Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Liste der Zusatzpunkte zur Tagesordnung aufgeführt:1. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Erweiterung des Untersuchungsauftrags fir den 2. Untersuchungsausschuß — Drucksache 11/3911 —
2. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zu zunehmenden Aktivitäten von Alt- und Neonazisten, insbesondere der DVU3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Garbe, Dr. Knabe, Frau Teubner, Frau Vennegerts und der Fraktion DIE GRÜNEN: Maßnahmen gegen Umweltbelastung und Gesundheitsgefährdung durch Chlorphenole und bromhaltige Flammschutzmittel— Drucksache 11/3904 —Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Wir treten nun in die Tagesordnung ein. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:Überweisung im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank — Drucksache 11/2216 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß
InnenausschußAusschuß für WirtschaftHaushaltsausschußb) Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1987 — Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes —— Drucksache 11/3750 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschußc) Beratung des Antrags des Bundesministers für Wirtschaft Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes" — Wirtschaftsjahr 1987— Drucksache 11/3765 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß
Ausschuß für WirtschaftInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Apel, Frau Dr. Däubler-Gmelin, Dreßler, Dr. Hauff, Dr. Penner, Roth, Frau Schmidt , Andres, Bernrath, Frau Blunck, Dr. Böhme (Unna), Diller, Ewen, Egert, Fischer (Homburg), Frau Ganseforth, Gilges, Frau Hämmerle, Frau Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Heistermann, Huonker, Ibrügger, Jaunich, Jungmann, Kastning, Dr. Klejdzinski, Koltzsch, Kretkowski, Kuhlwein, Lohmann (Witten), Dr. Mertens (Bottrop), Poß, Reschke, Reuschenbach, Rixe, Schanz, Schütz, Frau Seuster, Stahl (Kempen), Dr. Struck, Tietjen, Frau Traupe, Urbaniak, Vosen, Weiermann, Dr. Wernitz, Frau Weyel, Zeitler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDLage der Städte, Gemeinden und Kreise — Drucksachen 11/1542, 11/2822 —b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Herkenrath, Austermann, Dr. Daniels , Magin, Seehofer, Gerster (Mainz), Dr. Grünewald, Dr. Möller, Dr. Hoffacker, Eylmann, Müller (Wesseling), Straßmeir, Börnsen (Bönstrup), Krey, Dr. Hornhues, Werner (Ulm), Schwarz, Ruf, Dr. Laufs, Seesing, Weiß (Kaiserslautern), Schemken, Günther, Freiherr von Schorlemer, Link (Frankfurt), Dr. Müller, Oswald, Hörster, Schulze (Berlin), Lowack, Niegel, Dr. Hüsch, Daweke und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Lüder, Dr. Hirsch, Richter, Baum, Beck-
Metadaten/Kopzeile:
8906 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Vizepräsident Stücklenmann, Frau Folz-Steinacker, Funke, Gries, Grünbeck, Dr. Hitschler, Dr. Hoyer, Irmer, Mischnick, Neuhausen, Nolting, Frau Dr. Segall, Frau Würfel, Dr. -Ing. Laermann, Hoppe, Cronenberg , Eimer (Fürth), Heinrich, Dr. Thomae, Kohn, Gattermann, Kleinert (Hannover), Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDPLage der Städte, Gemeinden und Kreise — Drucksachen 11/2011, 11/3247 —Zu Tagesordnungspunkt 5 a liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3909 vor.Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte drei Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Es wird so verfahren.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Herkenrath.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dies ist heute ein Tag der kommunalen Selbstverwaltung im Deutschen Bundestag. Es ist nicht so selbstverständlich, daß im Deutschen Bundestag über die Lage des Städte und Gemeinden debattiert wird. Ich habe schon den Einwand von Kollegen gehört, Kommunalpolitik sei in diesem Hohen Hause nicht zu behandeln; Bundestagsabgeordnete sollten Bundespolitik machen und Kommunalpolitik dem kommunalen Mandatsträger überlassen.Wir in der CDU/CSU halten diese Sicht für falsch. Es gibt nicht die Bundespolitik als große Politik und die Kommunalpolitik als sozusagen kleine Politik. Gerade in den letzten Jahren haben die Verflechtungen zugenommen und ist Politik aus einem Guß gefordert.Die kommunale Selbstverwaltung ist ein wesentlicher Bestandteil der verfassungsrechtlichen und politischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Für die Politik und das Handeln in der Politik ist die Ebene der kommunalen Selbstverwaltung die intensivste und wirksamste Berührungsstelle auch mit unseren Bürgern.Der Deutsche Bundestag trägt durch Gesetzgebungstätigkeit und Entscheidungen Verantwortung für die Demokratie unseres Staates und so auch für das Wohlergehen der kommunalen Selbstverwaltung. So wird diese Debatte auch in der Öffentlichkeit, in Städten und Gemeinden, sehr aufmerksam verfolgt.Es ist deshalb inzwischen seit über 15 Jahren eine gute Tradition, daß der Deutsche Bundestag mindestens einmal pro Legislaturperiode in einer Debatte die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung diskutiert, eventuelle Fehlentwicklungen anspricht und über seine Mitverantwortung nachdenkt.Wir als CDU/CSU-Fraktion haben in der Opposition in den siebziger Jahren mit Großen Anfragen und anschließenden Debatten begonnen. Damals war die Sorge auch berechtigt, wie weit hier im Hohen Hause durch Mehrheitsentscheidungen die kommunale Selbstverwaltung eingeschränkt würde. Wir haben aber auch in der Regierungsverantwortung diese Tradition fortgeführt. In dieser Legislaturperiode — darüber freuen sich sicherlich auch die Kommunalpolitiker — hat die SPD-Fraktion nachgezogen und hat eine Große Anfrage zur Lage der Städte, Gemeinden und Kreise eingebracht. Insoweit kann der Deutsche Bundestag heute über die Antworten der Bundesregierung auf beide Große Anfragen gemeinsam debattieren.Das gibt ohne Frage Anlaß, der Bundesregierung zunächst einmal für die konkreten, konstruktiven Antworten zu danken, die ganz eindeutig eine gemeindefreundliche Politik der Bundesregierung belegen.
In den vergangenen Jahren hat die SPD-Fraktion in den Debatten dieses Hauses mehrfach ein völlig falsches Bild der kommunalen Selbstverwaltung gezeichnet. Es wäre ja zu schön, wenn Sie das heute korrigieren könnten. Stichworte von damals waren: zunehmende Verschlechterung der kommunalen Finanzlage
— ich habe den Zwischenruf „Das stimmt! " erwartet — , Gemeinden könnten Aufgaben nicht mehr erfüllen, Verfall der kommunalen Investitionen, massive Steuerausfälle, Anstieg der Verschuldung und gemeindefeindliche Politik der Bundesregierung. So tönte es allenthalben.Keine dieser Aussagen trifft so zu. Die Antworten auf die Großen Anfragen machen das deutlich. Die Aussagen sind durch die Wirklichkeit widerlegt worden. Mit Ihren Aussagen sind Sie vielleicht einigen pessimistischen Lobbyisten auf den Leim gegangen, möchte ich annehmen. Es ist zu befürchten, daß Sie auch heute wieder an den Fakten und der Wirklichkeit vorbeisehen werden.Tatsache ist: Es gibt keinen Verfall der kommunalen Investitionen in der Regierungszeit der Union.
Es gab eine dramatische Verschlechterung der Kommunalfinanzen noch Anfang der 80er Jahre, am Ende Ihrer Regierungszeit. So setzte ja auch 1981 ein starker Einbruch bei den kommunalen Investitionen ein, der uns auf Grund der defizitären Lage in den Kommunen damals besorgt machte.Auch hier kam 1982/83 die Wende. Bei den Kommunalfinanzen setzte schon 1984 eine Trendumkehr ein mit wieder positiven Zuwachsraten.
Seit 1985 gehören die kommunalen Investitionen zu den überproportional gewachsenen öffentlichen Ausgaben, auch und gerade im zu Ende gegangenen Jahr 1988. Dafür haben wir einerseits den Kommunen und den Kommunalpolitikern zu danken, und wir haben andererseits der Bundesregierung zu danken, die mit ihrer Politik diese Entwicklung gefördert und unterstützt hat. Im weiteren Verlauf der Debatte werden meine Freunde eindeutige Beispiele dafür bringen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8907
Herkenrathwie die positive Entwicklung in den Städten und Gemeinden möglich geworden ist.Man kann viele Beispiele für die Freundlichkeit unserer Bundesregierung gegenüber den Gemeinden nennen. Ich nenne eins: Das ist das Strukturhilfegesetz, mit dem die Möglichkeit einer weiteren stetigen und langfristigen Verstärkung der kommunalen Investitionen eröffnet wird. Inwieweit diese Möglichkeiten nun genutzt werden, hängt natürlich weitgehend vom Verhalten der Länder ab. Und so appelliere ich an die Länder — hier besonders an Nordrhein-Westfalen —, die Strukturhilfe nicht zur eigenen Haushaltskonsolidierung zu verwenden.
Mit den Strukturhilfen bietet der Bund auch die Möglichkeit, zunehmende Finanzkraftunterschiede zwischen den Kommunen anzugehen und auszugleichen.
Ende 1988 lagen die kommunalen Steuereinnahmen um rund 8 Milliarden DM bzw. 14 % höher als 1985.
Das ist trotz der beiden Stufen der Steuerreform eine kräftige Steigerung, die im Jahresdurchschnitt bei knapp 5 % liegt.
Das sind also die angeblichen massiven Steuerausfälle, die nach Ansicht der SPD zum Ruin der kommunalen Selbstverwaltung führen werden. Trotz der zweiten Steuerreformstufe sind die kommunalen Steuereinnahmen 1988 um knapp 8 % gestiegen.Wir haben hier eine Entwicklung, die belegt, daß die Dynamik der Wirklichkeit mit den statischen Berechnungen, wie sie von der SPD oft angestellt wurden, einfach nicht eingefangen werden kann. Eine richtige Finanz- und Wirtschaftspolitik, wie sie nun stattfindet, bringt sogar bei Steuersenkungen, die die Unternehmer entlasten, am Ende, wenn sie vernünftig gehandhabt werden, auch mehr Geld in die öffentlichen Kassen.
So wird sich die SPD nach dem Scheitern ihrer bisherigen Argumentation nun auf die dritte Stufe der Steuerreform konzentrieren. Sie wird sagen, ja, aber im nächsten Jahr kämen die schlimmen Zeiten, und wird die Sorgen an die Wand malen. Bevor Sie erneut einen solchen Fehler machen, möchte ich bitten, zu bedenken, daß ja mit den beiden ersten Steuerreformstufen bereits mehr als die Hälfte des Steuersenkungsvolumens verwirklicht wurde. Es wird für den Verlauf des Jahres 1990 ganz entscheidend weiter auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung ankommen. Ich erwarte nach den guten Erfahrungen von 1986 und 1988 gerade für 1990 weiter Wachstumsimpulse aus der Steuersenkung. Ich rechne insgesamt auch im Jahre 1990 mit einer positiven kommunalen Finanzentwicklung und nicht mit einer krisenhaften Zuspitzung.
Wir werden dies bei einer weiteren Kommunaldebatte in zwei Jahren belegen können.Schließlich möchte ich der Bundesregierung für die Erneuerung ihrer Gewerbesteuergarantie in den vorgelegten beiden Antworten danken. Es ist im übrigen die einzige Bundesregierung, die das je in dieser klaren Form getan hat.
— Ich glaube, die Aushöhlung der Gewerbesteuer ist gerade in den Zeiten der sozialliberalen Koalition beispielsweise durch einige Entscheidungen geschehen, die kommunale Politiker der SPD sehr erregt haben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus kommunaler Sicht bejahen wir natürlich auch die Notwendigkeit einer Unternehmensteuerreform in der nächsten Legislaturperiode. Wir wissen, daß die Bedeutung einer guten Wirtschaftsentwicklung für die Finanzlage der Kommunen von großer Bedeutung ist. Deshalb werden wir auch an einer Unternehmensteuerreform mitarbeiten. Darüber wird sicherlich noch gesprochen werden.Wir möchten — das darf ich am Schluß sagen — neben der finanziellen Absicherung die inhaltliche Stärkung des Freiheitsgrades der kommunalen Selbstverwaltung weiter unterstützen. Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt daher, daß die Bundesregierung in ihrer stetigen und nicht auf spektakuläre Aktionen abzielenden Rechts- und Verwaltungsvereinfachung einen politischen Schwerpunkt sieht und einen pragmatischen und erfolgversprechenden Weg eingeschlagen hat. Wir unterstützen alle Maßnahmen der Entbürokratisierung. Wir werden dies in den nächsten Jahren verstärkt auch auf europäischer Ebene beachten müssen.Mit der inhaltlichen Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung wollen wir die Vielfalt in den Kommunen unterstützen, um der Tendenz zur Vereinheitlichung entgegenzuwirken. Auch in den Kommunen brauchen wir einen Wettbewerb um die jeweils besseren Lösungen, um so die Leistungsfähigkeit der kommunalen Selbstverwaltung zu stärken.Dies gilt es in die anderen Länder zu unseren Freunden in der Europäischen Gemeinschaft hinüberzutransportieren. Bei diesem Bemühen, die Anliegen der kommunalen Selbstverwaltung auch auf europäischer Ebene zu stärken, möchten wir auch unsere kommunalen Spitzenverbände nach Kräften unterstützen.
So ist die Politik der Bundesregierung an den Zielen und Grundsätzen zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung orientiert. Mit ihrer Politik hat die Bundesregierung zu einer soliden und sicheren Fi-
Metadaten/Kopzeile:
8908 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Herkenrathnanzausstattung der Kommunen beigetragen und dient damit der kommunalen Selbstverwaltung. Die CDU/CSU-Fraktion wird diese Politik weiter unterstützen. Tatsachen zählen und nicht die Worte.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Bernrath.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Sie werden gelobt werden, Herr Herkenrath, aber lediglich von der Regierung, weniger von den Kommunen,
die das doch ein wenig anders sehen. Ich denke an einen Artikel, den ich gerade in diesen Tagen in einer kommunalen Zeitschrift gelesen habe, verfaßt nicht von einem Mann, der uns nahesteht, sondern eher Ihnen nahesteht.
— Die „Demokratische Gemeinde" ist sehr konstruktiv. Aber hier geht es ja um Interessenvertretung, wobei das Bild doch ein wenig anders gezeichnet wird.
Die Beantwortung beider Großen Anfragen, insbesondere unsere, ist nicht gerade geeignet, die Sorgen, welche die Gemeinden haben, zu zerstreuen. Die Bundesregierung hat sich ausführlich zur Lage der Städte, der Gemeinden, der Kreise geäußert. Sie hat dabei große Mühe darauf verwendet, insbesondere die Entwicklung der Gemeindefinanzen nach 1982 rosig darzustellen. Aber auf die konkret gestellten Fragen hat sie leider weniger konkret geantwortet und damit auch keine Perspektiven eröffnet. Insbesondere übergeht die Bundesregierung die Tatsache, daß nicht Strukturverbesserungen in den Gemeindefinanzen Grundlage dieser für 1988 positiven Bilanz sind, sondern daß im Gegenteil lediglich die zweifellos und Gott sei Dank günstige wirtschaftliche Konjunktur mehr Geld in die Kassen gebracht hat. Langfristig aber drohen die Strukturschwächen in der gemeindlichen Finanzstruktur diesen vorübergehend etwas besseren Saldo negativ zu verändern. Ich bin der Auffassung, daß wir spätestens mit Beginn der 90er Jahre voll in die Belastungen aus der Reform der Einkommensteuer, die heute schon berechnet werden können, kommen und damit bei den Kommunen nur eine vorübergehende Entlastung haben werden.Es sind Wellenbewegungen, die wir erleben, die sich auch nicht verstetigen, so daß sie kalkulierbar wären, die andererseits eindeutig signalisieren, wie konjunkturabhängig die Kommunalfinanzen sind und wie wenig deshalb die kommunalen Verwaltungen, aber auch die kommunalen Politiker mittel- und langfristig kalkulieren können.Ich wiederhole: Tatsächlich wird die Schwächung der kommunalen Finanzstruktur durch die Gesetzgebung, beispielsweise die Steuerrefromen der letzten Jahre, nur überdeckt. Wir werden ihre negativen Wirkungen spätestens Anfang nächsten Jahres durchschlagend erleben.Das ist auch der Grund dafür, Herr Kollege Herkenrath, daß die Investitionsausgaben der Kommunen bei weitem nicht in dem Maße wieder gestiegen sind, wie es die konjunkturabhängigen Einnahmeverbesserungen erlaubt hätten. Sie sind sehr zurückhaltend gewesen. Wir haben 1984/85 einen außerordentlichen Einbruch der kommunalen Investitionen erlebt, der bisher nicht wieder ausgeglichen werden konnte. Im übrigen: Zusätzliche Kosten in zahlreichen Sektoren der kommunalen Verwaltung, besonders im Sozialetat, haben außerdem einen nicht geringen Teil der Einnahmenzuwächse aufgezehrt.Erst recht faul ist die gebetsmühlenartige Wiederholung der Behauptung, für den Ausgleich des kommunalen Steuergefälles seien allein die Länder zuständig, weil sie die kommunalen Finanzausgleiche über ihre Haushalte bewirken. Hier stellt sich — auch vor dem Hintergrund Ihres Hinweises auf das Strukturhilfegesetz — zumindest die Frage, ob nicht gerade Ihre Finanzpolitik, also die Finanzpolitik der Bundesregierung, die Voraussetzung eines kommunalen Finanzausgleichs durch die Länder eher eingrenzt, auch in Nordrhein-Westfalen, wo wir gerade in diesem Jahr eine starke Zunahme der Finanzierung der Kommunen über den Finanzausgleich erleben konnten, trotz der enge der Finanzen dort.Eine kommunale Zukunftsperspektive ist daher bei der Bundesregierung weder zu erkennen noch offensichtlich beabsichtigt, weil sich daraus ja Pflichten entwickeln. Sie ist erst recht nicht im Blick auf die Finanzierung der stetig wachsenden kommunalen Aufgaben für uns erkennbar. Die Kommunen ihrerseits können — das ist ganz zwangsläufig — nicht sicher sein, wie sich die kommunalen Finanzen in den kommenden Jahren entwickeln. Sie werden also ihrerseits weder mittel- noch längerfristig eine solide und gesicherte Finanzplanung betreiben können.Diese Unsicherheiten werden auch nicht dadurch ausgeräumt, daß die Bundesregierung in den Vorbemerkungen zu ihrer Antwort auf unsere Anfrage zwar eine Reihe von Bekenntnissen zur kommunalen Selbstverwaltung und zur Mitverantwortung des Bundes für die Kommunen abgibt, aber keinen Hinweis darauf vermittelt, wie sie sich diese Mitverantwortung im einzelnen vorstellt, welche Verpflichtungen sie für sich daraus ableitet. Außer Lippenbekenntnissen ist nichts zu erkennen.Ich wiederhole: Die anhaltende Schwächung der Steuerstruktur und damit die Minderung der kommunalen Finanzen, auch wenn — was Sie ja unterstellen — beim Steueraufkommen insgesamt Zuwächse zu verzeichnen sind, sind nicht geeignet, die kommunale Finanzplanung, die kommunale Aufgabenwahrnehmung zu verbessern.In den vergangenen Jahrzehnten, besonders in den 70er Jahren, ist sehr viel erreicht worden. Der Aufbau der Städte, der Ausbau der sozialen Sicherung, die Erweiterung demokratischer Mitwirkungsrechte der Bürger, das alles konnte gefügt werden. Aber seit den 70er Jahren ist auch ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel eingetreten, der insbesondere die Kom-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8909
Bernrathmunen zwingt, die Folgen dieses Wandels in ihren Städten, in den Gemeinden und Kreisen zu bedenken und aufzufangen. Dieser Wandel wird vor allem deutlich in der überwiegend katastrophalen Arbeitslosigkeit in den Gemeinden, in der Veränderung der Bevölkerungsstruktur in den Kommunen und dem wachsenden Anteil älterer Menschen, insbesondere auch der sehr Alten, der Hochbetagten, die glücklicherweise in unserer Gesellschaft leben.Dieser Wandel wird vor allem aber auch in der Gefährdung, vielfach sogar der Zerstörung unserer Umwelt deutlich. Hier bietet die Umweltpolitik der Bundesregierung eher ein Bild bleierner Stagnation.
