, wie ich meine, Randzonen mit unterschiedlichen, schwierigen Entwicklungen festschreiben. Das kann und darf nicht Aufgabe einer europäischen Politik, schon gar nicht einer europäischen Währungspolitik sein.
Ich meine, wir werden mit dem Sprung in die Währungsunion nicht eine Angleichung von Lebensstandards erzwingen können. Wichtig ist, daß wir mit einer Währungspolitik wie folgt verfahren sollten: ein Einspielen nationaler Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik auf eine international oder europäisch abgestimmte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Das ist, wie ich glaube, zunächst das Gebot der Stunde.
Wenn diese Angleichung erfolgt, können meines Erachtens eines Tages die sogenannte Krönungstheorie und ein europäisches Währungssystem Erfolg haben.
Ich möchte noch einmal betonen: Wir müssen gerade in dieser Frage der Versuchung widerstehen, zuviel Ungeduld zu haben.
Aber in einer Frage —lassen Sie mich das abschließend sagen — sollten wir fest bleiben: Ein europäisches Währungssystem kann ohne eine unabhängige Notenbank nicht funktionieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Eine Notenbank in Europa, die vom Spiel einer bestimmten Politik abhängig ist, kann nicht eine Notenbank sein, wie wir sie wünschen. Das hat auch etwas mit der Standortfrage zu tun.
Ich bin der Meinung, daß wir Deutsche ein berechtigtes Interesse haben sollten, eine Währungspolitik in Europa von vornherein auf gesunde Füße zu stellen, und nicht irgendwelchen romantischen Vorstellungen anhängen sollten.
Schönen Dank für Ihre Geduld.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114910200
Ich erteile das Wort der Frau Staatsminister Adam-Schwaetzer.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1114910300
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese vierstündige Debatte heute morgen über die Europäische Gemeinschaft, aber auch über Gesamteuropa hat gezeigt, wie vielfältig, wie facettenreich dieses Thema ist. Es hat sich darin auch gezeigt, wie vielfältig die Europäische Gemeinschaft ist.
Ich möchte für die Bundesregierung unterstreichen: Von dieser Vielfalt lebt die Europäische Gemeinschaft, und wir wollen, daß sie sich in dieser Vielfalt weiterentwickelt. Wir erteilen allen zentralistischen Tendenzen eine klare Absage. Wir werden mit unseren eigenen Vorschlägen, mit unserer Kraft dazu beitragen, daß sie aus dieser Vielfalt auch in der Zukunft die Kraft ihrer Entwicklung ziehen kann.
Die Bundesregierung hat die Integration der westlichen Demokratien in Europa mit großem Engagement vorangetrieben. Der Besuch von Generalsekretär Gorbatschow hier in der Bundesrepublik Deutschland hat doch gerade in den letzten Tagen wieder klargemacht — auch in der formulierten Gemeinsamen Erklärung welche Ausstrahlungskraft diese Friedensgemeinschaft Europäische Gemeinschaft auch auf andere Staaten in Europa hat.
Zum erstenmal wird in den letzten Monaten deutlich, daß es eine Friedensordnung für ganz Europa geben könnte, eine Friedensordnung, die wir schon seit vielen Jahren anstreben, eine Friedensordnung, in der die derzeit noch bestehenden Grenzen ihre Bedeutung verlieren, eine Friedensordnung, in der dann auch die Lösung der deutschen Frage möglich wäre.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es wird ganz klar, daß für die weitere friedliche Entwicklung innerhalb ganz Europas, Herr Häfner, nicht nur innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, diese Gemeinschaft, wie sie jetzt besteht, den Anker für die weitere zukünftige Entwicklung darstellt.
Wir müssen die Integrationsbemühungen weiter vorantreiben, aber wir müssen dabei ganz klarmachen, daß diese Integration niemanden ausschließt, daß wir keinen Ausschließlichkeitsanspruch haben, sondern daß wir von der Verfassung unserer Europäischen Gemeinschaft her verpflichtet sind, diese Gemeinschaft offenzuhalten. Nur dann werden wir auch unserer Verantwortung gegenüber den Menschen in den anderen Staaten Europas, im Westen und im Osten gerecht.
Die Europäische Union, so, wie sie in den Verträgen festgeschrieben ist, ist mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Wir sind nicht nur eine Gemeinschaft zur gegenseitigen Absicherung und Vermehrung unseres Wohlstandes, wir haben vielmehr den Auftrag, eine Technologiegemeinschaft zu werden, weil wir die Probleme der Zukunft nur dadurch lösen können.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Wir haben den Auftrag, eine Umweltgemeinschaft zu werden, aber wir haben auch den Auftrag, nicht nur ein starker Handelspartner zu sein, sondern das politische Gleichgewicht in einer gemeinsamen Außenpolitik zu schaffen.



Frau Dr. Adam-Schwaetzer
Alles das zusammengenommen, meine Damen und Herren, ist die Grundvoraussetzung dafür, daß sich die Europäer und die Europäische Gemeinschaft in einer sich schnell wandelnden Welt selbst behaupten. Das ist die Politik, die die Grundlage alles dessen ist, was wir auch heute morgen im Detail diskutiert haben.
Es gibt natürlich viel Skepsis gegenüber dem Binnenmarkt, und es gibt noch viele Probleme, die gelöst werden müssen. Aber entgegen dem Eindruck, der hier von manchem Redner suggeriert werden sollte, ist es ja nicht so, als würden wir vor den Problemen die Hände in den Schoß legen. Damit würden wir unserer Verantwortung nicht gerecht. Im Gegenteil, wir lassen nicht alles mit uns machen, wir gestalten vielmehr diese europäische Ordnung mit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der Binnenmarkt bringt Wettbewerb. Aber es ist eben kein Steinzeitwettbewerb. Die Verträge über die Europäische Gemeinschaft und der Europäische Gerichtshof haben die Schranken dieses Wettbewerbs ganz deutlich gemacht. Die Schranken liegen dort, wo der unverzichtbare Schutz der Verbraucher und der unverzichtbare Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen betroffen sind.
Wir haben durchgesetzt, daß diese Schranken auch konkretisiert werden. Der Umweltminister hat erst in dieser Woche durchgesetzt, daß es möglich sein wird, in der Zukunft auch national Steuervorteile für die frühzeitige Einführung von Katalysatoren in Kleinwagen zu gewähren. Wir werden als Bundesregierung diese Möglichkeit nutzen.
Wir haben durchgesetzt — und der Europäische Gerichtshof hat uns recht gegeben —, daß man auch dann, wenn andere Staaten nicht mitmachen, im Interesse eines durchgreifenden Umweltschutzes ein Flaschenpfand auf Plastikflaschen erheben kann, um dafür zu sorgen, daß die Müllberge in der Europäischen Gemeinschaft nicht unzumutbar weiter anwachsen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Das waren aber die Dänen und nicht die Deutschen!)

Diese Beispiele, meine Damen und Herren, machen klar: Wer die Europäische Gemeinschaft ablehnt, so wie es heute morgen von den GRÜNEN vorgetragen worden ist, schafft eben nicht die Voraussetzung für mehr Umweltschutz, vielmehr wird er letztlich weniger Umweltschutz bekommen. Das kann nicht der richtige Weg sein.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Frau Wollny [GRÜNE]: Ich glaube, wir müssen es Ihnen schriftlich geben, damit Sie es kapieren!)

Ein sehr wichtiger Aspekt des europäischen Einigungsprozesses ist die währungspolitische Integration. Wir brauchen die Wirtschafts- und Währungsunion, um die Vorzüge des Binnenmarktes voll ausschöpfen zu können.

(Zuruf von der FDP: Sehr gut!)

Es gibt aber noch Zauderer in anderen Ländern der
Europäischen Gemeinschaft, vielleicht auch bei uns.
Wir wissen ja, daß wir nicht bei Null anfangen. Es gibt ein europäisches Währungssystem, und dies ist ein großer Erfolg. Die Europäische Gemeinschaft hat sich zu einer Zone währungspolitischer Stabilität entwikkelt. Das hat mit zu der positiven Wirtschaftsentwicklung beigetragen, die in den vergangenen Jahren auch mehr Arbeitsplätze geschaffen hat. Die Funktionsweise dieses Währungssystems hat sich ständig verbessert. Jetzt geht es darum, Einigkeit über die ordnungspolitischen Grundlagen zu schaffen.
Wir als Bundesregierung unterstützen die Forderungen des Delors-Berichtes, daß eine Europäische Währungsunion und ein europäisches Zentralbanksystem dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet sein müssen, von Weisungen unabhängig sein müssen und föderal strukturiert sein sollten.
Herr Wulff, kein Mensch will ein unrealistisches Marschtempo — die Bedingungen sind uns wohlbekannt — , aber der Europäische Rat in Madrid soll den Zug in Bewegung setzen, der zu diesem wichtigen Stück Integration führt.
Meine Damen und Herren, selbst wenn jetzt noch nicht alle Partner bereit sind, mitzumachen, so wie es Frau Thatcher bereits angekündigt hat: Wir werden die Türen des Zuges, der in Madrid in Bewegung gesetzt werden soll, offenhalten, solange es irgend geht.

(Frau Wollny [GRÜNE]: Hoffentlich fällt keiner heraus!)

Die Europäische Gemeinschaft ist für viele andere Regionen und Länder dieser Welt nicht nur ein verläßlicher, sondern auch ein gewünschter Partner. Die Gemeinsame Erklärung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe ist ein wichtiger Schritt zur Überwindung der Spaltung in Europa. Wir haben damit Möglichkeiten für Verbesserungen des Handels geschaffen. Wir haben festgeschrieben, daß wir auf den Gebieten der Technologie, der Bildung und des Umweltschutzes zusammenarbeiten wollen. Wir können uns das in der Konkretisierung vorstellen, z. B. in einem gemeinsamen Netz für Telekommunikation in Gesamteuropa, in besseren gemeinsamen Verkehrsverbindungen, in einem Schnellbahnsystem, das nicht in Berlin endet, in einem gesamteuropäischen Umweltfonds, der dazu beiträgt, die Schäden, die eingetreten sind, schnell auszugleichen. Das, meine Damen und Herren, ist praktische Politik, so wie wir sie brauchen, um uns nach außen offenzuhalten.
Die Außenpolitik der Gemeinschaft hat zunehmend an Profil gewonnen. Wir sind ein Handelspartner, und wir müssen unsere politische Verantwortung, die daraus erwächst, wahrnehmen. Wir tun das im NahostKonflikt. Wir fördern den zentralamerikanischen Friedensprozeß, und jetzt ist die Zeit gekommen, eine gemeinsame Ostpolitik zu formulieren, zu der die Bundesregierung bereits wichtige Teilstücke geliefert hat.

(Beifall bei der FDP)

Wir haben bei der Wiener Folgekonferenz des Prozesses zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa



Frau Dr. Adam-Schwaetzer
als Europäische Gemeinschaft ein wichtiges Stück dazu beigetragen, die Lebensbedingungen für ein gemeinsames europäisches Haus zu definieren. Das, meine Damen und Herren, ist Friedenspolitik, wie sie die Europäische Gemeinschaft für Gesamteuropa betreibt.
Ein letztes Wort zum Europäischen Parlament und zum Ministerrat, der hier angesprochen worden ist. Ich selber gehe ja für die Bundesrepublik nach Brüssel zu Verhandlungen; ich bin dort im Ministerrat. Ich habe ein verdammt ungutes Gefühl, wenn mein JaWort direkt wirkende Gesetze für 320 Millionen EG-Bürger schafft, ohne daß ein gewähltes Parlament in seiner Gesamtheit daran noch etwas ändern könnte.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und des Abg. Häfner [GRÜNE])

Ich möchte aber doch sagen, daß auch wir Regierungsmitglieder unseren nationalen Parlamenten zumindest verpflichtet sind — das beruhigt mich nicht; ich sage das gleich dazu —, aber ich fühle mich eigentlich nicht als ein solches Schreckgespenst, wie es einige der Redner heute morgen hier hingestellt haben.

(Häfner [GRÜNE]: Das hat mit Ihnen persönlich nichts zu tun, Frau Adam-Schwaetzer!)

Jetzt geht es darum, meine Damen und Herren, daß das Europäische Parlament volle demokratische Rechte bekommt.

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Dann stimmen Sie heute unserem Antrag zu!)

Ich hoffe, daß alle Bürger der Bundesrepublik Deutschland, die mit uns wünschen, daß dieses Europäische Parlament ein demokratisches — nicht nur ein demokratisch gewähltes, sondern auch demokratischhandelndes — Parlament mit vollen Rechten und vollen Pflichten wird, der europäischen Wahl am Sonntag nicht fernbleiben, sondern ihre Stimme denjenigen Parteien geben, die dieses Parlament ausbauen wollen; denn das ist eine demokratische Legitimation. Das ist die Legitimation, die wir brauchen, damit es in der Europäischen Gemeinschaft im Interesse des Friedensauftrages dieser Gemeinschaft weitergeht.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1114910400
Meine Damen und Herren, zur Geschäftslage. Wir haben jetzt 32 Abstimmungen einschließlich des Vortrags des Textes für die einzelnen Abstimmungen durchzuführen und zudem noch zwei Wortmeldungen zu persönlichen Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vorliegen. Das würde den Zeitrahmen, den der Ältestenrat vorgesehen hat, weit sprengen. Ich habe nun mühsam die Übereinstimmung erzielt, daß die Abstimmungen im Anschluß an die Fragestunde durchgeführt werden. So können wir jetzt, um 16 Minuten verspätet, in die Mittagspause eintreten. Wir fahren um 14 Uhr mit der Fragestunde fort.
Die Sitzung ist unterbrochen.

(Unterbrechung von 13.16 Uhr bis 14. 00 Uhr)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114910500
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Fragestunde Drucksache 11/4724
Die Fragen 1 und 2 des Abgeordneten Lüder zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes sollen auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Fragen 3 und 4 des Abgeordneten Müller (Wesseling) zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen sollen auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Vogt steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 11 des Abgeordneten Kirschner auf. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Frage 11 und die ebenfalls von dem Abgeordneten Kirschner eingebrachte Frage 12 werden entsprechend der Geschäftsordnung behandelt.
Ich rufe Frage 13 des Abgeordneten Haack (Extertal) auf. — Er ist nicht anwesend. Es tut mir leid. Auch Frage 13 wird entsprechend der Geschäftsordnung behandelt.
Ich rufe die Frage 14 der Abgeordneten Frau Würfel auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß in der „Arbeitsmedizinischen Berufskunde" B 2-04/84 der Bundesanstalt für Arbeit über die Anforderungen an Uhrenmacher/Uhrenmacherinnen zu lesen ist, daß die „Neigung zu Monotonie und halb- bis vollmechanischer Fertigung dem Naturell des Mannes weniger liegen" und „der geforderte Stückakkord leichter von Frauen geleistet wird", und wenn ja, frage ich die Bundesregierung, ob sie diese Bewertung teilt?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Wolfgang Vogt (CDU):
Rede ID: ID1114910600
Frau Kollegin, ich möchte Ihre Fragen 14 und 15 gern gemeinsam beantworten.

(Frau Würfel [FDP]: Ich bin damit einverstanden!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114910700
Dann rufe ich auch die Frage 15 der Abgeordneten Frau Würfel auf:
Falls nein, in welcher Form denkt die Bundesregierung daran, Abhilfe zu schaffen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Der Bundesregierung ist der von Ihnen dargestellte Tatbestand aus einer Zuschrift von Anfang Mai dieses Jahres bekannt. Sie hat der Bundesanstalt für Arbeit unverzüglich Ihre Bedenken gegen diese diskriminierenden Formulierungen mitgeteilt. Am 6. Juni 1989 hat der Präsident der Bundesanstalt die Arbeitsämter angewiesen, aus der Informationsmappe Uhrenmacher/Uhrenmache-



Parl. Staatssekretär Vogt
rinnen unverzüglich die von Ihnen bezeichneten Auszüge aus der „Arbeitsmedizinischen Berufskunde " zu entfernen. Auch der entsprechende Auszug über die Anforderungen für den Beruf des Orthopädieschuhmachers bzw. der Orthopädieschuhmacherin wird entfernt werden.
Ferner wurde veranlaßt, daß umgehend alle anderen Auszüge aus der „Arbeitsmedizinischen Berufskunde", die in Informationsmappen aufgenommen worden sind, auf diskriminierende Aussagen gegenüber Frauen und Ausländern hin überprüft werden.
Ich möchte noch hinzufügen, daß die „Arbeitsmedizinische Berufskunde", aus der die zu Recht beanstandeten Formulierungen stammen, keine Veröffentlichung der Bundesanstalt für Arbeit ist. Es handelt sich vielmehr um ein Nachschlagewerk von Scholz und Wittgens, das in seiner letzten Auflage 1981 im Gentner-Verlag, Stuttgart, erschienen ist. Aber das ändert natürlich nichts daran, daß es nicht gut war, sondern unmöglich war, würde ich sagen, daß diese Veröffentlichung von der Bundesanstalt für Arbeit benutzt worden ist.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114910800
Zusatzfrage, Frau Würfel, bitte schön.

Uta Würfel (FDP):
Rede ID: ID1114910900
Herr Staatssekretär, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann hat die Bundesregierung erkannt, daß es einem Skandal gleichkommt, wenn in einem Arbeitsblatt einer Bundesbehörde, das an die Jugend verteilt wird, steht, daß Frauen mehr zur Monotonie neigen als Männer, und daß das wirklich eine Unverschämtheit ohnegleichen ist. Kann ich davon ausgehen, daß in Zukunft dafür Sorge getragen wird, daß das, was unserer Jugend über Berufsbilder mitgeteilt wird, in dieser Form von der Bundesanstalt für Arbeit nicht mehr verbreitet wird?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Ich teile Ihre Auffassung, und ich teile auch Ihren Ärger. Ich gehe davon aus, daß die Bundesanstalt für Arbeit bei zukünftigen Veröffentlichungen besonders auf den Aspekt, den Sie genannt haben, achten wird.

(Frau Würfel [FDP]: Ich danke Ihnen!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114911000
Keine weiteren Zusatzfragen?

(Frau Würfel [FDP]: Nein!) — Danke schön, Frau Würfel.

Ich rufe dann die Frage 16 der Abgeordneten Frau Blunck auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Bewohner der Insel Helgoland für die Inanspruchnahme eines Facharztes auf das Festland reisen und für Überfahrt und unvermeidliche Übernachtung pro Person mindestens 150 DM aufwenden müssen und daß nach Inkrafttreten der sogenannten Gesundheitsreform diese Fahrtkosten nicht mehr erstattet werden?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, mit Ihrem Einverständnis würde ich die Fragen 16 und 17 gern gemeinsam beantworten.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114911100
Die Fragestellerin ist einverstanden. Ich rufe dann auch die Frage 17 der Abgeordneten Frau Blunck auf:
Hält die Bundesregierung diese erheblichen Mehrbelastungen der Bewohner der Insel Helgoland und möglicherweise auch anderer, ähnlich abgeschnittener Gebiete für vertretbar, wenn nein, welche Maßnahmen wird sie ergreifen, um die Besonderheiten der Insel Helgoland und ihrer Bewohner, die durch die hohen Lebenshaltungskosten auf der Insel ohnehin schon benachteiligt sind, und eventueller ähnlich benachteiligter Gebiete so zu berücksichtigen, daß diese sozialen Ungerechtigkeiten zukünftig beseitigt werden?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Der Bundesregierung ist bekannt, daß die Bewohner der Insel Helgoland auf das Festland fahren müssen, um in bestimmten Fällen dort Fachärzte aufzusuchen, und daß ihnen dadurch Mehraufwendungen entstehen.
Die Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung müssen für alle Versicherten gleichermaßen gelten. Auch das Recht, das bis zum 31. Dezember 1988 galt, sah nicht vor, daß Mehrbelastungen, die sich aus der Wohnlage des Versicherten ergeben, auf die Versichertengemeinschaft übertragen werden können. Auch das Gesundheits-Reformgesetz konnte entsprechende Ausnahmeregelungen nicht aufnehmen; denn es ist nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, für Bewohner bestimmter Regionen die durch ihre besondere Verkehrslage bedingten Mehraufwendungen zu tragen.
Wie für alle anderen Versicherten gelten auch für die auf der Insel Helgoland lebenden Versicherten die Vorschriften über die Befreiung von Zuzahlungen bei unzumutbarer finanzieller Belastung. Dadurch wird auch für die Bewohner Helgolands eine unzumutbare Belastung durch Kosten für die Fahrt zur medizinischen Behandlung vermieden.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114911200
Frau Blunck, Zusatzfrage, bitte schön.

Lieselott Blunck (SPD):
Rede ID: ID1114911300
Herr Staatssekretär, man merkt, Sie sind nicht Mitglied der Allgemeinen Ortskrankenkasse. Daher ist Ihnen offensichtlich nicht bekannt, daß Fahrtkosten vor dem 31. Dezember 1988 selbstverständlich übernommen wurden. Ich kann Ihnen das als Mitglied einer Allgemeinen Ortskrankenkasse sagen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114911400
Es muß auch ein Fragezeichen kommen, Frau Kollegin Blunck.

Lieselott Blunck (SPD):
Rede ID: ID1114911500
In diesem Zusammenhang möchte ich fragen, ob Sie mir zustimmen, Herr Staatssekretär, daß die kranken Helgoländer Bürger für die Krankenversicherung einen um 2 bis 4 % höheren Beitrag zahlen als alle anderen Bürger, wenn sie ein Einkommen bis zu 50 000 DM haben.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, es ist unbestritten, daß sich für die Versicherten, die auf der Insel Helgoland leben, besondere Mehrbelastungen ergeben. Aber ich habe gesagt: Die Krankenversicherung kann nicht wegen Mehrbelastungen der Versicherten auf Grund der Wohnlage differenzieren. Die Belastungen können möglicherweise auf einem anderen Weg ausgeglichen werden, aber nicht auf dem Weg der gesetzlichen Krankenversicherung.




Lieselott Blunck (SPD):
Rede ID: ID1114911600
Glauben Sie, Herr Staatssekretär, daß die Bundesregierung mit dieser für die Bevölkerung der Insel Helgoland besonders nachteiligen Regelung des Gesundheits-Reformgesetzes ihrer grundsätzlichen Verpflichtung nachkommt, im gesamten Bundesgebiet gleiche Lebensbedingungen zu schaffen und zu erhalten? Hat sie hier nicht genau das Gegenteil gemacht?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, aus dem entsprechenden Artikel des Grundgesetzes können Sie nicht herleiten, daß innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung Mehrbelastungen, die wegen der Wohnlage entstehen, ausgeglichen werden müssen. Diese Mehrbelastungen können und sollten eventuell auf einem anderen Weg ausgeglichen werden, aber nicht auf dem Weg der gesetzlichen Krankenversicherung; denn das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung muß für alle Versicherten in gleicher Weise gelten.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114911700
Dritte Frage, Frau Blunck.

Lieselott Blunck (SPD):
Rede ID: ID1114911800
Halten Sie es für einen Ausdruck sozialer Ausgewogenheit, Herr Staatssekretär, wenn die Helgoländer Bevölkerung auf Grund der besonderen Inselverhältnisse durch Fahrtkosten bei Inanspruchnahme eines Facharztes, der nicht auf der Insel ansässig ist — wie Kinderarzt, wie Gynäkologe — , überproportional belastet wird, selbst wenn ich die Härtefallregelung und die Überforderungsklausel mit in meine Überlegungen einbeziehe?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die von Ihnen genannten Sozialklauseln verhindern, daß es für die Versicherten auf der Insel Helgoland zu unzumutbaren Belastungen kommt. Im übrigen könnte und müßte ich natürlich auch die Situation von Versicherten vergleichen, die etwa in einer ländlichen Region wohnen und ebenfalls weitere Wege zu einem Facharzt haben.
Ich kann aber — ich sage das noch einmal — diese Ungleichheiten, die entstehen, nicht auf dem Weg der gesetzlichen Krankenversicherung ausgleichen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114911900
Sie haben noch eine weitere Zusatzfrage, Frau Blunck.

Lieselott Blunck (SPD):
Rede ID: ID1114912000
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung eventuell bereit, die für die Bevölkerung der Insel Helgoland — ich schließe andere genauso extrem gelegene Gebiete durchaus mit ein — so nachteiligen Regelungen des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes so abzuändern, daß die Helgoländer und Helgoländerinnen und andere aus anderen benachteiligten Gegenden bei Inanspruchnahme eines Facharztes auf dem Festland keine größeren finanziellen Lasten zu tragen haben als die Bevölkerung im übrigen Bundesgebiet?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich kann mich nicht erinnern, daß der Deutsche Bundestag ein sogenanntes Gesundheits-Reformgesetz verabschiedet hat. Er hat ein Gesundheits-Reformgesetz verabschiedet. Die Regelungen dieses Gesetzes gelten für
alle Versicherten in der Bundesrepublik Deutschland gleich.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114912100
Frau Wollny, Sie wollten eine weitere Zusatzfrage stellen. Bitte schön.

Lieselotte Wollny (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114912200
Herr Staatssekretär, Sie berufen sich darauf, daß alle Versicherten gleichbehandelt werden müssen. Nennen Sie es denn Gleichbehandlung, wenn der eine, der das Glück hat, in seiner Nähe Fachärzte zur Verfügung zu haben, bessergestellt ist als derjenige, der lange Wege zurücklegen muß?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Also, Frau Kollegin, ich habe gesagt, daß sich aus der unterschiedlichen Wohnlage unterschiedliche Belastungen ergeben können. Aber das gilt doch nicht nur für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie haben doch auch unterschiedliche Belastungen zu tragen, je nachdem, wie weit Ihr Arbeitsplatz von Ihrem Wohnort entfernt ist. Diese unterschiedlichen Belastungen muß man sehen, denen muß man dort Rechnung tragen, wo sie anfallen. Aber im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung ist eine Differenzierung hier nicht möglich, Frau Kollegin.

(Frau Wollny [GRÜNE]: Das ist ein schlechter Vergleich! Dafür gibt es Wegegeld! — Frau Blunck [SPD]: Keine Ahnung!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114912300
Also, wenn Sie noch eine Zusatzfrage stellen wollen, würde ich Ihnen das Wort geben. Aber Sie haben die Antwort in Form eines Zurufs kommentiert, den ich auch nicht verbieten kann.
Die beiden weiteren Fragen in Ihrem Geschäftsbereich, Herr Staatssekretär, die Fragen 18 und 19, sollen auf Wunsch der Fragestellerin, der Abgeordneten Frau Walz, schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Inzwischen ist Herr Kollege Kirschner eingetroffen. Er hat mir seine Gründe gesagt, warum er zwei Minuten später in den Saal kam, als seine Frage aufgerufen wurde. Sie sind noch bereit, sie zu beantworten. Ich bin bereit, sie zuzulassen.
Also, die Frage 11 des Abgeordneten Kirschner:
Hält die Bundesregierung die Auffassung maßgeblicher Vertreter der Zahnärzteschaft für mit den §§ 29 und 30 SGB V vereinbar, wonach die Versicherten bei Zahnersatz zur vollen Vorkasse verpflichtet sind und ihnen auch die Aufnahme eines Kredits zuzumuten ist (Rede des Präsidenten der Bundeszahnärztekammer, Dr. Erwin Pillwein, auf dem 23. Deutschen Zahnärztetag 1989)?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, nach dem Willen des Gesetzgebers, wie er sich aus der Begründung des Regierungsentwurfs eines Gesundheits-Reformgesetzes und dem Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ergibt, darf der Versicherte bei der Festlegung der Zahlungsmodalitäten bei Zahnprothetik und Kieferorthopädie finanziell nicht überfordert werden.
Damit ist es nicht vereinbar, während der Behandlung vom Versicherten Vorauszahlungen oder Abschlagszahlungen zu verlangen. Wird der Versicherte



Parl. Staatssekretär Vogt
über den gesamten Rechnungsbetrag vom Zahnarzt in Anspruch genommen, hat er die Rechnung erst nach Erhalt des Kassenanteils zu begleichen.
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat mit Schreiben vom 18. April 1989 die vom Präsidenten der Bundeszahnärztekammer, Dr. Erwin Pill-wein, vertretene Auffassung, die Versicherten seien zur Vorkasse verpflichtet, zurückgewiesen und die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung, die gemeinsam mit den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenversicherung für die Umsetzung der Kostenerstattung im Vertragswege verantwortlich ist, auf die dargestellte Rechtslage hingewiesen.
Ich möchte noch hinzufügen, Herr Kollege, daß die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen am 10. April 1989 eine Empfehlung ausgesprochen hat, der die Spitzenverbände der Krankenkassen und die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung zugestimmt haben, wonach eine unzumutbare Belastung der Versicherten bei der Umsetzung der Kostenerstattung für Zahnersatz und Kieferorthopädie vermieden werden sollte.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114912400
Zusatzfrage, Herr Kirschner.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1114912500
Herr Staatssekretär, wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist es so, daß die Forderung des Präsidenten der Bundeszahnärztekammer, Herrn Dr. Pillweins, der dies auf dem 23. Zahnärztetag am 13. April dieses Jahres in Stuttgart erklärt hat, nicht im Einklang mit der Rechtslage ist. Er hat dort u. a., auf den Patienten bezogen, gesagt: Jeder Patient ist auch Bürger. Wenn er sich als Bürger ein Auto kauft, bezahlt er es bar oder nimmt einen Kredit auf. — Weiter sagte er, daß der Bürger eine Urlaubsreise sogar im voraus bezahlt. Weiter meint er, daraus schließend, dies müsse auch für den Zahnersatz gelten.
Darf ich da noch einmal nachfragen: Steht dies nicht im klaren Widerspruch zur gesetzlichen Regelung und zur Entstehungsgeschichte der Vorschriften, die wir im GRG haben, und ist die Auffassung des Zahnärztepräsidenten nicht eine einseitige Betonung des Kostenerstattungsprinzips, das so im Gesetz nicht drinsteht?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich beantworte Ihre Frage eindeutig mit Ja. Ich will nur darauf hinweisen, daß ich bisher nur Ihre Frage 11 beantwortet habe. Ich komme auf Ihre Frage 12 noch zurück, wo der Aspekt, den Sie jetzt in Ihrer Frage angesprochen haben, noch deutlicher zum Ausdruck kommen wird. Ich habe in der Antwort auf die Frage 11 nur gesagt, daß es gemeinsame Auffassung ist, daß es bei der Umsetzung der Kostenerstattung nicht zu unzumutbaren Belastungen der Versicherten kommen darf.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114912600
Ich rufe die Frage 12 des Abgeordneten Kirschner auf:
Trifft es zu, daß die §§ 29 und 30 SGB V deutlich machen, daß Zahnersatz und kieferorthopädische Behandlung sich „im Rahmen der kassenzahnärztlichen Versorgung" zu vollziehen haben?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, auf Ihre Frage kann ich eindeutig mit Ja antworten. Die §§ 29 und 30 des Sozialgesetzbuches V legen fest, die Kostenerstattung im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung abzuwickeln. Deshalb unterliegen auch die Zahlungsmodalitäten — Fälligkeit der Rechnung, Einräumung von Ratenzahlungen — der Kompetenz der Vertragspartner. Ebenso haben die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen unabhängig von der Frage des gewählten Zahlungsweges die Abrechnung des Zahnarztes auf rechnerische und gebührenmäßige Richtigkeit zu überprüfen und statistisch aufzuarbeiten. Die Leistungen bei Zahnprothetik und Kieferorthopädie unterliegen außerdem den Wirtschaftlichkeitsprüfungen nach § 106 des Sozialgesetzbuches V.
Trotz der Kostenerstattung — ich möchte das unterstreichen — bleiben die Leistungen der Kassen Teil der kassenärztlichen Versorgung und gehören deshalb zum öffentlichen Recht und nicht zum Privatrecht, wie manche Zahnärzte meinen. Auf dieser Grundlage gibt es keinerlei Berechtigung für Vorauskasse oder die Einschaltung von Inkassobüros oder die Einschaltung von Kreditinstituten.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114912700
Weitere Zusatzfrage, Herr Kirschner.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1114912800
Herr Staatssekretär, kann ich aus Ihrer Antwort schließen, daß eine privatrechtliche Abwicklung beim Zahnersatz wie beispielsweise beim Autokauf oder bei der Buchung einer Urlaubsreise durch das GRG ausgeschlossen ist und die KZVs nach wie vor die Aufgabe haben, die Abrechnungen auch zu überprüfen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Richtig. Sie haben die Abrechnungen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Sie haben sie auch statistisch aufzubereiten.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114912900
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Kirschner.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1114913000
Herr Staatssekretär, welche Schritte unternimmt die Bundesregierung oder wird sie gegebenenfalls unternehmen, falls die Zahnärzte weiterhin versuchen, die Tendenz, die sie haben anklingen lassen, die aus der Rede des Präsidenten der Bundeszahnärztekammer am 13. April deutlich geworden ist, in den Praxen umzusetzen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Aufsicht über die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen haben die Länder. Der Bund hat die Aufsicht über die Kassenärztliche Bundesvereinigung. Wir haben die entsprechenden Institutionen auf unsere Rechtsauffassung hingewiesen. Diese Rechtsauffassung ist von den Teilnehmern der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen ja auch bestätigt worden. Sobald uns ein Fall bekannt wird, daß gegen das geltende Recht nach unserer Rechtsauffassung verstoßen wird, werden wir die aufsichtsrechtlichen Schritte unternehmen. Nur haben wir bisher noch keinen Fall vorliegen, daß tatsächlich gegen das Recht verstoßen wird. Zu den Verlautbarungen auf den entsprechenden Tagungen habe ich Stellung genommen.




Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114913100
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Blunck.

Lieselott Blunck (SPD):
Rede ID: ID1114913200
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß es viele Eltern gibt, die durchaus einen Kredit aufnehmen müssen, um die zahnärztliche Versorgung ihrer Kinder bezahlen zu können, und ist Ihnen bekannt, daß genau die Härtefallregelung diese Leute zwingt, Vorleistungen zu erbringen und in diesem Fall Zinsen für Kredite zu zahlen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich wäre Ihnen sehr, sehr dankbar, wenn Sie mir die „vielen" Fälle, von denen Sie sprechen, ganz konkret nennen könnten, damit wir dagegen vorgehen können. Es nutzt uns gar nichts, wenn so allgemein von „vielen Fällen" gesprochen wird. Ich habe die Rechtslage dargestellt. Nach dieser Rechtslage sollten die Fälle nicht vorkommen, von denen Sie sprechen.

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Um so schlimmer für die Wirklichkeit!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114913300
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Wimmer steht uns zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Die Fragen 20 und 21 des Abgeordneten Dr. Klejdzinski, 22 und 23 des Abgeordneten Heistermann und 24 und 25 des Abgeordneten Steiner sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 26 des Abgeordneten Dr. von Bülow auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Stabschefs der Zweiten Alliierten Taktischen Luftflotte, die Bundesrepublik Deutschland besitze über ihrem eigenen Territorium keine Lufthoheit, und ist damit die Auffassung des bisherigen Bundesministers der Verteidigung und Verfassungsrechtlers Prof. Scholz überholt?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1114913400
Herr Kollege Dr. von Bülow, der Stabschef der Zweiten Alliierten Taktischen Luftflotte hat die ihm zugeschriebene Auffassung nicht geäußert. In einem Gespräch mit Vertretern der Medien hat er vielmehr verdeutlicht, daß, basierend auf dem Deutschland-Vertrag, die Signatarmächte in Friedenszeiten die erforderlichen Maßnahmen zur Wahrung der Unversehrtheit unseres Luftraumes wahrnehmen und damit Vorsorge getroffen sei, daß es bei Grenzverletzungen durch Flugzeuge des Warschauer Pakts nicht zu einer direkten Konfrontation unseres Landes mit der vierten Siegermacht des Zweiten Weltkrieges komme. Dies entspricht der Auffassung der Bundesregierung.
Mit dem Ende des Besatzungsrechts hat die Bundesrepublik Deutschland die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten zurückerhalten. Sie umfaßt auch ihre Lufthoheit. Die geltenden NATO-Regelungen zur integrierten Luftverteidigung legen im Einvernehmen
mit der Bundesrepublik Deutschland die Verantwortlichkeit der Drei Mächte für die Luftverteidigung im Frieden und im Falle eines bewaffneten Konfliktes fest. Sie schränken die Lufthoheit der Bundesrepublik Deutschland nicht ein. Es ist gerade Ausdruck der Souveränität eines Staates, völkerrechtliche Regelungen zur Wahrnehmung auch seiner Lufthoheit zu treffen, wie Sie auch aus Ihrer Zeit als einer meiner Vorgänger in besonderer Weise wissen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114913500
Herr von Bülow, bitte schön, Zusatzfrage.

Dr. Andreas von Bülow (SPD):
Rede ID: ID1114913600
Herr Kollege, kann es sein, daß mehrere Journalisten die Äußerung des Stabschefs derartig mißverstanden haben, daß entsprechende Zeitungsmeldungen in der Bundesrepublik ziemlich weit verbreitet werden konnten?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege von Bülow, Sie wissen, daß es sehr schwer ist, als Nichtbeteiligter an einem derartigen Gespräch Interpretationen vorzunehmen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß derjenige, der hier in dieser Weise zitiert worden ist, ausdrücklich Wert darauf legt, daß er diese Äußerungen, die ihm zugeschrieben worden sind, nicht gemacht hat.
Ich will zur Verdeutlichung auf folgendes aufmerksam machen: Es handelte sich um ein Gespräch, bei dem die NATO-Übung „Central Enterprise" den Hintergrund der ganzen Darstellung abgegeben hat. In diesem Zusammenhang haben die Herren miteinander geredet.

(Frau Wollny [GRÜNE]: Was hat das damit zu tun?)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114913700
Ich rufe jetzt die Frage 27 des Abgeordneten Dr. von Bülow auf:
Kennzeichnet die Äußerung des Stabschefs der Zweiten Alliierten Taktischen Luftflotte, die Belastung militärischer Tiefflugübungen könne nicht mehr oder nur in „Feinheiten" verringert werden, bereits das Ende der Bemühungen des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Stoltenberg, in dieser Angelegenheit?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Zu Frage 27 muß ich Herrn Kollegen Dr. von Bülow auf folgendes aufmerksam machen. Sollte eine derartige Aussage gemacht worden sein, würde sie lediglich eine persönliche Auffassung wiedergeben. Sie stellt nicht die Auffassung des Bundesministers der Verteidigung dar, der sich gegenwärtig in Gesprächen mit seinen Kollegen der beteiligten Länder um eine spürbare Entlastung für die Bevölkerung in Verbindung mit den notwendigen Tiefflugübungen bemüht.
Hier ist in der Tat ein Gespräch gelaufen. Ich sage nur der guten Ordnung halber: Sollte jemand eine solche Äußerung so gemacht haben, wäre es in der Tat nur eine persönliche Auffassung.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114913800
Herr von Bülow, bitte schön.

Dr. Andreas von Bülow (SPD):
Rede ID: ID1114913900
Halten Sie es nicht für wahrscheinlich, daß der Stabschef wohl in diesen beiden Fragen die wirkliche Lage besser gekennzeichnet hat, als Sie es jetzt im Augenblick interpretieren?



Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich kann aus dem ganzen Gesprächsablauf für mich keine Schlüsse darauf ziehen, daß der Stabschef diese Äußerungen überhaupt gemacht haben könnte. Aber ich will natürlich auch nichts ausschließen, weil Gesprächsabläufe — das wissen wir beide — bei dem einen vielleicht diesen, bei dem anderen jenen Eindruck hinterlassen.
Ich kann dazu nur sagen: Wenn jemand aus dem Verantwortungsbereich des Bundesministers der Verteidigung in seiner Stellung eine solche Auffassung äußerte, dann wäre es eine sehr private Äußerung.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114914000
Sie haben noch eine Zusatzfrage.

Dr. Andreas von Bülow (SPD):
Rede ID: ID1114914100
Würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß hierauf die schwäbische Redensart anzuwenden ist, daß man „geischtweis" miteinander schwätzt?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Sie werden mir nachsehen, Herr Kollege Dr. von Bülow, daß ich als Rheinländer diese Sprache kaum verstehen kann.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114914200
Mir ging es ähnlich.

(Dr. von Bülow [SPD]: Das ist tief bedauerlich!)

Aber was gemeint war, konnten wir erkennen.
Ich rufe die Frage 28 der Frau Abgeordneten Wieczorek-Zeul auf:
Was gedenkt die Bundesregierung im Hinblick auf die Berichte des höchsten Technischen Direktors des US-Pentagon (Inspector General, Department of Defense) vom 1. Juni 1988 „Review of the Army UH-60 Electromagnetic Environment Issues" und vom 30. Juni 1988 „Report on the Evaluation of the Army's Performance in Resolving Apache (AH-64) Technical Issues and Continuous Evaluation of Fielded Systems" wegen der bereits in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Kampfhubschrauber dieser Typen zu unternehmen, und wann ist die Bundesregierung über diese Sicherheitsmängel informiert worden?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Verehrte Frau Kollegin, die amerikanischen Streitkräfte führen ebenso wie die Bundeswehr kein Fluggerät ein, dessen Flugsicherheit nicht gewährleistet ist. Dies verbietet sich einmal aus Rücksicht auf eine mögliche Gefährdung der Zivilbevölkerung, zum anderen aber auch im Interesse der Sicherheit der Piloten, deren Leben bei jedem Flugunfall, auch über unbewohntem Gebiet, in Gefahr wäre.
Pressemeldungen, nach denen die Flugsicherheit der Black Hawk und der Apache durch Anfälligkeit gegen elektromagnetische Interferenzen beeinträchtigt sei, entbehren jeder Grundlage. Die amerikanischen Streitkräfte haben mit der Black Hawk bereits mehr als 650 000 Stunden geflogen, ohne daß sich ein Unfall auf Grund elektromagnetischer Störungen ereignet hätte. Auch bei der Apache gab es in den über 3 300 Flugstunden ihres Einsatzes in der Bundesrepublik Deutschland keinen Unfall aus dem erwähnten Grund.
Die von Ihnen angesprochenen, dem Bundesministerium der Verteidigung seit Mitte April dieses Jahres zugehenden bzw. zugegangenen Berichte des Inspector General des Pentagon haben technische Verbesserungen, darunter auch die Erhöhung des Schutzes gegen elektromagnetische Störungen der Black Hawk und der Apache vor allem im Hinblick auf ihren Einsatz im Verteidigungsfall, zum Ziel.
Die in Versuchen festgestellte hohe Strahlungseinwirkung tritt nur in unmittelbarer Nähe von Antennen mit starker Strahlungsintensität auf, d. h. in Bereichen, die gemäß den geltenden Flugsicherheitsbestimmungen nicht beflogen werden dürfen. Selbst in diesem Fall würden jedoch die möglicherweise zu beobachtenden Anormalitäten im Flugbetrieb die Flugsicherheit der Hubschrauber nicht beeinträchtigen. Auch in den Berichten des Inspector General sind die elektromagnetischen Interferenzen nicht als eine Absturzursache der Kampfhubschrauber bezeichnet worden.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114914300
Frau Wieczorek-Zeul, bitte schön, eine Zusatzfrage.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1114914400
Die Bundesregierung hat mir unter dem 17. April 1989 mitgeteilt, sie könne zu meinen Fragen noch nicht Stellung nehmen, weil es noch Rückfragen bei den Herstellern bedürfe. Seit wann sind der Bundesregierung diese Berichte des Inspector General bekannt, und woher nehmen Sie die Gewißheit — wie Sie zu Beginn gesagt haben —, daß nur ungefährliches Gerät in die Bundesrepublik eingeführt werde?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Aus den vorgenannten Gründen kann ich den zweiten Schluß, den Sie gezogen haben, für mich natürlich auch ziehen: daß auf unserem Territorium nichts eingesetzt wird, was einen Gefährlichkeitscharakter hätte.
Diese Berichte laufen uns seit dem April zu. In Ergänzung Ihrer Anfragen aus dem April habe ich vor wenigen Stunden im übrigen einen weiteren Brief an Sie unterschrieben, in dem weitere Präzisierungen vorgenommen worden sind.
Sie wissen, daß wir diese Erkenntnisse nicht nur auf Grund eigenen Wissens haben, sondern daß wir darauf angewiesen sind, daß die Fragen, die wir den Bündnispartnern stellen, auch beantwortet werden. Das ist ein Prozeß, der normal ist.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114914500
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1114914600
Ich möchte gern wissen, ob die Umrüstungen der Apache und der Black Hawk stattgefunden haben, ob sie erfolgt sind, bevor die Apaches in die Bundesrepublik eingeflogen worden sind, oder ob das nachher der Fall war und wie der Sachstand bei den Hubschraubern aussieht, die bereits auf dem Flugplatz Erbenheim bzw. in Erlensee sind? Haben diese Umrüstungen stattgefunden, ja oder nein, und ist Ihnen davon etwas bekannt?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Aus den Dingen, die Gegenstand der Antwort sind, muß ich eigentlich schließen, daß diese Umrüstungen im Verlaufe des Programms durchgeführt werden. Eine spezielle Antwort im Zusammenhang mit Erbenheim ergibt sich aus meinem Kenntnisstand nicht. Das ist ein fortlau-



Parl. Staatssekretär Wimmer
fender Prozeß. Das würde ich unterstellen. Aber damit ich Ihnen nichts Falsches sage, werd ich Ihre Frage gerne zum Anlaß nehmen, diesen Dingen unter Bezug auf Erbenheim noch einmal nachzugehen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114914700
Herr Gansel, eine Zusatzfrage, bitte schön.

Norbert Gansel (SPD):
Rede ID: ID1114914800
Herr Staatssekretär, gilt Ihre Aussage, daß diese militärischen Instrumente ungefährlich sind, nur für den Verteidiger oder auch in bezug auf einen möglichen Angreifer?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, da Sie diese Frage so nett gestellt haben, können Sie sich vorstellen, wie meine Antwort aussieht. Sie sind natürlich geeignet, die Sicherheit unseres Landes aufrechtzuerhalten. Das richtet sich gegen niemanden, es sei denn, jemand führt uns gegenüber böse Absichten im Schild.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114914900
Ich rufe die Frage 29 der Abgeordneten Frau Wieczorek-Zeul auf:
Hat die Bundesregierung Kenntnisse über den Stand der Umrüstung der Apache und Black Hawk, die in der Bundesrepublik Deutschland stationiert sind, und welche Schritte gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen — insbesondere nach dem jetzt bekanntgewordenen Unfall eines AH-64 in Bernkastel am 19. Mai 1989 —, um ein totales Flugverbot dieser Hubschrauber zu erreichen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Die in der Bundesrepublik stationierten Hubschrauber des Typs Black Hawk sind bis auf zwölf Maschinen bereits umgerüstet worden, um einen erhöhten Schutz gegen elektromagnetische Interferenzen zu erreichen.
Über den Stand der Umrüstung der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Hubschrauber des Typs Apache liegen die von den amerikanischen Streitkräften erbetenen Angaben noch nicht vor. Das deckt sich mit dem, was ich eben gesagt habe. Ich gehe der Frage im Zusammenhang mit Erbenheim sehr gerne nach.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114915000
Frau Wieczorek-Zeul, bitte.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1114915100
Herr Staatssekretär, Sie werden Verständnis dafür haben, daß diejenigen, die in der Region Wiesbaden leben, ein hohes Interesse daran haben, wie das nun mit den Sicherheitsstandards ist. In Anbetracht der Tatsache, daß die beiden Berichte aus dem Pentagon davon sprechen, daß Absturzgefahren durch elektromagnetische Interferenzen bestehen — u. a. durch Sender, die im RheinMain-Gebiet in Massen vorhanden sind — , frage ich Sie: Wie können Sie akzeptieren, daß solche Hubschrauber in dieser Region sind und dort auch eingesetzt werden? Denn das heißt ja, Sie nehmen hin, daß sie im Zweifelsfall dort abstürzen.
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, aus Vorfällen im Bereich der eigenen Streitkräfte wissen wir sehr genau, daß für alle Sender, die es auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland und NATO-weit gibt, in den entsprechenden Flughandbüchern die zu beachtenden Abstände eingetragen sind.
Das heißt, die Maschinen, die über unserem Territorium fliegen, dürfen diesen Sendeeinrichtungen nicht so nahekommen, daß sie die Abstände unterlaufen. Das sind Vorfälle, die wir aus einem tragisch verlaufenen Tornadounglück in Holzkirchen, im süddeutschen Bereich, selber kennen. Ich kann einen generellen Schluß, daß Fluggerät, das in die Nähe von Sendeanlagen kommt, absturzgefährdet ist, allein deshalb nicht zulassen, weil wir Vorkehrungen in flugtechnischer Hinsicht getroffen haben, daß unter den zu beachtenden Eintragungen in den Flughandbüchern derartige Dinge nicht angeflogen werden dürfen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114915200
Eine weitere Zusatzfrage.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1114915300
Herr Staatssekretär, interpretiere ich Sie dann richtig, daß bei Einhaltung der bei den Amerikanern notwendigen Sicherheitsabstände der Flugeinsatz von Apache und Black Hawk im Rhein-Main-Gebiet wegen der Abstände nicht stattfinden dürfte?
Darf ich zweitend rückfragen: Es gibt ja mittlerweile einen Unfall, der am 19. Mai stattgefunden und dazu geführt hat, daß einer der Hubschrauber im Moseltal neben einem Campingplatz niedergegangen ist. Ich möchte wissen: Was waren die Ursachen dafür? Ist die Bundesregierung dem nachgegangen? Welche Schlußfolgerungen ziehen Sie daraus?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: In bezug auf diesen Unfall, auf die Notlandung eines Apache-Hubschraubers in der Nähe von Bernkastel, kann ich darauf aufmerksam machen, daß die entsprechenden Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind. Aber bisher liegen uns keine Erkenntnisse über eine technische Störung vor.

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Aber er ist doch abgestürzt!)

— Es kann ja auch menschliche Gründe geben.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114915400
Jetzt bekommt Herr Gansel zu einer Zusatzfrage das Wort.

Norbert Gansel (SPD):
Rede ID: ID1114915500
Herr Staatssekretär, da Sie gesagt haben, es könnten auch menschliche Gründe sein, und nicht ausschließen, daß es sich um technische Gründe handelt, frage ich Sie: Sind Sie bereit, dann jedenfalls für ein vorübergehendes Flugverbot dieser Fluginstrumente zu sorgen?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Sie wissen, Herr Kollege Gansel, genauso gut wie ich, daß wir im Bereich der Bundesregierung jede geeignete Maßnahme ergreifen, um sicherzustellen, daß im Zusammenhang nicht nur mit militärischem Gerät alle Sicherheitsvorkehrungen eingehalten werden und daß das Erforderliche getan wird. Das hat die Bundesregierung immer, auch zu Ihrer Regierungszeit, unter Beweis gestellt.
Ich kann allerdings vor dem Hintergrund dieser Notlandung in Bernkastel keinen Hinweis darauf erkennen, daß an der Auffassung der Bundesregierung etwas auszusetzen ist, daß es derzeit keinen Grund für



Parl. Staatssekretär Wimmer
ein Flugverbot für die Black Hawk oder den Apache gibt.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114915600
Herr de With, Sie haben ebenfalls eine Zusatzfrage? — Bitte schön.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1114915700
Herr Staatssekretär, sind Sie nach allem, was wir bisher erlebt haben, sicher, daß die in den Flughandbüchern angegebenen Sicherheitsentfernungen tatsächlich auch eingehalten werden, so daß Sie ausschließen können, daß es dadurch zu Unfällen kommt?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Solange Menschen mit irgendwelchen Dingen beschäftigt sind, kann ich genauso wenig wie Sie etwas ausschließen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß wir im Bereich der NATO — und bei uns in der Bundeswehr sowieso — dienstlich alle Vorkehrungen getroffen haben, daß sich derartige Vorfälle nicht ereignen können. Wir haben die entsprechenden Präzisierungen in den Karten angegeben. Diese werden strikt eingehalten und überprüft. Ich glaube, daß gerade Vorfälle im Bereich der Bundesluftwaffe dazu beigetragen haben, mit allem Nachdruck jedem deutlich zu machen, wie präzise diese Dinge einzuhalten sind.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114915800
Ich rufe dann die Frage 30 des Abgeordneten Gansel auf:
In welcher Weise werden zur Kieler Woche Einladungen und Besuche ausländischer Marineeinheiten mit der Stadt Kiel und mit dem Land Schleswig-Holstein abgestimmt, und wie ist die Abstimmung in diesem Jahr in bezug auf den Besuch des US-Schlachtschiffes Iowa geschehen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, Veranstalter der Kieler Woche ist die Stadt Kiel. Sie ist der Gastgeber und lädt ausländische Marineeinheiten zur Teilnahme an der Kieler Woche ein. Über ihre Absichten informiert sie in allgemeiner Weise das Auswärtige Amt. Die Bundesmarine unterstützt den Gastgeber, die Stadt Kiel, bei der Betreuung dieser ausländischen Gäste. Inwieweit die Stadt Kiel die Landesregierung Schleswig-Holstein beteiligt, ist uns nicht bekannt.
Die Vereinigten Staaten zählen zu dem Kreis jener Nationen, die eine Einladung für jeweils drei Jahre erhalten. Mit der Entsendung der „Iowa" folgt die Marine der Vereinigten Staaten der Einladung der Stadt Kiel vom 18. Dezember 1987, in der zur Teilnahme an den Kieler Wochen 1989 bis 1991 eingeladen wurde. Die Bundesregierung begrüßt die Anwesenheit amerikanischer Marineeinheiten bei der Kieler Woche, die Ausdruck der Freundschaft und Sicherheitspartnerschaft zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland ist.

(Zustimmung des Abg. Eigen [CDU/CSU])


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114915900
Herr Gansel, eine Zusatzfrage bitte.

Norbert Gansel (SPD):
Rede ID: ID1114916000
Herr Staatssekretär, erfolgen die Einladungen der Stadt Kiel direkt an die ausländischen Marinen, oder ist es nicht vielmehr so, daß dieses unter Beteiligung und Federführung des Auswärtigen Amts und des Bundesverteidigungsministeriums geschieht, und sind diese Einladungen, die von der Stadt Kiel ausgehen, allgemeiner Art, oder beziehen sie sich auf konkrete Schiffe?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Soweit das Bundesministerium der Verteidigung betroffen ist, haben wir nur eine Funktion in der Betreuung der jeweiligen ankommenden Marineeinheiten. Soweit ich das hier sehen kann, gibt es von uns keine Einflußnahme auf die Art und Weise, auch keine Hilfestellung, wie Einladungen den Adressaten erreichen.
Nach dem, was ich hier sagen kann, wird nur das Auswärtige Amt, aber werden nicht wir über die Absichten der Stadt Kiel unterrichtet. Das ist also ausdrücklich nicht Gegenstand der Antwort, soweit ich sie Ihnen hier vortragen kann. Deswegen kann ich aus dieser Fragestellung und dem, was ich weiß, nur schließen, daß das Bundesministerium der Verteidigung bei der Einladung keine besondere Funktion übernimmt.

Norbert Gansel (SPD):
Rede ID: ID1114916100
Wann hat das Bundesverteidigungsministerium erfahren, daß die „Iowa" nach Kiel und in die Ostsee kommen wird, und hat das bei Ihnen zu irgendwelchen Tätigkeiten geführt?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen jetzt so nicht beantworten, wann wir zum erstenmal davon erfahren haben — ich beantworte die Frage gern schriftlich — , aber ich kann aus meiner Sicht der Dinge nur sagen, daß wir uns über den Besuch der „Iowa" freuen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114916200
Ich rufe die Frage 31 des Abgeordneten Gansel auf:
Hält die Bundesregierung die demonstrative Präsenz amerikanischer nuklear-bestückter Überwasserseestreitkräfte in der Ostsee als Gegengewicht zu den sowjetischen nuklearbewaffneten Seestreitkräften in der Ostsee für zwingend erforderlich, und hält sie es für sinnvoll, diese Demonstration mit der Kieler Woche zu verbinden?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung begrüßt es, daß Nicht-Ostsee-Anrainerstaaten mit ihren Seestreitkräften auch in Verbindung mit dem Besuch der Kieler Woche die Ostsee befahren. Sie verdeutlichen damit den Status der Hohen See der Ostsee. Dies wird von der Bundesregierung aus sicherheitspolitischen und völkerrechtlichen Gründen ausdrücklich begrüßt. Die Frage ihrer Bewaffnung ist in diesem Zusammenhang für uns ohne Belang.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114916300
Eine Zusatzfrage, Herr Gansel.

Norbert Gansel (SPD):
Rede ID: ID1114916400
Darf ich noch einmal die Frage wiederholen, die ich Ihnen schriftlich gestellt habe und die heute beantwortet werden sollte, nämlich ob „die Bundesregierung die demonstrative Präsenz amerikanischer nuklear-bestückter Überwasserseestreitkräfte in der Ostsee als Gegengewicht zu den sowjetischen nuklear-bewaffneten Seestreitkräften in der Ostsee für zwingend erforderlich" hält, und ob sie es für sinnvoll hält, „diese Demonstration mit der Kieler Woche zu verbinden"?



Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, ich darf nochmal auf meine Antwort in diesem Zusammenhang verweisen: Für uns ist die Ostsee ein Gebiet, das sich durch den Charakter der Hohen See auszeichnet. Auf der Hohen See kann jeder das machen, was er für richtig hält und wie das mit seinen Sicherheitsbelangen in Übereinstimmung steht.
Wir befinden uns im Zusammenhang mit den Vereinigten Staaten und anderen Partnern in der westlichen Allianz in einer außergewöhnlich guten Kooperationssituation. Wenn nun die Ostsee in unserem Verständnis Hohe See ist und wir uns auf der anderen Seite in der westlichen Allianz in einem hervorragenden Bündnis befinden, dann begrüßen wir jedes Erscheinen auch eines amerikanischen Flugzeugträgers z. B. in der Ostsee.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114916500
Sie haben noch eine Zusatzfrage, Herr Gansel.

Norbert Gansel (SPD):
Rede ID: ID1114916600
Ist in der geographischen Einschätzung des Bundesverteidigungsministeriums die Kieler Förde Hohe See, und muß ich Ihre Antwort so verstehen, daß es in der Bundesregierung niemand zur Kenntnis nimmt und es jedem egal ist, ob ein ausländisches Kriegsschiff in deutschen Hoheitsgewässern vor Anker geht, das mit so vielen Atomwaffen bestückt ist, daß es damit halb Europa in Schutt und Asche legen könnte?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, ich glaube kaum, daß wir Veranlassung haben, im Zusammenhang mit Schiffsbesuchen oder anderen Aktivitäten der verbündeten Streitkräfte auf deutschem Territorium eine solche Fragestellung zu diskutieren.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114916700
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Schulte.

Brigitte Traupe (SPD):
Rede ID: ID1114916800
Herr Kollege Wimmer, halten Sie persönlich es für sinnvoll, daß zu diesem Zeitpunkt ein solches Schiff sich in einem deutschen Hafen und in der Ostsee befindet?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich kann das mit uneingeschränktem Ja beantworten.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114916900
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grüner ist zur Beantwortung der Fragen gekommen.
Ich rufe die Frage 37 des Abgeordneten Hiller (Lübeck) auf.
Welche Vereinbarungen und Maßnahmen sind seit Inkrafttreten des deutsch-deutschen Umweltabkommens im Rahmen dieses Abkommens getroffen worden?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID1114917000
Ich wäre dankbar, wenn ich die beiden Fragen im Zusammenhang beantworten könnte.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114917100
Der Abgeordnete Hiller ist damit einverstanden. Dann rufe ich noch die Frage 38 des Abgeordneten Hiller (Lübeck) auf.
Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, in welchen Wirtschaftsbereichen sich von der Bundesrepublik Deutschland unterstützte Umweltprojekte auch für die DDR-Wirtschaft nicht nur ökologisch lohnen, sondern auch ökonomisch rechnen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Die deutsch-deutsche Umweltvereinbarung ist mit Unterzeichnung am 8. September 1987 in Kraft getreten. Seither haben 26 Treffen zwischen Experten aus dem Bundesumweltministerium und dem Bundeslandwirtschaftsministerium unter Einbeziehung von Fachleuten aus den Bundesländern und aus dem Umweltbundesamt mit Fachleuten aus der DDR stattgefunden. Dabei wurde ein intensiver Meinungs- und Erfahrungsaustausch über Luft- und Gewässerverschmutzung, Waldschäden, Abfallwirtschaft und Naturschutz geführt.
Schwerpunkte des Erfahrungsaustauschs im Bereich der Luftreinhaltung waren und sind die beiderseitigen Maßnahmen und Pläne zur Verringerung der Luftbelastung. Dabei hat die DDR wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß sie an dem Vorhaben einer Verringerung der Schwefeldioxidemissionen um 30 % bis 1993 entsprechend dem sogenannten HelsinkiProtokoll festhält. Dieses Ziel wird die DDR allerdings nur bei Einsatz moderner schadstoffarmer Verbrennungstechniken und unter Anwendung der Anlagen von Rauchgasreinigungstechniken erreichen können. Erfahrungen mit entsprechenden Techniken in der Bundesrepublik Deutschland sind demgemäß wesentlicher Gegenstand der von den Experten geführten Gespräche.
Ein gravierendes Umweltproblem — nicht nur für uns, sondern auch für die DDR selbst — stellt die hohe Belastung der Elbe mit Schadstoffen, aber auch mit Nährstoffen dar. Auch hierüber ist im Rahmen der Arbeitsgruppen intensiv gesprochen worden. Seit März dieses Jahres stehen wir in konkreten Verhandlungen mit der DDR mit dem Ziel, diese Belastungen zu verringern.
In der bisherigen Zusammenarbeit ist deutlich geworden, daß bestimmte Maßnahmen, die im Bundesinteresse liegen, in der DDR nur unter finanzieller Förderung durch den Bund ermöglicht werden können. Im Bundeshaushalt 1989 wurde deshalb die Möglichkeit geschaffen, aus dem Investitionstitel des Bundesministeriums für Umwelt auch Demonstrationsvorhaben in der DDR zu fördern. Derzeit führt die Bundesregierung mit der DDR Gespräche über mögliche zu fördernde Projekte. Diese Gespräche stehen kurz vor dem Abschluß. Bei diesen Vorhaben geht es im wesentlichen um Verbrennungstechniken und um Produktionsverfahren, die neben dem Schutz der Umwelt auch eine Rohstoff- und Energieeinsparung bewirken sollen. Einzelheiten können erst mitgeteilt werden, wenn die technischen Beschreibungen von seiten der DDR im Blick auf die durchzuführenden Projekte vorliegen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114917200
Herr Hiller, eine Zusatzfrage.

Reinhold Hiller (SPD):
Rede ID: ID1114917300
Herr Staatssekretär, kann ich Ihren Ausführungen entnehmen, daß zwar konkrete



Hiller (Lübeck)

Gespräche geführt worden sind, wie Sie es gesagt haben, daß aber leider bisher seit zwei Jahren keine konkreten Ergebnisse in Form von Vereinbarungen erzielt werden konnten?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich verweise auf die unmittelbar bevorstehende Festlegung von Projekten, zu denen die DDR Unterlagen vorlegen muß, die wir selbstverständlich im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages diskutieren. Wir sind zuversichtlich, daß in Kürze über solche Projekte eine Vereinbarung geschlossen werden kann. Das gilt natürlich immer unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Haushaltsausschusses.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114917400
Weitere Zusatzfrage, Herr Hiller.

Reinhold Hiller (SPD):
Rede ID: ID1114917500
Herr Staatssekretär, befindet sich unter diesen Projekten auch ein Projekt zur Verbesserung der Wasserqualität in der Elbe, und wird die Bundesregierung bereit sein, in ähnlichem Kostenumfang zu helfen, wie dies die norddeutschen Länder angekündigt haben?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich möchte nicht zu einzelnen Projekten Stellung nehmen, denn Voraussetzung für Vereinbarungen ist eine klare Haltung der DDR auch in der Frage, welche Projekte von dort aus mit Priorität versehen werden. Ich bitte um Verständnis, daß ich nicht zu Einzelheiten Stellung nehmen kann, solange keine Absprache vorliegt.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114917600
Herr Hiller, Sie haben noch zwei weitere Fragen.
Bitte schön, Herr Hiller.

Reinhold Hiller (SPD):
Rede ID: ID1114917700
Ich stelle Ergänzungsfragen zur zweiten Frage. Mir reicht Ihre Antwort auf meine Frage nicht aus, inwieweit der Bundesregierung Erkenntnisse über den Stand einer deutsch-deutschen Umweltkooperation vorliegen, die bereits von der bundesdeutschen Wirtschaft betrieben wird.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Es ist selbstverständlich, daß viele Investitionen und Abmachungen mit der deutschen Wirtschaft und mit Firmen der DDR neben ihrem Charakter der Modernisierung von Anlagen in der DDR auch positive Umweltschutzauswirkungen haben. Hier geht es allerdings um Projekte, die etwa mit staatlicher Hilfe von seiten der Bundesregierung gefördert werden sollen. Darüber ist, wie gesagt, eine Vereinbarung noch nicht getroffen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114917800
Herr Hiller, Ihre vierte Zusatzfrage.

Reinhold Hiller (SPD):
Rede ID: ID1114917900
Ist die Bundesregierung bereit, spezielle Untersuchungen ökonomischer Rentabilität in den konkreten Bereichen Elbe- und WerraSanierung sowie Braunkohle-Ersatz erstellen zu lassen und darüber zu berichten?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist selbstverständlich, daß bei der konkreten Erörterung von Projekten auch im Interesse der DDR insbesondere die Möglichkeit, Umweltschutz mit Produktivitätssteigerung zu verbinden, ein wesentliches Gesprächsziel und auch ein Gesprächsgegenstand ist. Es ist auch selbstverständlich, daß wir gern darüber berichten werden, soweit das möglich ist.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114918000
Ich rufe die Frage 39 des Abgeordneten Grünbeck auf:
In welcher Weise will die Bundesregierung bei einer Wiederaufarbeitung atomarer Brennelemente im Ausland sicherstellen, daß die dortigen Sicherheitsbestimmungen dem deutschen Niveau entsprechen und nicht etwa zugunsten der Wirtschaftlichkeit die Sicherheit leidet?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, in der von den Ministern Töpfer und Faroux unterzeichneten und veröffentlichten gemeinsamen deutschfranzösischen Erklärung vom 6. Juni 1989 wird zu dem von Ihnen als Frage behandelten Sachverhalt folgendes ausgeführt:
Beide Länder verfügen auf diesem Gebiet über eine besonders große Erfahrung. Sie stellen die gleichen hohen Forderungen im Bereich der Sicherheit und des Umweltschutzes. Sie sehen es für die Gewährleistung dieses sehr hohen Sicherheitsstandards als erforderlich an, die aus dem Rückfluß der Betriebserfahrungen und aus der Sicherheitsforschung gewonnenen Erkenntnisse einzubeziehen. Beide Regierungen beschließen, eine deutsch-französische Expertengruppe einzusetzen, die den Auftrag hat, gemeinsame Überlegungen zur Sicherheit der Entsorgungsanlagen anzustellen und ihre Schlußfolgerungen hierzu vorzulegen. Die kerntechnischen Anlagen eines jeden Landes bleiben den jeweiligen nationalen Bestimmungen im Bereich der Sicherheit unterworfen. Darüber hinaus erwartet die Bundesregierung nach den Gesprächen mit der deutschen Elektrizitätsversorgungswirtschaft gemäß dem Kabinettsbeschluß vom 6. Juni 1989 unter anderem, daß — und jetzt zitiere ich wörtlich — „der Aspekt der Weiterentwicklung von Sicherheitsstandards von den Unternehmen der Elektrizitätsversorgungswirtschaft auch in den Verhandlungen mit ausländischen Wiederaufarbeitungsunternehmen aktiv verfolgt wird und in den entsprechenden Verträgen seinen Niederschlag findet" .

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114918100
Herr Grünbeck, Zusatzfrage. Bitte schön.

Josef Grünbeck (FDP):
Rede ID: ID1114918200
Herr Staatssekretär, waren nicht vorwiegend finanzielle bzw. wirtschaftliche Gründe öffentlich diskutiert worden, warum man Wackersdorf aufgibt und La Hague nimmt: weil es dort wesentlich weniger Investitionen und auch wesentlich weniger Betriebskosten zu verbuchen gibt? Und ist es dann nicht eigentlich falsch, daß man Wackersdorf durch ständig neue Sicherheitsauflagen so teuer gemacht hat und jetzt schließlich dem öffentlichen Druck nachgibt

(Frau Wollny [GRÜNE]: Aha! Dem öffentlichen Druck!)

und nach Frankreich ausweicht, wo eine Umrüstung auf neue Sicherheitsstandards nach deutschen Vorstellungen nach Angaben der Franzosen in den Anlagen I und II in La Hague gar nicht mehr möglich ist



Grünbeck
und in der Anlage III, die in La Hague gebaut wird, wohl zu teuer wird?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich betone noch einmal, daß für uns ausschlaggebend ist, im Zusammenhang mit dieser vereinbarten Zusammenarbeit sicherzustellen, daß alle Möglichkeiten, die sicherheitstechnisch vorhanden sind, auch für die Anlagen in Frankreich diskutiert werden. Wenn eine Aufgabe von Wackersdorf damit begründet worden ist, daß Kapazitätsüberschüsse und -überhänge im Bereich der Wiederaufarbeitung eine veränderte Beurteilung erlauben und daß es insbesondere das Angebot Frankreichs gibt, eine solche Wiederaufarbeitung auf Dauer und völkerrechtlich abgesichert für deutsche Kernbrennstäbe zuzulassen, so sind das die beiden entscheidenden Gesichtspunkte, die neu waren und diese Entwicklung eingeleitet haben. Es bleibt dabei das Ziel der Verhandlungen, wie ich es dargestellt habe, daß die Sicherheitsstandards, die auf unseren Erfahrungen beruhen, allerdings auch auf Erfahrungen, die — das sollte man sehr deutlich hinzufügen — noch nicht in die Realität umgesetzt worden sind, in diese Verhandlungen eingehen. Ich verweise noch einmal darauf, daß die Elektrizitätswirtschaft uns die Zusage gegeben hat, auch ihren wirtschaftlichen Einfluß geltend zu machen, um möglichen Sicherheitsstandards zum Durchbruch zu verhelfen, die sich als technisch verwirklichbar darstellen. Ein verläßliches Urteil darüber wird man wahrscheinlich erst dann wirklich gewinnen können, wenn das Ergebnis dieser Expertengespräche vorliegt.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114918300
Herr Abgeordneter Grünbeck zu einer Zusatzfrage.

Josef Grünbeck (FDP):
Rede ID: ID1114918400
Herr Staatssekretär, war der zeitliche Ablauf dieser Verhandlungen nicht so, daß Herr von Bennigsen-Foerder mit den Franzosen hinter dem Rücken der Bundesregierung verhandelt und in dem damaligen „Spiegel"-Interview eigentlich nur wirtschaftliche Gründe angegeben hat, die ihn dazu bewogen haben, einen Vorvertrag mit den Franzosen abzuschließen, um die Bundesregierung anschließend — ich will es einmal vorsichtig ausdrücken — erpreßbar zu machen, damit sie diesen Verhandlungen zustimmen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich kann das so nicht sehen, Herr Kollege Grünbeck, denn beide Verhandlungspartner, sowohl die COGEMA wie auch die Veba haben ihr Memorandum of Understanding ausdrücklich unter den Vorbehalt der Zustimmung der beiden Regierungen gestellt. Es war ja eine entscheidende Voraussetzung für unsere Zustimmung, übrigens auch für die Zustimmung der französischen Regierung, daß der gesamte Brennstoffkreislauf — ausdrücklich unter Einbeziehung der Wiederaufbearbeitung, die ja nicht unbedingt im wirtschaftlichen Interesse der Elektrizitätsversorgungsunternehmen liegt, wenn Sie rein den wirtschaftlichen Aspekt betrachten — in der bisherigen Form gesichert ist.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114918500
Eine Zusatzfrage, Frau Wollny, bitte schön.

Lieselotte Wollny (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114918600
Herr Staatssekretär, halten Sie es für möglich, daß Frankreich die nationalen Sicherheitsbestimmungen, die nachweislich ja eine wesentlich niedrigere Schwelle haben als die unseren, zugunsten dieses Vertrages verändern wird?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich bin davon überzeugt, daß die Franzosen ein vitales Interesse daran haben, höchste Sicherheitsstandards zu verwirklichen. Wir haben allen Grund, die hohe Leistungsfähigkeit der französischen Technik, die gerade in diesem Bereich vorhanden ist — das zeigen zwei fertiggestellte Wiederaufarbeitungsanlagen und eine weiterentwickelte dritte —, die weit über das hinausgeht, was bei uns verwirklicht worden ist, wenn man einmal von der Pilotanlage in Karlsruhe absieht, anzuerkennen. Wir haben, auch auf Grund der Verhandlungen, die geführt worden sind, alle Zuversicht, daß der Wunsch nach höchstmöglicher technischer Sicherheit erfüllt wird, natürlich unter den dort gegebenen Standortbedingungen und unter Aufrechterhaltung der nationalen französischen Souveränität hinsichtlich der Anforderungen an die Sicherheit, die endgültig gestellt werden, und daß jede technische Möglichkeit zur Steigerung der Sicherheit dort auch genutzt werden wird.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114918700
Ich rufe die Frage 40 des Abgeordneten Grünbeck auf:

(Frau Abg. Wollny [GRÜNE] meldet sich zu einer weiteren Zusatzfrage)

— Nein, das geht nicht.
Ergeben sich aus den deutsch-französischen Arbeitsgesprächen zu einem Wiederaufarbeitungsvertrag mit La Hague Anzeichen, daß langfristig Gorleben auch als Endlagerstandort für hochradioaktive Abfälle aus französischen Atomanlagen ins Auge gefaßt wird?
Bitte, schön.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich beantworte Ihre Frage mit nein. In der bereits erwähnten deutsch-französischen Erklärung vom 6. Juni 1989 erinnern beide Regierungen unmißverständlich daran, daß eine Grundlage ihrer Politik darin besteht, die bei der Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen aus kerntechnischen Anlagen beider Länder anfallenden radioaktiven Abfälle unter der Verantwortung desjenigen Landes endzulagern, in dem die Kernbrennstoffe eingesetzt wurden.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114918800
Bitte schön, Herr Grünbeck, zu einer Zusatzfrage.

Josef Grünbeck (FDP):
Rede ID: ID1114918900
Herr Staatssekretär, darf ich mich noch einmal auf das Interview von Herrn BennigsenFoerder im „Spiegel" berufen, wo er ausdrücklich betont, daß über die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle mit den Franzosen in Gorleben verhandelt wurde und daß dies eine Chance wäre, ein integriertes europäisches Entsorgungskonzept statt eines nationalen Entsorgungskonzeptes aufzustellen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich zitiere, was die Politik der beiden Regierungen ist und was in einer völkerrechtlichen Vereinbarung in diesem Zusammenhang zwischen den beiden Regierungen vorgelegt werden wird und vorgelegt und ver-



Parl. Staatssekretär Grüner
handelt worden ist. Dabei ist nicht maßgebend, welche wirtschaftliche Auffassung ein noch so gewichtiger Konzern vertritt und welche Möglichkeiten rein wirtschaftlicher Art etwa hier für die Zukunft gesehen werden können. Wir sind der Meinung, daß diese mit den Franzosen vereinbarte Festlegung bindend ist und bindend bleiben sollte.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114919000
Eine Zusatzfrage, Herr Grünbeck.

Josef Grünbeck (FDP):
Rede ID: ID1114919100
Herr Staatssekretär, könnten Sie der Öffentlichkeit zusagen und unsere gemeinsame, immer wieder in die Energiepolitik eingebrachte Forderung bestätigen, daß durch diesen deutsch-französischen Vertrag das Konzept, daß Sicherheit vor Wirtschaftlichkeit geht, nicht geändert wird?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Das ist ein ganz entschiedener Wille der Bundesregierung.

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Ein ganz entschiedener Widerspruch!)

Das ist auch — um das sehr deutlich zu machen — der Wille der Elektrizitätsversorgungswirtschaft. Die Gespräche mit der französischen Regierung, übrigens auch die mit der englischen Regierung in dieser Frage, haben bestätigt, daß die hohe Bedeutung der Sicherheit für diese Technik in allen drei Ländern gleichermaßen gesehen wird und daß natürlich auch das Bewußtsein für die Notwendigkeit, Sicherheit vor Wirtschaftlichkeit zu stellen, sehr stark gewachsen ist. Hier hat sich sicher auch ein Prozeß des Nachdenkens durchgesetzt, den man vor 15 Jahren nicht im gleichen Umfang feststellen konnte; das will ich freimütig zugestehen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114919200
Frau Wollny will noch eine Zusatzfrage stellen. Bitte.