Stichworte wie Altlasten, Altablagerungen stehen hier für völliges Untätigsein der Bundesregierung. Sie überläßt diese aus gemeinsamem wirtschaftlichen Handeln entstandenen Belastungen allein den Ländern, insbesondere aber den Kommunen. Die Sonderabfallentsorgung — wir erleben das gerade in diesen Tagen — ist nicht mehr gewährleistet, die Verwertung, die Deponie des Klärschlamms ist völlig ungelöst. Das ist sozusagen ein sich täglich aufbauendes Problem, und es ist darum nicht verwunderlich, daß — das belastet die Kommunen außerordentlich — die Umweltstraftaten bei uns von Mitte der 70er Jahre bis heute um fast 700 % angestiegen sind, sich also versiebenfacht haben.Dieser Wandel drückt sich auch — das stellt die Kommunen auch vor völlig andere Herausforderungen — in der verbesserten Ausbildung aus, dem höheren Bildungsniveau der Mitbürgerinnen und Mitbürger, vor allem aber auch der Jugend, in der Notwendigkeit der jetzt — ich möchte sagen — in der Zielsetzung durchgesetzten Gleichberechtigung von Frauen und Männern, der zunehmenden Freizeit der Menschen und unserer wachsenden kommunalen Verpflichtungen gegenüber hilfsbedürftigen gesellschaftlichen Gruppen, nicht nur der Behinderten, wobei jetzt insbesondere die Aussiedler, die Asylsuchenden, aber auch viele Gruppen von Ausländern hinzukommen.Schließlich ist — ich will das nur am Rande erwähnen — auch die veränderte Gestaltung der Arbeitsabläufe in den kommunalen Verwaltungen eine wichtige und auch eine sehr teure Aufgabe, die bewältigt werden muß, unter gleichzeitiger Rationalisierung dieser Abläufe und dem verstärkten Einsatz von noch immer sehr teuren Informations- und Kommunikationstechniken, die auch noch nicht die Ergiebigkeit, die Effizienz bringen, wie wir das — insbesondere vor dem Hintergrund der sehr teuren Investitionen — erwartet haben.Die fortschreitende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen — ich habe das eben angedeutet — wirkt sich ganz besonders in den Städten und Gemeinden aus und verändert dort die Lebensweise, die Anschauungen, das Verhalten, die Erwartungen der Bürger. Darauf muß Kommunalpolitik heute eingehen können, dafür muß sie auch die finanziellen Voraussetzungen haben. Damit geht — ich habe das etwa mit diesem Wandel des Bildungsstandes der Mitbürgerinnen und Mitbürger angedeutet — ein völlig andererAblauf der politischen Entscheidungsprozesse einher, die nicht nur geordnete Verfahren unter der Kontrolle der Öffentlichkeit verlangen, sondern immer mehr Teilhabe der Bürger, unmittelbare Mitwirkung der Bürger an diesen Entscheidungen voraussetzen. Bei Entscheidungen über wichtige Entwicklungsfragen müssen Politiker und Bürger heute unabdingbar aufeinander zugehen, sich um Verständnis bemühen und Unterschiede in der Bewertung in aller Öffentlichkeit ausdiskutieren. Nur so kann sich dann Vertrauen zwischen den Kommunen und ihren Bürgern bilden, was wir für notwendig, für richtig halten, was aber auch, insbesondere wenn wir an den ehrenamtlichen Teil, an die Kommunalpolitiker denken, außergewöhnlich zeitaufwendig, oft auch belastend ist und vor allen Dingen auch Geld kostet.Hinzu kommt, daß wir aus uns heraus, aber auch weil die Bürger es erwarten, die Individualität der Städte und Gemeinden mit all ihren Eigentümlichkeiten, ihren Besonderheiten immer mehr zur Geltung bringen müssen. Das steht dem Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht entgegen, sondern ist darauf angelegt, die Vielfalt, die wir in den Städten und überhaupt in den Kommunen finden, zu erhalten und wieder besonders zu betonen.Dies sind wesentliche Voraussetzungen für erfolgreiche, längerfristig wirkende kommunale Politik, auf die wir uns konzentrieren müssen. Dabei dürfen wir uns nicht allein etwa in dem Abzählen — das räume ich ein — der Pfennige erschöpfen, wir dürfen uns auch nicht in reiner Sachbearbeitung verlieren. Die Bürger verlangen von uns grundsätzliche Entscheidungen über das, was wir an Dienstleistungen, an Beratung anbieten, und wie sich das, was wir heute Infrastruktur nennen, in den nächsten Jahren darstellt. Darum bin ich auch der Meinung, daß beispielsweise bei einer kommunalen Finanzreform, entweder mit einer Aufwertung der Gewerbesteuer oder einer daran geknüpften anderen Gestaltung, die großen Dienstleistungsunternehmen etwa des Bundes zur Finanzierung der Kommunen mit herangezogen werden müssen.
Es ist völlig ausgeschlossen, daß beispielsweise die Post, die die Infrastruktur der Kommunen wie kaum ein anderer in Anspruch nimmt, auch nicht mit einem Pfennig zu ihrer Finanzierung beiträgt. — Ich höre von der Post auf, sonst wird es schön.
Was ich gesagt habe, ist das, was wir in der Zukunft bedenken müssen, wenn wir die Lebenszusammenhänge in der örtlichen Gemeinschaft, in der Kommune festigen wollen; immer mehr leben die Menschen in der Kommune, viel weniger als etwa meine Generation, die ihre Bindungen eher in den Berufen erkannte. Vor diesem Hintergrund müssen wir berücksichtigen, daß etwa der Anteil der Ordnungsverwaltungen in den Kommunen ganz erheblich zurückgeht, weil sie andere Aufgaben, beratende, helfende, animierende Aufgaben, übernehmen müssen, um für die Menschen neue Bindungen eben in den Kommunen zu schaffen, und damit die Menschen auch befähigen, dort und nicht ausschließlich in den Berufen Reputa-
Metadaten/Kopzeile:
8910 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Bernrathtion zu finden und mit ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zusammenzuleben.Dazu gehört traditionell sehr stark natürlich auch die Kulturpolitik der Kommunen. Sie ist neuerdings nicht mehr den ursprünglichen Zielsetzungen, etwa der Bildung und Unterhaltung, unterworfen, sondern sie bemüht sich jetzt immer mehr darum, zu vermeiden, daß es ein zunehmendes Nebeneinander von bruchstückartigen Einzelteilen der Gesellschaft gibt, in die hinein wir uns ja zu entwickeln drohen, und die Interessengruppen in den Kommunen aufzulösen, wieder zusammenführen. Über eine ausgeprägtere, auf die Zukunft bezogene Kulturpolitik wird das Zusammenleben und das Zusammenarbeiten im Alltag bereichert und verbessert.
Damit wird die Gesellschaft befähigt, in den Kommunen wieder schöpferisch tätig zu sein, mitzuwirken, mitzugestalten, und dem Einzelnen wird ermöglicht, Lebenserfüllung zu finden.Das alles kostet Geld, bietet aber auch die Chance, viele neue und interessante Arbeitsplätze anzubieten, die wir ja alle wünschen, dann aber auch finanzieren müssen. — Ich will das hier abbrechen.Ich möchte vielleicht noch mit einem kurzen Wort auf die europäische Entwicklung eingehen; wir sprechen darüber fast täglich: Zum klassischen Aufbau unserer Verwaltungen, auch der Politikebenen, also Bund, Länder und Kommunen, werden wir in Kürze — wenn sie nicht schon da ist — die vierte Ebene, die europäische, haben, die uns ganze neue Aufgaben vermittelt. Ich bin der Auffassung, daß wir unsererseits alles tun müssen, um mit den Wirkungen, die sich beispielsweise aus dem unmittelbar bevorstehenden gemeinsamen Binnenmarkt ergeben — im ersten Schritt im Schengener Abkommen für die BeneluxLänder, Frankreich und die Bundesrepublik schon sichtbar — , fertig zu werden.Im Augenblick gibt es schon 300 gesetzliche Einzelmaßnahmen aus der EG-Kommission, die die Kommunen betreffen und zu denen die Kommunen bis heute noch nicht ein einziges Mal haben Stellung nehmen können. Wir müssen davon ausgehen, daß sich das öffentliche Auftragswesen in den nächsten Jahren völlig verändert. Die Liberalisierung des Kreditgewerbes wird auch die kommunalen Kreditinstitute erreichen. Der Energiebereich wird ebenfalls davon betroffen sein. Die steuerliche Entwicklung — auch dann, wenn die Gewerbesteuer noch nicht zwingend unter dem Gebot der Beseitigung steht — wird von den Wirkungen, die aus der EG heraus in die Kommunen hineinreichen, nicht ausgenommen bleiben. — Ich will nur diese wenigen Beispiele nennen.Von daher steckt gerade in dieser Entwicklung die Notwendigkeit, die Kommunen stärker an der nationalen Gesetzgebung, aber auch an der Gesetzgebung im europäischen Bereich zu beteiligen. Dabei belastet uns in den Kommunen besonders, daß es fast ausschließlich administrative Einwirkungen sind, also Regelungen, die aus der Kommission kommen, die parlamentarisch nicht legitimiert ist, aber in parlamentarische Beschlußlagen einwirkt. Das läßt sichauch gegenüber dem Bürger außerordentlich schwierig vertreten.Die Zukunft der Stadt, der Kommunen, steht also für uns als Aufgabe, die wir bewältigen müssen. Wenn man sich die Möglichkeiten und die Gefahren einer zukünftigen Entwicklung der Städte vor Augen hält, dann wird man fraglos berechtigte Sorgen und Ängste spüren — ich meine „Ängste" jetzt nicht modernistisch; man macht ja einen guten Eindruck, wenn man über Ängste redet — , es wird Sorgen geben.Aber wir haben natürlich auch Anlaß zur Zuversicht. Vor allen Dingen wenn wir diese Aufgabe gemeinsam anpacken, werden wir durchaus in der Lage sein, mit diesen Entwicklungen fertig zu werden, also moderne Kommunalpolitik zu machen, kommunale Planung zu machen, die die nächsten zehn, 15 Jahre überschaubar macht und sichern hilft, insbesondere dann, wenn sich der Bund dabei seiner besonderen Verantwortung zur kommunalen Finanzausstattung bewußt ist.Insofern haben die Kommunalpolitiker auch eine Brückenfunktion. Sie müssen mühselig, kompromißträchtig, mehrheitsbedürftig den Alltag im Augenblick, in der Gegenwart, gestalten. Sie müssen uns aber auch über die Brücke dieser alltäglichen Auf gaben in die nächsten Jahre hineinführen. Auf diesen Brückenschlag kommt es an, wenn wir uns dabei gemeinsam über den Weg unterhalten und nach gemeinsamen Lösungen suchen.Von daher, glaube ich, Herr Herkenrath, fällt Ihnen in der Koalition eine ganz besondere Aufgabe zu, nämlich die Abstinenz, die die Bundesregierung in Richtung Kommunen übt, aufzulösen und in eine aktive Gestaltung der Zukunft zu überführen. Herr Waffenschmidt sitzt hier; er kennt die Bedingungen ja bestens. Ich nehme an, daß Herr Waffenschmidt Herrn Zimmermann auch in dieser Hinsicht beraten wird und — so wie er in den kommunalen Spitzenverbänden Erfolg hatte — uns dann gemeinsam befähigt, ebenfalls Erfolg zu haben.Danke schön.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister des Innern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Herkenrath und Herr Kollege Vorsitzender des Innenausschusses — Bernrath ist der Name; so ist es —,
es ist hier wohl bekannt, daß ich in gemessener Zeit — es ist schon ein bißchen her — auch schon einmal Mitglied des Städte- und Gemeindebundes und auch dessen Vizepräsident gewesen bin. Meine kommunalen Erfahrungen reichen also über meine Zeit als Bundesminister des Innern hinaus, und ich glaube deshalb auch das Beispiel, das Sie, Herr Kollege Bernrath, gebraucht haben, beurteilen zu können. Wenn Sie sagen, die Bundesregierung übe Abstinenz gegenüber den Kommunen, dann fehlt mir wirklich jeglicher Vergleich für die Zeit Anfang der 80er Jahre. Man kann die damalige Situation nicht mehr als Abstinenz,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8911
Bundesminister Dr. Zimmermannsondern nur mehr als Austrocknung bezeichnen, wenn Sie davon sprechen, die Bundesregierung übe heute Abstinenz gegenüber den Kommunen.
— Ich wäre ja gar nicht polemisch geworden, wenn nicht ausgerechnet der letzte Satz in der Rede des Kollegen Bernrath polemisch gewesen wäre. Sonst hätte ich überhaupt nichts dazu gesagt. Es wäre mir ja alles recht gewesen.Die Bundesregierung bekennt sich zur kommunalen Selbstverwaltung. Ich glaube, das haben wir seit 1982 bewiesen. Ich trage keine Zahlen vor; das überlasse ich meinem Kollegen Stoltenberg. Er ist eher für Zahlen zuständig als der Bundesminister des Innern.Aber soviel darf ich schon sagen: Das Finanzierungsdefizit betrug vor 6 Jahren 18 Milliarden DM. 1984 und 1985 haben die Kommunen erstmals Finanzierungsüberschüsse erzielt. Wenn nicht alles täuscht, wird das nach Schätzungen der kommunalen Spitzenverbände auch für das Jahr 1988 der Fall sein. In den letzten 40 Jahren waren das ganz seltene Ausnahmen; wie Perlen ragen sie aus dem Gelände hervor.
Herr Kollege Herkenrath, was auch immer der Grund dafür sein mag: Wenn eine gute Wirtschafts- und Finanzpolitik die Ursachen dafür sind, daß wir solche Ergebnisse vorweisen können, dann ist das ja auch nicht schlecht, würde ich sagen. Trotzdem sind die Kommunen auch ihrer haushaltswirtschaftlichen Selbstverantwortung in diesen Jahren gerecht geworden. Sonst wäre das nicht möglich gewesen.Wir fördern die Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden. Wir fördern seit dem 1. Januar 1988 erstmals den Einsatz von Omnibussen im Personennahverkehr. Das hat es vorher noch nie gegeben. Wir erwarten hiervon eine wesentliche Stärkung des öffentlichen Personennahverkehrs im ländlichen Raum. Wir haben für diese Dinge 2,6 Milliarden DM ausgegeben. Das ist eine Zahl, die sich sehen lassen kann.Für die Stadterneuerung sind jetzt 2,3 Milliarden DM veranschlagt worden, obwohl die Minsterpräsidenten 1984 — ich war mit dem Kollegen Stoltenberg dabei — gesagt haben, wir sollten mit der Mischfinanzierung bei der Städtebaugförderung aufhören. Wir haben uns den dringenden Wünschen der Gemeinden nicht verschlossen, und wenn wir jetzt von 1988 bis 1990 jährlich 660 Millionen DM dafür ausgeben, dann ist das dreimal soviel wie 1982. Ich glaube, auch diese Feststellung spricht für sich.
Meine Damen und Herren, wir haben große Probleme zu bewältigen. Wir müssen die Aussiedler bei uns aufnehmen. Das kann nur in engem Zusammenwirken zwischen Bund, Ländern und Gemeinden gemacht werden. Natürlich gab und gibt es dabei Probleme. Ich bin jedoch davon überzeugt, wir müssen und wir werden sie gemeinsam lösen.Wir haben der veränderten Situation auf diesem Gebiet durch zahllose personelle und haushaltswirtschaftlich-organisatorische Maßnahmen Rechnung getragen und eine erhebliche überplanmäßige Verstärkung der Haushaltsmittel in den Jahren 1987 und 1988 vorgenommen. Wir werden das wohl auch im Hinblick auf die nächsten Jahre tun müssen.Auch die Stichworte Kunst und Kultur sind gefallen. Die bescheidenen Aufgaben, die der Bund auf diesem Gebiet hat, erfüllt er. Er ist bereit und in der Lage, günstige Rahmenbedingungen zur Unterstützung von Kunst und Kultur zu schaffen sowie bedeutsame Einrichtungen, Veranstaltungen und Aktivitäten zu fördern, die mit dem Gesamtstaat und mit der deutschen Nation zusammenhängen.Besondere Aufmerksamkeit widmet der Bund Berlin. Über 50 % der gesamten Förderungsmittel des Bundesministeriums des Innern auf diesem Gebiet fließen nach Berlin, und zwar schwerpunktmäßig in die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und die Berliner Festspiele GmbH.Aber auch der Bonn-Vertrag ist besonders unterstützt worden, insbesondere das Theater- und Konzertwesen, das ich in den 50er Jahren in Bonn erstmals kennengelernt habe. Wenn ich es mit dem heutigen vergleiche, dann kann ich nur sagen: Herr Oberbürgermeister, dort sind riesige Fortschritte gemacht worden, zu denen man nur gratulieren kann.
Ich will auch neuralgische Themen nicht auslassen. Ich weiß, daß von erheblicher Bedeutung für die Gemeinden und Kreise die Forderung nach einem kommunalen Wahlrecht für Ausländer ist. Die Bundesregierung möchte hier ihre Auffassung bekräftigen, daß ein allgemeines kommunales Wahlrecht für Ausländer nicht mit Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes vereinbar ist. Nach dieser Verfassungsbestimmung geht alle Staatsgewalt vom Volk aus, und unter „Volk" im Sinne dieser Vorschrift ist das Staatsvolk zu verstehen, nämlich die Summe, die Gemeinschaft aller Deutschen im Sinne des Grundgesetzes.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr.
Herr Minister, das Thema ist ja nicht neu, daß Sie verfassungsrechtliche Hindernisse sehen. Wären Sie denn bereit, diese Hindernisse beseitigen zu helfen, indem Sie eine entsprechende Initiative zur Änderung des Grundgesetzes vorlegen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Diese Initiative möchte ich gerne Ihnen überlassen, Herr Kollege Penner. Der Bundesminister des Innern beabschichtigt eine solche Initiative nicht, weil er glaubt, daß diese Bestimmung des Grundgesetzes ihren Sinn
Metadaten/Kopzeile:
8912 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Bundesminister Dr. Zimmermannhat und daß eine Änderung dieser Bestimmung beim Zusammenwachsen des europäischen Marktes und den zahlreichen Problemen, die sich hier ergeben, nur gemeinsam, europäisch, vorgenommen werden kann, aber niemals einseitig national.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr.
Herr Minister, nun wird ja der Herr Bundeskanzler nicht müde
— jedenfalls in dieser Frage nicht, aber in anderen Fragen —,
das politische Europa, die politische Einigung Europas zu beschwören. Welchen Beitrag will denn der Bundesminister des Innern dazu leisten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Penner, jedenfalls nicht diesen. Sie haben ganz recht verstanden, was ich damit sagen wollte.
Somit steht nach dem Grundgesetz das kommunale Wahlrecht nur Deutschen zu. Da befindet sich die Bundesregierung in Übereinstimmung mit dem weit überwiegenden Teil der verfassungsrechtlichen Literatur und im übrigen — deswegen sage ich es — auch in Übereinstimmung mit den kommunalen Spitzenverbänden, die wiederholt erklärt haben, daß es unzulässig ist, das kommunale Wahlrecht für Ausländer einzuführen, und die sich vor allem deswegen dagegen gewandt haben, weil damit das kommunale Wahlrecht sozusagen einen verfassungsrechtlich geringeren Rang zugewiesen erhalten hätte.
Natürlich bedarf die Frage der Prüfung, wieweit Angehörigen anderer EG-Mitgliedstaaten ein Kommunalwahlrecht eingeräumt werden kann. Die EG-Kommission hat den Mitgliedstaaten einen Richtlinienvorschlag unterbreitet, der schwierige und grundsätzliche Fragen des Verfassungsrechts und des Gemeinschaftsrechts aufwirft, die im einzelnen noch geklärt werden müssen.