Lieselotte Wollny (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114919300
Herr Staatssekretär, in der gemeinsamen Erklärung gibt es durchaus Äußerungen, die dem, was Sie gesagt haben, zumindest für die Zukunft widersprechen. Hat die Bundesregierung die Absicht, und auf welche Art und Weise gedenkt sie, durch einen völkerrechtlichen Vertrag für die Zukunft tatsächlich auszuschließen, daß ausländische hochradioaktive oder andere radioaktive Abfälle in bundesdeutschen Endlagern gelagert werden?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Durch eine entsprechende staatliche Vereinbarung, die gleichzeitig eine strenge Nachweisverpflichtung für die beteiligten Wirtschaftsunternehmen enthält, wollen wir eine solche Garantie sicherstellen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114919400
Entschuldigung, ich habe das eben nicht verstanden. Ist schon eine Antwort gegeben worden?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ja.

(Frau Wollny [GRÜNE]: Das sollte eine sein!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114919500
Dann komme ich zu Frage 41 des Abgeordneten Dr. Knabe:
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung im Rahmen des Aktionsprogramms „Rettet den Wald" nach dem Kabinettsbeschluß vom 24. Juli 1985 getroffen, und wie weit ist die beabsichtigte Fortschreibung gediehen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Knabe, die Bundesregierung hat seit 1985 wie schon in den Jahren vorher umfangreiche nationale und internationale Maßnahmen zur Rettung des Waldes ergriffen. Hiervon sind alle drei im Aktionsprogramm behandelten Schwerpunktbereiche betroffen, nämlich Maßnahmen zur Luftreinhaltung — die Ihnen ja bekannt sind —, forstliche Maßnahmen und Fördermaßnahmen zur Erforschung der Ursachen und Wirkungszusammenhänge.
Der bereits innerhalb der Bundesressorts abgestimmte Entwurf einer dritten Fortschreibung dieses Aktionsprogramms wird unter Einbeziehung der jüngsten Beschlüsse über die Kraftfahrzeuge in der Europäischen Gemeinschaft vom 8./9. Juni umgehend dem Kabinett zugeleitet und anschließend veröffentlicht werden.
Das Aktionsprogramm und das, was demnächst vorgelegt werden wird, umfassen die umfangreichen nationalen und internationalen Maßnahmen des Bundes, die der Rettung des Waldes dienen. Es ist also eine umfassende Darstellung und Zusammenschau der Politik der Bundesregierung zur Bekämpfung der Waldschäden.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114919600
Herr Dr. Knabe, bitte schön.

Dr. Wilhelm Knabe (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114919700
Herr Staatssekretär, welche Probleme gab es bei der Abstimmung zwischen den Ministerien, die dazu geführt haben, daß bis heute die Fortschreibung noch nicht vorliegt? Denn die Erklärung von 1985 liegt ja schon einige Jahre zurück.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Entscheidend ist, daß die Bundesregierung den Wunsch hatte, möglichst alle Maßnahmen, die ergriffen worden sind und über die ja auch noch sehr intensive Verhandlungen auf der europäischen Ebene notwendig waren, mit in diesen Waldschadensbericht aufzunehmen. Wir meinen, daß gerade nach den jüngsten Durchbrüchen in Brüssel zugunsten des verbesserten Abgasverhaltens der Personenkraftwagen durch entsprechende Fördermaßnahmen und vor allem durch die Festlegung des höchstmöglichen Standes der Technik für die Zukunft die Einbeziehung dieser Maßnahmen in den Waldschadensbericht von großer Wichtigkeit ist.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114919800
Herr Dr. Knabe, Sie haben eine weitere Zusatzfrage.

Dr. Wilhelm Knabe (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114919900
Meine zweite Zusatzfrage bezieht sich auf die Verwendung der Geldmittel. Welche Geldmittel stehen zur Verfügung, und wie teilen sie sich auf die Bereiche „Zuschüsse zu technischen Anlagen", „Aufwendungen für Forschung" und „Aufwendungen für internationale Verhandlungen und Kontakte " auf?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann diese Frage hier aus dem Stegreif, wie Sie verstehen werden, nicht beantworten. Aber ich werde Ihnen



Parl. Staatssekretär Grüner
dazu gerne eine ergänzende Mitteilung zukommen lassen, es sei denn, Sie wären bereit, das Aktionsprogramm, das ich angekündigt habe, abzuwarten.

Dr. Wilhelm Knabe (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114920000
Ich wäre für eine Vorabinformation dankbar.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Gerne, das werde ich machen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114920100
Wir sind am Ende der Fragestunde. Die nicht beantworteten Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt ).
Ich habe nun eine ganze Menge von Abstimmungsvorlagen vor mir und brauche Ihre Mitarbeit. Ich hoffe, die Kolleginnen und Kollegen Geschäftsführer sind entsprechend präpariert.
Die Abstimmungen über die Vorlagen zur Europapolitik sowie über die Vorlagen, zu denen eine Aussprache nicht vorgesehen ist, konnten vor der Mittagspause nicht mehr durchgeführt werden. Wir kommen daher jetzt zu diesen Abstimmungen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 a zur Abstimmung auf: Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Durchführung der EG-Richtlinie zur Koordinierung des Rechts der Handelsvertreter, Drucksachen 11/3077 und 11/4559.
Ich rufe die Art. 1 bis 4 sowie Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind diese Vorschriften bei Enthaltung der Fraktionen der SPD und der GRÜNEN angenommen worden.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Ich stelle fest, der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der beiden anderen Fraktionen angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Tagesordnungspunkte 5 b bis 5 d und 5r. Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/4228, 11/4229, 11/3756 und 11/4569 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Die Überweisungen sind dann so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über eine Reihe von Beschlußempfehlungen zu Vorlagen der Europäischen Gemeinschaft. Es geht um Vorschläge zur Verkehrspolitik, zum digitalen Fernmeldenetz, zum hochauflösenden Fernsehen sowie zur Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge in der Europäischen Gemeinschaft.
s) Die Antworten werden als Anlagen im Plenarprotokoll 11/ 150 abgedruckt.
Kann ich davon ausgehen, daß wir über die Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen können?

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Was heißt „gemeinsam" ? Getrennt!)

— Nun denn.
Wir kommen zuerst zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/4535. Wer stimmt dafür? Ich bitte um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/4449. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/4558. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN und der Fraktion der SPD ist diese Beschlußempfehlung angenommen worden.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/4597. Wer stimmt dafür? Ich bitte um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung angenommen worden.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/4557. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/4479. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der SPD gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/4480. Wer stimmt dafür? Ich bitte um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Das ist mit der gleichen Mehrheit gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen worden.
Es folgt nun die Abstimmung über die Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/4544. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Der Tagesordnungspunkt 5 m ist abgesetzt worden.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 5 n.

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Können Sie bitte noch einmal den Titel sagen?)

— Ich will der Kollegin helfen und sagen: Es geht um
die Drucksache 11/4650, einen Antrag der Fraktion
der SPD betreffend Stärkung der Rechte des Europäi-



Vizepräsident Westphal
schen Parlaments. Jetzt haben wir genügend hervorgehoben, wie wichtig dieser Antrag ist.

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Ich wollte nur, daß Sie das auch hören! — Irmer [FDP]: Ich wollte eine Erklärung nach § 31 abgeben! Ich habe das vorher angemeldet!)

— Das ist mir gemeldet worden; es steht hier in der Notiz. Bitte schön, Herr Irmer, nach § 31 der Geschäftsordnung erteile ich Ihnen dazu vor der Abstimmung das Wort.

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1114920200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Wieczorek-Zeul hat heute früh gesagt, daß sie Wert darauf legt, daß wir über diesen Antrag heute schon abstimmen.
Ich muß Ihnen sagen, Frau Kollegin: Es tut mir außerordentlich leid, wir müßten uns, wenn Sie auf der Abstimmung bestehen, gegen diesen Antrag aussprechen.
Es ist erklärungsbedürftig, wenn die FDP-Fraktion sagt, daß sie einem Antrag nicht zustimmen kann, der mit „Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments" betitelt ist. Wir haben hier aber ein Problem. Sie hatten ursprünglich einen Antrag eingebracht, der sich ähnlich wie unser Antrag darauf beschränkte zu sagen, daß sich der Deutsche Bundestag einmütig für eine Stärkung des Europäischen Parlaments ausspricht. Wir haben darüber hinaus eine Frist gesetzt. Wir haben gesagt, bis zum 31. Dezember 1992, dem magischen Datum für die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes, muß auch deutlich werden, daß die EG nicht nur eine wirtschaftliche Dimension, sondern darüber hinaus eine politische Dimension hat. Sie haben dankenswerterweise in Ihrem Antrag unter Ziffer 7 genau diesen Gedanken aufgegriffen, und zwar zum wiederholten Male. Wir freuen uns darüber. Sie haben lediglich nicht das Datum 31. Dezember 1992 erwähnt, sondern haben gesagt: zu Beginn der Wahlperiode des jetzt am Sonntag zu wählenden Parlaments. Sie haben auch keine Frist gesetzt.

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Doch! Bis Ende 1991! Das ergibt sich ganz klar!)

— Ja, es ergibt sich daraus.
Uns gefällt der 31. Dezember 1992 besser, weil das auch das Datum der Vollendung des Binnenmarkts ist. Darüber hinaus haben wir der Bundesregierung eine Berichtspflicht auferlegt — wir werden das nachher beschließen — , wonach die Bundesregierung jedes Jahr über die Fortschritte zu berichten hat.
Jetzt kommt aber der viel gravierendere Punkt. Liebe Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, liebe Heidi, Sie oder du — der Form halber: Sie; nicht aus Bosheit — —

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114920300
Bitte keine Debatte! Sie müssen bei der Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung bleiben.

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1114920400
Ich halte mich an die Zeit.
Sie verlangen hier, daß wir im Hauruck-Verfahren Einzelheiten eines europäischen Verfassungsentwurfes beschließen. Schauen Sie sich doch einmal Ihre Ziffern 1 bis 6 an. Das können wir doch nicht machen,
wenn die Drucksache erst seit zwei Wochen auf dem Tisch liegt und wenn hier heute früh nur fünf Minuten dazu gesprochen wurde. Das ist unmöglich. Dazu jubeln Sie uns im Schlußsatz noch die Einführung eines Europaausschusses im Bundestag unter.
Meine Damen und Herren, dies muß in den Ausschuß, oder wir müssen es ablehnen. Ich kann doch jetzt nicht beschließen, daß das Europäische Parlament zwar den Präsidenten der Kommission, aber nicht die einzelnen Mitglieder wählt.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114920500
Herr Kollege, dies ist Debatte, dies hätte heute vormittag geschehen müssen. Es tut mir furchtbar leid.

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1114920600
Ich erkläre, warum meine Fraktion, falls Sie auf Abstimmung an Ort und Stelle bestehen, dazu gezwungen ist, diesen Antrag abzulehnen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114920700
Auf der gleichen Basis hat sich die Kollegin Frau Wieczorek-Zeul gemeldet. Bitte schön.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1114920800
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es steht natürlich jeder Fraktion frei, bei Abstimmung über diesen Antrag getrennte Abstimmung zu den einzelnen Punkten zu beantragen. Die Frage des gleichgewichtigen Gesetzgebungsrechtes des Europäischen Parlamentes gegenüber dem Ministerrat ist eine Forderung

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Deswegen sind Sie aus dem Europäischen Parlament freiwillig ausgeschieden!)

— da Sie der Debatte heute morgen nicht zugehört haben, wären Sie jetzt besser still; das würde ich Ihnen sehr empfehlen —, die alle Parteien in diesem Hause in ihren Programmen haben.
Im übrigen haben wir als SPD-Fraktion hier einen Antrag eingebracht, der in diesen konkreten Fragen Aufforderungen an das Europäische Parlament und an die Bundesregierung richtet und sagt: Auf der Basis dieser Vorschläge soll es eine parlamentsfreundliche Reform der EG-Verträge geben. Diesem Auftrag, lieber Uli Irmer — jetzt sage ich auch „Sie" —, könnten auch Sie zustimmen.
Ich halte es für ganz wichtig, daß wir in dieser Debatte heute nicht nur allgemeine hehre Erklärungen abgeben, sondern einen konkreten Auftrag geben; denn, Uli Irmer, du weißt genausogut wie ich: Jede Bundesregierung hat aus dem Kompetenzverlust des nationalen Parlamentes Machtgewinn gezogen, und sie wird diesen Machtgewinn ohne den Auftrag unseres Parlamentes und ohne parlamentarischen Druck nicht abgeben. Es geht darum, daß wir als Deutscher Bundestag heute ein klares Votum abgeben und das Europäische Parlament in dieser Frage unterstützen.
Ich danke Ihnen.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Eine reine ShowSache, die Sie hier machen!)





Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114920900
Meine Damen und Herren, für den Präsidenten hier oben ist es immer schwierig, zu wissen, ob es sich tatsächlich um eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung handelt. Wir können immer nur im nachhinein feststellen, ob sich eine Erklärung in dem erlaubten Rahmen gehalten hat. Ich muß zu den beiden eben abgegebenen Erklärungen feststellen, daß sie sich nicht ganz im Rahmen des § 31 unserer Geschäftsordnung gehalten haben.

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Ich bitte um Nachsicht!)

Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 5 n. Zur Abstimmung steht der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4615, betreffend Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments. Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 5 o: Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/4450. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1875, betreffend die Erklärung der Bundesregierung über die Ergebnisse des Europäischen Rates und der Gespräche in Washington abzulehnen. Wer für die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Ich stelle fest, daß diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden ist.
Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 5p. Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie auf Drucksache 11/4669, betreffend Forschung und technologische Entwicklung auf den Gebieten Rohstoffe und Rückführung ab. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 5 q. Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie auf Drucksache 11/4670 ab. Es handelt sich um einen Vorschlag des Rates zur Umweltforschung. Wer für die Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN wurde diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über Zusatztagesordnungspunkt 3. Dies betrifft die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/4735. Es geht um einen Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP betreffend Vollendung des europäischen Binnenmarktes sowie
um einen Antrag der Fraktion der SPD betreffend Europapolitik.

(Frau Wieczorek-Zeul [SPD]: Getrennte Abstimmung!)

— Getrennte Abstimmung. — Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/4735 unter Ziffer 1, den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf der Drucksache 11/3865 anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der anderen Fraktionen angenommen worden.
Jetzt kommen wir zu der Empfehlung des Ausschusses auf Drucksache 11/4735 unter Ziffer 2. Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3851 (neu) soll abgelehnt werden. Wer für die Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist die Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Fraktionen der Koalition gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.
Wir kommen zu Zusatztagesordnungspunkt 4: Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/4751 ab. Es geht um einen Entschließungsantrag zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament „Entschließung zum Europa der Bürger". Der Abgeordnete Todenhöfer hat die Absicht, eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung abzugeben. Ich gebe ihm dazu das Wort.

Dr. Jürgen Todenhöfer (CDU):
Rede ID: ID1114921000
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor einigen Monaten hatten eine Reihe von Kollegen und ich versucht, im Zusammenhang mit dem Entwurf des Europäischen Parlaments zur Gründung der sogenannten Europäischen Union einen ergänzenden Entschließungsantrag zu erreichen, der das Recht der Deutschen auf Wiedervereinigung in völkerrechtlich verbindlicher Form voll und uneingeschränkt berücksichtigt und absichert und damit die Europapolitik mit der Wiedervereinigungspolitik in Einklang hält.
Ich sehe es als einen Erfolg unserer damaligen Bemühungen an, daß es durch die CDU/CSU-Fraktion im Januar 1989 mit Zustimmung der FDP zu einem ergänzenden Entschließungsantrag gekommen ist, der versucht, das Ziel der Wiedervereinigung zu einem ausdrücklichen Ziel der westeuropäischen Gemeinschaft zu machen, und der die westeuropäische Integration in eine gesamteuropäische Zielsetzung stellt. Dies ist ein äußerst bedeutsamer Schritt in die richtige Richtung.
Ich bedaure übrigens sehr, daß sich die SPD diesem Antrag nicht angeschlossen hat. Das spricht aus meiner Sicht für ein gestörtes Verhältnis zum Thema Wiedervereinigung.

(Wiefelspütz [SPD]: Unverschämtheit! — Weiterer Zuruf von der SPD: Dummes Zeug!)




Dr. Todenhöfer
Obwohl ich seinerzeit in der CDU/CSU-Fraktion einen weitergehenden Antrag eingebracht hatte,

(Wiefelspütz [SPD]: Sie Ewiggestriger!)

werde ich dem Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP bei der Abstimmung im Deutschen Bundestag zustimmen. Ich habe meinen eigenen Antrag vorläufig — ich unterstreiche: vorläufig — zurückgestellt, weil die jetzt dem Deutschen Bundestag vorliegende Entschließung der Realisierung meines Anliegens nicht widerspricht. Die CDU/CSU-Fraktion hat sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt, da es noch nicht um einen ratifikationsfähigen Vertragsentwurf geht, noch nicht mit den rechtlichen Einzelheiten der Frage befaßt, wie die völlige Handlungsfreiheit der Bundesrepublik Deutschland in der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands auch beim Beitritt zu einer Europäischen Union völkerrechtlich abgesichert werden kann.
Die vorläufige Zurückstellung meines Antrags erfolgte allerdings nur unter der Bedingung, daß die Ratifikation der endgültigen Fassung des Gründungsvertrages zur Europäischen Union davon abhängig gemacht wird, daß der Vertrag die Verwirklichung des Ziels der Wiedervereinigung Deutschlands in keiner Weise behindert. Dies setzt konkret voraus, daß durch einen eindeutigen und unmißverständlichen Wiedervereinigungsvorbehalt oder durch die Formulierung des Vertragstextes selbst völkerrechtlich verbindlich sichergestellt wird, daß die Bundesrepublik Deutschland befugt bleibt, ohne die Zustimmung anderer EG-Staaten auf das Ziel der Wiedervereinigung hinzuwirken und diese zu verwirklichen. Es muß sichergestellt sein, daß die deutsche Wiedervereinigung auch nach einem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Europäischen Union nicht am Veto eines oder mehrerer EG-Staaten scheitern kann.
Das gleiche gilt selbstverständlich auch für die Gründung eines westeuropäischen Bundesstaates oder eines westeuropäischen Staatenbundes. Das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen kann nicht weniger umfassend sein als das Selbstbestimmungsrecht anderer Nationen dieser Welt. Die Wiedervereinigung auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts ist die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114921100
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/3866. Der Ausschuß empfiehlt, ihn anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der GRÜNEN bei Enthaltung der Fraktion der SPD angenommen worden.
Wir kommen jetzt zu einer ganzen Reihe anderer Tagesordnungspunkte, über die wir ohne Aussprache zu befinden haben.
Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Lohnstatistik
— Drucksache 11/4118 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß)

— Drucksache 11/4766 —
Berichterstatter: Abgeordneter Hoss

(Erste Beratung 134. Sitzung)

Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift mit den vom Ausschuß empfohlenen Änderungen auf. Wer Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift mit den vom Ausschuß empfohlenen Änderungen anzunehmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Mehrheit und bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.
Punkt 7 der Tagesordnung ist abgesetzt worden.
Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung neuer Freihäfen und zur Änderung des Zollgesetzes
— Drucksache 11/4033 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses (7. Ausschuß)

— Drucksache 11/4738 —
Berichterstatter: Abgeordnete Poß Dr. Vondran
b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/4739 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Roth (Gießen) Dr. Weng (Gerlingen)
Dr. Struck
Frau Vennegerts

(Erste Beratung 143. Sitzung)

Ich rufe die §§ 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN sind die aufgerufenen Vorschriften angenommen worden.



Vizepräsident Westphal
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN und bei einer Stimmenthaltung aus der Fraktion der CDU/CSU ist der Gesetzentwurf angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 11/2218 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuß)

— Drucksache 11/4643 —
Berichterstatter: Abgeordnete Lutz Regenspurger
Richter
Such
b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/4647 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Deres Kühbacher
Frau Seiler-Albring Kleinert (Marburg)


(Erste Beratung 103. Sitzung)

Ich rufe die Art. 1 bis 9, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN sind die Vorschriften angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist der Gesetzentwurf angenommen worden.
Punkt 10 der Tagesordnung wird morgen aufgerufen.
Ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen
Einwilligung in die Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in München-Bogenhausen, Möhlstraße 3, gemäß § 64 Abs. 2 BHO
— Drucksachen 11/4067 (neu), 11/4446 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Struck Roth (Gießen)

Zywietz
Frau Vennegerts
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 11/4446? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.
Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 116 zu Petitionen
— Drucksache 11/4656 —
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/4656? — Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung angenommen worden.
Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Zweite Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
— Drucksachen 11/4189, 11/4430 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Gautier
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/4430? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr (14. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über einen Verhaltenskodex im Zusammenhang mit computergesteuerten Buchungssystemen
— Drucksachen 11/3703 Nr. 2.26, 11/4616 —
Berichterstatter: Abgeordneter Kohn
Wer stimmt der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr auf Drucksache 11/4616 zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe Punkt 15 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur-



Vizepräsident Westphal
Schutz und Reaktorsicherheit (21. Ausschuß) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung und Ergänzung von Anhang II der Richtlinie 86/280/EWG betreffend Grenzwerte und Qualitätsziele für die Ableitung bestimmter gefährlicher Stoffe im Sinne der Liste I des Anhangs zur Richtlinie 76/464/EWG
— Drucksachen 11/3832 Nr. 29, 11/4655 -
Berichterstatter:
Abgeordnete Stahl (Kempen) Frau Garbe
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 11/4655? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe Punkt 16 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (13. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Festsetzung von Höchstgehalten an Rückständen von Schädlingsbekämpfungsmitteln auf und in bestimmten Erzeugnissen pflanzlichen Ursprungs, einschließlich Obst und Gemüse, sowie zur Änderung der Verfahrensvorschriften der Richtlinie 76/895/EWG über die Festsetzung von Höchstgehalten an Rückständen von Schädlingsbekämpfungsmitteln auf und in Obst und Gemüse
— Drucksachen 11/4019 Nr. 2.36, 11/4671 —
Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Adler
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.
Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN
Beendigung des Bürgerkrieges in der Republik SUDAN
— Drucksache 11/4747 —
Wer stimmt für den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 11/4747? — Wer stimmt dagegen? — Dieser Antrag ist einstimmig angenommen worden.
Interfraktionell ist vereinbart worden, daß bei diesem Tagesordnungspunkt auch die Unterrichtung durch das Europäische Parlament über die Entschließung zur dramatischen Lage im Sudan und zur Gefährdung der Friedensinitiative auf Drucksache 11/4226 behandelt wird. Es wird vorgeschlagen, diese Vorlage zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu überweisen.
Sind Sie damit einverstanden? — Das kann ich feststellen. Die Überweisung ist beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 und den Zusatzpunkt 7 auf:
17. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Apel, Poß, Brück, Börnsen (Ritterhude), Dr. Hauchler, Huonker, Kastning, MatthäusMaier, Dr. Mertens (Bottrop), Oesinghaus, Reschke, Westphal, Dr. Wieczorek, Bahr, Simonis, Ewen, Tietjen, Oostergetelo, Buschfort, Esters, Stahl (Kempen), Vosen, Großmann, Dr. Nöbel, Diller, Schreiner, Fischer (Homburg), Conrad, Dr. Götte, Müller (Pleisweiler), Hämmerle, Schäfer (Offenburg), Erler, Kirschner, Bindig, Dr. Skarpelis-Sperk, Vahlberg, Bamberg, Wimmer (Neuötting), Leidinger, Kißlinger, Weyel, Büchner (Speyer), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Steuerliche Behandlung der Grenzgänger
— Drucksache 11/2328 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Haushaltsausschuß
ZP7 Erste Beratung des vorn Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes
— Drucksache 11/391 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (federführend)

Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß gem. § 96 GO
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/2328 und 11/391 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Kann ich Einverständnis feststellen? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Punkt 18 der Tagesordnung auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Äußerungen von Regierungssprecher Bundesminister Klein zur Waffen-SS
— Drucksache 11/4585 —
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Äußerung des Regierungssprechers Bundesminister Klein zur Waffen-SS
— Drucksache 11/4696 (neu)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung dieses Tagesordnungspunkts 45 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Oesterle-Schwerin.

Jutta Oesterle-Schwerin (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114921200
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es wäre sicher ein politischer Fehler, in dieser Debatte in einen ernsthaften wissenschaftlichen Streit mit Herrn Klein über die



Frau Oesterle-Schwerin
Rolle der Waffen-SS einzutreten. Die Geschichtsfälschung, die vom Regierungssprecher betrieben wird, ist so offensichtlich und ihr politischer Zweck so durchsichtig, daß kaum anzunehmen ist, daß Herr Klein und seine Sympathisanten in diesem Hause durch die Benennung der historischen Wahrheit zur Einsicht gebracht werden könnten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Nur damit es protokollarisch festgehalten wird und weil wir es den Opfern schuldig sind, hier folgende Richtigstellung: Die Waffen-SS war eine faschistische Organisation, die fast ausschließlich aus Freiwilligen bestand; zwangsrekrutiert wurde erst in den allerletzten Kriegstagen. Ihre Aufgaben waren Mord und Terror. Zu diesem Zweck wurde sie gegründet, ausgerüstet und ausgebildet.
Die Waffen-SS stellte die Kommandanturen in den Konzentrationslagern. Ihre Verbände sind verantwortlich für die Vernichtung des Warschauer Ghettos. Sie sind verantwortlich für die Massaker von Lidice und Lezaky in der CSSR, Putten in Holland, Oradour und Tulle in Frankreich, Stavelot in Belgien, Marzabotto, Boves und Fosse Ardeatine in Italien, Pancevo in Jugoslawien und Babij Jar in der Sowjetunion. Dies ist alles erwiesen und dokumentiert.
Wenn jemand heute versucht, die Waffen-SS zu rehabilitieren, dann kann das nur den Zweck haben, „die Lufthoheit über den deutschen Stammtischen" zurückzuerobern, wie es einige Unionsstrategen vor kurzem gefordert haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Amen!)

Die Wahlerfolge von Republikanern, DVU und NPD haben in der Union eine bemerkenswerte Reaktion ausgelöst. Nicht das Erstarken des Rechtsextremismus finden Sie gefährlich, sondern den Umstand, daß er sich in Stimmverlusten für die CDU/CSU niederschlägt. Diese Stimmen sollen zurückerobert werden, indem potentiellen Schönhuber-Wählern die Botschaft übermittelt wird, daß eine gesunde rechtsradikale Gesinnung immer noch am besten in der Union aufgehoben ist.

(Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist unglaublich, was Sie hier erzählen! — Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU] : Sie sind eine Hetzerin! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Pfui Teufel!)

Schlimm ist allerdings nicht nur, daß Hans Klein versucht, die Waffen-SS zu rehabilitieren, schlimm ist auch, wie er das tut. Mit dem zynischen Hinweis, es habe sich um eine „kämpfende Truppe" gehandelt, singt er das Hohe Lied vom pflichtbewußten, guten deutschen Soldaten, der heldenhaft für sein Vaterland gekämpft hat. Dieses Lied singen wir nicht mit! Nicht nur nicht, wenn es um die Waffen-SS geht, auch dann nicht, wenn von der deutschen Wehrmacht die Rede ist.
Auch den Soldaten der Wehrmacht gebührt weder Ruhm noch Ehre.

(Beifall bei den GRÜNEN — Kittelmann [CDU/CSU]: Um Gottes willen! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja unglaublich!)

Was war denn vorbildlich an ihnen? Ihr Gehorsam, der sie zu den Waffen laufen ließ, als Hitler den Angriffskrieg befahl? Ihr Pflichtbewußtsein, das sie auf den Widerstand gegen die mörderischen Pläne der Nazis verzichten ließ? Ihre Tapferkeit, die es Hitler ermöglichte, Europa sechs Jahre lang mit einer Blutspur ohnegleichen zu überziehen? Oder ihr Heldenmut, der 20 Millionen Sowjetbürgerinnen und -bürgern das Leben kostete? Oder ihr Patriotismus, der sie bereitwillig ihr Leben für ihr „Vaterland" opfern ließ?
Das Gemetzel, das der deutsche Landser in Übereinstimmung mit der Haager Landkriegsordnung veranstaltet hat, erfüllt uns mit der gleichen Abscheu wie die Massaker der Waffen-SS.

(Schwarz [CDU/CSU]: Jetzt reicht es aber langsam! — Weiterer Zuruf von der CDU/ CSU: Schämen Sie sich!)

Wir lehnen deswegen auch eine Sprachregelung ab, die von Kriegsverbrechen redet und verschweigt, daß der ganze Krieg ein Verbrechen ist.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Für die Opfer macht es keinen Unterschied, ob sie von vorn oder von hinten erschossen werden.
Achtung und Respekt verdienen nicht die Soldaten, sondern ganz andere Menschen: diejenigen, die im Widerstand waren, sowieso, aber auch die Deserteure, gerade weil sie durch ihre Fahnenflucht die Kampfeskraft der Truppe geschwächt haben. Deswegen verdienen sie Achtung und Respekt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Stadt Bonn hat vor wenigen Tagen den Antrag abgelehnt, ein Denkmal des unbekannten Deserteurs aufzustellen. Der Bonner Oberbürgermeister und Abgeordnete Daniels begründete diese Ablehnung unter anderem damit, das Denkmal sei eine „Diskriminierung all jener, die als Soldaten in der Bundesrepublik Deutschland Frieden und Freiheit schützen".

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Da hat er recht!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114921300
Frau Abgeordnete — —

Jutta Oesterle-Schwerin (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114921400
Die Sprache ist verräterisch.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114921500
Frau Abgeordnete — —

Jutta Oesterle-Schwerin (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114921600
Ich komme zum Schluß. — Die Sprache ist verräterisch. Jemand, der die Ehrung von Menschen, die sich dem faschistischen Angriffskrieg durch Fahnenflucht entzogen haben, für eine Diskriminierung der Bundeswehr hält, kann keine friedlichen Absichten haben.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist ja unerhört!)

Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, es gibt nicht nur den Fall Klein.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114921700
Frau Abgeordnete — —

Jutta Oesterle-Schwerin (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114921800
Die CDU/CSU ist voll mit solchen Fällen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aufhören!)





Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114921900
Frau Abgeordnete, ich habe darum gebeten, daß Sie die Redezeit beachten.

Jutta Oesterle-Schwerin (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114922000
Ich komme zum Schluß.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114922100
Nein, das haben Sie schon einmal gesagt, Frau Kollegin. Ich wäre dankbar, wenn Sie die — —

Jutta Oesterle-Schwerin (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114922200
Ich komme zum Schluß. Einen Schlußsatz. — Nicht Herr Klein muß weg. Die Geisteshaltung, die solchen Aussagen zugrunde liegt,

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Ich denke gar nicht daran, daß ich mir das anhöre!)

die gleiche Geisteshaltung übrigens, die es ermöglicht, daß die SS-Nachfolgeorganisation HIAG als gemeinnützig anerkannt wird, .. .

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114922300
Frau Kollegin — —

Jutta Oesterle-Schwerin (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114922400
... diese Geisteshaltung muß bekämpft werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114922500
Meine Damen und Herren, wir wissen, daß wir ein schwieriges Thema vor uns haben und daß dabei die Emotionen sehr unterschiedlich sein können.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU] : Ich war auch Soldat! Damit das klar ist!)

Trotzdem haben wir uns alle daran zu halten.
Ich möchte auch den Kollegen Dr. Stark darauf hinweisen, daß sein Zwischenruf „Hetzerin" so nicht stehenbleiben darf. Ich rufe ihn deswegen zur Ordnung.
Das Wort hat der Abgeordnete Waltemathe.

Ernst Waltemathe (SPD):
Rede ID: ID1114922600
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat ist Anlaß für die heutige Debatte die Äußerung von Herrn Bundesminister Klein in seinem Interview mit der „Quick" vom 2. Mai 1989, bestätigt vor der Bundespressekonferenz am 5. Mai 1989, wonach die Waffen-SS eine kämpfende Truppe, keine Verbrecher gewesen sei, die „glaubte, ihr Vaterland verteidigen zu müssen".
Wir Sozialdemokraten und auch ich persönlich beabsichtigen nicht, hier eine parteipolitisch motivierte Debatte zu führen, und wir wollen nicht, daß über Vorwürfe und Aufrechnungen hinüber und herüber Etiketten vergeben werden, die nicht zur geschichtlichen Wahrheit und nicht zur demokratischen Tugend von Wahrhaftigkeit und Toleranz beitragen. Wir beantragen auch nicht den Rücktritt eines Mitglieds der Bundesregierung, sondern wir haben den Wunsch, daß sich Herr Klein revidiert und daß sich die Bundesregierung von seiner Äußerung, wenn er es nicht selber tut, distanziert.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE])

Es wäre, meine Damen und Herren, ja keine Schwäche, wenn sich der Informationsminister berichtigt. Es wäre eher ein Zeichen von politischer Souveränität.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der FDP)

Wenn diese Regierung schon meint, einen Regierungssprecher im Ministerrang haben zu müssen, so muß um so sensibler bei öffentlichen Äußerungen, die gleichzeitig als offizielle Regierungsmeinung gelten könnten und im Ausland auch als solche verstanden werden, ihr Inhalt abgewogen werden, wenn es um die geschichtlich belegte Wahrheit geht.
Die Waffen-SS, die vom Nürnberger Gerichtshof als verbrecherisch eingestuft wurde, kann nicht als „kämpfende Truppe" und „Vaterlandsverteidiger" rehabilitiert werden. SS und auch die Waffen-SS waren politische Kampforganisationen des NS-Unrechtsstaates.

(Sehr wahr! bei der FDP)

Ursprünglich gab es die sogenannte allgemeine SS, freiwillig organisierte „politische Soldaten der NSDAP". Aus ihren Reihen rekrutierten sich auch die Verantwortlichen des SD. Zwei weitere Verbände kamen hinzu, die SS-Verfügungstruppe und die Totenkopf-Verbände, die mit der Bewachung von Konzentrationslagern beauftragt wurden und die im Jahre 1934 der allgemeinen SS unterstellt wurden.
Eine dritte Gliederung war die Waffen-SS. Sie wurde zu einem untrennbaren Teil der gesamten SS und nicht etwa ein vierter Teil der Wehrmacht. Himmler selbst hat im April 1943 in einer Anweisung alle SS-Organisationen genannt, die künftig als Teile der Waffen-SS gelten sollten. Sämtliche damals vorhandenen Konzentrationslager standen auf dieser Liste. Die Wachmannschaften trugen Uniformen der Waffen-SS und besaßen Soldbücher der Waffen-SS. Während des Krieges fand laufend ein Personalwechsel zwischen den Feldeinheiten der Waffen-SS und den Kommandos der Konzentrationslager statt.
Truppen der Waffen-SS und Einheiten des Ersatzbataillons 14 unter dem Kommando des Hauptsturmbannführers der Waffen-SS Wiesmann haben das tschechische Dorf Lidice überfallen und zerstört, 192 Männer und 8 Frauen an Ort und Stelle erschossen, weiter 196 Frauen in das KZ Ravensburg gebracht und 105 Kinder verschleppt.
Die Waffen-SS-Division „Das Reich" hat unter Mitbeteiligung des SS-Panzergrenadier-Regiments 4 „Der Führer" vor 45 Jahren und 5 Tagen das französische Dorf Oradours sur Glane in Trümmer gelegt und alle Einwohner, 244 Frauen, 190 Männer, der älteste 91 Jahre alt, das jüngste Kind 12 Tage alt, ermordet.
Waffen-SS-Einheiten haben allein in Marzabotto bei Bologna 1836 Menschen ermordet.
Abteilungen der Waffen-SS-Division „Leibstandarte Adolf Hitler", Angehörige der Waffen-SS-Division „Totenkopf " und Angehörige der Waffen-SS-Division „Das Reich" waren verantwortlich für die Tötung von 20 000 sowjetischen Bürgern und die Erschießung und Verbrennung bei lebendigem Leibe von sowjetischen Kriegsgefangenen in Charkow.



Waltemathe
Die Trauer und Scham, meine Damen und Herren, über diese und ähnliche Verbrechen, die mit „normalem Kriegsgeschehen" und mit „Verteidigung des Vaterlandes als kämpfende Truppe" überhaupt nichts zu tun haben, sondern mit der „Verwirklichung der nationalsozialistischen Idee" , wie das Organisationshandbuch der NSDAP von 1943 die besonderen Aufgaben beschrieb, verbieten es, heute ein Achtbarkeitszeugnis über die Waffen-SS regierungsamtlich auszusprechen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Meine Damen und Herren, es bleibt dabei: Die SS und auch die Waffen-SS war eine terroristische Organisation des Nazi-Staates. Sie war verbrecherisch.
Auch dabei bleibt es: Es gab Menschen, damals jung, die in ihren Idealen mißbraucht wurden und die das ehrlich und tief bereut haben und sich noch heute schmerzlich bewußt sind, daß sie eben nicht einer „normalen kämpfenden Truppe" angehört haben. Auch als Angehörige der Opfer des NS-Terrors können wir heute Respekt haben vor denjenigen, die sich gerade aus ihrer Gewissensnot und Scham heraus dazu verschrieben haben, an unserem demokratischen Staatswesen und dem Schutz der individuellen Menschenrechte vor staatlichen Übergriffen aktiv mitzuarbeiten. Schuld ist nie kollektiv, und es geht nicht darum, allen freiwilligen und unfreiwilligen Angehörigen der damaligen Waffen-SS das Kainsmal des Verbrechers aufzudrücken. Es geht darum klarzumachen, daß die Organisation Waffen-SS ein Instrument des Terrors der NS-Unrechtsideologie war und sie zu eben diesem Zwecke gegründet und aufgebaut wurde und eben nicht als vierter Wehrmachtsteil.

(Dr. Penner [SPD]: So ist es!)

Meine Damen und Herren, wenn wir die Gefühle der damals Verführten und heute Geläuterten heute respektieren wollen und auch anerkennen wollen, daß sie ihre spezifischen Traumata haben, so können wir an den Gefühlen der überlebenden Opfer und der Hinterbliebenen von Opfern nicht vorbeigehen. Für sie, für diese Opfer und ihre Hinterbliebenen, ist „SS" das Symbol für die physische Durchführung von Ausrottungs- und Endlösungspolitik, von Massakern an Zivilbevölkerung, von Zwangsarbeit und Konzentrations- und Vernichtungslagern.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Genau so ist es!)

Jeder Versuch, jetzt die Organisation Waffen-SS als nicht verbrecherisch reinzuwaschen, widerspricht der geschichtlichen Wahrheit.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Unsere heutige Schlußfolgerung in allen demokratischen Parteien muß lauten: Nie wieder dürfen junge Menschen dazu verführt werden, nie wieder darf jungen Menschen eingeredet werden, es gäbe politische Zwecke, die das Mittel staatlichen Terrors und staatlich organisierten Massenmordes rechtfertigen könnten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

Vor der Vergangenheit kann niemand fliehen. Aber die Zukunft können wir selber gestalten. Dazu gehört, daß ein Informationsminister, Herr Klein, nicht Desinformation betreibt.
Unser Antrag dient dazu, in differenzierter Form eine Klarstellung durch den Bundestag herbeizuführen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114922700
Das Wort hat der Bundesminister für besondere Aufgaben, Herr Klein.

(Duve [SPD]: Für besonnene Aufgaben!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1114922800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Waltemathe, ich kann das meiste von dem, was Sie gesagt haben, akzeptieren. Ich bedanke mich für die Form, in der Sie es gesagt haben. Das stand in einem angenehmen Gegensatz zu Sprache und Form Ihrer Vorrednerin.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Vor ziemlich genau vier Jahren habe ich in diesem Hohen Hause folgende Sätze zitiert:
Niemand kann in Abrede stellen, daß unter nationalsozialistischer Führung von Deutschen unfaßliche, die menschliche Vorstellungskraft überschreitende Verbrechen begangen worden sind. Sie können nicht geleugnet, nicht bagatellisiert und nicht entschuldigt werden.
Diese Sätze stammen von dem ehemaligen Generaloberst der Waffen-SS Paul Hausser.
Kein demokratischer Politiker in diesem Staat und kein Mensch mit Gewissen nimmt gegenüber den Verbrechen, die im deutschen Namen und von Deutschen begangen worden sind, eine andere Haltung ein.
Ich habe mich zu keinem Zeitpunkt an der Beschönigung von Verbrechen oder an Sympathiebekundungen für Verbrecher — frühere oder heutige — beteiligt. Meine Haltung in Fragen des Rechts und der Gewalt, der Demokratie und der Menschenrechte ist, öffentlich belegt durch 40jährige Arbeit als Journalist, als Diplomat, als Politiker, immer eindeutig gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Es gibt keinen unter meinen Freunden und Bekannten in Deutschland oder in Israel, in Polen oder in Frankreich, in der Sowjetunion, in Amerika oder sonstwo auf der Welt, der das nicht zu bezeugen vermöchte.

(Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Warum sagen Sie dann so etwas?)

Nur der Mißbilligungsantrag der GRÜNEN und der Distanzierungsantrag der SPD einschließlich der begleitenden Publizität unterstellen mir eine andere — der der SPD nicht — , moralisch und politisch nicht zu



Bundesminister Klein
rechtfertigende Haltung. Und warum? Weil ich Anfang Mai in einem „Quick"-Interview u. a. erklärt habe:
Die Waffen-SS war doch eine kämpfende Truppe, keine Verbrecher. Die glaubten, ihr Vaterland verteidigen zu müssen.
Obwohl ich mich wenige Tage nach Erscheinen des Inteviews in der Bundespressekonferenz ausdrücklich auf eine entsprechende Äußerung von Kurt Schumacher bezogen habe, wurden diese Anträge eingebracht.

(Frau Oesterle-Schwerin [GRÜNE]: Das macht es doch nicht besser!)

Kurt Schumacher, erster Nachkriegsvorsitzender der SPD, schrieb am 30. Oktober 1951 aus der Erfahrung seiner eigenen Leiden im Konzentrationslager und in Kenntnis der Pauschalurteile des Internationalen Militärgerichts in Nürnberg wörtlich an Professor Hersch in Genf:
Aus dem Zweiten Weltkrieg sind mehr als 900 000 Angehörige der früheren Waffen-SS zurückgekehrt. Diese Waffen-SS ist weder mit der allgemeinen SS noch mit den speziellen Organisationen der Menschenvernichtung und -verfolgung gleichzusetzen, sondern hat sich selbst als eine Art vierter Wehrmachtsteil gefühlt und ist damals auch so gewertet worden. Die Waffen-SS als Massenformation ist kriegsbedingt gewesen und für Kriegszwecke geschaffen worden.
Ende des Zitats aus einem sehr differenzierten und umfangreichen Brief.
Konrad Adenauer, der erste deutsche Bundeskanzler, erklärte in einer öffentlichen Rede in Hannover am 30. August 1953, die von der SS begangenen Greuel seien ein Schandfleck für das deutsche Volk gewesen. Wörtlich sagte er:
Aber was die Waffen-SS angeht, so liegt der Fall völlig anders. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, weil ein Sohn von mir nur durch Zufall dem Schicksal entgangen ist, zur Waffen-SS eingezogen zu werden.
Ende des Adenauer-Zitats.

(Frau Oesterle-Schwerin [GRÜNE]: Wohinter versuchen Sie sich jetzt eigentlich zu verstecken? Sie betreiben hier Geschichtsverfälschung schlimmster Art! Es wird dadurch nicht besser, daß es von Adenauer stammt!)

Die Soldaten der Waffen-SS bezeichnete er als „Soldaten wie andere Soldaten auch" .
Führende Politiker aller demokratischen Parteien haben in jenen Jahren ähnliche Erklärungen abgegeben, um, wie Kurt Schumacher es nannte, „einer großen Menge von Menschen den Fluch der Kollektivdiffamierung abzunehmen" .
Meine Damen und Herren, soll dieser Fluch jetzt, viereinhalb Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs, erneut ausgestoßen werden?

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das ist nicht die Frage! — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Inzwischen gibt es eine historische Forschung, die Sie zur Kenntnis nehmen müssen!)

Hat sich dieser Staat nicht bemüht, individuelle Schuld, wo immer sie aufzuspüren und nachzuweisen war, zu ahnden?

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Er ist unfähig, etwas zurückzunehmen! — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Adenauer hat über Oradour nicht geforscht!)

Darf ich als freier Bürger eines freien Landes — ich akzeptiere weder als Abgeordneter noch als Minister eine Einschränkung dieser Freiheit — nicht sagen, was die politischen Gründerväter dieses Staates zu Recht gesagt haben?

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Weil sie es nicht besser wußten! Inzwischen gibt es Forschungen!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114922900
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Penner?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1114923000
Bitte nein.
Pauschalurteile sind immer falsch, negative wie positive. Wenn ein deutscher Jude oder ein anderer, der von den Männern mit dem Runenzeichen im Konzentrationslager mißhandelt wurde, meine Äußerung über die Waffen-SS als Pauschalurteil empfindet, hat er ein Recht auf Differenzierung, die für mich immer eine Selbstverständlichkeit war. Die Unterscheidung zwischen jenen Verbänden, die an KZ-Greueln und an Vernichtungsaktionen beteiligt waren, und den kämpfenden Truppen, liegt ebenso im Interesse der Hunderttausende von ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS, die nicht in Verbrechen verstrickt waren.
Es gehört zum politischen Ethos der Bundesrepublik Deutschland, daß sich Staat, gesellschaftliche Einrichtungen und Bürger des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte bewußt bleiben. Doch im Interesse der jungen Menschen in unserem Lande und um der geschichtlichen Wahrheit und der Würde unseres Volkes willen darf die Generation der Väter und Großväter, der Mütter und Großmütter nicht pauschal zu einer Generation von Versagern und Verbrechern gestempelt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Bekennen wir uns gemeinsam zu der friedenstiftenden Politik, mit der wir seit 40 Jahren zur Schaffung einer gerechten, die Menschenwürde achtenden Welt beizutragen versuchen, auch im Innern!

(Beifall bei der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114923100
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Sonntag-Wolgast.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD):
Rede ID: ID1114923200
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Es gibt Äußerungen, die man nicht mit Vergessen und Schweigen übergehen kann. Die Sätze, die Sie, Herr Bundesminister, vor nunmehr sechs Wochen ausgesprochen haben, gehö-



Frau Dr. Sonntag-Wolgast
ren weiterhin dazu, auch nach dem, was wir vorhin gehört haben.
Viele Menschen haben inzwischen mit Briefen und Stellungnahmen reagiert. Sie waren betreten, empört, ja fassungslos. Protest kam von ehemaligen KZ-Häftlingen und Widerstandskämpfern. Heinz Galinski etwa erinnerte an eines der schrecklichsten Kriegsverbrechen, nämlich die Auslöschung des französischen Ortes Oradour 1944.
In all diesen Wochen der Auseinandersetzung wäre ein klärendes Wort von Ihnen, Herr Minister, dankbar aufgenommen worden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der FDP)

Noch in diesen Tagen, wo anläßlich des Besuches der Moskauer Delegation Brücken nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Vergangenheit und Gegenwart geschlagen werden, hätte sich ein Signal dieser Art angeboten. Heute fragen wir Sie, Herr Bundesminister, warum Sie dazu keine Anstalten gemacht haben. Das Parlament jedenfalls durfte nicht mit Schweigen reagieren, und Sie haben eben auch nicht genug Einsicht gezeigt und überdies vierzig Jahre Erforschung der NS-Zeit negiert.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Wir müssen es deswegen bekräftigen: Es kann keine pauschale Verurteilung geben — die ist auch gar nicht gemeint — , es darf aber auch kein pauschales Achtbarkeitszeugnis für die Waffen-SS geben,

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

und dagegen verwahren wir uns. Denn diese Aussage hält vor der historischen Wirklichkeit nicht stand, und sie erfüllt auch nicht den Anspruch der Öffentlichkeit im In- und Ausland auf einen sorgsamen und sensiblen Umgang mit der jüngsten deutschen Vergangenheit.

(Sehr wahr! bei der FDP)

Gerade ein Regierungssprecher muß in seinen Aussagen peinlich genau sein, er muß differenzieren, wo Differenzierung unumgänglich ist.
Deshalb sagen wir: Es geht nicht an — mein Kollege Waltemathe hat es auch betont — , alle Angehörigen der Waffen-SS als Mörder oder Verbrecher einzustufen. Es geht aber ebensowenig an, diese Organisation samt und sonders von jeglichem Vorwurf der Schuld und Verstrickung reinzuwaschen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der FDP)

Wir wissen sehr genau, daß damals gerade junge Menschen auch gegen oder ohne ihren Willen zum Dienst in der Waffen-SS herangezogen wurden, und wir wissen auch, daß manche, die einstmals der Organisation angehörten, heute nur noch mit Entsetzen, mit Scham und Trauer an die Verbrechen der NS-Gewaltherrschaft denken.
Aber es ist völlig unakzeptabel für uns, die gesamte Waffen-SS als „kämpfende Truppe" und als „Vaterlandsverteidiger" zu rehabilitieren. Einheiten der
Waffen-SS waren an der Errichtung und Unterhaltung von Konzentrationslagern, an Folter und Mord beteiligt, und wer das leugnet, trägt nicht zur Versöhnung der Opfer bei, sondern zur Verhöhnung der Opfer und ihrer Nachfahren.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Es hat im Laufe der Nachkriegsgeschichte viele Menschen — auch innerhalb der SPD — schmerzhafte Lernprozesse gekostet, bis sie sich bewußt wurden, wie dauerhaft eine schonungslose Aufarbeitung von Geschehnissen und Folgen der NS-Diktatur sein muß und wie anhaltend Trauer und Reue. Auch Kurt Schumacher, den Sie eben auch wieder als Kronzeugen gegen den Grundton unseres Antrages heranziehen wollten, hat sich mit der Frage gequält. Von ihm stammt auch ein Satz, der in dem erwähnten Brief vom 30. Oktober 1951 nach der Unterredung mit zwei früheren Angehörigen der Waffen-SS geschrieben wurde. Er schreibt dort: „Es besteht ... gerade von dieser Seite gar nicht der Wunsch, an die Stelle der Kollektivschuld eine ebenso unmögliche Kollektivunschuld zu setzen. " So weit das Zitat.
Wir verlangen vom Regierungssprecher die Fähigkeit, einzuordnen und zu unterscheiden. Was um alles in der Welt, fragen wir, treibt den Regierungssprecher dazu, sich in der Frühphase seiner Amtszeit ausgerechnet auf dem Gebiet der Beschönigung und der Beschwichtigung zu profilieren?
Ich komme zum Schluß; noch zwei Sätze. Vielleicht war es eine wohlgeplante Verbeugung vor den Unbelehrbaren, denen vom Schlage „Schwamm drüber", aber allen anderen haben Sie, Herr Bundesminister, einen schlechten Dienst erwiesen: denen, die bis heute noch mit der Erinnerung daran hadern müssen, daß sie und ihresgleichen zu der Generation der Verführten und Mißbrauchten gehört haben, aber vor allem auch denen, die zu den Opfern und den Verfolgten gehören.
Wir warten auf ein eindeutiges Wort der Bundesregierung. Wir warten darauf, daß sie sich eindeutig distanziert.

(Frau Oesterle-Schwerin [GRÜNE]: Da können Sie lange warten!)

Sie selbst, Herr Minister, haben diese Chance heute vertan.

(Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und bei Abgeordneten der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114923300
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gerster (Mainz).

(V o r s i t z : Vizepräsidentin Renger)


Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1114923400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der jüdische Theologieprofessor Pinchas Lapide, der durch die Verbrechen der Nationalsozialisten sieben Familienangehörige in Auschwitz verloren hat, sagte am 6. Mai 1985 im Zweiten Deutschen Fernsehen, er bewerte es positiv — ich zitiere wörtlich —, „daß im Eichmann-Prozeß in Jerusalem eindeutig festgestellt wurde, daß die Waffen-SS ... eindeutig eine Kampf-



Gerster (Mainz)

truppe innerhalb der Wehrmacht war" — er fügt hinzu, was ich nicht teile — „und nichts mit KZ's zu tun hatte. "
Zur damaligen emotionalen Diskussion über die Greueltaten von Nationalsozialisten fügte er an — ich zitiere — :
Ich glaube, ein Aufreißen alter Wunden, die auch in meinem Herzen da sind, kann niemandem helfen: weder der historischen Wahrheit, noch dem Frieden, aber keineswegs der Versöhnlichkeit nach 40 Jahren, und 40 Jahre ist in der Bibel eine Periode, die abgeschlossen ist und nach Neuanfang schreit. Der Versöhnlichkeit kann solches Aufreißen alter Wunden keineswegs dienen. Eine Blickwende nach vorne hingegen, in der wir Gott danken für den Neuanfang, der uns gewährt wurde, nach jener Gottesfinsternis: In der Tat Ja!
Wir sollten diese Debatte in diesem Geist der Versöhnlichkeit führen, einer Versöhnlichkeit, die nichts ungeschehen machen will oder gar rechtfertigt, was das NS-Unrechtsregime und seine Hilfstruppen an Verbrechen und Greueltaten unsäglich vielen Menschen, anderen Völkern wie Verfolgten und vor allem Juden im eigenen Land angetan hat.
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion gilt die Feststellung, die Helmut Kohl am 21. April 1985 in Bergen-Belsen traf:
Versöhnung mit den Hinterbliebenen und den Nachkommen der Opfer ist nur möglich, wenn wir unsere Geschichte annehmen, so wie sie wirklich war, wenn wir uns als Deutsche bekennen: zu unserer Scham, zu unserer Verantwortung vor der Geschichte.
Helmut Kohl fuhr fort:
Für die Untaten der NS-Gewaltherrschaft trägt Deutschland die Verantwortung vor der Geschichte. Diese Verantwortung äußert sich auch in nie verjährender Scham.
Diese Feststellungen gelten ohne jede Einschränkung auch für das Mitglied meiner Fraktion, Herrn Bundesminister Klein. Gerade in dem kritisierten Interview hat er ausdrücklich betont, daß wir zu unserer Vergangenheit stehen. Zu dieser Vergangenheit stehen, heißt, daß wir historische Wahrheiten so zur Kenntnis nehmen, wie sie sind. Kein einziges Verbrechen darf geleugnet, beschönigt oder entschuldigt werden.

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Genau das hat er doch getan!)

Aber historische Wahrheiten dürfen auch nicht nachträglich umschrieben werden.

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Richtig, das sagen Sie denen einmal!)

Tatsache ist, daß Kurt Schumacher schon 1951 davor warnte, die Waffen-SS mit der allgemeinen SS, noch mit den speziellen Organisationen der Menschenvernichtung und -verfolgung gleichzusetzen. Schumacher ging damals sogar noch einen Schritt weiter wenn er formulierte:
Sie
— gemeint waren die Mitglieder der Waffen-SS —
sind kollektiv haftbar für die Verbrechen des SD und der Menschenvernichtungsaktion gemacht worden, trotzdem sie als Waffen-SS kaum nähere Berührung damit hatten als andere Wehrmachtsteile.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114923500
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westphal?

Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1114923600
Herrn Vizepräsidenten Westphal gestatte ich das immer sehr gerne, aber bitte nicht in diesem Zusammenhang. Herr Westphal, ich bitte um Nachsicht, aber ich möchte gerne im Zusammenhang vortragen.
Helmut Schmidt schrieb am 12. November 1965 in der „Zeit" : Man muß wissen — ich zitiere jetzt —,
daß spätestens zur Zeit der Schlacht von Stalingrad die Einheiten der Waffen-SS, die keineswegs mit der Parteiorganisation der „allgemeinen SS" identisch gewesen sind, keine Verbände von ausschließlich Freiwilligen mehr waren. Viele wurden gepreßt, viele wurden gutgläubig verführt. Man darf nicht in den Fehler verfallen, alle 900 000 Soldaten der Waffen-SS mit einer besonderen Kollektivschuld zu beladen und sie mit den SS-KZ-Bewachungsmannschaften in einen Topf zu werfen.
Diese Äußerungen führender Sozialdemokraten, aber auch die von Pinchas Lapide, gehen sehr weit. Denn wir wissen, daß auch von Teilen der Waffen-SS Verbrechen und Greueltaten begangen wurden. Gleichwohl muß das Wort unseres Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker auch für Mitglieder der Waffen-SS gelten:
Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich.
Wer dies sagt, wäscht nicht Unreines rein und entläßt niemanden aus seiner Verantwortung und Verantwortlichkeit, sondern stellt lediglich klar, daß auch Mitglieder der Waffen-SS nicht kollektiv als Verbrecher schuldig gesprochen werden dürfen.

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Es geht um die Organisation! Sie treiben hier Verfälschung!)

Ich meine, so und nicht anders, kann und muß man die Äußerung des Kollegen Klein verstehen. Wenn er — und das war die konkrete Situation in diesem Interview — unter Bezug auf die Gräber von in jungen Jahren gefallenen Mitgliedern der Waffen-SS deren Rolle als kämpfende Truppe beschrieb und sich dagegen wandte, diese kollektiv als Verbrecher zu kennzeichnen, meinte er eben nicht den verbrecherischen Teil der SS, sondern diejenigen, die Helmut Schmidt als „gepreßt und gutgläubig verführt" kennzeichnete.

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Das hat er aber nicht gesagt!)

Ich selbst weiß aus Gesprächen, aus einer Reihe von
Gesprächen, gerade in den letzten Tagen, mit Bun-



Gerster (Mainz)

desminister Klein, daß er seine Äußerung auch so und nicht anders verstanden wissen wollte.

(Dr. Penner [SPD]: Warum kann er sich denn nicht einmal entschuldigen und klarstellen? Ist das denn so schwer?)

Dabei verkenne ich nicht, daß das Klein-Zitat aus dem Zusammenhang gerissen und einseitig interpretiert wurde, daß dadurch Mißverständnisse produziert wurden, Mißverständnisse, die ich bedauere.
Ich erkenne nicht, daß Bundesminister Klein, wie die SPD behauptet, die Waffen-SS rehabilitieren oder von jeglicher Schuld und Verstrickung freisprechen wollte. Diese gewollte Fehlinterpretation bedauere ich ebenfalls.
Die Feststellungen im SPD-Antrag, die sich auf die Beschreibung historischer Vorgänge und deren Wertung beziehen, könnte ich grundsätzlich unterschreiben, obwohl auch diese Beschreibungen allzu pauschal erscheinen und wiederum Mißdeutungen Tür und Tor öffnen könnten. Daß aber Bundesminister Klein eine differenziert zu wertende Äußerung, eine Äußerung, die er auch selbst differenziert meint und so mir gegenüber bestätigt hat, daß er eine derartige Äußerung, die sich in der Kontinuität von Wertungen bedeutender Sozialdemokraten bewegt, zurücknehmen soll, ist nicht begründbar. Was kein Mensch von Kurt Schumacher und Helmut Schmidt damals verlangte,

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Die haben das so nicht gesagt!)

wird nun im Jahr 1989 von Bundesminister Klein eingefordert. Man spürt die Absicht und ist verstimmt.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD: O Gott!)

Die CDU/CSU-Fraktion wird daher den SPD-Antrag und den Antrag der GRÜNEN ablehnen.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das ist nicht zu fassen!)

Wir sollten, wie uns Pinchas Lapide rät, die Blickwende nach vorn richten und aus der Erinnerung an die dunkle Vergangenheit auch folgende Warnung mitnehmen: Gerechtigkeit gegenüber jedem walten zu lassen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114923700
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.

Wolfgang Mischnick (FDP):
Rede ID: ID1114923800
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Erklärung von Bundesminister Klein war notwendig.
Ich hätte es begrüßt, wenn kurz nach dem Aufkommen der damit verbundenen Wertungen das an Klarstellung erfolgt wäre, was hier geschehen ist.

(Dr. Penner [SPD]: Er hat doch gar nichts klargestellt!)

Ich hätte es darüber hinaus begrüßt, wenn ein Wort des Bedauerns darüber, daß daraus Mißverständnisse entstanden sind, gesagt worden wäre.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Herr Bundesminister, Sie haben mit Recht Redefreiheit, Meinungsfreiheit für sich selbst genauso eingefordert, wie es für uns alle gilt. Dieses Recht haben Sie.
Aber es ist unbestreitbar, daß natürlich, wenn man an verantwortlicher Position steht, die Worte noch stärker gewogen werden, als es in anderen Fällen geschieht. Deshalb bitte ich, dies für die Zukunft zu bedenken.
Wenn man sich bemüht, ein vielschichtiges Problem wie diese Frage griffig und kurz darzustellen, besteht die Gefahr, daß man dann wider eigenen Willen falsch verstanden wird, sei es bewußt, sei es unbewußt. Dies hat sich an diesem Beispiel gezeigt.

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Er hat mich nicht überzeugt, daß es wider eigenen Willen war!)

— Lieber Herr Kollege, wenn ich bei jedem, der in diesem Haus eine Äußerung getan hat und dann versucht, sie zu differenzieren, unterstellen würde, daß es nicht seine Meinung ist, dann wäre ich ständig damit beschäftigt, in Zweifel zu ziehen, was hier gesagt wird. Dazu bin ich nicht bereit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Er hat fünf Minuten Zeit gehabt! Wir haben ganz genau zugehört!)

Es ist das Wort „Versöhnung" sowohl in dem Interview wie in dem Antrag der Sozialdemokraten gefallen.

(Zuruf der Abg. Frau Oesterle-Schwerin [GRÜNE])

— Entschuldigen Sie mal! Sind Sie nicht fähig, einen anderen ausreden zu lassen? Ich habe bei Ihnen auch nicht dazwischengerufen.
Bereitschaft zur Versöhnung in dem, was mit den schrecklichen Ereignissen dieser zwölf Jahre zusammenhing, kann für mich persönlich nur vom Opfer selbst oder von Angehörigen der Opfer kommen. Sie kann weder durch Beschluß, positiv noch negativ, festgelegt werden. Das ist eine individuelle Angelegenheit, nach meiner Überzeugung keine kollektive Beschlußangelegenheit.

(Dr. Penner [SPD]: Herr Mischnick, Sie haben aber nur das Zitat übernommen!)

— Ich habe es nach beiden Seiten gesagt, Herr Kollege Penner, wenn Sie das richtig verstanden haben: Versöhnung kann nur vom Opfer oder den Angehörigen der Opfer kommen, nicht von anderen. Ich kann aber auch dem Opfer nicht verwehren, daß es versöhnen will, und dies ist auch ein Akt der Menschlichkeit, zur Versöhnung bereit zu sein. Deshalb will es nicht durch Beschluß aufoktroyieren, so oder so.

(Waltemathe [SPD]: Richtig! — Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)




Mischnick
Meine Damen und Herren, wir haben hier schon manche Debatten über diese Themen geführt, es ist noch gar nicht lange her. Wir sind uns immer bewußt gewesen, daß das, was Demokraten in diesem Staat aufgebaut haben, was durch Zuschütten von Gräben gelungen ist, nicht leichtfertig wieder aufgerissen werden soll. Auch in einer solchen Situation sollten wir uns dessen bewußt sein; denn das unnötige Aufreißen von Gräben hat einmal dazu geführt, daß am Ende Radikale auf beiden Seiten das herbeiführten, was wir heute beklagen.
Deshalb haben wir die Pflicht zur Aufklärung darüber, was war, und zwar zur schonungslosen Aufklärung und zur Auseinandersetzung mit den damit zusammenhängenden Fragen. Es ist klar, daß Unterscheidungen, wie sie Herr Schumacher zu Recht getroffen hat, im Ausland nicht in der gleichen Weise getroffen werden.

(Dr. Penner [SPD]: Das ist auch nicht mehr erreichbar!)

Deshalb muß man nicht sagen, man kann nicht differenzieren, sondern man muß immer wieder deutlich machen, wo die Unterschiede liegen.
Ich bin sehr froh darüber, daß im Antrag der SPD eben auch zum Ausdruck gebracht wird, daß eben nicht jeder Angehörige der Waffen-SS ein Verbrecher war, wie man umgekehrt nicht alle pauschal freisprechen kann.
Wenn wir aber vor den jungen Menschen bestehen wollen, dann ist es notwendig, weder so noch so zu pauschalisieren, sondern zu differenzieren

(Waltemathe [SPD]: Richtig!)

und auch den Mut zu haben, bei der Differenzierung Schuldeingeständnisse nicht nur verbal vorzunehmen, sondern durch praktisches Handeln sichtbar werden zu lassen. Das ist bei vielen geschehen. Ich bin aber enttäuscht, wenn man nachträglich versucht, ihnen noch ein entsprechendes Kainsmal zu geben.
Meine Damen und Herren, wir vergessen nicht. Wir werden auch dafür sorgen, soweit es in unseren Kräften steht, daß nicht vergessen wird, was an Wahnsinn, an Rassenwahn durch Völkerverhetzung und durch Krieg entstanden ist. Wir kennen die Folgen. Aber ich möchte auch hier noch einmal zitieren, was ich bei ähnlicher Gelegenheit auch an dieser Stelle gesagt habe. Es ist unanständig, sich selbst zu zitieren. Deshalb zitierte ich Theodor Heuss, aber das kann man auch nach vier Jahren noch einmal tun. Er hat bei der Einweihung des Denkmals Bergen-Belsen gesagt:
Mir scheint, der Tugendtarif, mit dem die Völker sich selber ausstaffieren, ist eine verderbliche und banale Angelegenheit. Er gefährdet das klare, anständige Vaterlandsgefühl, das jeden, der bewußt in seiner Geschichte steht, tragen wird, das dem, der die großen Dinge sieht, Stolz und Sicherheit geben mag, ihn darum aber nicht in die Dumpfheit einer pharisäerhaften Selbstgewißheit verführen darf.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Ich habe das nicht, dieses klare und einfache Vaterlandsgefühl!)

Gewalttätigkeit und Unrecht sind keine Dinge, die man für eine wechselseitige Kompensation gebrauchen soll und darf; denn sie tragen die böse Gefahr in sich, im seelischen Bewußtsein sich zu kumulieren. Ihr Gewicht wird zur schlimmsten Last im Einzelschicksal, ärger noch im Volks- und Völkerschicksal. Alle Völker haben ihre Rachebarden, oder, wenn diese ermüdet sind, ihre Zweckpublizisten in Reserve.
Meine Damen und Herren, sorgen wir dafür, daß wir nicht in den Fehler verfallen, vor dem uns Theodor Heuss gewarnt hat; sehen wir zu, daß wir nicht in ihn verfallen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114923900
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete Lüder.

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1114924000
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Kollegen Hildegard HammBrücher, Gerhart Baum und Burkhard Hirsch haben mich gebeten, auch in ihrem Namen folgendes zu erklären:

(Frau Oesterle-Schwerin [GRÜNE]: Das sind aber wenige!)

Wir können die Äußerung von Herrn Klein nicht billigen. Aber nach der Rede, die Sie, Frau OesterleSchwerin, heute, so weit deplaziert von dem Thema, gehalten haben, würde uns eine Zustimmung zu dem Antrag Ihrer Fraktion in ein völlig falsches Boot bringen. Deswegen lehnen wir den Antrag der GRÜNEN ab.
Wir beantragen zum Antrag der SPD getrennte Abstimmung über die einzelnen Ziffern. Ich kann der Aufforderung unter Punkt 1, die praktisch, Herr Waltemathe, doch daraus hinausläuft, daß die Regierung den Sprecher entlassen muß, nicht zustimmen.

(Dr. Penner [SPD]: Das ist Punkt 4! — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Er hat den alten Antrag!)

— Ich habe den schreibmaschinengedruckten Antrag.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Es gibt einen neuen!)

— Die SPD hat eine Neufassung gebracht, und darin enthält Punkt 1 die Distanzierung.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Ist in Ordnung! — Dr. Penner [SPD]: Ja, in Ordnung!)

Dies würde dazu führen, daß praktisch der Kanzler den Sprecher entlassen müßte.

(Waltemathe [SPD]: Das ist nicht unser Verlangen!)

Dies kann unsere Zustimmung nicht finden.
Zweitens. Der Punkt 2 enthält, wie Kollege Gerster gesagt hat, eine Umschreibung und Beschreibung dessen, was die Waffen-SS war, in voller Differenzie-



Lüder
rung. Ich finde, dem müßten wir alle zustimmen können. Herr Bundesminister, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie als Abgeordneter hier mit Ja stimmen würden. Sie würden damit ein Zeichen setzen,

(Beifall bei der FDP und der SPD)

daß das, was hier differenziert gesagt ist, auch differenziert erklärt werden kann.
In bezug auf den Punkt 3 kann es, wie Wolfgang Mischnick eben ausgeführt hat, subjektiv sehr unterschiedlich aufgefaßt werden, ob man Versöhnung zu einem Beschlußgegenstand macht oder nicht. Deswegen sollte hierüber die Abstimmung getrennt möglich sein, ebenso über Punkt 4.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114924100
Danke schön.
Herr Gerster, Sie haben das Wort zu einer persönlichen Erklärung nach § 30 der Geschäftsordnung.

Dr. Johannes Gerster (CDU):
Rede ID: ID1114924200
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe in meinem Redebeitrag erklärt, daß ich den sachlichen historischen Darstellungen und Wertungen in dem Antrag der SPD zu weiten Teilen zustimmen kann. Ich muß allerdings darauf hinweisen, daß in den Ziffern 1 bis 3 neben diesen sachlichen Wertungen und Darstellungen auch die Behauptung enthalten ist, die Bundesregierung könnte sich einen derartigen Pressesprecher nicht leisten.

(Dr. Penner [SPD]: In Ziffer 2 nicht!)

— Es gibt noch weitere Behauptungen dieser Art in den Ziffern 1 bis 3. Deswegen sehe auch ich keine Möglichkeit, diesen Ziffern zuzustimmen. Ich erkläre aber ausdrücklich, daß das, was in meiner Rede gesagt ist, dennoch stimmt.
Schönen Dank.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114924300
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung, zuerst über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4585. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsparteien bei Enthaltung der SPD abgelehnt.
Wir kommen jetzt zu dem Antrag der SPD auf Drucksache 11/4696 (neu). Es ist Abstimmung über die einzelnen Abschnitte beantragt worden.
Ich rufe Abschnitt 1 auf. Wer diesem Abschnitt zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei 4 Enthaltungen aus der FDP und 1 Enthaltung bei der SPD ist dieser Abschnitt mit den Stimmen der CDU/CSU und der übrigen Mitglieder der FDP-Fraktion abgelehnt worden.
Ich lasse jetzt über den Abschnitt 2 abstimmen. Wer diesem Abschnitt zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit der Mehrheit der Stimmen von CDU/CSU und FDP bei einigen Zustimmungen bei der FDP, bei Zustimmung der SPD und der GRÜNEN sowie bei einigen Enthaltungen ist dieser Teil des Antrags abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Absatz 3: Wer diesem Absatz 3 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist — ich habe es nicht im einzelnen gezählt — mit der gleichen Mehrheit — bei Enthaltungen bei der FDP — ebenfalls abgelehnt worden.
Ich rufe jetzt den Punkt 4 auf: Wer diesem Absatz zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen bei der FDP und einer Enthaltung der SPD ist dieser Teil mit Mehrheit gegen die Stimmen von SPD und GRÜNEN abgelehnt worden.
Damit ist dieser Antrag abgelehnt.

(Zuruf von der SPD: Gesamtabstimmung!)

— Das ist eigentlich nicht üblich, aber wenn Sie es wünschen, kann ich auch dieses noch machen.

(Zurufe von der SPD: Nein!)

— Der Antrag ist damit insgesamt abgelehnt.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 8 auf:
Aussprache zu den Ereignissen in der Volksrepublik China
Hierzu liegt ein interfraktioneller Entschließungsantrag auf Drucksache 11/4790 vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Geiger.

Michaela Geiger (CSU):
Rede ID: ID1114924400
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Nacht vom 4. zum 5. Juni 1989, als die friedliche Demonstration der Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking von Maschinengewehren und Panzern niedergewalzt wurde, ist ein großer Traum jäh zu Ende gegangen — der Traum von mehr Demokratie und Freiheit in einem großen Land.
Auch wir haben uns offenbar getäuscht und waren auf die gewaltsamen Veränderungen in keiner Weise vorbereitet. Wir haben die wirtschaftlichen Fortschritte Chinas gesehen und geglaubt, daß sich auch die Ideologie wandeln würde. Unsere Annahme war offenbar falsch. Sie hat sich als Illusion erwiesen.
Der Befehl, auf friedlich demonstrierende Menschen zu schießen, war Auslöser für eine Tragödie, die die ganze Welt erschüttert hat, und zu der auch wir, der Deutsche Bundestag, nicht schweigen dürfen.

(Beifall des Abg. Schily [GRÜNE])

Nach diesem grausamen Massaker am eigenen Volk, nach den Massenverhaftungen und dem unverhohlenen Aufruf zur Denunziation darf es nicht bei rein formalen Protesten bleiben. Business as usual muß ausgeschlossen bleiben, so lange die grausamen alten Männer, die für das brutale Vorgehen der chinesischen Soldaten verantwortlich sind, an der Macht sind.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und den GRÜNEN)




Frau Geiger
Das bedrückende Klima, das zu den Zeiten der Kulturrevolution herrschte, ist schneller zurückgekehrt, als irgendjemand glauben mochte. Eines allerdings hat sich geändert: Die gesamte Weltöffentlichkeit war diesmal Zeuge der Ausschreitungen. Via Bildschirm und Satellitenkameras wurden die furchtbaren Bilder in alle Wohnstuben transportiert. Sie haben die Weltöffentlichkeit aufgerüttelt und zu einem Proteststurm ohnegleichen geführt.
In China selbst allerdings dienten die gleichen grausamen Bilder zur Einschüchterung der Bevölkerung. Die Bilder der brutal getöteten Soldaten und gedemütigter Gefangener brechen die Widerstandskraft vieler Studenten und Bürger. Diesem Zweck dienen wohl auch die plumpen Versuche, die Wahrheit zu verdrehen, von konterrevolutionärem Aufstand zu sprechen und die wahre Zahl der Opfer zu verschleiern.
Aber diese Rechtfertigungsversuche richten sich selbst. Sie überzeugen weder uns noch die eigenen Bürger. Auf dem Platz des himmlischen Friedens waren keine Konterrevolutionäre am Werk, sondern Tausende von freiheitsliebenden Bürgern und Studenten.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Das waren keine radikalen Systemveränderer, sondern friedliche Demonstranten gegen Korruption und Wohnungsnot und für mehr Freiheit und Demokratie.

(Beifall des Abg. Kittelmann [CDU/CSU])

Die Kritik aus dem Ausland weisen die chinesischen Machthaber als unerwünschte Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas zurück. Die chinesische Regierung, die sich ja auch zu den Zielen der Charta der Vereinten Nationen bekennt und ständiges Mitglied im Sicherheitsrat ist, muß aber wissen, daß die Achtung der Menschenrechte ein Grundpfeiler der internationalen Rechtsordnung ist. Chinas Verhalten muß baldmöglichst vor die Generalversammlung und vor die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen gebracht und beurteilt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD sowie der GRÜNEN)

Wir trauern heute mit den Angehörigen der Opfer des Militäreinsatzes und sprechen den Verletzten und Gefangenen unser Mitgefühl aus. In China hat sich ein tiefer Graben des Mißtrauens zwischen der Bevölkerung einerseits und der Parteiführung und den Streitkräften andererseits aufgetan. Wer immer diese furchtbaren Taten befohlen hat, der hat seine politische Glaubwürdigkeit endgültig untergraben. Die chinesischen Machthaber stehen heute vor dem Scherbenhaufen ihrer Politik. Eine Staatsführung, die derart unberechenbar und grausam gegen die eigenen Staatsbürger einschreitet, verspielt jeden Kredit.
Es ist eine Illusion, wenn die chinesische Führung erklärt, sie wolle die gleiche Politik der Öffnung weiterführen. Die Erfahrung lehrt: Die Entfaltung schöpferischer Kräfte, auch auf wirtschaftlichem Gebiet, setzt ein Mindestmaß geistiger Freiheit voraus und ist ohne Achtung der Menschenrechte nicht möglich. Wo
Unterdrückung und Willkür herrschen, verkümmern Wohlstand und Wachstum.
Wenn China nicht schnell zu einer Politik des Dialogs, der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte zurückkehrt, wird es technologisch, wirtschaftlich und kulturell einen schweren Rückschlag erleiden und eine lange Periode des Niedergangs erleben. Deshalb fordere ich die chinesische Regierung mit allem Nachdruck auf, wenigstens jetzt die Verhaftungswelle gegen Studenten, Arbeiter und Professoren sofort zu stoppen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Für die deutsch- chinesische Zusammenarbeit wird es gravierende Auswirkungen geben. Welche Firma könnte sich in Zukunft entschließen, ihre Mitarbeiter dorthin zu entsenden? Welcher Professor würde dort hingehen, um ein Projekt durchzuführen? Selbst wenn sich die Lage wieder beruhigen sollte, bliebe doch die traumatische Erfahrung der hemmungslosen Gewaltanwendung und der politischen Unberechenbarkeit. Mit großem Bedauern sage ich daher: Für die deutsch-chinesische Zusammenarbeit ist derzeit die Geschäftsgrundlage entfallen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Welche Konsequenzen ergeben sich aus der gewaltsamen Niederschlagung der friedlichen Bürgerproteste für unsere Chinapolitik? Wir sind bereit, humanitäre Hilfe zu leisten, wo immer es möglich ist. Wir appellieren an die chinesischen Machthaber, diese humanitäre Hilfe auch zu aktzeptieren. Alle chinesischen Bürgerinnen und Bürger, die sich derzeit in der Bundesrepublik aufhalten, die hier studieren und arbeiten, können auf unsere Verbundenheit und unsere Solidarität zählen. Sie sollen wissen, daß niemand gezwungen wird, derzeit nach China zurückzukehren.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Ich begrüße, daß alle Besuche auf hoher Ebene von und nach China abgesagt wurden. Daß der Auswärtige Ausschuß seine Reise abgesagt hat, ist nur folgerichtig.

(Frau Saibold [GRÜNE]: Und der Wirtschaftsausschuß! — Dr. Göhner [CDU/CSU]: Und der Umweltausschuß!)

In unserem gemeinsamen Antrag haben wir eine Reihe von Maßnahmen gefordert, die sicherlich noch erläutert werden. Vielen wird dies als zu wenig erscheinen. Aber wie in vielen anderen Fällen müssen wir uns überlegen: Wen würden die Sanktionen treffen? Zu allererst diejenigen, die nichts für die politischen Zustände in ihrem Land können. Pauschale Boykottmaßnahmen oder Drohungen würden die chinesische Bevölkerung nur zusätzlich bestrafen. Wir werden jedoch jedes einzelne Projekt überprüfen und nur diejenigen fortführen, die der Bevölkerung unmittelbar zugute kommen und nicht dem Regime. Neue Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit kann es unter den jetzigen Voraussetzungen nicht geben.
Wichtig ist, daß unsere Maßnahmen auch von der EG und allen demokratischen Staaten mitgetragen werden. Problematisch ist in diesem Zusammenhang die Rolle Japans. Wir sollten die japanische Regierung auffordern, die Entscheidungen des Westens zu re-



Frau Geiger
spektieren und aktiv mitzutragen und nicht zu unterlaufen.
Eine Wiederaufnahme unserer Zusammenarbeit mit China setzt voraus, daß die elementaren Menschenrechte für alle Bürger in der Volksrepublik China gelten, für das chinesische Volk ebenso wie für die unter seinem staatlichen Dach lebenden Minderheiten, allen voran die Tibeter.
Ich bin entsetzt und empört, daß die DDR-Führung die Gewaltpraktiken der chinesischen Machthaber als Niederschlagung sogenannter konterrevolutionärer Umtriebe gutheißt. Schlimm und ein eklatanter Verstoß gegen die KSZE-Beschlüsse ist auch die Verhängung empfindlicher Geldstrafen gegen DDR-Bürger, die der chinesischen Botschaft eine Protestnote übergeben wollten.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Ein unerhörter Vorgang!)

Ist das das Pfeifen im Walde einer um ihren Bestand fürchtenden reformunfähigen Funktionärsclique? Es ist eine Schande, daß es in der DDR so wenig neues Denken gibt.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Wir wissen heute nicht, welchen Ausgang die Reformprozesse in der Sowjetunion, in Ungarn und in Polen haben, so sehr wir ihnen Erfolg wünschen. Zu diesem Erfolg können wir nur einen kleinen Teil beitragen. Was an uns liegt, die Chancen der Reformpolitik zu erhöhen, das werden wir beitragen. Das hat der jüngste Besuch des sowjetischen Parteichefs, Gorbatschow, in Bonn erneut sichtbar gemacht.
Ich hoffe immer noch für China; denn auf die Dauer — das hat die Geschichte vielfach gezeigt — läßt sich der Ruf nach mehr Freiheit und Demokratie nicht ersticken. Die Zukunft gehört nicht den alten, skrupellosen Männern in Peking, die nur noch mit Hilfe von Panzern und Maschinengewehren regieren können. Die Zukunft Chinas gehört vielmehr den jungen, intelligenten weltoffenen Menschen. Diese Generation kann eine Zeit lang unterdrückt werden, aber ihre Ideale werden weiterleben, und sie werden Gestalt annehmen. Das wird hoffentlich schneller geschehen, als die starrsinnigen alten Männer in Peking glauben mögen. Auf diesen Tag sollten wir heute schon hinarbeiten.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114924500
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehmke.

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID1114924600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bilder und Meldungen von unglaublicher Brutalität haben uns in den letzten beiden Wochen aus China erreicht. Im Moment findet eine sogenannte Säuberung mit Aufforderung zur Denunziation, Verhaftungen und Verfolgungsmaßnahmen statt, eine regelrechte Menschenjagd. Wir sind angewidert von diesen Vorgängen.
Wir verurteilen das Blutbad, das Militäreinheiten in Peking unter Studenten und unbewaffneten Bürgern angerichtet haben. Eine noch unbekannte Zahl von
Menschen hat bei diesem Waffeneinsatz ihr Leben verloren. Wir trauern um die Opfer dieses brutalen Militäreinsatzes.
Die schweren Verletzungen der Menschenrechte, die in China stattgefunden haben, haben Bestürzung in der ganzen Welt hervorgerufen. Auch der Deutsche Bundestag bringt dies heute in einer interfraktionellen Entschließung zum Ausdruck.
Was in China vor sich geht — Frau Geiger hat schon darauf hingewiesen — berührt auch Deutschland. Zu dem, was die DDR-Führung gesagt hat, daß es sich um eine „Niederschlagung von konterrevolutionären Unruhen" handele, kann ich nur sagen: Das ist kein Beitrag zu der viel beschworenen Verantwortungsgemeinschaft der beiden deutschen Staaten für Frieden und Humanität als Auftrag aus der jüngeren deutschen Geschichte.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Das ist vielmehr ein Versuch, der auf die Einschüchterung der eigenen Bevölkerung zielt.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Der Einsatz der Volksbefreiungsarmee gegen das eigene Volk ist durch nichts zu rechtfertigen. Dies gilt um so mehr, als die chinesische Volksbefreiungsarmee in der Tradition des Langen Marsches mit dem heiligen Versprechen angetreten war, sich niemals für Unterdrückungsmaßnahmen gegen das eigene Volk mißbrauchen zu lassen. Was jetzt von der chinesischen Führung als Pflichterfüllung gelobt und gefeiert wird, ist in Wahrheit eine Tragödie der chinesischen Armee.
Wir fordern die Aufhebung des Kriegsrechts und des Schießbefehls gegen Demonstranten. Wir fordern, die Verfolgungsmaßnahmen, Verhaftungen und Aufforderungen zur Denunziation einzustellen. Wir verurteilen das Verhalten der chinesischen Führung in der Mordnacht vom 3. auf den 4. Juni uneingeschränkt.
Empörung alleine, so berechtigt sie ist, ist allerdings noch keine Grundlage für eine neue Festlegung unserer Chinapolitik. Wir müssen nüchtern analysieren, wie es zu dieser Entwicklung gekommen ist und was das für die Zukunft bedeuten kann. Dabei muß vor Simplifizierungen gewarnt werden. Diejenigen machen es sich zu leicht, die Deng Xiaoping erst als den großen Wirtschaftsliberalen und Reformpolitiker gefeiert haben und nun schon immer gewußt haben wollen, daß er im Grunde seines Herzens ein „SinoFaschist" sei, ohnehin ein sehr fragwürdiges Wort.
Der von Deng eingeleitete Reformprozeß hat für China einen weitreichenden wirtschaftlichen Aufschwung gebracht. Dieser Prozeß war aber von vornherein gefährdet, weil die wirtschaftlichen nicht mit politischen Reformen verbunden waren.

(Duve [SPD]: Sehr wahr!)

Die positiven Auswirkungen der Wirtschaftsreform wurden von der Weltöffentlichkeit gebührend gewürdigt. Die Schaffung eines demokratischen Rechtsstaats war jedoch nicht Dengs Ziel. Wer eine stärkere Beachtung der Menschenrechte erwartet hatte, wurde enttäuscht. Die Zentralregierung setzte ihre Vorstel-



Dr. Ehmke (Bonn)

lungen von Recht und Ordnung unnachsichtig durch. Es sei nur an die Verhängung des Kriegsrechts in Tibet und das militärische Einschreiten gegen protestierende Tibetaner erinnert.
Gleichzeitig ließ die ungleichmäßige wirtschaftliche Entwicklung in China eine neue soziale Kluft entstehen. Auf der einen Seite standen Bauern, Händler, Unternehmer als Nutznießer der Wirtschaftsreform, auf der anderen Seite die wirtschaftlich Benachteiligten: Arbeiter, Studenten und Akademiker. Die unglaublich hohen Preissteigerungen der letzten Monate wurden von den einen weggesteckt, auf die anderen schlugen sie voll durch. Schließlich suchten diese wachsenden sozialen Spannungen im Appell an die Öffentlichkeit ein Ventil.
Regierung und Partei, die den Schritt zur wirtschaftlichen Liberalisierung gewagt hatten, konnten sich aber nicht dazu entschließen, auch Meinungsfreiheit und Pressefreiheit zu gewähren, wie die Studenten es forderten. Deng sah in der Öffnung des Systems wirtschaftliche Chancen, aber auch potentielle Gefährdungen des politischen Status quo. Einer seiner Lieblingssprüche lautet bekanntlich: „Wenn man das Fenster öffnet, kommen auch die Fliegen herein. "
In einer Situation dramatischer Zuspitzung setzten sich nicht die Kräfte in Partei und Regierung durch, die auf die protestierenden Studenten zugingen und das Gespräch mit ihnen suchten — diese Kräfte gab es ja auch und gibt es noch. Es triumphierten vielmehr diejenigen, die die Sicherung ihres autoritären Systems über alles stellten. Vielleicht benutzten sie dabei sogar radikale Kräfte gegen die Reformer.
Wie die wochenlangen Debatten in der Führung verlaufen sind, wissen wir nicht. Wir wissen auch nicht, ob dabei die Befürchtung, das Reich könne zerfallen, eine Rolle gespielt hat. Wir können nur mutmaßen, daß die Notwendigkeit, Gorbatschow gewissermaßen durch die Hintertür zu empfangen, als Gesichtsverlust und Beginn eines Machtverfalls empfunden wurde. Das ändert jedoch nichts daran, daß es keine Entschuldigung für die Grausamkeit des Vorgehens gegen die Studenten geben kann.

(Dr. Feldmann [FDP]: Genauso ist es!)

China erlebte von einem Tag auf den anderen einen Rückfall ins Mittelalter.

(Zustimmung bei der SPD)

Gleichwohl dürfen wir die Chinesen nun aber nicht als angeblich unergründbar sich selbst überlassen. Das wäre genauso falsch, wie es einst das Bestreben konservativer Kreise war, die sogenannte „chinesische Karte" zu spielen, um dem russischen Bären eins auszuwischen. Unser richtig verstandenes Interesse an der Entwicklung in China beruht auf der geschichtlichen und weltpolitischen Bedeutung dieses Landes mit seiner Milliardenbevölkerung. Es beruht ferner darauf, daß die Entwicklung in China Auswirkungen auf den Reformprozeß in anderen kommunistischen Staaten haben kann.
Wir Sozialdemokraten stellen mit Genugtuung fest, daß sich das Hohe Haus in der Beurteilung der Vorgänge in China wie hinsichtlich der zu ergreifenden Maßnahmen weitgehend einig ist. Wir Sozialdemokraten wünschen zusätzlich, daß der Bundestag die Bundesregierung beauftragt, folgende weitere Maßnahmen zu prüfen und dem Auswärtigen Ausschuß über das Ergebnis dieser Prüfung zu berichten: den deutschen Botschafter bis auf weiteres zur Berichterstattung nach Bonn zurückzuberufen; keine neuen Ausfuhrbürgschaften, Hermes-Kredite zu bewilligen; die technologische Zusammenarbeit einzustellen; eine Debatte über die Vorgänge in China innerhalb der UNO auch im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu beantragen.
Ich darf ferner sagen, daß amnesty international mich soeben gebeten hat, an die Mitglieder des Hohen Hauses die Bitte weiterzuleiten, die Eilaktionen, die amnesty international für Verhaftete in China eingeleitet hat, von allen Seiten des Hauses nach Kräften zu unterstützen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Unsere Kritik richtet sich nicht gegen das chinesische Volk, dem vielmehr unsere Sympathie gilt. Sie richtet sich gegen die Führung, die sich gegen das eigene Volk gestellt hat.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Wir werden mit Anteilnahme die weiteren Geschicke dieses großen Landes verfolgen. Wir geben der Hoffnung Ausdruck, daß sich auch in China die Politik des Dialogs und der Öffnung am Ende durchsetzen wird.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114924700
Das Wort hat der Abgeordnete Feldmann.

Dr. Olaf Feldmann (FDP):
Rede ID: ID1114924800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere heutige China-Debatte ist keine Einmischung in innere Angelegenheiten Chinas. Menschenrechte gelten überall. Wo immer sie verletzt werden, müssen sie verteidigt werden, und zwar von allen, die sich auf sie berufen. Auch China hat keinen Freibrief für Menschenrechtsverletzungen.
Wir dürfen und werden nicht schweigen zu dem mörderischen Militäreinsatz in der Nacht zum 4. Juni am Platz des Himmlischen Friedens. Eine Regierung, die die eigene Bevölkerung morden läßt, ist politisch und moralisch am Ende. Eine Armee, die sich zu einem solchen Mordauftrag mißbrauchen läßt, hat den anspruchsvollen Namen „Volksbefreiungsarmee" verwirkt. Sie ist ein Instrument der Unterdrückung geworden.
Wir werden auch nicht zulassen, daß jetzt die Wahrheit verfälscht wird, Lügen verbreitet werden und die Geschichte umgeschrieben wird. Die Gewalt ist nicht von unbewaffneten Studenten und Arbeitern ausgegangen, sondern von der politischen Führung.

(Beifall des Abg. Gallus [FDP])

Das Kriegsrecht wurde ausgerufen, obwohl der Hungerstreik bereits abgebrochen war, um die Lage zu entspannen. Die Eskalation der Gewalt und ihre Opfer haben Chinas Machthaber allein zu verantworten. Wahrscheinlich haben sie es so gewollt, um das Volk einzuschüchtern.



Dr. Feldmann
Diese Regierung hat vor aller Welt ihr Gesicht verloren. Mit diesem Rückfall in Barbarei, militärische Repression, Aufhetzung und Verfolgung hat sich dieses Regime entlarvt. Zu diesem China kann es keine normalen Beziehungen geben.
Wir lassen uns auch nicht davon abhalten, gegen Gewalt, Unterdrückung und Lüge und für das reformwillige China Partei zu ergreifen. Dies ist und war keine Konterrevolution. Die demonstrierenden Studenten, Arbeiter und Intellektuellen wollten keinen Umsturz, sondern friedliche Reformen.
Ich habe in der Zeit der friedlichen Demonstrationen zur Zeit des Gorbatschow-Besuchs niemanden gesprochen, weder in Peking noch in anderen chinesischen Städten, der die Notwendigkeit von Reformen in Politik und Wirtschaft bezweifelt hätte. Nicht einmal die Militärs haben den studentischen Protest verurteilt. China, das lange vor der Sowjetunion wirtschaftliche Reformen eingeleitet hatte, droht nun weit hinter seine Möglichkeiten zurückzufallen. Die Wirtschaftsreformen werden nur halbherzig betrieben und sind steckengeblieben. Ohne politische Öffnung aber, ohne Liberalisierung kann es keine erfolgreiche Wirtschaftsreform geben.
Es ist sicher kein Zufall, daß in funktionierenden Demokratien auch die Wirtschaft funktioniert. Kein Land kann es sich leisten, seine Intelligenz auf Dauer von der politischen Mitbestimmung auszuschließen. Da hat es Gorbatschow in der Sowjetunion besser gemacht. Seine Reformen sind mutiger und radikaler und umfassen auch den politischen Bereich. Der Sowjetunion drohen andere Gefahren.
Aber zurück zu China. Wer Gewehre und Kanonen hat, hat die Macht, kann Todesurteile fällen und bestimmt die Politik — zumindest vorübergehend. Es wird der Führung aber nicht gelingen, den politischen Reformwillen des chinesischen Volkes auf Dauer zu brechen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Kriegsrecht, Panzer und Exekutionen sind kein Ersatz für Politik. Am Ende steht immer der runde Tisch oder neue Unzufriedenheit und damit neue Gewalt. China hätte die Chance, aus den Erfahrungen anderer kommunistischer Staaten zu lernen. Die politische Reformbewegung, die sich jetzt in fast allen sozialistischen Staaten mit großer Dynamik entfaltet hat, wird auch vor China nicht haltmachen, übrigens auch nicht vor der DDR.
Welche Möglichkeiten aber haben wir, hat die Bundesrepublik, hat Europa, um Chinas Absturz in die Barbarei zu stoppen, um den Menschen zu helfen? Mit moralischer Entrüstung und guten Worten ist es sicher nicht getan. Das reformwillige China braucht unsere tatkräftige Hilfe. Wir können die Massaker am Platz des Himmlischen Friedens

(Duve [SPD]: Des höllischen Terrors!)

nicht ungeschehen machen. Diese fürchterlichen Ereignisse wird China eines Tages selbst aufarbeiten müssen. Aber wir dürfen nichts unversucht lassen, der derzeitigen Führung Chinas zu verdeutlichen, daß sie mit der Fortsetzung von Repression, Verfolgung, politischen Prozessen, mit Willkürurteilen nicht nur die
ganze Welt gegen sich aufbringt, sondern China auch langfristig ins Verderben führt.
Internationale Solidarität ist daher gefordert, um das Regime zur Einstellung seiner Hetz- und Verfolgungskampagne und zur Wiederaufnahme des Dialogs mit der eigenen Bevölkerung zu veranlassen. Wir müssen klarmachen: Zwischen der weiteren Entwicklung in China und unserer Kooperationsbereitschaft besteht ein unmittelbarer Zusammenhang.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Aber wer Einfluß nehmen will, braucht Gesprächspartner. Ein Abbruch jeglicher diplomatischer Beziehungen mit der Volksrepublik China kann daher jetzt nicht in Frage kommen. Wir wollen uns auch nicht selbst der Möglichkeiten berauben, die weitere Entwicklung vor Ort zu beobachten und Einfluß zu nehmen. Auch der Gefahr der Selbstisolation Chinas wollen wir nicht Vorschub leisten. Aber die chinesische Führung darf sich nicht täuschen: die heute gemeinsam beschlossene Forderung ist unsere erste Reaktion. Wenn die Hetzjagt weitergeht und Menschenrechte weiter mit Füßen getreten werden und die gerade bekanntgewordenen Todesurteile vollstreckt werden, werden weitere Maßnahmen folgen müssen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114924900
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Vollmer.

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1114925000
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Neben den blutigen Bildern von den grausamen Massakern in Peking, neben den unerträglichen Bildern von im öffentlichen Fernsehen vorgeführten gefolterten, mißhandelten und gequälten Menschen, die die Welt mit fassungslosem Entsetzen und Trauer zur Kenntnis nehmen muß, steht ein anderes Bild, das mir auch nicht mehr aus dem Kopf geht: Als der Generalsekretär der KP Chinas Zhao Zhiyang zu den Studenten auf dem Tienanmen-Platz ging, standen ihm Tränen in den Augen. Warum hat er eigentlich geweint? Ich glaube nämlich nicht mehr daran, daß der Anblick hungernder, friedlicher Studenten solche in der Wolle gefärbten alten Männer der Macht zu Tränen rühren kann.
Ich glaube, er wußte schon damals mehr. Er kam direkt aus dem Zentrum des Machtkampfes in der KP Chinas. Er wußte offensichtlich, daß die Regierung bereit war, eine zweite Generation von Intellektuellen zu opfern und hinzuschlachten, nachdem eine erste bereits in der Kulturrevolution vergeudet und geopfert worden war. Er konnte sich keine Illusionen über die Ziele eines Deng Xiaoping machen, jenes skrupellosen Bürokraten, dem es gelungen war, der Welt eine Öffnung vorzuspielen, die es in den zentralen Fragen des gesellschaftlichen Lebens, der Demokratie nie gegeben hat.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Ich halte diese Szene für eine Schlüsselszene der dann kommenden Ereignisse. Sie signalisierte, daß die KP Chinas für die kleine protokollarische Demüti-



Frau Dr. Vollmer
gung, Herrn Gorbatschow durch den Hintereingang empfangen zu müssen, bereit war, grausame Rache zu üben, wie sie es schon vorher gegenüber den Tibetern getan hatte.
Und die demokratische Opposition? War sie auf die Übernahme der Macht in einem Milliardenvolk vorbereitet? Sie hat sieben Wochen gewaltfreie Demonstrationen mit Hunderttausenden organisiert. Das hat es in der Geschichte Chinas nie vorher gegeben und ließ die Welt begeistert und atemlos aufhorchen. Aber sie konnte sich ihrer Stützpunkte weder im Zentralkomitee noch im Militär sicher sein, noch war sie auf der Ebene verankert, die sie uneinnehmbar gemacht hätte, wie die eigene Geschichte lehrt: in den ländlichen Regionen und im ehrlichen Bündnis mit den nationalen Minderheiten in Tibet und anderswo.
Es gehörte zur Tragik dieses gewaltfreien Aufstandes, daß sich die Studenten kein chinesisches Symbol der Freiheit und der Demokratie auf dem Platz des Himmlischen Friedens vorstellen konnten, daß sie ihre Freiheitsideen nicht mit den Traditionen ihres eigenen Volkes und der von der chinesischen Zentralmacht unterdrückten Völker verbinden konnten. In China, glaube ich, ist aber die Demokratisierung nur auf einem originär chinesischen Weg chancenreich. Es kann dort eine Demokratie nicht nach westlichen Patenten geben, ebensowenig wie dies für die Sowjetunion und die osteuropäischen Länder geht.
Wie wird die Entwicklung weitergehen? Wie wird sich ein System verhalten, das vor der Weltöffentlichkeit längst sein Gesicht verloren und allein auf die Politik des Niedermachens der Opposition gesetzt hat? Es steht zu befürchten, daß diesem nichts mehr in den Arm fällt, daß die jetzigen Machthaber kein Halten mehr kennen. Es steht noch viel mehr zu befürchten, nämlich daß die Hardliner in allen sozialistischen Ländern jetzt ihre Stunde für gekommen halten, um dem „chinesischen Modell" der Erstickung des Demokratiewillens nachzueifern. Hinter der eilfertigen Belobigung der DDR für den chinesischen Bruderstaat lauert auch nackte Drohung gegenüber der eigenen Ökologie- und Demokratiebewegung.

(Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Und auch anderswo schärfen die Falken ihre Krallen. Das macht mir Angst.
Und die westlichen Staaten, und die USA? Die Analysen der wirtschaftlichen Öffnung Chinas waren katastrophal falsch. Die Politik des „Bereichert euch! " war nie als Menschenrechtspolitik angelegt. Helmut Schmidt hatte Deng Xiaoping einen der größten und bedeutendsten Politiker unserer Zeit genannt. Die Wirtschaftsmanager und Ministerpräsidenten gaben sich in Peking die Klinke in die Hand. Das war analytisch faul. Die merkwürdig gebremsten Reaktionen unmittelbar nach den Massakern lassen befürchten, daß nicht wenige den demokratischen Aufstand in China als eine unnötige Störung der Geschäfte empfinden, nach der man so schnell wie möglich zum „business as usual" übergehen müßte. Ich bin froh über alle anderen Stimmen, die in diesem Haus deutlich geworden sind.
Und wir? Meinen wir denn wirklich, nur weil der traditionelle Sozialismus im Weltmaßstab gescheitert ist, sei der westliche Weg von „Freiheit und Wohlstand" zum tauglichen Exportmodell für die ganze Welt geworden? Wollen wir weiter mit der wirtschaftlichen Modernisierungswalze vorweg in die Welt hinausfahren, um hernach den zerstörten eigenen Traditionen die Attraktivität bindungsloser Freiheit und entwurzelter Menschen anzudienen? Genau darauf hatte Deng Xiaoping gesetzt. Er war so schlau und so historisch dumm, zu meinen, die westlichen Demokratien ließen sich schon über das Versprechen wirtschaftlicher Modernisierung zu Kooperationen mit einem immer noch im Innern diktatorischen System verführen. Aber genau diese Rechnung darf nicht aufgehen. Wer nur die Sprache der Wirtschaft versteht, dem muß man auch mit wirtschaftlichen Mitteln antworten.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN und der SPD)

Eine Politik von uns, die einfach mit China weiterwirtschaften will, ist nicht demokratisch, sondern wäre ethisch toter Egoismus. Gerade weil der Ausgang der Ereignisse in China über viel mehr entscheidet als „nur" über das chinesische Weltreich, weil er über die Chancen der Demokratisierung in allen sozialistischen Ländern mitentscheidet — das, was auf der Tagesordnung steht — , gerade deswegen sind jetzt außerordentliche Maßnahmen gefragt. Deswegen fordern wir über das hinaus, was im gemeinsamen Antrag steht, eben auch wirtschaftliche Sanktionen, eine Debatte im Sicherheitsrat der UNO, die Rückberufung unseres Botschafters in China und eine deutlich spürbare wirtschaftliche Isolierung Chinas durch alle Industriestaaten.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Sie sind die einzige Möglichkeit, den jetzigen Machthabern zu zeigen, daß sie nicht nur einen demokratischen Aufstand niederwälzen, sondern auch die Zukunft ihres Landes. Sie sind meines Erachtens auch die einzige Möglichkeit und Chance, daß sich diejenigen, die das alles nicht wollen, auf Dauer in China wieder durchsetzen.
Die herrschende Clique Chinas mordet nicht nur für einen Konservatismus, der nichts bewahrt außer der eigenen Macht, sie führt auch einen gigantischen Vernichtungskrieg gegen das Lernen aus der Geschichte. Sie will die Bilder dieser Tage der Gewaltfreiheit und der Dialoge aus dem Gedächtnis der Menschen auslöschen: durch nackte Angst. Das darf und wird ihr nicht gelingen.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114925100
Das Wort hat der Staatsminister Schäfer.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1114925200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die erschrekkenden Vorgänge in der Volksrepublik China haben die Bürger der Bundesrepublik Deutschland zutiefst betroffen gemacht. Sie stellen eine schwere Verletzung der Menschenrechte dar. Die Bundesregierung hat bei Bekanntwerden der blutigen Niederschlagung der Demonstrationen das Vorgehen der Kampftrup-



Staatsminister Schäfer
pen gegen die eigene Bevölkerung hart verurteilt. Sie hat an die chinesische Führung appelliert, auf die Forderungen nach mehr Demokratie und Freiheit nicht durch militärische Gewalt zu antworten, sondern durch Dialog mit der eigenen Bevölkerung und mit friedlichen Mitteln.
Die chinesische Führung hat sich einem solchen Dialog bisher verweigert. Das bedauern wir außerordentlich. Statt dessen hat die chinesische Führung zu Repressionen gegriffen. Es kam zu umfangreichen Verhaftungen und zu einer unerträglichen Kampagne mit Aufrufen zur Denunziation.
Wir alle haben die entsetzlichen Bilder der jüngsten Vorfälle auf dem Bildschirm sehen können. Ich erkläre hier mit allem Nachdruck: Das Verhalten des chinesischen Militärs und der Polizei ist unerträglich. Wie wir soeben von einem Agenturdienst erfahren haben, sind drei Männer in Shanghai inzwischen wegen sogenannten Aufruhrs in einem summarischen Verfahren zum Tode verurteilt worden.
Die chinesische Führung muß sich darüber im klaren sein, daß sie sich selbst in der Welt einen Vertrauenseinbruch und einen Vertrauensverlust zugefügt hat, der lange Wirkung zeigen wird. Geschädigt hat sie in erster Linie ihr eigenes Volk und seine Aufbauleistungen. Gestört und tief beeinträchtigt hat sie auch ihre Beziehungen zur Außenwelt und damit auch zu uns.
Wir wissen uns in dieser Haltung mit unseren Freunden in der Europäischen Gemeinschaft, in den Vereinigten Staaten und in anderen Teilen der Welt einig.

(Duve [SPD]: Aber leider nicht mit Japan!)

Die zuständigen Gremien der Vereinten Nationen werden sich mit den Ereignissen in China befassen müssen.

(Dr. Feldmann [FDP]: Aber baldmöglichst!)

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft haben zu den Vorgängen in China erklärt, daß sie zutiefst betroffen sind. Sie haben die Gewalttätige Unterdrückung friedlicher Demonstranten nachdrücklich verurteilt und die chinesischen Behörden aufgefordert, die Anwendung von Gewalt gegen unbewaffnete Zivilisten unverzüglich einzustellen. Zugleich haben sie die chinesische Führung aufgefordert, unverzüglich mit der Suche nach einer friedlichen Lösung des gegenwärtigen Konflikts zu beginnen.
Die Bundesregierung begrüßt es sehr, daß alle Fraktionen des Deutschen Bundestages in einer gemeinsamen Entschließung ihrer Besorgnis und Empörung deutlich Ausdruck verleihen. Die chinesische Führung muß wissen, daß wir nicht bereit sind, zur Tagesordnung überzugehen, sondern daß ihre menschenverachtenden Reaktionen Konsequenzen haben werden. Die EG-Kommission und alle Mitgliedstaaten haben hochrangige Kontakte mit China suspendiert. Die Bundesregierung hat die für die nächste Zeit geplanten hochrangigen Besuche in China abgesagt, ebenso wie hochrangige chinesische Delegationen, deren Besuche für die nächste Zeit schon vorgesehen waren, inzwischen ausgeladen worden sind.

(Dr. Feldmann [FDP]: Das ist auch das mindeste was man tun muß!)

Rüstungslieferungen nach China werden nicht genehmigt.
Neue Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit, meine Damen und Herren, werden nicht vereinbart. Laufende Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit, die den Menschen in China dienen, sollen möglichst fortgesetzt, bestehende Verträge eingehalten werden. Jedoch stellen wir fest, daß durch die augenblicklichen Unsicherheiten in der Volksrepublik China, die ja zur Ausreise vieler deutscher Experten geführt haben, die gegenwärtige Zusammenarbeit schon erheblich beeinträchtig wurde und weitgehend zum Erliegen gekommen ist.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die bei uns lebenden Chinesen, vor allem die Wissenschaftler und Studenten. Sie können zunächst auch dann bei uns bleiben, wenn ihre Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist. Anträge auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis werden großzügig geprüft werden.
Die Bundsregierung hält es auch für sinnvoll und richtig, die Kontakte zu unseren bisherigen Partnern in China an vielen Orten nicht noch weiter zu reduzieren, als dies schon durch die Ereignisse und aus Gründen der Sicherheit unserer Staatsangehörigen geschehen ist. Das gilt insbesondere auch für die Beziehungen zu den Hochschulen und wissenschaftlichen Institutionen. Wir werden daher bis auf weiteres weder das Goethe-Institut schließen noch die Zusammenarbeit im wissenschaftlichen Bereich einstellen. Die weitere Entwicklung wird zeigen, inwieweit die Voraussetzungen für diese Zusammenarbeit bestehenbleiben können. Es kommt gerade jetzt darauf an — bei aller Empörung — , daß diejenigen Chinesen, die Zuspruch und Hilfe von uns brauchen, von uns nicht im Stich gelassen werden. Wir sollten auch nicht gerade die bestrafen, die den Mut hatten, für mehr Freiheit, mehr Demokratie auf die Straße zu gehen, nämlich die Studenten. Es kann nicht unser Bestreben sein, die Lasten für das chinesische Volk unsererseits noch zu erhöhen.
Wir müssen deshalb durch politische Besonnenheit alles vermeiden, was dazu beitragen könnte, die Lage der Menschen in China noch zu verschlimmern.
Die chinesische Führung muß erkennen, daß sie sich nach ihrer Politik der „Vier Modernisierungen" auf Dauer dem Ruf der Menschen nach mehr Freiheit und mehr Selbstbestimmung nicht entziehen kann. Wir wollen denen, die auf uns sehen, jetzt nicht den Rücken kehren, sondern müssen durch unsere Politik zeigen, daß wir trotz aller Schwierigkeiten die Zuversicht behalten, daß dieses große Land wieder auf den Weg von Reform und Öffnung zurückfindet.
Wir werden unser weiteres Verhalten eng mit unseren Freunden und Verbündeten in Europa wie auch in Nordamerika und mit Japan abstimmen. Herr Kollege Duve, ich darf zum Schluß sagen: Die neuesten Informationen aus Tokio weisen darauf hin, daß sich auch Japan dieser Haltung angeschlossen hat.



Staatsminister Schäfer
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114925300
Das Wort hat Herr Abgeordneter Antretter.

Robert Antretter (SPD):
Rede ID: ID1114925400
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte versuchen, persönliche Eindrücke aus China wiederzugeben, nicht als einer, der sich eine abschließende politische Wertung zutraut, sondern eher als ein Berichterstatter, auch wenn mir dies nicht so gelingen wird wie den Korrespondenten, die unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger über das Geschehen in China unterrichten und dies nach Auffassung Kundiger und meiner eigenen Einschätzung mit großer Verantwortlichkeit tun.
An einem Abend in der zweiten Maihälfte: Die Mitglieder des Verteidigungsausschusses der Parlamentarischen Versammlung der WEU, die sich in Peking aufhielten, kamen aus Gesprächen mit Vertretern von Politik und Partei zurück. Einige von uns begaben sich auf den Tiananmen-Platz zu den demonstrierenden Studenten. Da war kein Bangesein, da waren keine Angst und keine Aggressivität. Vielmehr begegneten wir unter der Gedenksäule für die Opfer des Langen Marsches einer Atmosphäre der Freiheit und der Friedfertigkeit. Es war Hoffnung in den Gesichtern der Zehntausende, Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit, mehr Freiheit, kurz: auf eine Demokratisierung des Systems, die mehr Bürgerrechte bringen sollte. Kaum jemand hat es für möglich gehalten, daß die Volksbefreiungsarmee auf die eigenen Landsleute schießen würde.
Die „FAZ" sagt dazu zu Recht, diese Einschätzung sei keineswegs naiv gewesen; denn sie wurde geteilt von Arbeitern wie von Intellektuellen, von Wissenschaftlern, von unteren und mittleren Parteifunktionären, ja, selbst von amtlichen Sprechern und von nahezu allen Gesprächspartnern, denen wir begegnet sind, ranghohen kompetenten Persönlichkeiten wie dem Vizeaußenminister oder dem Vizeminister der Kommission für die Umstrukturierung des Wirtschaftssystems der Volksrepublik China.
Die Forderungen der Studenten seien auch ihre Anliegen, sagten die meisten der offiziellen Vertreter zu uns, nämlich die Grundrechte, die alle Staaten gemeinsam haben, Gedanken- und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit und wie in der UdSSR wenigstens eine gewisse Freiheit bei Wahlen.
Als wir einen Tag später zum zweitenmal zu den Studenten gingen, erfuhren wir, daß sich auch die Tochter des Kommandeurs der Streitkräfte unter den Demonstranten befand. Am Abend sahen wir im Fernsehen den 70jährigen KP-Generalsekretär Zhao Ziyang, der, den Tränen nahe, einen verzweifelten Appell an die Studenten richtete, sich zu besinnen und zu verhindern, daß großes Unheil geschieht.
Er gehört zu den Reformern. Die Tatsache, daß er heute im Gefängnis ist, ist ein Beweis dafür, daß er den demonstrierenden Studenten näher stand als den orthodoxen Parteiführern, deren unbarmherziges Eingreifen er — ich stimme Ihnen zu — ganz sicherlich vorausgesehen hat.
Studenten sagten uns später, sie seien von seiner Aufrichtigkeit überzeugt. Er sprach ihnen das Recht zu, die Regierung zu kritisieren, bat die Hungerstreikenden, sie sollten die gesundheitlichen Folgen bedenken und nicht mit 19 oder 20 Jahren ihr Leben aufgeben. Er räumte große Sorgen von Partei und Staat ein, bescheinigte den Studenten, aus guter Gesinnung etwas Gutes für das Land zu tun.
Drei Tage später — wir hatten mittlerweile Demonstrationen in Xian erlebt und waren nun in Schanghai, wo es ebenfalls vieltausendfache Solidarisierung gab — lasen wir, daß 100 hohe militärische Führer nicht bereit seien, das mittlerweile verhängte Kriegsrecht militärisch wirksam werden zu lassen. Das hatten sie öffentlich bekundet. Es hieß weiter: Drei der sieben Militärregionen seien nicht bereit, den Ausnahmezustand militärisch zu stützen.
Dennoch ist das Schreckliche geschehen. Mit unserem gemeinsamen Antrag wollen wir sagen: Es darf kein Zweifel daran bestehen, daß das grauenvolle Blutbad, das Polizei und Militäreinheiten in Peking durch wahllosen Waffengebrauch angerichtet haben, durch nichts zu rechtfertigen ist.
Nun herrschen in Peking wieder Ruhe und Ordnung, eine Normalität der Repression. Während im weiten Land die Bauern mit Regierungspropaganda desinformiert werden, lebt das Volk der großen Städte in Angst vor jenen Exzessen, wie sie zur Zeit der Kulturrevolution alltäglich gewesen sind.
Ich glaube, das Beispiel Chinas zeigt, daß es ein Irrtum ist, davon auszugehen, der Versuch, die Wirtschaft zu liberalisieren, ohne Freiheit der politischen Meinung zu schaffen, ohne die Menschenrechte zu achten und ohne Chancengleichheit herzustellen, führe allein schon zu mehr Freiheit und Gerechtigkeit.
Viele, die sich heute getäuscht sehen, fragen sich, wie ausgerechnet Deng Xiaoping, den man doch für einen Liberalen hielt, sein Lebenswerk im Handstreich verspielen konnte, indem er Polizei und Armee so gnadenlos vorgehen ließ. Die Antwort heißt, daß er zwar in der Wirtschaftsreform verhältnismäßig kühne und undogmatische Maßnahmen ergriff, aber von jeher und von vornherein jede politische Strukturveränderung ausschloß.

(Duve [SPD]: Sehr wahr! Das haben wir nicht gemerkt, und das ist uns nicht berichtet worden!)

Wer nach diesem Geschehen Proteste als Pflichtübung versteht und meint, er könne danach zur Tagesordnung übergehen, macht sich an den Verbrechen der chinesischen Führung mitschuldig.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Wir wissen, die Volksrepublik China und ihre Milliarde Menschen sind eine Komponente weltweiter Stabilität, und wir wissen auch, daß dieses Land Stärke braucht, um ein internationaler Faktor zu bleiben, daß es Berechenbarkeit braucht, um modern zu werden, daß es aber vor allem innere Versöhnung braucht, um seine Einheit zu erhalten.



Antretter
Wir dürfen deshalb die Brücken zum Volk nicht abreißen lassen. Aber es muß auch klar sein, daß eine Regierung, die sich nur mit barbarischer Brutalität an der Macht halten kann, nicht als Gesprächspartner für Frieden und Zusammenarbeit und auch nicht als Wirtschaftspartner in Frage kommt.

(Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der FDP)

Ich glaube, dies ist eine gute Gelegenheit, jene Länder unserer Unterstützung zu versichern, in denen zur Zeit der Versuch unternommen wird, durch politische und wirtschaftliche Reformen der Freiheit Bahn zu brechen und die Demokratie auf den Weg zu bringen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es ist deshalb der richtige Weg, den etwa die Parlamentarische Versammlung des Europarats einschlägt, wenn sie den Parlamenten Ungarns, der UdSSR, Polens und Jugoslawiens die Möglichkeit zur Mitwirkung in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats mit beratender Stimme gibt.
Damit helfen wir vielleicht auch denen in allen Etagen in Politik, Regierung und Militär in China, die Reformen wollen. Denn noch sind jene, die in Peking schießen, denunzieren und demütigen lassen, nicht die Sieger. Sie haben vorläufig die Macht. Aber sie haben Blut an den Händen und deshalb Autorität verloren. In der Sprache Ostasiens heißt das: Sie haben ihr Gesicht verloren, und sie können es auch nicht dadurch zurückgewinnen, daß sie inzwischen viele Hunderte Demonstranten auf demütigende, ja, menschenverachtende Weise im Fernsehen vorführen. Sie werden ihre Autorität nur dann zurückgewinnen, wenn sie den Dialog mit den gesellschaftlichen Kräften selbst eröffnen, denen es um die Grundrechte geht, die allen Staaten gemeinsam sind.
Vielen Dank.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114925500
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Stercken.

Dr. Hans Stercken (CDU):
Rede ID: ID1114925600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wäre wirklich verhängnisvoll, wenn diese einstündige Debatte über die Lage in der Volksrepublik China nur ein Ritual wäre, mit dem wir die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens sozusagen abhaken würden.
Die Auswirkungen dieser abscheulichen Grausamkeiten, die sich bei den Verhaftungen in vielen Städten Chinas fortsetzen, können wir noch nicht voll übersehen. Aber ich weiß, daß ich mich mit den für diese Massaker Verantwortlichen nicht an einen Tisch setzen werde, um mit ihnen über kulturelle, politische, wirtschaftliche und technologische Beziehungen zu sprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Als ich am Tag nach dem Geschehen die für Juli in Peking vorgesehenen Konsultationen des deutschen mit dem chinesischen Auswärtigen Ausschuß absagte, habe ich daran erinnert, daß unsere Beratungen der Stärkung des Friedens, der Menschenrechte und der Demokratie dienen sollen. Mit dieser Begründung habe ich den Wunsch verbunden, daß bald politische Konsequenzen gezogen werden, die der Stärkung des Rechtes dienen und einen Zustand des Friedens herbeiführen, in dem die künftige politische Führung des Landes den Willen des Volkes und sein Recht auf Leben und Menschlichkeit respektiert.
Meine Überlegungen können nicht als eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Volksrepublik China gewertet werden. China ist — das wurde schon gesagt — ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen und wacht daher über den Frieden in der Welt. Ich kann den Sachwaltern unseres Friedens nicht zubilligen, daß sie ihre eigene Jugend mit Panzern zermalmen und danach über das Handeln anderer in der Welt urteilen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Wir alle haben in den letzten Jahren daran mitwirken wollen, daß dieses größte Volk der Erde mit aller Welt seine politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen ausbaute.
Was die Bundesrepublik Deutschland betrifft, so hat der Deutsche Bundestag an diesem Vorgang wesentlichen Anteil. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen wurde schon nach einer Reise des Auswärtigen Ausschusses nach Peking eingeleitet und beschlossen. Viele parlamentarische Delegationen haben ein Netz von Beziehungen geschaffen, das sich als eine Ermunterung für wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit ausgewirkt hat. Ich selber habe an der Aufnahme des chinesischen Volkskongresses in die Interparlamentarische Union mitgewirkt. Wir waren alle zufrieden, daß sich die Öffnung Chinas so rasch und erfolgreich vollzog, und haben vielleicht unterschätzt, daß die Liberalisierung der Wirtschaft ein Gefühl für Freiheit bewirkt, das mit dem alten Denken nicht vereinbar ist.
Gibt es wirklich eine sozialistische Marktwirtschaft? Bedingt Markt nicht Freiheit des Handelns? Ist Freiheit der Wirtschaft ohne Freiheit des Denkens zu schaffen? Ich glaube, daß es nicht nur in China zu Konflikten mit der Hierarchie kommen wird, wenn erfolgreiche, weil freiheitliche Wirtschaftssysteme nicht mit dem Wachsen einer freien Gesellschaft Hand in Hand gehen. Diesen Weg wünschen wir dem chinesischen Volk.
Wir wenden unsere Sympathie in dieser Stunde nicht von einem Land und einem Volk ab, dessen Intelligenz und Leistungsfähigkeit nicht durch die Bilder brutaler Soldaten repräsentiert werden, die immer mehr — insbesondere junge — Menschen zum Richter oder gar zum Henker schleifen. Sie repräsentieren vielmehr die Grausamkeit einer politischen Führung, die nicht verstanden hat, daß sich auf Bajonette ein dauerhafter Friede im Innern und nach außen nicht gründen läßt. Wir wünschen dem chinesischen Volk eine Führung des Dialogs und nicht der Panzer, eine Führung, die das Tor zur Freiheit und nicht zum Gefängnis öffnet.
Wie die Jugend Chinas in Deutschland in dieser Stunde der Gewalt denkt, wird uns auf vielfache Weise bekanntgemacht, doch wir sollten für sie nicht



Dr. Stercken
nur Worte finden, sondern helfen, die vielfältigen Schwierigkeiten vor allen Dingen unbürokratisch zu beheben. Ich habe Sie, Herr Staatsminister, so verstanden, und wir wissen, daß davon eine ganze Reihe von Bundesressorts betroffen sind, die uns dabei helfen müssen.
Vor allen Dingen geht es um die Sicherheit aller chinesischen Staatsbürger in der Bundesrepublik Deutschland. Sollte der Versuch unternommen werden, auf deutschem Boden wie schon anderwärts chinesischen Studenten nachzustellen, dann wird sich unser Rechtsstaat energisch zu wehren wissen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Die Auswirkungen der Ereignisse in China auf die Lage in Asien sind noch nicht zu übersehen. Die stalinistische Reaktion ist sicher kein gutes Beispiel, um endlich Nordkorea zu einer Öffnung seiner Politik zur Welt hin zu ermuntern.
Was wird aus dem Frieden in Indochina? Wird der Massenmörder Pol Pot weiterhin in Peking Unterstützung finden, statt dem Prinzen Sihanouk und Son Sann eine Chance zu geben, im Einverständnis mit dem vietnamesischen Nachbarn dem geschundenen Volk von Kambodscha endlich seinen Frieden zu geben?
Chinesische Truppenansammlungen seit vorgestern an der Grenze zu Vietnam beunruhigen uns, weil sich doktrinärer Starrsinn auf solche Weise ein nationalistisches Ventil schaffen könnte.
Meine Damen und Herren, zwei Tage vor dem 17. Juni erinnern wir Deutsche uns an das Rollen der Panzer in Ost-Berlin, aber auch in Budapest und in Prag. Ist es in einem einzigen Fall gelungen, die Flamme der Freiheit mit rasselnden Ketten zu erstikken?
Diese Stunde der Solidarität mit dem chinesischen Volk muß sich in unzähligen politischen Aktionen fortsetzen, bis das chinesische Volk eine Führung erhält, die dem Frieden und der Freiheit, der Gewaltlosigkeit, der Entwicklung und der Zusammenarbeit dient.
Zielvorstellungen unserer Verfassung, die wir gerade in diesem Jahr erneut in Erinnerung rufen, wünschen wir auch dem chinesischen Volk: die Würde des Menschen nicht anzutasten, die Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt zu achten und schließlich Einheit und Freiheit zu vollenden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114925700
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Das Wort zur Abgabe einer Erklärung zur Abstimmung hat nach § 31 der Geschäftsordnung Frau Abgeordnete Kelly erbeten.

Petra Karin Kelly (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114925800
Ich stimme dem Entschließungsantrag, an dem ich mitgearbeitet habe, zu, weil ich es für sehr notwendig und sehr dringend halte, daß der gesamte Deutsche Bundestag geschlossen das
entsetzliche Verbrechen der chinesischen Regierung — den Massenmord von vermutlich 20 000 Menschen auf dem Platz des Himmlischen Friedens und anderswo — einmütig verurteilt.
Ich würde meine Zustimmung noch überzeugter geben können, wenn sich der Deutsche Bundestag zu weit schärferen Sanktionen und auch zu Boykottmaßnahmen und auch zur Rückberufung des deutschen Botschafters als Symbol des Protestes entschließen könnte, was keineswegs eine Beendigung der natürlich gerade jetzt wichtigen Funktion der Deutschen Botschaft in Peking bedeuten würde.
Ich stimme diesem Antrag auch deshalb zu, weil eine eindeutige Verurteilung der Brutalität der chinesischen Machthaber durch den Bundestag auch angesichts des ungeheuren Zynismus unverzichtbar ist, mit dem z. B. der hauptverantwortliche Deng Xiaoping sich im „Observer" am 11. Juni geäußert hat. Ich zitiere:
200 000 Tote sind nicht zuviel für mich, um 20 Jahre Stabilität in der Zukunft zu garantieren.
Und weiter:
Was sind schon 1 Million Tote bei einer Bevölkerungszahl von 1 Milliarde?
Zustimmen werde ich diesem Antrag auch deshalb, weil er mit Recht zum Ausdruck bringt, daß von der 40jährigen blutigen Unterdrückung der Tibeter ein direkter Weg zu den schrecklichen Brutalitäten in Peking und anderswo in China führt,

(Beifall bei den GRÜNEN)

weil beides einem und demselben Unterdrückungssystem und Polizeistaat anzulasten ist.
Leider genoß dieses System im Westen allzulange eine Art Freibrief für Menschenrechtsverletzungen, weil die wirtschaftliche Öffnung als Beweis für eine Liberalisierung des gesamten britischen Systems mißverstanden wurde. Spätestens als im März dieses Jahres Hunderte von Tibetern in Lhasa von chinesischen Truppen wieder niedergemäht wurden — Tibet als angeblicher Teil von China, muß ich hier betonen — hätte dieses Mißverständnis einer realistischen Einschätzung des wahren Charakters der chinesischen Machthaber Platz machen müssen. Ich erinnere mich allzuoft an die so sehr vorsichtigen Äußerungen vieler Politiker hier in dem Sinne: freie Wirtschaftsbeziehungen und Machtpolitik vor Einhaltung der Menschenrechte.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114925900
Frau Kollegin, ich unterbreche Sie sehr ungern, aber Sie wollen eine Erklärung zur Abstimmung abgeben. Würden Sie sich bitte ein bißchen mehr daran halten?

Petra Karin Kelly (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114926000
Ja.
Ich stimme diesem Antrag zu, obwohl er keine ausdrückliche Würdigung der wochenlangen imponierenden und konsequenten Gewaltfreiheit des studentischen Protests enthält. Noch nie hat in den letzten Jahrzehnten eine gewaltfreie Bewegung eine so weltweite Hoffnung und Bewunderung ausgelöst, noch



Frau Kelly
nie sind Hoffnungen und Bewunderungen mit den Opfern so brutal niedergeschlagen worden.
Ich stimme diesem Antrag auch zu, obwohl — auch das hätte ich gerne in diesem Antrag gesehen — die bundesdeutsche Friedensbewegung nach diesem Geschehen nicht zu einem eindrucksvollen und geschlossenem solidarischen Protest fähig war, daß nicht — wie in Budapest — Zehntausende vor die chinesische Botschaft gezogen sind.
Ich stimme diesem Antrag zu, obwohl die Europäische Gemeinschaft nicht nachdrücklich zu konsequenteren und entscheidenderen Schritten des Protests aufgefordert worden ist. Die EG hätte jetzt die Chance gehabt, Menschenrechte vor den Zukunftsmarkt und vor die Machtpolitik bei den Vereinten Nationen zu setzen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114926100
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Entschließungsantrag auf Drucksache 11/4790. Wer für diesen Entschließungsantrag stimmt, den bitte ich, die Hand zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Entschließungsantrag ist einstimmig angenommen.
Der Tagesordnungspunkt 19 wurde abgesetzt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Schäfer (Offenburg), Lennartz, Adler, Bachmaier, Blunck, Dr. von Bülow, Conradi, Fischer (Homburg), Dr. Hartenstein, Dr. Hauff, Kiehm, Dr. Klejdzinski, Dr. Hauchler, Dr. Martiny, Menzel, Müller (Düsseldorf), Reimann, Reuter, Dr. Schöfberger, Schutz, Stahl (Kempen), Waltemathe, Weiermann, Dr. Wernitz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Bericht zur Lage von Natur und Umwelt — Drucksache 11/4317 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (federführend)

Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Kein Widerspruch. — Es werden nur noch Kürzungen der Stundenzahl entgegengenommen. — Wir verfahren so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Lennartz.

Klaus Lennartz (SPD):
Rede ID: ID1114926200
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einen Bericht zur Lage von Natur und Umwelt will die SPD. Noch einen Bericht? Noch mehr Papier? Und wo bleibt das Handeln, das Handeln für Naturerhalt? Das wird sich manch eine Bürgerin und auch manch ein Bürger fragen, sollten sie diese Debatte verfolgen.
Was Sozialdemokraten mit diesem Bericht wollen, geht jedoch weit über eine weitere Bestandsaufnahme hinaus. Wir wollen endlich Ziele und Perspektiven in der Umweltpolitik der Bundesregierung. Wir wollen endlich Konzepte statt Konfusionen. Wir wollen gemeinsame nationale und europäische Umweltziele statt Einzeltherapien am Schadstoff Y oder am Schadstoff Z. Wir wollen eine große Umweltreform — aber bitte nicht nach dem Muster der sogenannten großen Steuerreform.
Denn mit dem Umweltschutz verhält es sich anders als mit den übrigen Handlungsfeldern der Politik. Eine Quellensteuer läßt sich abschaffen, eine Wehrdienstverlängerung rückgängig machen, Flugbenzin wieder besteuern. Der angerichtete Schaden ist überschaubar, quantifizierbar. Die Natur jedoch räumt uns ein solches Rückholrecht nicht ein.
Als aufgeklärte Mitteleuropäer entrüsten wir uns über den Raubbau am tropischen Regenwald. Mit der geballten Überheblichkeit der Ersten Welt verurteilen wir die barbarische Vernichtung eines unwiederbringlichen Naturschatzes. Mit erhobenem Zeigefinger zählen wir die Konsequenzen auf: Wer den Urwald abholzt — so sagen wir — , bringt das Weltklima aus dem Gleichgewicht und zerstört am Ende sich selbst und andere. Richtig.
Aber ich frage Sie, Herr Töpfer, stellvertretend für Herrn Kiechle und Frau Lehr: Ist unsere politisch verordnete Form z. B. der Pflanzenproduktion auch nur einen Deut besser? Sehenden Auges schütten wir Jahr für Jahr Millionen Tonnen Gülle und Klärschlamm und 60 000 t Pestizide auf unsere Acker. Und wir wissen ganz genau, was wir dort tun.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Richtig!)

Von den meisten Pestiziden, die bei uns versprüht werden, kennen wir noch nicht einmal das Analyseverfahren, ganz zu schweigen von den Wechselwirkungen der verschiedenen Stoffe aufeinander und deren Folgen für den menschlichen Organismus.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Auch das ist richfig!)

Im Mittelalter stand auf Brunnenvergiftung die Todesstrafe.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Jawohl!)

Heute ist faktische Brunnenvergiftung ein Ergebnis der Umweltpolitik in der Bundesrepublik.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Ein Ergebnis der Praxis der Landwirtschaft von Herrn Kiechle!)

Ein Fünftel der 6 300 Trinkwasserwerke in der Bundesrepublik müßte im Oktober 1989 geschlossen werden, weil das Wasser dort nicht mehr so rein ist, wie es EG-Recht vorschreibt. Oder muß man diese Brunnen auf dem Papier für sauber erklären und per Ausnahmegenehmigung die 20fache Pestizidbelastung zulassen, wie es Umweltminister Töpfer vorhat?

(Frau Saibold [GRÜNE]: So ist es!)

So geht es auch. Nur, ob dies etwas mit verantwortungsvoller Vorsorge und Fürsorge für Menschen zu tun hat, ist eine andere Frage.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Jawohl, so ist es!)

Hat die Bundesregierung ein komplexes, unter den einzelnen Ministern besprochenes und abgestimmtes



Lennartz
Umweltkonzept? Gibt es eine Linie der Regierung, die wir erkennen können? Wir müssen diese Fragen leider verneinen.
Bleiben wir z. B. beim Trinkwasser. Wir stellen fest, daß der Umweltminister sich mit der Schließung von Trinkwasserwerken herumschlägt, während das Gesundheitsministerium — siehe gestern im Ausschuß — mit Sorgfalt nicht darüber Bescheid weiß, wie viele und welche Schadstoffe im Trinkwasser krank machen, und der Landwirtschaftsminister die Parole „immer feste druff auf den Acker" ausgibt, als wäre nichts geschehen, meine Damen und Herren.

(Zuruf von den GRÜNEN: Ja, ja, so ist es!)

Unsere Landwirte werden zu einer natur- und gesundheitsbedrohenden Produktionsweise gezwungen, die unweigerlich zu einer großräumigen Vergiftung des Grundwassers und damit auch des Trinkwassers führen muß.

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Nun mal langsam! Von Vergiftung kann keine Rede sein!)

— Produzieren die Bauern nicht auf Deubel komm raus, Herr Kollege, können sie nicht wirtschaftlich arbeiten.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Sie müssen ja so arbeiten durch die Rahmenbedingungen!)

Was ist das für eine Politik, die unseren Landwirten nur zwei Möglichkeiten des Wirtschaftens läßt, nämlich entweder natürliche Lebensgrundlagen wie Trinkwasser oder ihre eigene wirtschaftliche Existenz zu zerstören?
Was fehlt, ist weniger die wissenschaftliche Erkenntnis über den Zustand der Natur als vielmehr eine Übersicht der Handlungs- und Vollzugsdefizite im Umweltschutz.
Der Bericht zur Lage von Natur und Umwelt soll diese Defizite aufzeigen. Jährlich fortgeschrieben oder mindestens alle zwei Jahre soll er der Bundesregierung konzeptionelles Handeln ermöglichen. Der Bericht wird auch ein wichtiges Instrument in den Händen des Parlaments, eine Stärkung des Parlaments sein, weil er die Kontrolle der Regierung erleichtert.
Wir stimmen dem Sachverständigenrat für Umweltfragen zu, wenn er sagt: Es kann nicht wissenschaftlich entschieden werden, was optimale Zustände einer Umweltqualität sind. Vielmehr müssen Gesellschaft und Parteien gewillt sein, in demokratischen, partizipatorischen und notfalls auch in konflikterfüllten Verfahren einen Konsens über die jeweils anzustrebende Umweltqualität und die daraus abzuleitenden Standards zu suchen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der Bericht zur Lage von Natur und Umwelt darf daher nicht lediglich, meine Damen und Herren, eine weitere Datensammlung neben dem Jahresumweltbericht, dem Gutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen oder anderen Kompendien werden. Nein, er soll konkret Perspektiven aufzeigen, wie unsere natürlichen Lebensgrundlagen besser geschützt werden können. Das geht unserer Meinung nach am besten mit klar umrissenen Umweltqualitätszielen.
Hand aufs Herz, meine Damen und Herren, haben wir denn heutzutage wirkliche Ziele und Perspektiven in der Umweltpolitik, Ziele, die über die Ankündigung hinaus auch umsetzbar sind? Haben wir gemeinsame Vorsätze, die wir gemeinsam erreichen können und auch wollen? Oder bleiben wir nicht zu oft, allzuoft in der Schadstoffdiskussion stecken, oder verstricken wir uns nicht viel zu viel im selbstgepflanzten Gesetzes- und Verordnungsdschungel?
„Blauer Himmel über der Ruhr" hat damals Willy Brandt gefordert; eine echte Perspektive, ein großes Ziel, mit dem sich viele Menschen, Herr Töpfer, damals identifizieren konnten. Wie würden Sie heute formulieren? — Die Schadstoffemissionen in industriellen Ballungsgebieten müssen für Schadstoff x auf soundso viel Milligramm pro Kubikmeter und für Schadstoff y auf soundso viel Milligramm pro Kubikmeter begrenzt werden unter Einräumung ausreichender Übergangsfristen für Altanlagen, die vor dem 1. 6. 1989 genehmigt worden sind. — So hieße eine Töpfersche Übersetzung für den Ausdruck „Blauer Himmel über der Ruhr". Herr Bundesminister, Sie werden mir die pointierte Formulierung verzeihen, aber sieht es heute nicht wirklich so ähnlich aus?
Warum sind wir in der Lage, Herr Bundesminister, gemeinsam bis weit in das nächste Jahrtausend hinein rentenpolitische Ziele zu formulieren, und warum fehlen uns gemeinsame Qualitätsziele für Luft-, Wasser- und Bodenbelastung? Warum sind wir nicht in der Lage, unsere natürlichen Lebensgrundlagen gemeinsam genauso zu sichern wie unsere materiellen Lebensgrundlagen? Die Antwort heißt: Weil ein Konsens über langfristige ökologische Ziele in der Bundesrepublik zur Zeit nicht möglich scheint. Das liegt nicht nur daran, daß mit einem „Bericht zur Lage von Natur und Umwelt" eine planerische Grundlage für gemeinsames Handeln fehlt. Nicht nur daran liegt es! Meine Damen und Herren, es liegt auch daran, daß es in wichtigen Bereichen der Umweltpolitik tiefe Meinungsverschiedenheiten zwischen Regierung und Opposition gibt. Ich nenne als Beispiele nur Energie-, Chemie- und Verkehrspolitik.
Ausgerechnet die Konservativen haben es bis heute nicht geschafft, ökonomische Instrumente einzusetzen, um ökologische Ziele zu erreichen. Das hätte sich 1982 doch niemand träumen lassen! Wenn man damals gesagt hätte: „Die Konservativen werden alle marktwirtschaftlichen Instrumente zur Förderung des Umweltschutzes Schritt für Schritt abbauen und statt dessen fast ausschließlich auf ordnungsrechtliche Instrumente, auf Ver- und Gebote setzen", man hätte uns ausgelacht,

(Zuruf des Abg. Dr. Göhner [CDU/CSU])

Herr Kollege Göhner. Ich nenne Beispiele für Streichungen: Energiesparen, Fernwärme-Ausbau, Investitionsanreize nach dem Einkommensteuergesetz für Umweltschutzmaßnahmen, § 7 d, § 82 a usw.

(Baum [FDP]: Warten Sie mal ab!)

— Ich warte gerne ab, Herr Kollege Göhner und Herr Kollege Baum, aber ausgerechnet dort, wo Sie ordnungsrechtlich mit einem Federstrich verfügbare, lange erprobte und optimale Abgasfilter hätten einführen können, haben Sie — am falschen Platz — auf
11106 Deutscher Bundestag — 11: Wahlperiode — 149. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Juni 1989
Lennartz
marktwirtschaftliche Instrumente gesetzt und damit nicht nur den Erfolg verspielt, sondern auch ein heilloses Durcheinander angerichtet.

(Baum [FDP]: Wir sind in Europa, verehrter Herr!)

Ich spreche vom Dreiwegekatalysator,

(Baum [FDP]: Wollen Sie aus der Gemeinschaft austreten?)

von dem Sie vor Jahren glaubten, ihn mit allerlei Schadstoffklassen-Mätzchen ersetzen zu können.
Sie haben den Umweltschutz 1982, Herr Kollege Baum, erst der Opposition und dann Herrn Minister Zimmermann überlassen,

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: 1982 wart ihr noch gegen Katalysatoren!)

wobei Sie darüber nachdenken mögen — ich darf es einmal so formulieren — , was damals leichtsinniger war. Apropos Zimmermann, Herr Kollege Töpfer:

(Dr. Penner [SPD]: Wer ist das denn?)

Wo ist das Konzept der Bundesregierung für eine umweltverträgliche Verkehrspolitik?

(Dr. Penner [SPD]: Wo ist der?)

Spricht der jetzige Verkehrsminister, der frühere Umweltminister, mit dem jetzigen Umweltminister? Gibt es erfolgversprechende Pläne, die weniger Emissionen auf dem Verkehrssektor aufzeigen, weniger Schwerlastverkehr auf der Straße und demzufolge weniger Lärm und Abgase, weniger Pkw-Emissionen, bedingt durch den Ausbau des ÖPNV, geringeren Spritverbrauch und einfache, optimale Abgasreinigung? Nichts von all dem!
Merken Sie denn nicht, meine Damen und Herren von der Koalition, wie der Bonner Politik mehr und mehr das Heft des Handelns aus der Hand genommen wird?

(Kreuzeder [GRÜNE]: Wir merken es!)

Herr Bennigsen-Foerder sagt, wo es in der Energiepolitik langgeht, und Herr Goeudevert zeigt, wie man vor der Jahrtausendwende Autos baut — —

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Begrüßen Sie das immer noch, was Bennigsen gemacht hat? Das haben Sie im Ausschuß begrüßt! Stehen Sie noch dazu?)

— Wenn Sie zum Mikrophon gehen und es benutzen würden, würde ich die Frage gerne beantworten.

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Sie haben es auch so verstanden!)

Sonst wird es mir auf die Zeit angerechnet.
Meine Damen und Herren, was sagt Herr Goeudevert dazu, wie das Auto der Jahrtausendwende aussieht? Sparsam, umweltfreundlich, Herr Minister Töpfer, familienfreundlich, bezahlbar und — wichtig, Herr Töpfer! — ohne faule Kompromisse, was die persönliche Karriere — hier von Herrn Goeudevert — angeht. Hätten beide Erkenntnisse nicht auch Vorgaben der politisch Verantwortlichen sein können, nein, sein müssen?
Solange Sie um das Bruttosozialprodukt herumtanzen wie um das goldene Kalb, wird sich daran nichts ändern. Mag sein, daß Sie demnächst sogar von konservativen Wirtschaftstheoretikern überholt werden, die längst dabei sind, auch Luft, Wasser und Boden als endliche Güter anzuerkennen und zum Gegenstand betriebswirtschaftlicher Kalkulation zu machen.
Wir Sozialdemokraten sind bereit und in der Lage, gemeinsam mit allen politischen Kräften aus dem Lager des guten Willens die ökologische Modernisierung unserer Volkswirtschaft anzupacken.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114926300
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidbauer.

Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1114926400
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lennartz, es ist in der Tat richtig, daß Sie Ihren Antrag zwar nicht begründet haben, wo es darum geht, hier alle zwei Jahre einen Bericht zur Lage von Natur und Umwelt vorzulegen. Aber der Antrag ist natürlich sehr charmant begründet, weil wir in der Tat einen solchen Bericht erstatten werden, und zwar ohne daß wir aufgefordert sind und ohne daß wir in einen bestimmten Zeitrahmen gedrängt werden.
Ich denke, daß die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung gut daran tun, Ihnen einmal Ihren Gang durch den Gemüsegarten etwas besser zu gestalten und Sie einmal auf die Konzeption der Koalitionsfraktionen hinzuweisen. Dazu ist eine Menge zu sagen.
Ich will nur an Ihre These erinnern: Blauer Himmel über der Ruhr. Keiner hatte erkannt, daß mit diesem blauen Himmel der Schadstofferntransport eingesetzt worden ist, und es hat bestimmte Auswirkungen gegeben, die man zum damaligen Zeitpunkt nicht erkannt hat.
Ich denke, daß alle engagierten Umweltpolitiker hier im Saal und auch im Ausschuß sehr wohl wissen, wie komplex sich die Situation darstellt, wenn man mit Patentrezepten operieren möchte.
Ich möchte auf den Antrag der SPD eingehen. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland in vielfältiger Weise regelmäßig Umweltdaten vorgelegt, die als Handlungsgrundlage für unsere Umweltpolitik dienen. Ich nenne die Jahresberichte des Umweltbundesamtes, das Umweltstatistikgesetz, das wir zur Zeit wesentlich erweitern, Immissionsschutzberichte und die etwa alle zwei Jahre erscheinenden Daten zur Umwelt. Das Problem scheint mir zu sein, daß wir uns über die Inhalte dieser Berichte unterhalten müssen, um dann nach Wegen zu suchen, wie diese Berichte mehr hergeben, aktueller sind.
Diese Berichte — ich hoffe, sie werden aufmerksam gelesen — geben nicht nur eine umfassende Situationsbeschreibung der Umwelt wieder, indem sie an Hand von Daten die Fortschritte in der allgemeinen Umweltpolitik dokumentieren, sondern es werden auch Quellen und Ursachen von Umweltgefährdungen, die Kosten der Belastungen sowie ergriffene bzw.



Schmidbauer
notwendige Maßnahmen genannt. Allerdings muß man diese Berichte lesen.
In der neuesten Ausgabe der Daten zur Umwelt 1988/89 wurde erstmals ein Kapitel über den Zustand der Nordsee eingefügt. Die Kapitel Wasser, Natur und Landschaft sind erweitert und vertieft worden. Ebenfalls neu sind die Daten zu grenzüberschreitenden und weltweiten Umweltproblemen. Ich nenne hier das Problem stratosphärischer Ozonabbau und Treibhauseffekt. Das sind wichtige Dinge, um eine neue Umweltpolitik im Hinblick auf globale Herausforderungen nicht nur zu formulieren, sondern auch umzusetzen.
Es kann also nicht darum gehen, Herr Kollege Lennartz, neue Berichte zur Lage von Natur und Umwelt zu erstellen, sondern darum, die vorliegende Datenbasis zu ergänzen, zu verbessern, unsere Konzepte weiterzuentwickeln und umzusetzen.
Nachdem wichtige Vorhaben zur Reinhaltung von Luft, Wasser, Boden und zur Erhaltung der Natur bereits verwirklicht sind oder noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden, und zwar sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene, wäre es jetzt sinnvoll, eine verbesserte Ermittlung der Emittentenstrukturen zu erreichen. Dies wird nur möglich sein, wenn die Daten über den Zustand der verschiedenen Umweltbereiche noch zuverlässiger, noch umfassender und noch schneller als bisher, d.h. jeweils dem neuesten Stand entsprechend, zur Verfügung stehen. Wenn Sie sich einmal den neuesten Bericht ansehen, werden Sie bemerken, daß zwar auf dem Einband 1988/89 steht; aber die Datenbasis endet in den meisten Fällen bei 1986. Dort liegt das Problem. Wenn wir neue Konzepte umsetzen wollen, Ergebnisse schneller abgreifen wollen, dann brauchen wir aktuellere und tiefergehende Datenbasen.
Wie in den Daten zur Umwelt erwähnt, gibt es Datenlücken, insbesondere für die Bereiche Wasser und Abfall sowie im Bereich des Grundwasserzustandes oder bei Fragen des Verhältnisses von Gesundheit und Umweltschutz. Ähnliches — Herr Kollege, Sie hatten es ja erwähnt — hat sich der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem Gutachen 1987 zu eigen gemacht, und er hat auf diese Punkte hingewiesen.
Daraus ergeben sich für uns folgende Forderungen: Die Emittenten und Schadstoffe müssen vollständiger und differenzierter erfaßt werden. Teilweise liegen nur Daten für bestimmte Industriebranchen vor. Ein optimaler Schutz der Nordsee z. B. setzt Prioritäten bei der Eindämmung der Schadstoffeinleitungen voraus, und zwar dort, wo am meisten und am schnellsten etwas für die Nordsee getan werden kann, z. B. bei den Hauptemittenten.
Die Methoden der Emissionsschätzung oder -berechnung müssen einheitlicher und nachvollziehbarer werden. Mit einem verbesserten Datenmaterial können auch unverhältnismäßig hohe Aufwendungen mit nur geringen Verbesserungen im Umweltschutz vermieden werden. Ich erinnere an das Problem der Elbesanierung und an den Einsatz von Mitteln z. B. in der DDR mit sehr viel besserer Wirkung als auf unserer
Seite, wo mit demselben Mitteleinsatz nur eine geringere Effizienz erreicht werden kann.
Die Verfeinerung unseres Umweltkonzeptes setzt nicht nur die Verbesserung der Datenlage, sondern auch die Zusammenführung derart voraus, daß differenzierte und effektive Maßnahmen im Hinblick auf bestimmte Emittentengruppen möglich sind.
Wir fordern daher die Bundesregierung auf, uns bis zum Ende der Legislaturperiode in dem Bericht, der, wie ich annehme, von Minister Töpfer sowieso gegeben wird, auch Vorschläge zur Verbesserung der Datenlage und Zusammenführung der Daten vorzulegen.
Die grenzüberschreitenden globalen Umweltgefahren erfordern neue Lösungsinstrumentarien. Ich denke, hierzu gehört ein weltweites Umweltinformationssystem, wenn Sie so wollen: eine weltweite Umweltdatenbank. Wir erwarten von der Bundesregierung, die Möglichkeit des Aufbaus eines solchen Systems zu untersuchen und mit Nachdruck zu fördern. Wir sehen eine solche Datenbank als eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Tätigkeit an, und zwar sowohl für eine EG-Umweltagentur als auch für eine globale Umweltpolitik. Ich denke, daß vor allen Dingen Industrienationen verpflichtet sind, ihre bereits vorhandenen Dokumentationssysteme zu koordinieren sowie sich am Aufbau weiterer geeigneter und vor allem einheitlicher Meßnetze, statistischer Erhebungsverfahren und Auswertungsmethoden zu beteiligen. Nur mit Hilfe moderner Technologie können wir den globalen Herausforderungen im Umweltschutz begegnen.
Insofern, Herr Kollege Lennartz, sollten wir im Ausschuß weniger einen neuen Bericht fordern, als versuchen, die vorhandenen Berichte zusammenzufassen, zu ergänzen und zu vertiefen, um aus den vorhandenen Berichten einen einheitlichen Bewertungsbericht zu erstellen. Ich denke, daß wir von der Zielsetzung her überhaupt nicht auseinander liegen. Wir liegen nur darin auseinander, daß Sie einen solchen Antrag mißbrauchen, um über die Bundespolitik, über die Arbeit der Bundesregierung etwas hämisch zu polemisieren.

(Lennartz [SPD]: Wenn sie gut wäre, bräuchten Sie davor keine Angst zu haben! — Gegenruf des Abg. Dr. Göhner [CDU/CSU]: Wer hat denn Angst?)

Wenn wir über den Bericht diskutieren, sollten wir uns in der Sache auseinandersetzen und auch einmal die Augen aufmachen, um zu sehen, wie sich unsere Umwelt verändert hat, was geschehen ist.

(Baum [FDP]: Sehr richtig!)

Wir sollten auch einmal die positiven Dinge und nicht nur Horrorszenarien darstellen. Mit einem solchen Leid, das wir hier vortragen, bewegen wir die Umweltpolitik überhaupt nicht. Gemeinsam anstrengen müssen wir uns, damit wir unsere Umwelt verbessern.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Das ist richtig!)




Schmidbauer
Darauf würde ich mehr Wert legen als auf Ihren Weg durch den Gemüsegarten bekannter Polemik, lieber Herr Kollege Lennartz.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114926500
Das Wort hat der Abgeordnete Knabe.

Dr. Wilhelm Knabe (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114926600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD stellt einen vernünftigen Antrag.

(Lennartz [SPD]: Macht sie immer!)