Im übrigen darf die Bundesregierung an dieser Stelle darauf hinweisen, daß auch ohne Wahlrecht Ausländer in diesem Land umfassende politische Rechte genießen: das Recht auf Meinungsfreiheit, das Recht auf Vereins- und Versammlungsfreiheit, das Recht auf Mitgliedschaft in politischen Parteien, wovon in reichem Maße Gebrauch gemacht wird. Besonders auf kommunaler Ebene wird darüber hinaus in vielfältiger Form ermöglicht, diese Probleme und Vorschläge zu Gehör zu bringen.
Wir geben der Rechts- und der Verwaltungsvereinfachung das notwendige Gewicht. Mein Kollege Parlamentarischer Staatssekretär Waffenschmidt und alle Bundesministerien arbeiten dabei mit. Die geschäftsführenden Präsidialmitglieder der drei kommunalen Spitzenverbände sind dabei, so daß der Sachverstand und die Interessen der Kommunalseite gut vertreten sind. Wir werden mit dieser Aufgabe auch in den nächsten Jahren fortfahren.
Letztes Thema: innerdeutsche Städtepartnerschaften. Hier hat es seit 1986 eine erfreutliche Entwicklung gegeben. Über 50 solcher Partnerschaften sind zwsichenzeitlich geschlossen worden. Weitere 500 wünschen eine Partnerschaft mit einer Stadt oder einer Gemeinde in der DDR. Daß in diesen Bemühungen eine Pause eingetreten ist, hat nicht die Bundesregierung zu verantworten. Wir hoffen, daß diese Pause nicht mehr allzulange dauert; denn die Bundesregierung begrüßt diese Entwicklung, dankt den Kommunen für ihre Bemühungen, mit unseren Landsleuten in der DDR verstärkt in Kontakt zu kommen, und erhofft sich von diesen kommunalen Partnerschaften, daß sie die persönlichen Verbindungen zwischen den Bürgern der Partnerkommunen stärken und das Bewußtsein verbindender Gemeinsamkeiten vertiefen.
Auf einigen wenigen, aber wichtigen Gebieten habe ich die Politik der Bundesregierung für die Kommunen aufgezeigt. Sie können versichert sein: Wir werden diese konsequente und erfolgreiche Politik für Städte, Gemeinden und Kreise fortsetzen, damit die kommunale Selbstverwaltung in unserem Land lebendig bleibt.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lüder.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir bitte, daß ich mit einer Vorbemerkung zu der Stadt anfange, in der ich sechs Jahre kommunalpolitische Arbeit geleistet habe. Noch vor einigen Jahren hätte ein Berliner Abgeordneter, der in einer kommunalpolitischen Debatte des Deutschen Bundestages spricht, zunächst hervorheben müssen, daß für Berlin finanzielle Sonderopfer erbracht werden müssen, da die finanziellen Probleme der Stadt Berlin größer seien und waren als die nahezu aller anderen Kommunen.Das ist heute anders, nicht nur, Herr Minister Zimmermann, wegen der Beiträge des Bundes für die Stiftung „Preußischer Kulturbesitz", die wir als nationale Aufgabe, aber zum Nutzen Berlins gerne akzeptieren. Heute kann ich unbefangen, ohne Berliner Sonderwünsche anmelden zu müssen, sprechen. Die Ursachen liegen klar zutage. Die durch die Ostverträge, wie sie von der damaligen Koalition initiiert und unterstützt wurden, eingeleitete Entspannungspolitik gab mit dem Berlin-Abkommen der Stadt eine tragfähige Grundlage für eine gesicherte Existenz, die dann aber erst die solide Arbeit der jetzigen Koalition gemeinsam mit dem Berliner Senat zu dem dann folgenden Aufschwung führte.
Die Finanzpolitik meines Parteifreundes Günter Rexrodt sorgte dafür, daß das Machbare nicht durch ausuferndes Ausgeben für populistische Wünsche ge-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8913
Lüderfährdet wurde. Ich bin zuversichtlich, daß Berlin auch nach dem nächsten Wochenende auf diesen Grundlagen weiterarbeiten kann.Die Großen Anfragen der Koalitionsfraktionen einerseits und der SPD-Opposition andererseits unterscheiden sich schon im Ansatz der Fragestellungen. Während sich die SPD auf die Politikbereiche konzentriert, in denen sie glaubt, Kritisches abfragen zu können, war es Ziel der Koalitionsfraktionen, eine umfassende kommunalpolitische Positionsbestimmung zu ermöglichen. Dazu sollte die Bundesregierung mit den Antworten auf unsere 54 Einzelfragen die Grundlage legen. Wir Freien Demokraten sind der Bundesregierung dankbar, daß sie dies in so offener und umfassender Weise getan hat. Damit setzt die Regierung zugleich ein Zeichen dafür, daß sie die besondere Bedeutung der Kommunalpolitik würdigt. Ich glaube nicht, daß Herr Staatssekretär Waffenschmidt zu einem kommunalpolitischen Abstinenzler wird, nur weil er jetzt in der Bundesregierung für Kommunalpolitik zuständig ist.Meine Damen und Herren, Kommunalpolitik ist die Wurzel demokratischen Zusammenlebens. Sie berührt den Bürger in seinen Lebensbereichen unmittelbar und einschneidender als Maßnahmen auf den übrigen Ebenen staatlichen Handelns. Ich ergänze: Praktizierte und erfahrene Demokratie in der Gemeinde ist Voraussetzung für das Funktionieren gesamtstaatlicher Demokratie. Wir müssen uns dessen bewußt werden, daß die gemeindliche Selbstverwaltung die wesentliche Grundlage der Demokratie bildet. Jeder Politikbereich, jede politische Ebene — auch Bonn — müssen darauf Bedacht nehmen, daß die gemeindliche Selbstverwaltung gestärkt und daß sie nicht durch gesetzliche Maßnahmen oder gar Verwaltungshandeln eingeengt wird.
Wenn die Bundesregierung in ihrer Antwort anführt, daß sie im Rahmen der kritischen Prüfung von Gesetzesvorhaben jeweils auch überlegt, welche Auswirkungen ein beabsichtigtes Gesetz auf die Gemeinden hat, und wenn dargelegt wird, daß die kommunalen Spitzenverbände zu jeder Gesetzgebung, die Auswirkungen auf die Gemeinden haben kann, gehört werden sollen, so ist dies ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der gemeindlichen Selbstverwaltung. Wir Liberalen wollen, daß die Gemeinden und Gemeindeverbände von staatlicher Gängelung und Bevormundung frei sind, um ihren Bürgern gute und wichtige Leistungen, z. B. im Bildungs-, Kultur-, Sozial- und Sportbereich, anbieten zu können. Dabei müssen die Kommunen über einen autonomen Handlungs- und Entscheidungsspielraum verfügen können. Dazu ist auch notwendig, daß die Gemeinden über eine sichere finanzielle Grundlage verfügen.Die Ausführungen in den beiden Regierungsantworten zeigen, daß es in den 80er Jahren gelungen ist, die Schere in der Finanzentwicklung bei den verschiedenen Gebietskörperschaftsebenen zu schließen. Und dies war eben nicht nur ein Ergebnis der guten konjunkturellen Entwicklung, sondern dies hat mehr, tiefere und andere Ursachen. Die Schere der Finanzentwicklung, die früher zu Lasten der Gemeinden geöffnet worden war, konnte geschlossen werden. Hatten die Gemeinden noch in den 60er Jahren einen überdurchschnittlichen Zuwachs an Ausgaben, denen ein unterdurchschnittlicher Zuwachs an Einnahmen gegenüberstand — jeweils verglichen mit Bund und Ländern — , so hat sich dieses Verhältnis in den letzten sechs Jahren umgekehrt. Seit 1982 haben sich die Kommunalfinanzen positiv entwickelt. Das gilt es nun mal festzuhalten.Auch die im letzten Jahr verabschiedete Steuerreform bringt den Kommunen keinen Nachteil. Im Gegenteil, auf mittlere Sicht wird die Finanzkraft der Gemeinden weiter gestärkt, abgesehen davon, daß die positive Wirtschaftsentwicklung, die durch die Steuerreform eine weitere Unterstützung zur dauerhaften Stabilität bekommen soll und wird, auch den Stadtkämmerern zugute kommen wird.Meine Damen und Herren, aus den Antworten der Bundesregierung und den ihnen beigefügten Zahlenmaterialien ergibt sich, daß niemand berechtigten Anlaß hat, dieser Koalition oder dieser Bundesregierung vorzuwerfen, den finanziellen und politischen Notwendigkeiten der Kommunalpolitik nicht gerecht zu werden. Auch die Versuche der Opposition — und in der Rede des Kollegen Bernrath klang das heute wieder an — , die Erfolge der Steuerreform in Zweifel zu ziehen, die Kommunen zu verängstigen, daß sie aus der Steuerreform nur oder vorübergehend Nachteile hätten, gehen fehl. So wie sich die Kritiker auch am Anfang dieses Jahrzehnts geirrt hatten, als sie für die kommunale Selbstverwaltung und deren Finanzen schwarz sahen, wird es auch denjenigen Zweiflern ergehen, die die Vorteile der Steuerreform negieren und deswegen nur Nachteile sehen, anstatt Zahlen und Realitäten nüchtern zu analysieren und den daraus begründbaren Optimismus auch zu dokumentieren.Für diese Politik brauchen wir aber — und dieses sage ich mit Nachdruck für die FDP — kein Festschreiben der Gewerbesteuer. Im Gegenteil, die politischen Realitäten in der Bundesrepublik und in Europa, die finanzpolitische Vernunft und ebenso die strukturpolitische Verantwortung lassen für den Liberalen keinen Weg erkennen, der diesem Steuersystem langfristige Lebensfähigeit gibt.
— Geschlossener Beifall meiner Fraktion.Wir wollen diese Steuer ersetzen. Wir verschweigen nicht, daß sich die Koalition noch nicht auf ein Ersatzsystem geeinigt hat. Aber zwei Aussagen bleiben dazu bestehen:Erstens. Das Gewerbesteuersystem hat keine Lebensfähigkeit. Es muß deswegen ersetzt werden.Zweitens. Wir Freien Demokraten treten dafür ein, daß bei der Ersetzung der Gewerbesteuer durch ein neues System den Kommunen weder ein finanzielles Sonderopfer auferlegt wird noch das Selbstverwaltungsrecht auf Steuersatzfestsetzung eingeengt oder gar abgeschafft wird.
Metadaten/Kopzeile:
8914 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
LüderWir brauchen ein Gemeindefinanzsystem, das die Schwächen und Nachteile der Gewerbesteuer vermeidet. Es kann doch niemand übersehen, daß es keine noch so weit hergeholte legitime Argumentationskette dafür gibt, daß die Berechtigung des Unterschiedes der Gewerbesteuer etwa zwischen Sindelfingen und Oberhausen erklären könnte.
— Das liegt auch an dem Steuersystem. Wir können doch nicht nur sagen, daß Sindelfingen pro Kopf der Bevölkerung zehnmal soviel Gewerbesteuereinkommen hat wie Oberhausen. Dies ist doch sozialpolitisch, finanzpolitisch, strukturpolitisch nicht gerecht. Dies müssen wir berücksichtigen, wenn wir ein neues System suchen. Das ist meine Aussage dazu.
Unsere Gewerbesteuer ist wirtschafts- und finanzpolitisch unvernünftig. Sie ist auch kommunalpolitisch nicht zu rechtfertigen. Wir müssen an einem Steuersystem arbeiten — so schwierig das ist —, das den Gemeinden Entscheidungsspielräume über das Hebesatzrecht gibt und die steuerliche Gerechtigkeit wahrt.Ich bin zuversichtlich, daß die Bemühungen der Experten hier insbesondere unter dem Druck der Notwendigkeit der Ersetzung des Gewerbesteuersystems wegen Europa Erfolg haben werden.Wir treten für wirtschaftliche und finanzpolitische Vernunft im Bund und in den Ländern ein — und gleichermaßen auch in den Kommunen. Deswegen sind wir z. B. auch dafür, daß kommunale Unternehmungen privatisiert werden, wo immer dies für den Bürger eine qualitativ bessere und kostengünstigere Versorgung oder Bedienung erwarten läßt als durch oft allzu bürokratisierte Kommunalbetriebe. Wir wissen, daß nicht jeder kommunale Bereich dazu geeignet ist, daß nicht nur optimaler Verbraucherservice kommunalpolitisches Kriterium sein darf, sondern auf manchen Feldern auch gute kommunalpolitische Belange der Daseinsvorsorge, wie man das früher altmodisch, aber zutreffend nannte, einer Privatisierung entgegenstehen können. Es kann auch andere Gründe geben, die gegen eine Privatisierung sprechen. So hielte ich es für falsch, wenn einzelne finanziell ergiebige Zweige der öffentlichen Tätigkeit der Gemeinde privatisiert würden und die kostenträchtigen Zweige desselben Geschäftsbereichs auf Steuerzahlerkosten bei der Gemeinde verblieben.
Es geht nicht an, daß kostenträchtige Sozialtätigkeiten z. B. auf freigemeinnützige übertragen werden, während einnahmewirksame Bereiche an gewinnorientierte Organisationen gegeben würden.
Es darf kein Dogma sein, nach dem möglichst vielmöglichst schnell privatisiert wird. Die Belange derGemeinde und die Interessen der Verbraucher, derBürger, müssen im Einzelfall verantwortlich gegeneinander abgewogen werden. Es darf kein Aschenputtel-Prinzip der Privatisierung geben. Das geht nur im Märchen gut.
— Der weiß das, der kennt diese Passage. Er ist auch mit ihr einverstanden.
Die Privatisierungspolitik der Gemeinden hat, wie sich aus den Antworten ergibt, in den letzten Jahren begrüßenswerte Fortschritte gemacht. Mit Nachdruck unterstreichen wir dann den Grundsatz der Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Frage 8, daß die Veräußerung kommunalen Vermögens nicht der Finanzierung von laufenden Haushaltsdefiziten dienen soll. Das wäre kurzsichtig und finanzpolitisch nicht zu verantworten.Meine Damen und Herren, ich weiß, daß wir über die finanzielle Entwicklung der Kommunen nicht sprechen können, ohne das Stichwort „Sozialhilfe" anzusprechen. Die Zahlen zur Sozialhilfe umschreiben — in ihrer Bedeutung weit über die Kommunalpolitik hinausgehend — ein großes Sorgenfeld der Politik. Die Zahlen sagen aus: Mehr als 2 Millionen Bürger beziehen Sozialhilfeleistungen. Ein Drittel von ihnen ist Sozialhilfeempfänger geworden, weil diese Mitbürger zu lange arbeitslos waren, um noch Arbeitslosenunterstützung oder Arbeitslosenhilfe zu erhalten. Wir sollten uns der menschlichen Schicksale, die hinter diesen Zahlen stehen, bewußt bleiben.Aber auch das andere muß erwähnt werden: Nach diesen Zahlen sind zwei Drittel derer, die Sozialhilfeleistungen beziehen, aus anderen Gründen verpflichtet, Hilfe zum Lebensunterhalt von der Kommune zu erbitten oder — um es in der Sprache unseres Sozialstaates zu sagen — ihren Anspruch darauf geltend zu machen. Auch die Schicksale, die hier dahinterstehen, verlangen unsere mitmenschliche Aufmerksamkeit.Nach unserem Finanzverfassungssystem fallen die dadurch entstehenden Kosten den Gemeinden zur Last. Wir begrüßen es daher, daß durch Verbesserungen bei der ambulanten häuslichen Pflege im Rahmen der Strukturreform des Gesundheitswesens wenigstens einiges an Einsparungen an Sozialhilfe kommen wird. Für grundsätzliche Änderungen der Sozialhilfefinanzierung im Arbeitslosenversicherungssystem sehe ich hingegen keine Spielräume. Die Ausführungen der Bundesregierung dazu sind überzeugend.Meine Damen und Herren, seit die Fraktionen vor fast einem Jahr die Großen Anfragen eingebracht haben, ist ein neues, breites Feld von Aufgaben und Ausgaben auf die Gemeinden dadurch zugekommen — der Herr Minister hat davon schon gesprochen —, daß die Zahl der Aussiedler im vergangenen Jahr in einem Maße angestiegen ist, wie vor Jahresfrist wohl niemand erwartet hatte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8915
LüderDas Sonderprogramm der Bundesregierung hilft dabei auch den Kommunen.
Wir werden die Entwicklung in diesem Jahr 1989 aufmerksam verfolgen und, wie vom Bundeskanzler bereits angekündigt, auch finanzielle Konsequenzen ziehen müssen, wenn sich aus den Zahlen dieser Monate eine Notwendigkeit dazu ergibt. Wogegen ich mich allerdings wehre, ist, daß wir schon am 26. Januar wissen wollen, wie die Zahlen am Jahresende aussehen. Wenn wir im März letzten Jahres die Entwicklung bis zum Ende des Jahres noch nicht voraussehen konnten, so sollten wir heute nicht festschreiben wollen, was bis zum Jahresende passieren kann.
Ich bin voll einverstanden mit dem, was der Bundeskanzler gesagt hat: daß wir finanziell auf das reagieren, was an zahlenmäßiger Entwicklung kommt. Die Bundesregierung hat im letzten Jahr gezeigt, daß sie dem im Bereich der Aussiedlerpolitik auch uneingeschränkt nachgekommen ist, so schwer das dem Finanzminister gefallen sein mag.
Meine Damen und Herren, aber auch die Belastungen, die auf Gemeinden und Staat durch die Aussiedler zukommen, dürfen uns nicht davon abbringen, zu bekräftigen und auch hier zu wiederholen, daß jeder Aussiedler, der auf Grund eigener Willensentscheidung seinen Weg in die Bundesrepublik genommen hat, auch in der Gemeinde willkommen sein muß, in der er seinen Wohnsitz zu nehmen wünscht. Das ist ein Ausdruck seines Grundrechts und nicht ein Ansatzpunkt für finanz- oder kommunalpolitische Manövriermasse.Kommunalpolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Man kann aus ihr viel lernen. Wenn man z. B. die Ausführungen der Bundesregierung zur Wohnungssituation in den Kommunen ansieht und den Mangel an Zahlenmaterial zur Kenntnis nimmt, so kann man sich dies nur so erklären, daß die Ergebnisse der Volkszählung im Herbst letzten Jahres, als die Antwort verfaßt wurde, noch nicht vorlagen. Zur Wohnungsversorgung in unserem Land, zu den Defiziten des Wohnungsbestandes gegenüber den bisherigen Prognosen sprechen die Volkszählungsergebnisse eine deutliche Sprache. Ich glaube, hier sehen wir auch, wie wichtig die Volkszählung gerade für die Kommunalpolitik und die kommunalpolitischen Versorgungskennziffern war.
— Dies wußten wir vorher nicht.
Nach den Ergebnissen der Volkszählung werden nun Kommunen, Länder und Bund gerade auf dem Gebiet der Wohnungspolitik neu nachdenken müssen. Da hilft uns allerdings kein Wiederaufleben veralteter sozialer Wohnungsbauprogramme. Hier mußnachgedacht werden, wie Wohnraumversorgung in unserem marktwirtschaftlichen System konkret und optimal bewerkstelligt werden kann. Wir sollten auch ehrliche Antworten auf die Frage finden, ob Wohnungsbau in den Gemeinden wirklich vorrangig Wohnungsbau der Gemeinden sein soll. Gerade das kommunale Prinzip des Bürgerengagements verträgt sich eigentlich nicht mit der Verteilung der Neubaulast auf den Staat, die Stadt oder die städtische Gesellschaft.Zur Begründung der Großen Anfrage haben wir im letzten Jahr u. a. gesagt, daß die Gemeinden das Rückgrat der Demokratie seien. Dieser Ausdruck war bewußt gewählt. Kommunen sind ein notwendiges und tragendes Element des Staates. Sie leben von der Mitwirkung der Bürger in den Gemeinderäten und Stadtparlamenten, sie leben von der ehrenamtlichen Mitarbeit der Bürger in Deputationen und Ausschüssen. Ohne das ehrenamtliche Engagement der Bürger würden Gemeinden nicht lebensfähig sein, so wie es die sozialen Dienste nicht wären, wenn sich nicht rund eineinhalb Millionen Menschen dafür engagieren würden. Ihnen allen gebührt unser Dank.