Das soll ja vorkommen. Sie fordert die Bundesregierung auf, mindestens alle zwei Jahre einen Bericht zur Lage von Natur und Umwelt vorzulegen. Sie tut das offensichtlich in der Hoffnung, von der Regierung einen konkreten Bericht über die tatsächliche Lage zu bekommen — von einer Regierung, die nach wie vor die Schneisen des Fernstraßenbaus in die Landschaft hineinknallt, von einer Regierung, die kaum etwas gegen die wachsenden Müllberge tut, die bis heute die Verpackungsindustrie und die damit verbundene Verschwendung nicht gestoppt hat, einer Regierung, die Milliarden in die Landwirtschaft hineinpumpt, ohne damit Massentierhaltung, übertriebene Düngung und den flächenhaften Einsatz von Chemikalien gegen Pilze, Insekten und Unkräuter abzufangen.
Aber der Antrag der SPD hat über den Mangel der gegenwärtigen Regierung hinaus ein entscheidendes Manko: Er ist zu staatsfixiert. Er geht nicht auf das grundlegende Dilemma jeder Regierung ein, im Bund, in Bayern, in Nordrhein-Westfalen. Jede Regierung möchte den Eindruck erwecken: Wir haben die Sache im Griff. — In Wirklichkeit laufen ihr die Probleme davon. Ich will gar nicht bestreiten, daß es in jeder Regierung, auch in den Parlamenten, guten Willen gibt, die Dinge zu bessern, aber im Zweifel siegt dann doch der Wunsch, nach außen kompetent und als Herr der Lage zu erscheinen, der die Sorgen der Bürger auf seine Schultern lädt, so daß dieser beruhigt weiterschlafen kann; denn die Drohung steht im Raum: Eine unfähige Regierung wird über kurz oder lang abgewählt. Ich verhehle nicht: Auch eine grüne Regierung wäre dieser Versuchung ausgesetzt.
Daher möchte ich etwas grundlegend Neues für diesen Bericht vorschlagen. Wir werden dazu einen Entschließungsantrag einbringen. Der Bericht müßte aus drei Teilen bestehen: erstens einem Regierungsbericht, zweitens einer kritischen Analyse der anerkannten Umweltverbände und drittens einer Sammlung von Berichten betroffener Menschen und Gruppen; eine internationale Datenbank könnte ihn ergänzen.
Bei der knappen Zeit will ich nur zu dem zweiten und dem dritten Punkt etwas sagen. Anerkannte Umweltverbände wie der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, BUND, oder der Deutsche Naturschutzring, DNR, aber vielleicht auch Organisationen wie Greenpeace sollten den Regierungsbericht vor der Drucklegung erhalten und ein paar Monate Zeit haben, eine kritische Bewertung vorzunehmen, die dann mitabgedruckt wird. Wir können es uns einfach nicht leisten, auf den Sachverstand dieser Organisationen zu verzichten, vor allem auf ihr kritisches Bewußtsein und die geschulte Fähigkeit der Analyse amtlicher Berichte.
Doch für noch wichtiger halte ich den dritten Teil: Berichte von Betroffenen. Das können auch positive Berichte sein, von Menschen, die wieder etwas aufgebaut haben, einen Wasserlauf renaturiert, eine Schadensfläche neu bepflanzt oder einen Feuchtbiotop angelegt haben. Unerläßlich aber sind Berichte von den tausenden Fällen von Landschafts- und Naturzerstörung, die wir überall erleben: von den lärmgepeinigten Menschen an den Ausfallstraßen, wo tausende Lastwagen vorbeibrummen, von anderen in den Einflugschneisen der Flughäfen oder von dem unerträglichen Lärm der Tiefflieger.
Wir brauchen Berichte, authentische Dokumentationen von Naturzerstörung durch Straßenneubauten oder Industrieansiedlungen, vielleicht auch nur durch Wochenendhäuser. Wo sind nicht überall neue Verkehrsschneisen in die Wälder hineingeschlagen worden und haben zusammenhängende Lebensbereiche zerschnitten, unüberbrückbar für viele Kleintiere, von denen uns nur zerquetschte Kröten und überfahrene Igel auffallen! Durch diese Berichte ortskundiger Gruppen und Einzelmenschen werden die wissenschaftlichen Statistiken erst lebendig und verständlich. Sie könnten eine Gegenreaktion auslösen und helfen, daß mit weiterer Naturzerstörung Schluß gemacht wird.
Man darf fragen: Wer soll diese Bürgerberichte zusammenstellen, auswerten und auswählen? Hierzu möchte ich als Klärungsstelle den Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz, den BBU, vorschlagen. Er hat in früheren Jahren gezeigt, daß er hervorragend organisieren und koordinieren kann. Durch eine solche neue wichtige Aufgabe würde er erneut an Bedeutung gewinnen, als Ansprechpartner für Bürgerinitiativen zur Verfügung stehen und den Umweltgedanken vom Einzelfall auf die gesellschaftliche Ebene heben.
Ich möchte wiederholen: Jede Regierung kann der Versuchung erliegen, die Dinge zu schönen, aber die kritische Analyse der Umweltverbände und die Berichte der Betroffenen würden dauerhaft helfen, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen und Impulse zur Besserung auszulösen.
Danke.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1114926700
Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Baum.

Gerhart Rudolf Baum (FDP):
Rede ID: ID1114926800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es fehlt in der Tat nicht an Informationen über die Lage der Umwelt. Es gibt eine Vielzahl von Berichten auf den verschiedenen Gebieten; wir alle kennen sie. Es werden immer wieder Zwischenbilanzen vorgelegt. Ich nenne den Immissionsschutzbericht, die wichtigen Gutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen, Jahresberichte des Umweltbundesamtes und die gerade vorgelegten Daten zur Umwelt 1988/89. Es ist also, meine ich, die Ökologie- und die Umweltsituation eingehend dargestellt und diskutiert, so daß wir eigentlich in der Lage wären, in



Baum
unserem Lande, soweit es die wissenschaftlichen Erkenntnisse überhaupt zulassen, uns ein Bild zu machen.
Schwieriger wird es schon auf der europäischen Ebene. Hier ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß Daten fehlen. Das ist ein Grund mehr, Herr Töpfer, sich für die europäische Umweltagentur einzusetzen. Sicherlich ist es auch richtig, daß das weltweite Datenmaterial außerordentlich schwach ist.
Meine Damen und Herren, die Lage darzustellen ist relativ einfach. Schwieriger ist es, die Lage zu bewerten und aus ihr politische Schlußfolgerungen zu ziehen.
Es ist ja relativ einfach, Herr Kollege Lennartz, politische Ziele zu formulieren. Wenn sie allgemein formuliert werden, ist es ganz einfach. Wer wollte nicht, daß wir unsere Natur schonen, wer wollte nicht die Nordsee von Schadstoffen freihalten? Über all diese Ziele werden Sie sich in jeder Veranstaltung mit jedem Bürger sehr schnell einig werden. Da liegt ja nicht das Problem. Das Entscheidende ist der Weg, sind die Instrumente, ist die Auflösung von Zielkonflikten mit anderen Interessen. Ich gebe Ihnen zu, Herr Kollege Lennartz, daß die Aufstellung von Qualitätszielen notwendig ist, sehr schwierig ist, naturwissenschaftlich — Sie haben es mit Recht gesagt — nicht zu machen ist und irgendwo am Ende dann eine politische Entscheidung steht. Aber auch hier müssen Sie berücksichtigen, daß Sie mit jeder Entscheidung, die Sie im Bereich des Umweltschutzes treffen, andere Interessen berühren.

(Lennartz [SPD]: Natürlich!)

Sie kommen dauernd in Konfliktfelder. Es nützt mir überhaupt nichts — um das an einem anderen Beispiel deutlich zu machen — , wenn Herr Joschka Fischer im „Spiegel" wortkundig, wie er ist, ein Szenario der Ziele aufstellt. Das kann eigentlich jeder von uns. Er müßte uns sagen, welche Wege er unter Inkaufnahme welcher Konflikte gehen will oder wie er auf dem Weg welche Konflikte lösen will. Das macht er nicht.

(Beifall des Abg. Dr. Grüner [FDP])

Der „Spiegel" hat diesen Teil, den operativen Teil seines Buches nicht abgedruckt, weil er, wie ich hörte, nicht aussagekräftig genug ist. Nun werfe ich das Herrn Fischer nicht vor, denn der operative Teil ist sehr, sehr schwierig.
Deshalb, meine Damen und Herren, ist es wichtig, daß wir Umweltpolitiker — wir sitzen hier wieder weitgehend unter uns — die Umweltpolitik in andere Politiken hineintragen. Sie wird ja auch woanders entschieden; sie wird in der Verkehrspolitik, in der Energie-, in der Steuerpolitik entschieden.

(Zustimmung des Abg. Dr. Knabe [GRÜNE])

Das Schlimme ist, daß diese Verzahnung noch nicht hergestellt ist, und das gilt für alle Parteien. Herr Kollege Lennartz, wir beklagen — auch Ihre Partei — blumenreich, daß eine Novelle zum Naturschutzgesetz nicht da ist, weil sie nicht finanziert werden kann. In wichtigen Ländern tragen Sie Verantwortung. Herr Rau hat sich heute nachmittag sehr eindrucksvoll als
Gastgeber von Gorbatschow in Nordrhein-Westfalen gezeigt. Was sagt denn Herr Rau zur Finanzierung des Naturschutzgesetzes? Was sagt der Finanzminister Nordrhein-Westfalens?

(Lennartz [SPD]: Ich schicke Ihnen die Rede von Herrn Matthiesen zu!)

Der hat natürlich auch Sorge, daß seine Landeskasse zum Naturschutz herangezogen wird, und will das möglichst vermeiden. Ähnliche Konflikte hat der Bundesminister.
Wer also so tut, als könne er lupenrein seine ökologischen Ziele durchsetzen, er brauche es nur zu verkünden, und alle Welt glaubt ihm, dem glaube ich nicht, denn er muß mir sagen, wie er die Zielkonflikte auflöst.

(Beifall bei der FDP)

Wir — meine Partei wird das jetzt noch einmal verdeutlichen und verstärken — messen uns eine gewisse Kompetenz in der Wirtschaftspolitik zu. Wir sind die wirklich von Anfang an in der Geschichte der Bundesrepublik auf Marktwirtschaft setzende Partei. Die Marktwirtschaft ist die effizienteste Wirtschaftsordnung auch für die Bewältigung der Umweltprobleme. Wir werden noch stärker als bisher marktwirtschaftliche Instrumente einsetzen, um diese Ziele zu erreichen. Wir werden das in meiner Partei diskutieren; wir haben Vorlagen dafür. Aber ich sage auch, meine Damen und Herren: der Spielraum für diese Instrumente ist nicht unbegrenzt. Wir haben ein sehr striktes Ordnungsrecht. Nicht überall ist für diese marktwirtschaftlichen Instrumente überhaupt noch ein Spielraum da. Aber hier ist die ganze Mitarbeit, die Kreativität der Finanz-, der Steuer- und Wirtschaftspolitiker gefordert, um mit uns zusammen so etwas zu erreichen.
Die Bundesregierung hat vor einigen Tagen die Umweltdaten 1988/89 vorgelegt, und, Herr Kollege Lennartz, sie bieten keineswegs das düstere Bild, das Sie hier gezeichnet haben. Es ist doch wirklich nicht so, daß die einen alles immer nur positiv sehen — das wäre dann immer die jeweilige Regierung — und die anderen alles immer nur negativ sehen. Wann kommen wir von dieser schematischen Beurteilung weg?

(Dr. Wernitz [SPD]: Das hat er gar nicht gesagt! — Weitere Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

— Aber er hat so getan, als lebe er in einem Staat, in dem er am Rande der Vergiftung steht, weil diese Bundesregierung untätig ist.

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: So ist es! „Vergiftetes Wasser"!)

Das ist doch nicht richtig.
Herr Knabe, auch Sie haben mit Recht gesagt, der gute Wille allein genügt nicht. Der genügt wirklich nicht. Wenn Sie von dem lärmgeplagten Bürger reden: Alle diese lärmgeplagten Bürger fahren selber Auto. Wie bekommen wir es hin, daß sie nicht mehr lärmgeplagt sind? Das ist das Problem, ein schwieriges Problem.

(V o r sitz : Vizepräsident Cronenberg)




Baum
Das Ziel aufzustellen, „Wir wollen möglichst wenig Lärm", reicht doch wirklich nicht.

(Bindig [SPD]: Aber Sie sind doch an der Regierung! Sie müssen diese praktische Arbeit einmal leisten!)

— Ja, wir haben ja so viel praktische Arbeit geleistet. Wissen Sie, es ist so unendlich viel geschehen. In den Bundesländern ist unendlich viel geschehen. Der nordrhein-westfälische Umweltminister Matthiesen hat dieser Tage eine stolze Umweltbilanz verkündet. Auf der Grundlage der TA Luft, einer Bundesregelung, die ich vorbereitet habe und die dann in dieser Koalition in die Wege geleitet worden ist, sind in Nordrhein-Westfalen 13 Milliarden DM investiert worden. In den nächsten Jahren werden noch weitere 6 Milliarden DM investiert. Das ist eine gemeinsame Leistung. Das sollten Sie auch einmal sagen. Warum sagt das nur Herr Matthiesen, während Sie hier im Deutschen Bundestag diese Sache verschweigen?

(Zustimmung bei der FDP und der CDU/ CSU)

Wir haben in Nordrhein-Westfalen eine erhebliche Reduktion von Schwefeldioxid erreicht. Wir haben ferner eine erhebliche Reduktion von Stickoxiden, von Staub erreicht. Wir haben Erfolge bei der Reinigung der Gewässer erzielt. Natürlich haben wir viele Probleme, aber wir müssen doch den Mut haben, alle gemeinsam, die wir daran mitgewirkt haben und mitwirken, auch einmal über das Geleistete zu sprechen. Das vermisse ich bei Ihnen.

(Zustimmung bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

Es gibt einen Berg von Problemen, auch vielen neuen Problemen. Es ist notwendig, auch zu differenzieren und einmal zu sagen: Das können wir jetzt nicht machen. Nicht alles ist gleich wichtig.
Die CO2-Belastung der Erdatmosphäre ist ein wichtiges Thema. Aber auch hierzu ein Datum: Von 1973 bis heute sind die Kohlendioxid-Emissionen in der Bundesrepublik um 10 To zurückgegangen. Das gibt es in keinem anderen Industriestaat, nirgendwo auf der Welt! Hier haben wir immerhin das erreicht.
Wir müssen also in allen Bereichen Fortschritte machen. Wir werden uns jetzt stärker der Reduzierung von Kohlendioxid bei Kraftfahrzeugen widmen müssen.
Die Umweltgutachen machen deutlich — das will ich jetzt kritisch sagen; ich unterstütze das, was Sie, Herr Töpfer, gesagt haben —, daß insbesondere im Bereich des Naturschutzes und hinsichtlich des Abfalls ein sehr großer Nachholbedarf besteht. Übrigens, ich habe heute auf dem Schreibtisch ein Papier: Zielvorstellungen der Bundesregierung zur Reduzierung von Plastikabfall und sonstigen Behältnissen, sehr rigorose Zielvorstellungen. Das finde ich gut. Das ist Schritt für Schritt eine intensive Umweltpolitik.

(Zustimmung bei der FDP — Zuruf des Abg. Lennartz [SPD])

— Herr Lennartz, Ihre Schwarzweißmalereien treffen wirklich nicht.

(Zuruf des Abg. Lennartz [SPD])

— Gut, wenn die Gemeinsamkeit beschworen wird, dann haben Sie mich auf Ihrer Seite, soweit es möglich ist.
Meine Damen und Herren, ein letztes Wort. Ich habe schon gesagt: Wir brauchen eine Umweltagentur, am besten ein Umweltamt, das die Gemeinschaft berät, so wie das hier national von seiten des Umweltbundesamtes der Bundesregierung und der Öffentlichkeit gegenüber geschieht.
Wir brauchen die Europäische Gemeinschaft auch wegen des Umweltschutzes. Wir dürfen uns nicht dem europäischen Gedanken verschließen. Bei den GRÜNEN habe ich ja das Gefühl, daß sie sich mäkelnd, resignierend davon abwenden. Sie müssen die Europäische Gemeinschaft mitgestalten, die anderen überzeugen. Wir haben nur gemeinsam eine Chance.

(Zustimmung bei der FDP und der CDU/ CSU)

Wir können und dürfen nicht alleine handeln.
Wir brauchen nicht pessimistisch in die Zukunft zu blicken. Es ist ein Umdenken festzustellen. Von November letzten Jahres bis jetzt ist ein Umdenken in Sachen Kraftfahrzeug in der Europäischen Gemeinschaft festzustellen. In Großbritannien, in Frankreich, in Italien wird Umweltschutz zum Thema der Wahlkämpfe. Ich bin nicht so voller Befürchtungen wie Sie. Ich meine, wir haben eine Chance.
Übrigens — ich sage es noch einmal — bleibt uns überhaupt gar nichts anderes übrig. Wir brauchen Europa als Umweltgemeinschaft. Wir brauchen zunächst einmal mindestens dieses Europa. Wir brauchen Osteuropa genauso. Wir müssen den osteuropäischen Staaten helfen, damit sie wirtschaftlich auf die Beine kommen, denn erst dann können sie Umweltschutz betreiben. Viele Schadstoffe kommen aus dem Osten nach Westen. Denken Sie an die Elbe; denken Sie an die Stickoxide aus der Tschechoslowakei!
Wir sind international wirklich auf dem Wege des Umdenkens. Auch die Erklärung, die hier von Gorbatschow unterzeichnet worden ist, gibt die Chance einer Zusammenarbeit zwischen Ost und West, um diese wichtigen Probleme im internationalen Zusammenhang endlich in Angriff zu nehmen. Auch dies muß man zu dem Besuch Gorbatschows sagen: Er hat eine wichtige Funktion in Sachen Umweltschutz. Auch hier gibt es neue Hoffnung. Zu einseitiger Schwarzmalerei ist kein Anlaß.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114926900
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Herr Dr. Töpfer.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1114927000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Umweltpolitik braucht wie jeder andere Politikbereich eine zuverlässige Datenbasis. Politik, Verwaltung und nicht zuletzt unsere Bürger müssen ausreichend Informationen haben, um die Prioritäten für umweltpolitisches Handeln abzuleiten, um zielgenaue Maßnahmen entwickeln zu können, um ihre eigenen Maßnahmen immer und



Bundesminister Dr. Töpfer
immer wieder auf ihre Wirksamkeit hin überprüfen zu können und sie der demokratischen Diskussion und Auseinandersetzung in einer möglichst nicht nur emotionalen Vorgehensweise zur Verfügung zu stellen. Sie braucht natürlich auch die Diskussion über Ziele.
Die Diskussion über Ziele ist aber eigentlich an vielen Stellen der Versuch, der politischen Entscheidung aus dem Wege zu gehen. Herr Abgeordneter Lennartz, ich würde mich heute nicht hinstellen und wagen zu sagen: Mein Ziel besteht darin, den blauen Himmel über der Ruhr zu machen. Ich würde es nicht wagen, denn die Entwicklung, die wir gesehen haben, führte zunächst einmal dazu — darauf hat der Abgeordnete Schmidbauer aufmerksam gemacht — , daß wir mit einer Hochschornsteinpolitik die Emissionen nicht vermindert, sondern die Verteilung verbessert haben. Das Ziel war erreicht, aber das Mittel war falsch; das wissen wir heute.

(Lennartz [SPD]: Sie haben schon genau verstanden!)

Vor wenigen Tagen haben wir in diesem Hohen Hause gestanden, und es waren Mitglieder Ihrer Fraktion, die sehr, sehr besorgt gefragt haben, wie das denn mit dem blauen Himmel aussehe, ob er nicht geradezu zu einem Signal der Besorgnis für den Sommersmog und die damit verbundenen Ozonbelastungen würde. Das heißt: Ziele, Grenzwerte sind eben etwas mehr als nur die Vorstellung dessen, was man möglicherweise morgen in einer guten Schlagzeile unterbringt.
Gewarnt sei mit großem Nachdruck vor den terribles simplificateurs, vor den schlimmen Vereinfachern, denn die haben umweltpolitische Fortschritte noch nie erzielt, Herr Lennartz. Deswegen sei auch vor solchen Büchern gewarnt, die sich in der Beschreibung der Ziele erschöpfen und damit Erwartungen bewirken, die aus der Realität, aus dem Nebeneinander verschiedener wichtiger Ziele, gar nicht zu erreichen sind. Dies ist verantwortliche Umweltpolitik.
Ich möchte einen Punkt aus der Rede von Herrn Lennartz herausarbeiten. Er hat mir gesagt, die Bundesregierung stütze sich nur noch auf Verbote und Gebote. Herr Abgeordneter Lennartz, ich bitte, das aber dann auch immer durchgehend zu fixieren und nicht heute die Marktwirtschaft einzufordern und morgen zu fragen, warum wir denn nicht wieder an irgendeiner Stelle ein Verbot durchgesetzt hätten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn man mir auf der einen Seite immer und immer wieder mit großen Worten sagt, daß dieser Töpfer offenbar nicht das Rückgrat habe, um Gebote und Verbote zu machen, sondern sich mit einem solchen marktwirtschaftlichen Instrument wie der Kooperation einläßt, sollte man sich auf der anderen Seite nicht hier hinstellen und das hohe Lied der Marktwirtschaft singen. Da können Sie, Herr Lennartz, noch sehr, sehr viel von uns lernen.
Mir tut es leid, daß die Abgeordnete Vollmer nicht mehr im Saal ist. Ich habe am letzten Sonntag auf dem Kirchentag in Berlin mit diskutiert, u. a. mit Carl Amery. Der von Ihnen eingeforderte Katalysator ist
mir von Carl Amery als der Beleg eines modernen Ablaßhandels mit dem Hinweis darauf vorgeworfen worden, daß wir damit den Bürgern wieder ein gutes Gewissen dafür schaffen, das Auto zu nutzen und nicht daran zu denken, daß Weiteres zu tun ist.
Herr Abgeordneter Lennartz, wenn Sie sich in den Rundumschlag der umweltpolitischen Auseinandersetzung einlassen, seien Sie bitte so offen und so nachdenklich, hier auch klar zu sagen, wie sich denn das in der Realität unserer Republik, in der Kärrnerarbeit alltäglicher Entscheidungen niederschlägt. Das ist unsere Aufgabe, und die machen wir.

(Lennartz [SPD]: Ich lade Sie gerne zu dieser Kärrnerarbeit ein!)

Dazu — das möchte ich deutlich sagen — brauchen wir auch mehr Informationen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich bin ganz zufrieden, daß wir diesen Antrag haben, denn im Deutschen Bundestag über Umweltpolitik zu diskutieren ist immer ein Gewinn, ist immer eine gute Sache. Daß wir darauf aufmerksam machen können, was wir auf diesem Gebiet alles getan haben, ist ebenfalls gut.

(Beifall des Abg. Dr. Weng [Gerlingen] [FDP])

So ist z. B. darauf aufmerksam zu machen, daß wir, wie kaum ein anderes Land in der Gemeinschaft, über Umweltdaten verfügen. Ich bitte Sie ganz herzlich: Nehmen Sie die kürzlich von dem Präsidenten des Umweltbundesamtes und mir gemeinsam vorgelegten Daten zur Umwelt zur Kenntnis! Sie sind hier gewürdigt worden.
Wir haben nicht den leichten Weg gewählt und gesagt: Da und hier ist etwas Negatives; das wollen wir nicht aufgreifen. Wir haben eine ungeschminkte, ehrliche Bilanz vorgelegt. Jeder ist eingeladen, sich mit ihr auseinanderzusetzen, auch mit den Lücken, und wir haben Lücken.
Aber nun muß ich doch einmal zurückfragen und wende mich einmal gerade an die SPD-Fraktion, die ja nun seit vielen Jahren darauf aufmerksam macht, wir müßten uns etwa im Bereich der Wasserwirtschaft ein Stückchen weiterbewegen. Meine Damen und Herren, um das ganz klar zu sagen: Die Bundesregierung verfügt über keinerlei Daten zum Wasser in der Bundesrepublik Deutschland. Es sind die Länder, die hier über Daten verfügen. Und wir haben in die Koalitionsvereinbarung die Formulierung aufgenommen, die Länder zu bitten, etwa Einleitungsgenehmigungen an das Umweltbundesamt zu melden.

(Baum [FDP]: Pustekuchen!)

Bis zur Stunde, Herr Lennartz, bei allen Bundesländern nicht durchsetzbar. Nicht deswegen, weil wir diese Daten nicht wollen, sondern weil die Bundesländer sie als in ihrem Aufgabenbereich befindlich und zu ihrer Darstellungsmöglichkeit gehörig ansehen. Meinen Sie nicht, ich wäre nicht herzlich dankbar und froh, wenn wir mehr Daten über die Grundwasserbelastung mit Pestiziden hätten? Aber selbstverständlich doch! Ich bin bis vor zwei Jahren Umweltminister in Rheinland-Pfalz gewesen. Wir haben angefangen, eine Grundwasserdatenbank anzulegen; sie ist noch nicht fertig. Wir haben sie bundesweit nicht, aber



Bundesminister Dr. Töpfer
nicht deswegen, weil die Bundesregierung sie nicht will, sondern deswegen, weil die Zuständigkeit für die Wasserwirtschaft bei den Ländern liegt und weil die Länder diese Daten jetzt aufarbeiten. Und das haben wir bei der Darstellung der Daten über die Umwelt deutlich gemacht. Ich wäre herzlich dankbar, wenn sich der Kollege Matthiesen, der hier schon erwähnt wurde, dazu durchringen könnte, zu sagen: Ich gebe dem Bundesumweltminister einen flächendeckenden Überblick über die Grundwasserbelastung in Nordrhein-Westfalen.

(Baum [FDP]: Warum tut er es eigentlich nicht? Hat er etwas zu verbergen?)

Gehen Sie doch bitte einmal zu ihm hin und lassen Sie sich diese Daten von ihm geben. Und wenn Sie sie von ihm bekommen haben, dann sind wir gerne bereit, sie aufzugreifen. Also, wenn denn hier an irgendeiner Stelle so ein Szenario aufgebaut würde, als wollten wir Daten nicht weitergeben:

(Lennartz [SPD]: Das hat doch keiner gesagt!)

Ich bitte Sie! Wir sind doch diejenigen, die darauf drängen.
Und wir werden — lassen Sie mich das ganz deutlich sagen — nicht Ihren Hinweis aufgreifen, sondern wir werden weiter unsere Arbeit machen. Seit einem Jahr arbeitet man bei mir im Ministerium auf meine Anweisung an einer Gesamtübersicht über die Umweltpolitik, über die Situation und Perspektiven der Umweltpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, und wir werden das bis zum Ende dieses Jahres vorlegen.

(Zuruf von der SPD: Das kann ich mir denken!)

— Wir werden das vorlegen. Und ich habe erwartet, daß man sagt: „Das kann ich mir denken!" Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen: Eine noch bessere Vorlage kann eine Bundesregierung überhaupt nicht kriegen, als daß auch die Opposition ihr sagt: Ich bitte euch doch herzlich, gebt uns einmal eine Bilanz eurer Umweltpolitik! Sie dürfen versichert sein, Sie bekommen sie noch in diesem Jahr: mit Basis, mit Daten und mit Zielen und Perspektiven in der Ehrlichkeit, die unsere Umweltpolitik insgesamt auszeichnet. Also, dazu einen Antrag zu stellen ist überflüssig.
Wenn Sie uns aber Hilfestellung geben wollen, dann denken Sie bitte auch mit uns darüber nach, wie wir dies in Europa insgesamt umsetzen können. Wir brauchen die Umweltagentur. Wir brauchen sie zur Harmonisierung der Daten in Europa. Sie werden davon ausgehen können — Sie haben es mehr als einmal erlebt — , daß sich die Bundesregierung dafür einsetzt, das zu bekommen. Am allerbesten wäre es, wenn der Sitz dieser Umweltagentur auch noch in der Bundesrepublik Deutschland sein könnte.

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Im Ruhrgebiet!)

Ich hoffe, daß wir uns im Streit über einzelne Standorte nicht so weit auseinanderdividieren, daß dann irgend jemand in Europa — —

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Nein, wir sind einvernehmlich für das Ruhrgebiet! — Baum [FDP]: Einvernehmlich für Köln!)

— „Wir sind einvernehmlich für das Ruhrgebiet", sagt der Abgeordnete Göhner. Ich möchte das bitte zu Protokoll genommen wissen.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Die sind vom Stamme „Nimm"!)

— Gut. — Also, wir brauchen das in Europa.
Und ich greife sehr nachhaltig das auf, was der Abgeordnete Baum gesagt hat. Meine Damen und Herren, wir brauchen es nicht nur in der Gemeinschaft, sondern wir brauchen es auch mit den osteuropäischen Ländern. Das, was der Gorbatschow-Besuch uns wirklich wieder einmal deutlich gemacht hat, ist, daß die Prioritätensetzung in der Umweltpolitik der Bundesrepublik Deutschland richtig ist. Wir müssen ganz sicherlich unsere Hausaufgaben hier machen. Aber diese Umweltpolitik wäre zum Scheitern verurteilt, würde sie nicht an die allererste Stelle die internationale Umweltpartnerschaft mit den Nachbarn setzen.

(Baum [FDP]: Beispiel Prag!)

Denn von dort kommen die Belastungen, die die Nordsee ungleich mehr treffen als vieles von dem, was wir bei uns machen. Diesen Hinweis, meine Damen und Herren, vermißt jemand, der diesen Antrag aufmerksam durchliest. Lassen Sie uns also die Darstellung unserer Umweltpolitik ernst nehmen. Lassen Sie uns aber vor allen Dingen darauf aufmerksam machen, daß es nicht eine Ablenkung von eigenem Handeln ist, wenn wir auch die internationale Komponente hier mit einbinden. Die Bundesregierung wird die Daten weiter absichern und weiter à jour halten, und die Bundesregierung wird dazu beitragen, daß ein breiter Überblick über die Umweltpolitik in der Bundesrepublik Deutschland allen in der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung steht.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114927100
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wernitz.

Dr. Axel Wernitz (SPD):
Rede ID: ID1114927200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, daß man ein wenig aneinander vorbeiredet. Ich darf deshalb unseren Antrag im Kerngehalt ins Gedächtnis und damit in die Debatte zurückrufen.

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Das ist nach der Rede von Lennartz auch nötig!)

Herr Töpfer, wir haben mit unserem Antrag vom 7. April dieses Jahres die Bundesregierung aufgefordert, mindestens alle zwei Jahre einen „Bericht zur Lage von Natur und Umwelt" vorzulegen, in dem die Ökologie- und Umweltsituation und die durchgeführten und geplanten Maßnahmen in Umwelt-, Naturschutz- und Reaktorsicherheit auf nationaler und internationaler Ebene dargestellt werden. — Das, was



Dr. Wernitz
Sie ausgeführt haben und was auch in anderen Beiträgen angesprochen wurde, wird durch diesen Antrag abgedeckt. Es ist völlig richtig, daß man nicht nur die Bundes-, Landes- und Kommunalebene einbinden muß, sondern auch die europäische Ebene und weit darüber hinaus. Das ist völlig klar und unstrittig. Man sollte sich in dieser Debatte deshalb viel stärker um den Kerngehalt, den Zielpunkt dieses Antrags kümmern.
Im Grunde weiß jeder, meine Damen und Herren, daß die dramatischen Entwicklungen in Natur und Umwelt dringend eine umfassende Darstellung der erkennbaren Belastungssituation im Ökologie- und Umweltbereich und ihrer weiteren Perspektiven erfordern.
Es ist schon erstaunlich: Während z. B. über die Lage der Wirtschaft, der Landwirtschaft und der Forschung zum Teil jährlich Bericht erstattet wird, fehlt eine entsprechend umfassende, systematische und fortlaufende Information über die Umweltsituation noch immer. Diese unbestreitbare und längst nicht mehr hinnehmbare Lücke soll mit Hilfe unseres Antrags auf regelmäßige Berichte zur Lage von Natur und Umwelt durch die Bundesregierung im Zweijahresturnus geschlossen werden.
Mit diesem Antrag wollen wir zum Ausdruck bringen, daß die Erhaltung von Natur und Umwelt, unserer natürlichen Lebensgrundlagen, praktisch für alle Politikbereiche eine klare und bestimmende Vorgabe sein muß. Bisher, wie gesagt, haben wir ein solches Instrument, das der großen Querschnittsaufgabe der Umweltpolitik angemessen wäre, leider nicht. Da hilft auch der Hinweis — er ist hier gekommen — auf vorhandene Daten, Berichte und Gutachten zu Umweltfragen nicht weiter. Die „Daten zur Umwelt", soeben für 1988/89 zum drittenmal im Zweijahresrhythmus vorgelegt, sind z. B. wichtige und verdienstvolle Analysedaten, aber eben noch nicht eine umfassende Dokumentation der erkennbaren Belastungssituation für den gesamten Umweltbereich einschließlich der sich daraus ergebenden Vollzugsdefizite und der weiteren erforderlichen organisatorischen und gesetzlichen Maßnahmen für eine systematische Umweltvorsorge.
Dabei bietet gerade, Herr Minister Töpfer, der neueste Band „Daten zur Umwelt" von 1988/89 in der Einleitung unter dem Motto „Anforderungen an die Umweltberichterstattung" für jeden in diesem Hause, der offen — ich unterstreiche und betone das: offen — und unvoreingenommen an das Anliegen unseres Antrags herangeht, zusätzliche konkrete und aktuelle Argumente. Es heißt dort z. B.:
Zur Unterstützung des Umweltschutzes als politischer Querschnittsaufgabe müssen Daten zur Umwelt die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Teilaufgab en des Umweltschutzes selbst aufzeigen und auch die Bezüge zwischen Umweltpolitik und korrespondierenden Politikbereichen, wie etwa der Energie-, Wirtschafts- oder Landwirtschaftspolitik, abbilden.
Weiter wird in dieser Einleitung — mit Ihrer Zustimmung, wie ich annehme, Herr Töpfer — als Ziel der
umfassend verstandenen Umweltberichterstattung
schließlich die Präsentation einer qualifizierten Informations- und Entscheidungshilfe formuliert.
Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, sollte es in der Tat möglich sein, in den anstehenden weitgefächerten Ausschußberatungen einen breiten Konsens für unseren Antrag zu finden. Wir waren und wir bleiben in dieser Frage hartnäckig und auf konsequentem Kurs. Ich darf daran erinnern, daß dieser Antrag ja nicht neu ist, sondern daß wir ihn praktisch inhaltsgleich bereits in der vorigen Legislaturperiode, 1983, präsentiert haben, auch dort ohne Erfolg; er ist abgelehnt worden. Es ist allerdings richtig: In der Tendenz sind Sie uns in der Beratung und in der Beschlußempfehlung damals des Innenausschusses als Umweltausschuß in Teilschritten entgegengekommen. Aber man sollte jetzt den notwendigen konsequenten Schritt tun. Dazu wollen wir noch einmal herzlich einladen. Wir haben sechs Jahre des Prüf ens und Vorbereitens gehabt und sollten deshalb nun wirklich Nägel mit Köpfen machen. Das ist keine Prestigefrage, das ist keine taktische Frage, sondern hier geht es um die Glaubwürdigkeit nicht zuletzt der klassischen Parteien in diesem Hause auf allen Ebenen. Diese Chance sollten auch die Bundesregierung und die Koalition ergreifen.

(Beifall bei der SPD)

Im übrigen — meine Damen und Herren, lassen Sie mich das in Richtung auf den Kollegen Baum sagen — : Ich erinnere daran, Herr Baum, daß Sie zu Beginn des Jahres 1981 als Innen- und Umweltminister der sozialliberalen Koaltion beim Programm für die Legislaturperiode formuliert haben, daß die Hinwendung der Umweltpolitik zu einer ökologischen Gesamtbetrachtung auch in den Instrumenten der Umweltpolitik ihren Ausdruck finden müsse.

(Baum [FDP]: Stimmt auch!)

Ich glaube, diese Formulierung und dieses Ziel gelten auch noch heute und werden morgen auf allen Ebenen an Bedeutung gewinnen.
Ich lade deshalb ein, in den Beratungen der Ausschüsse so zu sprechen, daß wir am Ende in einer konstruktiven Weise mit einer Beschlußempfehlung wieder ins Plenum kommen. Es geht nicht um Taktitk, es geht um Glaubwürdigkeit moderner, zukunftsorientierter Umweltpolitik. Dies muß uns alle über die Grenzen der Fraktionen verbinden.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114927300
Das Wort hat erneut Herr Dr. Knabe, sozusagen zu einem Nachschlag.

Dr. Wilhelm Knabe (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114927400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Töpfer hat umweltpolitische Ziele als gefährlich bezeichnet. Wir GRÜNEN haben umweltpolitische Ziele. Wir meinen Naturschutz auf der Fläche durch ökologischen Landbau.

(Beifall der Abg. Frau Flinner [GRÜNE])

Wir meinen Bewahrung des Artenreichtums. Wir wollen die Bewahrung der Atmosphäre durch Rückbau
der chemischen Industrie, durch maximale Energieef-



Dr. Knabe
fizienz, durch Kreislaufwirtschaft. Also, Ziele und Mittel gehören zusammen. Nur wenn man Ziele hat, kann man auch die einzelnen Schritte abwägen. Natürlich verstehe ich Ihre Skepsis. — Kollegin Vollmer ist jetzt wieder da. — Da kann man betonen, daß Herr Améry auf dem Kirchentag recht hatte: Der Katalysator holt kein CO2 heraus. Und das gute Gewissen des KatFahrers ist eben nur ein halbgutes; denn er trägt weiter zur Klimaveränderung bei.

(Baum [FDP]: Natürlich!)

Das heißt: Eine Netzkarte der Bundesbahn wäre besser —

(Beifall bei den GRÜNEN)

oder Verzicht auf das Auto und den Weg etwas kürzer wählen. Ich weiß, wir sündigen alle auf diesem Gebiet, der eine mehr, der andere weniger. Aber Ziele brauchen wir. Ich glaube, das sollten Sie nicht in Frage stellen.

(Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Göhner [CDU/CSU]: Ich nehme Sie nicht in meinem Auto mit!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114927500
Nun hat noch Herr Dr. Lippold das Wort.

Dr. Klaus W. Lippold (CDU):
Rede ID: ID1114927600
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist so, daß wir feststellen müssen, daß der Abgeordnete Lennartz heute hier eigentlich eine Sekundärdiskussion geführt hat.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Werden Sie mal nicht so akademisch!)

Herr Lennartz, primär ist nicht, daß wir zu vielem Papier noch neues Papier hinzufügen, sondern primär ist, daß wir entscheidende Maßnahmen im Kampf gegen die Belastung treffen, die aus verschiedensten Bereichen auf die Umwelt zukommt. Auf diesem Gebiet hat die Bundesregierung Hervorragendes geleistet. Ich will Ihnen die Aufzählung ersparen und nur noch einmal darauf verweisen, daß die Umweltminister der SPD-regierten Länder mit diesen Erfolgen draußen hausieren gehen und darstellen, wieviel besser es in der Zwischenzeit geworden ist.
Wenn Sie, Herr Lennartz, wenigstens die vorhandenen Daten zur Kenntnis nähmen, wie sie jetzt z. B. in den „Daten zur Umwelt" vorgelegt worden sind, würden Sie wissen, daß zu einer Katastrophenstimmung, wie Sie sie hier gerade anzuheizen versucht haben, überhaupt kein Anlaß besteht, weil die Fakten eben erwiesen haben, daß die Gewässerbelastung zurückgegangen ist, daß die Grundwasserbelastung zurückgegangen ist, daß die Luftverschmutzung zurückgegangen ist. Das läßt sich doch objektiv an Hand der vorhandenen Daten nachweisen.
Das Gute ist doch — Herr Lennartz, auch das können Sie wissen, wenn Sie sich einmal die vorhandenen Daten anschauen, bevor Sie weitere fordern —, daß sich das im Bewußtsein der Bevölkerung niederschlägt. Nehmen Sie z. B. die subjektive Einschätzung der Umweltbelastung — hier durch Luftverschmutzung — im Wohngebiet. 1950 haben 50 % der bundesdeutschen Bevölkerung gesagt: keine Belastung. 1986 haben 64 % gesagt: keine Belastung im Wohnbereich. Das ist eine ganz eklatante Steigerung.
Früher haben 31 % von einer erheblichen Belastung durch Luftverschmutzung gesprochen. Heute sind es noch 19 %. Selbst hinsichtlich des viel zitierten Straßenlärms — wenn sie doch endlich einmal die Fakten zur Kenntnis nähmen — sagen 41 % : keine Belastung, während das 1978 nur 27 % gesagt haben. Von einer erheblichen Belastung sprachen 1978 noch 49 %, während es heute 36 % sind.

(Bindig [SPD]: Die sind schon taub, die hören nichts mehr!)

Herr Lennartz, es geht Ihnen also gar nicht um die Fakten — die haben Sie bereits — , sondern Sie weichen, weil Sie diese Bundesregierung in der Sache nicht kritisieren können, auf Sekundärkriegsschauplätze aus.
Zur Katastrophenstimmung, die Sie gerade zu verbreiten versucht haben: In der letzten Diskussion, die wir hier geführt haben, kritisierte Ihr Kollege Stahl — staatsmännisch — DIE GRÜNEN, man solle doch nicht mit diesen Katastrophenmeldungen hausieren gehen. Ich habe ihm damals schon gesagt, er hat nicht nur DIE GRÜNEN gemeint, sondern auch die Kollegen der eigenen SPD-Fraktion, die das auch immer wieder tun. Bei Ihnen trifft das heute genau wieder zu. In der nächsten Diskussion wird Herr Stahl erneut sagen, es sollten keine Katastrophenmeldungen verbreitet werden, und Sie werden es hinterher doch wieder versuchen.
Im übrigen, Herr Lennartz, habe ich schon einmal gesagt: Ihre Reden sind immer die gleichen, Sie tauschen nur die Überschriften aus. Deshalb haben Sie heute zum Antrag der SPD auch überhaupt nichts gesagt.

(Dr. Wernitz [SPD]: Sie haben aber auch nichts zu dem Antrag gesagt!)

Ich sage Ihnen noch einmal ganz klar zur Konzeption der Bundesregierung: Wir haben die Leitlinien Umweltvorsorge. Wir machen integrierten Umweltschutz. Wir entwickeln Vermeidungsstrategien. Das sind in sich geschlossene Konzepte, um allen Belangen der Umwelt gerecht zu werden. Früher haben Sie vom integrierten Umweltschutz ja nichts gehalten. Nur, Herr Lennartz, man braucht dazu natürlich auch Geld. Sie sind doch gegen eine Strategie, die es uns ermöglicht, in noch größerem Umfang als bislang die Produktionsverhältnisse so zu ändern, daß wir integrierten Umweltschutz auch realisieren können.
In dem Zusammenhang ein Wort an DIE GRÜNEN. Abfallvermeidung: Wir haben doch die Instrumente in den Gesetzen geschaffen, im Bundes-Immissionsschutzgesetz, im Abfallbeseitigungsgesetz durch die Novelle. Nur, wissen Sie, als Ihr Minister Fischer in Hessen die Gelegenheit gehabt hatte, hier etwas zur Abfallvermeidung zu tun, die Verwaltung anzuweisen, Konzepte zu schaffen, Betriebe zu überwachen, zu kontrollieren, nachträglich Anordnungen zu erlassen, ist nichts passiert.

(Dr. Knabe [GRÜNE]: Ein Hesse müßte das besser wissen!)




Dr. Lippold (Offenbach)

Im Sinne von Herrn Lennartz ist immer wieder neues Faktenmaterial erarbeitet worden, Prüfungsberichte wurden noch einmal geprüft, und dann wurde ein Obergutachter herangezogen. Während Ihrer gesamten Regierungstätigkeit in Hessen haben Sie keine entscheidende Umweltschutzmaßnahme verabschiedet.
Der jetzige hessische Umweltminister Weimar hat bei der Abfallvermeidung angesetzt, hat die Möglichkeiten genutzt, die das Abfallbeseitigungsgesetz bietet, hat die Verwaltung angewiesen, die Unternehmen zu prüfen, ob Strategien zur Abfallvermeidung realisiert werden. Wenn die Unternehmen das nicht tun, werden nachträglich entsprechende Auflagen gemacht werden. Das ist praktizierte Umweltpolitik, aber nicht die Schaffung von immer wieder neuem Papier, an dem Sie hinterher noch monieren, daß es kein reines Umweltschutzpapier sei, wenn der Einband einmal anders ist.
Machen wir uns nichts vor: Diese Sekundärdebatte können wir abschließen. Wir vergeben uns nicht viel, wenn wir sagen: Wir werden auf dem Weg fortschreiten, im Rahmen der Novellierung wichtiger Gesetze die Voraussetzungen für die Bevölkerung unseres Landes zu schaffen, damit Umweltschutz weiter als Gesundheitsschutz praktiziert wird und wir den ökologischen Generationenvertrag, den wir der Jugend anbieten, auch einhalten können.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114927700
Wir sind am Ende der Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4317 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Widerspruch erhebt sich nicht. — Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 21 der Tagesordnung auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Frau Teubner, Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Raumplanungsgesetzes (RPG)

— Drucksache 11/2666 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (16. Ausschuß)

— Drucksache 11/4678 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Großmann Magin
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/4679 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Schroeder (Freiburg) Nehm
Frau Rust

(Erste Beratung 128. Sitzung)

b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Raumordnungsgesetzes
— Drucksache 11/3916 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (16. Ausschuß)

— Drucksache 11/4678 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Großmann Magin

(Erste Beratung 128. Sitzung)

Der Ältestenrat schägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist dies so beschlossen.
Die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau hat um das Wort gebeten. Frau Ministerin, Sie haben das Wort.

Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1114927800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir entscheiden heute über die erste umfassende Novellierung des seit seinem Erlaß im Jahre 1965 im wesentlichen unverändert gebliebenen Raumordnungsgesetzes. Dieses Gesetz hat sich im Grundsatz bewährt. Trotzdem ist diese Novelle notwendig, weil sich im vergangenen Vierteljahrhundert die politischen und die gesellschaftlichen Grunddaten für die Raumordnung wesentlich verändert haben. Ich nenne nur drei Beispiele.
Erstens. Unsere Bürger verlangen heute zu Recht nicht nur wirtschaftliche Sicherheit, sondern auch einen wirksamen Umweltschutz.
Zweitens. Die Landwirtschaft ist allein nicht mehr in der Lage, dem ländlichen Raum eine tragfähige wirtschaftliche Grundlage zu geben. Deshalb braucht der ländliche Raum eine neue Orientierung.
Drittens. Unsere Verdichtungsräume haben sich zunehmend auseinanderentwickelt. Die Gleichung Verdichtungsraum gleich Wohlstandsraum stimmt heute nicht mehr.
Um diesen Entwicklungen und veränderten Bedingungen Rechnung zu tragen, liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Novelle in der Aktualisierung der gesetzlichen Leitaussagen und Grundsätze der Raumordnung.
Auch das neue Gesetz, meine Damen und Herren, richtet sich nicht nur an die mit der Raumordnung und Landesplanung unmittelbar befaßten Stellen. Es richtet sich an alle, die mit ihren Entscheidungen auf die räumliche Struktur unseres Landes Einfluß nehmen und die — auch dies soll einmal gesagt werden — dafür Verantwortung tragen, beispielsweise auch an alle Ressorts auf Bundes- und Landesebene.



Bundesminister Frau Hasselfeldt
Das Gesetz nannte bisher schon als zentralen Leitgedanken die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Dies bleibt auch unverändert wichtig. Dazu treten aber drei weitere Leitvorstellungen, die gleichzeitig konkretisiert werden: erstens der Schutz, die Pflege und die Entwicklung der natürlichen Lebensgrundlagen. Dieses Gebot als d i e umweltrelevante Leitvorstellung des Raumordnungsgesetzes macht klar, daß der Schutz des Lebens und seiner natürlichen Grundlagen ein Grundwert für alle politischen Entscheidungen ist und daß sich jede konkrete Nutzungsentscheidung an dieser Verantwortung messen lassen muß.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Die zweite Leitvorstellung ist die langfristige Offenhaltung der Raumnutzung. Diese Forderung entspricht dem Gedanken der zukunftsorientierten Vorsorge. Räumliche Vorsorge verpflichtet den Planer, bei allen Entscheidungen auch die Lebensverhältnisse nicht nur der heutigen Generation, sondern auch der künftigen Generationen im Auge zu behalten.
Die dritte Leitvorstellung zielt auf gleichwertige Lebensbedingungen der Menschen in allen Teilräumen des Bundesgebietes ab. Diese Leitvorstellung spiegelt das Grundanliegen der Raumordnungspolitik wider, nämlich bei aller — selbstverständlich gewollten — Vielfalt in unserem Land sicherzustellen, daß alle Bürger gleichwertige — nicht gleichartige — Lebensbedingungen vorfinden.
Dieses Leitziel gleichwertiger Lebensbedingungen bestimmt unser Engagement sowohl für die Verdichtungsräume als auch für den ländlichen Raum. Es bestimmt damit auch das Verhältnis von Stadt und Land.
Wir müssen gerade in Anbetracht des Strukturwandels in der Landwirtschaft darauf achten, daß der ländliche Raum sowohl seine natürlichen Lebensgrundlagen erhält als auch an der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung teilhat.
Die Neufassung des Gesetzes trägt dem Rechnung. Sie öffnet die räumliche Planung für eine nicht mehr an der reinen Mengenproduktion orientierte Landbewirtschaftung und für die ökologisch verträgliche Umnutzung bisheriger Anbauflächen. Sie zieht die Konsequenz aus der Tatsache, daß der ländliche Raum heute vielfältige Aufgaben hat. Er ist Standort für gewerbliche Unternehmen bis hin zu modernsten Dienstleistungsunternehmen; er ist Raum für Erholung und Freizeit; er ist der Raum, in dem sich unsere gefährdeten natürlichen Ressourcen regenerieren.
Diesen geänderten Verhältnissen und den damit verbundenen Herausforderungen für uns alle trägt der vorliegende Gesetzentwurf Rechnung.
Anspruch auf gleichwertige Lebensbedingungen haben auch die Bewohner im Zonenrandgebiet.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auf Grund der durch die Teilung Deutschlands entstandenen Lage sind hier strukturelle Nachteile entstanden, die durch gezielte Förderung auszugleichen sind. Ich finde es bedauerlich, ja fast erschreckend, daß der Entwurf der Grünen diesen über Jahrzehnte gültigen Konsens in Frage stellt, indem er auf einen
entsprechenden raumordnerischen Grundsatz verzichtet.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Der zweite Schwerpunkt der Novellierung ist die Regelung des Raumordnungsverfahrens im Rahmenrecht des Bundes. Dieses in vielen Ländern seit langem bewährte Instrument der raumordnerischen Abstimmung wird in Zukunft die von der EG-Richtlinie aus dem Jahre 1985 geforderte Umweltverträglichkeitsprüfung mit einschließen. Das Raumordnungsverfahren wird so zu einem Instrument, mit dem bei der Standortbewertung größerer Vorhaben mögliche Auswirkungen auf die Umwelt wie auch auf alle anderen wichtigen Bereiche systematisch untersucht werden können.
Die Bundesregierung war immer dafür, bei der Einführung der Umweltverträglichkeitsprüfung soweit wie möglich bewährte Verfahren zu nutzen, anstatt mit bürokratischem Aufwand zusätzliche Verfahren mit einzuführen, und auch diesem trägt dieser Gesetzentwurf mit Rechnung; der Gesetzentwurf verwirklicht diese Absicht.
Er wird im übrigen auch dazu beitragen, daß die Raumordnung auch in Zukunft ihre unverzichtbare Aufgabe erfüllen kann. Es liegt in der Natur eines Rahmengesetzes, daß es nun der Umsetzung und Ausfüllung durch die Landesgesetzgeber bedarf, damit die mit der Novellierung gewünschten Verbesserungen möglichst bald auch wirksam werden können.
Für die von den Ländern gewährte Unterstützung bei der Gesetzesvorbereitung möchte ich mich deshalb ganz herzlich bedanken. Der Bundesregierung war es wichtig, von Beginn der Gesetzgebungsarbeiten an mit allen Bundesländern eng zusammenzuarbeiten. Mein Dank gilt darüber hinaus aber auch den kommunalen Spitzenverbänden und der Akademie für Raumforschung und Landesplanung.
Überhaupt hat es bei der Beratung dieses Gesetzes im Gegensatz zu vielem anderen, was in diesem Hause beraten und beschlossen wird, bemerkenswert viel Übereinstimmung gegeben.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Ganz zum Schluß wurde es etwas schlechter!)

— Ganz zum Schluß wurde es etwas schwieriger, aber nach den Erfahrungen der gesamten Ausschußberatungen stimmen Sie sicherlich mit mir darin überein, daß man sagen kann, daß diese Novellierung über die Parteigrenzen hinweg im wesentlichen für richtig und für notwendig angesehen wird. Das ist ein Beitrag zur politsichen Kultur, der uns sicherlich allen ganz guttut.
Meine Damen und Herren, nach dem Baugesetzbuch wird mit dem jetzt aktualisierten Raumordnungsgesetz ein weiterer Baustein für ein modernes Planungsrecht geschaffen. Es erlaubt unseren Regionen und Gemeinden, ihre Attraktivität auch im Hinblick auf die Anforderungen des europäischen Binnenmarktes auszubauen und dabei ökonomische und ökologische Belange zu einem sachgerechten Ausgleich zu bringen. Diesen hohen Zielen, denen wir alle verpflichtet sind, sollte sich niemand in diesem Hause verweigern.



Bundesminister Frau Hasselfeldt
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Hauchler [SPD])


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114927900
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Teubner.

Maria Luise Teubner (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114928000
Herr Präsident! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Noch nie war Alltagspolitik im Bundestag so langweilig wie heute. Auch nachdem die GRÜNEN seit sechs Jahren im Bundestag sind, hält die Regierungskoalition am alten Ritual fest, jede, aber auch jede parlamentarische Initiative der GRÜNEN abzulehnen, sogar dann, wie im vorliegenden Fall, wenn Gesetzentwürfe auf den wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnissen von Instituten aufbauen — die Frau Ministerin hat sie auch genannt —, die z. B. über den Haushaltsplan 25 die Unterstützung dieser Regierung genießen. Ein exemplarisches Trauerspiel!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sozusagen als dritte Berichterstatterin will ich die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Gesetzentwurfs der GRÜNEN hier noch einmal kurz zusammenfassen. Die Geschichte ist für viele in diesem Hause eingebrachte vernünftige Initiativen symptomatisch. Der erste Akt spielt im Frühjahr 1987: Der Auftritt von Wissenschaft und Praxis. Anläßlich der von der Regierung angekündigten Novellierung des Raumplanungsgesetzes gründet die Akademie für Raumforschung und Landesplanung Hannover einen Ad-hocArbeitskreis, um — Zitat — „ihre Erkenntnisse und Vorschläge frühzeitig in den politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozeß einzubringen". Unter dem Vorsitz des damaligen Akademieleiters, Professor Kistenmacher, legen Expertinnen der kommunalen Spitzenverbände, der Planungs- und Rechtswissenschaften sowie der planenden Verwaltung im Dezember 1987 Novellierungsvorschläge vor allem für die zentralen §§ 1, 2 und 6 vor.
Zweiter Akt, ein Jahr später: Die Fraktion DIE GRÜNEN erntet, was sie nicht gesät hat.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Wie immer!)

Auf der Grundlage und teilweise in engster Anlehnung an die Ergebnisse dieses Arbeitskreises der Akademie formuliert die Fraktion DIE GRÜNEN ihren Entwurf eines Raumplanungsgesetzes. Dabei übernimmt sie zusätzlich die Vorschläge der Umweltschutzverbände hinsichtlich der Umweltverträglichkeitsprüfung sowie die positiven Rechtsinstrumente der niederländischen Raumordnungsgesetzgebung. Dieser Gesetzentwurf wurde am 14. Juli 1988 in den Bundestag eingebracht.
Dritter Akt, Juli 1988: Die Bundesregierung übt sich in politischer und geistiger Bescheidenheit.

(Beifall der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE])

Ein Minister, der allen politischen Erfahrungen der letzten Jahre zum Trotz von sich immer noch behauptete, auch in Fragen der Raumordnung kompetent zu sein, stellte im Juli 1988 kopfschüttelnden Pressevertretern einen Referentenentwurf zur Novellierung des
Raumordnungsgesetzes vor, in dem der völlig untaugliche Versuch unternommen wird, die Anforderungen der EG-Richtlinie zur Umweltverträglichkeit in das Raumordnungsverfahren zu integrieren. Die Vorschläge der Akademie finden keine Beachtung.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)

Vierter Akt, Frühjahr 1989: Wessen Brot ich eß', dessen Lied ich sing' — die Sachverständigen. Der Raumordnungsausschuß lädt zu einer nichtöffentlichen Anhörung zu den beiden Gesetzesinitiativen ein. Im Vorfeld und am Rande dieses Hearings loben Experten auch aus der Akademie für Raumordnung und Landesplanung sowie anderer wissenschaftlicher Institutionen den Gesetzentwurf der GRÜNEN. Doch bei der Anhörung selbst sind sich alle einig, auch der seinerzeitige Leiter der Hannoveraner Akademie, eben jener schon im ersten Akt aufgetretene Professor Kistenmacher, daß der Regierungsentwurf sehr gelungen sei, die dort vorgesehenen Regelungen korrekt seien und der Entwurf der GRÜNEN keine Alternative sei.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Merkwürdige Wandlungen!)

Der Professor erntet für diese sehr wohlwollende Bewertung des Regierungsentwurfs das fast erleichterte Lob des Ausschußvorsitzenden, der womöglich gefürchtet hatte, der Professor könnte möglicherweise den Entwurf der GRÜNEN zu sehr favorisieren. Die SPD schweigt. Übrigens war Herr Kistenmacher erst auf Betreiben der GRÜNEN zu dieser Anhörung geladen worden.
Fünfter Akt, Mai 1989: Die Mehrheit entscheidet, die Ernte verdirbt. Am 30. Mai 1989 wird mit geringfügigen Änderungen der Gesetzentwurf der Bundesregierung im Ausschuß verabschiedet. Der Entwurf der GRÜNEN wird mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Trauerspiel!)

Um das auch vor der Öffentlichkeit noch irgendwie begründen zu können, wird in der Beschlußempfehlung für das Plenum einiges zusammenphantasiert. Obwohl im Ausschuß weder über den Themenkomplex Verteidigung noch über den der Zonenrandförderung beraten wurde, steht in der Beschlußempfehlung:
Die Ausschußmehrheit hat sich dabei
— also bei der Ablehnung unseres Entwurfs —
insbesondere von dem Umstand leiten lassen, daß wichtige Belange der Raumordnung in diesem Gesetz fehlen. Dies gilt insbesondere für die Belange der Verteidigung und für das Zonenrandgebiet.
Nur zu gern hätten wir z. B. über die sogenannten Belange der sogenannten Verteidigung auch im Zusammenhang dieses Raumordnungsgesetzes diskutiert. Da gäbe es nämlich endlich einmal einige Tabus zu knacken. Es wäre gut, z. B. endlich einmal darüber zu reden, welch hemmungsloser Krieg gegen die Natur in diesem Land im Namen sogenannter Verteidigungsbelange alltäglich auf der Grundlage eines Pa-



Frau Teubner
ragraphen, der in keinem der einschlägigen Gesetze fehlt, geführt wird. Er lautet: „Dieses Gesetz gilt nicht für Vorhaben, die der Landesverteidigung dienen." Dieser Paragraph müßte im Raumordnungsgesetz, im Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz, im Naturschutzgesetz und in anderen Gesetzen gestrichen werden. Solche Privilegien für das Militär sind weder raumverträglich noch umweltverträglich noch menschenverträglich. Sie müssen abgeschafft werden, wenn die Mehrheit in diesem Hause schon nicht bereit ist, das Militär selbst abzuschaffen.
Die Beratungen im Ausschuß machten andererseits deutlich, daß den Koalitionsfraktionen nicht an einer einschneidenden Trendwende beim Flächenverbrauch gelegen ist, trotz aller anderslautenden Lippenbekenntnisse, z. B. wenn es um den Bodenschutz geht.
Dazu die Ausschußmehrheit in der Beschlußvorlage:
Andererseits sind bestimmte Leitvorstellungen in diesem Gesetzentwurf
— in dem Gesetzentwurf der GRÜNEN —
so formuliert, daß eine vernünftige Entwicklung und eine Abwägung aller Belange fraglich erscheint. Dies gilt z. B. für die Formulierung zur Begrenzung des Flächenverbrauchs im Außenbereich .. .
Doch genau das sind heute die politischen Notwendigkeiten.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Jawohl! — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Aber 100 Millionen für den Wohnungsbau fordern!)

Epilog, Abgesang: Nahezu alle Probleme, die heute krisenhaften Charakter angenommen haben, sei es in der Technikentwicklung, sei es im Umweltbereich oder aber in der Regionalentwicklung, bestätigen die These bzw. die politische Erfahrung in diesem Hause, daß das Prinzip der Mehrheitsentscheidung verhindert, daß der Sachverstand von Minderheiten politisch wirksam wird. Eine wichtige Annahme der demokratischen Idee, die sich in der Regel ja bewährt hat, wird fragwürdig: Die Mehrheit habe immer recht. Das im Zusammenhang mit dem Raumordnungsgesetz aufgeführte Politstück ist dafür wieder ein gutes, wenn auch alltägliches und insofern unspektakuläres Beispiel.

(Beifall bei den GRÜNEN — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Das war wirklich eine schöne Rede!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114928100
Das Wort hat der Abgeordnete Magin.

Theo Magin (CDU):
Rede ID: ID1114928200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Teubner, Sie haben soeben die Geschichte der Gesetzentwürfe dargestellt. Aber zu den vielfältigen Problemen der Raumordnung haben Sie kaum etwas gesagt.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Das habe ich bei der ersten Lesung, bei der Einbringung gesagt! Das heute war die zweite Debatte! — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Sie war wenigstens jemand, der eine interessante Rede halt!)

Wir sollten erkennen — das gilt für uns alle — , daß von der Vorlage eines Regierungsentwurfs bis zur Verabschiedung eines Gesetzentwurfs ein Prozeß abläuft und daß wir viele dazu anhören müssen, auch die Akademie für Raumordnung und Landesplanung. Sie hat uns in der Diskussion auf sehr vieles gebracht. Aber man darf doch nicht in einer Art Rechthaberei — so möchte ich beinahe sagen — oder mit einem elitären Anspruch sagen: Mein Gesetz muß durch; ich bin gar nicht erst zu einer Diskussion bereit.
Dieser Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, ist das Ergebnis einer sehr fruchtbaren Diskussion. Es gab nur wenige Unterschiede. Was die Unterschiede betrifft, die Sie deutlich gemacht haben, vor allem bezüglich der Landesverteidigung, so hätte außer der Fraktion DIE GRÜNEN wohl niemand zustimmen können.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Das ist leider so!)

Das ist eine absolute Außenseiterrolle, die sich in diesem Parlament nur wenige zu eigen machen.

(Frau Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Lassen Sie mich einige grundsätzliche Anmerkungen zur Bedeutung der Raumordnungspolitik machen.
Die Leitvorstellung, gleichwertige Lebensbedingungen für die Menschen in allen Teilräumen zu gewährleisten, die künftig ausdrücklich in diesem Gesetz genannt sein wird, kennzeichnet, wir wir meinen, eine der zentralen politischen Aufgaben, um unser ganzes Land lebenswert zu erhalten und um sozialen Frieden und Fortschritt zu vereinen.
Wir haben Probleme. Das wissen wir sehr wohl. Wer wollte das leugnen? Aber wir dürfen auch feststellen, daß bei aller Unterschiedlichkeit unsere räumliche Ordnung dieser Leitvorstellung weitgehend entspricht und daß gerade der internationale Vergleich zeigt, daß es in unserem Land eine sehr ausgeglichene Siedlungsstruktur ohne schroffe Gegensätze zwischen einzelnen Regionen, zwischen Stadt und Land, mit einer flächendeckenden ausgezeichneten Infrastruktur, mit einer Vielzahl wirtschaftsstarker Zentren gibt. Manche unserer Nachbarstaaten mit wenigen großen Ballungszentren haben viel größere Probleme des Ausgleichs zwischen den Regionen.
Ich sage nur einiges zu den immer wieder vorgetragenen Kritikpunkten der Opposition. Raumordnung ist eine Aufgabe von Bund und Ländern gleichermaßen. Die Länder haben dabei sogar eine dominante Stellung. Wenn immer wieder Kritik an der Raumordnungspolitik des Bundes aufkommt, müssen sich doch gerade die von der SPD geführten Landesregierungen fragen lassen, ob sie, bedingt durch ideologische Vorstellungen, überhaupt in der Lage waren, realistisch und rasch auf neue Anforderungen zu reagieren.

(Müntefering [SPD]: Was ist denn das für ein Krampf?)




Magin
Das haben doch Sie, Herr Großmann, bei Ihrer Einbringungsrede so dargestellt. Deswegen bin ich heute darauf eingegangen.
Wir meinen, es ist einfach ungerecht und sachlich nicht gerechtfertigt, der Bundesregierung immer wieder vorzuhalten, daß sie beispielsweise in ihren Raumordnungsberichten offen und deutlich jede Gefährdung der räumlichen Ordnung darstellt. Eine klare, realistische und rechtzeitige Diagnose ist eine entscheidende Voraussetzung für eine zukunftsweisende Orientierung.

(Müntefering [SPD]: Was prognostizieren Sie für Sonntag?)

— Lieber Herr Müntefering, wir haben nichts verunklart, wie es manche unserer Vorgänger getan haben, sondern wirklich die Probleme auf den Tisch gelegt und haben sie sauber analysiert. Deswegen waren wir überhaupt erst in der Lage, zu handeln. Die Ergebnisse dieses Handelns sind eindeutig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Natürlich gibt es immer wieder regionale Ungleichgewichte. Denen muß sich ja die Raumordnungspolitik stellen. Sie ergeben sich schon durch unterschiedliche Dynamik. Wir wissen auch, daß diese unterschiedliche Dynamik in allen Räumen, gerade unter den Bundesländern, auch eine politische Motivation hat. Dadurch kommen das oft durchaus fruchtbare Spannungsverhältnis zwischen Stadt und Land und der ebenfalls gewollte Wettbewerb zwischen den Bundesländern zustande.
Wichtig ist — das ist Aufgabe der Raumordnungspolitik — , daß die Politik diesen Wettbewerb einerseits zuläßt, um Entwicklungsimpulse auszulösen, andererseits aber da eingreift, wo sich Verschiebungen zeigen, welche die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen der Bürger in Frage stellen oder in Frage stellen können.
Da hat diese Bundesregierung immer wieder gehandelt. Wir werden auch darauf hinwirken, daß dies immer wieder geschieht. Ich meine, das Strukturhilfegesetz ist eines dieser deutlichen Zeichen, die hierzu gesetzt wurden.

(Müntefering [SPD]: Das ist aber eine magere Sache!)

Sosehr sich die Raumordnungspolitik der letzten Jahrzehnte durchaus bewährt hat, so gewiß müssen wir heute neue Entwicklungen beachten, auf welche die Raumordnung eine Antwort geben muß, wenn wir unsere ausgeglichene räumliche Ordnung und mit ihr eine wesentliche Grundlage für eine insgesamt harmonische Entwicklung und Bewältigung der großen Zukunftsaufgaben bewahren wollen. Ich nenne als Beispiele die immer dringlichere Harmonisierung von Wirtschaftsentwicklung und Umweltschutz sowie die neuen Herausforderungen, welche sich durch den wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Strukturwandel für ganze Regionen stellen, oder solche, die sich aus der Nutzung neuer Technologien, nicht zuletzt aus der Nutzung neuer Kommunikationstechnologien ergeben.
Es war deshalb richtig und notwendig — so haben es auch die Wissenschaft und die Bundesländer gesehen —, dieses Raumordnungsgesetz jetzt zu aktualisieren, um es an diese neuen Anforderungen anzupassen. Der große Konsens bei den Beratungen mit der Wissenschaft und mit den Bundesländern sowie mit den kommunalen Spitzenverbänden und auch innerhalb der Ausschüsse des Bundestages zeigt, daß wir auf dem richtigen Weg sind, wenn es darum geht, Bewährtes zu bewahren und die notwendige Aktualisierung vorzunehmen.
Ich möchte mich, was den weiteren Inhalt der Novellierung angeht, nur auf drei Bereiche beschränken, die bei den Beratungen für uns alle besonders wichtig waren.
Es ist von allergrößter Bedeutung, so meinen wir, daß die Leitvorstellung, gleichwertige Lebensbedingungen in allen Teilräumen der Bundesrepublik zu schaffen, nun ausdrücklich in diesem Gesetz verankert wird. Gerade auch im Hinblick auf den gemeinsamen Binnenmarkt und die fortschreitende europäische Integration ist es wichtig, daß die nationale Raumordnungspolitik die sich ergebenden Entwicklungsimpulse so steuert, daß keine neuen Disparitäten zwischen den Teilräumen unseres Landes entstehen.
Es geht also nicht darum, wie die Opposition meinte, die Auswirkungen des Binnenmarktes auf die Regionen zu beachten — das halten wir für selbstverständlich —, sondern es geht darum, diese Auswirkungen im Sinne unserer Leitvorstellungen national zu steuern.
Herausragende Bedeutung hat die durchgehende Verdeutlichung der Belange des Umweltschutzes und der Pflege unserer natürlichen Lebensgrundlagen als eigene Leitvorstellungen in den Grundsätzen und durch die Verbindung des Raumordnungsverfahrens mit einer dieser Planungsstufe entsprechenden sowohl frühzeitigen als auch umfassenden Umweltverträglichkeitsprüfung. Wir meinen, daß dadurch die Raumordnungspolitik eine notwendige und noch stärkere Ausrichtung auf einen wirksamen und vorsorgenden Schutz der Umwelt erhält.
Bei der Nutzung des Raumes, also von Grund und Boden, ist unbedingt darauf zu achten, daß sich keine schädigenden Auswirkungen auf den gesamten Raum ergeben, aber auch darauf, daß die Gestaltungsmöglichkeiten auch für künftige Generationen erhalten bleiben. Dieses qualitative und quantitative Kriterium der Raumordnungspolitik halten wir im Abwägungsprozeß für sehr wichtig.
Für falsch halten wir es — wie von der Opposition im Ausschuß beantragt — , für den Umweltschutz einen Abwägungsvorrang gesetzlich festzuschreib en. Dies würde nach unserer Auffassung einen wirklichen Abwägungsprozeß erst gar nicht mehr zulassen. Das Raumordnungsverfahren insgesamt muß das Instrument bleiben, das alle Belange unvoreingenommen abwägt und zu einem Ausgleich bringt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir meinen, daß gerade darin die Aufgabe und auch die Stärke dieses Verfahrens liegt.
Diese Abwägung kann, nachdem dieses Gesetz verabschiedet ist, künftig in allen Bundesländern auf ver-



Magin
gleichbarer Rechtsgrundlage erfolgen. Dadurch wird es möglich, daß die Raumordnung und Landesplanung nicht nur abstrakte Entwicklungsziele vorgibt, sondern alle raumbedeutsamen Vorhaben, öffentliche und private, unter Abwägung aller in den Leitvorstellungen und Grundsätzen dargestellten Belange an den Erfordernissen der Raumordnung und Landesplanung mißt und beurteilt.
Das Raumordnungsverfahren, das nach dem vorliegenden Entwurf eine Umweltverträglichkeitsprüfung integriert, kann künftig maßgeblich dazu beitragen, die räumliche Entwicklung noch besser mit den Zielen in Einklang zu bringen, die wir alle unterstützen, nämlich gleichwertige Lebensbedingungen in allen Teilräumen bei einem harmonischen Ausgleich der wirtschaftlichen Entwicklung und bei Schutz der Umwelt zu schaffen.
Wir haben die Gesetzesnovelle im Ausschuß sehr sorgfältig beraten. Deshalb geht, so meinen wir, der Vorwurf der GRÜNEN, hier werde etwas durchgepeitscht, ins Leere. Wir sind auch davon überzeugt, daß diese Novelle die Zustimmung der Bundesländer finden wird, nachdem eine Vielzahl der Anregungen von Bundesratsseite bei der Beratung im Ausschuß zustimmende Würdigung gefunden hat. Wir stimmen diesem Gesetz zu.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1114928300
Das Wort hat der Abgeordnete Großmann.

Achim Großmann (SPD):
Rede ID: ID1114928400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man bedenkt, daß das Raumordnungsgesetz aus dem Jahre 1965 in größerem Umfange erst jetzt, also nach 25 Jahren, geändert wird, weiß man schon, daß ein derartiger Vorgang in einem Abgeordnetenleben nicht allzu häufig vorkommt. Um so größer sollte die Anstrengung sein, diese Chance kreativ zu nutzen, also ein Raumordnungsgesetz zu schaffen, das nicht nur kosmetisch behandelt wird, sondern den Problemen und den neuen Fragestellungen unserer Zeit entspricht.
Der vorliegende Gesetzentwurf verdient weder das Prädikat „problemorientiert", noch ist er zukunftsweisend. Auch wenn an einigen Stellen durchaus begrüßenswerte Fortschritte erzielt worden sind, fehlt doch der entscheidende große Wurf.
Der Ausgangspunkt war an und für sich klar: Veränderte Rahmenbedingungen machen eine Fortschreibung nötig. Die Beeinträchtigungen unserer Umwelt sind besorgniserregend. Die wirtschaftliche Entwicklung z. B. der altindustriellen Regionen und die Veränderungen des Altersaufbaus unserer Bevölkerung hat so vor 25 Jahren niemand vorausgesehen. Die strukturellen Veränderungen in der Landwirtschaft und die damit zusammenhängenden Probleme des ländlichen Raumes sind weitere Gründe dafür, das alte Gesetz fortzuschreiben. Die völlig neuen Dimensionen europäischer Politik, von denen man in den 60er Jahren in Sonntagsreden allenfalls träumte, müssen in einem solchen Gesetz auf jeden Fall berücksichtigt werden.
Schließlich gibt es zwei weitere Gründe, über die heute schon gesprochen worden ist. Zum einen vereinbarte die Ministerkonferenz für Raumordnung 1985, ein Raumordnungsverfahren in das Gesetz hineinzuschreiben, und andererseits veranlaßt uns die EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung, diese in das neue Raumordnungsgesetz einzuarbeiten.
In einigen Teilbereichen sind wir — das hat auch Herr Magin angesprochen — durchaus zu einem Konsens gekommen. So ist unbestritten, daß die Leitvorstellungen des § 1 umfassender festgelegt werden müssen. Die Bevölkerungsentwicklung und die Entwicklung der Infrastruktur sind ebenso aufgenommen worden wie die stärkere Betonung von Umweltbelangen unter Berücksichtigung der Begrenztheit der Ressourcen. Wichtig ist auch die Festschreibung der gleichwertigen Lebensbedingungen für alle Menschen in allen Regionen unserer Republik.
Die Grundsätze des § 2 wurden präziser gefaßt und den neuen Leitvorstellungen angepaßt. Die zunehmenden Belastungen der Umwelt finden ihren Ausdruck beispielsweise in der Formulierung — ich zitiere jetzt einen Passus, um das einmal ein bißchen klarer zu machen — :
Soweit in Verdichtungsräumen durch Luftverunreinigungen, Lärmbelästigungen, Überlastungen der Verkehrsnetze und andere nachteilige Auswirkungen der Verdichtung ungesunde Lebensbedingungen oder unausgewogene Wirtschafts- und Sozialstrukturen bestehen oder deren Entstehen zu befürchten ist, sollen Maßnahmen zur Strukturverbesserung ergriffen werden.
In diesem Sinne geht es dann noch über zwei, drei Sätze weiter. Ich will damit nur sagen: Früher gab es in diesem Bereich nur einen oder zwei lapidare Sätze. Man ging davon aus, daß es auch in den Verdichtungsräumen gesunde Lebensbedingungen gibt. Nach den Erfahrungen, die wir in den letzten Jahren machen konnten, ist bei der Novellierung endlich der Schritt gemacht worden, daß gesagt wird: Es gibt Lebensbedingungen, die dringend reparaturbedürftig sind; wir müssen die früheren, gesunderen Lebensbedingungen wiederherstellen. Ich denke, das ist ein Plus für diesen Gesetzentwurf.
Ähnliche Präzisierungen finden sich in den Bereichen der Land- und Forstwirtschaft, bei dem Schutz der Ressourcen, dem sparsameren Umgang mit Grund und Boden und vor allen Dingen bei einer besseren Darstellung der ökologischen Vernetzung der einzelnen Bereiche.
Wegen der Gefahr der Abkopplung der ländlichen Regionen von der technologischen Entwicklung hat die SPD vorgeschlagen, den Text in diese Richtung zu erweitern. Im Gesetz heißt es nun, daß technologische Entwicklungen in diesen Räumen verstärkt zu nutzen sind. Auch dem Vorschlag unserer Fraktion, die Erhaltung der Naturdenkmäler aufzunehmen, wurde entsprochen.
Meine Damen und Herren, weitgehende Übereinstimmungen gab es auch bei der Regelung des Raumordnungsverfahrens, das, in den meisten Bundesländern schon seit längerer Zeit praktiziert, rahmenrechtlich in dieses Gesetz übernommen wird.



Großmann
Gleichzeitig mit dem Raumordnungsverfahren wird die Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt. Diese frühzeitige Überprüfung soll, so hoffen wir, eine möglichst sichere Einschätzung darüber bringen, welche Auswirkungen geplante Maßnahmen auf die Raumordnung, vor allen Dingen aber auf die Ökologie eines Raumes haben werden.
Über die Regelung der Umweltverträglichkeitsprüfung im UVP-Gesetz sind wir — das wissen Sie — unterschiedlicher Meinung. Wenn wir der Regelung im Raumordnungsgesetz trotzdem unsere Zustimmung geben, dann deshalb, weil hier nach einer intensiven Diskussion vor allen Dingen mit den Bundesländern Formulierungen gefunden worden sind, die auf Zustimmung gerade der Bundesländer stoßen.
Meine Damen und Herren, die SPD wird trotz der Übereinstimmung in diesen von mir geschilderten Fragen dem Raumordnungsgesetz heute nicht zustimmen können. Das liegt daran, daß wesentliche Gesichtspunkte im Gesetzentwurf fehlen und unsere Anträge dazu im Ausschuß abgelehnt wurden.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Unverständliche Verweigerungshaltung!)

— Sie hören bitte erst einmal zu, und dann bilden Sie sich nachher Ihre Meinung; vielleicht ändern Sie sie dann.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Wenig wahrscheinlich!)