Wir sollen und müssen aber auch darüber nachdenken, wie wir die Beteiligung der Bürger an den Entscheidungsprozessen verbessern können. Wir Freien Demokraten setzen uns dazu dafür ein, daß in den Gemeinden mehr Bürgerversammlungen zur Erörterung gemeindlicher Angelegenheiten durchgeführt werden, daß das Instrument des Bürgerbegehrens eingeführt wird, durch das ein bestimmtes Quorum der wahlberechtigten Bevölkerung verlangen kann, bestimmte Punkte auf eine Tagesordnung des Gemeinderats zu setzen. Wir setzen uns dafür ein, daß der fachkundige Bürger sich an der gemeindlichen Ausschußarbeit beteiligen kann.Wir haben in dem kommunalpolitischen Programm der FDP auch angeregt — ich wiederhole dieses hier — , daß gerade die Gemeinde der Ort ist, unsere ausländischen Mitbürger zu stärkerer politischer Mitwirkung zu motivieren, sei es durch gewählte Ausländerbeiräte, denen ein Anhörungsrecht im Rat der Gemeinde eingeräumt werden soll, sei es dadurch, daß ihnen die Möglichkeit der Mitwirkung als sachkundige Einwohner in den Ausschüssen des Rates eröffnet wird. Jenseits der Streitfrage der Einführung eines kommunalen Wahlrechts wären dies praktische und sicher unumstritten verfassungskonforme Möglichkeiten der Ausländerintegration und der Ausländerbeteiligung.Lassen Sie mich ein Wort zum kommunalen Wahlrecht für Ausländer sagen. Sie wissen, ich vertrete insofern eine Minderheitenposition in meiner Partei. Die FDP lehnt das kommunale Wahlrecht für Ausländer mehrheitlich ab. Aber wir wollen nicht, daß es einfach kraft Verfassungsbekenntnisses abgelehnt wird. Ich ermuntere die Bundesregierung, zu hören, was das Bundesverfassungsgericht zum Hamburger Fall sagen wird. Dann haben wir verfassungsrechtliche Klarheit. Auf dem dann geschaffenen verfas-
Metadaten/Kopzeile:
8916 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Lüdersungsrechtlichen Boden sollten wir verfassungsrechtlich neu nachdenken.
Vielleicht führt der Weg über Europa, vielleicht auch nicht. Aber dann haben wir Klarheit darüber, was politisch geht und was nicht. Der Weg über die EG-Kommunalpolitik und das EG-Kommunalrecht sollte weiter beschritten werden, wie es hier von Minister Zimmermann signalisiert wurde. Ich will ihn allerdings nicht überinterpretieren.
Ich meine, die kommunale Ebene ist die, wo man das Verhältnis zum ausländischen Mitbürger deutlicher praktizieren kann und das Nachbarschaftsverhältnis und die Nachbarschaftsbindung stärker werden als die Trennung durch den Staatsbürgerschaftsstempel im Personalausweis.Wir sollten uns bewußt bleiben, daß die Gemeinden gerade durch ihre zahlreichen Städtepartnerschaften mit ausländischen Kommunen in den letzten 40 Jahren beispielhaft und erfolgreich zur Aussöhnung zwischen Deutschland und Israel, zwischen Deutschland und Frankreich, zum Verständnis unserer europäischen Nachbarn und zur Öffnung des politischen Bewußtseins der Bürger über die nationalen Grenzen hinweg beigetragen haben. Auch hier zeigt sich wieder, daß Kommunalpolitik mehr ist als nur „sich um den Kindergarten kümmern" , mehr ist als die Festlegung des Ampelstandorts an der Straßenecke. Kommunalpolitik ist die Schule der Politik für die Mitarbeit der Bürger am politischen Geschehen. So sagt es die Bundesregierung in ihrer Anwort. Sie verzichtet dabei bewußt darauf, die Schule auch noch in Fachbereiche oder Klassen einzuteilen. Sie tut gut daran, denn Kommunalpolitik bildet umfassend, und Kommunalpolitik bildet jeden, unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Wir sollten dies als Chance begreifen.Danke.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hüser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beiden Großen Anfragen bieten Gelegenheit, einige grundlegende Gedanken zu dem Thema „Die Kommune in unserem Staatsgefüge" anzubringen. Für die GRÜNEN als basisorientierte Partei ist die kommunale Selbstverwaltung nicht nur ein Zitat aus Art. 28 des Grundgesetzes, sondern eigentlich unser ureigenes Prinzip. In Verbindung mit der Überzeugung, daß gerade Dezentralisierung von politischer und auch wirtschaftlicher Macht ein unverzichtbarer Bestandteil demokratischer Gesellschaftsformen ist, leiten die GRÜNEN daraus die Forderung ab, die Kommunen als gleichwertige staatsorganisatorische Ebene neben dem Bund und den Ländern zu behandeln und auch auszustatten.Zudem ist die Kommune jener Ort, wo Bürgerinnen und Bürger in unmittelbarster Betroffenheit die Ergebnisse politischen Handelns erleben und wo ihre Chance, durch eigenes Engagement auf die Gestaltung ihres Lebensraumes Einfluß zu nehmen, besonders sichtbar und vielleicht auch besonders reizvoll ist. Nicht ohne Grund hat sich die weitaus größte Zahl von Bürgerinitiativen, die sich u. a. für den Erhalt unserer Umwelt einsetzen, auf lokaler Ebene gebildet, wo uns die Zerstörung und die Belastung von Natur und Umwelt oftmals besonders drastisch vor Augen geführt werden.In diesem Sinne ist es unverständlich und manchmal auch unerträglich, daß die Grundsätze der kommunalen Selbstverwaltung durch eine Vielzahl gegenläufiger Maßnahmen immer mehr ausgehöhlt werden. Dies geschieht durch den engen rechtlichen Handlungsrahmen der Kommunen, wie er sich z. B. in dem aktuellen Streit um die Zuständigkeit für kommunale Einwegverpackungssteuern — eine Initiative, die von den GRÜNEN in Bayern ergriffen worden ist — zeigt. Es geschieht auch durch die oft äußerst detaillierten Landesplanungs- und -entwicklungsvorhaben, die die Kommunen zu Ausführungsorganen degradieren. Der Bund delegiert arbeits- und auch kostenaufwendige Aufgaben; als zwei Beispiele nenne ich die Sozialhilfeleistungen und die Volkszählung. Die kommunale Selbstverwaltung wird schließlich oft durch die Kommunalaufsicht eingeschränkt, die sich bei weitem nicht immer nur auf die Prüfung der Rechtmäßigkeit kommunaler Handlungen konzentriert.Einfluß nimmt auch — dieses Thema ist vorhin schon angeklungen — die EG. Das wird im Rahmen des EG-Binnenmarktes noch weiter zunehmen. Die EG mindert nicht nur die Gestaltungsfreiheit des Bundes und der Länder, sondern auch sehr stark die der Kommunen. Zudem hat die Wirtschaftskraft großer Unternehmen, die allzuoft Flächennutzungspläne und Verkehrsplanung, zum Teil sogar Haushaltspläne und Gewerbesteuersätze bestimmen, oft faktisch mehr Einfluß als die Stadt-, Kreis- und Gemeinderäte. Einschränkungen finden natürlich auch statt, indem der Bund und das Land durch Zweckzuweisungen den Kommunen vorschreiben, für was sie Geld bekommen und für welche Projekte nicht. Überhaupt sollte der Finanzautonomie, die unseres Erachtens fortlaufend ausgetrocknet wird, die aber unverzichtbare und wichtigste Voraussetzung der Wahrnehmung der kommunalen Selbstverwaltung ist, im Rahmen einer kommunalfreundlichen Politik ganz besonderes Augenmerk gewidmet werden.Es fehlt nicht nur an ausreichend hohen Finanzmitteln; es fehlt für die Kommunen auch der Freiraum, die Finanzlage aus eigener Kraft zu bestimmen und zu verbessern. Die Situation der Gemeinden ist durch eine Zwangslage gekennzeichnet: Durch die Gesetzgebungskompetenz von Bund und Ländern können einerseits Aufgaben und Ausgaben nach unten verlagert werden; andererseits wird auch die Einnahmesituation ohne den Einfluß der Kommunen verändert. Beides geschieht allzu häufig und wird gerade in letzter Zeit von dieser Bundesregierung oft durchgeführt.Aus diesen grundsätzlichen Überlegungen ergeben sich für die GRÜNEN vor allem folgende Handlungs-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8917
Hüserschritte: Wir erheben Anspruch auf maximale Kompetenzen und Handlungsfreiheit der Kommunen in allen Fragen, in denen die Belange der örtlichen Gesellschaft und ihrer einzelnen Bürgerinnen und Bürger betroffen sind. Dies schließt die Forderung nach atomwaffenfreien und tiefflugfreien Kommunen ebenso ein wie den Verzicht auf kommunale Finanzgeschäfte mit Kreditinstituten, die das Rassistenregime in Südafrika finanzpolitisch unterstützen.
Wir fordern für die kommunale Ebene, wo sich die Betroffenheit und das Engagement der Bürgerinnen und Bürger am unmittelbarsten und deutlichsten äußern können, die weitestgehende Verwirklichung demokratischer Grundsätze hinsichtlich der Öffentlichkeit, Durchschaubarkeit und Kontrollierbarkeit kommunaler Handlungen und hinsichtlich des Umfangs und der Wirkungsweise von Bürgermitwirkungsrechten.Besonders zu nennen ist hier die umfassende Einführung des kommunalen Wahlrechts für ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Hier reicht es nicht aus, formal auf die Verfassung zu pochen, sondern wichtig ist hier, ob man es will oder ob man es nicht will.
— Eben. Gerade um diese Antwort, Herr Zimmermann, haben Sie sich vorhin gedrückt.Gerade zum Bereich Finanzen muß man sagen, daß die Bundesregierung die Steuergeschenke im Rahmen der Steuerreform 1990 fast allein auf Kosten von Ländern und Gemeinden gemacht hat. Wenn wir die Steuerreform zusammen mit den Verbrauchsteuererhöhungen betrachten, dann sehen wir, daß der Bund von dem Nettosteuerausfall nur 9 To trägt; die restlichen 91 % gehen zu Lasten von Ländern und Kommunen.Besonders hart von dem Steuerausfall sind die Gemeinden betroffen, die auf Grund ihrer wirtschaftlichen und auch strukturellen Situation überproportionale Sozialhilfeausgaben haben. Auf den stetig steigenden Sozialhilfekosten läßt der Bund diese Kommunen sitzen; er lehnt auch hierfür jede Verantwortung ab.Die Kommunen geraten somit in einen Strudel von sinkenden Steuereinnahmen und steigenden Sozialhilfeaufwendungen. Die Folgen daraus sind sehr leicht nachvollziehbar: weiterer Personalabbau, weitere Kürzungen der freiwilligen Leistungen, Schließung von Einrichtungen, noch stärker wachsende Verschuldung, Rückgang von Investitionen. Hier dürften in der Regel wichtige Zukunftsinvestitionen betroffen sein. Ich nenne umweltfreundliche Energieversorgung, Abfallwirtschaft, den öffentlichen Personennahverkehr, ökologische Stadterneuerung sowie Sanierung von Altlasten. Auch der gesamte Sozialbereich ist von diesen Sparmaßnahmen betroffen.Aber damit nicht genug. Durch die Streichung des Investitionszulagengesetzes werden die kommunalen Investitionsmöglichkeiten noch weiter erschwert. Der Wohnungsnot von wirtschaftlich schwachen, jungen, kinderreichen Familien, von Flüchtlingen und Aussiedlern begegnet diese Bundesregierung dadurch, daß sie sich aus dem sozialen Wohnungsbau zurückzieht und die Folgen den Kommunen und den anderen Betroffenen überläßt.Durch die 9. Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz, die Sparnovelle, wird vielen Initiativen, die gerade im Sozial-, Arbeits- und Umweltbereich tätig sind, die versucht haben, die Lücken zu stopfen, die durch die Sparmaßnahmen der Gemeinden entstanden sind, die finanzielle Grundlage zerstört. Hier sind auch wieder die betroffen, die von dieser Regierung in der Regel sowieso nichts zu erwarten haben. Wirkliche Autonomie ist nur bei ausreichender finanzieller Ausstattung möglich. Die Bundesregierung konterkariert in salbungsvollen Sprüchen, wenn man die Antworten auf die Großen Anfragen nachliest, mit ihrem täglichen Handeln diesen Anspruch, den die Kommunen haben.In diesem Zusammenhang — das Thema ist ja vorhin von der FDP angesprochen worden — muß man natürlich auch über die Gewerbesteuer reden. Aus den Antworten der Bundesregierung zu den Großen Anfragen, zumindest aber in ihren Sonntagsreden ist deutlich geworden, daß sie davon ausgeht, daß die Gewerbesteuer so lange bleibt, bis eine von allen getragene Ersatzlösung gefunden wird. Im Alltag wird allerdings der Boden für eine Änderung der Unternehmensbesteuerung vorbereitet, inklusive der Abschaffung der Gewerbesteuer, mit dem Ziel, eine erhebliche Entlastung der Unternehmer zu erreichen. Dies bedeutet natürlich Steuerausfälle, insbesondere für die Gemeinden. Protagonist für diese Vorgehensweise ist Wirtschaftsminister Haussmann, was er vor kurzem noch einmal in aller Deutlichkeit bewiesen hat. Ich glaube, an Dickfelligkeit, Instinktlosigkeit und auch sozialer Kälte sind seine Vorstöße eigentlich kaum noch zu überbieten.
— Er ist mit Sicherheit mit einzubeziehen.Die Druckerschwärze der Meldungen des Statistischen Bundesamtes über — wie schon seit Jahren — zweistellige Unternehmensgewinnraten und über das gleichzeitige Absinken der Lohnquote auf den tiefsten Stand seit den 60er Jahren war noch frisch, als Herr Haussmann in aller Deutlichkeit gezeigt hat, was diese Bundesregierung beabsichtigt: Abschaffung der Gewerbesteuer, Senkung der Unternehmenssteuern auf der einen Seite und Sozialabbau, erhöhte Staatsverschuldung und Steigerung von Mehrwert- und Verbrauchsteuern auf der anderen Seite. Dies war deutlich in der Presse nachzulesen.Diese Politik trägt die Handschrift einer untragbaren ideologischen Einseitigkeit, die sich durch alle Reformwerke der Bundesregierung — seien es Steuerreform, Gesundheitsreform, Rentenreform oder auch Unternehmensteuerreform — hindurchzieht. Die Schar der durch diese Politik Benachteiligten und auch derjenigen, die die Folgen an ihrem eigenen Leibe verspüren, wird immer größer werden. Wir sind sicher, daß die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien bei den nächsten Wahlen die Quittung dafür bekommen werden.
Metadaten/Kopzeile:
8918 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
HüserGerade die Benachteiligten in unserer Gesellschaft sind auf ein gut funktionierendes Gemeinwesen angewiesen, welches gerade auch die freiwilligen Aufgaben erfüllen kann. Hierfür ist eine ausreichende finanzielle Ausstattung der Gemeinden zwingende Voraussetzung.Verbal bekennt sich die Regierung zu diesem Handlungsspielraum der Gemeinden und auch zur finanziellen Verantwortung. Die Realität sieht allerdings anders aus. Wenn wir uns vorstellen, daß die Gemeinden z. B. — das ist keine abwegige Idee — die Hebesätze für die Gewerbesteuer anheben, um u. a. die Ausfälle durch die Steuerreform zu kompensieren, weil sie im Gegensatz zur Bundesregierung dringend notwendige Aufgaben — ich nenne als Beispiele Kinderhortplätze oder Beschäftigungs-, Sozial- und andere Initiativen — sehen, dann hat dies natürlich eine Belastung der Gewerbesteuerzahler zur Folge. Dies ist dann jedoch nicht im Sinne der Bundesregierung. Wie man aus den Antworten zu den Großen Anfragen herauslesen kann, würde in diesem Fall die Regierung entsprechende Maßnahmen ergreifen, um das wieder rückgängig zu machen.Der Bund hat immer wieder seine Gesetzgebungskompetenz dafür eingesetzt, seine wirtschaftspolitischen Ziele durchzusetzen, indem er z. B. durch die Anhebung von Freibeträgen und auch durch sonstige Schmälerungen der Besteuerungsgrundlage die Unternehmen von entsprechenden Abgaben entlastet. In diesem Zusammenhang ist das Hebesatzrecht der Gemeinden im Zweifelsfall überhaupt nichts wert, wenn der Bund jede Besteuerungsgrundlage wegdefiniert, wie dies bei einer Kommune mit zwar vielen, aber eben kleinen Gewerbebetrieben heute schon der Fall ist. Wie wir wahrscheinlich alle wissen, zahlt zur Zeit nur noch ein Drittel der Betriebe Gewerbesteuern. Somit ist diese Steuer mittlerweile zu einer speziellen Steuer für ertragsstarke größere Betriebe geworden, was zwar finanzpolitisch und wirtschaftspolitisch begrüßenswert ist
— ja —, wodurch in den meisten Gemeinden allerdings eine finanzielle Abhängigkeit von diesen Großunternehmen entstanden ist. Dies hat gleichzeitig zur völligen Erpreßbarkeit der Gemeinden geführt und den Effekt erzielt, daß die Gemeinden hauptsächlich an der Ansiedlung von Großunternehmen interessiert sind und dafür einerseits Vorleistungen erbringen, die ihre Haushalte auf Jahre hinaus belasten und andere Aufgaben beeinträchtigen, andererseits für diese Ansiedlung sogar Umweltschäden aller Art in Kauf nehmen.Wegen dieser Ankopplung der finanziellen Situation der Gemeinden an die örtliche Wirtschaft und der dadurch hervorgerufenen Konkurrenz und Erpreßbarkeit sehen die GRÜNEN die Gewerbesteuer in der heutigen Form als untragbar an. Alle Vorstöße von seiten der FDP und der Bundesregierung, diese Gewerbesteuer ganz abzuschaffen, sind allerdings ebenfalls kein geeignetes Mittel.Herr Lüder, ich konnte vorhin aus Ihrer Rede heraushören, daß Sie eigentlich für eine Nivellierung der Gewerbesteuer sind. Dann hätten Sie ja unserem Antrag, die Einnahmen der Gemeinden beim Länderfinanzausgleich voll mit anzurechnen, guten Gewissens zustimmen können; das wäre zumindest schon der erste Schritt gewesen, um hier einen gewissen Ausgleich zu schaffen.Insgesamt halten wir es allerdings für notwendig, daß die Finanzautonomie der Gemeinden dadurch gestärkt wird, daß die Gewerbesteuer ausgeweitet wird, d. h. daß der Kreis der Steuerpflichtigen und die Steuerbemessungsgrundlage erweitert werden. Dies hätte dann zur Folge, daß die Zahl derjenigen größer wird, die zur Finanzierung der gemeindlichen Auf gaben beitragen. In diese Richtung gehen nicht nur unsere Absichten, sondern auch die Überlegungen des Deutschen Städtetages und des DGB.Die GRÜNEN werden dies unterstützen und auch weiter verfolgen. Eine Abschaffung der Gewerbesteuer kommt für die GRÜNEN nicht in Frage und wäre sicherlich das Aus für die finanzielle Selbständigkeit der Kommunen.Ich bin sicher, daß wir dieses Thema im Laufe der nächsten Hälfte dieser Legislaturperiode noch öfter in diesem Plenum diskutieren werden. Dann wird die Bundesregierung zeigen müssen, wie ernst sie es mit der finanziellen Selbständigkeit der Kommunen meint.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Austermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt in diesem Hause selten Debatten, die so relativ einmütig verlaufen, was offensichtlich darauf zurückzuführen ist, daß die Lage der Städte und Dörfer in unserem Lande gut ist.
Es gibt ein paar Abweichungen in der Einschätzung. Das eine ist die Frage Ausländerwahlrecht, das andere ist die Frage Gewerbesteuer. Natürlich gibt es auch die grundsätzlich von Pessimismus getragene Aussage der GRÜNEN, die die Gemeindeparlamente nach Möglichkeit zu Schwatzbuden für alle möglichen Themen machen wollen. Aber im Prinzip sind wir uns einig darüber, daß die Lage der Städte und Dörfer in diesem Lande relativ gut ist.Selbst der Kollege Bernrath von der Opposition hat das bestätigt. Er hat wegen der Kollegen in der eigenen Fraktion natürlich pflichtgemäß von Gefahren, Sorgen und Ängsten gesprochen. Aber der Generaltenor war doch Anlaß zur Zuversicht.
— Bei Ängsten ja. Das fiel ihm auch schwer. Das paßt auch nicht zu seiner Grundeinstellung, die ich ihm gerne attestieren will.Es fällt auch schwer, eine andere Haltung einzunehmen, wenn man die Situation tatsächlich an Hand der Investitionen und der Leistungsfähigkeit der Städte und Dörfer mißt. Etwa zwei Drittel der öffentlichen Investitionen von 50 Milliarden DM tragen allein die Städte. Im Vergleich zu den Gesamtanlageinvestitio-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8919
Austermannnen in Höhe von 416 Milliarden DM ist das nicht viel. Es darf aber auch nicht unterschätzt werden.Vor allen Dingen ist es so, daß wir heute darüber nachdenken müssen, ob es tatsächlich Aufgaben für neue zentrale Investitionen in den Gemeinden gibt. Ich sage ja, ich sage, der Bedarf ist ungebrochen. Erhaltungsinvestitionen, Stadtsanierung, Dorferneuerung, Wohnumfeldverbesserung, die wichtige Aufgabe, die Gemeinden kinderfreundlicher zu machen angesichts einer Situation, in der wir heute 100 000 mehr Geburten im Jahr haben als etwa vor zehn Jahren, aber auch die Aufgabe, die Dörfer auf dem flachen Lande lebendig zu erhalten, die Städte wieder heimischer zu machen. Hier bleibt ein erhebliches Investitionspotential in den Gemeinden. Die Gemeinden — das können wir heute sagen — sind dazu auch in der Lage, weil das Investitionsverhalten auf Grund der Politik in Bonn mittelfristig verstetigt werden konnte.Es gibt keine Wellenbewegung, Herr Kollege Bernrath, weder konjunkturell noch was die Frage der Einnahmesituation der Gemeinden betrifft. Wir haben dazu durch Unterstützung beigetragen, indem wir das Programm der Kreditanstalt für Wiederaufbau in Höhe von 15 Milliarden DM für kommunale Umweltschutzinvestitionen in den Jahren 1988 bis 1990 gefördert haben, und auch dadurch, daß die gesamtwirtschaftliche Aufwärtsentwicklung durch eine vernünftige Steuer- und Finanzpolitik gestärkt wird.Wenn Sie sich die Entwicklung der gemeindlichen Einnahmen ansehen, werden wir feststellen: Sie sind von 1980 bis 1987/88 von 140 Milliarden DM auf 185 Milliarden DM gewachsen. Die Ausgaben erreichten den gleichen Punkt, allerdings von einem wesentlich höheren Level aus, d. h. die Einnahmen sind in den letzten sieben Jahren prozentual stärker gestiegen als die Ausgaben. Sie übersteigen inzwischen wieder die Ausgaben. Der Überschuß des Verwaltungshaushaltes stieg von 17 auf 18 Milliarden DM.Aus einem zweistelligen Finanzierungsdefizit 1981 — einem zweistelligen! — wurde 1988 wieder ein Überschuß. Wir können nach der Aussage der kommunalen Spitzenverbände auch davon ausgehen, daß die Einnahmen in diesem Jahr auf etwa 190 Milliarden DM steigen werden.Wie sah es nun mit der Investitionstätigkeit in den letzten acht Jahren aus? Wenn man davon ausgeht, daß wir das abziehen müssen, was durch Pump finanziert worden ist, dann gibt es seit dem Jahre 1983 eine ständig steigende Investitionsquote der Gemeinden. 1981 hatten wir zwar ein höheres Investitionsaufkommen, allerdings war ein Viertel durch Pump finanziert. Das ist jetzt vorbei. Die Gemeinden sind wieder in der Lage, aus eigener Kraft zu investieren. Zu Beginn der 80er Jahre sah das noch wesentlich anders aus.
— Aus eigener Kraft, Frau Kollegin, zu investierenheißt doch wohl, daß sich das die Waage hält, was maneinnimmt und was man ausgibt. Vor diesem Hintergrund gehen wir davon aus, daß wir eine gute Situation haben.
Wir gehen auch davon aus, daß die Politik, die wir machen, ehrlicher und gemeindefreundlicher ist; denn eine Politik mit hohen Schulden, die später hohe Zinsen und eine hohe Arbeitslosigkeit zu verantworten hat, ist doch sicher unehrlicher und gemeindeunfreundlicher als eine sparsame, zügige Aufwärtsentwicklung der kommunalen Investitionen. Ich glaube auch, daß wir die Gemeinden durch das Strukturhilfegesetz stärken, insbesondere die strukturschwachen Gebiete.Man muß allerdings zugeben, daß es Unterschiede in den einzelnen Gemeinden je nach kommunaler Finanzlage, aber auch kommunaler Finanzausstattung durch die Länder gibt. Wie gut es die einzelnen Länder mit den Städten und Dörfern meinen, können Sie auch an Hand der Verschuldung der jeweiligen Kommunen erkennen. Nehmen wir einmal das Land Schleswig-Holstein: Dort ist die Regierung zur Zeit ja besonders aktiv dabei zu kritisieren, was sie vorgefunden hat. Ich kann nur sagen: Es gibt kein einziges Land, in dem die Gemeinden im Schnitt so gering verschuldet sind wie in Schleswig-Holstein. Wenn Sie Städte und Staat zusammen nehmen, wird deutlich, daß die Schulden Schleswig-Holsteins unter denen aller Nachbarländer liegen, insbesondere aller SPD-regierten Länder.
— Ich will Ihnen das auch vorrechnen. Kommunalpolitik bewährt sich ja dadurch, daß man an Hand konkreter Zahlen arbeitet. Die Bürger Kiels haben pro Kopf 1 000 DM weniger Schulden als die Bürger Aachens, die Bürger Lübecks 1 000 DM weniger als die Bürger Krefelds, die Bürger Flensburgs ein Drittel der Schulden der Bürger Hanaus usw. Sie können das auch auf andere Gebiete beziehen.Stellen wir dann auch noch die Frage, wie gemeindefreundlich die Landesregierungen in anderen Bereichen sind, was sie tun, um die Strukturhilfe weiterzugeben. Auch hier gibt es zur Zeit im nördlichsten Bundesland Fehlanzeige. Wir fordern, daß die Landesregierungen jeweils das, was über die Strukturhilfe verteilt werden kann, auch an die schwächeren Gemeinden, an die schwächeren Regionen verteilen.Nun ist mit Recht angeführt worden, daß auch die Belastung durch die Sozialhilfe eine starke Rolle in der Situation der Kommunen spielt. Das wird dann im allgemeinen in den Zusammenhang mit der hohen Arbeitslosigkeit gestellt, die ja jetzt Gott sei Dank langsam sinkt. Man muß ehrlicherweise sagen, in diesem Falle spielt nicht allein die Arbeitslosigkeit eine Rolle, sondern auch die Situation der Familien, die höheren Sozialhilfesätze, für die ja die Länder verantwortlich sind, die Kosten der Pflegefälle. Viele andere Faktoren mehr tragen dazu bei. Wir sind dabei, auch dort zu helfen.Ich will etwas zum Arbeitsförderungsgesetz sagen. Nie wurde mehr für Arbeitsförderung, für Qualifizie-
Metadaten/Kopzeile:
8920 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Austermannrung, für Umschulung als in den letzten beiden Jahren ausgegeben. Das ist etwa dreimal soviel wie im Jahre 1982, um diese Zahl zu erwähnen.
Es gibt auch Unterschiede zwischen den einzelnen Gemeinden. Ich darf dies, auf Düsseldorf und Dortmund bezogen, erläutern. Beide Städte sind etwa gleich groß. Die eine Stadt hat das Vierfache an Einnahmen aus der Gewerbesteuer wie die andere. Das kann ja wohl kaum — wie manch ein SPD-Politiker behauptet — Schuld von Bonn sein. Hier ist der Länderfinanzausgleich gefordert, die Unterschiede auszugleichen.Bei allem bleibt festzustellen, daß die Investitionstätigkeit der Gemeinden von Bonn aus unterstützt wird, daß die Gemeinden in der Lage sind, aus eigener Kraft zu investieren, daß die Einnahmen auch weiter steigen, in diesem Jahr voraussichtlich um 3,5 %. Diese Einnahmesteigerung liegt höher als die Ausgabensteigerung von voraussichtlich 3,3 %.Wir nehmen Gemeindepolitik als einen Bestandteil der Gesamtpolitik, als einen Bestandteil der Regierungspolitik und unserer Arbeit in der Mitte der Legislaturperiode. Die Antworten auf die Großen Anfragen zur Situation von Städten, Gemeinden und Kreisen haben eine gute Halbzeitbilanz für die Regierungsarbeit ergeben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Mertens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden waren nie einfach. Es gehört zu den Traditionen unseres föderalistischen Systems, daß die Aufteilung der Steuererträge stets streitig war, daß gefeilscht wurde, ja daß Polemik im Spiel war.Wie sehen die kommunalen Finanzen nun heute, Anfang 1989, aus? Richtig ist, daß die Gemeindekassen heute voller sind als gewohnt. Die Kommunalfinanzen haben sich 1988 erheblich besser entwickelt, als dies zu Beginn des Jahres nach den damaligen Steuerschätzungen erwartet werden konnte. Hauptursache war ein Gewerbesteuerzuwachs, der die ursprünglichen Erwartungen weit übertroffen hat. Grund für diese Entwicklung sind zweistellige Zuwächse bei den Unternehmensgewinnen, begünstigt durch positive Konjunktureinflüsse in Verbindung mit moderaten Lohnabschlüssen im Jahre 1988.Diese aus kommunaler Sicht günstige Entwicklung begrüßen wir. Nur, meine Damen und Herren, es besteht überhaupt kein Anlaß zur Euphorie.
Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, daß die Zuwachsraten bei der Gewerbesteuer in dieser Höhe nicht dauerhaft sein können. Zum anderen überdekken die Globalzahlen, daß die Unterschiede von Kommune zu Kommune nach wie vor groß sind.Die Einnahmeentwicklung hat nichts daran geändert, daß es eine erhebliche regionale Schieflage vor allem zu Lasten der Städte des Ruhrgebiets, aber auch Niedersachsens und des Saarlandes gibt. Trotz der 1988 vielfach auch in strukturschwachen Regionen guten Einnahmeentwicklung sind die Steuerkraftunterschiede zwischen Städten gleicher Größenordnung nach wie vor zu groß. Es gibt zahlreiche Städte, die buchstäblich vor dem finanziellen Aus stehen,
während es anderen erträglich bis gut geht.
Hinzu kommt, daß die Kommunen wesentlich höhere Finanzierungsdefizite aufzuweisen hätten, als dies heute der Fall ist, wenn sie nicht in den letzten Jahren drastische Einsparungen insbesondere bei den Personal- und Investitionsausgaben vorgenommen hätten. Es klingt wie Hohn, wenn die Bundesregierung in ihrer Antwort die herausragende Konsolidierungsleistung der Kommunen auf ihre Fahnen zu schreiben versucht.
Mit intelligenter Finanzpolitik der Bundesregierung hat das herzlich wenig zu tun. Denn fragwürdig bleibt daran, daß die Konsolidierungserfolge häufig auf Kosten der vorhandenen Substanz durch Verzicht auf notwendige Investitionen und durch Abbau kommunaler Leistungen erkauft wurden. Glaubt man der Bundesregierung, dann gehen die Kommunen trotz — oder nach der eigenen Interpretation der Bundesregierung: wegen — der Steuerreform rosigen Zeiten entgegen. Es werden Einnahmen über Einnahmen prognostiziert.Doch, meine Damen und Herren, hier werden die Tatsachen verdreht. Allein die Steuerrechtsänderungen der letzten sechs Jahre haben nach eigenen Angaben der Bundesregierung die Gemeinden Steuerausfälle in Höhe von 6 Milliarden DM gekostet. Hinzu kommen 1990 weitere Steuerausfälle von mindestens 5,5 Milliarden DM jährlich. Während die Gemeinden also ausbluten, erzielt der Bund auf Grund der Verbrauchsteuererhöhungen von rund 10 Milliarden DM sogar einen Überschuß.Staatssekretär Voss hat im vergangenen Jahr öffentlich gesagt, die Kommunen würden bei der Steuerreform fair behandelt. Tatsache aber ist: Der Bund hält sich bei seiner Steuerpolitik schadlos, die Gemeinden geraten durch massive Steuerausfälle in eine schwierige Finanzlage. Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Halten Sie das wirklich für fair?Nein, richtig ist, daß diese ungleiche Lastenverteilung in der Steuerpolitik die Rücksichtslosigkeit der Bundesregierung gegenüber den Kommunalfinanzen beweist.
Die Bundesregierung will uns in ihrer Antwort natürlich weismachen, die Städte hätten keine überproportionalen Steuerausfälle zu erwarten. Die kommenden Jahre werden zum Leidwesen der Kommunen die Bundesregierung vom Gegenteil überzeugen. Der Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel teilt im übrigen diese Auffassung. Er hat, nachzulesen in
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8921
Dr. Mertens
der „Wirtschaftswoche" vom 30. September 1988, gesagt — ich zitiere ihn — :
Die Steuerreform macht die Städte vollends zum Lastesel der Bonner Steuerpolitik.
Dieser Esel kann durchaus zur tragischen Figur werden, wenn er seine Last weder tragen noch abwerfen kann.Dem muß man ja wohl nichts hinzufügen.Hinzu kommt, daß sich am Trend der letzten Jahre leider nichts geändert hat, daß die Belastungen der Kommunalhaushalte im Sozialbereich weiter überdurchschnittlich stark zugenommen haben. Auch hier verschleiern die Durchschnittszahlen, daß die Steigerungsrate bei Städten in strukturschwachen Regionen weitaus höher war. Die Entwicklung im Sozialhilfebereich wird auch weiterhin so bleiben, denn die Bundesregierung ignoriert die dramatisch ansteigenden Sozialhilfeausgaben der Kommunen. Sie hält nämlich ihre Leistungen zur Arbeitslosenversicherung für ausreichend und behauptet in ihrer Antwort — das ist schon geradezu zynisch — , daß Empfänger von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe in der Regel nicht auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen seien.
Vielleicht sollte die Bundesregierung einmal bei den 430 000 Sozialhilfeempfängern nachfragen, die 1987 wegen Arbeitslosigkeit Hilfe zum Lebensunterhalt benötigt haben.
Eine Gemeindefinanzreform muß jedenfalls auf der Ausgabenseite eine Entlastung der Kommunen von den Sozialhilfeausgaben für Dauerarbeitslose, die übrigens fiskalsystematisch auch in die Verantwortung des Bundes gehören,
und eine Entlastung vom Pflegefallrisiko schaffen. Der Bund hat aber dafür gesorgt, daß die Sozialhilfekosten 1989 weiter steigen werden. Die 9. Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz wirkt sich unmittelbar auf den Finanzbedarf der Kommunen aus. Durch die Verkürzung der Anspruchsdauer beim Arbeitslosengeld werden die Arbeitslosen in die Arbeitslosenhilfe abgeschoben. Durch die geringere Arbeitslosenhilfe wird ergänzende Sozialhilfe notwendig.Durch die Verringerung der Höchstfördersätze bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erhöht sich naturgemäß der Finanzierungsbedarf der Kommunen entsprechend.Ein weiterer Anschlag auf die kommunalen Finanzen ist die geplante Änderung der §§ 137 und 152 des Arbeitsförderungsgesetzes. Es geht hier darum, sogenannte fiktive Unterhaltsansprüche bei der Arbeitslosenhilfe anzurechnen. Die kommunalen Sozialhilfeträger sollen wieder mit rund 400 Millionen DM zur Kasse gebeten werden.Wie man zusätzliche Probleme für die Kommunen schaffen kann, beweist u. a. das Volkszählungsgesetz, das die Städte 340 Millionen DM gekostet hat. Ein weiteres Beispiel ist die Ausgabe der neuen Personalausweise. 10 DM hat der Bürger für den neuen Ausweis zu zahlen. Die Städte müssen dagegen das einzelne Ausweisstück für 12 DM bei der Bundesdruckerei kaufen. Mit den allgemeinen Verwaltungskosten kommt allein hier ein beeindruckender ungedeckter Betrag zusammen, ohne daß der Bund für Abhilfe sorgt.
Ein letztes Beispiel ist das geplante neue Jugendhilfegesetz, das jedem Kind einen Kindergartenplatz garantieren soll. Das ist grundsätzlich sehr zu begrüßen, nur geht das ins Geld. Die öffentliche Jugendhilfe kostet heute 10 Milliarden DM jährlich, und nach Inkrafttreten dieses Gesetzes werden es mindestens 1 Milliarde DM mehr sein, die — so die Absicht der Bundesregierung — die Kommunen bezahlen sollen.Dies alles, meine Damen und Herren, mögen steuerstarke Gemeinden noch verkraften können, die Städte im Ruhrgebiet mit Arbeitslosenquoten zwischen 16 und 20 % und großen Strukturproblemen können dies nicht. Hinzu kommt, daß gerade diese Städte einen besonders hohen Investitionsbedarf haben. Als Folge der Krise in der Montanwirtschaft werden in den nächsten Jahren große Probleme auf die Ruhrgebietskommunen zukommen. Die Zeichen stehen auf Sturm, wenn die Befürchtungen bittere Realität werden sollten: Im Ruhrgebiet wird durch den anhaltenden Arbeitsplatzabbau bei Kohle und Stahl mit rund 100 000 zusätzlichen Arbeitslosen gerechnet, wenn es nicht gelingt, anderweitig neue Arbeitsplätze im Revier zu schaffen.Der Strukturwandel kann jedenfalls nur dann gelingen, wenn auch die Städte ihren wichtigen Beitrag zur Erneuerung des Ruhrgebiets leisten. Dazu sind sie aber nur dann in der Lage, wenn sie wieder finanzkräftig werden.
Weiterhin tragen heute die Städte das finanzielle Risiko und die finanzielle Hauptlast bei der Erfassung, bei der Bewertung und bei der Sanierung von Altlasten. Daß hier auch in besonderem Maße die Ruhrgebietsstädte betroffen sind, leuchtet sicher jedem ein. Bei jedem Altlastenskandal tritt die kommunale Ebene immer zunächst und oft auch endgültig für die Beseitigung der Gefahren und der Schäden ein. Die Städte sind damit aber finanziell, technisch und personell hoffnungslos überfordert; sie können die industrielle Vergangenheitsbewältigung nicht im Alleingang schaffen.
Hier ist eine bundeseinheitliche Finanzierung der Altlastenbeseitigung unter Einschluß der Wirtschaft geboten.Ein weiteres Kapitel ist die Erneuerung alter Infrastrukturen, die enorme Investitionssummen erfordern wird. Viele kommunale Kanalisationsnetze sind veraltet, verrottet, stammen aus dem letzten Jahrhundert.
Metadaten/Kopzeile:
8922 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Dr. Mertens
Selbst die vorsichtige Bundesregierung hält hier einen Bedarf von mehr als 50 Milliarden DM für möglich. Fachverbände nennen Zahlen von 100 Milliarden DM und mehr. Dies alles kann nicht allein über kommunale Abgaben finanziert werden. Deshalb ist es auch hier notwendig, daß der Bund die Investitionskraft der Gemeinden stärkt, statt sie ständig zu schwächen.