— Das spricht nicht für Sie. — Ich nenne hier die Abwägungsklausel und vor allen Dingen das Stichwort Europa. Interessanterweise haben gerade diese beiden Punkte — Herr Magin, ich weiß nicht, ob Sie die letzten Entwicklungen im Bundesrat kennen — dort zu kontroversen Auseinandersetzungen geführt.
Es ist unübersehbar, daß die europäische Politik immer stärkeren Einfluß auf die Entwicklung der Regionen nimmt. Darüber hinaus hat in den letzten Monaten bei sehr vielen Experten die Diskussion darüber angefangen, daß gerade in den grenznahen Räumen eine besondere Entwicklung nötig ist, weil gerade die grenznahen Räume in der Gefahr sind, abgehängt zu werden. Die Bundesregierung hat in den programmatischen Schwerpunkten der Raumordnung aus dem Jahre 1985 darauf hingewiesen, aber keine Konsequenzen gezogen.
Von vielen Fachleuten wurde gefordert, den wachsenden Einfluß europäischer Entscheidungen auf die Regionen zum Anlaß zu nehmen, auch im Raumordnungsgesetz eine Leitvorstellung oder einen Grundsatz mit diesem europäischen Bezug zu verankern.
Unser Antrag wurde abgelehnt. Der Satz zu Europa aus dem Jahre 1965 bleibt unverändert stehen, obwohl sich in den letzten 25 Jahren wirklich Enormes in Europa verändert hat. Kein Komma wurde verändert. Das ist wahrlich eine vertane Chance, mehr noch: ein unverzeihliches Versäumnis.
Völlig unverständlich ist die Haltung der Bundesregierung und der Koalitionsparteien zur Abwängsklausel. Natürlich machen die ganzen Präzisierungen und Fortschreibungen des Raumordnungsgesetzes nur dann Sinn, wenn die Abwägungsklausel aufgenommen wird, weil gerade dort der Stellenwert eines Vorranges für den Umweltschutz vor möglichen anderen Zielen definiert werden kann.
So war es keine Überraschung, daß die Arbeitsgruppe, die der Raumordnungsminister selber eingesetzt hatte, um Vorarbeiten zur Novellierung des Raumordnungsgesetzes zu leisten, einheitlich zu dem Votum kam, eine Abwägungsklausel vorzuschlagen. Danach soll ökologischen Belangen dann ein Vorrang eingeräumt werden, wenn eine wesentliche Beeinträchtigung der Umwelt und der Gesundheit droht oder die langfristige Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen gefährdet ist.
Noch aufschlußreicher ist die Begründung, die ich gerne zitieren will. Da heißt es: Einheitlich — in der Arbeitsgruppe saßen Vertreter des Ministers, Vertreter der Länder, der Städte und Gemeinden etc. — halten die Mitglieder der Arbeitsgruppe die Aufnahme eines Abwägungsvorrangs von ökologischen Belangen unter den genannten Voraussetzungen für notwendig. Dieser Abwägungsvorrang ist eine Voraussetzung zur Verwirklichung der Leitvorstellungen des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen auf der Ebene der Raumordnung. Mit der Aufnahme eines entsprechenden Gedankens soll auch den Entschließungen der Ministerkonferenz für Raumordnung vom 15. Juni 1972 und vom 21. März 1985 Rechnung getragen werden.
Mit der Ablehnung dieser Abwägungsklausel ist der Raumordnungsminister aus dem einstimmigen Beschluß der Ministerkonferenz ausgestiegen. Eine einheitliche Anwendung des Abwägungsgebotes in der ganzen Bundesrepublik ist damit nicht mehr gewährleistet. Interessant wird es, wenn man sich die Begründung der Bundesregierung zum Raumordnungsgesetz durchliest. Da heißt es:
Der raumordnerische Grundsatz in Nummer 8 konkretisiert die Anforderungen an den Schutz, die Pflege und die Entwicklung der natürlichen Lebensgrundlagen entsprechend der Leitvorstellung in § 1.
Ich überschlage ein paar Sätze. Dann kommt ein ganz interessanter Passus. Da heißt es — ich zitiere — :
Die so zu verstehende Verpflichtung zur sparsamen und schonenden Inanspruchnahme der Naturgüter ist ein wesentliches Kriterium für die Abwägung der vielfältigen Belange der Raumordnung.
Jetzt lohnt es sich besonders zuzuhören:
Es hat besonderes Gewicht, wenn eine wesentliche Beeinträchtigung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung droht oder die langfristige und nachhaltige Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen gefährdet ist.
Der Text kommt Ihnen bekannt vor. Er stimmt fast wortwörtlich mit unserem Antrag überein. Trotzdem haben Sie ihn abgelehnt.
Wenn die Bundesregierung jetzt den Ländern die Entscheidung zuschiebt, eine solche Abwägungsklausel doch in ihr Programm zur Raumordnung aufzunehmen, so versäumt sie es, eine gemeinsame Grundlage für alle zu schaffen. Gerade das aber wi-



Großmann
derspricht der eigenen Forderung der Bundesregierung nach möglichst gleichen Investitionsbedingungen in allen Ländern. Die Bundesregierung hat also hier ein klassisches Eigentor geschossen.
Dieser ganze Eiertanz offenbart die Misere der Koalition: Ein wenig Umweltschutz, aber bitte nicht zuviel, und ja keine allzu klaren gesetzlichen Vorgaben. Bei der Umsetzung von Umweltschutz bleibt die Koalition lieber lau und möglichst unbestimmt.
Ich muß also zu meiner Bewertung zurückkommen, die ich eingangs machte. Dem Gesetz fehlt es an Konsequenz. Es ist eine eher mittelmäßige Fortschreibung eines alten Textes.
Weiterhin, meine Damen und Herren, bleibt unklar, was dieses Gesetz ausrichten kann. Zunächst erwarten wir jetzt einmal von der Bundesregierung, daß die Rechtsverordnung folgt, in der die Vorhaben auf gelistet sind, für die ein Raumordnungsverfahren überhaupt durchzuführen ist. Die Anlage 1 zu den EG-Richtlinien, die noch Bestandteil des ersten Entwurfes, des Referentenentwurfes, war, fehlt in diesem Gesetz. Im Ausschuß hat die Regierung das damit begründet, daß die Liste der Vorhaben, die geplant ist, umfangreicher sei als die Liste, die in den EG-Richtlinien abgedruckt war. Darauf sind wir nun wirklich gespannt. Ich frage die Bundesregierung, wann diese Rechtsverordnung vorliegen wird.
Als nächstes bleibt festzustellen, daß der Raumordnungsminister innerhalb des Bundeskabinetts immer noch als Leichtgewicht angesehen wird. Gleichzeitig mit der Verabschiedung des Raumordnungsgesetzes erfolgt nämlich erneut eine Forderung. Sie steht in der Beschlußempfehlung. Man muß sich das vorstellen: Man beschließt ein Raumordnungsgesetz, lehnt das Raumplanungsgesetz der GRÜNEN ab und beschließt als dritten Punkt eine Empfehlung, in der es heißt: Die Mitwirkung des für die Raumordnung zuständigen Bundesministers bei den raumbedeutsamen Maßnahmen innerhalb der Bundesregierung muß wirkungsvoller gestaltet werden.
Der Beirat für Raumordnung sagt es deutlicher. Er fordert ein aufschiebend wirkendes Widerspruchsrecht, ähnlich dem, das der Justizminister habe. Mit dieser Rechtsposition könne er dann alle Ressortmaßnahmen auf ihre räumlichen Auswirkungen hin überprüfen.
Herr Schneider konnte davon nur träumen. Ihnen, Frau Ministerin, drücken wir wenigstens die Daumen für eine bessere Behandlung im Kabinett. Es geht nicht an, daß jeder andere Minister mehr Raumordnungspolitik betreibt als der zuständige Raumordnungsminister.
Meine Damen und Herren, angesichts der langen Tagesordnung ist mir sicher keiner böse, wenn ich mich auf die wichtigsten Punkte konzentriert habe und meine Redezeit nicht voll ausschöpfe.
Für die SPD beantrage ich, über die Nummern 1 bis 3 der Beschlußempfehlung getrennt abzustimmen. Bei der Abstimmung über das Raumplanungsgesetz der Fraktion DIE GRÜNEN werden wir uns der Stimme enthalten. Wir haben uns in der Beratung auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung konzentriert
und versucht, dort unsere Änderungsanträge durchzusetzen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114928500
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hitschler.

Dr. Walter Hitschler (FDP):
Rede ID: ID1114928600
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zur erneuten Novellierung des Raumordnungsgesetzes von 1965 ist im Raumordnungsausschuß intensiv beraten worden, wobei der ursprünglich vorgelegte Entwurf noch verschiedentliche Änderungen erfahren hat. Kernpunkte der Novellierung sind dabei zwei inhaltlich verschiedene Themenblöcke: Zum einen geht es um die Überprüfung des materiellen Raumordnungsrechts in den §§ 1 und 2, in denen nunmehr Aufgabe und Leitvorstellungen der Raumordnung sowie die Grundsätze der Raumordnung aktualisiert und der räumlichen Fortentwicklung angepaßt wurden, und zum anderen um die Einbindung der Umweltverträglichkeitsprüfung in das Raumordnungsverfahren.
Bereits im ersten Absatz des § 1 wird dabei die Sicherung des Schutzes, der Pflege und der Entwicklung der natürlichen Lebensgrundlagen als eine zentrale Leitvorstellung für die Strukturentwicklung postuliert. Damit wird gleich zu Beginn der Gesetzesnovelle ein wesentlich neues Motiv deutlich, welches sich immer wieder insbesondere in den Grundsätzen, aber natürlich auch in den folgenden, das Raumordnungsverfahren betreffenden Paragraphen wiederfindet. Damit trägt das Raumordnungsrecht der als notwendig empfundenen verstärkten Umweltvorsorge Rechnung und bindet die Länder bei deren Landesplanung.
In den in § 2 wesentlich neu formulierten Grundsätzen der Raumordnung findet sich die Berücksichtigung der ökologischen Komponente allenthalben, konkret insbesondere darin, daß die Entsorgungsleistungen in den Maßnahmenkatalog zur Strukturverbesserung expressis verbis aufgenommen wurden.
Nun ist es um so bedauerlicher, daß gerade diese Komponente einen wesentlichen Grund dafür liefert, daß das ansonsten in wesentlichen Punkten zwischen CDU/CSU, SPD und FDP einvernehmlich geänderte Gesetz von der SPD nicht mitgetragen wird, die ihrerseits in der Abwägungsklausel des § 2 Abs. 3, in der es um die gegenseitige und untereinander stattfindende Abwägung der Grundsätze nach Maßgabe der Leitvorstellungen geht, den Erfordernissen des Umweltschutzes einen Vorrang einräumen möchte, und dies dazu mit einer im Raumordnungsrecht üblichen abstrakten und weitgefaßten Klausel — Vorrang, wenn andernfalls eine wesentliche Beeinträchtigung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung droht usw. —, die auf Grund ihrer beliebig interpretierbaren Unbestimmtheit zu außerordentlich großer Rechtsunsicherheit führen würde. Die Abwägung zwischen den verschiedenen Grundsätzen für die Entwicklung der räumlichen Struktur würde damit vorstrukturiert, die anderen Zielsetzungen — beispielsweise ausgewo-



Dr. Hitschler
gene soziale und wirtschaftliche Lebensverhältnisse — nachrangig eingestuft werden.
In der Praxis könnte sich ein derartiger Vorgang als ein erklecklicher Bumerang für viele unserer Mitbürger erweisen. Eine derartige Klausel würde im übrigen nach unserer Ansicht auch den Leitvorstellungen der langfristigen Offenhaltung der Gestaltungsmöglichkeiten der Raumnutzung und der Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen widersprechen und darüber hinaus eine Weiterentwicklung umweltschonender Nutzungsmöglichkeiten zur Erhaltung und Gestaltung unserer Kulturlandschaft behindern und hemmen. Wir können daher dieser Einlassung, die das Ergebnis eines solchen Abwägungsprozesses sein kann, nicht Rechnung tragen.
Wir hoffen, daß beispielsweise die raumordnerisch bedeutsame Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, das Strukturhilfegesetz, die die Landwirtschaft betreffenden Gesetze über die Betriebsstillegung, Flächenstillegung sowie das Gesetz zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft von den Ländern so in ihre Landesplanung aufgenommen werden, daß die Intentionen dieses Raumordnungsgesetzes bei der Umsetzung zum Tragen kommen und zu einer ausgewogeneren Entwicklung und zum Ausgleich der vorhandenen Strukturschwächen in bestimmten Teilregionen führen. Dem in § 9 vorgesehenen Beirat bietet sich hier ein breites Betätigungsfeld der Beobachtung an, um festzustellen, wie die Leitvorstellung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse bei der tatsächlichen praktischen Gesetzgebung umgesetzt wird.
Neu ins Gesetz aufgenommen wurde angesichts der gewachsenen Bedeutung der Bedürfnisse nach Erholung, Freizeit und Sport ein Grundsatz, der entsprechende Standortsicherungen fordert

(Frau Flinner [GRÜNE]: Golfplätze!)

sowie eine Ergänzung zur Sicherung der Belange des Denkmalschutzes. Damit spiegeln sich in den Grundsätzen veränderte Einschätzungen wider, wie sie sich in den letzten 20 Jahren in unserer Gesellschaft entwickelt haben.
Das Raumordnungsverfahren, das für bestimmte raumbedeutsame Vorhaben durchzuführen ist, ist in einem neu eingefügten § 6 a geregelt. In dieses Verfahren ist eine Umweltverträglichkeitsprüfung integriert. Der große Vorteil dieses Verfahrens besteht darin, daß einem Vorhabenträger durch die frühzeitige Ermittlung, Beschreibung und Bewertung der Auswirkungen des Vorhabens auf die Umwelt Planungssicherheit gegeben wird und Fehlplanungen vermieden werden können.
Das Raumordnungsgesetz steht dabei in einem engen Kontext zu dem zur Zeit in der Beratung befindlichen UVP-Gesetz, nach dem die vorbereitende und verbindliche Bauleitplanung, also sowohl Flächennutzungsplanung wie Bebauungsplanung, einer Umweltverträglichkeitsprüfung selbst unterzogen werden. Die Umweltverträglichkeit eines raumbedeutsamen Vorhabens wird seinerseits in einer zweiten Stufe im Zulassungsverfahren überprüft. Insofern wird künftig eine enge Verknüpfung zwischen Raumordnungsrecht und Fachgesetzgebung im Blick auf eine UVP gewährleistet sein.
Die materiellen Ziele des neuen Raumordnungsgesetzes werden als Leitbild der Landesplanung und gemeindlichen Bauleitplanung neue Akzente setzen und auf lange Sicht die Struktur unseres Gesamtraumes nicht unwesentlich verändern. Inwieweit dabei der Leitvorstellung einer freien Entfaltung der Persönlichkeit in der Gemeinschaft noch Rechnung getragen werden kann, bleibt zunächst offen. Der Freiheitsgrad des einzelnen wird logischerweise um so stärker eingeengt, je stärker die Erfordernisse der Rücksichtnahme auf die Gemeinschaft und die Erhaltung ihrer Lebensgrundlagen ist. Andererseits bedeutet diese Einbindung, daß das Maß der Freiheit zur Entfaltung der Persönlichkeit erst aus der Berücksichtigung der allgemein für erforderlich gehaltenen Gemeinschaftsregeln erwachsen kann, denn unter der Freiheit zur Entfaltung der Persönlichkeit kann keine Freiheit verstanden werden, die sich ausschließlich zum Eigennutz gegen die Gemeinschaft richtet.

(Müntefering [SPD]: Sagen Sie kurz: Kant!)

Dabei ist darauf zu achten — dies gilt auch für die Leitvorstellungen der Raumordnung —, daß die Rahmenregeln ständig überprüft werden und bei Nichtbewährung auch rückholbar sein müssen. Insofern beinhalten die Leitvorstellungen und Grundsätze der Raumordnung einen wichtigen Grundkonsens über politische Zielvorstellungen für die Entwicklung unserer Gesellschaft, so daß es notwendig und wichtig ist, zumindest diesen Teil des Gesetzeswerks mit möglichst breiter Mehrheit zu verabschieden.
Ich begrüße deshalb Ihren Antrag, Herr Großmann, auf getrennte Abstimmung und hoffe, daß Sie bei den §§ 1 und 2 Ihre Zustimmung geben können.
Die FDP-Fraktion wird dem Gesetzeswerk und dem Vorschlag der Regierung ihre Zustimmung geben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114928700
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Die SPD-Fraktion wünscht getrennte Abstimmung.
Wir kommen zuerst zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Raumordnungsgesetzes. Das wäre Nr. 1 der Beschlußempfehlung. Ich rufe die Art. 1 bis 5, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit sind die Art. 1 bis 5, Einleitung und Überschrift gegen die Stimmen der SPD und der GRÜNEN angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stim-



Präsidentin Dr. Süssmuth
men der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP angenommen.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über das von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachte Raumplanungsgesetz, Nr. 2 der Beschlußempfehlung. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/4678 unter Nr. 2 die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion DIE GRÜNEN. Auch in diesem Fall ist nach ständiger Praxis über die Ursprungsvorlage abzustimmen. Ich rufe §§ 1 bis 15, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften entgegen der Ausschußempfehlung zuzustimmen wünscht, bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Enthaltung der SPD abgelehnt.
Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Meine Damen und Herren, es ist noch über eine Entschließung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau abzustimmen. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/4678 unter Nr. 3 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Entschließung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 22 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Häfner und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
— Drucksache 11/4462 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß (federführend)

Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
b) Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Trenz und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Ausländerinnen und Ausländer
— Drucksache 11/4463 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
c) Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Trenz und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur rechtlichen Gleichstellung der ausländischen Wohnbevölkerung durch Einbürgerung und Geburt (Einbürgerungsgesetz)

— Drucksache 11/4464 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
d) Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Trenz und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Niederlassung von Ausländern und Ausländerinnen (Niederlassungsgesetz für Ausländer und Ausländerinnen)

— Drucksache 11/4466 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist eine gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte und ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Trenz.

Erika Trenz (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114928800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ausländerinnen und Ausländer haben weniger Rechte als die einheimische Bevölkerung. Das ist in allen Staaten so. In der Bundesrepublik hat die Ungleichbehandlung aber Ausmaße erreicht, die mit demokratischen Vorstellungen völlig unvereinbar sind.
Eine Auflistung aller Normen des geltenden Bundesrechts,
— ich zitiere den Bundesminister des Innern in seiner Antwort auf meine entsprechende Kleine Anfrage —
die unmittelbar oder möglicherweise auch nur mittelbar zu unterschiedlichen Regelungen für Ausländer und Deutsche führen würden, würden zu einem unverhältnismäßigen Aufwand führen, der nicht zu vertreten ist.
Ausländische Staatsangehörige sind in der Bundesrepublik einer diskriminierenden Sondergesetzgebung unterstellt, ganz unabhängig davon, wie lange sie bereits in diesem Lande leben.
Das heute noch gültige Ausländergesetz aus dem Jahre 1965 knüpft an die Ausländerpolizeiverordnungen des Dritten Reiches an. Es ist getragen und geprägt vom Gedanken der Gefahrenabwehr und der Aussonderung nach völkischen Kriterien.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Das ist ebenso spürbar in der restriktiven Zuzugspolitik der Bundesregierung wie in der rassistischen Klassifizierung derjenigen, die die Gnade erfahren, in diesem Lande leben zu dürfen. Sie haben keine politischen Teilhaberechte, und neben einer Vielzahl von diskriminierenden Rechtsvorschriften sind sie dem Ermessen der Ausländerbehörde unterstellt. Diese entscheidet über Aufenthaltssicherheit, Bewegungsfreiheit innerhalb der Bundesrepublik und Europas, über das Recht auf Arbeitssuche und die sozialrechtliche Gleichstellung.
Diese Ausgrenzungspolitik wird im Zuge der Öffnung des EG-Binnenmarkts nicht aufgehoben, sondern verschoben. Das heißt: noch dichtere Grenzen nach außen. Dafür sorgen die Verhandlungen in



Frau Trenz
Schengen und die polizeimäßigen Planungen der TREVI-Gruppe in großem Stil. Nach innen bedeutet es bestenfalls einen kleinen Finger für EG-Staatsangehörige in Form der Freizügigkeit und der Hoffnung auf das kommunale Wahlrecht. Parallel dazu erfolgt die verstärkte Diskriminierung von sogenannten Drittstaatlern und Drittstaatlerinnen. Sie bleiben rechtlos. Sie sind weiterhin Wasserträger für die Belange der Bundesrepublik Deutschland.
„Spalte und herrsche" ist die Devise dieser Politik. So war es schon immer, wenn es um die Stabilisierung von Macht und Privilegien ging. Zur Zeit gibt es fünf Klassen von Menschen in der Bundesrepublik: erstens Deutsche; zweitens deutsche Spätaussiedler und Spätaussiedlerinnen; drittens EG-Staatsangehörige; viertens Drittstaatlerinnen und Drittstaatler; fünftens Flüchtlinge, ganz zu schweigen von den Minderheiten wie den Sintis und den Roma.
Die Gewährung elementarer Menschenrechte ist hierzulande eine Frage des Passes, den ein Mensch in der Tasche trägt, nicht etwa der Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik, der Lebensplanung, der Familiengründung, der Suche nach Heimat.
Das ist ein unerträglicher Zustand und kein Ausländerproblem. Das Problem sind nicht die 4,5 Millionen Menschen ausländischer Herkunft. Nein, das Problem ist, daß in diesem Land Einwanderung stattfindet, aber keine vorsorgende und den Anforderungen entsprechende Einwanderungspolitik. Das muß sich dringend ändern.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Unsere vier Gesetzentwürfe sind ein Beitrag dazu, ein Schritt zur Herstellung demokratischer Verhältnisse in der Bundesrepublik zur Anerkennung des Faktischen. Normalität zulassen, so hat das neulich ein italienischer Freund auf einer Veranstaltung genannt.
Wir brauchen gleiche Rechte für alle, die auf Dauer in diesem Lande leben, ganz egal, welcher Abstammung sie sind, aus welchem Land sie kommen. Darum brauchen wir einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung nach fünfjährigem Aufenthalt in der Bundesrepublik, und zwar auf einfachen Antrag hin und, wenn gewünscht, unter Beibehaltung der ursprünglichen Staatsbürgerschaft.
Wir brauchen daneben ein Niederlassungsrecht, das die rechtliche Gleichstellung mit den Deutschen für alle Emigranten und Emigrantinnen und Flüchtlinge vorsieht, die sich seit fünf Jahren in der Bundesrepublik aufhalten. Wir brauchen ein Bundeswahlgesetz, das allen Bewohnerinnen und Bewohnern dieses Landes das allgemeine Wahlrecht gibt.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Das Mindeste ist doch ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für nachziehende Ehefrauen und Ehemänner,

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

das insbesondere ausländischen Frauen einen vom Bestand der Ehe unabhängigen Aufenthaltsstatus sichert.
Gleiche Rechte lösen nicht die Probleme und Konflikte, die im Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen entstehen; aber sie sind die unverzichtbare Voraussetzung dafür, daß soziale, politische und kulturelle Interessenskonflikte nicht weiter auf Kosten der rechtlosen Minderheiten ausgetragen werden.
Einwanderung gestalten heißt aber auch noch mehr. Darüber müssen wir im Parlament und mit den Menschen vor Ort reden. Wir müssen darüber reden, wie wir das Bildungswesen in einer Weise umgestalten, die auch den Kindern kultureller Minderheiten die Möglichkeit schafft, eine Muttersprache zu erwerben und damit die Grundlage jeder Entwicklung der Identität. Friedrich Wilhelm III. war in diesem Punkt einige Schritte voraus. 1815 garantierte er der polnischen Minderheit:
Eure Sprache soll neben der deutschen in allen öffentlichen Verhandlungen gebraucht werden, und jedem unter euch soll nach Maßgabe seiner Fähigkeiten der Zutritt zu den öffentlichen Am-tern offenstehen.
Darum brauchen wir z. B. eine Bildungspolitik, die die Geschichte nicht mehr nur aus dem eurozentristischen Blickwinkel der kolonialen Eroberer betrachtet, sondern auch die Opfer sogenannter europäischer Heldentaten zu Wort kommen läßt, einen Religionsunterricht, der darstellt und vergleicht, anstatt sofort zu selektieren und zu werten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wie sollen z. B. die öffentlich-rechtlichen Medien aussehen, damit die eingewanderte Minderheit Bestandteil des gemeinsamen Alltags in der Bundesrepublik wird und nicht länger abgetrennt in die Ecke „Ausländer" geschoben wird, wo das Problem sofort mitgedacht wird? Dafür gibt es genügend Beispiele in unserer Geschichte und in der Gegenwart anderer europäischer Länder.
Natürlich gibt es Kulturelemente und Kulturinterpretationen, die wir nicht akzeptieren können, weil sie die Menschenrechte verletzen. Damit haben wir uns auseinanderzusetzen; mit Rushdie-Mordaufruf ern ebenso wie mit denjenigen, die zur Rettung des christlichen Abendlandes das Grundrecht auf Asyl abschaffen wollen.
Bedrohlich ist nicht die Anwesenheit von fremden Menschen mit fremder Kultur in diesem Land; undemokratisch und bedrohlich ist vielmehr ein gesellschaftlicher Zustand, in dem rund 7 % der Bevölkerung von sämtlichen demokratischen Rechten ausgeschlossen sind.

(Beifall bei den GRÜNEN)

In der Bundesrepublik hat Einwanderung stattgefunden und findet weiter Einwanderung statt. Mit den Anforderungen, die sich daraus ergeben, werden wir nicht durch eine Politik des Aussitzens und der Repressionen fertig. Auch die Bereicherungen, die multikulturelles Zusammenleben bedeuten, werden so nicht erfahrbar. Multikulturelle Gesellschaft ist mehr als die Kebab-Bude an der Ecke und der Tango in der



Frau Trenz
) Tanzschule. Die multikulturelle Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die sich auf demokratische Art und Weise mit Fremdheit auseinandersetzt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wenn Goethe sagt — ich zitiere — : „Toleranz muß zur Anerkennung führen, dulden heißt beleidigen", dann kennzeichnet er damit das eigentliche Problem der heutigen Misere. Respekt vor den anderen läßt sich nicht per Gesetz verordnen. Aber gleiche Rechte für alle hier lebenden Menschen sind eine unverzichtbare Voraussetzung dafür, daß wir lernen, Fremde anzuerkennen und nicht nur zu dulden.

(Beifall bei den GRÜNEN und des Abg. Peter [Kassel] [SPD])

Gleiche Rechte sind darum auch ein wirksames Mittel gegen die Propaganda der Rechtsextremisten.
Ich bitte Sie deshalb um Unterstützung der Gesetzentwürfe.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114928900
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Spranger.

Carl-Dieter Spranger (CSU):
Rede ID: ID1114929000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die heute zur Beratung anstehenden drei Gesetzentwürfe der Fraktion DIE GRÜNEN weisen ausländerrechtlich und ausländerpolitisch in eine falsche, nämlich integrationsfeindliche, Richtung.

(Lachen bei den GRÜNEN)

Integration ist nicht schon dadurch erreicht und läßt sich auch nicht dadurch erreichen , daß Ausländer Deutschen rechtlich einfach gleichgestellt werden. Natürlich setzt die Integration auch entsprechende ausländerrechtliche Rahmenbedingungen voraus. Insoweit ist unser Ausländerrecht reformbedürftig.
Die Bundesregierung beabsichtigt deshalb, noch in dieser Legislaturperiode eine umfassende Neuregelung des Ausländerrechts auf den Weg zu bringen, wie auch der Bundeskanzler es in seiner Regierungserklärung am 27. April 1989 angekündigt hat. Die Neuregelung wird sich, wie bekannt ist, an den Eckpunkten orientieren, auf die sich eine Koalitionsarbeitsgruppe am 14. April 1989 verständigt hat.
Diese Eckwerte werden der wichtigen Aufgabe des Ausländerrechtes gerecht, die Integration der rechtmäßig zuwandernden Ausländer und ihrer Familienangehörigen zu sichern und zu fördern. Dazu gehören nicht nur gesicherte Aufenthaltsrechte für die bei uns lebenden Ausländer, sondern notwendigerweise auch die Begrenzung der Zuwanderung weiterer Ausländer aus Nicht-EG-Staaten. Wir können die Integrationsaufgabe nur bewältigen, wenn sie nicht durch weitere unbegrenzte Zugänge laufend vergrößert oder erschwert wird.
Der Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN läßt die Integrationsfähigkeit und Integrationskraft unserer Bevölkerung außer Betracht. So ist es nicht möglich, etwa ausländischen Ehegatten einen unbedingten und uneingeschränkten Nachzugsanspruch einzuräumen, ohne die Frage nach Lebensunterhalt und
Wohnraum zu stellen. Noch weniger ist zu verantworten, Ausländern ein unentziehbares Aufenthaltsrecht zu geben ohne die Anforderung, daß sie ein Mindestmaß an sozialer Integration erreicht haben.
Solche Vorschriften sind nicht geeignet, ein ausländerfreundliches Klima zu erhalten und den sozialen Frieden zu gewährleisten. Das gilt vor allem auch für das von den GRÜNEN geforderte absolute Verbot jeder Ausweisung von Ausländern mit Aufenthaltsberechtigung. Eine solche Vorschrift, die vor allem Kriminelle schützt, würde eine ganz verheerende Wirkung entfalten, nämlich die Integrationspolitik insgesamt diskreditieren und ausländerfeindlichen Agitationen neuen Stoff liefern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Bundesregierung ist nicht der Auffassung, daß das geltende Einbürgerungsrecht den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit blockiert. Um der Sondersituation der hier geborenen und aufgewachsenen Ausländer Rechnung zu tragen, sind allerdings gewisse Erleichterungen des Einbürgerungsverfahrens vorgesehen. Der Entwurf der GRÜNEN schießt aber weit über das vertretbare Maß hinaus. Integration und Zuordnung zu unserem Staat sind unverzichtbare Voraussetzungen für die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit, weil sich aus ihr grundlegende staatsbürgerliche Rechte und Pflichten ergeben.

(Frau Trenz [GRÜNE]: Überhaupt nicht, die ergeben sich aus den Gesetzen!)

Bei einer Verwirklichung der Konzeption der GRÜNEN — genereller Einbürgerungsanspruch nach fünf Jahren Aufenthalt unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit sowie Geburtserwerb bei Angehörigen der dritten Ausländergeneration — wären die genannten Voraussetzungen nicht gewährleistet.
Die Fraktion DIE GRÜNEN hat schließlich einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem für das Bundestagswahlrecht die Möglichkeit der Wahlbeteiligung für Ausländer eingeführt werden soll. Die GRÜNEN gehen damit weit über das hinaus, was im politischen Raum zum Stichwort „Wahlrecht für Ausländer" gefordert worden ist.
Die Haltung der Bundesregierung zu dieser Frage ist unverändert. Das Wahlrecht ist ein Staatsbürgerrecht, das nach Art. 20 Abs. 2 und 28 Abs. 1 des Grundgesetzes nur Deutschen im Sinne der Verfassung zusteht. Zu der Gegenposition der GRÜNEN seien hier nur einige Punkte angemerkt.
Erstens. Es ist eine Unterstellung, anzunehmen, der Verfassungsgeber habe mit dem Begriff „Volk" in Art. 20 und 28 des Grundgesetzes etwas anderes gemeint als das Staatsvolk, d. h. die Deutschen im Sinne des Grundgesetzes. Ich halte es für wissenschaftlich unredlich, wenn in der Begründung zum Gesetzentwurf Carlo Schmid zitiert wird, dabei aber unterschlagen wird, daß er auch gesagt hat, nach dem Satz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" sei die letzte irdische Quelle der Gewalt im Staate das konkrete lebende Volk, die Summe der jeweils lebenden einzelnen Deutschen.
Zweitens. Nicht nur die in der Begründung des Vorschlags genannte Verfassung des Landes Hessen,



Parl. Staatssekretär Spranger
sondern auch die Verfassungen mehrerer anderer Länder beschränken das Recht zur Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen auf Deutsche. Es ist verfehlt, hierin eine Einschränkung gegenüber dem Grundgesetz zu sehen. Vielmehr kommt damit genau das zum Ausdruck, was mit dem Satz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" gesagt wird.
Drittens. Die Meinung, der einfache Gesetzgeber könne ähnlich wie beim Vereins- und Versammlungsrecht auch beim Wahlrecht den Kreis der Berechtigten über das Grundgesetz hinaus ausdehnen, läßt den Unterschied zwischen Abwehrrechten und politischen Mitwirkungsrechten außer acht. Das politische Mitwirkungsrecht jedes einzelnen Staatsbürgers würde geschmälert, wenn große, nicht zum Staatsvolk gehörende Gruppen das Wahlrecht ausüben könnten.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114929100
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Olderog.

Dr. Rolf Olderog (CDU):
Rede ID: ID1114929200
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich den Beitrag von Frau Trenz höre, dann wird mir schmerzlich bewußt, wie schwierig es ist, sich mit der Ausländerpolitik der Bundesregierung sachlich auseinanderzusetzen.

(Zuruf von der SPD: Wohl wahr!)

Ich finde, das Szenario, das Sie hier gezeichnet haben, ist ein Horrorgemälde. Mit der Wirklichkeit hat es nur sehr wenig zu tun.

(Frau Trenz [GRÜNE]: Ich habe Ihren Innenminister zitiert!)

Die drei Gesetzentwürfe sind nur Bruchstücke der Ausländerpolitik der GRÜNEN. Es ist vielleicht sinnvoll, sie im Zusammenhang mit dem zu sehen, was die GRÜNEN im übrigen noch dazu sagen, insbesondere mit den Aussagen auf ihrem Parteitag in Münster. Dort wurde immer wieder gesagt, man solle alle Grenzen öffnen und alle Notleidenden und Bedrückten dieser Erde geradezu einladen, zu uns zu kommen.
Nun gibt es in der Tat entsetzlich viel Not, Hungersnot, Kriege und Bürgerkriege. Es entspricht dem persönlichen Empfinden, auch meinem eigenen, und auch unserer christlichen Ethik, bedrängten und bedrohten Menschen zu helfen, insbesondere wenn man von einzelnen Schicksalen erfährt. Insofern kann ich gut verstehen, was von kirchlichen Kreisen, was auf dem Kirchentag geäußert wird, was idealistische Jugendverbände , caritative Organisationen oder auch bestimmte politische Gruppierungen an gut gemeinten Lösungen vorschlagen, z. B. die Grenzen möglichst weit aufzumachen, allen Ausländern wirtschaftliche und soziale Chancen wie inländischen Bürgern zu geben und ihre Position rechtlich abzusichern.
Aber ich denke, unter vernünftigen Leuten kann man sich darüber verständigen, daß es irgendwo eine Grenze der Belastungsfähigkeit unserer Bürger gibt. Die evangelische Kirche hat das in ihren Stellungnahmen ausdrücklich eingeräumt. Die Frage, wie weit wir
gehen können, ohne als Parlament den Grundkonsens mit unserer Bevölkerung zu verlieren,

(Frau Teubner [GRÜNE]: Den haben Sie längst verloren!)

das ist in der Ausländerpolitik eine ganz entscheidende Frage, vielleicht die entscheidende grundsätzliche Frage. Da muß es uns nachdenklich stimmen, daß 80 % der Bevölkerung bei Umfragen gesagt haben — ich hoffe, Sie sehen das nicht gleich als Ausdruck von Ausländerfeindlichkeit an —,

(Dr. Penner [SPD]: Doch!)

daß wir zu viele Ausländer in der Bundesrepublik haben.

(Abg. Oostergetelo [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114929300
Herr Abgeordneter Olderog, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Oostergetelo?

Dr. Rolf Olderog (CDU):
Rede ID: ID1114929400
Ich möchte meine Gedanken noch zu Ende führen. Dann gerne.
Wir müssen uns doch fragen, was denn die Wahlergebnisse von Berlin und Hessen für uns bedeuten.

(Frau Wollny [GRÜNE]: Das fragen Sie sich mal!)

Das Abschneiden der Republikaner ist doch ein Alarmzeichen. Wir müssen uns auch fragen, warum die Rechtsradikalen

(Zuruf von den GRÜNEN: Zehn Jahre CDU!)

in ihren Werbespots jetzt im Europawahlkampf ihre Angriffe fast ausschließlich gegen die Ausländerpolitik der Bundesregierung richten.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Von wem haben Sie das denn? — Abg. Dr. Penner [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Nein, Kollege Oostergetelo war der erste.

Jan Oostergetelo (SPD):
Rede ID: ID1114929500
Herr Kollege, ich gebe Ihnen recht: Wir müssen aufpassen, daß wir den Grundkonsens mit der Bevölkerung nicht verlieren. Sind Sie bereit, zur Kentnnis zu nehmen, daß es z. B. in Holland eine heilsame Wirkung hat, wenn eine Türkin im Fernsehen darüber redet, wie die Straße im kommunalen Bereich fußgängerfreundlich gestaltet werden kann, wenn sie sich beteiligen kann, in den Kirchen, in den Organisationen, in den Vereinen mitmachen und auf unterster Ebene nun ein wenig mitbestimmen kann? Wie wollen Sie den Konsens erreichen, wenn Sie diese Menschen von vornherein ausschließen?

(Zuruf von den GRÜNEN: So ist es!)


Dr. Rolf Olderog (CDU):
Rede ID: ID1114929600
Ich glaube, daß zu einer gelungenen Integration sicher auch der Erwerb der Staatsbürgerschaft gehört. An die Staatsbürgerschaft wiederum ist das Wahlrecht geknüpft. Ich glaube aber nicht, daß ein entscheidendes Element dafür, daß jemand irgendwo am sozialen Leben, am wirtschaftlichen Leben mitwirken kann, das Wahlrecht ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)




Dr. Olderog
Sie haben doch angedeutet, das Wahlrecht sei das Entscheidende. Das glaube ich nicht, ganz abgesehen davon, daß das nicht mit unserer Verfassung in Einklang zu bringen ist.

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114929700
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?

Dr. Rolf Olderog (CDU):
Rede ID: ID1114929800
Ja, gerne.

Dr. Willfried Penner (SPD):
Rede ID: ID1114929900
Glaubt die CDU/CSU denn allen Ernstes, mit ihrem Angebot von Verschnitt den Hunger nach Pur stillen zu können?

Dr. Rolf Olderog (CDU):
Rede ID: ID1114930000
Ich habe Ihre Bemerkung vielleicht nicht richtig verstanden,

(Dr. Penner [SPD]: Das kann ich mir denken!)

weil sie merkwürdig formuliert war. Aber da ich Sie kenne, weiß ich, was Sie sich vorstellen.
Also, wenn Sie meinen, Sie müßten jeden Ausländer vollkommen gleichstellen mit den Bundesbürgern, dann glaube ich, daß Sie nicht nur an der rechtlichen Situation des Grundgesetzes völlig vorbeigehen, sondern daß Sie damit auch genau das Gegenteil von dem bewirken würden, was ausländerfreundliche Stimmung ist; Sie würden nämlich Ausländerfeindlichkeit produzieren.

(Beifall bei der CDU/CSU — Frau Wollny [GRÜNE]: So ein Unsinn!)

Meine Damen und Herren, ich sage: Gott sei Dank gibt es bei uns eine nennenswerte wirkliche Ausländerfeindlichkeit noch nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei den GRÜNEN)

Aber ich sage auch: Wer unsere Mitbürger überfordert, wer von ihnen mehr verlangt, als sie leisten können, vielleicht auch mehr verlangt, als ihrer Einsicht gemäß ist, der provoziert doch Rechtsradikalismus und der provoziert genau damit Ausländerfeindlichkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wir können doch nicht leugnen, daß überall in der Welt ethnische Minderheiten zu einer Belastung des inneren Friedens geworden sind. Wir können doch nicht leugnen, daß Homogenität eines Volkes Grundkonsens und Harmonie bedeutet,

(Frau Teubner [GRÜNE]: Deutschland den Deutschen?)

daß eine sozusagen multinationale Situation Spannungen und Konflikte bedeutet. Ich verkenne nicht, daß das vielleicht auch ein Beitrag zur Bereicherung der Kultur ist. Aber wir können doch die Konfliktsituation, die in vielen Teilen der Welt daraus erwachsen ist, nicht übersehen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Penner [SPD]: Wie bitte?)

Sehen Sie nach Nordirland, sehen Sie ins Baskenland — —

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114930100
Herr Abgeordneter Olderog, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Trenz?

Dr. Rolf Olderog (CDU):
Rede ID: ID1114930200
Ich möchte gern noch ein Stück weiterkommen.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114930300
Ich habe es Ihnen aber nicht angerechnet.

Dr. Rolf Olderog (CDU):
Rede ID: ID1114930400
Sehen Sie nach Nordirland, sehen Sie ins Baskenland, nach Armenien, nach Usbekistan. Wo immer Sie hinsehen, sind es im Kern nationale Auseinandersetzungen, ethnische Probleme oder auch religiöse Probleme, die damit zusammenhängen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!)

Wir in der Bundesrepublik Deutschland haben jetzt einen Anteil von 4,5 Millionen Ausländern. Der Binnenmarkt, den wir bejahen, wird die Situation für uns ja nicht leichter machen, sondern es wird ein paar zusätzliche Probleme geben. Um so notwendiger ist es jedenfalls, gegenüber den Drittstaaten eine konsequente Linie zu verfolgen.
Ich bin jedenfalls der Überzeugung — ich glaube, daß ich die Frage genauso verantwortungsbewußt prüfe wie Sie, Frau Trenz — , daß wir mit dem, was wir unserer Bevölkerung heute an Lasten aufbürden, an die Grenze der Integrationsfähigkeit unserer Bürgerinnen und Bürger gekommen sind.

(Frau Trenz [GRÜNE]: Darum geht es in den Gesetzentwürfen gar nicht!)

— Lassen Sie mich doch in Ruhe ausreden.
Gerade wenn man — wie der Parlamentarische Staatssekretär das gesagt hat — die Integration der hier Lebenden wirklich will, ist es ganz wichtig, daß man zu einer konsequenten Begrenzung des weiteren Zuzugs aus Drittländern kommt. Vielleicht hat es ein Stück Einwanderung gegeben. Aber nach unserem und nach dem Verständnis der breiten Mehrheit unserer Bevölkerung sind wir kein Einwanderungsland, und wir wollen auch kein Einwanderungsland werden.
Das heißt überhaupt nicht, daß wir unsere Verpflichtung nicht anerkennen, politisch Verfolgte aufzunehmen und zu schützen. Aber es bedeutet auch, daß wir uns noch konsequenter darum bemühen, dem Mißbrauch des Asylrechtes entgegenzuwirken.
Ich habe schon gesagt, Integration ist das wesentliche und entscheidende Ziel. Da stehen wir in der Hauptverantwortung. Diese Integration geht hin bis zur Einbürgerung derjenigen, die längere Zeit bei uns leben und hier endgültig ihre Heimat finden wollen.

(Dr. Penner [SPD]: Toll, Euer Hochwohlgeboren! — Oostergetelo [SPD]: Gnädig!)

Ich sage es noch einmal: Zu einer gelungenen Integration gehört auch der Erwerb der Staatsangehörigkeit. Wir wollen den Erwerb dieser Staatsangehörigkeit erleichtern. Wir wollen einige Hemmnisse abbauen.

(Oostergetelo [SPD]: Einige?)




Dr. Olderog
Da sind wir einer Meinung. Aber — das sage ich jetzt mit Nachdruck — die Staatsbürgerschaft muß auch Ausdruck einer wirklich dauerhaften und festen Verbundenheit mit unserem Staat und mit unserem Volk sein.

(Dr. Penner [SPD]: Und man muß Abschied nehmen von den bisherigen Traditionen!)

Wenn das nicht der Fall ist und die Staatsbürgerschaft sozusagen automatisch erworben wird, dann gewinnen wir damit gar nichts. Es gibt nur zusätzliche Probleme und Belastungen.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU — Frau Trenz [GRÜNE]: Welche bitte?)

Mit dem Vorschlag der GRÜNEN ist das natürlich in gar keiner Weise gewährleistet, wenn ein Ausländer nach fünf Jahren das Recht erhält, ohne irgendwelche weiteren Voraussetzungen die Staatsbürgerschaft zu erwerben. Ich glaube, daß damit das politisch wünschenswerte Maß an Homogenität unseres Volkes nicht gewährleistet sein kann.
Auch das Bundestagswahlrecht für Ausländer verstößt nicht nur gegen das Grundgesetz, sondern es ist auch aus gewichtigen staatspolitischen Gründen abzulehnen. Nur wer sich durch die Staatsbürgerschaft fest an das Schicksal eines Volkes bindet, hat auch die Legitimation, als Wähler und Vertreter des Volkes über dieses Schicksal mitzubestimmen. Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, Sie schaffen doch mit Ihrem Wahlrecht, mit dem Bleiberecht, mit dem Niederlassungsrecht — und was es alles gibt — einen privilegierten Sonderstatus für Ausländer. Ich kann das nicht unterstützen.

(Frau Eid [GRÜNE]: So ein Quatsch!)

Auch das von Ihnen vorgeschlagene eigenständige Aufenthaltsrecht für Ehepartner ist keinesfalls sinnvoll, wie der Parlamentarische Staatssekretär bereits dargestellt hat.
Ich sehe, die Lampe leuchtet auf, und möchte deshalb zum Schluß kommen.

(Frau Wollny [GRÜNE]: Gott sei Dank!)

Es gibt eine Neigung der Deutschen, sich selbst und ihr eigenes Land mit sehr kritischen und strengen Maßstäben zu messen. Wenn man einmal einen Vergleich mit anderen Ländern anstellt, kommt man doch zu dem Ergebnis, daß es in Europa kein Land gibt, in das so viele Ausländer möchten, in dem so viele leben möchten wie in der Bundesrepublik Deutschland.

(Zurufe von den GRÜNEN: Was ist im Sudan? — Was ist in Somalia?)

Die amtlichen Zahlen des Hohen Flüchtlingskommissars der UN besagen, daß in den letzten Jahren wiederholt mehr als 50 % aller nach Westeuropa kommenden Ausländer in die Bundesrepublik gekommen sind. Warum sind sie denn gekommen? Doch nicht, weil sie in ein ausländerfeindliches Land wollen, sondern deshalb, weil sie in ein Land wollen, in dem Ausländer humane, soziale und wirtschaftliche Bedingungen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns durch eine kluge und unserem Volk verständliche Ausländerpolitik dafür sorgen, daß die Rechtsradikalen diesen immer noch breiten Konsens unseres Volkes nicht zerstören.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114930500
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schröer.

Thomas Schröer (SPD):
Rede ID: ID1114930600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jede Rede, die Herr Spranger nicht hält, ist ein Gewinn für die politische Kultur unseres Landes. Heute hat er geredet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU: Dummerhaft ist das! — Billig und primitiv! — Dr. Penner [SPD]: „Lassen Sie mich in Ruhe" !)

— Herr Dr. Penner sagt: „Lassen Sie mich in Ruhe." Das läßt sich auch auf andere Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses übertragen, die oft nicht begreifen, daß es bei dem Thema Ausländer um mehr geht als um den Vollzug von Rechtspolitik. Es geht hier um Menschenrechtspolitik. Das ist der gravierende Unterschied.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ich bin für mutige Schritte in der Ausländerpolitik. Deshalb verschweige ich nicht meine persönliche Sympathie für Ihren Antrag zur Änderung des Bundeswahlgesetzes. Aber die Erfahrung lehrt: Wer den zweiten Schritt vor dem ersten tut, steht in der Gefahr zu stolpern. Der erste Schritt heißt jetzt: kommunales Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer.

(Beifall des Abg. Oostergetelo [SPD])

Hierfür streiten wir. Dies allein ist schon schwierig genug.
Aus schwer erfindlichen Gründen ist die Diskussion um politische Teilhaberechte für Ausländer in unserem Lande schwieriger als in den meisten unserer Nachbarländer.
Herrn Spranger würde ich empfehlen, in den Niederlanden nicht nur Urlaub zu machen, sondern sich dort auch einmal um die politische Situation vor Ort zu kümmern. Dann wird er merken: Alle Parteien in den Niederlanden unterstützen dieses kommunale Wahlrecht für Ausländer und denken jetzt über ein Wahlrecht auch zum Reichstag nach, aber als zweiten, nicht als ersten Schritt.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114930700
Herr Abgeordneter Schröer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Olderog?

Thomas Schröer (SPD):
Rede ID: ID1114930800
Bitte, Herr Dr. Olderog.

Dr. Rolf Olderog (CDU):
Rede ID: ID1114930900
Herr Schröer, Sie haben eben das kommunale Wahlrecht für Ausländer als den ersten Schritt bezeichnet, und Sie haben gesagt, man solle nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun, nämlich auch das Bundestagswahlrecht einführen. Ist



Dr. Olderog
es die Meinung Ihrer Partei, daß nach dem ersten Schritt dann auch sehr schnell der zweite Schritt, nämlich das Wahlrecht zum Bundestag, folgen sollte?

Thomas Schröer (SPD):
Rede ID: ID1114931000
Ich bin nicht der Pressesprecher meiner Partei; ich sage meine persönliche Meinung. Ich denke, wenn wir die guten Erfahrungen machen, die die Niederlande und andere Staaten, z. B. Dänemark, mit dem kommunalen Wahlrecht für Ausländer gemacht haben, dann wird sich über viele Jahre eine Diskussion bei uns in der Gesellschaft darüber ergeben, ob man nicht auch andere Formen von politischer Teilhabe in unserem Lande entwickeln muß. Darum wird es gehen.

(Beifall bei der SPD)

Was ich nicht möchte — das zielt auch direkt auf Ihre Frage — : Ich möchte mich nicht hinter verfassungsrechtliche Argumente zurückziehen. Diese sind Ihnen ebenso bekannt wie mir. Ich habe es in vielen Diskussionen als peinlich empfunden, daß manche Politiker, gerade von der rechten Seite des Hauses, immer dann die Verfassung entdecken, wenn sie etwas nicht wollen, etwas zurückdrängen wollen. Zu diesen will ich nicht zählen.
Gleichwohl — das gilt jetzt wieder für die Kolleginnen und Kollegen von den GRÜNEN — bleibt es ein Unterschied, ob man in unseren schlecht klimatisierten Abgeordnetenräumen ein Papier erarbeitet oder ob man es in der harten Luft von Flensburg bis Konstanz in der Öffentlichkeit vertreten muß. Das ist ein Unterschied, den Sie einfach zur Kenntnis nehmen sollten.

(Frau Eid [GRÜNE]: Das können wir!)

Ausländerpolitik ist auf Akzeptanz angewiesen.

(Dr. Olderog [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Wer die multikulturelle Gesellschaft will, dem sind — so paradox sich das anhören mag — Behutsamkeit und offensive Beharrlichkeit gleichermaßen anzuraten. Ihr Antrag zum Bundeswahlgesetz überschreitet die Verstehensgrenze unserer Mitbürger. Deshalb werden wir ihm nicht folgen.
Herbert Wehner hat mir einmal einen Brief geschrieben. Damals war ich noch gar nicht im Bundestag, sondern ich war nur Wahlkampfleiter in meinem Unterbezirk. In seinem Brief hat er, bezogen auf unseren Wahlkampf, den Satz geschrieben: „Erst diesen gewinnen, dann weitersinnen. " Das übertrage ich jetzt auf unser Thema. So sollten wir es auch mit dem Wahlrecht für Ausländer halten. Wir sollten erst das Kommunalwahlrecht gewinnen, und dann weitersinnen.

(Häfner [GRÜNE]: Das ist typisch SPD: immer auf halber Strecke stehenbleiben!)

Meine Damen und Herren, Ihre drei weiteren Anträge entsprechen in vielen Punkten unseren eigenen Intentionen. Sie werden dies sehen, wenn wir in der kommenden Woche unseren eigenen Entwurf für ein neues Bundesausländergesetz diesem Hause zuleiten werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den GRÜNEN, wir werden Ihre Anträge im einzelnen in den Ausschüssen diskutieren und dabei das Maß an Gemeinsamkeiten ausloten. Ich denke, dieses Maß an Gemeinsamkeit ist größer, als es manchen — bei Ihnen wie bei uns — lieb ist. Damit werden wir leben müssen.
Wichtiger ist, wir bemühen uns um Gemeinsamkeit in der Auländerpolitik, nicht um jeden Preis, aber doch soweit es möglich ist. Deshalb nutze ich die Gelegenheit, um auch Herrn Dr. Hirsch für das Gesprächsangebot zu danken, das er anläßlich der Debatte vor drei Wochen gemacht hat. Wir werden gern zu gegebener Zeit auf dieses Angebot zurückkommen, und zwar einfach deswegen, weil Gemeinsamkeit in diesem Bereich jedem von uns vielleicht intern Schwierigkeiten bereiten mag, aber den Betroffenen nutzt; denn die sind nur Behandelte, aber nicht Handelnde.

(Häfner [GRÜNE]: Um die sollte es gehen!)

Deshalb ist Gemeinsamkeit notwendig, und wir sollten uns darum auch gemeinsam bemühen.
Die Zeit reicht nicht, im einzelnen auf Ihre Anträge einzugehen. Ich sage deshalb in Stichworten: Niederlassungsrecht — ja, eigenständiges Aufenthaltsrecht — ja, Einbürgerung durch Geburt — ja, Doppelstaatsangehörigkeit — ja. Das sind Tendenzbeschreibungen, keine Zustimmungen im Detail. Da werden Sie sich noch auf manches vorbereiten müssen, aber das können wir im Ausschuß klären. Ich will nur sagen: Was Sie tendenziell beschreiben, entspricht auch unserer Meinung.
Apropos Doppelstaatsangehörigkeit: Mir sind die beredten Klagen mancher Kollegen aus der CDU/ CSU noch gewärtig, die mit der Doppelstaatsangehörigkeit quasi die deutsche Nation in Gefahr geraten sahen. Nun lese ich ihn in einem Interview mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Professor Dr. Roman Herzog, hierzu — ich zitiere — :
Verfassungsrechtliche Hindernisse kenne ich nicht. Man muß nochmal völlig neu darüber diskutieren, was an der Doppelstaatsangehörigkeit nun wirklich so störend und gefährlich sein soll.
Da ist man doch als schlichter Abgeordneter wieder mal verblüfft, wie liberal Konservative werden, wenn sie aus christdemokratischer Kabinettsdisziplin entlassen werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Tatsache ist, die Ermöglichung der Doppelstaatsangehörigkeit ist eines der wichtigsten und zugleich sensibelsten Themen des Ausländerrechtes. Es gibt eine kulturelle Hemmschwelle, seine angestammte Staatsbürgerschaft einfach ab- und sich eine neue zuzulegen. Solche Art von emotionaler Bindung sollte uns nicht fremd sein, sollte gerade Konservativen nicht fremd sein. Wir Sozialdemokraten achten sie und wollen sie beachten. Deshalb treten wir für die erleichterte Doppelstaatsangehörigkeit ein.
Meine Damen und Herren, eine abschließende Bemerkung muß ich an die Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion DIE GRÜNEN richten. Sie haben es nicht zuwege gebracht — das unterscheidet Sie als kleine Fraktion verständlicherweise immer von der



Schröer (Mülheim)

großen Fraktion der SPD — , einen in sich schlüssigen Entwurf für ein neues Ausländergesetz vorzulegen.

(Zuruf von den GRÜNEN: Das kommt noch!)

Sie doktern an einzelnen Paragraphen des geltenden Ausländerrechtes von 1965 herum, das in seiner Gänze immer noch dem preußischen Fremdenrecht verhaftet ist. Fremdenrecht ist aber Polizeirecht. Wir setzen an die Stelle von Polizeirecht Bürgerrecht. Um es bildlich zu sagen: Sie betreiben Ausbesserungsarbeiten, wir wollen etwas Neues bauen. Baumeister sind gefragt, wo immer man sie finden kann. Sie wissen, es gibt einen Lehrstellenmangel im Baumarkt. Wenn Sie sich anbieten, sind Sie herzlich willkommen.

(Heiterkeit bei den GRÜNEN)

Wir lassen uns bei diesen Baumeisterarbeiten von zwei Prämissen leiten: Einmal muß Ausländerpolitik mit Augenmaß betrieben werden. Sie kann nicht in klimatisierten Räumen entstehen, sondern sie muß in der Diskussion mit Menschen entstehen und dort Zustimmung finden.
Das zweite ist noch viel wichtiger: Ausländerpolitik ist mehr, als juristische Vorgaben umzusetzen. Ausländerpolitik vollzieht sich vor Ort im Gespräch mit den Betroffenen, und deshalb ist es auch ein Stück Menschlichkeit, das in dieses Thema eingebracht werden muß, und wir wollen, um es ganz schlicht zu sagen, gute Nachbarn für alle Ausländerinnen und Ausländer in diesem Lande sein.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114931100
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1114931200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schröer, ich nehme gerne auf, was Sie gesagt haben. Wir sollten so viel wie möglich in der Ausländerpolitik gemeinsam verabschieden und natürlich die Gespräche nicht anhand irgendwelcher Teilstücke führen, sondern anhand einer Gesamtkonzeption. Wir haben hier drei Teilgesetzentwürfe vorliegen. Wir haben schon in der letzten Debatte ausgeführt, daß wir in der Koalition eine Gesamtlösung des Ausländerrechts verabredet haben, und wir gehen davon aus, daß der Gesetzentwurf unmittelbar nach der Sommerpause veröffentlicht werden kann, damit allen Beteiligten klar wird, welche politische Grundkonzeption wir verfolgen.
Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland. Vielleicht wird sie wieder ein Einwanderungsland werden. Sie war jedenfalls einmal ein Einwanderungsland. Wir müssen aus dieser Tatsache Konsequenzen ziehen. Wir müssen von Ausländern nicht nur Integration fordern, sondern wir müssen auch bereit sein, sie selbst zu leisten. Ziel eines vernünftigen in die Zukunft weisenden Ausländerrechts muß es sein, Ausländern und ihren Familien, die wir selbst in die Bundesrepublik geholt haben oder die einen erheblichen Teil ihrer Arbeitskraft in unsere Gesellschaft investiert haben, eine offene Aufnahme, eine völlige Integration zu ermöglichen, wenn sie es wollen.
Wir müssen bereit sein, auch die Ausländer und ihre Familien zu integrieren, denen wir nach unserer Verfassung oder darüber hinaus aus humanitären Gründen Aufnahme gewährt haben. Wir dürfen sie nicht nur als eine Belastung betrachten. Sie sind auch eine Bereicherung unseres gemeinsamen Lebens.

(Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜNEN)

Ziel einer Ausländerpolitik muß es sein, die Einheit der Europäischen Gemeinschaft zu fördern, die ja nicht nur aus Deutschen besteht. Ziel einer Ausländerpolitik muß es sein, Ausländer nicht nur als Sicherheitsrisiko oder unter polizeilichen Gesichtspunkten zu betrachten, sondern als Menschen, die ein Schicksal haben, mit denen wir meistens nicht tauschen wollen, die eine Familie haben, die bei uns arbeiten wollen und die ihre Kinder hier großziehen wollen. Darum bin ich über die pauschalen Äußerungen des Generalbundesanwalts empört, die ich in diesen Tagen in der Zeitung habe lesen müssen: „Die hohe Zahl von Ausländern sei ein Faktor der Instabilität für die Sicherheit der Bundesrepublik." So bestätigt man Rechtsradikale in ihren Vorurteilen.

(Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜNEN)

Diese Äußerung ist nicht nur in dieser Pauschalität schlicht falsch, sondern der Generalbundesanwalt richtet als ein Repräsentant dieses Staates mit seinen Bemerkungen mehr Unheil an als manche, die er verfolgt.

(Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜNEN)

Diese Ideologie gehört ins vorige Jahrhundert, und der Mann müßte pensioniert werden.

(Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜNEN)

Aber nun zu den Anträgen der GRÜNEN:

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114931300
Herr Abgeordneter Dr. Hirsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Penner?

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1114931400
Ja, wenn es auf die Zeit nicht angerechnet wird.

Dr. Willfried Penner (SPD):
Rede ID: ID1114931500
Herr Kollege Hirsch, da Sie die Frage der Pensionierung anschneiden: Wer ist denn Bundesjustizminister der Bundesrepublik Deutschland?

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1114931600
Herr Kollege Penner, Sie wissen ja genau, wer dies ist. Ich möchte doch darum bitten, daß wir eine Frage, die ich hier am Rande als Illustration erwähnt habe, nicht zum Gegenstand dieser Debatte machen. Ich möchte hier über das Ausländerrecht sprechen.
Meine Damen und Herren, jeder Gedanke stirbt an seiner Übertreibung. Darum kann es nicht Ziel der Ausländerpolitik sein, jeden hier geborenen Ausländer zum Deutschen zu machen, ob er will oder nicht. Ziel der Ausländerpolitik kann es nicht sein, es jedem Ausländer dieser Erde völlig freizulassen, ob er auf Dauer hier leben will oder nicht. Wir müssen ja



Dr. Hirsch
schließlich auch daran denken, daß Westeuropa mit seiner wirtschaftlichen Anziehungskraft auch zur Entwurzelung vieler Menschen beiträgt. Damit lösen wir zwar die wirtschaftlichen Probleme derjenigen, die wir nach Westeuropa kommen lassen, aber wir lösen damit nicht die Probleme derjenigen, die in ihren Ländern zurückbleiben.
Wir müssen auch daran denken, daß wir nicht hemmungslos die aktive bewegliche Intelligenz und Arbeitskraft anderer Völker ausbeuten können, die sie selbst brauchen, um aus ihren wirtschaftlichen Problemen herauszukommen. Ziel einer Ausländerpolitik kann es auch nicht sein, über die Aufnahmebereitschaft der deutschen Bevölkerung schlicht hingewegzugehen, obwohl die Integrationslasten in unserer Gesellschaft ganz unterschiedlich verteilt sind. Wenn wir uns schlicht darüber hinwegsetzen, würden wir mehr Ausländerfeindlichkeit erzeugen, als politisch erträglich wäre.
Nur, Herr Kollege Olderog, diese Tatbestandsbeschreibung entbindet uns doch nicht von der Verpflichtung, alles zu tun, um die Aufnahmefähigkeit und die Aufnahmebereitschaft unserer Bevölkerung zu vergrößern, nicht ihre Angst zu fördern, die manche haben, sondern ihr deutlich zu machen, daß es sich um Menschen handelt, ob Europäer oder Nichteuropäer, um Menschen, die in die Bundesrepublik gekommen sind, nicht weil sie uns für ein Jammertal halten, sondern weil sie uns für einen Rechtsstaat halten. Das ist doch der Punkt. Es geht um Menschen, die wir selber hierher geholt haben.
Wir wollen ein kommunales Wahlrecht innerhalb der Europäischen Gemeinschaft auf Allseitigkeit als ein Instrument der europäischen Integration. Wir wollen die Einbürgerung von in der Bundesrepublik lebenden Ausländern wesentlich erleichtern und den hier aufgewachsenen Ausländern der zweiten Generation eine Option auf den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit einräumen, wie alle unsere westlichen Nachbarn das schon im geltenden Recht haben. Wir wollen diese jungen Ausländer aber nicht mit einer Automatik überfallen. Wir wollen ihnen eine Wiederkehr-Option einräumen, wenn sie mit ihren Eltern zusammen die Bundesrepublik haben verlassen müssen.
Wir wollen die Familienzusammenführung drästisch erleichtern und natürlich auch den Ehepartnern ein eigenes Aufenthaltsrecht einräumen, wenn die Ehe gescheitert sein sollte. Aber es kann nicht so gehen, daß die Ehe nur am Tag der Einreise bestanden haben muß, keinen Tag vorher und keinen Tag hinterher.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114931700
Herr Abgeordneter Dr. Hirsch, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1114931800
Bitte.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114931900
Herr Abgeordneter Oostergetelo.

Jan Oostergetelo (SPD):
Rede ID: ID1114932000
Herr Kollege, Sie haben zu Recht das kommunale Wahlrecht als einen wichtigen Bestandteil bezeichnet, den Sie wollen. Darf ich nachfragen, wann es endlich dazu kommt und ob es nicht
richtig ist, zu überlegen, daß es eigentlich keinen Sinn macht, daß zumindest mittelfristig in Bayern zwar ein Grieche oder ein Ire, aber kein Österreicher, oder in Dänemark kein Schwede, aber sehr wohl ein Spanier wählen kann? Müßten wir nicht die Freiheit haben, wirklich allen das kommunale Wahlrecht zu geben?

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1114932100
Herr Kollege, was das letzte angeht, müssen Sie die Frage stellen, wie wir Europa richtig begrenzen, ob wir Österreich und die Schweiz auffordern sollten, vielleicht auch auffordern müssen, sich in irgendeiner Weise an diesem Europa zu beteiligen, das in der Tat nicht an den Grenzen der heutigen Europäischen Gemeinschaft aufhört.
Wir müssen aber auch die andere Seite des Problems sehen, über die wir immer so vornehm hinweggehen, nämlich die Tatsache, daß Sie dann, wenn Sie Ausländern — auch solchen mit weniger Homogenität zu unserer Bevölkerung, als sie ein Schweizer oder ein Österreicher aufweisen — das Wahlrecht einräumen, ihnen wohl kaum auf Dauer die Möglichkeit verwehren können, eigene Parteien zu bilden oder sich zu eigenen Parteien zusammenzuschließen.
Da frage ich, ob Sie wirklich glauben, daß das der Integration mehr dient, als wenn wir sagen: Laßt uns den Weg gehen, die Einbürgerung drastisch zu erleichtern, damit jeder, der in diesem Land leben und bleiben will, unter berechenbaren Umständen die deutsche Staatsangehörigkeit mit allen Rechten und Pflichten erwerben kann. Das scheint mir sehr viel vernünftiger zu sein, als einen Weg zu eröffnen, dessen Ende ich nicht erkennen kann.

(Beifall bei der FDP)

Wir haben uns entschieden, zu sagen: Kommunales Wahlrecht auf Allseitigkeit oder Gegenseitigkeit — wie es in der Europäischen Gemeinschaft heißt — als ein Schritt der europäischen Integration. Das scheint mir akzeptabel und auch politisch vernünftig zu sein. Aber wenn ich den Antrag der GRÜNEN lese, der sagt: Bundestagswahlrecht nach fünf Jahren auch für jeden, der nur geduldet fünf Jahre in der Bundesrepublik lebt,

(Zuruf des Abg. Dr. Olderog [CDU/CSU])

dann stelle ich mir die Frage nach der Manipulation, die sich daraus in drastischer Weise ergibt, und welche Motivationen einem solchen Antrag zugrunde liegen. — Gut.
Wir wollen die Ausweisung von Ausländern auf schwerwiegende Tatbestände begrenzen und Kinder, deren Eltern hier leben, nicht ausweisen. Aber es ist natürlich nicht hinnehmbar, die Ausweisung grundsätzlich auszuschließen, unabhängig davon, ob ein Ausländer beispielsweise glaubt, seine Privatkriege auf unserem Boden austragen zu müssen oder in der Bundesrepublik mit Rauschgift handeln zu können. Da müssen wir im Interesse unserer eigenen Landsleute und Mitbürger klare Grenzen ziehen.

(Beifall bei der FDP — Dr. Olderog [CDU/ CSU]: Können Sie sich vorstellen, daß der Generalbundesanwalt vielleicht an solche Tatbestände gedacht hat?)




Dr. Hirsch
— Dann wäre der Generalbundesanwalt besser beraten gewesen, sich zunächst einmal die Kriminalitätsstatistik anzusehen und zu erklären, was jeder Sachkenner in dieser Frage weiß, daß es nämlich keine höhere Ausländerkriminalität gibt als bei der vergleichbaren deutschen Bevölkerung, und dann soll er aufhören als Fachmann einen solchen horrenden Unsinn zu reden, der die Leute aufhetzt, womit er das Gegenteil dessen tut, was er tun sollte; er soll zum inneren Frieden in dieser Gesellschaft beitragen und nicht zum Haß.

(Beifall bei der FDP — Dr. Penner [SPD]: Herr Hirsch, wer hat denn die Verlängerung der Dienstzeit vorgeschlagen und mitgetragen?)

— Ich bin nicht bereit, hier über eine Personalfrage zu diskutieren.

(Lachen des Abg. Dr. Penner [SPD]: — Dr. Olderog [CDU/CSU]: Sie machen es doch pausenlos!)

Wir reden über das Ausländerrecht.

(Dr. Penner [SPD]: Sie reden doch über den Generalbundesanwalt, und bedauern, daß er noch im Amt ist, und der von Ihnen gestellte Justizminister hat dazu beigetragen! — Zuruf von der CDU/CSU: Wer redet denn hier!)

— Frau Präsidentin, das ist jetzt schon so, als ob wir die Parlamentsreform hinter uns hätten.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114932200
Darf ich jetzt einmal darum bitten, daß das Wort beim Herrn Abgeordneten Dr. Hirsch bleibt, oder Sie übernehmen hier das Wort.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die Parlamentsreform!)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1114932300
Herr Kollege Penner, was mir nicht gefällt, das ist, daß Sie eine offene und, wie ich finde, notwendige Bemerkung benutzen wollen, um darauf einen parteipolitischen Hickhack aufzuziehen.

(Widerspruch bei der SPD)

Mir geht es darum, Ihnen hier eine klare Distanzierung von dieser, wie ich finde, unverantwortlichen Äußerung zu bieten.

(Zuruf von der SPD: Ist ja in Ordnung!)

Um zum Schluß zu kommen: Wir vermissen das Maß in den Gesetzentwürfen der GRÜNEN. Ich bin sicher, daß wir nach der Sommerpause in eine umfassende und realistische Diskussion zur Ausländerpolitik eintreten können und eintreten werden.

(Beifall bei der FDP)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114932400
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, die Gesetzentwürfe der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/4462 bis 11/4464 und 11/4466 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes
— Drucksache 11/2276 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (13. Ausschuß)

— Drucksachen 11/4718, 11/4737 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Schartz (Trier) Frau Weyel

(Erste Beratung 80. Sitzung)

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4763 vor.
Der Abgeordnete Schartz (Trier) hat seinen Änderungsantrag auf Drucksache 11/4736 zurückgezogen.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Weyel.

(Zuruf von der SPD: Die Regierung muß doch anfangen! — Gegenruf von der CDU/CSU: Laßt sie doch reden!)


Gudrun Weyel (SPD):
Rede ID: ID1114932500
Es ist ein etwas seltsames Verfahren Frau Präsidentin und meine Damen und Herren, denn das heißt, daß wir natürlich überhaupt keine Chance haben, zu dem Stellung zu nehmen, was die Vertreter der Koalition und der Regierung sagen.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114932600
Frau Weyel, darf ich dann einmal unterbrechen. Wenn Herr Schartz bereit ist zu beginnen,

(Schartz [Trier] [CDU/CSU]: Einverstanden!)

— er hat es eben gesagt —, dann wechseln wir um.

Gudrun Weyel (SPD):
Rede ID: ID1114932700
Notfalls nehme ich noch eine Minute das Wort, wenn Sie etwas sagen, was mir nicht gefällt.
Im Gesetzentwurf zur Änderung des Weingesetzes wird neben der Anpassung an den Stand des Gemeinschaftsrechts als Ziel genannt, eine qualitätsorientierte Ertragsregulierung für die Weinerzeugung zu schaffen und wirksame Maßnahmen für deren Überwachung zu treffen. Dieses waren die beiden Absichten, die mit der Änderung des Weingesetzes verbunden waren. Damit wollte die Bundesregierung zunächst einmal die Verpflichtung vom Dubliner Gipfel 1984 einlösen. Wir erinnern uns: Es gab damals eine recht kritische Situation, es gab große Probleme mit der Destillation, und wir waren sehr froh darüber, daß es Abmachungen gab, die auf die besondere Lage des deutschen Weins als eines Qualitätsweins Rücksicht nahmen.
Die nationalen Vorschriften über den zulässigen Hektarertrag sollen neu gefaßt werden, um der Ab-



Frau Weyel
sicht des Art. 11 der Verordnung 823/87 EWG gerecht zu werden. Wir sind der Auffassung, mit einer Beschränkung des Ertrags könnte eine Steigerung der Qualität erreicht werden — darüber waren wir uns übrigens in den Anfangsphasen auch immer einig —, die letzten Endes den Ruf des deutschen Weins als eines Qualitätsweins festigen kann und damit auf Dauer auch eine angemessene Preisgestaltung sichern sollte. Der Regierungsentwurf entsprach so, wie er zunächst vorgelegt wurde, weitgehend den Absichten, die damit verbunden waren.
Zu einem Problem möchte ich noch getrennt Stellung nehmen. Die Möglichkeit der Übermengenlagerung war notwendig, um Rücksicht auf die besondere Situation des deutschen Weins zu nehmen, dessen Erträge sowohl quantitativ wie qualitativ von Jahrgang zu Jahrgang sehr stark schwanken. Die Übermengenregelung bietet nicht nur die Möglichkeit eines quantitativen Ausgleichs, also die Möglichkeit, einen schwachen Jahrgang durch einen stärkeren zu ersetzen, sondern auch die Möglichkeit, einen qualitativ hochwertigen Wein in einem zweiten Jahr auf den Markt zu bringen, wenn in diesem Jahr vielleicht ein qualitativ nicht befriedigender Wein geerntet worden ist.
Die SPD-Fraktion hat diese Absichten der Novellierung des Weingesetzes von vornherein voll unterstützt, soweit es um die Verbesserung der Qualität durch Beschränkung der Menge geht. Auch der Deutsche Weinbauverband hat das, was nicht gewöhnlich ist, voll mitgetragen. Er schlägt den Winzern Einschränkungen vor, um damit auf die Dauer eine bessere wirtschaftliche Situation herbeizuführen.
Dieser breite Konsens aller Beteiligten bot eigentlich eine gute Basis für eine zukunftsweisende Regelung.

(Sehr richtig! bei der SPD)

Diese Chance ist mit der jetzt veränderten Fassung vertan worden. Es ist auf präzise Festlegungen verzichtet worden. Durch die Berücksichtigung von Sonderwünschen aus einzelnen Weinbauregionen ist das Ziel der Qualitätssteigerung durch Ertragsbeschränkung absolut verfehlt worden. Es mag sein, daß das in dem einen oder anderen Fall durch vernünftige Landesbestimmungen wieder reguliert werden kann, aber das Gesamtkonzept wurde zugunsten der Durchsetzung von Einzelinteressen aufgegeben. Praktisch verzichtet der Bundesgesetzgeber auf eine konkrete Vorschrift für den Gesamtbereich der Bundesrepublik.

(Susset [CDU/CSU]: Und das ist richtig!)

Die Änderungen sind gar nicht so leicht festzustellen. Es sind eigentlich nur zwei Sätze gestrichen und ein Halbsatz hinzugefügt worden. Aber in der Konsequenz heißt das, daß wir überhaupt keine Regelung vornehmen, sondern schlicht und einfach die Regelung den Ländern überlassen.

(Susset [CDU/CSU]: Und das ist richtig!)

Übertrieben ausgedrückt, könnte man sagen, daß aus dem Gesetz folgendes geworden ist: EG-Vorschriften gelten mit den Nummern der jeweils gültigen Fassung, und alles andere können die Länder machen,
wie sie wollen, und zwar durch Rechtsverordnung, was bedeutet: ohne parlamentarische Kontrolle. Gut, man kann das vertreten, aber unsere Absicht ist es nicht.
Herr Susset, man muß nur einmal die Begründung lesen, gerade zu dem, was die Württemberger Belange betrifft. Wenn man sich die Begründung der Bundesregierung zu diesem Kapitel des Gesetzentwurfes anschaut — —

(Susset [CDU/CSU]: Das war eine falsche Begründung!)

— O, das war gut! Der Herr Susset hat festgestellt, daß die Regierung für das Gesetz eine falsche Begründung gegeben hat.

(Susset [CDU/CSU]: So ist es!) Das ist hochinteressant.


(Zuruf von der SPD: Aus seiner Sicht!)

Mir scheint, es wird jedem deutlich, daß hier die Populisten über die eigentliche Absicht der Novelle gesiegt haben.
Deshalb lehnt die SPD-Fraktion die Änderung des Weingesetzes in dieser Fassung ab. Der Zweck einer qualitätsorientierten Ertragsbegrenzung wird mit der Fassung, die jetzt vorliegt, nicht erreicht.

(Zustimmung bei der SPD)

Wir müssen eins sehen: Vor allen Dingen der nahe Wahltermin der Kommunalwahl in Rheinland-Pfalz hat nicht unwesentlich zu diesem Ergebnis beigetragen. Aber die Frage ist, ob das nicht ein Sieg am f al-schen Platz war. Denn wir müssen fragen: Was wird die Kommission mit diesem Ergebnis anfangen? Wie wird sie sich darauf einstellen? Es ist auch zu fragen: Wird damit das internationale Renommee des deutschen Qualitätsweins wirklich erhöht, oder hat man einfach vergessen, daran zu denken?