Schließlich hat die Problematik der Aussiedler und Umsiedler im Ruhrgebiet eine ganz besondere Dimension, wie Sie alle wissen.Diese und viele andere Aufgaben können unsere Städte nur bewältigen, wenn sie wieder über ausreichende Finanzmittel verfügen. Gesunde Kommunen sind das Herzstück unseres demokratisch-repräsentativen Systems. Wer da hineinschneidet, tötet Grundformen unseres Zusammenlebens und zerstört die originären Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger unseres Gemeinwesens. Wir alle gemeinsam sollten uns bemühen, eine solche Entwicklung zu verhindern.Vielen Dank.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister der Finanzen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor wenigen Tagen haben die kommunalen Spitzenverbände in einer veröffentlichten Erklärung ihre Einschätzung zur Situation der kommunalen Finanzen in der Bilanz 1988 und in der Prognose 1989 abgegeben. Nach den extrem pessimistischen, düsteren, gelegentlich auch polemischen Tönen vor einiger Zeit — ich erinnere etwa an die Oberbürgermeister Schmalstieg und Rommel — , war das eine bemerkenswerte Aussage, die ich dem Hohen Haus vortragen möchte. Die Stellungnahme der kommunalen Spitzenverbände beginnt mit dem Satz:Die Kommunalfinanzen haben sich 1988 erheblich besser entwickelt, als dies zu Jahresbeginn nach den damaligen Konjunktur- und Steuerprognosen sowie den ursprünglichen Haushaltsplandaten der Länder und Kommunen für 1988 erwartet werden konnte.Zu der Prognose für 1989 will ich einen zweiten Satz zitieren. Es heißt dort:Von diesem außerordentlich hohen Vorjahresniveau aus lassen die aktuellen Steuerschätzungen und Haushaltsplanungen der Länder und Kommunen für 1989 eine Zunahme der kommunalen Einnahmen um durchschnittlich 3,5 % erwarten. Da für die Ausgaben der Kommunen aus heutiger Sicht eher mit einem noch etwas schwächeren Zuwachs, plus 3,30/e, zu rechnen ist, könnten die kommunalen Einnahmen 1989 insgesamt sogar die Ausgaben geringfügig übertreffen.
In der Tat, das weicht auch von den schrillen Tönen,die wir noch vor kurzem auch aus den Reihen dersozialdemokratischen Partei und Fraktion gehört haben, vollkommen ab.
— Habt ihr noch nie gemacht? Dann müssen wir einmal über den Begriff „schrill" diskutieren.
Für diese Feststellung finden wir in den Protokollen des Deutschen Bundestages eine Fülle von Belegen.
Aber ich will nicht in Semantik gehen.
Ich will nur einmal das Kontrastprogramm eines forcierten Pessimismus und einer Schwarzmalerei aus der schriftlichen Begründung der heute zur Beratung stehenden Großen Anfrage der SPD-Fraktion knapp in Erinnerung rufen. Dort heißt es unter dem 15. Dezember 1987 — ich zitiere —:Insbesondere durch die Auswirkungen der verfehlten Steuerpolitik des Bundes werden viele Städte, Gemeinden und Kreise gezwungen, ihre Investitionsausgaben noch weiter zu reduzieren, ihre freiwilligen Leistungen zu Lasten der sozial Schwächeren zu kürzen und ihre eigenen Steuern, Gebühren und Beiträge zu erhöhen.Meine Damen und Herren, manche haben den ungleich besseren Verlauf, der sich in der Bewertung der kommunalen Spitzenverbände sehr verhalten widerspiegelt, recht spät erkannt. Noch am 25. August vergangenen Jahres hat der Kollege Hans Apel — damals als finanzpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion — hier folgendes behauptet — nur weil die Feststellung von den schrillen Tönen etwas bestritten wurde, zitiere ich es — :Explodierende Sozialhilfeausgaben, Verfall der kommunalen Investitionen,
massive Steuerausfälle und ein Wiederanstieg der Verschuldung sind die Kennzeichen einer besorgniserregenden Entwicklung der Gemeindefinanzen.Wenn Sie das heute durch Zwischenrufe noch unterstreichen wollen, dann unterscheiden Sie sich von der Art — ich empfand es ganz eindrucksvoll — , wie Herr Kollege Bernrath diese Diskussion für Sie eröffnet hat. Da war ja einiges von der viel positiveren Entwicklung zu spüren, als es in solchen — ich sage es noch einmal — meiner Meinung nach schrillen Parolen zum Ausdruck gekommen ist.Nun ist es immer gut, zu ein paar Tatsachen und vor allem Zahlen überzugehen, um die unterschiedlichen Positionen hier zu bewerten. In der Tat, wir haben noch nicht den exakten Jahresabschluß 1988, aber auch nach der Schätzung der kommunalen Spitzenverbände sind ihre Steuereinnahmen im letzten Jahr über alle Erwartungen angestiegen, obwohl wir in diesem Jahr die zweite Stufe der Steuerreform mit einem Entlastungsvolumen von knapp 14 Milliarden DM verwirklicht haben. Als einzige staatliche Ebene schließen die Gemeinden 1988 ohne jedes Finanzie-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8923
Bundesminister Dr. Stoltenbergrungsdefizit, wahrscheinlich mit einem kleinen Überschuß ab, und der Anstieg der Investitionen hat sich fortgesetzt,
trotz des ständig beschworenen angeblichen Verfalls; ich komme auf die Daten noch einmal zurück.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt in der Tat ein paar Zahlen über den Trend hier vortragen. Nach den amtlichen Unterlagen haben wir folgende Entwicklung. Die für die kommunalen Dienstleistungen für die Bürger, die für die Bauwirtschaft und die Investitionstätigkeit des Mittelstandes so bedeutsamen Sachinvestitionen der Kommunen sind 1981 um 3,7 % zurückgegangen, 1982 um 11,5 % dramatisch eingebrochen, 1983 noch um 10,3 %. 1984 — natürlich hat hier die neue Politik der damals neuen Bundesregierung eine Rolle gespielt — hatten wir mit einem Rückgang von nur noch 3,1 % eine gewisse Stabilisierung. Seitdem sind die kommunalen Sachinvestitionen von Jahr zu Jahr angestiegen: 1985 um 5,5 %, 1986 um 7,5 %, 1987 um 1,8 %, 1988 um 3,6 %, davon allein im letzten Jahr die Bauinvestitionen um 6,2 %. Die Kommunen erwarten 1989 einen weiteren Anstieg um 4,1 %. Das ist eine eindrucksvolle Bilanz, die wir mit großer Befriedigung heute in dieser Debatte hier vortragen können.
Interessant ist, daß dieser Wiederanstieg der kommunalen Investitionsentscheidungen und -leistungen seit Mitte der 80er Jahre mit einer eher rückläufigen Verschuldung Hand in Hand ging. In den letzten Regierungsjahren der SPD betrug die kommunale Verschuldung: 1981 10,1 Milliarden DM, 1982 7,3 Milliarden DM. 1983 waren es noch 1,3 Milliarden DM; 1984 ergab sich ein Überschuß von 1,1 Milliarden DM, 1985 von 0,7 Milliarden DM, 1986 ein kleiner Fehlbetrag von 1,6 Milliarden DM, 1987 ein Minus von 2,3 Milliarden DM; 1988 haben wir wahrscheinlich einen erneuten Überschuß der Kommunen; 1989 rechnen Sie selber mit einem — wenn auch geringen — Überschuß im Saldo.Meine Damen und Herren, wer Zahlen noch verstehen kann, wer sie noch zur Kenntnis nehmen will, kann doch nicht bestreiten, daß seit dem Regierungswechsel in Bonn eine erfolgreiche Wirtschafts- und Finanzpolitik, aber auch viele Einzelentscheidungen, die Herr Kollege Zimmermann vorgetragen hat, zu einer deutlichen Besserung der Finanzlage und der Gestaltungsspielräume unserer kommunalen Gebietskörperschaften geführt haben. Das ist die Bilanz.
Daß manche von Ihnen das nicht verstehen wollen, sieht man auch an dem vorliegenden Entschließungsantrag der SPD.
Die Wirklichkeit verdrängen, Propagandaformeln ständig — unbeeindruckt durch Tatsachen — wiederholen und auch ein Stück Polemik, das ist die Art, wie die SPD-Fraktion auch diese Diskussion bestreitet, vorallem wenn wir auf die Vergröberungen in der Debatte vor Ort sehen.Ein entscheidender Teil Ihrer Kritik bezog sich auf die Auswirkungen der Steuerpolitik, der Steuersenkung, der Steuerreform. Es ist schon von Bedeutung für diese Diskussion — auch mit Blick auf das Jahr 1990 —, daß mit den ersten beiden Stufen der Steuerreform 1986 und 1988 bereits mehr als die Hälfte der beschlossenen Steuersenkungen in Kraft getreten ist, ohne daß die kommunale Investitionskraft und die Finanzsituation der Kommunen davon in der befürchteten Form negativ berührt wurden. Für mich ist das eine Art Test gewesen, daß eine Politik der Steuersenkung, des Umbaus unseres Steuersystems, nicht die befürchteten negativen Folgen insbesondere für die Kommunen haben muß; denn die genannten Zahlen zeigen, daß das nicht der Fall war.Das begründet auch, weshalb wir aufmerksam, sorgfältig, aber auch mit einer gewissen Zuversicht dem Jahr 1990 entgegenblicken können, auch in der Wirkung der Steuersenkungen auf die drei Ebenen: Bund, Länder und Kommunen.Meine Damen und Herren, Steuerpolitik verstehen wir als eine Politik für Wachstumsförderung. Steuerpolitik verstehen wir als eine Politik der stärkeren Anerkennung beruflicher Leistung des einzelnen.
Steuerpolitik verstehen wir als eine wichtige Voraussetzung dafür — ich komme nachher bei der Unternehmensteuer noch kurz zu dem Thema — , daß auch private Investitionen stärker anwachsen; denn ohne bessere Rahmenbedingungen für private Investitionen können wir keinen noch stärkeren Anstieg der Beschäftigung und keine noch deutlichere Verringerung der Arbeitslosigkeit erreichen, abgesehen von den internationalen Wettbewerbsproblemen. Hier muß jeder Teil, jeder Bereich, seinen Beitrag leisten.Ich widerspreche der Behauptung — die Zeit erlaubt nicht, die Einzelargumente vorzutragen — , daß wir mit dieser Steuerreform die Kommunen einseitig und unverantwortlich belasten. Die Testzahlen von 1986 und 1988, die ich vorgetragen habe, widerlegen diesen Vorwurf. Ich glaube auch nicht, daß das 1990 gelten wird.
— Herr Rommel gehört nun wirklich zu denen, die sich in diesem Jahr in ungewöhnlicher Weise geirrt haben; ich sage das in aller Höflichkeit gegenüber einem angesehenen Oberbürgermeister. Der Test ist wirklich 1986 und vor allem 1988 gegen seine pessimistischen Vorhersagen positiv verlaufen.Richtig ist, daß die Kommunen 1990 rechnerisch rund 2 Milliarden DM Steuermindereinnahmen haben werden. Auf das Rechnungsjahr berechnet sind es 2,7 Milliarden DM. Aber wenn es gelingt, mit unserer Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik auch in der internationalen Flankierung die für 1989 erkennbare Dynamik unseres volkswirtschaftlichen Wachstums bis 1990 zu erweitern und vor allem die Binnennachfrage weiter zu verstärken, dann können die Kommunen nach meiner Überzeugung auch dieses Jahr mei-
Metadaten/Kopzeile:
8924 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Bundesminister Dr. Stoltenbergstern, weil durch Wachstum dann neue Impulse auch für ihre neue Finanzsituation entstehen, vor allem auch für die steuerzahlenden Unternehmen.Natürlich haben die Kommunen von dem überdurchschnittlichen Anstieg der Gewerbesteuer profitiert. Herr Kollege Hüser, auch die Zahl, die Sie vorgetragen haben, nur noch ein Drittel der Betriebe zahle Gewerbesteuer, ist nach meiner Überzeugung völlig überholt. Die starke Dynamik in weiten Bereichen des Mittelstandes — das wird von Handwerk und Handel in den Jahresschlußbilanzen ja auch wirklich anerkannt — führt dazu — ich kann es an meinem eigenen Wahlkreis, an mittleren und kleinen Städten erkennen; das gilt aber auch für größere Städte — , daß jetzt viele mittelständische Betriebe, die schon herausgefallen waren, wieder ein Stück in die Gewerbesteuer hineingewachsen sind und daß sich die Zahl der gewerbesteuerzahlenden Betriebe in den letzten Jahren ganz bedeutsam erhöht hat. Nur so ist diese hohe Zuwachsrate zu erklären.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich — ein bißchen mit Blick auf die Uhr — nur wenige Bemerkungen zu zwei anderen wichtigen Punkten machen.Wir stehen in der nächsten Wahlperiode vor besonders großen Aufgaben. Wir müssen in dieser Wahlperiode die Voraussetzung dafür schaffen — auch das hat Herrn Bernrath zu Recht als ein bedeutendes Thema angesprochen — , daß wir den Binnenmarkt der Europäischen Gemeinschaft verwirklichen können und uns für die neuen Bedingungen in der Europäischen Gemeinschaft rüsten. Das gilt für alle: für Bund, Länder und Kommunen; es gilt auch für unsere Wirtschaft.Nun kann niemand übersehen, daß wir im Bereich der spezifischen Unternehmensteuern eine höhere Belastung haben als praktisch alle unsere Wettbewerber. In der EG sind ja auch sozialdemokratisch-sozialistisch geprägte oder mitbestimmte Regierungen bei der Senkung von Unternehmensteuern vorangegangen und zum Teil weitergegangen als wir. Schauen Sie sich einmal die Diskussion in Frankreich an, wo jetzt auch wieder eine sozialistisch geführte Regierung unter Ministerpräsident Rocard regiert. Dort wird mit einer unvergleichlich größeren Unvoreingenommenheit über diese Themen debattiert als in vielen Äußerungen der deutschen Sozialdemokratie. Insofern ist es richtig, daß sich die Koalition prinzipiell für eine Senkung der Unternehmensteuern ausgesprochen hat.Bis wir das konkretisieren können, sind noch eine Reihe sehr sorgfältiger Klärungen notwendig.Das gilt auch für die Frage der Gewerbesteuer. Die Voraussetzungen für eine schrittweise Abschaffung der Gewerbesteuer, wenn sie möglich ist, hat der Bundeskanzler mehrfach genannt. Wir können diesen Schritt nur tun, wenn wir in der Lage sind, den Kommunen sowohl unter dem Gesichtspunkt ihrer Finanzausstattung als auch eines wichtigen Elements kommunaler Finanzautonomie einen vollwertigen Ausgleich zu geben. Ich könnte die Antwort auf diese Voraussetzung von hier aus heute gar nicht abschließend geben. Aber dies steht im Mittelpunkt der sorgfältig geführten fachlichen und politischen Debatten, die wir zu führen haben. Es wird zu entscheiden sein, ob wir die Gewerbesteuer unter der genannten Bedingung schrittweise abschaffen können oder ob wir sie, was auch vorstellbar ist, umstrukturieren, allerdings nicht mit dem Ziel der Erweiterung, wie die SPD es will, sondern mit dem Ziel einer dauerhaften strukturellen Verringerung der Gewerbesteuerbelastung.Das sind die Fragestellungen. Jeder, der die Schwierigkeit und auch die Bedeutung dieses Themas kennt, sollte sich konstruktiv an dieser Debatte beteiligen. Es ist, wie ich feststelle, auf kommunaler Seite durchaus die Bereitschaft vorhanden, die Grundsatzdebatte darüber zu führen. Wir reden über andere Unternehmensteuern, aber lassen Sie es uns wirklich unter dem Vorzeichen der großen Herausforderung durch die Europäische Gemeinschaft tun.Es ist nicht selbstverständlich, daß wir in Europa die stärkste Industrienation bleiben. Es ist nicht selbstverständlich, daß wir die führende Exportnation bleiben, zumal wir im Augenblick lieber etwas weniger Handelsüberschüsse hätten, aber nicht weniger Exporte, sondern noch eine stärkere Belebung der Binnennachfrage, die im letzten Jahr begonnen hat. Das alles muß immer wieder errungen werden. Deshalb muß man die Frage der Rahmenbedingungen auch steuerpolitisch unvoreingenommen diskutieren, vor allem auch deshalb, weil wir nur durch mehr Wettbewerbsfähigkeit, nicht durch weniger Wettbewerbsfähigkeit die Beschäftigungsprobleme, ausgehend von der ansteigenden Beschäftigung, noch besser lösen können, als das in den vergangenen Jahren im Ansatz gelungen ist. Das alles ist von entscheidender Bedeutung auch für die Kommunen.Die sehr unterschiedlichen Situationen von Städten und Gemeinden haben in dieser Debatte zu Recht eine große Rolle gespielt. Natürlich ist die Lage von Bottrop anders als die von Düsseldorf. In einem Bundesland wie Nordrhein-Westfalen haben wir tatsächlich krasse Gegensätze.Nur, da mit dem letzten Beitrag der sozialdemokratischen Fraktion hier noch einmal sehr harte Kritik an uns geübt wurde, will ich Ihnen sagen: Gerade bei Ländern, in denen Sie lange regieren, sollten Sie etwas vorsichtiger sein.
Keine Landesregierung, keine Landtagsmehrheit hat in den letzten fünf Jahren so harte Eingriffe in den kommunalen Finanzausgleich zu Lasten der kommunalen Selbstverwaltung beschlossen wie die sozialdemokratische Landtagsmehrheit in Nordrhein-Westfalen, meine Damen und Herren.
Ich könnte Ihnen hier jede einzelne Entscheidung seit 1981 mit Zahlen vortragen.Es ist nach meiner Meinung, Herr Kollege, für einen SPD-Abgeordneten dieses Bundeslandes unzulässig,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8925
Bundesminister Dr. Stoltenbergdas in einer Grundsatzdebatte des Deutschen Bundestages über die kommunale Finanzsituation im hart bedrängten Nordrhein-Westfalen zu verschweigen und die verfehlten Folgen sozialdemokratischer Politik im größten Bundesland bei der Bundesregierung abladen zu wollen.
Ich halte das nicht für zulässig unter dem Vorzeichen einer überzeugenden Argumentation. Parlamentarisch zulässig ist es schon, Herr Kollege Struck; aber es ist nicht überzeugend und deswegen nach meiner Meinung keine in sich schlüssige und vertretbare Argumentation.Wir müssen von der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ausgehen. Der Bund kann durch eine Reihe von Einzelmaßnahmen — Herr Kollege Zimmermann hat Beispiele genannt — Kommunen gezielt helfen. Ich unterstreiche — Herr Kollege Austermann, hat es zu Recht hervorgehoben — die große Bedeutung des soeben vom Bundestag beschlossenen Strukturhilfegesetzes in diesem Zusammenhang.Der Bund kann nach der Aufgabenzuteilung des Grundgesetzes nicht die Ausgleichsprobleme innerhalb eines Bundeslandes zwischen starken und schwachen Kommunen lösen. Das ist Sache des Landesgesetzgebers.