(Zuruf von der SPD: Kuhhandel!)

Ich möchte etwas zu dem Vorschlag der GRÜNEN sagen, wie er im Ausschuß war — leider lag mir bis eben Ihr Änderungsantrag nicht vor — : Der Versuch, den ökologischen Weinbau sozusagen als Regelanbau zu nehmen, hat zwei Probleme aufgeworfen. Erstens stellt sich die Frage: Ist ein solches Sondergebiet die richtige Stelle, um eine allgemeine Forderung, die nur für diesen Bereich gelten soll, einzuführen.
Zweitens gibt es das Problem: Wir haben immer noch keine klar abgegrenzte Definition, was das eigentlich alles ist. Wenn klare Abgrenzungen vorliegen, haben wir nichts dagegen, wenn ein so gewonnener Wein entsprechend bezeichnet wird. Aber das kann nicht die Regel sein.
Ich möchte noch auf einen Mangel des Gesetzes hinweisen, den aber nur die Rechtsexperten lösen können. Wir haben eine Menge Vorschriften und Verordnungen der EG aufgelistet. Aber kein Mensch, der in dieses Gesetz hineinguckt, kann sich vorstellen, was das eigentlich heißt. Wir haben über diese Frage gesprochen. Ich meine, daß sich die Rechtsexperten zur Beziehung von EG-Recht und Bundesrecht einmal überlegen müssen: Wie eigentlich soll der Bundesbürger, der den deutschen Gesetzestext mit den Verwei-



Frau Weyel
sungen auf das EG-Recht liest, wissen, wie er sich verhalten soll, um gesetzestreu zu sein?

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114932800
Frau Abgeordnete Weyel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kreuzeder?

Gudrun Weyel (SPD):
Rede ID: ID1114932900
Bitte schön.

Matthias Kreuzeder (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114933000
Frau Weyel, die Kriterien, nach denen auch in unserem Antrag festgemacht wurde, was biologischer Landbau bedeutet, sind die international anerkannten Kriterien der IFOAM. Würden Sie auch diese anerkennen?

(Zuruf von der SPD: Das stimmt ja nur für einen Teil des Antrags!)


Gudrun Weyel (SPD):
Rede ID: ID1114933100
Wir haben bei der ganzen Diskussion über die Kriterien dafür festgestellt: Es gibt einige, die von bestimmten Vereinen festgelegt und auch kontrolliert sind. Aber dieses ist für die Rechtsetzung des Bundes nicht genug. Der Bund kann auch nicht die Aufsicht ausüben, die in den Verbänden, z. B. in Vereinen wie Demeter, von ihnen selber ausgeführt wird und wo man dann ausgeschlossen werden kann, wenn man die Kriterien nicht erfüllt.

(Abg. Kreuzeder [GRÜNE] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage)

— Bitte sehr, wenn ich dann meinen letzten Satz noch sagen darf.

Matthias Kreuzeder (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114933200
Frau Weyel, Sie sind meiner Frage ausgewichen. Die Anbaurichtlinien der IFOAM sind international anerkannt, und wir haben in unserem Antrag diese Kriterien gefordert.

Gudrun Weyel (SPD):
Rede ID: ID1114933300
Aber international, doch nicht als Rechtsgrundlage für nationales Recht. Sie sind bei denjenigen anerkannt, die sich für diesen Bereich interessieren. Aber sie sind doch nicht rechtsverbindlich festgesetzt.

(Frau Wollny [GRÜNE]: Dann muß man das tun!)


Matthias Kreuzeder (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114933400
In Österreich und in der Schweiz sind diese Richtlinien bereits anerkannt.

(Zuruf von der SPD: Aber bei uns nicht!)

Bei uns geht es scheinbar nicht. Oder wie soll ich das
verstehen?

Gudrun Weyel (SPD):
Rede ID: ID1114933500
Dieses Problem muß man dann auf der Gesamtebene lösen und nicht für einen kleinen Zweig der gesamten Landwirtschaft. Ich meine, der Weinanbau, der mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen hat — gerade in den nordeuropäischen Weinregionen, ich rechne auch das Elsaß dazu — , ist nicht das geeignete Probierfeld. Man sollte zunächst einmal mit anderen Dingen anfangen, die bei uns problemloser wachsen und angebaut werden.

Matthias Kreuzeder (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114933600
Frau Weyel, glauben Sie, daß diese Bundesregierung — —

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114933700
Herr Kreuzeder, Sie haben jetzt dreimal nachgefragt. Das Problem ist, soweit es ging, beantwortet worden.
Herr Abgeordneter Jaunich.

Horst Jaunich (SPD):
Rede ID: ID1114933800
Frau Kollegin Weyel, können Sie bestätigen, daß nach dem Antrag der GRÜNEN die IFOAM-Bestimmungen nur für im Ausland hergestellten Wein gelten sollen? Das ist die Ziffer 2 des Antrages.

Gudrun Weyel (SPD):
Rede ID: ID1114933900
Das kann ich nicht bestätigen, weil ich den Antrag bisher noch nicht gesehen habe.
Es tut mir leid, daß Sie den Antrag nicht im Ausschuß vorgelegt hatten. Dann hätte man vielleicht ein bißchen ausführlicher darüber reden können.
Ich möchte zum Schluß sagen: Wir begrüßen die Einführung des Kontrollzeichens für alle im Inland abgefüllten Weine, denn wir wollen für die Zukunft verhindern, daß es Weinskandale wie in der Vergangenheit gibt. Dafür scheint uns das Kontrollzeichen ein nützliches Mittel zu sein.

(Beifall bei der SPD)

Diesem Teil der Ausschußempfehlung werden wir also zustimmen.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114934000
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schartz.

Günther Schartz (CDU):
Rede ID: ID1114934100
Frau Präsident! Sehr geehrte Damen und meine Herren! Ich will mich bemühen, im Rahmen meiner Redezeit zu dem anstehenden Gesetz für die Fraktion der CDU/CSU Stellung zu nehmen.
Meine Damen und Herren, die Lage auf dem europäischen Weinmarkt ist bedrückend. Sie hat ihre Ursache in der Ausweitung der Rebfläche, der Steigerung der Hektarerträge und nicht zuletzt auch im Rückgang des Weinkonsums in wichtigen Ländern der EG, wie Frankreich und Italien, wo der Weinverbrauch je Kopf der Bevölkerung kontinuierlich gesunken ist. Die Aufnahme der bedeutenden weinbautreibenden Länder Spanien und Portugal hat zu einem weiteren Anstieg der Weinproduktion geführt. So produziert heute die Europäische Gemeinschaft rund 140 % ihres Bedarfes an Wein.
Sehr geehrte Damen und meine Herren, an dieser Überproduktion hat die Weinwirtschaft der Bundesrepublik keinen Anteil. Nur knapp 50 % der in Deutschland getrunkenen Weine stammen aus deutscher Produktion. Die gesamte Entwicklung in der EG aber erzwingt Überlegungen, das Angebot, d. h. die Produktion von Wein, und den Verzehr von Wein in Einklang zu bringen. Deswegen stellen die europäische Kommission, die nationalen Regierungen und auch die Verbände der Weinwirtschaft Überlegungen an, diese Voraussetzung, den Einklang von Produktion und Verzehr, zu erfüllen.
Die Kommission vertritt dabei die Auffassung, daß zur Eindämmung der Weinproduktion eine Ertragsbegrenzung, das heißt in ihrem Sinne: eine Ertragsreduzierung, unumgänglich ist.



Schartz (Trier)

Ich habe Verständnis für diese Überlegungen der Kommission, nicht zuletzt auch deswegen, weil die Intervention auf dem Tafelweinmarkt hohe Beträge aus der EG-Kasse beansprucht. Ich möchte aber eindeutig sagen: Die Weinproduktion muß nach meiner festen Überzeugung dort eingeschränkt werden, wo die Überschüsse auch tatsächlich entstehen, d. h. dort muß die Einschränkung greifen, wo mehr produziert als getrunken wird. Das ist gerade in der Bundesrepublik Deutschland nicht der Fall. Wir produzieren weniger als wir verbrauchen.

(Gilges [SPD]: Das ist doch Quatsch! Es geht ja nach der Qualität der Anbaugebiete und nach der Qualität der Weine!)

— Verehrter Herr Kollege, es ist nicht allein die Frage nach der Qualität und nach der Unterschiedlichkeit, es ist die Frage, welcher Wein denn eigentlich in seiner Spezialität gebraucht wird, und es ist die Frage, ob es Rechtens ist, daß die Europäische Gemeinschaft heute noch bei einem bestehenden Überschuß von 140 % in den neu beigetretenen Mitgliedsländern die Anpflanzung großer Flächen mit Reben überhaupt erlaubt.
Ich bin der Meinung, sehr geehrte Damen und meine Herren: Wenn die Bundesrepublik Deutschland ihren Winzern auferlegt, die Produktion einzuschränken, so ist dies eine besondere Leistung der Bundesrepublik gegenüber der Europäischen Gemeinschaft. Ich bin persönlich sogar der Meinung, daß es richtig wäre, die Freiheit der Regelung des Weinanbaus und des Weinmarktes, die für die Weinwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland notwendig wäre, auch dadurch gegenüber der EG zu erkaufen, daß wir auf jegliche Intervention bei Wein für die Zukunft verzichten sollten.
Im Hintergrund der Überproduktion und der Nichtfinanzierbarkeit der Überschüsse hat die EG vorgeschlagen, EG-einheitliche Höchstmengen einzuführen. Dies wäre, das ist meine feste Überzeugung, für den deutschen Weinbau tödlich. Auch die Absicht der Kommission, drastische Abstufungen bei der Weinbezeichnung vorzunehmen, ist unannehmbar, gerade aus der Sicht eines Landes, in dem die Schwankungen der Erträge von Jahr zu Jahr klima- und lagebedingt sind. Deswegen war es richtig — ich unterstreiche, was Frau Kollegin Weyel gesagt hat — , daß vor diesem Hintergrund die Regierungschefs in Dublin beschlossen haben, nationale Regelungen einzuführen.
Die Bundesregierung hat — ich möchte dies besonders betonen — in engster Zusammenarbeit mit den weinbautreibenden Ländern, den Verbänden der Weinwirtschaft und insbesondere mit dem Deutschen Weinbauverband einen Gesetzentwurf erstellt, dessen Zielsetzung in einer geordneten Beschickung des Weinmarktes, in einer Steigerung der Qualität, in einer angemessenen Reduzierung der in Deutschland erzeugten Weinmengen und in einer sicheren Kontrolle der ganzen Maßnahmen besteht. Ich persönlich
— erlauben Sie mir diese Bemerkung — messe der in diesem Gesetz begründeten, geordneten und dosierten Beschickung des Weinmarktes eine besondere Bedeutung zu.
Erlauben Sie, Frau Kollegin Weyel, daß ich Ihre Aufmerksamkeit erbitte. Ich möchte den Grundaussagen ihres Vortrags widersprechen. Ich halte es für einen Vorzug, daß dieses neue deutsche Weingesetz zwei wichtige Grundsätze befolgt: zum einen die Berücksichtigung der regionalen Besonderheiten in der Bundesrepublik Deutschland

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

und zum anderen die Umsetzung wichtiger Bestimmungen dieses Gesetzes durch die Bundesländer. Es ist ja fast schizophren, daß in der deutschen Weinpolitik von der Bundesregierung und von den Weinwirtschaftsverbänden immer wieder darauf hingewiesen wird, daß Regionalisierung notwendig ist und wir nicht bereit seien, eine Regionalisierung auf nationaler Ebene zuzulassen.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114934200
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller (Schweinfurt)?

Günther Schartz (CDU):
Rede ID: ID1114934300
Ja.

Rudolf Müller (SPD):
Rede ID: ID1114934400
Herr Kollege Schartz, könnten Sie mir dann erklären, warum der Deutsche Weinbauverband zwar dem Entwurf der Bundesregierung zugestimmt hat, aber dem Gesetzentwurf, wie er aus den Ausschüssen kommt, nicht mehr zustimmt und nicht bereit ist, dafür eine Verantwortung zu übernehmen?

(Susset [CDU/CSU]: So stimmt das nicht!)


Günther Schartz (CDU):
Rede ID: ID1114934500
Herr Kollege Müller, mit allem Respekt: Es sind zum einen Divergenzen in der Sache und zum anderen innere Vorkommnisse im Deutschen Weinbauverband, in dessen Vorstand ich lange genug gesessen habe.
Ich bedaure es sehr — lassen Sie mich dieses klare Wort zu dieser Frage sagen — , daß es unterschiedliche Aussagen in der Spitze des Deutschen Weinbauverbandes bei den Anhörungen in den Ausschüssen des Bundestages gegeben hat, zu denen die einzelnen Gebietsvertreter mit genau demselben Nachdruck vorgetragen haben. Ein so bedeutender Berufsverband wie der Deutsche Weinbauverband wird aber die Kraft haben, die Meinungen, die sich in seiner Klientel aus unterschiedlicher Interessenlage heraus bilden, zusammenzufassen,

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

um dadurch gegenüber der Bundespolitik noch größere Bedeutung zu haben.

(Gilges [SPD]: Das heißt, auf Ihre Interessen einzugehen! — Dann hat er Bedeutung!)

— Herr Kollege, ich gehe davon aus, daß Sie das nicht ganz so ernst gemeint haben. Ich will auch nicht in der gebotenen Schärfe darauf antworten.

(Susset [CDU/CSU]: In Berlin gibt es wenig Weinbau! — Müller [Schweinfurt] [SPD]: Darf ich noch eine Frage stellen?)

— Ja, bitte schön. Wenn die Frau Präsidentin das erlaubt, sehr gerne.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114934600
Ja.




Rudolf Müller (SPD):
Rede ID: ID1114934700
Herr Kollege Schartz, Sie wissen doch auch, daß sich die Weinbauverbände der Länder vorher für den Entwurf der Bundesregierung ausgesprochen hatten. Stimmen Sie dem zu?

Günther Schartz (CDU):
Rede ID: ID1114934800
Natürlich, das ist die Wahrheit. Es hat innerhalb der Bundesländer und der Weinbaugebiete eine Veränderung der jeweiligen Meinungen gegeben. Deswegen halte ich es für sehr begründet, daß wir in diesem Gesetz ganz bewußt einer Regionalisierung die Tür geöffnet haben und daß wir die Ausführung der Detailregelungen dieses Gesetzes den Landesregierungen auferlegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In diesem Gesetz setzen wir unveränderbare Rahmen. Wir führen mit diesem Gesetz eine Mengenregulierung auf Bundesebene ein. Wir geben den Ländern auf, die entsprechenden Erträge nach der regionalen Besonderheit festzusetzen. Wir führen mit diesem Gesetz ein Kontrollzeichen ein. Die Länder werden nicht die Möglichkeit haben, an diesem Kontrollzeichen vorbeizugehen.
Ich meine also, daß gerade die bewußte Regionalisierung den Interessen des deutschen Weinbaues, die ja nicht einheitlich sind und die von der Struktur und der Produktionsgüte her ja ganz unterschiedlich sein können, den Wert dieses Gesetzes ausmachen. Ich stelle mich hier ganz bewußt, lieber Herr Kollege Müller, in den Gegensatz zur SPD.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114934900
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller (Pleisweiler)?

Günther Schartz (CDU):
Rede ID: ID1114935000
Natürlich, gern.

Albrecht Müller (SPD):
Rede ID: ID1114935100
Kollege Schartz, können Sie uns erklären, warum Sie von 1984 bis jetzt gebraucht haben, um so wenig Klarheit zu schaffen, wie in diesem Entwurf enthalten ist?

Günther Schartz (CDU):
Rede ID: ID1114935200
Ich glaube, daß diese Bemerkung falsch ist. Dieser Gesetzentwurf zeichnet sich durch Klarheit in der Rahmensetzung aus, und er zeichnet sich dadurch aus, daß die Landesregierungen mit in die Pflicht genommen werden, weil sie die regionalen Besonderheiten am ehesten berücksichtigen können. Er zeichnet sich, Herr Kollege, auch dadurch aus, daß er auf einer seit Jahrzehnten geübten Linie der deutschen Weinpolitik, mehr Regionalisierung in der EG zu verlangen, liegt und sie befolgt.
Ich darf, sehr geehrte Damen und Herren, meine Ausführungen gerade in diesem Bereich fortführen. Die weinbautreibenden Länder legen die zulässigen Hektarhöchsterträge fest. Sie haben sich dabei nach einer Festlegung zu richten, die sowohl die Verschiedenheit der Anbaugebiete, von Teilen von Anbaugebieten, von Qualitätsgruppen, von Rebsorten und von Rebsortengruppen berücksichtigen kann. So wie ich die Anhörungen in den Ausschüssen des Bundestages verstanden habe, wird zur Zeit daran gedacht, die Hektarhöchsterträge für ganze Gebiete festzulegen. Die Zeit wird zeigen, ob dies richtig ist oder ob man geringere Unterteilungen vornehmen kann.
Die Schaffung eines Kontrollzeichens, die Einführung einer Weinbaukartei und durch die Abbuchung
der verkauften Weinmengen im Zusammenhang mit diesem Kontrollzeichen wird Klarheit und richtige Kontrolle möglich machen. Ich fordere aber mit Nachdruck, daß diese nationale Kontrolle hinsichtlich einer wesentlichen Verbesserung der Importweinkontrolle ausgedehnt wird. Ich bin ziemlich sicher, daß durch dieses gesamte Kontrollsystem nicht nur der deutsche Winzer, sondern vor allem auch der deutsche Verbraucher geschützt wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mir scheint wichtig zu sein, daß wir in unserem Bundesgesetz festgeschrieben haben, daß alle in der Bundesrepublik Deutschland abgefüllten Weine inländischen und ausländischen Ursprungs mit einem Kontrollzeichen versehen werden müssen. Ich gehe davon aus — ich glaube, das ist auch die Meinung des Deutschen Bundestages —, daß diese Kontrollzeichen zwischen deutschem und nichtdeutschem Wein unterschiedlich gestaltet werden müssen.
Eine Lücke in diesem Gesetz ist vorhanden. Das ist die Tatsache, daß mit diesem Gesetz keine Kontrollzeichen für Schaumweine und Qualitätsschaumweine eingeführt werden. Meine Fraktion unterstützt gerne einen Entschließungsantrag, über den wir zu befinden haben, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, bis zum 31. Dezember 1990 ihre Vorstellungen über die Einführung eines Kontrollzeichens vorzulegen.
Ich erlaube mir hier gegenüber der Bundesregierung den Hinweis auf die Notwendigkeit, daß sie bis zum 31. Dezember 1990 auch ihre Vorstellungen über die Kontrolle importierter Weine nach Inkrafttreten des Binnenmarkts vorzulegen hat.
Der marktordnerische Charakter, meine sehr geehrten Damen und Herren, dieses neuen Gesetzes wird besonders durch die Regelung unterstrichen, daß Erzeugergemeinschaften als ein Betrieb gelten. Die Abgrenzungen dieser Regelung sollen die Landesregierungen treffen. Die besonders schwierigen gesamtwirtschaftlichen Verhältnisse des Weinbaugebiets Mosel-Saar-Ruwer und die dort bestehenden ungünstigen Produktions- und Vermarktungsstrukturen bedingen die Regelung, daß bis zum 31. Dezember 1994 aus den Übermengen dieses Gebietes Schaumweine und Qualitätsschaumweine hergestellt werden dürfen. Die Erfahrung wird zeigen, ob die besonders schwierigen Verhältnisse in diesem Weinbaugebiet durch diese, wie ich meine, sinnvolle Regelung positiv beeinflußt werden können und ob der Zeitraum für diese Regelung richtig gewählt ist.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114935300
Herr Abgeordneter Schartz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Weyel?

Gudrun Weyel (SPD):
Rede ID: ID1114935400
Nur zu Ihrer Bemerkung betreffend die übergreifenden Bereiche. Glauben Sie nicht — unabhängig davon, daß für ein bestimmtes Gebiet vielleicht keine Absatzprobleme bestehen —, daß in einzelnen Gebieten doch eine Ungleichbehandlung erfolgt, nämlich wenn in einem Gebiet sehr große unterschiedliche Betriebe bei der Regelung der Menge zusammengefaßt werden und ein Ausgleich



Frau Weyel
überbetrieblicher Art erfolgen kann, während das anderswo nicht möglich ist?

(Susset [CDU/CSU]: Ihre Frage war völlig falsch!)


Günther Schartz (CDU):
Rede ID: ID1114935500
Frau Kollegin, die Regelungen, die wir im Rahmen dieses Gesetzes zu beschließen haben, werden sich nicht auf ein einzelnes Gebiet beschränken. Ich weiß, welches Gebiet Sie meinen. Ich brauche es nicht zu nennen.
Ich meine, es geht hier um eine besondere Regelung für die marktwirtschaftlich notwendigen und zur Erhaltung der Preisstabilität richtigen Erzeugerzusammenschlüsse. Wir haben hier bewußt die Erzeugergemeinschaften gefördert, was die Austauschbarkeit der Mengen in einem großen Gebiet anbelangt, Frau Kollegin Weyel. Es wird den Landesregierungen obliegen, die Austauschbarkeit zu begrenzen. Ich bin der Meinung, daß die Regelung im Verordnungsentwurf des Landes Rheinland-Pfalz eine gute Regelung ist. Hier ist die Verantwortung der Bundesländer ganz besonders gefordert.
Erlauben Sie mir noch wenige Worte zu dem Antrag der GRÜNEN, die Bezeichnung „aus kontrolliert ökologischem Anbau" zuzulassen. Herr Kollege Kreuzeder, ich will es nicht in derben Worten sagen, aber lesen Sie Ihren eigenen Antrag durch. Dort werden Sie kein einziges Wort über die Beschreibung des ökologischen Anbaus finden. Sie finden nur den Bezug auf Regelungen in anderen Ländern. Was aber ökologischer Anbau bedeutet, wird in Ihrem Antrag mit keinem einzigen Wort beschrieben. Ich meine, wir sollten uns, was die Kennzeichnung so hergestellter landwirtschaftlicher Produkte anbelangt, darauf einigen, daß wir hier eine Gesamtregelung, wenn sie denn gewünscht wird, finden müssen und daß sie kontrollierbar sein muß. Sonst ist das Betrug an dem, der glaubt, etwas zu kaufen, was nicht Inhalt des Produktes ist.

(Abg. Kreuzeder [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Frau Präsident, ich bin nicht schuld, wenn es lange dauert. Ich bin gerne bereit, die Frage zuzulassen.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114935600
Ich bitte um Verständnis. Wenn wir dieses Verfahren fortsetzen, führen wir keine 30minütige, sondern eine 90minütige Debatte. Herr Kreuzeder, bestehen Sie auf Ihrer Frage?

(Kreuzeder [GRÜNE]: Ja!)

— Bitte.

Matthias Kreuzeder (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114935700
Herr Schartz, sind Sie mit mir einer Meinung, daß Sie hier einen Vergleich ziehen, etwa in dem Sinn: Wenn auf einem Papier der Bundesregierung steht „BML" und nicht „Bundeslandwirtschaftsministerium", dann findet dasselbe in bezug auf unseren Antrag statt. IFOAM oder AGÖL sind sehr genaue Vorschriften; nur, es sind Kürzel. Wir wollten es Ihnen ersparen, die Anbaukriterien zu nennen, die für Sie wahrscheinlich sowieso aus einer anderen Welt kommen.

Günther Schartz (CDU):
Rede ID: ID1114935800
Herr Kollege Kreuzeder, ich finde gerade diese Schlußbemerkungen absolut abwegig. Sie sind durch nichts begründet. Wenn der Bundesgesetzgeber, also wir, für die Bundesrepublik Deutschland die Bezeichnung „aus kontrolliert ökologischem Anbau" zuläßt, dann müssen wir, der Bundesgesetzgeber, uns Gedanken darüber machen, was eigentlich Inhalt dieser Bezeichnung zu sein hat. Das ist weder in Ihrem Antrag noch sonstwo geschehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte deutlich machen, daß die CDU/CSU-Fraktion gegen den Antrag der GRÜNEN stimmen wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe selbst einen Änderungsantrag eingebracht, der auf der Überlegung fußt, die auch Frau Kollegin Weyel hier soeben vorgetragen hat. Wir debattieren heute über die sechste Änderung eines deutschen Weingesetzes. Das Weingesetz wurde immer nur in Teilen geändert. Ich halte es für dringend geboten, daß die Bundesregierung nach Inkrafttreten dieses Gesetzes das gesamte nach der heutigen Entscheidung gültige Gesetz im Zusammenhang veröffentlicht. Das wird eine Erleichterung für die gesamte deutsche Weinwirtschaft sein. Ich habe den Antrag nur deswegen zurückgezogen, weil ich keine Fristeinrede provozieren wollte und damit die Verabschiedung des Gesetzes gefährdet hätte.
Ich darf zusammenfassend feststellen, meine sehr geehrten Damen und Herren: Dieses Gesetz ist begründet in der Absicht der EG, Regelungen auf dem Gebiet der Weinwirtschaft zu treffen, die für die deutschen Winzer untragbar wären. Um dies abzuwenden, mußte der nationale Gesetzgeber handeln.
Dieses Gesetz bringt einschneidende Bestimmungen zur Regelung der Produktion und zur Kontrolle des Absatzes. Es wird die Produktionsmengen begrenzen, die kontinuierliche Beschickung des Weinmarktes sichern und Verbrauchern und Winzern ein hohes Maß an Sicherheit für die Qualität des Produkts geben.
Dieses Gesetz — das möchte ich besonders hervorheben — bietet die Möglichkeit, den regionalen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Das ist gut so.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114935900
Herr Abgeordneter Schartz, ich muß Sie bitten, jetzt zum Schluß zu kommen.

Günther Schartz (CDU):
Rede ID: ID1114936000
Frau Präsidentin, drei Sätze.
Dieses Gesetz — ich möchte nicht versäumen, darauf hinzuweisen — birgt die Gefahr eines zu starken Eingriffs in die Weinwirtschaftsabläufe, ja, es bringt die Gefahr einer Bürokratisierung mit sich. Alle an der Weinwirtschaft Beteiligten — die Produzenten, die Vermarkter, die Organisationen der Weinwirtschaft und nicht zuletzt die Regierungen, die es umzusetzen haben — rufe ich auf, besonders einer Intention zu folgen: den Interessen der deutschen Verbraucher und derjenigen der deutschen Winzer zu dienen.



Schartz (Trier)

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114936100
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Flinner.

Dora Flinner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1114936200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Lage des deutschen Weinbaus ist durch Niedrigpreise und weitgehende Existenzgefährdung der Winzer gekennzeichnet. 15 % der Betriebe arbeiten mit Verlust. Bei fast der Hälfte liegt der Gewinn unter 20 000 DM im Jahr. Die Wein- und Mostpreise, vor allem in Rheinhessen, in der Pfalz und im Moselgebiet, liegen seit Jahren jenseits jeder Rentabilität.
Die herrschende Weinbaupolitik benachteiligt die Kleinbetriebe und bevorzugt die Großkellereien. Sie hat die Billigimporte aus Italien, Südfrankreich und Tunesien erst ermöglicht.
Gleichzeitig trägt der konventionelle Weinbau hohe Mitschuld an der ökologischen Katastrophe: Nitrateinträge ins Grundwasser und Bodenerosionen sind die Folge der mit Agrarchemie ermöglichten Übernutzung der Böden.
Was wird nun durch die Änderung des Weingesetzes passieren? Welche Wirkungen werden die Ertragsbegrenzungen haben? — Weder Verbraucherschutz noch Verantwortung für die Winzerfamilien rechtfertigen den vorgelegten Ansatz. Die staatliche Ertragsregelung wird nicht zu einer höheren Weinqualität führen. Damit verfehlt das Gesetz vollkommen seine angebliche Zielsetzung. Im Gegenteil: Es verschärft zusätzlich die Lage kleiner Winzerbetriebe, wogegen Genossenschaften und flächenstarke Betriebe bevorteilt werden, einerseits weil sie sich durch die Überlagerungsmöglichkeiten einen Ausgleich schaffen können, andererseits dadurch, daß sie beim Einsparen von Arbeitskräften einen Spielraum haben.
Außerdem müssen wir uns bewußt machen, daß mit diesem Gesetz ein grundsätzlich neuer Tatbestand in die bundesdeutsche Wirtschaftsordnung eingeführt werden soll: eine Ertragsbegrenzung, mit der keine Preisgarantie verbunden ist. Wie verträgt sich das mit Ihrer Vorstellung von freier und sozialer Marktwirtschaft, meine Damen und Herren von der Koalition?

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sind das die Umsetzungen Ihrer Politik im freien Binnenmarkt? Der bürokratische Aufwand, den die Mengenregulierung verursacht, und die gewaltigen Kosten, die damit verbunden sind, sind durch nichts zu rechtfertigen.
Bei Einführung des Kontrollzeichens, das keine wirklich aussagefähige Funktion hat, wird noch erheblicher Mehraufwand zu erwarten sein. Die geplante Regelung sieht auch in keiner Weise eine Verbesserung der ökologischen Situation vor.
Aus allen diesen Gründen lehnen wir das vorgelegte Gesetz ab.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir fordern dagegen ein umfassendes weinbaupolitisches Konzept mit folgenden Schwerpunkten:
Erstens: Förderung des ökologischen Weinbaus durch finanzielle Unterstützung der Umstellung auf ökologischen Weinbau und die Aufnahme des Bezeichnungsrechtes in das Weingesetz entsprechend dem von uns eingebrachten Änderungsantrag.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Zweitens. Die Weinqualität muß langfristig und effektiv durch eine entsprechende Preisdifferenzierung gesichert werden. Gemäß dem Anteil eingeflossener Arbeit müssen gestaffelte Preismodelle entwickelt und verwirklicht werden.
Drittens. Wir wollen einen Umbau der Weinwirtschaft unter umweltschützerischen, qualitätsorientierten und marktregulierenden Zielsetzungen, der auch die Förderung bereits bestehender ökologischer Weinbaubetriebe vorsieht.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dazu gehören auch die Verankerung der Qualitätsanforderungen an Rebsorten im Weingesetz sowie die Rückführung des Einsatzes von Pestiziden und Düngemitteln.
Viertens. Wir streben weiter Maßnahmen zur Existenzsicherung und Marktstabilisierung an. Hierzu gehört die Rückführung der Einfuhr ausländischer Billigweine ebenso wie die europaweite Einführung der Abfüllung von Wein im Erzeugergebiet.
Meine Damen und Herren, so wie wir die Umorientierung der Agrarpolitik zu einer bäuerlich-ökologischen Landwirtschaft fördern, wollen wir auch eine Politik für den ökologischen Weinbau fördern.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich bedauere es, auch wenn der Landwirtschaftsausschuß bei diesem Gesetz nicht federführend ist, daß Herr Kiechle heute nicht da ist.
Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114936300
Das Wort hat der Abgeordnete Heinrich.

Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1114936400
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich ist die Materie es doch wert, daß man nicht ganz so tierisch ernst ist. Ich möchte mir deshalb mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin, erlauben, einen Schluck von diesem köstlichen Wasser zu trinken. —

(Jaunich [SPD]: Ja, wenn es doch nur Wein wäre! — Zuruf von der CDU/CSU: Prost!)

Und auf gut schwäbisch sage ich: Wie isch des Wasser so gut, hätt' i mei Häusle noch!

(Frau Flinner [GRÜNE]: Das ist nicht schwäbisch, nein!)

Also, so soll es natürlich nicht gehen.
Mit der 6. Novelle des Weingesetzes bekommen die Winzer in der Bundesrepublik Deutschland eine qualitätsorientierte Mengenbegrenzung an die Hand, die über vier Jahre land diskutiert wurde

(Dr. Thomae [FDP]: Hört! Hört!)




Heinrich
und das 1984 gegebene Wort des Bundeskanzlers beim europäischen Gipfel in Dublin einlöst.

(Jaunich [SPD]: In welchem Paragraphen ist denn das verankert?)

— Einen kleinen Augenblick! Wir kommen darauf noch zu sprechen. — Wesentlicher Inhalt der Zusage war, daß sich die Bundesrepublik Deutschland den europäischen Bemühungen um eine wirksame Mengenbegrenzung anschließt und ein eigenes Gesetz vorlegt.
Diese Mengenbegrenzung läßt sicherlich nicht überall reine Freude aufkommen. Als Weinbaupolitiker, stammend aus Baden-Württemberg, hat man da so seine Probleme. Ich denke besonders an den Trollinger, der wegen seiner hohen Qualität und seines begrenzten Angebotes in vielen Jahren nicht verkauft, sondern zugeteilt werden mußte. Manchmal gehen wir sogar ganz besondere Wege: Bei Gesellschaften bekommen die Männer eine kleines Schnapsgläschen voll Wein, und die Damen bekommen eine Tropfen Wein auf der Stirn verrieben,

(Heiterkeit)

damit die Mengen ausreichen.
Diese Situationsbeschreibung trifft leider nicht auf alle Weinbaugebiete zu,

(Müller [Pleisweiler] [SPD]: Ist das hier eine Werbeveranstaltung?)

erst recht nicht auf die Europäische Gemeinschaft, wo jährlich drei Milliarden DM für Weinverspritung ausgegeben werden. Vor diesem Hintergrund wird auch der Dubliner Beschluß erklärlich. Denn nur der allgemeine Weinüberschuß — Herr Kollege Schartz hat ja sehr eindringlich darauf hingewiesen — innerhalb der EG rechtfertigt diese Gesetzesinitiative mit dem Ziel, mehr Ordnung in den Weinmarkt zu bekommen.
Für einen Liberalen gilt allerdings nach wie vor, daß eine freiwillige Mengenbegrenzung im wohlverstandenen Interesse der Betroffenen vor einer gesetzlichen Regelung und Reglementierung kommen sollte. Eine wirksame freiwillige Selbstbeschränkung — das muß ich allerdings zugeben — war nicht zu erzielen.
Ich bedaure, daß Europa leider zu immer mehr Bürokratie neigt. Für mich war es daher immer besonders wichtig, einen eigenen, einen sogenannten deutschen Weg in der Mengenregulierung zu gehen, der nicht nur unserem förderativen Staatsaufbau Rechnung trägt, sondern auch die natürlichen Gegebenheiten unserer deutschen Anbaugebiete wie Klima und Topographie gebührend berücksichtigt.
Frau Kollegin Weyel, ich möchte an dieser Stelle das Verständnis der SPD anzweifeln. Wie ist Ihr Vertrauen gegenüber den weinbautreibenden Ländern anzusehen, wenn Sie von einer nicht existierenden Mengenregulierung sprechen?

(Beifall bei der FPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich befürworte deshalb ausdrücklich, daß durch dieses Gesetz die Landesregierungen der weinbautreibenden Länder ermächtigt werden, durch Rechtsverordnung den zulässigen Hektarertrag für Weine
festzulegen. Ebenso können die Länder durch Rechtsverordnung festlegen, welche Bezugsgröße für die Festsetzung der Hektarerträge gewählt werden soll, nämlich unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse im jeweiligen Anbaugebiet: entweder die Ertragsrebfläche oder, bei entsprechend verminderten Hektarertragswerten, die bestockbare Rebfläche. Das ist ein eindeutiger Vorteil für mehr unternehmerischen Spielraum. Es ist aber auch ein Vorteil für mehr Umweltschutz. Denn es schafft die Möglichkeit, viren- bzw. nematodenverseuchte Weinbergböden mit Hilfe der Grünbrache zu erneuern, zu regenerieren.
Es ist uns durch die Einbeziehung der Zusammenschlüsse, von Erzeugergemeinschaften und Winzergenossenschaften, gelungen, auch diese als einen Betrieb zu werten. Voraussetzung dafür ist, daß alle Rebflächen, deren Trauben die Mitglieder voll abzurechnen haben, voll einbezogen sind. Wir sind damit einer berechtigten Forderung des baden-württembergischen Berufsstandes nachgekommen. — Frau Präsidentin, ich habe noch zwei Sätze, wenn Sie mir das gestatten. Meine Vorredner hatten entschieden überzogen.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Aber ich nicht! Das stimmt nicht!)

Um die Hektarertragsregelung, die eine unbegrenzte Überlagerung vorsieht, erfolgreich einführen zu können, ist meines Erachtens eine wirksame Ausgangskontrolle mit einem Kontrollzeichen unerläßlich. Dadurch werden nicht nur die in der Bundesrepublik Deutschland erzeugten Weine kontrolliert, sondern auch der gesamte in der Bundesrepublik Deutschland abgefüllte Wein einbezogen und damit die unzulässigen Euroverschnitte verhindert.
Diese Gesetzesnovelle bringt zum einen — das sei zum Abschluß gesagt — für den Verbraucher erhebliche Vorteile, was das Angebot an hoher Qualität und besonderer Spezialität deutscher Weine anbelangt. Sie berücksichtigt zum anderen besonders die Umweltbelange und trägt darüber hinaus durch eine marktregulierende Wirkung dazu bei, daß die Ertragslage der Winzer langfristig stabilisiert werden kann.

(Jaunich [SPD]: Das sind aber zwei lange Sätze gewesen!)

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Müller [Schweinfurt] [SPD]: Wo steht das im Gesetz?)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114936500
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Pfeifer.

Anton Pfeifer (CDU):
Rede ID: ID1114936600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt nachdrücklich, daß die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs heute noch so rechtzeitig möglich geworden ist, daß die weinbautreibenden Bundesländer bereits im kommenden Herbst die



Parl. Staatssekretär Pfeifer
qualitätsorientierte Mengenregelung anwenden können,

(Jaunich [SPD]: Sie meinen nicht: kommenden Sonntag?)

die das Kernstück dieses Gesetzentwurfs ist.

(Müller [Pleisweiler] [SPD]: So was muß man im Winter anwenden, wenn verschnitten wird!)

Wie Sie wissen, sind wir zur Einführung einer Hektarertragsregelung schon seit Inkrafttreten der EWG-
Weinmarktorganisation im Jahre 1970 verpflichtet.

(Müller [Pleisweiler] [SPD]: Keine Ahnung!)

Die Erfahrungen mit dem Weingesetz in der geltenden Fassung haben gezeigt, daß mit ihm die Ziele der Gemeinschaftsnorm nicht erreicht werden, nämlich durch eine Verminderung der Erntemenge zugleich eine Steigerung der Weinqualität und eine Stabilisierung des Marktes zu erreichen.
Die EG-Kommission hat — das ist in dieser Debatte bereits gesagt worden — deshalb schon 1984 den Versuch unternommen, die bislang den Erzeugermitgliedstaaten überlassene Regelung der Einzelheiten des zulässigen Hektarertrags und der Folge seiner Überschreitung im Gemeinschaftsrecht zu treffen. Sie hat sich dabei an der in Frankreich geltenden Regelung orientiert. Dem hat sich, meine Damen und Herren, die Bundesregierung von Anfang an widersetzt.
Ich möchte hier zum Ausdruck bringen, daß es dem besonderen Einsatz des Bundeskanzlers auf dem Europäischen Rat in Dublin zu danken ist, daß die EG-Kommission ihren Vorschlag nicht durchsetzen konnte. Für den Weinbau in Deutschland war das in meinen Augen ein wichtiger Erfolg. Denn für unseren Weinbau brauchen wir eine Regelung, die sich nicht an den Erzeugerbedingungen anderer Länder, sondern an den klimatischen Verhältnissen unserer Anbaugebiete mit ihren enormen Ernteschwankungen in Menge und Qualität orientiert.
Es wäre in meinen Augen keinem vernünftigen Menschen vermittelbar, wenn unsere Winzer gezwungen werden sollten, die in einem guten Erntejahr wie z. B. 1983 anfallende Übermenge von hervorragender Qualität zu destillieren oder anderweitig zu denaturieren und sich im folgenden Jahr mit einer kleinen Ernte schlechter Qualität zu begnügen.
Das im Gesetzentwurf enthaltene Modell einer durch Kontrollzeichen überwachten qualitätsorientierten Mengenregulierung mit unbeschränkten Überlagerungs- und Austauschmöglichkeiten wird den deutschen Verhältnissen unter Wahrung des gemeinschaftsrechtlichen Rahmens gerecht. Frau Kollegin Weyel, ich meine deshalb: Dieses Gesetz ist keine verpaßte Chance.
Allerdings — da möchte ich Ihren Überlegungen folgen — müssen wir uns darüber im klaren sein, daß wir weitere Versuche aus Brüssel in Richtung einer EG-Regelung nur abwehren können, wenn unsere nationale Regelung in der Praxis überzeugende Ergebnisse hervorbringt und damit den Beweis dafür
liefert, daß sie die Ziele der Gemeinschaftsregelung erreicht.
Wir werden daher die Wirksamkeit der gesetzlichen Neuregelung in der Praxis aufmerksam verfolgen und Verbesserungen unverzüglich dann anbringen, wenn sich diese als erforderlich erweisen sollten.

(Zuruf von der SPD: Immer wieder neue Änderungen!)

Zunächst aber sind die weinbautreibenden Bundesländer aufgerufen, die ihnen übertragenen Durchführungsregelungen rasch zu erlassen und dabei den ihnen eingeräumten weiten Spielraum so auszufüllen, daß der angestrebte Erfolg erreicht wird, nämlich die Weinmenge zu vermindern, dadurch die Qualität zu steigern, aber dem Winzer auch ein Äquivalent für die geringere Erntemente, einen höheren Erlös für seine Erzeugnisse, zu sichern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, daß wir diesen Erfolg erreichen werden, wenn jeder an seiner Stelle das dazu Erforderliche beiträgt. Ich möchte Sie deshalb bitten, diesem Gesetzentwurf Ihre Zustimmung zu geben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114936700
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Weingesetzes, Drucksachen 11/2276 und 11/4718.
Ich rufe Art. 1 auf.
Hierzu liegt auf Drucksache 11/4763 ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für Art. 1 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Art. 1 ist mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe die Art. 1 a, 2 und 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind mit Mehrheit angenommen. — Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Keine. Der Gesetzentwurf ist mit Mehrheit angenommen.
Meine Damen und Herren, es ist noch über eine Entschließung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit abzustimmen, deren Annahme der Ausschuß auf Drucksache 11/4718 unter Nr. 2 empfiehlt. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! —Enthaltungen? — Die Entschließung ist bei Enthaltung der GRÜNEN angenommen.



Präsidentin Dr. Süssmuth
Ich rufe den Punkt 24 der Tagesordnung auf:
Beratung des Zwischenberichts der EnqueteKommission „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung"
— Drucksache 11/3267 —
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/4748 vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 90 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Kirschner.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1114936800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wenn der Zwischenbericht der Enquete-Kommission, über den wir jetzt diskutieren, bereits am 8. November letzten Jahres, also vor rund sieben Monaten vorgelegt wurde und wenn auch in der Zwischenzeit das sogenannte Gesundheits-Reformgesetz in Kraft getreten ist, dieser Bericht hat, sowohl was die Analyse unseres Gesundheitswesens als auch was die vorgeschlagenen Reformoptionen angeht, nichts an Aktualität eingebüßt;

(Beifall bei der SPD)

denn die Probleme der gesetzlichen Rentenversicherungen und des Gesundheitswesens sind ja durch Ihre Politik mit dem Gesundheits-Reformgesetz nicht gelöst worden.

(Günther [CDU/CSU]: Aber selbstverständlich!)

Im Gegenteil: Sie haben die Chance nicht ergriffen, die Reformvorschläge, die im Zwischenbericht, der ja rund zwei Wochen vor der zweiten und dritten Lesung des GRG vorgelegt wurde, mit zu berücksichtigen.

(Günther [CDU/CSU]: Das war viel zu spät!)

— Viel zu spät, Herr Kollege Günther? Wir haben darüber ja auch im Ausschuß rechtzeitig diskutiert.
An dieser Stelle möchte ich vor allem den berufenen Sachverständigen einen herzlichen Dank für ihre konstruktive und aktive Arbeit dafür aussprechen, daß noch vor Verabschiedung des GRG ein Zwischenbericht vorgelegt werden konnte.

(Beifall bei der SPD)

In diesen Dank möchte ich auch ausdrücklich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sekretariats einschließen, die sich weit über ihr arbeitsvertragliches Pflichtsoll engagierten.

(Beifall bei der SPD)

Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, haben das Angebot meiner Fraktion, mit der Einsetzung einer Enquete-Kommission eine Strukturreform zu schaffen, die diesen Namen verdient, nicht aufgegriffen, weil Sie sich in Ihrer Arroganz einbildeten, sowohl auf die SPD als auch auf
wissenschaftlichen Sachverstand verzichten zu können.

(Günther [CDU/CSU]: Der wissenschaftliche Sachverstand war vorhanden!)

Das Ergebnis Ihrer Politik müssen die Patienten nun auf Heller und Pfennig mit höherer Selbstbeteiligung ausbaden.

(Zustimmung bei der SPD)

Daß der Bundesarbeitsminister im Deutschen Bundestag am 27. Oktober 1988 noch glaubte, sich mit seinen sattsam bekannten leeren Sprüchen über die Enquete-Kommission auslassen zu müssen, hat nur gezeigt, daß er die bis dahin vorliegenden Berichte entweder nicht zur Kenntnis nehmen wollte oder nichts davon begriffen hat.
Der Herr Kollege Dr. Hoffacker — leider ist er nicht hier, aber ich möchte an dieser Stelle dennoch ein Wort zu ihm sagen, damit das auch ins Protokoll kommt — wird im Gelben Dienst vom 2. Juni 1989 folgendermaßen zitiert: „Die mit der Kommission verbundenen Erwartungen werden nicht erfüllt. " Und weiter: Der Abschlußbericht werde in seinem Inhalt — nun wieder wörtliches Zitat — „unterhalb des sonst bei einer Enquete üblichen Niveaus bleiben". Dazu möchte ich an dieser Stelle, im Plenum des Deutschen Bundestages feststellen, daß eine solche Feststellung weder der Arbeit noch dem Engagement, noch dem Sachverstand der Sachverständigen gerecht wird. Das halte ich für diffamierend.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Darin schließe ich auch ausdrücklich die wissenschaftlichen Mitarbeiter des Sekretariats ein. Anscheinend soll schon im Vorfeld des Endberichts dieser madig gemacht werden, damit die Bilanz im Verhältnis zum GRG nicht noch negativer für das letztere ausfällt.
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie werden ja derzeit sehr schnell vom Alltag eingeholt.

(Günther [CDU/CSU]: Der Alltag ist gut!)

Ich möchte daran erinnern, daß zu dem Zeitpunkt, als das GRG verabschiedet wurde, der Bundesarbeitsminister im Rundfunk erklärte, daß er sich nun dem Kampf gegen die Ärzteschwemme in der Bundesrepublik verschrieben habe. Der „Kölner Stadt-Anzeiger" schrieb dazu am 28. November 1988: „Kaum ist die Gesundheitsreform vom Bundestag verabschiedet, da wendet sich Arbeitsminister Blüm einem Thema zu, das im Zusammenhang mit der Reform längst hätte beraten werden müssen: die Ärzteschwemme."
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie legen uns heute einen Entschließungsantrag zum vorliegenden Zwischenbericht vor.
In den Punkten 1 und 2 stimmen Sie eine Jubelarie über Ihr GRG an.

(Frau Limbach [CDU/CSU]: Zu Recht!)

Das würde ich an Ihrer Stelle ebenfalls tun. Nur, fragen Sie doch einmal einen Dialysepatienten oder einen Krebserkrankten, wie diese das von Ihnen so be-



Kirschner
zeichnete „sozial ausgewogene Reformkonzept" — so heißt es wörtlich — beurteilen.
In den Punkten 3 und 4 fordern Sie von der Bundesregierung weitere Schritte. Sie geben damit also zu, daß Sie zentrale Bereiche, die dringendst einer Lösung hätten zugeführt werden müssen, im GRG nicht angepackt haben. Sie haben das Klassenziel, eine Reform des Gesundheitswesens zu schaffen, weit verfehlt.

(Beifall bei der SPD)

Von vornherein, meine Damen und Herren, haben Sie in Ihrem Gesetz die wichtigen Einzelbereiche der stationären Versorgung, der Überkapazitäten bei den Heilberufen und damit die Frage der Wirtschaftlichkeit bzw. der Unwirtschaftlichkeit und nicht zuletzt die Kassenorganisation ausgeklammert und für die zweite Hälfte dieser Wahlperiode versprochen. Davon ist heute nicht mehr die Rede.
Ich will aus dem vorliegenden Zwischenbericht vor allem zur Kassenorganisation einiges verdeutlichen. Der Gesetzentwurf des Landes Hamburg im Bundesrat macht erneut deutlich, wie dringlich eine Organisationsreform ist.

(Günther [CDU/CSU]: Der bezieht sich nur auf die AOK!)

Über die Lösungen und die Wege kann man ja streiten. Aber nichts zu tun ist die schlechteste aller Möglichkeiten.

(Beifall bei der SPD — Frau Limbach [CDU/ CSU]: Das hätten Sie sich mal merken sollen, als Sie die Bundesregierung stellten!)

— Liebe Frau Kollegin Limbach, Sie können nicht immer nur von früher reden. Seit 1982 stellen Sie die Regierung. Sie können nicht 7 Jahre lang immer auf die Vergangenheit verweisen.
Im übrigen darf ich darauf hinweisen: in 7 Jahren hätten Sie genug Zeit gehabt.

(Günther [CDU/CSU]: Wir haben ja gehandelt! Das beklagen Sie ja! Sie sagen doch, wir hätten es zu schnell gemacht!)

— Daß Sie gehandelt haben, sieht man ja daran, daß sich der Abstand der Beitragssätze zwischen den Kassenarten sowohl im Bundesdurchschnitt als auch vor Ort ständig vergrößert hat.

(Heyenn [SPD]: Was ist denn das für eine Klönrunde dahinten an der Regierungsbank?)

Diese Beitragssatzunterschiede sind keine abstrakten Rechengrößen, sondern sie machen sich beim einzelnen Versicherten — das wissen Sie — jeden Monat in Mark und Pfennig in seinem Portemonnaie bzw. auf seinem Konto bemerkbar.

(Heyenn [SPD]: Herr Jung, hören Sie mal zu! Das haben Sie alles verbrochen!)

Schauen Sie sich die Region Hamburg an. Der niedrigste Beitragssatz bei einer Betriebskrankenkasse beträgt 9,8 %, was einem Höchstbeitrag von 447 DM monatlich entspricht, während der Beitragssatz beispielsweise bei der AOK 15,5 % beträgt, was einem Höchstbeitrag von bis zu 708 DM monatlich entspricht. Das ist ein Beitragsunterschied von 261 DM. Die Beitragssätze der anderen Kassen, ob Ersatzkassen, Innungskrankenkassen oder Betriebskrankenkassen, liegen irgendwo dazwischen. Ich frage: Wo ist dafür eigentlich die Rechtfertigung?

(Günther [CDU/CSU]: Die AOKs können das bundesweit ausgleichen!)

Meine Damen und Herren: Die herkömmliche Gliederung der gesetzlichen Krankenversicherung hat vor allem zwei zentrale Mängel. Zum einen führt sie zu erheblichen rechtlichen, sozialen und materiellen Ungleichbehandlungen unter den Versicherten, ohne daß eine überzeugende rechtfertigende Begründung dafür zu finden ist. Das Prinzip der Gliederung rechtfertigt selber noch keine Ungleichbehandlung. Zum anderen sind massive Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Kassenarten nicht zu leugnen.
Ursache dieser Fehlentwicklung ist das auf die Verhältnisse zu Beginn unseres Jahrhunderts zugeschnittene Zuweisungssystem, dem nur bestimmte Gruppen, also vor allem Angestellte, durch Ausübung ihres Wahlrechts zu den Ersatzkassen ausweichen können. Die durch die Ungleichbehandlung zwangsläufig hervorgerufenen Unterschiede in den Risikostrukturen
— ich verweise auch auf die überproportionalen Gesundheitsgefährdungen und damit auf die höhere Morbidität bei Arbeitern — werden durch die Risikoselektion von Sonderkassen, Betriebs- und Innungskrankenkassen und speziellen Ersatzkassen, sogar noch verstärkt. Da das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherungen fast vollständig durch Gesetz geregelt ist, werden unterschiedliche Beitragssätze nur noch durch die Finanzkraft der jeweiligen Kassen auf der Einnahmenseite und den Finanzbedarf auf der Ausgabenseite hervorgerufen. Die entscheidenden Faktoren, die auf den Beitragssatz einwirken, sind die Höhe der Grundlöhne, die Risikostrukturen und die Familienlastquote.
Diese Entwicklung hat dazu geführt, daß rechtlich benachteiligte Versicherte durch die Auferlegung höchster Beitragssätze auch noch sozial diskriminiert werden. Eine bloße Modifikation des bestehenden Systems kann die Mängel nicht beseitigen.
Deshalb wird von der Enquete-Kommission das sogenannte Wahlfreiheitskonzept favorisiert. Das heißt, branchen- oder berufsspezifische Zugangsbarrieren für Versicherte sollen entfallen. Jeder Versicherte soll jede Kasse wählen können. Die gewählte Kasse muß jeden Versicherten aufnehmen — Stichwort Kontrahierungszwang. Unabdingbare Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit dieser Reform ist die Schaffung gleicher — ich betone das — Wettbewerbsbedingungen für alle Kassen, also die Schaffung eines einheitlichen Mitgliedschafts-, Beitrags-, Leistungs- und Vertragsrechts. Schutzzäune wird es dann für keine Kassenart mehr geben.
Bei einem Übergang zur völligen Wahlfreiheit wäre ohne Veränderung der Strukturen nicht zu verhindern, daß die Startchancen im Wettbewerb zwischen den Krankenkassen unterschiedlich verteilt sind. Dies ist bei den aufgeführten Beitragssatzunterschieden
— ich erinnere: zwischen 8 und 16 % — nicht verwunderlich. Um die notwendige Chancengleichheit herzustellen, werden zwei Lösungen vorgeschlagen, ein-



Kirschner
mal ein Wahlfreiheitsmodell mit sozialpolitischer Orientierung, zum anderen ein sogenanntes Wettbewerbsmodell. Ich halte das erstere für richtig. Dies ist im übrigen nichts Neues, nichts Revolutionäres. In der Krankenversicherung der Rentner, die immerhin 40 % rund der Versicherten umfaßt, wird dies seit Jahren praktiziert. Man kann sich dabei sicherlich noch Verbesserungen vorstellen. In die gleiche Richtung eines Strukturausgleichs gehen auch die Vorschläge des Sachverständigenrats der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen.

(Günther [CDU/CSU]: Für die Rentner gibt es doch einen Ausgleich! Da nutzt die Wahlfreiheit nichts!)

— Ja, das habe ich doch gesagt. Ich habe von den Risikostrukturen geredet, Herr Kollege Günther.

(Günther [CDU/CSU]: Damit kann man das Problem nicht lösen!)

Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, ich möchte an Sie appellieren, aufbauend auf den Ergebnissen des Zwischenberichts dem Deutschen Bundestag einen Endbericht zu einer Strukturreform mit Vorschlägen vorzulegen, die den Weg zu einer echten Reform ebnen. Ich meine, der Zwischenbericht bietet dazu eine hervorragende Grundlage.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114936900
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Becker.

Dr. Karl Becker (CDU):
Rede ID: ID1114937000
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf Antrag der SPD-Fraktion hatte der Deutsche Bundestag am 4. Juni 1987 nach den Bestimmungen der Minderheitenrechte die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung" beschlossen. Die SPD begründete damals ihren Antrag mit dem Wunsch nach einer breiten gesellschaftlichen und parlamentarischen Mehrheit für eine solche Strukturreform. Dies war aber von vornherein eine unerfüllbare Utopie, denn die SPD kannte die Koalitionsvereinbarungen vom März 1987, die also drei Monate zuvor geschlossen wurden.

(Jaunich [SPD]: Und die gehen vor Sachgerechtigkeit!)

Die dort vereinbarten Reformvorschläge hätten nie die Zustimmung der SPD gefunden.

(Heyenn [SPD]: Dies ist richtig!)

Andererseits bestand kein Grund für die Koalition, von ihren Vorstellungen abzurücken.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Weiterhin war man allseits von Anfang an der Auffassung — auch innerhalb der Enquete-Kommission —, daß es in der vorgegebenen Frist bis Ende September 1988 unmöglich sei, zu allen im SPD-Antrag enthaltenen Themen ausführliche Empfehlungen abzugeben. Daher haben damals bereits die Sprecher der Koalitionsfraktionen, die Kollegen Seehofer und Dr. Thomae, den Verdacht ausgesprochen, daß es sich vielmehr um ein Verzögerungs- und Störmanöver
handele, um die Absicht der Koalition zu verhindern, das Strukturreformgesetz zum 1. Januar 1989 in Kraft zu setzen. So war dies.

(Beifall bei der CDU/CSU — Heyenn [SPD]: Aber das haben Sie doch nicht geglaubt,' Herr Dr. Becker!)

Zur Analyse des Gesundheitswesens in der Bundesrepublik waren nämlich schon zahlreiche Gutachten vorhanden, und der Sachverständigenrat der Konzertierten Aktion befaßte sich schon seit längerer Zeit mit der Situation. Er hatte schon Gutachten vorgelegt.

(Dr. Hoffacker [CDU/CSU]: Die können nicht lesen!)

Die Koalitionsfraktionen akzeptierten das Minderheitenrecht der Opposition. Sie erklärten jedoch, daß für die Koalition kein neues Beratungsbedürfnis bestehe. Dies sei nur das Anliegen der Opposition, die anscheinend die bereits vorliegenden Informationen einfach ignoriere. Die Koalition werde dessen ungeachtet ihren zeitlichen Fahrplan einhalten, da die Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung keine weiteren Verzögerungen mehr zulasse.

(Heyenn [SPD]: Haben Sie das denn?) — Dieser Fahrplan wurde auch eingehalten.

Parallel zu den Beratungen des Gesundheits-Reformgesetzes arbeitete die Enquete-Kommission. Im Sommer 1988 war es aber allen Kommissionsmitgliedern klar, daß der Auftrag der Enquete in dem vorgegebenen Zeitrahmen bis Ende September nicht erledigt werden konnte. Alle Sachverständigen, auch die politischen Mitglieder, sprachen davon, daß hier nur ein Torso das Licht der Welt erblicken könne, der keinesfalls dem Auftrag der Enquete-Kommission gerecht würde. Die CDU/CSU- und FDP-Mitglieder der Enquete-Kommission bedauerten damals das Ergebnis. Die Koalitionsfraktionen haben daher an dem genannten 27. Oktober 1988, von dem eben Herr Kirschner sagte, daß dort Herr Blüm die Berichte bereits gekannt habe; die lagen zu dem Zeitpunkt noch nicht vor, Herr Kirschner — schon allein aus dem Selbstverständnis des Parlaments und in Verantwortung gegenüber der Reputation der engagierten Wissenschaftler und des fleißigen Ausschußbüros im Deutschen Bundestag den Antrag auf Verlängerung der Laufzeit der Enquete-Kommission bis Ende Juni 1988 gestellt.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114937100
Herr Abgeordneter Dr. Becker, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Karl Becker (CDU):
Rede ID: ID1114937200
Sofort, Frau Präsidentin, nach dem nächsten Satz.
Der Deutsche Bundestag nahm diesen Antrag bei Stimmenthaltung der SPD und der GRÜNEN an, die ursprünglich die Einsetzung der Enquete-Kommission beantragt hatten.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114937300
Bitte, Herr Kirschner.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1114937400
Herr Kollege Dr. Becker, ist Ihnen bekannt, daß wir im Oktober einen Bericht von den Arbeitsgruppenvorsitzenden über den Sachstand, der in der Enquete-Kommission erarbeitet worden war,



Kirschner
entgegennahmen, und ist Ihnen bekannt, daß auch die Beamten des Ministeriums diese Teilberichte, die schriftlich vorlagen, dann mitnahmen, und ist nicht davon auszugehen, daß dann der Bundesarbeitsminister diese Berichte zur Kenntnis bekam?

Dr. Karl Becker (CDU):
Rede ID: ID1114937500
Es ist mir bekannt, daß diese Berichte den Arbeitsgruppen vorgelegt wurden und daß die an das Sekretariat gegeben wurden.

(Kirschner [SPD]: In den Ausschuß wurden sie gegeben!)

In der gesamten Kommission wurden sie zu dem Zeitpunkt nicht besprochen.

(Kirschner [SPD]: Natürlich, jederzeit!)

— Nein, am 31. Oktober — ich sprach eben vom 27. Oktober —, knapp vier Wochen vor dem bereits feststehenden Abschluß der Bundestagsberatungen, beschloß die Enquete-Kommission mit Mehrheit, einen Zwischenbericht über den Stand der Arbeiten vorzulegen. Eine den Gepflogenheiten von EnqueteKommissionen im Deutschen Bundestag entsprechende erste und zweite Lesung der Berichte in der Vollversammlung der Kommission erfolgte jedoch aus Zeitgründen nicht. Die Vertreter der Koalitionsfraktionen lehnten daher den Beschluß über die vorgelegten Berichtsteile ab. In wenigen Fällen erfolgte Stimmenthaltung. Die Begründung war, daß verschiedene Aussagen in den unredigierten Berichten nicht mitzutragen waren und eine entsprechende Minderheitenstellungnahme nicht möglich war. Verschiedene Darstellungen in diesen Berichtsteilen stimmten darüber hinaus nicht mit den Aussagen der betroffenen Sachverständigen überein. Die Vertreter der Koalitionsfraktionen kündigten damals einen in sich geschlossenen Minderheitenbericht an.
Bei der Vorlage der Berichte am 7. November 1988

(Heyenn [SPD]: Wo ist denn der Minderheitenbericht?)

— ich komme gleich darauf, Herr Heyenn — in der Öffentlichkeit führte der Vorsitzende der Enquete-Kommission in seinem Vorwort zutreffend an, daß der Zwischenbericht als lückenhaft anzusehen sei, da eine Reihe von Berichtsteilen fehle.

(Günther [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Außerdem wurde bekanntgemacht, daß sich die Kommission eine weitere Arbeit an den Berichten vorbehalte. Die Oppositionsfraktionen nutzten damals weidlich in der durch die anstehende Entscheidung über das Gesundheits-Reformgesetz aufgeheizten Stimmungslage die Publizitätswelle. Eine Wirkung zu einer Verhinderung der weiteren GRG-Beratung war schon wegen der bruchstückhaften Arbeit nicht zu erwarten, Herr Kirschner.
Am 25. November 1988 wurde im Deutschen Bundestag das Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen verabschiedet.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114937600
Herr Dr. Becker, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Peter?

Horst Peter (SPD):
Rede ID: ID1114937700
Herr Dr. Becker, habe ich die Überschrift dieses Tagesordnungspunktes richtig interpretiert, daß ich erwarten konnte, etwas über den Zwischenbericht und die Inhalte des Zwischenberichts zu hören, oder war das eine historische Rückbesinnung auf den Zeitplan der Geschichte der EnqueteKommission?

Dr. Karl Becker (CDU):
Rede ID: ID1114937800
Herr Peter, ich würde Ihnen das selbstverständlich gerne gleich weiter erzählen. Sie brauchen nur zuzuhören. Unsere Redner werden über diesen Zwischenbericht noch weiter reden. Aber es müssen hier auch die Vorgeschichte dieses Zwischenberichts und die bruchstückhafte Art und Weise, wie er hier vorgebracht wurde, erwähnt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU — Jaunich [SPD]: Und wo bleibt nun das Minderheitenvotum?)

Am 25. November 1988 wurde im Deutschen Bundestag das Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen verabschiedet. Das Gesetz war notwendig. Es konnte nicht länger aufgeschoben werden. Schon waren weitere Beitragssatzsteigerungen angekündigt.

(Jaunich [SPD]: Sie reden sich das so lange ein, bis Sie selber daran glauben!)

Mitnahmeeffekte wuchsen von Tag zu Tag. Der sogenannte Blüm-Bauch kostete dann 3 Milliarden DM.

(Heyenn [SPD]: Wer hat ihn verursacht?)

Mit diesem Gesetz haben Bundesregierung und Koalitionsparteien auf einen großen Teil der im Zwischenbericht angesprochenen Reformprobleme bereits eigene Antworten gegeben.

(Jaunich [SPD]: Na, na! Belegen Sie das doch mit ein paar Beispielen!)

Deshalb war es entgegen der Ankündigung im Vorwort zum Zwischenbericht jetzt nicht mehr erforderlich, zu dem mehrheitlich beschlossenen Zwischenbericht einen in sich geschlossenen Minderheitenbericht vorzulegen.

(Jaunich [SPD]: Ja, ja!)

Daher beschränken sich die Vertreter der Koalitionsfraktionen darauf, in ihrer Stellungnahme ihre abweichenden Auffassungen zu Kapitel 1 „Aufgaben eines Krankenversicherungssystems",

(Heyenn [SPD]: Das ist jetzt der Minderheitenbericht?)

zu Kapitel 3 „Ausgestaltung einzelner Regelungsbereiche im Verhältnis von Krankenkassen zu Leistungserbringern" und zu Kapitel 4 „Prinzipien und Organisation einer solidarischen Krankenversicherung" gegenüber den dort dargelegten Zielvorstellungen, Schlußfolgerungen und Reformoptionen sowie zu den daraus abgeleiteten Empfehlungen deutlich zu machen.
Das 2. Kapitel des Zwischenberichts „Alternative Konzeptionen zur Orientierung und Steuerung eines Krankenversicherungssystems" enthält lediglich eine Darstellung der verschiedenen Konzeptionen zur Orientierung und Steuerung eines Krankenversiche-



Dr. Becker (Frankfurt)

rungssystems. Daher sehen hier die Vertreter der Koalitionsfraktionen von einer Stellungnahme ab. Dies gilt auch für die bisher vorgelegten Berichte der Arbeitsgruppen zu weiteren Reformproblemen, über die in der Kommission noch abschließend zu beraten ist. Unsere Stellungnahme wird in der Enquete-Kommission vorgelegt.

(Jaunich [SPD]: Also Sie verabschieden sich jetzt von dem Minderheitenvotum!)

Die Enquete-Kommission hat seit Juni 1987 einen großen Arbeits- und Beratungsaufwand geleistet. Sie hat viele Kommissionssitzungen und noch mehr Sitzungen der Arbeitsgruppen durchgeführt. Zahlreiche Anhörungen und Expertengespräche wurden veranstaltet, Gutachterverträge vergeben und Delegationsreisen ins Ausland durchgeführt.

(Günther [CDU/CSU]: Was? Das auch noch?)

Die Mehrheit der Kommission hat einen 450 Seiten umfassenden Zwischenbericht beschlossen. Die Arbeitsgruppen haben sechs weitere Arbeitsberichte vorgelegt.
Dies alles zeigt die große Mühe und Arbeit bei Situationsbeschreibungen des deutschen Gesundheitswesens, bei Analysen der gesetzlichen Krankenversicherung mit dem Herausarbeiten von Stärken und Schwächen dieses Versorgungssystems. Das bedeutet auch zahlreiche Optionen für Veränderungen.
Nach unserer Auffassung bedeutet das alles aber noch lange kein Reformkonzept,

(Kirschner [SPD]: Aha!)

keine erkennbaren Zielvorstellungen oder konkreten Vorschläge für die allseits als notwendig erachtete Strukturreform in der gesetzlichen Krankenversicherung.

(Günther [CDU/CSU]: Nur Analysen!)

Konkrete Handlungsanleitungen für den Gesetzgeber sind aus den umfangreichen Materialien bisher nicht zu erkennen.

(Günther [CDU/CSU]: Alles olle Kamellen!) Eine politische Einigung zeichnet sich nicht ab.

Damit werden unsere grundsätzlichen Bedenken und Vorbehalte bei der Einsetzung der Enquete 1987 in vollem Umfang bestätigt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das eigentliche Ziel der Enquete-Kommission, bis zum 30. September 1988 Vorschläge für die Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung vorzulegen, hat die Kommission bisher nicht geleistet.
Wäre die Regierungskoalition damals den Vorschlägen der Opposition gefolgt und hätte auf die eigenständige Vorbereitung, Einbringung und Verabschiedung des Gesundheits-Reformgesetzes verzichtet und statt dessen die Beratungsergebnisse der Enquete-Kommission abgewartet, so stände sie heute
und auch am Ende der Legislaturperiode mit leeren Händen da.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Jaunich [SPD]: Und so steht sie mit vollen Hosen da!)

Zu Recht hätte dann der Koalition der Vorwurf gemacht werden können, man habe in der Gesundheitspolitik die Dinge laufen lassen und nichts gegen die steigenden Beitragssätze und die Finanzbedrohung der gesetzlichen Krankenversicherung getan.

(Günther [CDU/CSU]: Das würde man uns heute vorhalten!)

Die Beitragssätze wären auch zu Beginn des Jahres 1989 weiter gestiegen und würden auch 1990 und 1991 steigen. Wären wir damals den Forderungen der Opposition gefolgt, dann hätte sich der Deutsche Bundestag für diese Legislaturperiode im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung zur gesetzgeberischen Untätigkeit verurteilt.

(Günther [CDU/CSU]: Sehr zutreffend!)

Die Koalition hat jedoch zu Recht gehandelt. Seit dem 1. Januar dieses Jahres ist das Reformgesetz in Kraft. Nach einem knappen halben Jahr zeigen sich die ersten Erfolge: Die Kassen prognostizieren, daß sie in den nächsten Jahren die Beiträge nicht erhöhen müssen. Beitragsatzsenkungen werden angekündigt.

(Günther [CDU/CSU]: So ist es!)

Versicherte und Arbeitgeber sparen Geld, und die Belastungen der Patienten sind viel geringer, als diese nach den destruktiven Verunsicherungskampagnen befürchteten.

(Günther [CDU/CSU]: Auch das ist richtig! — Beifall bei der CDU/CSU)

Zu Recht heißt es: Norbert Blüm hat doch Erfolg gehabt!

(Kißlinger [SPD]: Was, das beschließen Sie wohl gleich!)

In diesem Sinne stellen wir hier einen Entschließungsantrag zur Abstimmung. Er hebt, über die Wirkungen des Gesundheits-Reformgesetzes hinaus, die Notwendigkeit weiterer Reformschritte hervor. Die Bundesregierung wird deshalb aufgefordert, nach gründlicher Vorbereitung die erforderlichen Initiativen hier vorzulegen.
Besten Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114937900
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wilms-Kegel.

Heike Wilms-Kegel (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114938000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 15 Tage, nachdem wir hier in einer Aktuellen Stunde über das sogenannte Gesundheits-Reformgesetz debattiert haben, setzen wir uns heute mit einem qualitativ ungleich gehaltvolleren Werk auseinander.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

In diesem Zwischenbericht der Enquete-Kommission zur Strukturreform der gesetzlichen Krankenver-



Frau Wilms-Kegel
sicherung werden verschiedene wissenschaftlich gut fundierte Konzepte zur Strukturierung des Krankenversicherungssystems gleichberechtigt nebeneinander dargelegt. Keines davon enthält Elemente des Gesundheits-Reformgesetzes, wohl aber herbe Kritik daran.
Daß Sie, meine Dame und meine Herren von den Koalitionsfraktionen, damit nicht einverstanden sein können, wenn unabhängige, auch die von Ihnen selbst benannten Wissenschaftler Konzepte darstellen, die Ihr zusammengestoppeltes Gesundheits-Reformgesetz in der Klarheit der Lösungsvorschläge meilenweit hinter sich lassen und es auch noch kritisieren, zeigt Ihre Selbstgefälligkeit und Ihre Verbissenheit bei der Durchsetzung

(Zuruf der Abg. Frau Limbach [CDU/CSU])

der sogenannten und von Ihnen so gepriesenen Strukturreform des Gesundheitswesens, Frau Limbach.

(Frau Limbach [CDU/CSU]: Haben Sie es überhaupt gelesen?)

— Ich habe es tatsächlich gelesen, denn ich habe mich in derselben Zeit nicht in einer Koalitionsarbeitsgruppe beschäftigen müssen, so daß ich auch Zeit hatte, die Vorpapiere und die Entstehung genau zu beobachten und zu lesen und deswegen weiß ich auch sehr genau, wovon ich rede.

(Zuruf von der SPD: Man merkt den qualitativen Unterschied! — Frau Limbach [CDU/ CSU]: Und die Lösungsvorschläge?)

Sicher wären Sie besser beraten gewesen, wenn Sie sich und uns die Zeit gelassen hätten und die wissenschaftlichen Konzepte zur Strukturreform der Krankenversicherung zur Grundlage Ihres GesundheitsReformgesetzes gemacht hätten.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Dann wären die Beiträge lustig weitergestiegen! — Günther [CDU/CSU]: Wir hätten vier Jahre warten müssen!)

Aber Sie haben sich so sehr dem vom Arbeitgeberverb and ausgegebenen Ziel der Lohnnebenkostensenkung verpflichtet gefühlt, daß Sie wissenschaftlichen Sachverstand lieber links liegen ließen — offenbar ist Ihnen Sachverstand verdächtig — , während Sie Parolen leicht annehmen können.
Dann haben Sie auch noch großspurig ein Minderheitenvotum zu dem heute diskutierten Zwischenbericht angekündigt. Aber bis heute habe ich noch nichts davon gesehen. Ihr Gesundheits-Reformgesetz erscheint Ihnen wohl selbst zu dürftig, um gegen intelligente und gut durchdachte Konzepte bestehen zu können.
Ich möchte mich sehr herzlich bei allen Wissenschaftlern bedanken, die als Mitarbeiter der Enquete-Kommission diesen Zwischenbericht gestaltet haben. Ihnen und den übrigens in meinen Augen außerordentlich unterbezahlten wissenschaftlichen Mitarbeitern des Sekretariats ist es zu verdanken, daß bei diesem Zwischenbericht weder Mehrheitsvoten noch Minderheitsvoten nötig waren, weil alle Alternativen sorgfältig ausgearbeitet gleichberechtigt nebeneinander stehen. Selbst wir GRÜNEN können uns ohne Mühe darin wiederfinden.
Wenn diese hervorragende Zusammenarbeit der Wissenschaftler auch bei den noch ausstehenden Kapiteln in den wenigen Monaten, die bis zur Abgabe des endgültigen Berichtes noch zur Verfügung stehen, so weitergeht, werden wir, so denke ich, bei geänderten Mehrheiten eine wissenschaftlich gut fundierte Grundlage haben, um endlich eine wirkliche Strukturreform des Gesundheitswesens in Angriff nehmen zu können.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich möchte Ihre und meine Zeit nicht länger strapazieren, um erneut zu wiederholen, welches Aussehen eine „grüne" Reform des Gesundheitswesens hätte, welche unsere Hauptkritikpunkte an dem GRG sind und wo wir uns genau in diesem Zwischenbericht wiederfinden.
Wir werden übrigens heute gegen Mitternacht außerdem noch Gelegenheit haben, ein weiteres Exempel der Kostendämpfungspolitik dieser Koalition, das sogenannte Rettungsassistentengesetz, zu debattieren. Bis dahin bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114938100
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Thomae.

Dr. Dieter Thomae (FDP):
Rede ID: ID1114938200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind der SPD für diese Initiative dankbar. Sie gibt uns die Möglichkeit, dort weiterzumachen, wo wir in der letzten Woche aufgehört haben, nämlich hier und in aller Öffentlichkeit den Beweis zu erbringen, daß die SPD zwar viel über die Krankenversicherung diskutiert, aber bisher nichts gegen steigende Beiträge getan hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Jaunich [SPD]: So ein Quatsch!)

Hätten wir 1987, als Sie die Einsetzung der Enquete-Kommission forderten, auf Sie gehört, wären die Beiträge zwischenzeitlich sicherlich mindestens auf 13,4 % angestiegen; wahrscheinlich wären sie noch höher.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

In Richtung Reform wären wir keinen Schritt weitergekommen. Während Sie Entscheidungen vertagen, haben wir dafür gesorgt, daß die Beitragszahler in Milliardenhöhe entlastet werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Peter [Kassel] [SPD]: Was haben Sie gemacht?)

Hier wird deutlich, was wir von Anfang an gesagt haben: Die Kommission sollte dazu genutzt werden, die Gesundheitsreform zu torpedieren.

(Widerspruch bei der SPD)

Weil Ihnen dies nicht gelungen ist, mußte kurz vor der Verabschiedung des Gesundheits-Reformgesetzes im Oktober 1988 noch schnell ein Zwischenbericht mit dem Ziel zusammengeheftet werden, das Gesund-



Dr. Thomae
heits-Reformgesetz madig zu machen. Aber auch dies ist Ihnen nicht gelungen.

(Jaunich [SPD]: Das unterstellen Sie all den Mitgliedern der Kommission?)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114938300
Herr Abgeordneter Thomae, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Dieter Thomae (FDP):
Rede ID: ID1114938400
Sofort! — Was die Kommission erarbeitet hat, wäre für einen Gesetzentwurf unbrauchbar.
Zu Recht wird im Vorwort des Zwischenberichts hervorgehoben, daß wesentliche Aufgabengebiete im Zwischenbericht noch nicht behandelt werden konnten. Das gilt z. B. für ein so eminent wichtiges Einzelthema wie die Aufgaben eines Krankenversicherungssystems in der Krankenversorgung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich zitiere hier Herrn Kirschner von der SPD:

Die Kommission geht davon aus, daß es sich hier im doppelten Sinne um einen Zwischenbericht über den Stand ihrer Arbeiten handelt. Einerseits ist der Zwischenbericht lückenhaft, weil eine Reihe von Berichtsteilen fehlen, die nach dem eigenen Gesamtkonzept der Kommission wichtig und unverzichtbar sind. Andererseits haben auch die in diesen Zwischenbericht aufgenommenen Teile jeweils Zwischenberichtscharakter, d. h. die Kommission behält sich auch insoweit eine Weiterarbeit vor.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Diese Sätze sprechen für sich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114938500
Herr Abgeordneter Reimann!

Manfred Reimann (SPD):
Rede ID: ID1114938600
Danke schön. — Herr Kollege Dr. Thomae, ist es eigentlich sprachlich korrekt, wenn Sie sagen, daß Sie dafür gesorgt haben, daß die Versicherten um Milliarden entlastet wurden, während der Tatbestand doch der ist, daß die Kranken das zahlen, was Sie für sich in Anspruch nehmen?

Dr. Dieter Thomae (FDP):
Rede ID: ID1114938700
Wir haben einen Gesetzesrahmen dafür geschaffen, daß die Beiträge so gesenkt werden, daß es den Versicherten zugute kommt, und das ist das Entscheidende.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Reimann [SPD]: Also nicht von Ihnen!)

— Das habe ich auch nicht gesagt. — Die zitierten Sätze bestätigen, daß ein in Gesetzesform umsetzbares Reformkonzept mit dem Zwischenbericht nicht geliefert wurde und, wie die Dinge aussehen, wahrscheinlich auch im Abschlußbericht nicht geliefert werden kann.
Die Mitglieder der Koalitionsfraktionen haben dem Zwischenbericht nicht zugestimmt, weil darin Empfehlungen gemacht werden, die mit unserem Verständnis von einem freiheitlichen Gesundheitswesen nicht übereinstimmen. Die Wissenschaftler und Sachverständigen sind in ihren Voten parteiungebunden.
Allerdings muß auch festgestellt werden, daß viele der in der Kommission kontrovers andiskutierten Punkte überhaupt nicht ausdiskutiert wurden. Wir haben drei Wochen nach der Vorlage des Zwischenberichts das Gesundheits-Reformgesetz verabschiedet und dabei unsere Vorstellungen, die wir auch in der Enquete-Kommission deutlich gemacht haben, in die Realität umgesetzt.
Gerne will ich aber an einigen Punkten deutlich machen, daß es in wesentlichen Fragen der Gesundheitspolitik zwischen der Opposition und uns entscheidende Unterschiede gibt, die durch noch so lange Diskussionen in Kommissionen nicht überwunden werden können.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Gesundheitspolitik der SPD und der GRÜNEN ist von ideologischen Zielen getragen. Sie wollen mehr Staat, wir wollen weniger Staat. Ich sehe bei Ihnen nur neue Posten für Funktionäre, Gesundheitsräte, die in Gesundheitskonferenzen vom Heftpflaster bis zu den Herzoperationen und von der Zahl der Ärzte bis zur Zahl der orthopädischen Schuhmacher alles im voraus planen sollen.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Für die Versicherten sehe ich keine Vorteile, nur Nachteile, wahrscheinlich regelmäßige Versorgungsengpässe und in jedem Falle ein unmotiviertes Personal.
Wir wollen in unserem freiheitlichen Gesundheitswesen mit hochmotivierten Leistungserbringern arbeiten, weil wir zutiefst davon überzeugt sind, daß die freiheitliche Organisation eine optimale und vor allem würdevolle medizinische Versorgung garantiert.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Lassen Sie mich an einigen Punkten des Zwischenberichts meine Kritik konkretisieren. Nehmen wir einmal das Beispiel Prävention. Während wir mit dem Gesundheits-Reformgesetz ganz konkrete Maßnahmen zur Vorsorge, neue Vorsorgeuntersuchungen, Individualprophylaxe gegen Zahnerkrankungen, eingeführt haben, flüchten Sie sich in der Enquete-Kommission in Zuständigkeitsdiskussionen und in Diskussionen über neue Organisationen und Institutionen. Konkrete Maßnahmen vermag ich daraus nicht zu lesen.
Wenn dann noch als die ideale Organisationsform die regionalisierte Einheitskasse angepriesen wird,

(Kirschner [SPD]: Stimmt doch überhaupt nicht!)

dann wird deutlich, daß es Ihnen in erster Linie um Ideologie und nicht um pragmatische Problemlösungen geht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Nehmen wir noch einen weiteren Bereich: Mit den Festbeträgen, mit den Ausgrenzungen, mit den steuernden Zuzahlungen und mit den Instrumenten der Wirtschaftlichkeitsprüfungen haben wir konkrete Konzepte mit marktwirtschaftlichen Steuerungselementen für diesen wichtigen Bereich vorgelegt.



Dr. Thomae
Was wollen Sie dagegen? Sie sprechen der amtlichen Qualitätsprüfung durch das Bundesgesundheitsamt die Legitimation ab und propagieren Positivlisten.

(Jaunich [SPD]: Wer sagt denn das? — Kirschner [SPD]: Wer will das denn?)

Ich halte es für wichtig, daß man dem Bürger noch deutlicher macht, was Positivlisten wirklich bedeuten. Das heißt nämlich, daß Funktionäre aus dem Arzneimittelangebot und damit aus dem Angebot in ihrer Qualität und Wirksamkeit geprüfter Arzneimittel die herauswählen, von denen man glaubt, daß sie für die Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichen.

(Reimann [SPD]: Sie wollen, daß der Versicherte alles selber zahlt!)

Dabei bleibt die Therapiefreiheit völlig auf der Strecke.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Hersteller, die das Glück oder vielleicht die Beziehungen hatten, auf die Listen zu kommen, sind drinnen, sind für alle Zeiten vor dem Wettbewerb geschützt.

(Kirschner [SPD]: Das ist doch nicht wahr!)

Aber diejenigen, die es nicht schaffen, wahrscheinlich die kleinen und mittelständischen Betriebe, bleiben draußen.
Keiner der Propagandisten der Positivliste hat mir bisher die Frage beantwortet: Was ist mit den 70 000 Naturheilmitteln bei einer Positivliste von vielleicht 2 000 bis 3 000 Arzneimitteln?

(Jaunich [SPD]: Was ist mit den Festbeträgen?)

Nach diesem Konzept würden die Naturheilmittel nämlich weitgehend herausgeschmissen.

(Zuruf von der SPD: Das ist genauso ein Quatsch!)

Dies stellen Sie draußen in der Öffentlichkeit völlig anders dar.
Die aktuelle Situation ist folgende: Während Sie noch nicht einmal über Einzelheiten Ihrer Vorstellungen Klarheit geben, haben wir dafür gesorgt, daß allein bei den Arzneimitteln rund 2 Milliarden DM und eventuell mehr eingespart werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: „Eventuell" ist richtig!)

Wie wenig tauglich der Enquete-Bericht für einen Gesetzentwurf wäre, wird auch am Kapitel des Solidarausgleichs sehr deutlich. Da wird als Option alles für möglich gehalten: von der Ausweitung der Bemessungsgrundlage für die Beiträge bis hin zur Kostenerstattung und Wahltarifen. Wie gesagt, alles Optionen mit viel Wenn und Aber.
Wir dagegen haben gehandelt. Wir haben in Teilbereichen die Kostenerstattung eingeführt. Wir sind nicht der Auffassung der Kommission, daß von Zuzahlungen der Versicherten keine Steuerungswirkungen ausgehen. Mit dem Gesundheits-Reformgesetz haben wir das Gegenteil bewiesen. Wir haben steuernde
Zuzahlungen eingeführt und dies mit Härtefall- und Überforderungsklauseln abgefedert,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

mit denen sichergestellt ist, daß niemand aus finanziellen Gründen auf medizinisch notwendige Leistungen verzichten muß.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Das stimmt doch nicht!)

Keine konkreten Beiträge liefert der Zwischenbericht für die Organisationsreform. Währenddessen haben wir mit dem Gesundheits-Reformgesetz begonnen, Wettbewerbsnachteile bzw. Wettbewerbsvorteile abzubauen. Wir haben die Möglichkeit zum internen Finanzausgleich verbessert. Damit sind wichtige Vorarbeiten für eine Organisationsreform in der nächsten Periode geleistet worden.
Für das weitere Vorgehen haben wir ganz konkrete Vorgaben. Wir wollen mehr Wettbewerb und mehr Wahlfreiheiten im gegliederten System der gesetzlichen Krankenversicherung. Wir wollen die Pflichtkassenmitgliedschaft in eine Pflicht zur Mitgliedschaft mit freier Wahl der Versicherungen weiterentwickeln. Wir wollen Wettbewerb mit möglichst niedrigen Beiträgen. Zum Wettbewerb gehört auch, daß sich neue Krankenkassen gründen und daß Krankenkassen, die im Wettbewerb nicht bestehen können, schließen müssen bzw. sich in größeren Einheiten zusammenschließen müssen, so schmerzlich dies im Einzelfall ist.
Krankenkassen erfüllen aber keinen Selbstzweck. Mitgliederbewegungen hin zu günstigen Krankenkassen oder hin zu Krankenkassen mit besserem Service werden nach der Organisationsreform die Regel sein.

(Egert [SPD]: Ein Prophet!)

Die Wahlfreiheit, die die SPD vorschlägt, ist nur eine Scheinfreiheit; denn zuerst soll durch eine kassenartenübergreifende Finanzausgleichslösung und Zwangsregionalisierung das System in Richtung Einheitskrankenversicherung nivelliert werden. Auf Wahlfreiheit im Einheitssystem können wir gerne verzichten. Die Wahlfreiheit, die Sie versprechen, stünde nur auf dem Papier. Das hat mit echter Wahlfreiheit, die wir uns vorstellen, nichts zu tun. Die einzigen, die von dieser Nivellierungspolitik profitieren, werden auch in diesem Falle die Bürokraten sein.

(Zuruf von der SPD: Sie sind ja ein Ideologe! Verbohrt!)

An allen Ecken und Enden zeigt sich, daß Sie in der Gesundheitspolitik außer mehr Bürokratie überhaupt keine vernünftigen Alternativen aufweisen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das Ziel unserer Bemühungen dagegen sind Krankenkassen, die sich um Versicherte und gute Leistungen zu günstigen Beitragssätzen bemühen.

(Kirschner [SPD]: Und höhere Selbstbeteiligung!)

Eine in diesen Tagen veröffentlichte Untersuchung des Instituts der Deutschen Wirtschaft über Krankenversicherungssysteme in der Europäischen Gemein-



Dr. Thomae
schaft, meine Damen und Herren, hat bestätigt, daß Kranke in der Bundesrepublik Deutschland weitaus besser abgesichert sind als in allen anderen europäischen Staaten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Jaunich [SPD]: Ist Ihnen das ein Dorn im Auge? Immer noch? Trotz Ihres Wirkens?)

Sie sind herzlich eingeladen, gemeinsam mit uns unser bewährtes und im internationalen Vergleich vorbildliches Gesundheitssystem zum Wohle der Versicherten und der Kranken noch besser und effizienter zu machen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114938800
Das Wort hat der Abgeordnete Egert.

Jürgen Egert (SPD):
Rede ID: ID1114938900
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ich hatte eigentlich erwartet, wir würden über den Zwischenbericht der Enquete-Kommission reden. Ich hatte mich auch darauf vorbereitet.
Nun hat der Kollege Dr. Thomae die späte Stunde genutzt und so viel Unsinn auf einen Berg getürmt, daß der nun wirklich abgetragen gehört.

(Beifall bei der SPD)

Ich fange jetzt einmal mit dem Unfug an: Herr Dr. Thomae, wollen Sie denn im Ernst alle Mitglieder dieser Enquete-Kommission verdächtigen, daß sie böse Sozialisten sind. Professor Oberender, von der FDP benannt, hat den Vorschlägen der Enquete-Kommission in der Enquete-Kommission zugestimmt. Böser Sozialist, sagt Dr. Thomae.
Genzel, benannt von der CSU, hat zugestimmt. Böser Sozialist, sagt Dr. Thomae. Alle Wege führen nach Moskau mit diesem dicken Buch, sagt Dr. Thomae. Auf diesem Niveau kommen wir nun wirklich nicht weiter, Herr Dr. Thomae. Sie müssen schon ein bißchen ernsthafter mit diesem Bändchen umgehen.
Ich verstehe ja, daß es wurmt, daß sich eine Koalition des Sachverstandes über Probleme der Gesundheitsreform in der Enquete-Kommission gegen die politische Mehrheit in diesem Hause ergeben hat. Das wurmt, es hat aber damit zu tun, daß Sie von Beginn an gegenüber diesem Unternehmen ignorant waren.

(Beifall bei der SPD)

Die Sachverständigen haben es nämlich ernstgenommen, als sie vom Deutschen Bundestag beauftragt wurden, Vorschläge zur Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung zu machen. Sie sind davon ausgegangen, daß das Parlament diesen Auftrag ernst meint und die Sachverständigen nicht veralbern will, wie es in den letzten Beiträgen der Koalitionsfraktionen hier passiert ist.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1114939000
Herr Abgeordneter Egert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Thomae?

Jürgen Egert (SPD):
Rede ID: ID1114939100
Nein, ich gestatte keine Zwischenfragen; denn ich habe nur zehn Minuten Zeit, und hier ist
so viel Unfug geredet worden, daß die zehn Minuten gar nicht reichen, um das auszuräumen.
Sie können sich mit der SPD und deren Vorstellungen auseinandersetzen, wie es Ihnen beliebt. Es entspricht aber dem Respekt vor der Arbeit des Parlaments, daß Sie dieses dicke Werk nicht aus vordergründigen, parteitaktischen Motiven niedermachen.

(Beifall bei der SPD)

Nun kommen wir zu dem, was Sie hier damit versuchen. Es geht um die Absicht, aus einem mißglückten Gesundheits-Reformgesetz — das ist meine vornehmste Formulierung dafür —

(Oh-Rufe bei der CDU/CSU und der FDP) nachträglich ein bißchen Honig zu saugen.

Nun kommen wir zu den Argumenten, warum dieses Unternehmen angeblich erfolgreich sein soll.

(Günther [CDU/CSU]: Es war erfolgreich!)

Erfolgreich ist es, weil Sie 14 Milliarden DM den kranken Menschen aus dem Geldbeutel geholt haben. Nun kommen Sie mit einer buchhalterischen Bilanz und sagen: Das war erfolgreich.

(Beifall bei der SPD — Scharrenbroich [CDU/ CSU]: Wir lassen das im Geldbeutel der Beitragszahler!)

Das hat mit Strukturpolitik nichts zu tun; dies ist ein Schlag gegen die sozial Schwachen in dieser Gesellschaft. Das wird Sie weiter verfolgen, da können sie noch so viel von Beitragsstabilität reden. Natürlich hat das damit etwas zu tun — da kann Herr Dr. Thomae entzückt sein — , weil die Arbeitgeber von Einsparungen profitieren, die die Krankenversicherten erbracht haben; dies wird umverteilt.
Nun komme ich zu dem Argument der Selbstbeteiligung. Herr Dr. Thomae, es gibt nicht einmal mehr Ökonomen, die so beschränkt sind, zu bestreiten, daß Selbstbeteiligung keine steuernde Funktion hat. Das hat sich hier in diesem Band niedergeschlagen; das wollen Sie aber nicht zur Kenntnis nehmen. Das ist ein Stück Umverteilungsprogramm; das stimmt.

(Kirschner [SPD]: Aber nach oben!)

Wer Selbstbeteiligung in der Art und Weise, wie Sie es machen, einführt, der will, daß der Gesundheitsbetrieb wie bisher funktionieren kann, und zwar zu Lasten der Krankenversicherten.

(Beifall bei der SPD)

Das hat mit Umfinanzierung zu tun, aber nicht mit Steuerungspolitik.

(Günther [CDU/CSU]: Doch!)

Das ist doch selbst unter liberalen Ökonomen inzwischen bekannt, und auch Dr. Thomae wird das bis zum Ende seiner politischen Arbeit hier noch lernen müssen.
Nun machen die anderen eine Bilanz auf und sagen: Die bösartige SPD

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP)




Egert
hat diese Enquete-Kommission erfunden, um die Strukturprobleme im Gesundheitswesen gar nicht erst lösen zu müssen. Was für ein bodenloser Quatsch!

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Wieso denn?)

Wir haben eine ganze Menge von Ideen, die Sie nicht teilen mögen; das ist Ihr gutes Recht. Weil wir wirklich eine Strukturreform im Gesundheitswesen wollen, haben wir gesagt: Hier in der Enquete-Kommission ist eine Ebene, sich mit den anderen Parteien dieses Parlaments zu treffen, um diese große Zielsetzung wirklich umzusetzen.

(Dr. Hoffacker [CDU/CSU]: In zwei Jahren nichts zustande gebracht!)

— Bei dem, Herr Dr. Hoffacker, was Sie hier machen, hat der Berg gekreißt und hat ein Mäuslein geboren. Das sollte eine Strukturreform werden, ist aber ein mieses Kostendämpfungsgesetz geworden. Das funktioniert; das stimmt, das bestätige ich gerne.

Horst Seehofer (CSU):
Rede ID: ID1114939200
Etwas Strukturreformähnliches wollen wir machen. Es ist ein Kostendämpfungsgesetz geworden. Der Herr Bundesarbeitsminister — der sich bedankt, daß er jede Woche die Gelegenheit hat, mit uns zu diskutieren, nur heute nicht da ist; nun gut, wir werden auch ohne ihn mit seinen Sünden fertig werden — hat uns ein Solidaropfer der Pharmaindustrie von 1,7 Milliarden DM versprochen. Ohne dieses Opfer sollte das Gesetz nicht Gesetz werden. Dann ist er knieweich geworden — gut, ich weiß nicht, wie es ist, wenn er knieweich ist, aber er ist es geworden — , und es ist zu diesem Solidaropfer nicht gekommen. Sie sind eingeknickt vor handfesten Interessen im Gesundheitswesen.

(Günther [CDU/CSU]: Das ist auch schon falsch!)

— Nein, das ist genau die Wahrheit. — Die Wahrheit ist: Stark waren Sie gegenüber den Krankenversicherten.

(Günther [CDU/CSU]: Sie ignorieren die Tatsachen, mein Lieber!)

Schwach sind Sie da, wo es um die Interessen der Anbieter im Gesundheitswesen geht.

(Beifall bei der SPD)

Wenn wir Strukturreform miteinander, Herr Dr. Becker, hätten machen wollen, so wären die Ausgangspunkte tatsächlich sehr unterschiedlich gewesen; das bestreite ich doch gar nicht. Aber wer wirksam etwas in diesem Interessenfilz erreichen will, der hätte die dargebotene Hand nicht einfach ausschlagen sollen, sondern ernsthaft testen sollen, ob die SPD so bösartig ist, wie Sie es vermuten, oder ob sie bereit ist, auch unter Hintanstellung eigener Vorstellungen tatsächlich zu einer Strukturreform beizutragen.
Nun haben wir das Ergebnis in der Sache, das wir in der Kommission mit Mehrheit zustande gebracht haben. Da waren eine Menge hochkarätiger Leute; nicht nur die, die in der Kommission waren, sondern auch die, die in die Kommission gekommen sind. Ich habe vor Tische, Herr Dr. Thomae, Ihre Wertung der Arbeit
der Kommission auch schon anders gehört. Heute hat mich schwer enttäuscht, was Sie hier in einer niedermachenden Art und Weise zu dem Ergebnis des Zwischenberichts gesagt haben.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das war nur die Wahrheit! — Scharrenbroich [CDU/CSU]: Ein Glück, daß Sie so aufbauend sind! Sie sind jetzt so aufbauend!)

— Herr Scharrenbroich, auch Sie hätten das Dokument lesen sollen. Dann hätten Sie manches an Fehlern vermeiden können, die Sie mit Ihrem Gesundheits-Reformgesetz gemacht haben.
Was passiert nun? Jetzt geht das ganze Theater in der Enquete-Kommission mit der Absicht weiter, die obstruktive Haltung, die Sie durchgängig hatten, nun auch bis zum Ende durchzuhalten und das, was an Ergebnis erzielt ist, in dieser Debatte niederzumachen. Ich finde das unanständig, unanständig nicht gegenüber der SPD. Wir sind politisch durch das, was Sie politisch tun, eher im Aufwind. Wir könnten es uns leicht machen, aber wir wollen es uns gar nicht so leicht machen. Ich schäme mich für Sie dafür, daß Sie den Sachverständigen, die Sie benannt haben, hier in dieser Art und Weise begegnen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Ich habe sehr viel Respekt vor einem Bundespräsidenten, den ich sehr verehrte. Das war einer der Vorgänger von Herrn von Weizsäcker; es war der verehrungswürdige Bundespräsident Heinemann. Er hat gesagt, man solle das Unvollkommene nicht schönen. Ich hätte mir gewünscht, daß Sie an Hand dieses Zwischenberichts gesagt hätten, was Ihnen fehlt. Das hätte ich spannend gefunden.

(Dr. Hoffacker [CDU/CSU]: Das kommt in den Endbericht!)

— Weil Sie mir zurufen, Herr Dr. Hoffacker: Seit Oktober haben Sie mir versprochen, daß Sie das vorlegen wollen? In welcher Schublade ist dies denn steckengeblieben? Das Minderheitenvotum haben Sie im Oktober 1988 und nicht für Oktober 1989 versprochen. Dies geschah offensichtlich, weil Sie die Konkurrenz mit den sinnvollen Ideen dieses Papiers fürchten. Das tut mir leid für Sie. Sie werden aus parteitaktischen Gründen hier weiter sabotieren. Dies haben wir mit Geschäftsordnungstricks und ähnlichem in der Enquete-Kommission alles erlebt. Dies wird nichts helfen.

(Günther [CDU/CSU]: Wenn wir sabotieren, können wir es sofort beenden!)

— So war das doch, Herr Kollege Günther. Dies ist die Wahrheit, die Sie versuchen zu verdrehen. — Wir werden diese Ergebnisse dennoch nutzen. Wir werden auch die Chance bekommen, dies in unserem Land politisch umzusetzen, darauf vertraue ich.
Ich wünsche mir, daß die Sachverständigen Ihre Einlassungen aufmerksam mitbekommen, denn ich denke, sie werden ihren guten Namen nicht herge-



Egert
ben, um die Ergebnisse des Zwischenberichts in einer anderen Art und Weise als bisher abzuzeichnen.

(Günther [CDU/CSU]: Zum Inhalt des Berichts haben wir bisher nichts gehört! Das ist schade!)

Dies, denke ich, wird politisch auf Sie zurückschlagen.

(V o r sitz : Vizepräsident Westphal)

Für das Parlament wird das auch in Zukunft eine gute Grundlage unserer Arbeit sein.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114939300
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Limbach.

Editha Limbach (CDU):
Rede ID: ID1114939400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Enquete-Kommissionen sollen der wissenschaftlichen und sachkundigen Aufarbeitung eines Themas zur Vorbereitung von Entscheidungen dienen. Sie sind aber immer auch politisches Kampfinstrument, und das hat sich auch heute in der Diskussion und bei der Enquete, deren Zwischenbericht wir hier diskutieren, gezeigt.

(Egert [SPD]: Da waren ja so viele Vorlagen!)

Ich habe von Ihnen, Herr Egert, zum Inhalt außer Allgemeinplätzen auch nichts gehört. Ich hatte aber bereits im vergangenen Jahr den Eindruck, daß hier der Part politisches Kampfinstrument der eigentliche Sinn der Enquete war. Das wurde nämlich schon deutlich, weil der Themenkatalog, Herr Egert, den Sie und Ihre Kollegen vorgeschlagen haben, mit dem vorgesehenen Zeitrahmen, den Sie ebenfalls vorgeschlagen hatten, ja von vornherein überhaupt nicht in einem sachgerechten Zusammenhang stand. Insofern wurde von Ihnen selbst der Grund dafür gelegt, daß der Zwischenbericht so mager und so wenig konkret ausfallen konnte, wie er ausgefallen ist. Darin stehen im wesentlichen Optionen, Analysen nebeneinander. Es wird lediglich darüber nachgedacht, wie man es vielleicht machen könnte oder auch nicht. Insofern wurde der Auftrag, konkrete Politikberatung zu leisten, nicht erfüllt, aber er konnte auch nicht erfüllt werden.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Verabschiedung des Zwischenberichts in der Enquete-Kommission selbst stand unter demselben Stern. In einer einzigen Sitzung Ende Oktober, wo wir den ganzen Vormittag — nebenbei nicht wegen uns, sondern wegen Ihrer Kolleginnen und Kollegen — mit Geschäftsordnungsdebatten vertan hab en, wurden selbst umfangreichste Vorlagen, die bis dato nur in Arbeitsgruppen diskutiert worden waren, quasi durch Handauflegen in der Kommission zur Abstimmung gestellt. Deshalb war es gar nicht mehr möglich, in Erläuterungen zu differenzieren oder klarzustellen. Es wurde sehr pauschal verfahren. Insofern konnten die Abgeordneten der Koalition gar nicht anders, als dem ihre Zustimmung zu versagen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114939500
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kirschner?

Editha Limbach (CDU):
Rede ID: ID1114939600
Jawohl.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114939700
Bitte schön, Herr Kirschner.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1114939800
Frau Kollegin Limbach, sind Sie bereit, endlich einmal zur Kenntnis zu nehmen, daß die vorgesehenen drei Sitzungstage — —

(Dr. Thomae [FDP]: Nicht stattgefunden haben!)


Editha Limbach (CDU):
Rede ID: ID1114939900
Herr Kirschner, natürlich weiß ich, daß wir ursprünglich drei Sitzungstage vorgesehen hatten. Aber gerade das beweist doch: Wenn man ursprünglich glaubt, man braucht mindestens drei Tage, um den Zwischenbericht zu beraten, und man hat hinterher gerade noch einen halben Tag, dann ist klar, daß das nichts Rechtes werden kann.

(Zurufe von der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114940000
Wollen Sie noch eine Zwischenfrage beantworten?

Editha Limbach (CDU):
Rede ID: ID1114940100
Ich glaube, es war noch eine Zwischenfrage offen. Ich bitte um Entschuldigung, Herr Kirschner, ich bin Ihnen ins Wort gefallen.

(Zurufe von der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114940200
Herr Kirschner hat noch das Wort.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1114940300
Frau Kollegin Limbach, geben Sie zu, daß die drei Tage, die wir für die Beratung vorgesehen hatten, auf Ihren Antrag hin zusammengestrichen wurden, weil Sie die Beratung des GRG im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vorzogen? Geben Sie zu, daß deshalb so wenige Tage zur Verfügung standen? Sie sollten sich im nachhinein nicht darüber beklagen.

Editha Limbach (CDU):
Rede ID: ID1114940400
Lieber Herr Kollege Kirschner, Sie haben recht, daß wir die konkrete Problemlösung durch das GRG der weiteren theoretischen Beratung in der Enquete-Kommission zu diesem Zeitpunkt vorgezogen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich möchte auch noch sagen, weshalb der ursprünglich vorgesehene Minderheitenbericht jetzt nicht
mehr erforderlich ist. Es ist ja hier danach gefragt worden. Zunächst einmal ist die Beratungszeit der Enquete verlängert worden, was dazu führt, daß der
Zwischenbericht zwar Grundlage — so ist es vereinbart — , aber nicht unveränderter Bestandteil des Endberichtes sein wird. Die Verabschiedung des Gesundheits-Reformgesetzes — das schmerzt Sie sehr; uns,
die Versicherten, die Beitragszahler freut es sehr; die
Leistungsanbieter sind nicht so sehr erfreut — ist ein
großer Erfolg, weil durch dieses Gesetz einer Reihe
von Reformnotwendigkeiten Rechnung getragen worden ist. Die Stellungnahme der Koalitionsabgeordneten zum Zwischenbericht wird allerdings — das hat



Frau Limbach
der Kollege Becker ja schon angekündigt; ich wiederhole es nur, weil es offenbar einige nicht mitbekommen haben — in die Enquete-Kommission eingebracht.
Lassen Sie mich aber auch noch einige Dinge zu den Kapiteln selber sagen.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Herr Egert, jetzt kommt es zum Inhalt!)

— Ja, es kommt zum Inhalt. — Zum 1. Kapitel des Zwischenberichts — ich wende mich nur einem Kapitel zu, weil ja die Redezeit begrenzt ist; ich könnte ja zu den anderen Dingen auch etwas sagen, aber ich will es bei nur einem Kapitel belassen — unter der Überschrift „Aufgaben eines Krankenversicherungssystems in der Prävention" muß man feststellen, daß wir uns darin einig sind, daß Prävention notwendiger und selbstverständlicher Bestandteil der Aufgaben einer sozialen Krankenversicherung ist. Nur, die in dem Zwischenbericht angeführten Optionen zur Ausgestaltung der Prävention können uns überhaupt nicht überzeugen.
Zunächst einmal wird zwischen diesen Optionen nicht sauber unterschieden.

(Dr. Thomae [FDP]: Richtig!)

Die aufgeführten Optionen „Prävention als Aufgabe einer ,Krankenversicherung', Prävention als öffentliche Gemeinschaftsaufgabe, Die Krankenversicherung als ,Gesundheitskasse' " stellen sich eher als eine Flucht in neue Organisationsformen und Institutionen denn als brauchbare Problemlösung dar.
Die Option „Gesundheitskasse" erweist sich im übrigen bei näherem Zusehen — deshalb sind Sie so begeistert davon — als eine reine Umschreibung der regionalen Gesundheitskonferenz á la SPD, allerdings verbunden mit der Vorstellung der regionalen Einheitskasse, worauf ja schon Herr Dr. Thomae hingewiesen hat. Wenn man es zusammengenommen betrachtet, kann ich nur sagen: Ideologie statt Problemlösung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Becker [Frankfurt] [CDU/CSU]: So ist es!)

Unser Konzept zur Prävention können Sie im Gesundheits-Reformgesetz erkennen. Dort hat es seinen Ausdruck gefunden. Es stellt einen ganz wichtigen Punkt in den Vordergrund, nämlich die Eigenverantwortung der Versicherten für ihre Gesundheit, die ebenfalls zum richtigen Verhalten gehört. Wenn man einmal die wichtigsten Ursachen der fünf großen Volkskrankheiten betrachtet, sieht man auch, daß es richtig ist, hier an Eigenverantwortung zu appellieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will das einmal nennen: Koronale Herzkrankheiten werden durch Rauchen, durch Übergewicht und durch Streß gefördert. Ich nenne auch das Bronchialkarzinom — Krebs —, das durch Rauchen gefördert wird.

(Hasenfratz [SPD]: Wie war das mit dem Übergewicht?)

— Ich weiß, daß ich darunter leide. Aber ich bin auch nur wie der Wegweiser und renne nicht überall selbst hin.
Ich will die Leberzirrhose nennen, die durch Alkoholmißbrauch gefördert wird. Ich nenne die Zuckerkrankheit, die durch Bewegungsarmut und falsche Ernährung gefördert wird. Ich bitte, darauf zu achten: Ich habe immer nur gesagt, daß die Krankheit dadurch gefördert wird. Ich habe nicht gesagt, daß das jeweils die einzelne Ursache ist. Man kann dann aber dagegen etwas tun. Dazu gehört z. B. die jetzt im Gesetz vorgesehene allgemeine Gesundheitsaufklärung und -beratung zur Krankheitsverhütung durch die Krankenkasse — § 20 Sozialgesetzbuch V.
Dann haben wir ermöglicht, vermehrt Kurse zur Ernährungsberatung, zur Raucherentwöhnung, zur Streßbewältigung und ähnliche Punkte zu regeln. Das gilt auch für Maßnahmen der Krankenkassen zur Erprobung neuer Wege zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit. Dazu gehört auch die Gesundheitserziehung in der Schule.

(Zuruf des Abg. Egert [SPD])

— Lieber Herr Egert, Dinge, die schon gemacht worden sind, sind ja nicht deshalb falsch, weil sie vorher schon in Ansätzen da waren und wir sie durch das Gesetz nun verstärken, fördern und deutlich herausstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP— Zuruf von der SPD)

— Wo denn? — Das will ich Ihnen sagen: In den §§ 20, 21, 22, 26, 67; Sie brauchen das SGB V in diesen Abschnitten lediglich zu lesen, dann finden Sie das alles.
Wir haben beispielsweise das Alter für Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern vom vierten auf das sechste Lebensjahr heraufgesetzt. Wir haben durch die Gruppenprophylaxe für Kinder und durch die Individualprophylaxe für Erwachsene bessere Verhütung von Zahnerkrankungen vorgesehen. Wir machen das sogar dadurch interessant, daß derjenige, der diese Vorsorge in Anspruch nimmt und dennoch zu Ersatzzähnen kommt, eine stärkere Unterstützung bekommt. Wir empfehlen den Krankenkassen Zusammenarbeit mit allen für die Präventionsaufgaben zuständigen Stellen.
Wenn Sie das alles zusammenfassen, können Sie noch oben draufsetzen, daß die Krebsvorsorgeuntersuchung durch einen allgemeinen GesundheitsCheck-up zu ergänzen ist. Hier sollen gezielt Herz-, Kreislauf-, Nieren- und Zuckererkrankungen, einige der wichtigsten Zivilisationskrankheiten, angepackt werden. Ich bin ganz sicher, daß das ebenfalls dazu führen wird, daß Krankheiten nicht nur bei Kranken entdeckt werden, sondern daß auch Risikoträger entdeckt werden, d. h. Menschen, die das Risiko für solche Erkrankungen selber noch nicht erkannt haben und denen man dann durch gezielte Maßnahmen helfen kann, diese Krankheiten entweder zu vermeiden oder zumindest die Folgen von solchen Krankheiten zu mildern.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Das ist soziale Politik!)




Frau Limbach
Sie haben vorhin gesagt, wir hätten nichts zu den Lücken in dem Zwischenbericht gesagt. Mir fallen da ganz schnell ein paar Dinge ein: Es ist z. B. ausdrücklich als Lücke bezeichnet, daß dort nichts zur Notwendigkeit der sozialen Absicherung des Pflegefallrisikos gesagt ist. Auch das haben wir — ich will das noch einmal sagen — im Gesundheits-Reformgesetz nicht gelöst. Aber wir haben einen Beitrag dazu geleistet, den Beitrag nämlich, der auch in der gesetzlichen Krankenversicherung richtig angesetzt ist.

(Egert [SPD]: Und die kranken Menschen bezahlen!)

Damit werden wir vielen, vielen Menschen helfen, die Pflegefallproblematik in der Familie besser zu bewältigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Egert [SPD]: Die Kranken!)

— Nun hören Sie doch mit den Kranken auf! Sehen Sie sich die Zahlen doch an.

(Egert [SPD]: Das bezahlen die kranken Menschen!)

Zum einen: Die ersparten Milliarden bleiben ja nicht irgendwo in der Luft, in meiner oder Ihrer Tasche, höchstens dann, wenn wir gesetzlich versichert sind, sondern in den Taschen der Beitragszahler.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zum anderen: Schauen Sie sich doch einmal an, wo die Einsparungen erzielt werden:

(Reimann [SPD]: Bei den Kranken!)

Mehr als die Hälfte wird doch bei den Leistungsanbietern erzielt. Sie müssen sich die Zahlen nur einmal ansehen. Ich meine, daß Sie dann zu einer objektiven Beurteilung dieses Zusammenhangs kämen.
Ich darf vielleicht auch noch andere Punkte nennen und hier z. B. noch einmal den Arzneimittelsektor aufgreifen. Sie haben hier vorhin so beredt dargestellt, daß die Sachverständigen alle einheitlich votiert hätten.

(Günther [CDU/CSU]: Das stimmt ja gar nicht!)

Ich kann Ihnen nur sagen: Die Sachverständigen waren hinterher höchst überrascht — das haben sie uns jedenfalls zum Teil gesagt —, in welcher Weise ihre Einlassungen, ihre Überlegungen, die sie zu Papier gebracht hatten, dann in der öffentlichen Diskussion mißbraucht worden sind,

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Aha, jetzt kommt es raus!)

falsch interpretiert worden sind

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

oder in einen Zusammenhang gestellt wurden, in den sie nicht gehörten.

(Günther [CDU/CSU]: Sie sind also wieder manipuliert worden!)

Dies hat jedenfalls eine Reihe der Sachverständigen
dargetan. Im übrigen hat einer der Sachverständigen
— er konnte in der Schlußberatung nicht anwesend
sein — seine Einwendungen alle schriftlich kundgetan.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114940500
Frau Kollegin, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß die Uhr links von Ihnen Ihre Redezeit nicht zutreffend anzeigt, und daß sich Ihre Redezeit dem Ende zuneigt.

Editha Limbach (CDU):
Rede ID: ID1114940600
Darf ich dann noch einen Schlußsatz sagen?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114940700
Aber sicher.

Editha Limbach (CDU):
Rede ID: ID1114940800
Wir halten weitere Reformschritte im Gesundheitswesen und in der gesetzlichen Krankenversicherung über den Rahmen des Gesundheits-Reformgesetzes hinaus für erforderlich. Dies gilt für die Organisationsstruktur, die ja zur Zeit in der Enquete-Kommission noch intensiv beraten wird. Das gilt aber auch für die stationäre Versorgung und die Überkapazitäten. Nur, Sie haben von uns vorhin verlangt, wir müßten alles auf einmal machen, und gleichzeitig gesagt, wir arbeiteten zu schnell.

(Günther [CDU/CSU]: Das ist der typische Widerspruch der SPD!)

Nun lassen Sie uns auch die Zeit, die wir brauchen, das alles gründlich vorzubereiten! Dann werden wir die erforderlichen Beschlüsse schon fassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114940900
Das Wort hat der Abgeordnete Jaunich.

(Zuruf von der CDU/CSU: Och nein! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Horst Jaunich (SPD):
Rede ID: ID1114941000
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ob Sie das wollen oder nicht, Sie werden das schon noch ertragen müssen, was ich hierzu sage.
Zunächst einmal beantrage ich namens der SPD-Bundestagsfraktion, daß der Zwischenbericht zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit überwiesen wird. Ich verweise hier auf den Zwischenbericht der Enquete-Kommission „AIDS", der die zuständigen Ausschüsse derzeit beschäftigt.
Meine Damen, meine Herren, gestatten Sie mir nun, bevor ich mich dem Kapitel widme, das von der Sache her hier zu behandeln ich mir vorgenommen habe, ein paar Erwiderungen auf die Einlassungen von Frau Limbach.
Frau Limbach, Prävention haben Sie mit Ihrem Gesetzgebungswerk ausschließlich unter der Prämisse Individualprävention behandelt. Wenn Sie sich das Ergebnis der Beratungen der Enquete-Kommssion ansehen würden, dann würde Ihnen schon allein die Übersicht zeigen, daß gesundheitliche Prävention nicht nur dem einzelnen überantwortet werden kann, sondern daß es auch eine gesellschaftliche Prävention hinsichtlich der Belastungen der Umwelt, der Nahrungsbelastungen, der Belastungen der Luft, der Arbeitsweltbelastungen — „Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Krankheiten" sowie „Herz-Kreislauf-



Jaunich
Belastungen am Arbeitsplatz" sind zwei Unterkapitel — geben muß.

(Frau Limbach [CDU/CSU]: Aber das ist nicht mehr Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung!)

— So verengt, wie Sie den Begriff „gesetzliche Krankenversicherung" sehen und auf Dauer aufrechterhalten wollen, macht das Ganze eben keinen Sinn, Frau Limbach. Darin unterscheiden wir uns sehr. —

(Reimann [CDU/CSU]: So ist das!)

Die Enquete-Kommission hat sich auch Gedanken darüber gemacht, wie denn eine umfassende Prävention gestaltet werden kann und welche organisatorischen Vorkehrungen dafür zu treffen sind.
Dieses Niedermachen der Sachverständigen machen wir nun wirklich nicht mit. Der Kollege Egert hat zu Recht darauf hingewiesen, daß honorige Leute auch von Ihnen benannt worden sind, die sich zu dem Ergebnis dieses Zwischenberichtes bekennen. Wir als sozialdemokratische Bundestagsfraktion sagen doch nicht, daß wir alle Positionen, die hier niedergelegt sind, zu unseren eigenen erklären.

(Zuruf von den CDU/CSU: Aha!)

— Ich bitte Sie! Ich werde beim Kapitel „Arzneimittel" hier gleich ein paar Einschränkungen machen. Aber daß das eine saubere Arbeit ist, der man doch nicht die Qualität abstreiten kann, wie das Herrn Kollegen Hoffacker zugeschrieben wird — ich weiß ja nicht, ob die entsprechende Mitteilung zutreffend ist; was Ihnen dort an negativer Bewertung zugeschrieben wird, ist also dem vergleichbar, was Herr Dr. Thomae hier soeben kundgetan hat —, steht außer Frage.

(Dr. Thomae [FDP]: Sie haben nicht richtig zugehört! — Dr. Hoffacker [CDU/CSU]: Der hat auch recht!)

Den Sachverständigen, die sich hier zu dem Ergebnis bekannt haben, kann man nicht unterstellen, daß sie schludrig gearbeitet hätten, daß es etwas wäre, was man mit dem SPD-Etikett versehen könnte. Das lassen wir selbst nicht zu.
Ich will ein paar Aussagen zu dem 3. Kapitel, also zum Arzneimittelsektor machen. Es muß doch auch Ihnen komisch vorkommen, daß der Lösungsansatz, den Sie hier hierzu im sogenannten Gesundheits-Reformgesetz gefunden haben, bei niemandem in der Enquete-Kommission Beachtung gefunden hat, daß im Bericht keine positive Aussage dazu steht. Es muß Sie doch nachdenklich stimmen, daß es dort unter „Schlußfolgerungen und Empfehlungen" heißt:
Unabhängig von der Frage einer AMG-Reform sind sich die Mitglieder der Kommission einig, daß jenseits der staatlichen Zulassungsadministration eine Sicherung des therapeutischen Nutzens der Arzneimittel mit Hilfe von Positivlisten erfolgen muß.

(Frau Limbach [CDU/CSU]: Da steht aber auch, ein Festbetragskonzept sei eine elegante Lösung!)

— Das steht nicht darin.

(Frau Limbach [CDU/CSU]: Das steht im Zwischenbericht!)

— Das steht nicht darin. Ich habe doch die Passage hier. Ich lese vor, Frau Kollegin. Werden Sie nicht aufgeregt, bitte nicht.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Welche Seite?)

— Das ist die Seite 270. Wenn Sie meinen, mich dadurch aus dem Konzept bringen zu können, irren Sie sich. Im übrigen habe ich noch genügend Redezeit.
Auf Seite 273 heißt es weiterhin:
Darüber hinaus hat die bisherige Diskussion um die Realisierungsmöglichkeiten der Festbeträge gezeigt, daß die Festlegung von Festbeträgen ein äußerst komplizierter Vorgang sein würde.
Meine Damen, meine Herren, wenn Sie das als eine positive Zustimmung werten,

(Frau Limbach [CDU/CSU]: Nein, nein, nein! An anderer Stelle, lieber Herr!)

dann kann ich nur sagen: Sie haben den Bezug zur Realität verloren.

(Beifall bei der SPD — Bohl [CDU/CSU]: Erklären Sie mir das doch einmal genauer! Das habe ich nicht ganz verstanden!)

Zum Thema Festbeträge darf ich die Kollegen Bekker und Thomae daran erinnern,

(Bohl [CDU/CSU]: Das geht nicht!)

welche Bewertung diese gesetzgeberische Maßnahme gestern bei der Hauptversammlung des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie gefunden hat. Staatlicher Dirigismus in höchster Potenz: Das sind die Bewertungskriterien, das sind die Merkmale, die dieser Regelung — —

(Dr. Thomae [FDP]: Sie werfen uns immer vor, wir hätten nichts gemacht!)

— Seien Sie nicht so aufgeregt, meine Damen, meine Herren.

(Bohl [CDU/CSU]: Ab 22 Uhr bin ich immer belebt!)

— Sie haben den ganzen Abend nicht hier gesessen, und jetzt haben Sie eine große Klappe.

(Bohl [CDU/CSU]: Nein, nein!)

Sie sollten sich wenigstens bemühen, in dieses Papier hineinzugucken. Sie haben doch keinen einzigen Satz davon gelesen.

(Sehr wahr! bei der SPD — Bohl [CDU/CSU]: Natürlich!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114941100
Meine Damen und Herren, bleiben Sie fröhlich. Es ist erst Viertel nach zehn, und wir haben noch zwei Stunden vor uns.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Limbach?

Horst Jaunich (SPD):
Rede ID: ID1114941200
Bitte.




Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114941300
Bitte schön, Frau Limbach.

Editha Limbach (CDU):
Rede ID: ID1114941400
Herr Kollege, würden Sie mir zustimmen, daß auf Seite 325 des Zwischenberichts der Enquete-Kommission — Sie haben wahrscheinlich auch ein solches Exemplar — unter „Reformoptionen", Punkt 5, steht:
Das Festbetragskonzept stellt sich — gut instrumentiert — in seinem „Kernbereich" als ein elegantes Verfahren dar, das sowohl Preisdruck auf die etablierten Anbieter am Markt ausübt, neuen Anbietern die Märkte nicht verschließt und damit dauerhaft innovationsfähig bleibt.... ?

(Beifall bei der CDU/CSU)


Horst Jaunich (SPD):
Rede ID: ID1114941500
Frau Kollegin, darf ich Sie bitten, hier dann das entsprechende Kapitel hier einzuführen. Ich spreche über das Kapitel, das sich mit dem Arzneimittelgeschehen beschäftigt.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Wir reden über Festbeträge!)

Bringen Sie bitte hier nichts durcheinander. Sie als Mitglied der Enquete-Kommission müßten mit den Materialien eigentlich sorgfältiger umgehen.

(Widerspruch bei der CDU/CSU — Abg. Kirschner [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114941600
Herr Kollege, es gibt noch einen Wunsch nach einer Zwischenfrage.

Horst Jaunich (SPD):
Rede ID: ID1114941700
Nein.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114941800
Auch nicht vom Kollegen Kirschner?

Horst Jaunich (SPD):
Rede ID: ID1114941900
Es tut mir furchtbar leid.
Ich fahre fort, indem ich zitiere, was in diesem Zwischenbericht steht:
Die vorliegenden Konzepte zur konkreten Ausgestaltung derartiger Positivlisten werden von den Kommissionsmitgliedern unterschiedlich bewertet. Während ein Teil der Kommission zentral definierten Positivlisten mit bundesweiter Geltung den Vorrang einräumt, sieht ein anderer Teil der Kommission die Lösung eher in Modellen mit dezentralem Charakter, . . .
Es gibt also nur Unterschiede in der Bewertung von Positivlisten: ob zentral oder dezentral. An der generellen Festlegung geht überhaupt kein Weg vorbei. Alle Wissenschaftler der Kommission, nur Sie eben nicht, haben das einmütig so festgestellt.
Im Zwischenbericht wird weiter daruf hingewiesen, daß über Positivlisten hinaus weitere Maßnahmen zur Sicherung der Qualität der Arzneimittelversorgung und -verordnung einzuführen sind. Auch das findet unsere Unterstützung. Uns ist auch nicht der Vorwurf zu machen, wir würden bei Positivlisten die Naturheilmittel außer acht lassen.

(Günther [CDU/CSU]: Doch!)

— Sagen Sie doch nicht „doch". Dann haben Sie die
Anträge, die wir im GRG-Verfahren hierzu eingebracht haben, nicht gelesen. Wir haben Sie bei Ihren Vorschriften über die Negativlisten einigermaßen von einem Irrweg abhalten können.

(Günther [CDU/CSU]: Die Anträge waren nicht zu verwirklichen!)

Es ist ja nicht voll gelungen, weil Sie sich in diese Materie nicht eindenken können.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Sie können uns nicht den Vorwurf machen, wir würden bei einer Positivliste diese besonderen Therapieeinrichtungen außer acht lassen.

(Dr. Thomae [FDP]: Keine Therapiefreiheit!)

Nun zu einem weiteren Punkt, wo wir mit den Aussagen der Wissenschaftler, die diese Thesen vertreten haben, nicht übereinstimmen, ohne daß wir sie diffamierten. Wenn der „Sozialist" Oberender hier seine Deregulierungskampagne führt und sagt, das AMG müsse abgespeckt werden und das Apothekenrecht müsse wesentlich abgeschwächt werden, wir brauchten keine einheitlichen Abgabepreise in Apotheken, dann ist unsere Antwort darauf: So geht das nicht. Damit können wir uns nicht einverstanden erklären. Aber dem Professor Oberender die Redlichkeit seines Wollens abzusprechen käme mir, käme uns doch überhaupt nicht in den Sinn.

(Scharrenbroich [SPD]: Hat doch keiner gesagt!)

Ich denke doch nicht im Traum daran, ihn hier deswegen in irgendeiner Weise zu schelten, so wie Sie das mit Ihren Einlassungen getan haben.
Lassen Sie mich am Schluß noch zwei, drei Bemerkungen zu Ihrem Entschließungsantrag machen. Dem Antrag werden wir natürlich nicht zustimmen.

(Bohl [CDU/CSU]: Ist aber schade!)

Im ersten Absatz versuchen Sie, sich zu beweihräuchern, indem Sie behaupten, Sie hätten einen Großteil der Dinge, die hier drinstehen, mit Ihrem Machwerk bereits erledigt.

(Frau Limbach [CDU/CSU]: Das haben wir auch! — Kirschner [SPD]: Unglaublich!)

Das stimmt doch nicht. Das wissen Sie doch besser als jeder andere.
Im zweiten Teil werden Sie gleich beschließen, daß das Ding erfolgreich ist.

(Egert [SPD]: Das ist Propaganda!)

Ich finde das glorreich. Es ist erfolgreich im Abkassieren. Das ist doch gar keine Frage.

(Bohl [CDU/CSU]: Bleiben Sie mal bei der Wahrheit!)

Das ist der einzige Erfolg, der eingetreten ist. Im übrigen ist das eine Verhöhnung der Opfer, die hier auf der Strecke bleiben, meine Damen und Herren. So etwas werden Sie mit uns und unseren Stimmen natürlich nicht tun können.

(Beifall bei der SPD)





Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114942000
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Herr Seehofer.

Horst Seehofer (CSU):
Rede ID: ID1114942100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Situation ist wirklich eigenartig. Auf der einen Seite ist seit einem halben Jahr das Gesundheits-Reformgesetz in Kraft getreten. Diese Reform gibt Antworten auf zentrale gesundheitspolitische Fragen. Ihre ersten — auch finanziellen — Erfolge sind für jedermann ersichtlich.

(Widerspruch bei der SPD)

Auf der anderen Seite wollen die Kollegen der SPD dies aber einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Sie starren wie das Kaninchen auf die Schlange, und sie schauen wie gebannt auf die Arbeiten dieser Enquete-Kommission. Von dort erwarten sie die Anregungen, die ihnen helfen sollen, ihre eigenen Konzeptionslosigkeit zu kaschieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es gibt in Bayern eine alte Volksweisheit, die Sie sich hinter die Ohren schreiben sollten: Wenn man so wie Sie nicht weiß, wohin die Reise gehen soll, hat es wenig Sinn, jemanden nach dem Weg zu fragen — die Enquete-Kommission —, wie Sie das gemacht haben.
Meine Damen und Herren, für die Koalition war von Anfang an klar:

(Egert [SPD]: Daß der Weg in die Irre führt!)

Mit dem Antrag, die Enquete-Kommission einzusetzen, verfolgte die Opposition im wesentlichen zwei Ziele — ich sagte das damals hier schon als Abgeordneter — : Erstens wollten Sie auf Zeit spielen, und zweitens wollten Sie davon ablenken, daß Sie über kein eigenes Reformkonzept verfügen.

(Dr. Thomae [FDP]: Richtig!)

Damals bei der Einsetzung der Kommission haben Sie den Vorwurf, Sie wollten auf Zeit spielen, noch weit von sich gewiesen. Doch heute frage ich Sie: Wo wären wir eigentlich angelangt, wenn wir der Forderung der SPD gefolgt wären und die Gesundheitsreform bis zum Abschluß der Arbeit der Enquete-Kommission vertagt hätten? Wir hätten heute, rund zwei Jahre nach dem Antrag der SPD, immer noch keinen Gesetzentwurf in diesem Hohen Haus beraten können,

(Jaunich [SPD]: Bei Ihrer Obstruktion sicher!)

ja wir hätten noch nicht einmal ein schlüssiges Reformkonzept. Der Zwischenbericht zeigt doch ganz deutlich: Die Enquete-Kommission vermag zwar eine Fülle von Optionen, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden, zusammenzutragen, aber ein Handlungskonzept, einen brauchbaren Vorschlag für den Gesetzgeber hat sie daraus nicht formuliert.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Die Kommission ist beispielsweise weit davon entfernt, ein in sich geschlossenes, tragfähiges und in seinen Konsequenzen überschaubares Konzept vorzulegen. Die Kommission bescheinigt sich ja selbst, daß ihre Diskussionen — ich zitiere — zu keinem einheitlichen, von allen Mitgliedern der Kommission gleichermaßen akzeptierten Konzept geführt hätten

(Zurufe von der SPD)

— hören Sie genau zu — und deshalb nur eine Skizze der diskutierten Alternativen vorgelegt werden könne.

(Dr. Thomae [FDP]: So ist es!)

Das ist der eigentliche Inhalt dieses Zwischenberichts.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Solch eine von uns gewünschte Alternative ist wohl auch mit dem Schlußbericht, der für Ende dieses Jahres angekündigt ist, nicht zu erwarten.
Ich halte noch einmal fest: Die SPD hat bis heute keine schlüssige Konzeption für die Reform des Gesundheitswesens vorlegen können und nur auf Zeit gespielt. Die Bundesregierung hat dagegen gehandelt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich frage noch einmal: Wohin wären wir gekommen, hätten wir uns auf die Verzögerungstaktik der Sozialdemokraten eingelassen? Erstens. Die Ausgaben der Krankenversicherung wären weiter geklettert. Der Beitragssatz bei den Krankenkassen hätte inzwischen vermutlich 13,5 % erreicht.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Mindestens!)

Das hätte allein in diesem Jahr eine Mehrbelastung der Beitragszahler von rund 5 Milliarden DM bedeutet.

(Kirschner [SPD]: Das sehen Sie ja bei Audi in Ihrem Wahlkreis!)

— Herr Kollege Kirschner, wenn Sie noch lange zurufen, sage ich Ihnen eine zweite bayerische Volksweisheit.

(Kirschner [SPD]: Immer raus damit!)

— Herr Kirschner, auf Ihren erneuten Zwischenruf sage ich Ihnen, wir sagen in Bayern: Die lautesten Kühe geben die wenigste Milch.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zweitens. Überhöhte Preise und Verschwendung, aber auch eine Unterversorgung und Versorgungsdefizite wären weiter auf der Tagesordnung.
Drittens. Den schwer Pflegebedürftigen wäre nicht geholfen worden.
Viertens. Eigenverantwortung und Wirtschaftlichkeit wären weiter Fremdworte in unserem Gesundheitswesen.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Fünftens. Das Leistungsgeschehen wäre nach wie vor eine Dunkelkammer. Den Vertragspartnern ständen immer noch keine Instrumente zum Erreichen von



Parl. Staatssekretär Seehof er
mehr Transparenz und Wirtschaftlichkeit bei den Leistungserbringern zu Verfügung.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Auch das haben wir gesagt!)

Das alles hätten wir hinnehmen müssen. Das wäre sozialpolitisch und gesundheitspolitisch unverantwortlich gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Selbst die bürokratische Kostendämpfung, wie sie die SPD seit Mitte der 70er Jahre praktiziert hat, wäre verantwortungsvoller als diese neue SPD-Taktik, die sich letztendlich gegen die Beitragszahler und die Kranken wendet.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Mit Recht haben wir uns nicht darauf eingelassen. Wir haben nicht gewartet, sondern gehandelt. Gegen interessenpolitisch bestimmte Widerstände haben wir dem Gemeinwohl zum Durchbruch verholfen und die Krankenversicherung wirklich reformiert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei der SPD)

Wir haben nicht schlichte Kostendämpfung betrieben, die nur an Symptomen kuriert, sondern haben bei den Ursachen angesetzt.

(Zuruf von der SPD: Wo denn?)

Wir haben die Krankenversicherung für die Zukunft leistungsfähig gemacht und auch finanzierbar erhalten.
Die Erfolge sind sichtbar. Zum erstenmal seit über zehn Jahren sind im ersten Quartal 1989 die Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung gesunken. Zum erstenmal seit über zehn Jahren!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Sie wissen doch auch, warum!)

Der Rückgang dieser Ausgaben wird sich in den folgenden Quartalen fortsetzen. Er wird weitere Beitragssenkungen über die in den 60 Krankenkassen schon beschlossenen hinaus ermöglichen.

(Kirschner [SPD]: Und zu Betriebskrankenkassengründungen führen!)

Die Kritiker, die unsere soliden Finanzberechnungen zunächst als Luftbuchungen bezeichnet haben, sind deutlich widerlegt worden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Egert [SPD]: Der Raubzug durch die Taschen der Versicherten hat schon stattgefunden!)

Bereits bevor die ersten Festbeträge in Kraft treten, senken viele pharmazeutische Unternehmen überhöhte Preise. Einen schlüssigeren Beweis für die Richtigkeit des Festbetragskonzepts kann es nicht geben. Herr Kollege Jaunich, ich gebe zu, der Weg dahin ist nicht ganz einfach. Aber wer Erfolg haben will, muß auch einen schwierigen Weg gehen. Und diesen Weg gehen wir.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD)

Die Festbeträge sind für uns ein Eckpfeiler dieser Reform. Allein die Vorschläge für Festbeträge für zehn Wirkstoffe, die jetzt vorliegen und wahrscheinlich nächste Woche beschlossen werden, bringen Einsparungen von rund 400 Millionen DM und bei den Versicherten Einsparungen in Höhe von 140 Millionen DM durch die wegfallende Rezeptblattgebühr. Das ist soziale Krankenversicherungsreform.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es wäre töricht, anstatt Festbeträge einzuführen, auf den Vorschlag der Enquete-Kommission einzugehen, den Arzneimittelmarkt durch Positivlisten zu reglementieren.

(Dr. Thomae [FDP]: Das wäre eine Katastrophe!)

Festbeträge sind ein freiheitliches Instrument. Sie bewahren die Therapiefreiheit des Arztes, und der Versicherte erhält eine in der Qualität gute medizinische Versorgung ohne Zuzahlung. Die Positivliste wäre demgegenüber bürokratischer Dirigismus.

(Dr. Thomae [FDP]: Richtig!)

Sie würde die Therapiefreiheit beseitigen. Preisverhandlungen mit Positivlisten sind, wie wir ja aus den Vertragsverhandlungen in der Vergangenheit gesehen haben, auch nicht in der Lage, den Preiswettbewerb so zu mobilisieren, wie dies mit Festbeträgen möglich ist. Die Richtigkeit des Festbetragskonzepts bestätigt die Enquete-Kommission im übrigen, wie dies Frau Kollegin Limbach gerade ausgeführt hat.
Die Erfolge der Gesundheitsreform zeigen sich auch dort, wo wir Versorgungsdefizite abbauen. Gerade jetzt, meine Damen und Herren, zu Beginn der Urlaubszeit, zeigt es sich, wie wichtig die Einführung des Pflegeurlaubs ist. Sie ist eine historische Weichenstellung in der Sozialpolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vielen Angehörigen, die seit langen Jahren einen Samariterdienst in den Familien versehen, wird zum erstenmal ein Ausspannen von der Betreuung der Pflegebedürftigen ermöglicht. Meine Damen und Herren, wenn wir dies nicht täten, würden die Pflegenden von heute die Pflegebedürftigen von morgen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Hunderte von Anträgen liegen vor und werden zur Zeit bewilligt. Wenn die zweite Stufe der Pflegeleistungen in Kraft getreten ist, werden die Krankenkassen für diese Leistungsverbesserung über 5 Milliarden DM ausgegeben haben.

(Egert [SPD]: Das ist doch einfach nicht wahr!)

Wären wir der SPD gefolgt, meine Damen und Herren, würden wir immer noch darüber diskutieren, ob Pflege eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist oder nicht.
Auch die Enquete-Kommission und hier insbesondere die SPD haben vor dieser Diskussion resigniert.



Parl. Staatssekretär Seehofer
Den Bürger interessieren aber nicht Diskussionen; den Bürger interessieren die tatsächlichen Hilfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Scharrenbroich [CDU/CSU]: Da ist die SPD wieder sprachlos!)

Meine Damen und Herren, die Enquete-Kommission war ohne Zweifel fleißig. Der geballte Sachverstand hat viele Seiten beschriftet und viele Probleme beschrieben. Aber Probleme lassen sich nicht durch Beschreibung lösen. Gefragt ist politischer Mut; gefragt ist zukunftsorientiertes Handeln. Beides haben wir mit der Gesundheitsreform bewiesen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114942200
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Die Fraktion der SPD hat beantragt, den Zwischenbericht der Enquete-Kommission zur Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zu überweisen.
Wer stimmt für diesen Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Es gibt keine Enthaltung. Dann ist die Überweisung mit knapper Mehrheit abgelehnt worden.
Wir kommen dann zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/4748. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Entschließungsantrag mit der gleichen Mehrheit angenommen worden.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 25 auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Achte Zusammenfassung der Berichte von in Südafrika engagierten deutschen Unternehmen über die bei der Anwendung des Verhaltenskodex der Europäischen Gemeinschaft für Unternehmen mit Tochtergesellschaften, Zweigniederlassungen oder Vertretungen in Südafrika erzielten Fortschritte und deren Bewertung durch die Bundesregierung
— Drucksache 11/3802 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Saibold, Frau Eid und der Fraktion DIE GRÜNEN
Kein Tourismusverkehr mit dem Apartheid-Staat
— Drucksachen 11/3161, 11/4453 —
Berichterstatter: Abgeordneter Lattmann
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Eid, Frau Schilling und der Fraktion DIE GRÜNEN
Unterstützung der Kriegsdienstverweigerer Südafrikas — 15. Mai 1989, Internationaler Tag der Kriegsdienstverweigerer
— Drucksache 11/4572 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Schmude, Ganseforth, Leidinger, Dr. Osswald, Dr. Timm, Toetemeyer, Verheugen, Weisskirchen (Wiesloch), Dr. Böhme (Unna), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Aufnahme südafrikanischer Kriegsdienstverweigerer in der Bundesrepublik Deutschland
— Drucksache 11/4652 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Zum Tagesordnungspunkt 25b liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4771 vor.
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte und ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

(Unruhe)

Darf ich vorschlagen, daß die Diskussion derjenigen, die jetzt gerade 90 Minuten diskutiert haben, draußen fortgesetzt werden, damit wir hier über Südafrika reden können. Auch mein Kollege Jaunich wird darum gebeten. Herr Kollege Jaunich, ich würde vorschlagen, die Diskussion nach 90 Minuten, wenn schon, dann draußen fortzusetzen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Frau Eid.

Ursula Eid-Simon (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1114942300
Herr Präsident! Meine Kollegen und Kolleginnen! In der vergangenen Woche fand in den Räumen des Deutschen Bundestages eine Konferenz über Menschenrechtsverletzungen in Südafrika statt, organisiert von der Vereinigung westeuropäischer Parlamentarier für Aktionen gegen Apartheid. Die Gäste aus Südafrika haben in eindringlicher Weise Zeugnis gegeben von dem menschenverachtenden, widerwärtigen Charakter des südafrikanischen Apartheidsystems. Sie sind das Risiko eingegangen, nach ihrer Rückkehr verhaftet zu werden und in der Zukunft keinen Paß mehr für eine Reise ins Ausland zu erhalten. Sie haben den beschwerlichen Weg hierher auf sich genommen, um in der Bundesrepublik, dem größten Unterstützerland des Apartheidregimes, der Öffentlichkeit ins Gewissen zu reden und an die verantwortlichen Politiker zu appellieren, endlich diese Unterstützung zu beenden, das Regime in Pretoria wirtschaftlich zu boykottieren und



Frau Eid
politisch zu isolieren, bis die Apartheid abgeschafft ist.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Doch wir, die Politiker, standen mit leeren Händen da, und ich habe mich geschämt. Ich habe mich geschämt, und es tut mir weh, daß es uns GRÜNEN, daß es mir im Deutschen Bundestag nicht gelungen ist, Kollegen und Kolleginnen für die Unterstützung unserer Anträge, selbst solcher, die nur kleinste Schritte forderten, zu gewinnen. Ich habe mich für dieses Parlament geschämt, den Gästen aus Südafrika, für die wir eine große Hoffnung sind, sagen zu müssen, daß alle unsere Initiativen im Bundestag von CDU/CSU und FDP abgelehnt worden sind. Selbst unsere Forderung vom letzten Dezember nach einem Moratorium für die Vollstreckung von Todesstrafen erhielt nicht die Unterstützung von CDU/CSU und FDP.
Wenn die Kollegen Hirsch und Baum hier wären, würde ich speziell sie fragen: Wie können Sie es angesichts der fortwährenden Vollstreckungen von Todesstrafen in Südafrika und der Verlängerung des Ausnahmezustandes am vergangenen Wochenende verkraften, wenn Ihnen in der Südafrikafrage klar werden muß, daß Sie in dieser Regierung Ihrem eigenen Anspruch an Menschenrechtspolitik überhaupt nicht gerecht werden? Spätestens bei jener Abstimmung über das Moratorium habe ich erkannt, daß Politikerinnen und Politiker, auch wenn sie persönlich noch so integer sein mögen, wie z. B. Frau Hamm-Brücher, Herr Baum und Herr Hirsch, das Feigenblatt für die FDP-Menschenrechtspolitik sind.
Ich habe mich für die Regierungsparteien geschämt. Sie, meine Herren und Damen, die die Macht hätten, Druck auf das Regime in Pretoria auszuüben, hab en entweder rhetorische Eiertänze aufgeführt oder auf die drängenden Fragen der südafrikanischen Gäste geschwiegen.
Dr. Beyers Naudé, der ehemalige Generalsekretär des Südafrikanischen Kirchenrates, machte erneut deutlich: Die Zeit ist um, in der die Entrechteten und Verfolgten in Südafrika hohlen Worten Glauben schenken. Eindringlich bat er um Antwort der hiesigen verantwortlichen Politiker und Politikerinnen auf zehn bei der Konferenz vorgelegte Fragen. CDU/CSU und FDP sind klare Antworten schuldig geblieben.
Herr Hirsch hat sich auf der Konferenz ausdrücklich, auch im Namen seiner Fraktion, für die Einstellung des direkten Luftverkehrs zwischen der Bundesrepublik und Südafrika ausgesprochen. Er hat erklärt, daß es — ich zitiere — „natürlich keine Umschuldungen für Südafrika" geben dürfe. Er hat angekündigt, dafür einzutreten, daß — ich zitiere wieder — „südafrikanische Kohlenmanager natürlich keinen Paß erhalten sollen, um in Frankfurt Kohle anbieten zu können".
Jetzt ist es an den Kollegen und Kolleginnen der FDP, die Impulse, die uns aus niederschmetternden Berichten von Frauen und Männern aus Südafrika gegeben wurden, umzusetzen. Unterstützen sie unsere Anträge und tragen Sie mit dazu bei, daß erstens junge Männer, die aus Gewissensgründen den Kriegsdienst in der südafrikanischen Rassistenarmee verweigern, bei uns Zuflucht gewährt bekommen, daß zweitens der von Ihnen selbst schon geforderte und am Dienstag auch im Namen Ihrer Fraktion — ich meine die FDP — vor der AWEPAA-Konferenz befürwortete Entzug der Landerechte für die südafrikanische Fluglinie verwirklicht und ein Verbot von Linien- und Charterflügen bundesdeutscher Fluggesellschaften nach Südafrika verhängt wird!
Ich hätte heute gern an Herrn Hirsch und Herrn Baum appelliert, die gegebene Zusage einzulösen, selektiven Sanktionen gegen Südafrika zuzustimmen. Unterstützen Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, gegen die Stimmen Ihrer eigenen Kollegen in Verkehrs- und Wirtschaftsausschuß unseren Antrag, daß das im Besitz der Deutschen Bundesbahn befindliche Deutsche Reisebüro und die Lufthansa keine Werbung mehr für touristische Reisen nach Südafrika durchführen dürfen!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herr Präsident, erlauben Sie mir zum Schluß nur ein paar persönliche Worte.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114942400
Ja, aber die Zeit ist überschritten. Ich gestatte Ihnen einen Satz.

Ursula Eid-Simon (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1114942500
Ja, danke.
Ich wollte mich bei Ihnen, Herr Präsident, dafür bedanken, daß Sie am Dienstag bei der AWEPAA-
Konferenz im Auftrag der Präsidentin den Empfang eröffnet haben. Ich wollte mich für Ihre Rede bedanken. Und da Sie ihren 65. Geburtstag gefeiert haben, wollte ich hier, von dieser Stelle aus, die Glückwünsche meiner Fraktion übermitteln und Ihnen noch viel Kraft und Energie wünschen, daß Sie noch lange Politiker bleiben können; denn Menschen, Politiker wie Sie, sind noch eine Hoffnung für unsere Generation.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114942600
Und da sollte ich nun die Redezeit nach der Geschäftsordnung abbrechen. Das konnte ich nicht. Ich bitte um Verzeihung. Danke schön.
Herr Hornhues ist der nächste Redner.

Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU):
Rede ID: ID1114942700
Herr Präsident, Ihnen auch meine Glückwünsche und alles Gute in aller Kürze, wegen der Redezeit.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Meldungen und Berichte aus Südafrika sind in letzter Zeit wieder einmal bunt geworden. Auf der einen Seite erreichen uns Meldungen, die zu Hoffnung Anlaß geben könnten. Das gilt z. B. wenn der südafrikanische Außenminister erklärt, das System der Apartheid habe keine Zukunft, wenn der designierte südafrikanische Staatspräsident de Klerk noch klarere Sätze in seinem Parlament spricht und wenn die Nederduitse Gereformeerde Kerk, die Staatskirche der Buren, Apartheid zur Sünde erklärt. Dies sind Sätze, die immer wieder hoffen lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)




Dr. Hornhues
Auf der anderen Seite aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, müssen wir genauso zur Kenntnis nehmen, daß es den Ausnahmezustand und alles, was damit verbunden ist, gibt, daß neue Todesurteile dazugekommen sind und daß weitere politische Organisationen gebannt sind. Dies bedeutet, auch mit Blick auf manche Anträge, daß viele junge weiße Südafrikaner vor der Frage stehen, ob sie denn bereit sein sollen, in eine Armee einzutreten, die im Zweifelsfalle gegen die eigenen Landsleute eingesetzt wird. Dies führt für viele zu gewaltigen Gewissensqualen. Wenn sie den Wehrdienst verweigern, können sie bis zu sechs Jahren Gefängnis bekommen. Das ist eine unakzeptable Angelegenheit. Auf diesem Hintergrund werden sicherlich die hier gestellten Anträge, die überwiesen werden sollen, ernsthaft beraten werden müssen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die anderen Punkte beziehen sich zunächst einmal auf den erneut vorgelegten Bericht der Bundesregierung über die Anwendung des Verhaltenskodex der Europäischen Gemeinschaft. Ich habe mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung berichtet, daß weitgehend dieser Kodex eingehalten wird und bei den deutschen Firmen von daher ein Mindeststandard in den Arbeitsbeziehungen weitgehend gewährleistet ist. Daß weitere Verbesserungen nötig sind, ist ebenso klar.
In diesem Zusammenhang möchte ich nachdrücklich den 14-Punkte-Katalog der IG Metall und ihres Vorsitzenden Steinkühler begrüßen, der, glaube ich, einen sehr konstruktiven Beitrag für die weitere Entwicklung der Beziehungen bedeutet.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

Ich freue mich auch — weil man ja sonst immer nur Negatives zu berichten oder zu kritisieren hat — , daß große Teile der in Südafrika tätigen deutschen Wirtschaft, Forderungen dieses Katalogs in Verhandlungen mit ihren Gewerkschaften akzeptiert und übernommen haben. Dies ist ein weiterer wichtiger Schritt dazu, daß Apartheid, so hoffe ich, auf friedliche Weise Schritt um Schritt überwunden werden kann. Alle Unternehmen, die sich bisher, aus welchen Gründen auch immer, nicht haben entschließen können, da mitzumachen mächt ich nachdrücklich auffordern, hinzutreten und mitzumachen, diesen Weg auch zu gehen, denn Sie tun damit einiges zur Abschaffung der Apartheid. Sie tun aber auch einiges für sich selber — wenn das erste Argument sie nicht allzu sehr überzeugen sollte.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, zu dem hier zur Entscheidung anstehenden Antrag, den Tourismus nach Südafrika zu unterbinden, verweise ich auf die Begründung in der Beschlußempfehlung des Ausschusses. Wir meinen in bezug auf Tourismus, daß wir es unseren Bürgern freistellen sollten, wohin sie reisen. Wir sollten Sie nicht bevormunden, wiewohl ich nicht traurig wäre, Frau Kollegin Eid, wenn viele der Deutschen, die nach Südafrika reisen, sich nicht nur die schönen Strände, die schönen Berge und die Tiere ansähen, sondern sich auch mit den Problemen dieses Landes beschäftigen würden. Viele mögen es nicht tun. Aber ich versichere Ihnen: Einige tun es.
Und die würden Sie mit Ihrem Antrag hindern, schlauer zu werden. Wir lehnen diesen Antrag ab.
Die letzte Anmerkung: In der kommenden Woche wird der südafrikanische Erziehungsminister de Klerk in Bonn sein. Er wird Gespräche mit dem Außenminister und dem Bundeskanzler führen. Ich begrüße dies nachdrücklich, weil nach allem, was vorhersehbar ist, er der nächste südafrikanische Staatspräsident sein wird.
Ich verbinde für mich und, ich hoffe, für alle meine Freunde mit diesen Gesprächen die Erwartung, daß die Bundesregierung deutlich macht, wie sehr wir daran interessiert sind und uns daran gelegen ist, daß endlich in Südafrika ein konkreter Versuch unternommen wird, die Probleme des Landes zu lösen und die Überwindung der Apartheid durch Verhandlungen zu erreichen, und daß deutlich wird und es vielleicht auch Zusagen gibt, daß die Aufhebung des Ausnahmezustands, der die Verhaftung bestimmter Personen, etwa Nelson Mandelas, bedeutet, die entscheidende und unverzichtbare Voraussetzung dafür sein muß, daß es überhaupt zu Verhandlungen kommen kann.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114942800
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schmude.