Hier muß sich jedes Land und jede Landtagsmehrheit auf ihre Verantwortung hin ansprechen lassen, wie ich das soeben sehr kritisch im Hinblick auf die SPD-Politik in Nordrhein-Westfalen getan habe.Das letzte, was ich Ihnen sagen möchte, weil bei der SPD die Forderung kommt, wir sollten zu Lasten des Bundes Steueranteile an die Kommunen übertragen: Dies können wir nicht. Ein Grundproblem der Finanzausstattung auf den drei Ebenen ist, daß der Anteil des Bundes am Gesamtsteueraufkommen ständig zurückgegangen ist — vor allem natürlich durch die Übertragung von Mitteln an die EG — bei einer Verbesserung der Situation der Länder und der Kommunen seit dem Regierungswechsel in bezug auf Anteile an der Gesamtsteuerbilanz.Unter diesen Vorzeichen sind natürlich eine Reihe von Forderungen, die Sie erheben, nicht realistisch. Man kann nicht alle Probleme, die in der Verantwortung der Länder und der Kommunen gelöst werden müssen, dem Bund zusprechen oder zuschieben — wie immer Sie es formulieren wollen — und zugleich sagen: Der Anteil des Bundes am Gesamtsteueraufkommen soll weiter zurückgehen. Auch das ist ein Widerspruch, den wir in der Diskussion mit manchen Ländern und Kommunen zu betonen haben.Die Gesamtbilanz der letzten sechs Jahre heißt: Mit einer Fülle von wichtigen Einzelentscheidungen und vor allem mit einer Wirtschafts- und Finanzpolitik, die unserem Land zugute gekommen ist, ist auch die kommunale Selbstverwaltung gestärkt. Wir wollen weiterhin alles tun, damit sie sich auch in ihren finanziellen Grundlagen entfalten kann und ihre wichtigen Aufgaben zu lösen vermag.Schönen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Matthäus-Maier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die erfreulichere Entwicklung der Gemeindefinanzen begrüßen wir ausdrücklich; Herr Mertens hat das hier getan. Es handelt sich aber um Durchschnittszahlen.Herr Stoltenberg, wenn wir von Durchschnittszahlen sprechen, dann erinnere ich mich an eine Durchschnittszahl, die Sie oft verwandt haben und die genauso wenig hilfreich war wie diese. Bei der sogenannten Steuerreform sollte nämlich jeder Bürger um durchschnittlich 1 000 DM entlastet werden. Das Ergebnis ist: Die einen bekommen pro Jahr mehrere tausend DM Entlastung, und andere bekommen null. So ist das mit Durchschnittszahlen.
So ist das dann auch bei den Kommunen. Selbstverständlich haben wir Gemeinden, denen es sehr gut geht. Wir begrüßen das ausdrücklich. Aber es gibt andere, insbesondere solche mit hohen Arbeitslosenzahlen; die haben Probleme.
Herr Stoltenberg, wenn Sie hier sagen, das Land Nordrhein-Westfalen habe dafür zu sorgen, daß es einen Ausgleich zwischen Düsseldorf und Bottrop gibt, dann kann ich Ihnen nur sagen: Diese Fragen sind keine Fragen der Kommunen oder des Landes Nordrhein-Westfalen. Wenn wir alle gemeinsam der Meinung sind, wir brauchen eine nationale Energiereserve Kohle — und die kommt teurer als z. B. importierte Energie — , dann muß der Bund gemeinsam mit den Ländern und Gemeinden die Lasten tragen und darf sich nicht aus der Kohleverantwortung wegstehlen.
Wie stark insbesondere Gemeinden mit hohen Arbeitslosenzahlen von der Sozialhilfe betroffen sind, haben der Städtebund und der Städtetag mehrfach deutlich gemacht. Ich will ein Beispiel aus meinem Wahlkreis nennen, dem Rhein-Sieg-Kreis, der nicht unter Strukturproblemen besonderer Art leidet.
Nur eine Zahl: Im Frühjahr wurden im Haushalt des Kreises 57 Millionen DM an Ausgaben für Sozialhilfe außerhalb von Einrichtungen vorgesehen. Schon im Mai 1988 erfolgte die Korrektur. Dann betrugen die Ausgaben 63,7 Millionen DM; und das in einer Region, die nicht unter besonderen Strukturproblemen leidet.Im übrigen wird oft vergessen, daß es dadurch auch Ausgaben bei den Gemeinden gibt, die die Gemeinden nicht abwälzen können, etwa auf die Kreise: bei den Personalkosten. Ein Beispiel aus der größten Stadt meines Wahlkreises, Troisdorf. Von September 1985 mit 1 066 Betreuungsfällen bei der Sozialhilfe stieg die Zahl der Sozialhilfeempfänger auf ca. 1 840 im Januar 1989 an. Die Stadt Troisdorf mußte statt bisher zwölf Personen für die Betreuung achtzehn
Metadaten/Kopzeile:
8926 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Frau Matthäus-MaierPersonen einstellen. Die zusätzlichen 300 000 DM bleiben natürlich auf der Gemeinde hängen.
Nein, meine Damen und Herren, hier gibt es Unterschiede, und die sollten wir nicht wegreden. Deswegen ist es unverantwortlich, daß der Wirtschaftsminister durchs Land zieht und erklärt, die Gewerbesteuer müsse abgeschafft
und dafür die Mehrwertsteuer angehoben werden.
Meine Damen und Herren, in dieser Forderung des Wirtschaftsministers, die bis heute unwidersprochen geblieben ist, leider auch in Ihrer Rede, Herr Finanzminister, stecken drei Tatsachenbehauptungen, die nicht zutreffend sind.
Die erste Behauptung ist die, die Bundesrepublik Deutschland sei praktisch das einzige Land, das eine Gewerbesteuer kenne. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf unsere Anfrage dankenswerterweise klargestellt, daß es auch in anderen europäischen und in anderen Industriestaaten — etwa USA und Japan — vergleichbare örtliche Steuern gibt, die wie die deutsche Gewerbesteuer die Aufgabe haben, einen Beitrag des ortsansässigen Gewerbes zum gemeindlichen Steueraufkommen zu leisten.Zweitens. In dieser Forderung von Herrn Haussmann steckt die Behauptung, oft auch wörtlich vorgetragen, die Steuerbelastung der Unternehmen in unserem Lande sei im weltweiten Vergleich sehr hoch und erreiche 70 %. Das ist falsch. Die Zahl 70 % ist rein rechnerisch richtig, wenn ich die verschiedenen Unternehmensteuern aufaddiere. Aber selbstverständlich kommt es entscheidend darauf an: Worauf werden die 70 % angewandt? Ich zitiere den Bundesfinanzminister, der in der Silvesterausgabe des „Handelsblattes" dankenswerterweise folgendes klargestellt hat:Manchmal wird ... auf Modellrechnungen — bei der Unternehmensbesteuerung —zurückgegriffen, die in der Öffentlichkeit den unzutreffenden Eindruck erwecken, die Gewinnsteuerbelastung deutscher Unternehmen betrage im Durchschnitt rund 70 %. Diese Modellrechnungen sind vor allem deshalb unvollkommen, weil sie nahezu ausschließlich die in den Steuersätzen zum Ausdruck kommende Tarifbelastung ausweisen. Die erheblichen Unterschiede bei den Vorschriften zur Feststellung des zu versteuernden Gewinns, der für die effektive Steuerbelastung entscheidend ist, bleiben weitgehend außer acht.Ich stimme Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, ausdrücklich zu.
Behauptung Nummer 3, die in der Forderung von Herrn Haussmann steckt: In Europa werde es 1993 zu einer Anhebung der Mehrwertsteuer kommen. Auch dies ist falsch. Nach den Vorschlägen der Europäischen Kommission muß die Bundesrepublik Deutschland gerade nicht ihre Mehrwertsteuersätze anheben, weil es eine Marge von zwischen 14 und 20 To gibt. Selbstverständlich ist auch uns bekannt, daß es Nachbarländer gibt, die fordern, daß diese Marge angehoben wird mit der Folge, daß wir den Mehrwertsteuersatz anheben müßten.Aber ich frage Sie, Herr Stoltenberg, wäre es denn dann nicht eigentlich Aufgabe eines deutschen Wirtschaftsministers, jeden Tag nach Brüssel zu pilgern — ich überziehe jetzt —, um dort dafür zu sorgen, daß die Deutschen nicht den Mehrwertsteuersatz anheben müssen, statt in der Gegend herumzureden, so, als hätte er schon zwei Punkte in der Tasche, um sie für die Unternehmensteuersenkung zu verbraten?
Ein Wirtschaftsminister, der praktisch die anderen Länder dazu animiert, zu unseren Lasten auf eine Anhebung der Mehrwertsteuer zu drängen, vertritt nicht die Interessen dieser Republik.
Wenn ich z. B. Herrn Späth zitiere — jetzt nicht den Späth von Baden-Württemberg, sondern den Präsidenten des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks — , dann möchte ich ihm ausdrücklich recht geben, wenn er ebenfalls in diesem „Handelsblatt"-Artikel schreibt:Der EG-Binnenmarkt darf nicht als Alibi für eine Mehrwertsteuererhöhung dienen.Recht hat Herr Späth.Was wäre die Folge einer solchen Umschichtung, Gewerbesteuer weg, Mehrwertsteuer hoch? Das wäre zutiefts ungerecht; denn die Masse der Bürger, insbesondere Arbeitnehmer, Rentner, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Schüler und Studenten, müßten die höhere Mehrwertsteuer tragen, damit die Unternehmen global entlastet würden, auch Unternehmen mit riesigen Gewinnen.Zweitens. Eine solche Anhebung der Mehrwertsteuer wäre wirtschaftspolitisch verfehlt. Sie würde die Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten nachhaltig schwächen und damit zu einer Belastung von Konjunktur und Arbeitsmarkt führen.Drittens. Eine Ersetzung der Gewerbesteuer durch eine kräftig angehobene Mehrwertsteuer geht auch zu Lasten des Mittelstandes. Wir haben in der sozialliberalen Koalition durch großzügige Freibeträge dafür gesorgt, daß die überwiegende Mehrheit der Betriebe von der gesetzlichen Gewerbesteuer freigestellt ist. — Herr Stoltenberg, ob sich die Zahlen da leicht verändert haben, vermag ich nicht zu sagen. Die letzten Zahlen — nur 15 % der Betriebe zahlen Gewerbekapitalsteuer und 35 % der Betriebe Gewer-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8927
Frau Matthäus-Maierbeertragsteuer — sind jedenfalls bisher — und Sie müßten sie kennen — nicht widerlegt. Wenn aber heute der Mittelstand überwiegend praktisch von der Gewerbesteuer freigestellt ist, würde eine Umschichtung der Art Abschaffung der Gewerbesteuer, Anhebung der Mehrwertsteuer selbstverständlich im Ergebnis den Mittelstand treffen und wäre daher ausgesprochen mittelstandsfeindlich.
Aber — meine Damen und Herren, das kann ich mir nicht verkneifen — das sind wir ja gewohnt nach den Subventionen für MBB und Daimler und dem Streichen der Mittelstandshilfen im Haushalt. Sonntags führen Sie den Mittelstand im Munde, und von montags bis freitags handelt es sich bei der Bundesregierung um eine Veranstaltung zugunsten der Großbetriebe.
Wenn es in Europa überhaupt zu einer Anhebung der Mehrwertsteuer kommen sollte, was wir nicht hoffen, dann müßte sie selbstverständlich für eine drastische Anhebung des Grundfreibetrages und damit eine Entlastung bei der Lohn- und Einkommensteuer verwandt werden.
Ich komme zum Schluß. Ich fordere Sie zu folgendem auf:Erstens. Nehmen Sie in Brüssel deutsche Interessen wahr! Verhindern Sie dort eine Mehrwertsteueranhebung, statt sie grobfahrlässig oder vielleicht sogar vorsätzlich herbeizureden!Zweitens. Beenden Sie endlich die Diskussion über eine Abschaffung der Gewerbesteuer und die angeblichen Standortnachteile der Unternehmen in unserem Lande! Dieses, wie Bundeskanzler Kohl zutreffend sagt, „Geschwätz" vom Standortnachteil der Bundesrepublik ist im Moment nach meiner Ansicht der größte Standortnachteil.Drittens. Entlasten Sie die Städte und Gemeinden von den Kosten der hohen Arbeitslosigkeit bei der Sozialhilfe.Viertens. Nutzen Sie endlich die verbesserte Wirtschaftslage, um die Arbeitslosigkeit aktiv zu bekämpfen! Das ist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit gegenüber den Arbeitslosen, sondern auch der beste Beitrag zur Konsolidierung der Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Magin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Matthäus-Maier, den letzten Punkt, den Sie genannt haben, können wir unterstreichen. Das machen wir schon sechs Jahre, und die Früchte davon haben ja gerade die Länder, Kommunen und der Bund, die ja zusammen in einem Boot sitzen und auch gemeinsam in eine Richtung rudern sollten, ernten können. Ich meine, wir haben das gerade im vergangenen Jahr in eindrucksvoller Weise erlebt. Ich bin der Auffassung, meine Damen und Herren, daß man aus dem Fluß der Zeit nicht aussteigen kann— keiner kann das — , sondern daß man eben versuchen muß, die Probleme gemeinsam zu lösen. Und da nützt nur Realismus, da nützt keine Schwarzmalerei.
— Was habe ich da formuliert? Sie können es ja nachher einmal sagen, Herr Poß.
— Ja.Nun, meine Damen und Herren, in den Gemeinden, Städten und Landkreisen leben ja die Menschen; dort erleben sie den Staat. Die gesammelte Erfahrung, die sie dort machen, bestimmt die Lebensqualität der einzelnen Bürger. Wir erfahren immer wieder, daß die Menschen das gesamte Gemeinwesen nur dann intakt finden, wenn gleichwertige Lebensbedingungen in Stadt und Land und damit auch in den verschiedenen Regionen der Bundesrepublik herrschen. Das ist ein übergeordnetes Gebot, wie ich meine, auch politischer Gerechtigkeit, und hier beweist sich letztlich auch die Qualität der Politik von Bund und Ländern. Einer vernünftigen Raumordnungspolitik, meine Damen und Herren, zu der ich jetzt auch einiges sagen will, kommt daher nach unserer Auffassung große Bedeutung zu.Meine Damen und Herren, die im Herbst letzten Jahres in Travemünde zu Ende gegangene europäische Kampagne für den ländlichen Raum hat eindrucksvoll belegt, welch große Bedeutung es für das Gesicht unserer Kulturlandschaft, für unsere Umwelt, für unsere kulturelle Vielfalt und die Identität unserer Regionen, Gemeinden und Städte hat, daß Verdichtungsräume und ländliche Räume gleichermaßen attraktive Lebensräume bleiben, die ihre Funktion im Interesse der Gemeinschaft erfüllen können. Stadt und Land haben ein gemeinsames Schicksal, und sie sollten auch — das muß Ziel unserer Politik sein — gemeinsame Chancen haben. Deshalb müssen auch die Verdichtungsräume ein eigenes Interesse an einer gedeihlichen Entwicklung des ländlichen Raumes haben, wie auch der ländliche Raum an dem Erhalt und der Schaffung gesunder Strukturen in den Verdichtungsräumen interessiert sein muß.Ich bin sicher, daß die unter dem Stichwort „Binnenmarkt" weiter stattfindende Integration Europas die Bedeutung einer ausgeglichenen Siedlungsstruktur gerade in der Bundesrepublik Deutschland und damit den Vorteil vieler gleichmäßig leistungsfähiger Zentren noch deutlicher werden läßt. Mehr denn je wird es dann darauf ankommen, daß die einzelne Kommune — im Raum auf andere Kommunen bezogen — in der Lage sein wird, sich als möglichst qualifizierten Standort für Wohnen und Arbeiten darzustel-
Metadaten/Kopzeile:
8928 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Maginlen und ihre individuellen Möglichkeiten und Potentiale voll auszuschöpfen. Bei allen strukturellen Maßnahmen muß von den regionalen und lokalen Besonderheiten, Eigenarten und Bedürfnissen ausgegangen werden. Für den Erfolg entscheidend wird das Erfassen der besonderen Typik des Raumes und seiner Gemeinwesen sein. Nur dann wird es auch möglich sein, die endogenen Kräfte des jeweiligen Gebietes zu stärken, zu motivieren und ihnen planerischen Rückhalt zu geben.Immer stärker wird es dabei auch die Qualität der Umwelt sein, die den Wert der Standorte bestimmt. Die deutschen Städte und Gemeinden, meine ich, meine Damen und Herren, sind hier gerade durch die Unterstützung der Länder und des Bundes gut gerüstet. Auch hier sehe ich ein Plus unseres Landes im europäischen Wettbewerb.Nun, meine Damen und Herren, gerade im europäischen Wettbewerb wird es entscheidend darauf ankommen, daß in allen Teilräumen der Bundesrepublik Deutschland gleichwertige Lebensbedingungen herrschen. Nur so können schwerwiegende Verwerfungen der Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur verhindert werden. Wir halten es deswegen für besonders bedeutsam, die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Infrastruktur unserer Gemeinden und Städte gerade in den peripheren und abgelegenen Regionen zu erhalten und zu verbessern. Das kann aber nur gelingen, meine Damen und Herren, wenn Bund, Länder und Kommunen hier zusammenwirken.Deshalb ist es auch zu begrüßen, daß die Bundesregierung — und nicht zuletzt der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau — gerade in jüngster Zeit deutlich gemacht hat, wie wichtig die Sicherung gleichwertiger Lebensbedingungen in den verschiedenen Regionen ist, und daß sie nachdrücklich dafür eintritt, die kleinen und mittleren Gemeinden lebensfähig zu halten. Bundesregierung und Bundestag haben gerade in den letzten Jahren dafür wichtige Voraussetzungen geschaffen.Ich nenne in diesem Zusammenhang beispielhaft — es ist zum Teil schon geschehen — die Novelle zum Raumordnungsgesetz, die von der Leitvorstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ausgeht und die umfassende Wirkungen haben wird. Weiter: Mit dem Gesetz zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft in den Ländern hat die Bundesregierung einen deutlichen Beitrag geleistet, die regionale Ausgeglichenheit des wirtschaftlichen Wachstums und damit die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als politische Leitvorstellung sehr ernst zu nehmen. Es ist sehr zu hoffen, daß die Bundesländer nun darauf achten, die zu fördernden Vorhaben nach diesen struktur-und regionalpolitischen Absichten auszuwählen und dabei die Gemeinden einzubinden. Gleiches gilt — ich nenne nur Stichworte — für die Gemeinschaftsaufgaben, die regionalen Strukturhilfen der Küstenländer, die Finanzhilfen für Montanregionen, die Erhöhung des Länderanteils an der Umsatzsteuer und die Erhöhung des Bund-Länder-Finanzausgleichs.Ein weiterer wichtiger Punkt, der ebenfalls schon angesprochen worden ist: Die Fortführung der Städtebauförderung auf einem Niveau, das immerhin eine Verdreifachung der Mittel gegenüber 1982 darstellt, ist ein weiterer Eckpfeiler dieser Politik, die die Standortqualitäten der Gemeinden und Städte besonders herausstellt.
Nur, leider ist die Redezeit abgelaufen.
Ich weiß, die Redezeit ist abgelaufen. Lassen Sie mich nur noch eines sagen: ein Wort noch zu den Informations- und Kommunikationstechniken.
Einen Satz, Herr Abgeordneter.
In dieser Zeit der sehr schnellen technischen Änderungen und Verbesserungen haben sie eine zentrale Bedeutung. Wir meinen, daß ein spürbarer Beitrag zur Verbesserung der Standortqualität peripherer und dünnbesiedelter Gebiete durch das Vorantreiben dieser Einrichtungen erreichbar ist. Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung nicht nur wiederholt erklärt hat, daß es eine einseitige Bevorzugung der Städte und Gemeinden in Verdichtungsräumen gegenüber denen im ländlichen Raum nicht geben darf, sondern daß sie danach handelt und dabei in Kauf nimmt, ..
Herr Kollege!
... daß die geforderte Rentabilität verzögert wird.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.
Die Länge des Schlußsatzes ist immer umgekehrt proportional zur angekündigten Absicht, zu schließen.
Frau Teubner kommt als nächste Rednerin.
Herr Präsident! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Finanzminister Stoltenberg hat sich heute morgen eine Rüge seiner Fraktion eingehandelt. Er hat nämlich in der irrigen Annahme, daß diese Debatte heute morgen über die Lage der Städte, Gemeinden und Kreise ausschließlich eine finanzpolitische Debatte sei, seine Redezeit zu Lasten einiger Kollegen der Koalitionsfraktionen weit überschritten, die sich vielleicht noch zu anderen Themen hätten äußern wollen, die in diesen Großen Anfragen ebenfalls aufgegriffen sind.