Dr. Jürgen Schmude (SPD):
Rede ID: ID1114942900
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Apartheid bedeutet Trennung; die Aufgabe der südafrikanischen Armee ist es, die Politik der Trennung zu stützen." Das war die Erklärung, mit der der 18jährige Charles Bester seine Verweigerung des Militärdienstes in Südafrika begründet hat. Er wurde dafür mit sechs Jahren Gefängnis bestraft.
Wir wissen: Apartheid bedeutet im einzelnen noch viel mehr. Sie bedeutet Diskriminierung, Entrechtung, Unterdrückung, Gewalt gegen Menschen, die Unrecht nicht länger hinnehmen wollen. Auch aus den Berichten junger Wehrpflichtiger wissen wir: Durch das Militär werden Menschen verletzt, gefoltert, getötet.
Die UNO-Generalversammlung hat wiederholt appelliert zum einen an die jungen Männer in Südafrika, den Wehrdienst zu verweigern, zum anderen an alle Mitgliedstaaten, solche Wehrdienstverweigerer aufzunehmen und ihnen Schutz vor drohender Bestrafung zu gewähren.
Die jungen Männer verweigern, wenn auch in kleiner Zahl. Einige nehmen harte Strafen dafür in Kauf. Andere müssen flüchten. Einige sind hier und bemühen sich um Aufnahme.
Was tun wir? Nehmen wir sie auf? Unser Asylverfahren hat sich als umständlich erwiesen. Die Sprüche, die da herausgekommen sind, sind inhaltlich unbefriedigend. Wir können dieses Asylverfahren nicht vom Bundestag her durch Entschließungen beeinflussen.
Deshalb unser sozialdemokratischer Antrag, die Bundesregierung möge erklären, daß sie bereit ist,



Dr. Schmude
nach § 22 des Ausländergesetzes die Übernahmezusage für alle jungen Männer zu geben, die als Kriegsdienstverweigerer Schutz vor drohender Bestrafung suchen.
Wir wissen: Wir können in der Bundesrepublik nicht alle Kriegsdienstverweigerer der Welt in einer solchen Weise aufnehmen. Aber Südafrika ist ein Sonderfall, aus den genannten Gründen und auch deshalb, weil die UNO-Generalversammlung wiederholt Beschlüsse gefaßt hat, an die wir uns halten sollten.
Vielleicht kann man auf der Regierungsbank die Unterhaltung etwas leiser führen. Es stört hier vorne.
Es handelt sich um eine kleine Zahl von jungen Männern, die da in Betracht kommt. Aber wenn wir die Aufnahmebereitschaft erklären, wäre das ein großartiges Signal.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie des Abg. Irmer [FDP])

Es wäre ein Signal der Ermutigung für die jungen Männer; man würde sie hier willkommen heißen. Es wäre ein Signal der Mißbilligung für ein Regime, das Schwarze unterdrückt und das deshalb für uns illegitim ist und keinerlei Anerkennung finden kann.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie des Abg. Irmer [FDP])

Der Antrag der GRÜNEN sieht darüber hinaus vor, die Bundesregierung solle sich für die Freilassung der Inhaftierten einsetzen. Wir stehen dem mit Sympathie gegenüber. Aber es ist sicher schwierig, dies durchzuführen.,
Was die deutschen Staatsangehörigen anlangt, die in der südafrikanischen Armee Dienst tun, bin ich dafür, daß wir in der Ausschußberatung sehr sorgfältig die Rechtsfragen, die hier eine Rolle spielen, um der Sache wirklich auf den Grund zu gehen.

(Werner [Ulm] [CDU/CSU]: Was soll das konkret heißen!)

Für die Kriegsdienstverweigerer aber können wir schnell und problemlos etwas tun. Auf dieses Thema sollten wir uns konzentrieren und sollten auch eine positive Entscheidung treffen. Herr Hornhues, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie ernsthafte Beratungen in Aussicht gestellt haben.
Nun gilt es heute noch abzustimmen über einen Antrag der GRÜNEN, mit dem die Tourismuswerbung bei bundeseigenen oder vom Bund beherrschten Unternehmen beendet werden soll und mit dem Landerechte gestrichen werden sollen, mit dem Ergebnis, daß es eine direkte Flugverbindung nicht mehr gibt.
Namens der Sozialdemokratischen Partei zeige ich Ihnen an, daß wir dem zustimmen werden und zwar in der geänderten Form Ihres Antrages, woran uns sehr viel liegt.
Es geht nicht um Bevormundung. Aber Tourismus, wie er heute praktiziert wird, dient der südafrikanischen Regierung zur Verschleierung und Irreführung.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Das soll man nicht noch durch Bundesunternehmen unterstützen.

(Abg. Hinsken [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage!)

— Meine Redezeit geht zu Ende, es geht nicht mehr.

(Hinsken [CDU/CSU]: An die Leibwächter Winnie Mandelas, die unschuldige Menschen niedergemacht haben, haben Sie keine Signale ausgesandt! Das haben Sie völlig vergessen!)

Die Landerechte zu entziehen und die Direktverbindung zu unterbrechen, das wäre ein wichtiges Zeichen dafür, daß wir eine normale Verbindung dorthin, nach Südafrika, nicht haben.

(Werner [Ulm] [CDU/CSU]: Wohin dürften wir dann überhaupt noch fliegen!)

— Stören Sie mich doch nicht. Wenn man unterwegs umsteigt, dann wird manchem deutlicher werden, daß dies kein Staat wie jeder andere ist und daß man nicht kurzerhand mit ihm normale Verbindungen haben kann.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Ich bin betroffen durch die Ablehnung im Wirtschaftsausschuß, wo es hieß, das seien Sanktionen. Ja, ist denn das ein Tabu? Normalerweise sagt man uns, die Schwarzen seien betroffen. Hier sind sie nicht betroffen, hier können wir wirklich etwas tun, wenn auch wenig.

(Kalisch [CDU/CSU]: Natürlich sind sie betroffen!)

— Nun beklagen Sie nicht fortwährend das Schicksal der Menschen dort, klagen Sie nicht gegen die Apartheid, tun Sie was! Hier haben Sie die Chance.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Hinsken [CDU/CSU]: Seien Sie doch nicht so einseitig! — Weiterer Zuruf von der CDU/ CSU: Das ist fast wie auf dem Evangelischen Kirchentag!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114943000
Das Wort hat der Abgeordnete Irmer.

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1114943100
Vielen Dank, Herr Präsident.
Ich beginne mit den Kriegsdienstverweigerern. Auch ich bin der Auffassung, daß dies ein guter Vorschlag ist, den wir uns im Ausschuß sehr ernsthaft überlegen müssen. Ich neige heute schon von der Tendenz her dazu zu sagen, ohne nähere Prüfung, daß man das machen soll und zwar ganz einfach aus dem Grund, weil hier eine Möglichkeit besteht, ohne irgendwelche negativen Folgen, ohne irgend jemanden zu schädigen, wirklich mal ein deutliches Zeichen zu setzen.

(Frau Eid [GRÜNE]: Noch ein Eiertanz!)

Es sind ja nicht Kriegsdienstverweigerer im klassischen Sinne, sondern ganz andere. Das sind Menschen, die im Grunde die Apartheid verweigern, die die Unterdrückung verweigern und die den Bürgerkrieg verweigern; es sind Bürgerkriegsverweigerer, weil sie es nämlich mit ihrem Gewissen nicht verein-



Irmer
baren können, notfalls auf schwarze Südafrikaner zu schießen, die sie so wie wir als südafrikanische Staatsbürger betrachten, auch wenn die südafrikanische Regierung beharrlich behauptet, die Schwarzen hätten keine Staatsbürgerschaft in Südafrika.
Meine Damen und Herren, zu dem Verhaltenskodex und seiner Einhaltung stellen wir mit Befriedigung fest, daß sich die meisten der deutschen Firmen in Südafrika offensichtlich wohl an den Kodex halten. Für mich wäre die Liste der Firmen, die nicht Bericht erstattet haben, allerdings fast noch interessanter zu lesen als die Liste der Firmen, die Bericht erstattet haben. Ich wäre der Bundesregierung dankbar, wenn sie hier noch nachbessern würde.

(Toetemeyer [SPD]: Das fordern wir seit zwei Jahren vergeblich! — Zuruf von den GRÜNEN: Sie hat keine Sanktionsmöglichkeit, sagt sie!)

Außerdem möchte ich ausdrücklich, wie es auch Herr Hornhues getan hat, den Forderungskatalog der IG Metall und des internationalen Gewerkschaftsbundes begrüßen. Wir gehören ja nicht zu denen, die der IG Metall bei allem, was sie fordert, ständig zujubeln.

(Hinsken [CDU/CSU]: Es gäbe auch keinen Anlaß dafür!)

Aber wenn sie wirklich mal etwas sehr Gutes tut, dann wollen wir das auch laut sagen: Vielen Dank, Herr Steinkühler, für diese wichtige Initiative.
Ich bitte die Bundesregierung, sich nachdrücklich dafür einzusetzen, daß der EG-Verhaltenskodex durch diesen Forderungskatalog, der von der IG Metall aufgestellt wurde, angereichert und ergänzt wird.

(Toetemeyer [SPD]: Sehr gut!)

Es wäre nützlich, wenn sich alle europäischen Firmen daran halten würden. Ich ermuntere auch alle Unternehmen, die das bisher nicht getan haben — dankenswerterweise haben es schon einige erklärt — mit den südafrikanischen Gewerkschaften entsprechende Vereinbarungen zu treffen und sich diesem Forderungskatalog auch zu unterwerfen.

(Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

Zur Frage der Landerechte: Herr Hirsch hat mit Recht gesagt, Frau Eid, daß es einen Bundesparteitagsbeschluß der FDP gibt, in dem wir sagen: Das muß auch in die möglichen Maßnahmen mit einbezogen werden. Nur, Frau Eid, Ihr Antrag ist aus einem ganz einfachen Grunde unsinnig: Sie fordern das von der Lufthansa. Ja, wissen Sie, was dann passiert? Dann weichen alle auf andere europäische Fluggesellschaften aus. Das muß, damit es überhaupt wirkt, EG-weit gemacht werden, sonst bringt es überhaupt nichts.

(Beifall bei der FDP — Widerspruch bei den GRÜNEN — Frau Eid [GRÜNE]: Wir sind Deutsche, Herr Irmer!)

Das ist Punkt 1.
Zweitens. Ich frage Sie: Was wollen Sie denn damit erreichen? Glauben Sie, daß, wenn wir das jetzt machen, dadurch das Apartheidregime in die Knie geht? Ich sage Ihnen: Wir sollten uns solche gezielten Einzelmaßnahmen, die durchaus sinnvoll sein können, für Momente aufsparen, wo wir damit ein begrenztes Einzelziel auch durchsetzen können,

(Frau Garbe [GRÜNE]: Der Moment ist jetzt da!)

wo wir dann, an eine konkrete Situation angepaßt, Druck ausüben können und die Regierung in Südafrika dazu zwingen können, etwas Bestimmtes zu tun, z. B. Todesurteile aufzuheben oder nicht zu vollstrecken. Wir machen doch die Sanktionen zur kleinen Münze, wenn wir mit Maßnahmen wie dieser versuchen, gegen das Apartheidregime als solches anzugehen.

(Abg. Frau Eid [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Frau Eid, ich sage doch gar nicht, daß ich nicht innerlich vollkommen auf Ihrer Seite wäre.

(Frau Eid [GRÜNE]: Dabei bleibt es dann aber auch!)

Aber was bringt es? Wir sind hilflos; ich gebe es zu.

(Seesing [CDU/CSU]: Die Redezeit ist zu Ende!)

— Ist sie zu Ende, Herr Präsident?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114943200
Ich versuche schon die ganze Zeit, Sie zu unterbrechen.

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1114943300
Dann möchte ich zum Schluß auch noch meinerseits dem Herrn Präsidenten nachträglich herzlich zum Geburtstag gratulieren.

(Beifall)

Nun ist meine Redezeit also zu Ende. Frau Eid, das ist ja ein altes Thema, über das wir schon oft gesprochen haben. Wir kennen gegenseitig unsere Standpunkte.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114943400
Bei dieser Menge von Freundlichkeit hätte ich die Zwischenfrage glatt noch zugelassen!
Der nächste Redner ist der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Riedl aus dem Bundesministerium für Wirtschaft.

Dr. Erich Riedl (CSU):
Rede ID: ID1114943500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte hier zum Verhaltenskodex der EG sprechen und für die Bundesregierung folgendes erklären:
Die 8. Zusammenfassung der Berichte von in Südafrika engagierten deutschen Unternehmen hat den EG-Verhaltenskodex von 1977 in der Fassung von 1985 zur Grundlage. Der Kodex schreibt eine jährliche Berichterstattung vor. Die vorliegende 8. Zusammenfassung erfaßt den Zeitraum vom 1. Juli 1986 bis zum 30. Juni 1987.



Parl. Staatssekretär Dr. Riedl
Die 94 Unternehmen, über die berichtet wird, beschäftigen, Herr Kollege Irmer, 88 % aller Arbeitnehmer in Niederlassungen mit deutscher Beteiligung in der Republik Südafrika und sind damit durchaus repräsentativ.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß der Verhaltenskodex der Europäischen Gemeinschaft für Unternehmen mit Tochtergesellschaften, Zweigniederlassungen oder Vertretungen in Südafrika einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Schwarzen in Betrieben europäischer Tochtergesellschaften in Südafrika leistet und dadurch zur Beseitigung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Apartheid beiträgt.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Er gibt Empfehlungen für die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen den Tarifvertragsparteien sowie der Entlohnung, der Ausbildung, des Aufstiegs und der freiwilligen Sozialleistungen und fordert die Aufhebung der Rassentrennung am Arbeitsplatz. Zudem nimmt er sich der Probleme der Wanderarbeitnehmer und der Förderung von Unternehmensgründungen durch Schwarze an.
Die Tochtergesellschaften der deutschen Unternehmen in Südafrika befolgen die Empfehlungen des Kodex in hohem Maße. Die Ausfüllung des Kodex hat sich daher als Beitrag der Wirtschaft zum Abbau der Rassendiskriminierung im Arbeits- und Sozialleben in der Republik Südafrika bewährt.
Unbeschadet des hohen Beteiligungsgrades drängt die Bundesregierung, unterstützt von den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft, darauf, daß alle deutschen Firmen die Empfehlungen des Kodex einhalten und voll anwenden.
Auch dies, Herr Kollege Irmer, ist eine Antwort auf Ihre Frage nach den Unternehmen, die sich nicht gemeldet haben.
Bei leichter konjunktureller Belebung, langfristig aber eher skeptisch zu betrachtender Wirtschaftsentwicklung haben die Unternehmen gleichwohl ihre Anstrengungen zur Erreichung und Einhaltung der Kodexforderungen fortgesetzt. So liegt die Zahl der Unternehmen, die die Mindestlohnempfehlung befolgen, bei 90 mit fast 90 % der Arbeitnehmer. Die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften wurde erneut intensiviert und ausgebaut und erfaßt bereits mehr als 80 % der Arbeitnehmer.
Besonders positiv ist die Haltung der deutschen Unternehmen zur Aus- und Fortbildung ihrer Arbeitnehmer zu werten. Vier Fünftel der Unternehmen mit 80 % der Beschäftigten bieten besondere betriebliche oder überbetriebliche Ausbildung an. Mit Nachdruck sollten sie die Ausbildungsmaßnahmen fortsetzen und ausbauen, um zu einer verstärkten Mitwirkung von Schwarzen am Wirtschaftsgeschehen beizutragen.
Insgesamt ist die Entwicklung der sozialen und arbeitsrechtlichen Beziehungen bei den deutschen Unternehmen in Südafrika positiv zu bewerten.
Mit Befriedigung stellt die Bundesregierung fest, daß bei keinem der berichtenden deutschen Unternehmen Rassentrennung am Arbeitsplatz besteht und daß gleiche Arbeitsbedingungen gewährleistet sind.
Auch im Arbeitsumfeld werden bei 80 % der Arbeitnehmer keine rassischen Unterschiede mehr gemacht. Meine Damen und Herren, das ist ein elementarer Vorteil, und ich wundere mich, daß dies von der Opposition überhaupt nicht anerkannt wird.

(Zuruf von der CDU/CSU: Leider!)

Indessen legt die Bundesregierung unverändert Wert darauf, daß auch hier die Rassendiskriminierung vollständig abgebaut wird. Soweit verbleibende Rassentrennung im Arbeitsumfeld auf nicht von den Unternehmen zu vertretende Umstände zurückzuführen ist, fordert die Bundesregierung die Unternehmen auf, sich um Ausnahmeregelungen zu bemühen.
Im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit sind Inhalt und Form der Neufassung des Verhaltenskodex vom 19. November 1985 abgestimmt worden. Der Empfehlungscharakter ist der gemeinsamen politischen Zielrichtung angemessen. Die sehr weitgehende Befolgung des Kodex durch die Unternehmen spricht für den Wirkungsgrad der Empfehlungen. Ein als zwingende Rechtsvorschrift ausgestalteter Kodex würde wohl kaum noch eine Verbesserung der Ergebnisse erreichen.
Angesichts der schwierigen politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen in Südafrika erkennt die Bundesregierung die erneuten Fortschritte an, die die deutschen Unternehmen bei der Anwendung des Kodex gemacht haben. Die Bundesregierung ruft die deutschen Unternehmen auf, ihrer sozialpolitischen Verantwortung auch in der Zukunft gerecht zu werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114943600
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Zu Tagesordnungspunkt 25 a — das ist die Unterrichtung durch die Bundesregierung zur Achten Zusammenfassung der Berichte — schlägt der Altestenrat vor, die Vorlage an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Die Vorlagen zu den Tagesordnungspunkten 25 c und 25 d — sie betreffen die Kriegsdienstverweigerer Südafrikas — , die ich jetzt zuerst aufrufe, sollen nach einer interfraktionellen Vereinbarung anders, als in der Tagesordnung vorgesehen, zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß überwiesen werden. Sind Sie mit diesen Überweisungen einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind diese Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 25b, und zwar zuerst zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4771. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Gibt es Enthaltungen? — Dann ist dieser Änderungsantrag mit Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/4453. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3161 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschluß-



Vizepräsident Westphal
empfehlung des Ausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Börsengesetzes
— Drucksachen 11/4177, 11/4333 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuß)

— Drucksache 11/4721 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Fell Dr. Solms
Dr. Wieczorek

(Erste Beratung 134. Sitzung)

Bei den Rednern besteht Bereitschaft, meine Damen und Herren, daß die Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll gegeben werden.

(Beifall)

Das ist eine Abweichung von der Geschäftsordnung. Sind Sie damit einverstanden? — Das kann ich feststellen. Das ist mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen. *)
Nun muß der Abgeordnete Solms das Wort zu einer kurzen Berichtigung bekommen. Bitte schön.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1114943700
Vielen Dank, Herr Präsident. In der Beschlußempfehlung, Drucksache 11/4721, hat sich leider der Druckfehlerteufel eingeschlichen. Auf Seite 14 unter Art. 2 muß es anstatt „Aufhebung der Vorschriften" „Aufhebung von Vorschriften" heißen. Ich bitte, daß dieses korrigiert wird.
Vielen Dank.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114943800
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Börsengesetzes.
Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind diese Vorschriften mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der GRÜNEN und Enthaltungen der SPD-Fraktion angenommen worden.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Mit der gleichen Mehrheit ist der Gesetzentwurf angenommen worden.
*) Die Reden werden als Anlage 2 im Plenarprotokoll 11/150 abgedruckt.
Meine Damen und Herren, es ist noch über einen Entschließungsantrag abzustimmen, dessen Annahme der Finanzausschuß auf Drucksache 11/4721 unter Nr. 2 empfiehlt. Wer stimmt für diese Entschließung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Also auch diese Entschließung ist mit der gleichen Mehrheit, den gleichen Gegenstimmen und Enthaltungen angenommen worden.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit (20. Ausschuß)

a) zum Antrag der Fraktion der SPD
Förderung von Frauen in Entwicklungsländern
b) zum Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN
Frauen in der Entwicklungszusammenarbeit
— Drucksachen 11/859, 11/1917, 11/3732 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Luuk Frau Männle
Die Redner und Rednerinnen sind auch in diesem Falle einverstanden, daß die Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll gegeben werden.

(Beifall)

Ich möchte in dem Zusammenhang darauf hinweisen: Sie geben nicht nur zu Protokoll, sondern es steht nachher tatsächlich darin.
Sie sind mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung offensichtlich einverstanden. — Ich stelle fest, daß dies die erforderliche Mehrheit hat und so beschlossen ist." *)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit auf Drucksache 11/3732. Der Ausschuß empfiehlt auf dieser Drucksache unter dem Buchstaben a), den Antrag der Fraktionen der SPD auf Drucksache 11/859 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung unter Buchstabe a) mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Stimmenthaltungen der GRÜNEN angenommen worden.
Der Ausschuß empfiehlt weiter auf Drucksache 11/3732 unter dem Buchstaben b), den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1917 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußfassung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei der Mehrheit der Koalitionsfraktionen, gegen die Stimmen der GRÜNEN, bei zwei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und sonstiger Enthaltung der SPD ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.
*) Anlage 2



Vizepräsident Westphal
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Beruf der Rettungsassistentin und des Rettungsassistenten (Rettungsassistentengesetz — RettAssG)

— Drucksache 11/2275 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (13. Ausschuß)

— Drucksache 11/4542 —
Berichterstatter: Abgeordneter Wittich
b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/4664 —
Berichterstatter: Abgeordnete Kalb Frau Dr. Wegner Frau Rust

(Erste Beratung 81. Sitzung)

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4753 vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat, meine Damen und Herren, sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Werner (Ulm).

Herbert Werner (CDU):
Rede ID: ID1114943900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach fast vierjähriger Vorbereitung wird heute endlich das Berufsbild für den hauptamtlichen Sanitäter im Notfall- und Rettungsdienst verabschiedet. Wie im Gesetzentwurf vorgesehen, soll er nunmehr Rettungsassistent heißen und eine zweijährige Ausbildung erhalten, die den vielfältigen Anforderungen bei der Erstversorgung und beim Transport von Unfallopfern und von Kranken in Lebensgefahr gerecht wird.
Die Rettungsassistenten sollen für den Arzt qualifizierte Helfer sein und bis zu dessen Eintreffen die notwendigen lebensrettenden Maßnahmen einleiten können. Die richtige Hilfe in den ersten Minuten entscheidet über die Überlebensaussichten von Menschen in Lebensgefahr. Sie erhöht die Chancen der gesundheitlichen Wiederherstellung und kann, auch volkswirtschaftlich gesehen, somit in erheblichem Ausmaß Kosten reduzieren. Wir hoffen, daß die Länder durch Rettungsgesetze sicherstellen, daß in Zukunft jeweils mindestens ein Rettungsassistent auf dem Rettungstransportfahrzeug sein wird.
Mit Nachdruck haben wir uns in den Beratungen für die Beibehaltung der ehrenamtlichen Rettungshelfer mit einer Ausbildung von 250 Stunden und der Rettungssanitäter mit 520 Stunden Ausbildung ausgesprochen; denn ohne deren Engagement wären die Rettungsorganisationen sowohl personell als auch finanziell überfordert, ihre Aufgaben sinngemäß und sachgerecht zu erfüllen.
Deshalb blieben wir schließlich, auch wegen der Gliederung und der Verdeutlichung der Berufsbezeichnung, doch bei dem Begriff „Rettungsassistent". Ein zweijährig ausgebildeter „staatlich geprüfter Rettungssanitäter" hätte nach Meinung der Rettungsorganisationen zu rechtlichen Schwierigkeiten geführt und die unterschiedlichen Ausbildungs- und Einsatzkriterien verwischt. Um der Klarheit und Vergleichbarkeit mit anderen Ausbildungsgängen willen haben wir auch die Bezeichnung „Rettungssanitäter mit Diplom" schließlich verworfen; denn ein Diplom legt letztendlich ja eine Ausbildung auf Fachhochschulebene nahe.
Auf Grund der Anhörung und zahlreicher Gespräche glauben wir, daß eine zweijährige Vollzeitausbildung den gesteigerten Anforderungen im Noteinsatz durchaus gerecht wird. Die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung, deren Rahmen uns schon vorliegt, wird die einzelnen Ausbildungsabschnitte festlegen. Damit die Ausbildung auch im Lehrgangsjahr praxisnah geschieht, haben wir im Ausschuß die Vorgabe gemacht, daß der Schüler mindestens drei Wochen in einem Stück an einer Rettungswache hospitieren müsse. Als notwendig erachten wir auch, daß im Praktikumsjahr eine regelmäßige Eignungskontrolle mittels Testaten erfolgt.
Die staatliche Prüfung selber liegt in der Mitte der Ausbildung, weil der Auszubildende bereits im zweiten Jahr an Einsätzen teilnimmt. Aus diesem Grunde haben wir den ursprünglich aufgegriffenen Vorschlag, die Prüfung an das Ende der zweijährigen Ausbildung zu setzen, nicht mehr weiterverfolgt.
Von Bedeutung für die Berufsverbände und die Rettungsorganisationen ist, daß die Übergangsregelung, nach der Rettungssanitäter mit der bisherigen 520-
Stunden-Ausbildung den Status von Rettungsassistenten erhalten können, sehr großzügig gehalten und gefaßt wurde. Es dürften bei der Umsetzung des Gesetzes keine allzu großen Engpässe auftreten, auch nicht während des Lehrgangsjahres, das im wesentlichen an den vorhandenen Schulen der Rettungsorganisationen stattfinden wird.
Hier noch ein Wort zu dem vorgesehenen Schülerstatus. Gerade durch die Anhörung wurden wir in unserer Auffassung bekräftigt, die Ausbildung bei zwei Jahren zu belassen und nicht die Grundzüge des Berufsbildungsgesetzes hierfür zu übernehmen. Das bedeutet allerdings, daß wie in anderen Heilhilfsberufen der Auszubildende Schulgeld bezahlen wird. Das wird auch bedeuten, daß es tarifrechtliche Vereinbarungen, so wie dies die SPD vorgeschlagen hat, nicht geben wird.
Auch an diesem Punkt haben wir uns letztlich an der Bund-Länder-Kommission für das Rettungswesen und an den Rettungsorganisationen orientiert, die besonderen Wert sowohl auf die Begrenzung der Kosten als auch auf eine wirklich anforderungsgemäße Ausbildungsdauer legten. Es mag sein, daß in der Anlaufphase des Gesetzes vereinzelt Schwierigkeiten auftreten werden. Je elastischer die Ausbildungs- und Prüfungsordnung jedoch sein wird, um so geringer werden diese sein. Die Frage der eventuellen späteren Umschulung wird in anderen Gesetzen zu regeln sein; ich weise darauf hin.



Werner (Ulm)

Wir glauben, daß wir insgesamt eine bedarfsgerechte, sachbezogene und durchführbare Regelung der Ausbildung zum Rettungsassistenten gefunden haben. Sie trägt den hohen Anforderungen im Notfalleinsatz, den Erfordernissen der Rettungsorganisationen und den Wünschen der Auszubildenden nach einer soliden, qualifizierten Ausbildung im Rahmen eines festumrissenen Berufsbildes Rechnung. Wir hoffen, daß durch den Einsatz der Rettungsassistenten mehr Menschenleben am Unfallort und auf dem Transport gerettet werden können. Wir danken an dieser Stelle ausdrücklich all denen, die sich schon bisher der Lebensrettung verschrieben haben, und denen, die auch in Zukunft diesen Beruf ergreifen werden.
Zu den Änderungsanträgen der SPD, Herr Kollege Wittich, muß ich sagen, daß sie eigentlich nur die Wiederauflage dessen sind, was wir schon im Ausschuß beraten und mit Mehrheit abgelehnt haben. Wir werden deswegen Ihren Vorschlägen auch hier nicht zustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114944000
Das Wort hat der Abgeordnete Wittich.

Berthold Wittich (SPD):
Rede ID: ID1114944100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In allen Phasen des Beratungsverfahrens zum Entwurf eines Gesetzes über den Beruf der Rettungsassistentin und des Rettungsassistenten haben wir Sozialdemokraten unsere Positionen klar abgesteckt. Immer haben wir unmißverständlich deutlich gemacht, daß es uns einmal um die qualitative Anhebung des bisherigen Leistungsniveaus geht, um den neuesten Erkenntnissen der Notfallmedizin Rechnung zu tragen. Zum anderen haben wir konsequent das Ziel verfolgt, den Status der Auszubildenden sozial und rechtlich abzusichern.
Der vorliegende Entwurf wird diesem Anliegen nicht gerecht, weil erstens die Struktur der Ausbildung gravierende Mängel enthält. Schon in der ersten Lesung habe ich diese strukturellen Mängel aufgezeigt: keinen sinnvoll abgestuften Lernprozeß, den Wechsel zwischen Klinik, Schule und Rettungsdienst, die fehlende Verzahnung von Theorie und Praxis, die Verschulung der ersten Ausbildungsphase, die Plazierung der Prüfung zwischen Lehrgang und Praktikum, die Abwertung des praktischen Teils der Ausbildung und schließlich die Möglichkeit des mißbräuchlichen Einsatzes der Praktikanten.
Der vorliegende Entwurf ordnet zweitens den Auszubildenden den Rechtsstatus des Schülers zu. Dieser Sozialstatus schließt die arbeitsrechtliche und soziale Absicherung der Teilnehmer aus und ist mit erheblichen Nachteilen für die Auszubildenden verbunden.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Angesichts der strukturellen Mängel des Ausbildungsprogramms und wegen des fehlenden rechtlichen und sozialen Schutzes der Auszubildenden lehnen wir den Gesetzentwurf in der jetzigen Form ab. Wir dürfen einfach nicht hinnehmen, daß jungen Menschen, die bereit sind, durch ihre Berufsentscheidung eine besondere Leistung unter erschwerten Bedingungen zu erbringen, die Chance zur optimalen Ausbildung genommen wird.

(Beifall bei der SPD — Jaunich [SPD]: „Leistung muß sich wieder lohnen! ")

Schließlich hängen von ihrer Qualifikation das höchste Gut, das Leben, die Rettung des menschlichen Lebens ab.

(Jaunich [SPD]: Deswegen dürfen die Schulgeld bezahlen!)

Ich betone: Wir dürfen auch nicht akzeptieren, daß in einer Zeit, in der Spitzenverdiener im Gesundheitswesen nicht selten obszöne Gewinne erwirtschaften, junge Menschen mit einem Trinkgeld abserviert und zu Schulgeldzahlungen verpflichtet werden.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Das steht in einem eklatanten Gegensatz zum Selbstverständnis und zur Tradition unserer Partei. Deshalb bringen wir den Änderungsantrag der SPD-Fraktion in die zweite Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung ein.
Welche Ziele verfolgen wir mit der Einbringung unseres Änderungsantrags? Erstens. Um das einjährige Praktikum als integralen Bestandteil der gesamten Ausbildung zu erhalten und dessen Verzahnung mit dem Lehrgang sicherzustellen, beantragen wir, das erste Jahr mit einer Zwischenprüfung abzuschließen und die staatliche Abschlußprüfung an das Ende der zweijährigen Ausbildung zu stellen. Mit diesem Verlangen bewegen wir uns in voller Übereinstimmung mit den Forderungen der Sachverständigen, die im Rahmen der öffentlichen Anhörung vom 1. Dezember 1988 diese Alternative als einzig sinnvolle und der Sache angemessene Lösung bezeichnet haben. Die Prüfung zwischen Lehrgang und Praktikum macht einfach keinen Sinn.
Sie führt geradewegs zur Abwertung des praktischen Teils. Darüber hinaus sind wir in die Pflicht genommen, mit einer eindeutigen Regelung jede Möglichkeit des Mißbrauchs auszuschließen. Wir dürfen nicht zulassen, daß Praktikanten im zweiten Jahr die Rolle einer billigen Aushilfskraft übernehmen müssen.

(Beifall bei der SPD)

Zweitens. Wir beantragen die Durchführung eines Rettungsdienstpraktikums, das mindestens drei Wochen dauert und in den ersten sechs Monaten abzuleisten ist. Ein Praktikum im Rettungsdienst muß zum Ausbildungsprogramm des Lehrgangs gehören, um den Auszubildenden frühzeitig die Gelegenheit zu geben, ihren Aufgabenbereich praxisnah kennenzulernen, ihre Eignung für die Ausübung des Berufes richtig einzuschätzen und gegebenenfalls eine Fehlentscheidung zu korrigieren.
Drittens. Wir beantragen des weiteren, die im Entwurf enthaltenen Bezeichnungen „Rettungsassistentin" und „Rettungsassistent" durch „Staatlich geprüfte Rettungssanitäterin " bzw. „Staatlich geprüfter Rettungssanitäter" zu ersetzen. Die im Entwurf vorgesehene Berufsbezeichnung steht im Widerspruch zu den im öffentlichen Bewußtsein fest verankerten Begriff „Rettungssanitäter/Rettungssanitäterin" und im



Wittich
Gegensatz zum Selbstverständnis der im Rettungsdienst Beschäftigten.
Viertens. Um die gravierenden Nachteile, die mit dem Rechtsstatus des Schülers verbunden sind, aufzuheben und die Auszubildenden sozial und rechtlich abzusichern, beantragen wir eine gesetzliche Regelung analog dem Abschnitt III des Gesetzes über die Berufe in der Krankenpflege vom 4. Juni 1985. Das ist der zentrale Punkt unseres Änderungsantrages. Er bedarf deshalb einer intensiveren Betrachtung.
Ein Gesetz zur Regelung des Berufsbildes und der Ausbildung für einen Fachberuf darf sich nicht an den Leitbildern für die Bildung einer höheren Töchterschule des 19. Jahrhunderts orientieren.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Schon wieder frauenfeindlich!)

Erwachsene Menschen, die den Beruf des Rettungssanitäters ergreifen wollen — Voraussetzung ist die Vollendung des 18. Lebensjahres, ein Hauptschulabschluß oder eine abgeschlossene Berufsausbildung — , werden durch den vorliegenden Gesetzentwurf in ein Schulsystem eingeordnet, in dem sie weitgehend rechtlos sind.
Weder sind im Gesetz Kündigungsschutzvorschriften geregelt, noch ist eine Interessenvertretung der Teilnehmer vorgesehen. Die Pflichten der Ausbildungsträger bleiben ebenso offen wie die Fragen der Kosten der Ausbildungsmittel. Dies alles wird der wohlwollenden Regelung der Träger der Schulen überlassen. Nun hege ich kein Mißtrauen gegen die freien Wohlfahrtsverbände, die in der Regel Träger der Schulen sein werden. Gesetzliche Regelungen liegen auch im Interesse dieser Wohlfahrtsverbände. Eindeutige Regelungen schaffen Klarheit und bringen die Verbände, die für den Rettungsdienst verantwortlich sind, nicht in Verruf.

(Zustimmung bei der SPD)

Ich halte es jedoch für einen sozial- und berufspolitischen Rückschritt, allgemein anerkannte Grundsätze und soziale Sicherungen für die Berufsausbildung, wie sie letztlich im Berufsbildungsgesetz ihren Niederschlag gefunden haben, für bestimmte Berufe auszuschließen. Eine qualifizierte Berufsausbildung ist für den weiteren Lebensweg eines jeden Menschen von zentraler Bedeutung, daß jede Berufsausbildung des gleichen Schutzes des Gesetzes bedarf.

(Zustimmung bei der SPD)

Wir haben daher in unserem Änderungsantrag Rückgriff auf die Schutzvorschriften des Berufsbildungsgesetzes in der Form genommen, wie sie mit gutem Grund ebenfalls in das Krankenpflegegesetz übernommen worden sind.
Uns geht es aber nicht allein um die Schutzvorschriften für die Teilnehmer der Ausbildung, sondern grundsätzlich auch darum, daß die gesamte Ausbildung tarifvertragsfähig wird und daß die Teilnehmer der Ausbildung gegenüber den Trägern der Ausbildung ihrerseits auf eine organisierte Interessenvertretung zurückgreifen können.
Eine Einbeziehung der Vorschriften des Berufsbildungsgesetzes führt letztlich auch dazu, daß während der gesamten Ausbildung eine Ausbildungsvergütung zu gewähren ist, und das wollen wir Sozialdemokraten.

(Beifall bei der SPD)

Hier suchen wir in Ihrem Gesetzentwurf vergeblich nach einer Regelung. Im Gegenteil: Die Bundesregierung weist in ihrem Gesetzentwurf sogar zweimal auf die Möglichkeit hin — sowohl in der Einleitung als auch in der Begründung —, daß Schulgeld erhoben werden kann. Wir halten es für einen sozialpolitischen Skandal, daß in einem Gesetz, das eine qualifizierte Berufsausbildung regeln soll, heute noch die Möglichkeit festgeschrieben wird, Schulgeld zu verlangen.

(Beifall bei der SPD)

Die Regelungen, die Sie jetzt vorlegen, bedeuten im Grunde genommen, daß eine Ausbildung erkauft werden muß. Dadurch wird letztlich erreicht, daß junge, engagierte Menschen aus sozial schwachen Familien wegen Erhebung dieses Entgeltes von diesem Berufsweg ausgeschlossen werden. Das ist für uns nicht hinnehmbar.

(Beifall bei der SPD)

Ich hebe es noch einmal hervor: Eine solche Regelung ist mit uns Sozialdemokraten nicht zu machen.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114944200
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Würfel.

Uta Würfel (FDP):
Rede ID: ID1114944300
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Raten Sie einmal, was Abgeordnete und Rettungssanitäter gemeinsam haben? — Sie kommen nicht drauf: die Einsatzbereitschaft rund um die Uhr.

(Heiterkeit und Beifall)

Mit der heutigen Verabschiedung des Rettungsassistentengesetzes geht für die im Rettungswesen hauptberuflich Tätigen eine seit 1972 bestehende Phase des Wartens auf ein neues Berufsgesetz zu Ende; traurig, aber wahr! Endlich sind die Voraussetzungen für die rechtliche Absicherung des Berufes einer Rettungsassistentin bzw. eines Rettungsassistenten geschaffen. Mit diesem Gesetz werden die hauptberuflichen Lebensretterinnen und -retter aus ihrer bisherigen Hilfsarbeiterstellung herausgehoben; das wird auch höchste Zeit.
Dieses Gesetz wurde in enger Abstimmung mit den Rettungsorganisationen und den Berufsverbänden erarbeitet.

(Zuruf von der SPD)

— Jawohl, Sie waren genauso daran beteiligt. Neben der rechtlichen Absicherung des Berufes ist das Hauptanliegen des Gesetzes die Verbesserung der Qualität der Ausbildung und die Anpassung der Ausbildung an die gestiegenen Anforderungen in der Notfallrettung.
Am Schluß der Beratungen war insbesondere die Frage der Bezeichnung für die vollzeitausgebildeten Kräfte kontrovers diskutiert worden. Ich möchte Ihnen nicht alles wiederholen, wie sehr wir um diese Berufs-



Frau Würfel
bezeichnung gerungen haben. Es war zum Schluß schon gar nicht mehr witzig.
Nach Abwägung aller Argumente sind wir zu dem Ergebnis gekommen, daß die im Gesetzentwurf vorgesehene Bezeichnung „Rettungsassistentin" und „Rettungsassistent" hinsichtlich der Gleichstellung mit den übrigen Assistenzberufen im Gesundheitswesen sinnvoll ist.
Eine Ausweitung der Ausbildung auf drei Jahre, was von den Berufsverbänden vorgeschlagen wurde, sollte unserer Meinung nach nach einigen Jahren der Erfahrung mit der Vollzeitausbildung mit diesem Gesetz überprüft werden.
Für uns war wichtig, sicherzustellen, daß das ehrenamtliche Element im Rettungswesen durch das Berufsgesetz in keinster Weise beeinträchtigt wird.

(Beifall bei der FDP)

Das Nebeneinander von ehrenamtlich und hauptberuflich Tätigen halten wir für unverzichtbar. Dabei geht es nicht um finanzielle Belange. Die Ehrenamtlichkeit in unserem Gemeinwesen darf nicht zurückgedrängt werden; vielmehr muß sie gestärkt werden. Die Bereitschaft vieler Mitbürgerinnen und Mitbürger zum ehrenamtlichen Engangement im Sozialbereich entspringt und ist Ausdruck einer zwei Jahrtausende alten christlichen Tradition der Nächstenliebe. Sie zu fördern und nicht zu unterbinden, darauf müssen unsere Anstrengungen gerichtet sein. Deshalb war es für uns wichtig, daß auch in Zukunft ehrenamtliche Kräfte auf der Basis der alten 520-Stunden-Ausbildungsregelung weiter ausgebildet und auch eingesetzt werden können.
Die Übergangsregelungen stellen sicher, daß diejenigen, die schon heute auf Grund langjähriger Erfahrungen qualifiziert im Rettungswesen tätig sind, die Berechtigung zur Führung der neuen, gesetzlich geschützten Berufsbezeichnung erhalten.
In der Anhörung des Ausschusses ist glaubhaft dargelegt worden, daß die neuen Ausbildungsinhalte und -anforderungen von den Schulen sichergestellt werden können. Wichtig war uns dabei auch, daß die Ausbildungsmöglichkeiten für Mitarbeiter privater Rettungsdienste gewährleistet sind. Wir sind der Meinung, daß somit alle Voraussetzungen erfüllt sind, die Ausbildung zum Beruf der Rettungsassistentin bzw. des Rettungsassistenten entscheidend zu verbessern und damit zugleich einem im wahrsten Sinne des Wortes lebensrettenden Beruf die gesellschaftliche Aufwertung zu geben, die im nächsten Schritt die Altenpflegerinnen und Altenpfleger erhalten müssen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114944400
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wilms-Kegel.

Heike Wilms-Kegel (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1114944500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, den Sie heute verabschieden, hat eine lange und unerfreuliche Geschichte. Bereits 1972 ist der erste Versuch der sozialliberalen Koalition, für die im Rettungswesen Beschäftigten eine dreijährige Berufsausbildung zu gewährleisten, an den Hilfsorganisationen mit dem fadenscheinigen Argument „nicht finanzierbar" gescheitert.
1979 hat der Berufsverband der Rettungssanitäter dann einen Gesetzesvorschlag vorgelegt. Nach heftigem Widerstand haben die Hilfsorganisationen schließlich vor gut zwei Jahren die Initiative übernommen und der Bundesregierung den jetzigen Gesetzestext in die Feder diktiert. Sie haben dadurch erreicht, daß sich in der dringend reformbedürftigen Praxis im Rettungswesen nichts geändert hat, außer dem Etikettenschwindel, der ab demnächst mit dem neuen Begriff des Rettungsassistenten betrieben wird — übrigens entgegen allen Empfehlungen von Sachverständigen, Gewerkschaften und Berufsverbänden.
Die nach dem Gesetzestext vorgesehene Prüfungsverordnung des BMJFFG entspricht ebenfalls wörtlich den Wunschvorstellungen etablierter Hilfsorganisationen. Deren Druck, der bis zuletzt auf den Ausschuß ausgeübt wurde, hat dazu geführt, daß die Interessen dieser Verbände sogar Vorrang erhalten haben vor den Interessen der Unternehmen des von dieser Koalition sonst nicht hoch genug geschätzten freien Marktes. Denn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der freien privaten Anbieter im Rettungswesen kommen nicht in den Genuß der Übergangsregelung und haben so gegenüber den etablierten Wohlfahrtsverbänden extreme Wettbewerbsnachteile.
Das Hauptargument für uns GRÜNE aber, weswegen wir diesen Entwurf ablehnen, ist, daß sich auch dieses Gesetz unverkennbar in die Reihe der Kostendämpfungen im Gesundheitswesen einfügt. Das Berufsbild des Rettungsassistenten und der Rettungsassistentin, das hiermit neu geschaffen wird, ist eine absolute Notausgabe dessen, was wir als eine qualifizierte Berufsgruppe im Gesundheitswesen begreifen.
Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes steht fest, daß es gerade für die Berufsgruppe, die für Tausende von Menschen lebensrettend war oder noch werden wird, keine diesen hohen Anforderungen entsprechende Ausbildung geben wird. Theorie und Praxis sind in der ohnehin zu kurzen Ausbildungszeit von zwei Jahren strikt voneinander getrennt, statt miteinander verzahnt. Das Abschlußexamen findet in der Mitte der Ausbildung, nämlich nach einem Jahr, statt. Die gesamte Ausbildung endet mit einem sogenannten Abschlußgespräch mit den Praxisanleitern. Eine Prüfung durch eine unabhängige Stelle ist nicht vorgesehen. Es gibt auch keine Ausbildungsvergütung und dergleichen mehr — der Kollege Wittich ist soeben sehr ausführlich darauf eingegangen — , was bei anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen schlicht undenkbar erscheint.
Die Diskrepanz zwischen dem technischen Standard im Rettungswesen und der Ausbildungsqualität beim Rettungspersonal ist bereits seit langem unverantwortlich. Sie wird durch dieses Gesetz weiter fortgeschrieben. Krankenwagen dürfen weiter von der großen Zahl ehrenhalber bezahlter und in 520 Stunden ausgebildeter Rettungssanitäter bedient werden. Wir halten dies sowohl dem Personal als auch den Patientinnen und Patienten gegenüber für eine Zumutung und lehnen deshalb das Gesetz in der vorlie-



Frau Wilms-Kegel
genden Form ab. Ein Rettungssanitätergesetz ist zwar überfällig, aber dieses Rettungsassistentengesetz ist ganz einfach schlecht.
Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114944600
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Herr Pfeifer.

Anton Pfeifer (CDU):
Rede ID: ID1114944700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Gegensatz zu dem, was ich soeben gehört habe, messe ich dem vorliegenden Gesetzentwurf, vor allem im Hinblick auf das Fortbestehen eines leistungsfähigen Rettungswesens, eine erhebliche Bedeutung zu. Unser Rettungswesen steht auf einem weltweit anerkannt hohen Niveau.

(Jaunich [SPD]: Auch ohne dieses Gesetz, ganz offensichtlich! )

— Auch ohne dieses Gesetz, aber anschließend vor allem auch durch dieses Gesetz.

(Heiterkeit)

— Ja, ich werde das noch ausführen. — Es wird von einem engagierten, stark motivierten Rettungspersonal getragen. Und es ist in den letzten 20 Jahren auch auf dem technischen Sektor zu einem hochqualifizierten System entwickelt worden. Um dieses Niveau auch für die Zukunft zu gewährleisten, ist eine entsprechende berufliche Qualifizierung des Rettungspersonals unumgänglich. Meine Damen und Herren, dem dient dieses Gesetz. Ich möchte als wesentliche Elemente dafür folgende Punkte hervorheben.
Erstens. Die Neuordnung der Ausbildung ist erforderlich, um die Ausbildungsqualität den gestiegenen Anforderungen im Rettungswesen anzupassen und dadurch auch für die Zukunft einen leistungsfähigen Rettungsdienst zu sichern.
Zweitens. Das ärztliche Behandlungsmonopol wird nicht angetastet. Der Rettungsassistent ist und bleibt ein gut ausgebildeter Helfer des Arztes.
Drittens. Das ehrenamtliche Element als Rückgrad des Rettungswesens bleibt erhalten. Wir können und wollen auf dieses ehrenamtliche Engagement nicht verzichten. Wir wollen im Gegenteil auch in Zukunft dieses ehrenamtliche Engagement soviel wie möglich herausfordern und motivieren. Durch großzügige Überleitungsregelungen wird für bisherige Rettungssanitäter der Statuswechsel zum Rettungsassistenten ermöglicht, ohne daß hiermit eine Festlegung auf haupt- oder nebenberufliche Tätigkeiten verbunden ist.
Viertens. Die Absolventen von Sanitätslehrgängen der Bundeswehr, des Bundesgrenzschutzes oder der Polizei sowie Angehörige anderer Heilhilfsberufe können über Sonderregelungen den Status des Rettungsassistenten erwerben, wodurch dem Rettungswesen ein breites Spektrum heilhilfsberuflicher Qualifikationen erschlossen wird.
Fünftens. Die staatliche Anerkennung des Berufsbildes unterstreicht die Bedeutung des Rettungswesens und sichert seine Attraktivität in der Zukunft. Wir müssen allein schon aus demographischen Gründen darauf achten, daß bei insgesamt zurückgehender Ausbildungsnachfrage ein attraktives Berufsbild personelle Engpässe in diesem wichtigen Bereich vermeidet.
Meine Damen und Herren, Sie sehen damit — das beweisen diese fünf Punkte — , daß dieses Gesetz in der Tat das leistungsfähige Rettungswesen in der Zukunft sichern wird. Ich werte den Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf deshalb nicht nur für den Berufsstand der im Rettungsdienst tätigen haupt- und ehrenamtlichen Helfer des Notarztes als Erfolg. Noch größer ist seine Bedeutung für Notfallpatienten, deren Gesundheit und Leben von sachkundig ausgebildeten Ärzten und medizinischem Assistenzpersonal abhängen.
Ich bitte Sie deshalb, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114944800
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über das von der Bundesregierung eingebrachte Rettungsassistengesetz. Zum Gesetzentwurf liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4753 vor, der sich auf verschiedene Vorschriften des Entwurfs bezieht. Wer für den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4753 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Ich rufe die §§ 1 bis 16, Einleitung und Überschrift mit den vom Ausschuß empfohlenen Änderungen auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften mit der gleichen Mehrheit wie eben angenommen worden: Die Koalitionsfraktionen haben zugestimmt.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Deutsche Siedlungs- und Landesrentenbank (DSL Bank-Gesetz — DSLBG)

— Drucksache 11/2169 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuß)

— Drucksache 11/4759 —



Vizepräsident Westphal
Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Meyer zu Bentrup

(Erste Beratung 80. Sitzung)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Meyer zu Bentrup. — Bitte schön.

Heinz-Werner Meyer (SPD):
Rede ID: ID1114944900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, schafft die Grundlage für die Teilprivatisierung der Deutschen Siedlungs- und Landesrentenbank. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Die Beteiligung des Bundes an dieser Bank wird auf 51 % zurückgeführt. Die Rechtsform der Bank als Anstalt des öffentlichen Rechts bleibt erhalten. Neue Beteiligungen Privater bis zu 49 % am Grundkapital der Bank werden ermöglicht.
Mit diesem Gesetzentwurf wird die marktwirtschaftliche Linie fortgesetzt. Seit 1982 ist Privatisierung von Staatsbesitz ein wichtiges Element der neuen Ordnungspolitik. Der Bund hat sich von einem hohen Anteil seiner Unternehmensbeteiligungen mit Erfolg getrennt.
Die Deutsche Siedlungs- und Landesrentenbank hat seit ihrem Fusions- und Gründungsjahr 1966 eine großartige Entwicklung erlebt. Die Bilanzsumme stieg von 8,3 Milliarden DM auf 44 Milliarden DM am Ende 1988. Das Auftragsgeschäft erreichte 1966 76 %. Es waren im wesentlichen die Finanzierung der Agrarstruktur und der Eingliederung der vielen heimatvertriebenen Landwirte.

(Pfuhl [SPD]: Und heute?)

Das Eigengeschäft, also das Wettbewerbsgeschäft, erreichte im Jahre 1966 24 %, hier besonders im Hypotheken- und Kommunaldarlehensbereich. 1988 entfielen auf das Eigengeschäft 86 %, auf das klassische Auftragsgeschäft der Bank nur noch 13,6 %. Dieser Anteil wird weiter rückläufig sein. Das Wachstumspotential liegt im Wettbewerbsgeschäft. Es ist das Ziel dieser Novelle, die Stellung der Bank im Wettbewerbsgeschäft zu stärken, ohne das Auftragsgeschäft zu beeinträchtigen.
Der Binnenmarkt 1992 verlangt konkurrenzfähige Formen. Die Alternative, schon heute einen Zeitpunkt für eine Vollprivatisierung des Institutes festzulegen, ist nicht weiter verfolgt worden.

(Pfuhl [SPD]: Wann kommt sie?)

Die Bundesregierung hat ihren Gesetzesvorschlag damit begründet, daß das Kreditgeschäft für den ländlichen Raum mit 44 % ein wesentlicher Faktor sei, das die gegenwärtige Struktur der Bank als Geschäftsbank wie als Hypothekenbank präge und auf Grund seines öffentlich-rechtlichen Charakters seine Refinanzierung durch Ausgabe von Schuldverschreibungen bestimmend sei.
Der Finanzausschuß hat das Ziel der Vollprivatisierung mit der Aussage bekräftigt:
Der Ausschuß nimmt an, daß der Anteil des öffentlichen Auftragsgeschäftes (1988: 13,6 v. H.) in Zukunft weiter zurückgehen wird. Er erwartet eine Geschäftspolitik der Bank, die insgesamt eine Vollprivatisierung des Institutes zu einem späteren Zeitpunkt ermöglicht.
Die Deutsche Siedlungs- und Landesrentenbank hat ein hervorragendes Fundament für eine zukünftige Entwicklung. Sie wird sich im Wettbewerb mit anderen Banken hervorragend behaupten. Ihre Geschäftspolitik wird sich zukünftig noch stärker an Ertragsgesichtspunkten ausrichten, da sie eine marktübliche Verzinsung des Eigenkapitals erbringen und wegen Beteiligung Privater entsprechende Ausschüttungen vornehmen muß.
Wir wünschen der Bank, meine Damen und Herren, daß ihre erfolgreiche Entwicklung der vergangenen Jahre unter neuer Beteiligung und neuer Führung weiter unternehmerisch orientiert fortsetzen kann, im Inland wie im Ausland.
Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114945000
Das Wort hat der Abgeordnete Roth.

Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1114945100
Herr Präsident! Meine verehrten Schriftführerinnen! Meine Damen und Herren! Gerade hat mein Vorredner geschildert, wie erfolgreich die Bank gearbeitet hat. Wenn man so erfolgreich war in der bisherigen Rechtsform, nämlich als öffentliche Anstalt, verstehe ich nicht

(Glos [CDU/CSU]: Sie verstehen manches nicht, Herr Kollege Roth!)

— Herr Glos — , wie man jetzt sagt: Nachdem das so gut gelaufen ist — von 8 Milliarden DM auf 40 Milliarden DM Bilanzsumme —, müssen wir das jetzt ändern.

(Gilges [SPD]: Ja, weil sie an die Gewinne ran wollen!)

Darin ist keine Logik.

(Bohl [CDU/CSU]: Doch!)

Im übrigen: Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland eine Bankenstruktur, die sich dadurch auszeichnet, daß wir große Privatbanken haben, Privatbanken, die kleinere Bilanzsummen aufweisen, Sparkassen, Volksbanken und schließlich öffentliche Banken. Die DSL-Bank, von der wir heute reden, war eine öffentliche Bank. Sie hat sich allmählich — wie wir von meinem Vorredner gehört haben — erfolgreich am Markt plaziert. Aber ich bitte Sie: Warum müssen wir eine erfolgreiche Bank jetzt in ihrer Rechtsstruktur ändern?

(Zurufe von der CDU/CSU)

— Ich bitte Sie. Warum soll sie nicht weiterhin Herausforderer gegenüber den anderen Banken sein?



Roth
Jetzt sind wir bei dem Thema so weit gekommen. Dann hat die Bundesregierung gesagt: Jetzt machen wir Privatisierung.

(Pfuhl [SPD]: Aber nicht zuviel!)

Wir haben im Finanzausschuß also im ersten Durchgang Privatisierung gehört. Im Finanzausschuß hat die Mehrheit nicht nur plötzlich der Privatisierung zugestimmt, sondern gleichzeitig gesagt: Nach der Tradition war das zwar eine landwirtschaftlich orientierte Bank, aber das hat jetzt nichts mehr zu sagen; wir privatisieren jetzt. Dann hat man die Aufsicht des Landwirtschaftsministeriums durch eine Mehrheitsentscheidung der CDU/CSU und der FDP herausgeschmissen.

(Gilges [SPD]: Herr Kiechle versteht ja nichts von Banken! — Pfuhl [SPD]: So haben die den Kiechle behandelt!)

Dann habe ich gedacht, jetzt meinen sie es ernst mit der Privatisierung. Dann kam aber eine weitere Sitzung.

(Zuruf von der CDU/CSU)

— Diejenige, von der ich eben gesprochen habe, fand im Februar 1989 statt. Die letzte Sitzung fand vorgestern statt.

(Uldall [CDU/CSU]: Warum sind Sie denn nie dabeigewesen?)

— Das ist der falsche Zwischenruf. Ich war beide Male da. Herr Glos gibt mir recht.
Dann haben Sie plötzlich gesagt: Wir wollen privatisieren, aber wir wollen nicht so privatisieren, daß das privat wird, sondern wir wollen die Fachaufsicht des Finanzministers und des Landwirtschaftsministers. In einer privaten Bank! Überlegen Sie mal diesen Vorgang. Diese Bundesregierung sagt also: Wir privatisieren eine Bank, wir sind aber trotzdem der Auffassung, daß der Landwirtschaftsminister und der Finanzminister weiterhin zuständig sind.
Herr Kiechle, Sie sitzen da so nett. Kommen Sie mal vor und erklären Sie mir, warum eine Bank privatisiert werden muß, die gleichzeitig zwei Ministerien als Aufsichtsbehörden hat. Das müßte mir einmal erklärt werden.

(Heiterkeit bei der SPD)

Aber jetzt noch einmal zurück zu meinem Ausgangspunkt — den meine ich sehr ernst — : In der Bundesrepublik Deutschland haben wir eine Übermacht der großen Privatbanken; Deutsche Bank, Commerzbank, Dresdner Bank. Gegen diese Übermacht dieser Großbanken gibt es viel Kritik. Übrigens hätte ich es ganz gern gesehen, wenn jetzt mein Freund Graf Lambsdorff hier wäre; ich denke an die Diskussion über die Übermacht der Privatbanken.

(Zuruf von der CDU/CSU: Freund?)

Wir haben eine Gegenmacht durch die Sparkassenorganisationen und die Volksbanken sowie durch die öffentlichen Banken. Wenn man für einen Leistungswettbewerb ist, verstehe ich wirklich nicht, warum man jetzt eine öffentliche Bank privatisiert oder teilprivatisiert, die bisher so erfolgreich gewesen ist, wie es mein Vorredner gesagt hat. Warum eigentlich?
Kann mir irgendeiner erklären, warum Sie nicht für diese Wettbewerbsstruktur eintreten?

(Gilges [SPD]: Das ist Klüngel, sonst nichts!)

Die letzte Bemerkung: Ich habe im Finanzausschuß genau zugehört. Im Finanzausschuß hat die FDP plötzlich gesagt, sie sei im Grunde gegen das öffentlich-rechtliche Emissionsrecht dieser Bank.
Ich hätte die Bitte, daß die Nachredner aus der Koalition jetzt sagen, was sie mit dieser Bank vorhaben. Wollen Sie, daß diese Bank als Wettbewerber weiter am Markt bleibt, oder wollen Sie das nicht? Die Existenzmöglichkeit dieser Bank ist durch das Emissionsrecht bisher garantiert worden. Das ist auch der Grund des Erfolgs.
Meine Bitte ist, daß mein Nachredner jedenfalls sagt, er tritt in dieser Debatte für die weitere Stabilität dieser Bank ein. Das bedeutet für 800 Leute hier in Bonn einen sicheren Arbeitsplatz. Bitte schön, Sie haben die Möglichkeit, hier etwas zu sagen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das sagen wir sogar öffentlich! — Abg. Uldall [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Ja, natürlich bin ich bereit, die Zwischenfrage zuzulassen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114945200
Nein, es tut mir furchtbar leid. Die für Sie angemeldete Redezeit ist längst überschritten. Ich habe mehrere Versuche gemacht, Sie zum Ende zu bringen. Insofern kann ich keine Zwischenfragen mehr zulassen.

Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1114945300
Also, dann kann ich leider die Zwischenfrage nicht zulassen. Aber ich bin sicher, er hätte eine gute gehabt.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114945400
Jetzt kommt der Abgeordnete Rind als nächster Redner.

Hermann Rind (FDP):
Rede ID: ID1114945500
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich geh auf einige Punkte ein. Ich tue dies nicht am Anfang, sondern ich bringe es an den Punkten an, an denen ich es für in das Konzept passend befinde.
Es verwundert Sie sicherlich nicht, wenn ich meinen Beitrag mit der Feststellung beginne: Wir unterstützen alle Bemühungen mit dem Ziel, die unternehmerische Betätigung des Staates zugunsten der unternehmerischen Betätigung Privater zurückzudrängen.
Dabei kann ich gleich auf den ersten Punkt zu sprechen kommen, Herr Roth. Der Erfolg dieser Bank hat natürlich u. a. seinen Hintergrund in der Tatsache, daß diese Bank unter nicht gleichen Bedingungen im Wettbewerb angetreten ist und insofern gegenüber privaten Banken begünstigt war. Wir begrüßen aus diesem Grunde, daß der vorliegende Gesetzentwurf den Rückzug des Bundes aus der DSL-Bank einleitet. Ausgehend von unserer Grundphilosophie kann uns die vorgesehene Teilprivatisierung nicht in vollem Umfang zufriedenstellen.



Rind
Dieses Gesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung
— aber nicht mehr — , dies insbesondere, weil die spätere Vollprivatisierung nicht behindert wird. Wir legen großen Wert auf die im Bericht aufgeführte Annahme des Finanzausschusses, daß der Anteil des öffentlichen Auftragsgeschäfts von 13,6 % in Zukunft weiter zurückgehen soll. So steht es im Ausschußbericht. Wir erwarten auch, wie im Bericht niedergelegt, von der DSL-Bank eine Geschäftspolitik, die eine Vollprivatisierung zu einem späteren und nicht zu fernen Zeitpunkt ermöglicht.
Die bisherige Entwicklung der Bank spricht für sich. 1966, am ersten Bilanzstichtag nach der Fusion der Deutschen Landesrentenbank und der Deutschen Siedlungsbank zur DSL-Bank, betrug das öffentliche Auftragsgeschäft 76 % und umfaßte 6,3 Milliarden DM, während das Wettbewerbsgeschäft 24 % betrug und nur knapp 2 Milliarden DM umfaßte. Inzwischen beträgt das Eigengeschäft, mit dem die DSL-Bank am Wettbewerb teilnimmt, rund 86 % . Dies, Kollege Roth, ist der Grund dafür, daß wir sagen: Die Privatisierung dieser Bank ist angesagt, wenn der Wettbewerbsanteil des Geschäfts einen solchen Anteil von 86 % angenommen hat, dann ist Privatisierung angesagt, um gleiche Wettbewerbschancen zu gewährleisten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir verschließen uns nicht den Argumenten, die einer umfassenden Privatisierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt entgegenstehen. Immerhin ist das öffentliche Auftragsgeschäft mit 6 Milliarden DM konstant geblieben. Es hat sich nur in Prozentverhältnissen verändert, weil das Volumen entsprechend gewachsen ist. Wir wissen, daß 40 % des Geschäfts nach wie vor wegen öffentlicher Belange in den ländlichen Raum vergeben werden. Wir wissen, daß das Hypothekengeschäft der Bank und ihre dünnere Refinanzierungsdecke für die Konstruktion der DSL-Holding und der privaten Beteiligung bis zu 49 % am Grundkapital sprechen.
Hier komme ich auf die Frage der Aufsicht zu sprechen. Die Rechtsaufsicht hat natürlich ihren Ansatz darin, daß 51 % der Anteile noch beim Bund verbleiben, so daß die Aufsicht noch nötig ist. Herr Kollege Roth, das werden auch Sie wohl akzeptieren.

(Zuruf von der SPD: Das ist inkonsequent!)

— Das ist nicht inkonsequent. Wenn unser Ziel erreicht wird, daß das unter 50 To sinkt, brauchen wir uns nicht mehr darüber zu unterhalten, daß die Vollprivatisierung einsetzt und die Aufsicht sowohl des Bundesministers der Finanzen als auch des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten entfallen kann.
Liebe Parteifreunde, hätte ich beinahe gesagt

(Heiterkeit und Beifall)

— ich spreche natürlich besonders gern zu meinen Parteifreunden, und der Europawahlkampf zeigt seine Spuren —,

(Bindig [SPD]: Da reden Sie nämlich nur vor Parteifreunden, andere kommen nicht! — Roth [SPD]: Das Ganze ist eine Zitterpartie, das ist eine Zitterrede!)

wir legen großen Wert darauf, zu der Frage der Aufsicht festzustellen, daß uns die Aufsicht allein beim Bundesminister der Finanzen lieber gewesen wäre. Wir sind aber der Meinung, daß diese Frage kein Essential ist, an dem wir das Gesetzesvorhaben scheitern lassen müßten. Wir haben — Kollege Roth hat darauf hingewiesen — diese Auseinandersetzung auch im Finanzausschuß offen und fair ausgetragen und sind zu dem Ergebnis gekommen, dem Gesetz trotz dieses Schönheitsfehlers in § 6 zuzustimmen.
Die weitere Privatisierung der Bank ist unserer Auffassung nach sichergestellt, wenn nun die Geschäftspolitik eingeleitet wird, wie sie im Bericht gefordert wurde. Die Holding und damit ihre privaten Kapitalgeber tragen trotz der Anstaltslast des Bundes ein volles unternehmerisches Risiko mit Verlustbeteiligung, und dies unabhängig davon, ob es sich um stille oder atypische stille Gesellschafter handelt.
Die FDP erwartet von der Bundesregierung, daß ein weiterers Element echter Privatisierung hinzutritt. Das private Beteiligungskapital soll möglichst bald und möglichst breit gestreut werden und, Herr Kollege Roth, Sie wissen auch, daß in dem Vertrag mit dem Konsortialführer bereits festgelegt ist, daß es nicht zu einem Besitz in Händen der Großbanken kommen wird, sondern zu einer breiten Streuung des Kapitals. Das war unser wichtiges Anliegen; dies ist auch verwirklicht.

(Zuruf von der SPD: Wir kommen darauf zurück!)

Dieses Gesetz lebt von dem Geist, daß es ein erster Schritt auf dem Wege zur vollen Privatisierung der DSL-Bank ist, und diese Feststellung ermöglicht es uns, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.

(Beifall bei der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114945600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hüser.

Uwe Hüser (GRÜNE):
Rede ID: ID1114945700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um es hier gleich vorweg zu sagen: Die GRÜNEN befürworten weder die Teilprivatisierung noch eine Teilprivatisierung mit Kapitalerhöhung.

(Zuruf von der FDP: Das wundert uns aber sehr!)

— Ich glaube, daß Sie das nicht verwundert; das haben wir schon bei der ersten Rede gesagt, und die Ausschußberatungen haben uns keine anderen Einsichten gebracht, was auch zu erwarten war.
Wir sind der Auffassung, daß es zur genüge öffentliche Aufgaben gibt, die über die DSL-Bank abzuwikkeln sind, z. B. die Finanzierung von Projekten, von Bau- und Umbauvorhaben, die der Eingliederung von Flüchtlingen und Asylsuchenden dienen, oder die Finanzierung in dringend notwendigen Umstellungen der Landwirtschaft auf umweltverträglichen Landbau, damit hier z. B. die Vergiftung unseres Grundwassers gestoppt wird. Beides sind Aufgaben, für die diese Bank einst gegründet worden ist, und Aufgaben, die noch weiter bestehen. Im neuesten Geschäftsbericht der DSL ist zu lesen, daß beim Auftragsgeschäft zur Eingliederung von Flüchtlingen und Spätaussiedlern sowie für Agrarstrukturmaßnahmen



Hüser
ein Rückgang von ungefähr 204 Millionen DM zu verzeichnen ist, und angesichts des steigenden Bedarfs an Investitionen gerade in diesen beiden Bereichen ist eigentlich so eine Rückentwicklung überhaupt nicht einzusehen und auch nicht zu verstehen.
Wir sind auch der Meinung, daß sich die Bundesregierung hiermit selbst ein wirtschaftspolitisches Instrument aus der Hand nimmt, was eigentlich noch dringend benötigt wird.
Es ist bedauerlich, daß die Bundesregierung die Privatisierung einfach so blind vorantreibt und daß sie nicht flexibel genug ist, angesichts dieser drängenden Probleme auf dem Wohnungsmarkt das Projekt der Privatisierung zurückzustellen. Ich denke, es wäre auch gar nicht schwierig, einen Rückzieher zu machen, zumal alle Bankenverbände schwerwiegende Bedenken angemeldet haben. Aber im Gegenteil sah sich die Bundesregierung sogar genötigt, einen Kompromiß mit den Banken einzugehen und einer Kapitalerhöhung zuzustimmen, die den Bund nochmal 76,5 Millionen DM kostet. Damit wird dieses Vorhaben immer absurder. Zur Senkung der Staatsquote ist eine Erhöhung der Staatsausgaben nötig; wirtschaftspolitisch, denke ich, macht dies überhaupt keinen Sinn.
Aber im Verlauf der Privatisierungsdiskussion sind noch einige andere interessante Details auf den Tisch gekommen, und deshalb ist es ganz gut, daß wir hier noch die Gelegenheit zur Debatte haben, auch wenn man das ruhig hätte schriftlich abgeben können, denn dann hätte man es nachlesen können.
Zum Beispiel ist es, denke ich, sehr interessant, daß Herr Tietmeyer, sonst eigentlich eher als Prediger der Sparsamkeit bei öffentlichen Mitteln bekannt, schon im Vorfeld der Diskussion der Dresdner Bank die Konsortialführung bei der Emission der DSL-Bank-Aktien versprochen hat, und zwar laut „Spiegel"-Bericht vom 13. März dieses Jahres ohne Angaben von Bankvergütung und Verkaufspreis. Dies soll erst später entschieden werden.

(Zuruf von der FDP: Das ist keine sichere Quelle!)

— In der Regel ist das eine sichere Quelle. Wir werden dann ja sehen, ob dies dann zutrifft oder nicht.
Wieso geht dieses lukrative Geschäft, was doch wohl einige Millionen DM an Gewinn einbringen wird, nicht an die Bank, die die günstigen Konditionen bietet? Ich denke, hier ist dann doch noch einiges zu tun.
So kurz vor seiner Übersiedlung in die Bundesbank nach Frankfurt fragt man sich natürlich auch, welche Hintergedanken dieser Art Freundschaftsdienste vielleicht zugrunde liegen können.
Ziemlich durchsichtig ist auch die Hin- und Herschieberei von Parteifreunden. So kam unlängst das Gerücht auf, der ehemalige Regierungssprecher Ost solle in der DSL-Bank seinen Vorstandsposten quasi als Abfindung bekommen.
Ich denke, man darf auch gespannt sein, wenn es darum geht, die sechs neu zu schaffenden Aufsichtsratsposten der zukünftigen DSL-Holdinggesellschaft zu besetzen. Hier dürften sich vielleicht einige ausgediente Herren aus der Dresdner Bank oder auch aus der Bonner Politik, die ja auf Ihrer Seite demnächst wohl noch in größerer Zahl da sein werden, wiederfinden.
Interessant, denke ich, ist es auch, ob es Herrn Tietmeyer noch gelingen wird, seinen Freund, Herrn Sehrbrock, ehemals Vorstandsvorsitzender der DSL-Bank, irgendwo unterzubringen. Das sind Sachen, die wir bei der weiteren Durchsetzung dieser Privatisierung beobachten werden. Das ist auch ein Grund, warum wir hier dagegenstimmen.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114945800
Der erste Redner des heutigen Morgens ist der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, Herr Dr. Voss.

Dr. Friedrich Voss (CSU):
Rede ID: ID1114945900
Herr Präsident! Guten Morgen, meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat im Rahmen ihrer Gesamtkonzeption für die Privatisierungs-
und Beteiligungspolitik des Bundes bereits im März 1985 beschlossen, die Kapitalbeteiligung des Bundes an der Deutschen Siedlungs- und Landesrentenbank auf eine einfache Mehrheit zurückzuführen.
Der vorliegende Gesetzentwurf schafft die Voraussetzungen, daß sich erstens Private an dem Kreditinstitut beteiligen können, daß zweitens sein öffentlich-rechtlicher Status gewahrt bleibt und daß drittens seine Unabhängigkeit dauerhaft gesichert wird. Die Privatisierung von Beteiligungsbesitz der nicht zur Erreichung staatlicher Ziele erforderlich ist, ist Teil einer Politik von Mehr Markt und weniger Staat.

(Bohl [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Mit der Teilprivatisierung der Deutschen Siedlungs-
und Landesrentenbank wird nach der Deutschen Verkehrskreditbank ein zweites Kreditinstitut des Bundes teilweise in private Hände überführt.
Die Teilprivatisierung erfordert eine gesetzliche Änderung in Form der konstitutiven Neufassung des Gesetzes. Der zur Beratung stehende Entwurf läßt offen, in welcher Form sich Private an der Bank beteiligen, ob unmittelbar oder mittelbar, ob als echte gesellschaftsrechtliche Beteiligung oder in Form einer stillen Gesellschaft.
Mit Rücksicht auf die nach wie vor bestehenden öffentlichen Aufgaben der Bank bleibt der Bund am Grundkapital der Bank weiterhin mit mindestens 51 % beteiligt.
Die Teilprivatisierung soll so verwirklicht werden, daß sich eine noch zu gründende Holding in Form einer Aktiengesellschaft als stille Gesellschafterin, jedoch mit mitunternehmerischen Rechten, an der Bank beteiligt. Auf sie überträgt der Bund 48 % der Anteile am Kapital der Bank. Die Anteile an dieser Holding sollen breit gestreut werden. Dadurch wird eine Beteiligungsform geschaffen, die einer unmittelbaren Beteiligung an der Bank weitgehend entspricht, mit allen damit verbundenen Chancen und Risiken.
Der Gesetzentwurf orientiert sich im übrigen ebenso wie der auf seiner Grundlage erarbeitete Satzungsentwurf so weit wie möglich an den Vorschriften



Parl. Staatssekretär Dr. Voss
des Aktiengesetzes. Die Aktionäre der Holding werden also eine Beteiligung vorfinden, die weitgehend aktienrechtlichen Regelungen entspricht.
Die Bundesregierung geht davon aus, daß die Aktien im Herbst dieses Jahres plaziert werden können. Nach der Verabschiedung des Gesetzes kann die Holding gegründet werden. Derzeit werden Gutachten erarbeitet, um verläßliche Annahmen für den Ausgabekurs und den Erlös an dem Verkauf der Holding-Aktien zu erhalten.
Der Einnahmeansatz von 200 Millionen DM im Haushalt 1989, bei dem die aus dem Privatisierungserlös zu finanzierende Kapitalerhöhung berücksichtigt ist, dürfte zu erreichen sein.
Die Bundesregierung geht davon aus, daß die Aktien vom Markt mit regem Kaufinteresse aufgenommen werden.
Die Teilprivatisierung der Deutschen Siedlungs-
und Landesrentenbank geht allerdings den einen zu weit, während sie den anderen nicht ausreicht.
Die Deutsche Siedlungs- und Landesrentenbank ist, was ihr Neugeschäft betrifft, weitgehend im Wettbewerb tätig, wie es hier bereits mehrmals zum Ausdruck gekommen ist. In diesem Bereich erfüllt sie keine öffentlichen Aufgaben.
Andererseits verwaltet die Bank einen beachtlichen Bestand an Krediten aus öffentlichen Programmen. Aus ihnen werden auch heute noch Kredite vergeben, die in den Büchern der Bank noch lange geführt werden müssen. Die Bank erfüllt somit neben dem Wettbewerbsgeschäft einen öffentlich-rechtlichen Auftrag.
Dies rechtfertigt es, auf absehbare Zeit die öffentliche Rechtsform beizubehalten.
Die Bundesregierung hat auch die Möglichkeit einer Vollprivatisierung sorgfältig geprüft. Neben dem schon erwähnten öffentlichen Auftragsgeschäft sprechen zumindest auf absehbare Zeit zwei weitere Gesichtspunkte gegen die Vollprivatisierung.
Zum einen ist die Bank im Wettbewerbsgeschäft sowohl als Geschäftsbank als auch als Hypothekenbank tätig. Nach geltendem Recht darf eine private Hypothekenbank aber nur als Spezialinstitut betrieben werden.
Zum anderen refinanziert sich die Bank ganz überwiegend durch Ausgabe ungedeckter Schuldverschreibungen, die bei privaten Kreditinstituten mengenmäßig beschränkt ist. Diese Refinanzierungsgrundlage soll der Bank erhalten bleiben.
Die Bundesregierung hält es für ordnungspolitisch besser, die öffentliche Rechtsform beizubehalten, als zugunsten eines Instituts in privater Rechtsform diesem auf Dauer Sonderregelungen einzuräumen.
Zudem erlangt die Bank aus der Beibehaltung der öffentlichen Rechtsform keinen Wettbewerbsvorteil. Im Gegenteil, sie wird bei Beteiligung Privater deren Gewinn- oder Ausschüttungserwartungen erfüllen müssen. Schon deshalb wird sie ihre Angebote wie jede andere Bank unter Ertragsgesichtspunkten sehr genau zu bewerten haben.
Im Beteiligungsvertrag wird geregelt sein, daß die Aktionäre der Holding durch die Beibehaltung der öffentlichen Rechtsform und der damit verbundenen Anstaltslast des Bundes keinen Sonderstatus erhalten werden. Denn die Anstaltslast schützt nicht die Anteilseigner, sondern nur die Gläubiger.
Ich fasse zusammen: Der Gesetzentwurf ist das Ergebnis einer sorgfältigen Abwägung zwischen den langfristig anzustrebenden Zielen und dem derzeit Möglichen. Er gestattet die Beteiligung Privater so weit wie möglich und erhält den öffentlichen Auftrag und die öffentliche Rechtsform der Bank so weit wie nötig bei.
Ich bitte Sie daher um Zustimmung.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1114946000
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Deutsche Siedlungs- und Landesrentenbank. Es handelt sich um die Drucksachen 11/2169 und 11/4759.
Ich rufe auf die §§ 1 bis 21, Einleitung und Überschrift mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung — es ist eine einzige Änderung —.
Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung.
Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Gibt es Enthaltungen? — Nein. Der Gesetzentwurf ist mit derselben Mehrheit angenommen worden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

— Ich hoffe, dieses Klatschen gilt insbesondere den Mitarbeitern, den Stenographen vor und hinter uns,

(Beifall bei allen Fraktionen)

die heute sehr, sehr lang ausharren müssen und von denen wir wissen, daß sie heute früh wieder antreten müssen; einige der Mitarbeiter müssen erst noch abräumen und heute früh wieder hier sein.
Wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute, Freitag, den 16. Juni 1989, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.