Minister Zimmermann, zuständig für Demokratie und Innenpolitik, hat seine Redezeit nicht überschritten — was mich persönlich sehr gefreut hat; denn ich kann es immer schwer ertragen, diesen Mann zu hören.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8929
Frau TeubnerIch hoffe aber, das liegt nicht daran, daß die Ausführungen, die er gemacht hat und die zu Anfang der Antworten der Bundesregierung auf diese Großen Anfragen zu den Bereichen Demokratie und Selbstverwaltung gemacht werden, ausschließlich Garnierung und schmückendes Beiwerk zu den grundsätzlichen Ausführungen sind. Herr Zimmermann hat gesagt: Die Bundesregierung bekennt sich zur kommunalen Selbstverwaltung. Besonders der Kollege Lüder hat es mit, wie ich hoffe, mehr als nur schönen Worten noch weiter ausgeführt: „Die gemeindliche Selbstverwaltung" — ich erlaube mir, daraus ein bißchen zu zitieren, weil es so schön ist — „ist Grundlage der Demokratie und darf nicht durch Gesetzeshandeln oder Verwaltungsmaßnahmen beeinträchtigt werden. Die Gemeinden sollen frei sein von Gängelung und Bevormundung. "Ich möchte an einem Themenbereich, der heute überhaupt noch nicht erwähnt worden ist, erläutern, daß wir da einen ganz großen Widerspruch zwischen diesem Anspruch oder, besser gesagt, diesen Sprüchen von der Berechtigung und Wichtigkeit der kommunalen Autonomie und Selbstverwaltung einerseits und der Praxis, wie sie in diesem Land durchgeführt wird, andererseits sehen, und zwar in einem Bereich, der in den Kommunen zur Zeit sehr heftig debattiert wird: dem Bereich der Energieversorgung.
— Ja, der Herr Hüser ist ja auch einer von den GRÜNEN, und deswegen ist ihm sehr bewußt, daß das ein Themenbereich ist, der sehr wichtig ist. Von den anderen aber scheint das nicht wahrgenommen zu werden. Da wird eine ganz strikte Trennung vorgenommen: Energieversorgung ist Wirtschaftspolitik und hat mit Problemen der Kommunen anscheinend oder tatsächlich herzlich wenig zu tun. Ich behaupte aber: Das hängt damit zusammen, wie die Energieversorgung in diesem Land strukturiert ist.
Wir haben zwar in Art. 28 des Grundgesetzes den Anspruch — darauf ist auch schon mehrfach hingewiesen worden —, daß den Gemeinden das Recht gewährleistet sein muß — ich zitiere — ,alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln.Das ist ein garantierter Anspruch der Gemeinden. Seit Bestehen dieser Bundesrepublik — wir feiern ja in diesem Jahr 40 Jahre Föderalismus, 40 Jahre Demokratie — wird dieser Grundsatz im Bereich der Energieversorgung aber massiv verletzt.
— Die Stromerzeugung liegt in den Händen der monopolistischen Energieversorgungsunternehmen, die in Anknüpfung an die Organisationsstruktur der Energieversorgung, wie sie im Dritten Reich geregelt worden war, auch nach dem Kriegsende weitermachen konnten. Das heute geltende Energiewirtschaftsrecht beruht auf dem Energiewirtschaftsgesetz aus dem Jahre 1935, damals initiiert von Hjalmar Schacht mit dem dezidierten Auftrag zur „Wehrhaftmachung der deutschen Energieversorgung" . Das Gesetz wurde 1941 dann noch verschärft, indem die Energieaufsicht einem sogenannten Reichsinspektor für Wasser und Energie übertragen wurde. Dieser Reichsinspektor war dann Albert Speer. Nachdem es Albert Speer nicht mehr gab, ist diese Stelle des Reichsinspektors für Wasser und Energie vakant gewesen und ist bis heute nicht wieder besetzt worden, aber im Energiewirtschaftsgesetz steht diese Stelle so noch heute. Das können Sie alle nachlesen. In § 1 Abs. 2 heißt es:Die Aufsicht über die Energieversorgung führt .. .— in der Bundesrepublik — der Reichsinspektor für Wasser und Energie.Ich denke, das ist eine Fortführung einer nationalsozialistischen Grundstruktur und Geisteshaltung.
— Das kann ich Ihnen auch selber erklären; dafür brauche ich den Kollegen Schily nicht.Die Kommunen, z. B. der Deutsche Städtetag, haben schon 1948 und danach noch mehrfach darauf hingewiesen, daß dies in krassem Widerspruch zum Prinzip der Eigenverantwortung und der Selbstverwaltung steht. Es hat sich bis heute nichts daran geändert, obwohl im Jahre 1957 dieser Bundestag im Zusammenhang mit der Novellierung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen der Bundesregierung den Auftrag erteilt hat — ich zitiere —, ein neues Energiewirtschaftsgesetz „mit größtmöglicher Beschleunigung" vorzulegen. Dieser Auftrag ist bis heute nicht ausgeführt worden. Heute noch ist es so, daß die großen Verbundunternehmen monopolistisch die Energieversorgungsstruktur diktieren, und wenn Gemeinden jetzt, seit ein paar Jahren, anfangen, sich dagegen zu wehren, weil sie nicht mehr gezwungen sein wollen, Atomstrom zu kaufen, sondern anfangen wollen, ihre Energieversorgung umweltverträglich, sozialverträglich und sparsam zu organisieren, reden ihnen die Energieversorgungsunternehmen da hinein.Deswegen muß an einem solchen Tag, an dem über die Lage der Städte, Gemeinden und Kreise diskutiert wird und an dem mehrfach — ich hoffe, nicht nur theoretisch — auf das Recht der kommunalen Selbstverwaltung hingewiesen wird, auch diese Forderung nochmals betont werden, daß das Energiewirtschaftsgesetz novelliert werden muß. Es ist längst überfällig, daß es entnazifiziert wird, daß es von diesen Vorstellungen entrümpelt wird
Metadaten/Kopzeile:
8930 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Frau Teubnerund daß es endlich demokratisiert wird, damit wir eine andere Energieversorgungsstruktur in dieser Republik bekommen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Grünewald.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie bitte auch mir vorab einen ganz kurzen Rückblick: 23. Juni 1988 in diesem Hause; mitten in die Schlußberatung des Steuerreformgesetzes platzt — sehr zur Freude der Opposition, wie wir auch eben wieder gehört haben — eine sehr gezielte dpa-Meldung der Städtetagspräsidenten Schmalstieg und Rommel. Vom Niedergang der Kommunalfinanzen, von den Kommunen als den Lasteseln der Reform war da die Rede. Ein hohes Finanzierungsdefizit und ein dramatischer Verfall der kommunalen Investitionen wurden prognostiziert. Es wurde sogar die Behauptung aufgestellt, die große Steuerreform gefährde den sozialen Frieden in unserem Lande.Wie sieht nun heute, nur sieben Monate später, die Wirklichkeit tatsächlich aus? Nun: Landauf, landab herrscht Optimismus in den Rathäusern.
Dank der guten Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung stehen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf Hoch. Die Wirtschaft floriert, die Konjunktur stimmt, und die Steuerquellen sprudeln kräftig.
Die alte Binsenwahrheit hat sich einmal mehr bewahrheitet. Es gibt keine gesunden Gemeinden ohne gesunde Finanzen, und es gibt keine gesunden Finanzen ohne eine gesunde Wirtschaft. Eine gute Wirtschafts- und Finanzpolitik ist deshalb immer die beste Kommunalpolitik.
Während unter der SPD-Regierung das Sozialprodukt schrumpfte und demzufolge die kommunalen Steuereinnahmen rückläufig waren, steigen seit 1983 das Wirtschaftswachstum im Durchschnitt real um 2,5 % und die Steuereinnahmen der Kommunen um durchschnittlich 5 % an. Im Jahre 1988 hat das Bruttosozialprodukt sogar 3,4 % Zuwachs und damit das beste Ergebnis seit 1979 zu verzeichnen. Diese überaus positive Entwicklung hat den Kommunen einen ungeahnten Einnahmezuwachs beschert, und das trotz — ja, ich bin geneigt zu formulieren: eben wegen — der beiden Steuerreformstufen 1986 und 1988; denn durch diese beiden Stufen mit einem Entlastungsvolumen von immerhin rund 25 Milliarden DM wurde das Wachstum nachhaltig gefördert, wurden zusätzliche Investitionen ermöglicht und zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Die düsteren Gewitterwolken am Himmel der Kommunalfinanzen haben sich aufgelöstund sind in Form eines warmen finanziellen Regens auf die Städte und Gemeinden unseres Landes niedergegangen. Auch 1990 wird es ähnlich sein. Allenfalls wird dann eine leichte Abflachung der Zuwachsraten eintreten. Die Substanz der Steuerkraft der Gemeinden aber wird — und das ist das Entscheidende — davon nicht berührt werden.Im gerade begonnenen Haushaltsjahr 1989 wird sich die finanzielle Lage der Gemeinden und Gemeindeverbände weiterhin positiv entwickeln. Bei hoher Preisstabilität werden die gemeindlichen Einnahmen, insbesondere die Steuereinnahmen, erfreulich anwachsen. Verminderte Zinsausgaben und wesentlich abgeflachte Steigerungsraten bei den Sozialhilfeaufwendungen — auch das sei einmal betont — werden den Kommunen eine Verstetigung und eine Ausweitung ihrer zukunftssichernden Investitionen erlauben. Nachdem schon 1988 ein negativer Finanzierungssaldo vermieden werden konnte, kann für das laufende Jahr sogar erstmalig wieder mit einem Finanzierungsüberschuß gerechnet werden.Freilich — das muß hier einmal deutlich gesagt und auch dankbar anerkannt werden — : Diese günstige Finanzsituation unserer Kommunen resultiert zwar primär, aber nicht ausschließlich aus der positiven Entwicklung der Steuereinnahmen. Auch unsere Gemeinden und Gemeindeverbände selbst haben durch eine konsequente Politik der Ausgabenbegrenzung, zuweilen bis an die Grenzen ihres kommunalen Selbstverständnisses, dazu beigetragen.Ein Wort noch zu den Finanzzuweisungen der Länder an die Kommunen. Auch hier ist ein, wenn auch nur verhaltener Anstieg insgesamt feststellbar. Doch da gibt es gewichtige graduelle Unterschiede, wie ernst die einzelnen Länder ihre primäre Finanzverantwortung für eine intakte und leistungsfähige Selbstverwaltung nehmen.Das Negativbeispiel ist Nordrhein-Westfalen. Dieses Land war und ist noch heute das Land, das seit Jahren die Gemeinden nur als seine Reservekasse begreift.
— Das ist kein Quatsch. — Während die anderen Flächenländer ihre Zuweisungen pro Einwohner ganz erheblich gesteigert haben, hat Nordrhein-Westfalen seine Leistungen an die Kommunen in nahezu unverantwortlicher Weise abgebaut. Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat einen kommunalen Totengräberkult entwickelt — Herr Bernrath ist nicht mehr da — , der durch nichts, aber auch durch nichts zu überbieten ist. Eine solch bittere Feststellung schmerzt natürlich einen alten Kommunalmann ganz besonders.Ebenso wie die Länder vom Bund einen gerechten Finanzausgleich erwarten, müssen ihrerseits die Länder ihren Kommunen einen gerechten kommunalen Finanzausgleich gewähren. Die Gemeinden und Gemeindeverbände als die schwächsten Glieder in unseren Staatsaufbau haben als Ausfluß ihrer Finanzhoheit einen eigenständigen Anspruch auf eine langfristig gesicherte und aufgabengerechte Finanzausstattung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8931
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Poß?
Nein, ich habe leider keine Zeit mehr.
Ein Finanzierungssystem aber, dem der Makel einer mehr oder weniger staatsabhängigen Alimentation anhaftet, wird diesem Anspruch ebenso wenig gerecht wie eine Finanzierungspraxis, die den Gemeinden die Stellung des Letzten zuweist, des Letzten, den da die Hunde beißen.
Möge diese überfällige Kommunaldebatte dazu beitragen, daß wir alle — da greife ich den versöhnlichen und moderaten Ton von Herrn Bernrath wieder auf — in unserem alltäglichen politischen Handeln den Gemeinden wieder den Stellenwert beimessen, der ihnen als Keimzelle, Grundlage und Fundament unseres demokratischen Staatsaufbaus verfassungsrechtlich zukommt.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Struck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Stoltenberg, Sie haben uns Sozialdemokraten in Ihrem Beitrag in dieser Debatte Polemik vorgeworfen
und sich dabei auf unseren Entschließungsantrag bezogen.Nun möchte ich Sie gerne einmal fragen, was denn eigentlich an folgenden Sätzen Polemik sein soll, Herr Kollege Stoltenberg.„Sie" — die Bundesregierung — „hat zunehmend Lasten vom Bund auf die anderen Gebietskörperschaften abgewälzt. " Ist das eine Tatsache, oder ist es eine Unwahrheit? Das ist eine Tatsache; daran gibt es überhaupt nichts zu deuteln.
Oder nehmen Sie den Satz aus unserem Entschließungsantrag:Durch die relativ gute Konjunkturentwicklung im letzten Jahr sind diese Strukturschwächen nur vorübergehend gemildert worden.Was soll denn daran Polemik sein? Das ist eine Beschreibung von Realitäten in den Gemeinden.Ich habe, Herr Kollege Stoltenberg — mit Verlaub — , den Eindruck: Alles, was nicht Ihrer Meinung entspricht, ist nach Ihrer Auffassung Polemik. Aber so lassen wir nicht mit uns umspringen.
Außerdem, wenn ich höre, wie Sie einem Kollegen, dem Kollegen Mertens, hier unterstellen, er mache „unzulässige" Aussagen, dann will ich Ihnen nur einmal klar sagen: Sie bestimmen nicht in diesem Haus, was hier zulässig ist zu sagen.
— Ja, gut; aber es offenbart ja, Herr Kollege Lüder, nur sein Verständnis darüber, wie man ihn kritisieren darf oder nicht kritisieren darf.Er hat ja auch den Kollegen Rommel angesprochen, vom Kollegen Bötsch inzwischen als Schwätzer bezeichnet, wie dem Protokoll zu entnehmen sein wird.
Der Kollege Rommel, Präsident des Deutschen Städtetages und Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart, ein besonderer Freund des Bundesministers der Finanzen,
muß sich hier heute von Herrn Stoltenberg vorwerfen lassen, er habe eine totale Fehleinschätzung abgegeben.Aber, Herr Kollege Stoltenberg, nun will ich Ihnen doch einmal ein Beispiel nennen. Wenn wir beide, Herr Kollege Stoltenberg, zusammen essen gehen
und Sie sagen „so, jetzt wollen wir einmal bestellen" und Sie ein ganzes Hähnchen bestellen, weil Sie es bezahlen können, und ich gar keins bestelle, weil ich es nicht bezahlen kann, dann wird dieses Ereignis in der Statistik wie folgt festgehalten: Stoltenberg und Struck, haben zusammen ein Hähnchen gegessen, also jeder ein halbes Hähnchen. So taucht es dann nachher in der Statistik auf. Zwischen uns beiden besteht nur der Unterschied, daß Sie satt sind und ich immer noch Hunger habe.
Das kann man natürlich mit Statistiken immer machen.Herr Grünewald, um kurz einmal auf Sie einzugehen — mehr will ich dann dazu auch nicht sagen, weil nicht mehr nötig ist — : Wenn Sie von abgeflachten Steigerungsraten bei den Sozialhilfeausgaben sprechen — das ist ein wörtliches Zitat von Ihnen —, dann werden Sie mir aber doch nicht widersprechen, wenn ich sage: Auch abgeflachte Steigerungsraten bei der Sozialhilfe sind immer noch Steigerungsraten und nicht gesunkene Ausgaben. Das werden Sie nicht bestreiten, oder doch?
Ich habe ja Verständnis dafür, daß angesichts der Finanzlage der Städte und Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen das nun auf ihre Fahnen schreiben wollen. Ich habe Verständnis dafür; wir würden es im umgekehrten Fall genauso machen. Aber, ich glaube, wir sollten doch eines nie vergessen — darauf hat der Kollege Mertens auch hingewiesen, und das gilt für Theo Magin genauso wie für Horst Waffenschmidt und andere, die in der Union kommunalpolitische Verantwortung tragen — : Wir dürfen niemals die Städte und Gemeinden vergessen, die trotz der gestiegenen Steuereinnahmen, die wir ja alle
Metadaten/Kopzeile:
8932 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Dr. Struckbegrüßen, wegen ihrer Strukturschwäche nach wie vor riesige Probleme haben, ihre Haushalte vernünftig zu finanzieren.
Das ist doch unsere Verantwortung, Ihre Verantwortung als derzeitiger Präsident des Städte- und Gemeindebundes und die Verantwortung von Herrn Schmalstieg oder Herrn Rommel als Präsidenten des Deutschen Städtetages.Damit sind wir jetzt im Grunde bei dem Punkt, über den wir eigentlich diskutieren müßten. Ich gebe Ihnen ja recht, Herr Stoltenberg, wenn Sie sagen, es sei nicht primär eine Aufgabe des Bundes, für Finanzausgleiche innerhalb der einzelnen Länder zu sorgen. Ich stimme Ihnen da völlig zu, weil wir natürlich die Verfassungslage kennen. Das bestreitet ja ernsthaft niemand. Andererseits werden Sie aber auch nicht bestreiten können, Herr Stoltenberg, daß die Probleme, die es in den Gemeindehaushalten insbesondere im Bereich des Sozialhilfeetats gibt, natürlich durch das Fehlverhalten des Bundes entstanden sind.
Deshalb hat der Bund auch Verantwortung und kann sich nicht so ohne weiteres auf das Grundgesetz zurückziehen.Nun haben wir vor einiger Zeit in diesem Haus über das Strukturhilfegesetz beraten. Ich erinnere mich sehr gut, Herr Kollege Stoltenberg, an Ihre Ausführungen, die einen Appell an die Länder enthielten, diese Strukturhilfemittel doch möglichst auch an die Gemeinden weiterzugeben. Wir haben damals — Sie wissen das — diesen Appell unterstützt, auch in Entschließungsanträgen des Deutschen Bundestages. Nur, ich habe die große Sorge, daß dieser Appell nicht so sehr auf fruchtbaren Boden fallen wird.Viele haben heute von ihren eigenen Erfahrungen aus den Ländern berichtet, wobei ich nur hinzufüge, Herr Grünewald und auch Adolf Herkenrath: Es ist natürlich Blödsinn, hierherzukommen und zu erzählen, in Nordrhein-Westfalen mache die nordrhein-westfälische Landesregierung den kommunalen Finanzausgleich kaputt.
— Nein. — Das ist Blödsinn, und zwar deshalb, weil die Basis, von der aus gekürzt werden mußte, viel höher war als in jedem anderen, CDU-regierten Land. Das weiß doch jeder hier.
Dietrich Austermann — er ist nicht mehr da — hat über Schleswig-Holstein gesprochen. Wer hat denn in Schleswig-Holstein 40 Jahre regiert und da die Politik des kommunalen Finanzausgleichs gemacht? Doch nicht wir. Wer war denn da einmal Ministerpräsident? Herr Stoltenberg, doch nicht wir. Gott sei Dank ist das nun vorbei.Was die Strukturhilfe angeht, um auf das Thema zurückzukommen: Das Land Niedersachsen, aus dem ich komme, erhält zehn Jahre lang jährlich 652 Millionen DM. Herr Stoltenberg, die Landesregierung hat jetzt einen Gesetzentwurf über die Verteilung vorgelegt, wonach 150 Millionen DM an die Städte, Gemeinden und Kreise weitergegeben werden. Der Rest bleibt im Landeshaushalt. Ich bin mir nicht so sicher, ob die Landesregierung gut beraten ist, so etwas zu machen, vor allem auch im Hinblick auf das, was das Land Hessen und auch das Land Baden-Württemberg in Richtung Karlsruhe erklärt haben.
— Dazu kann ich jetzt nichts mehr sagen. Darüber werden wir uns an anderer Stelle noch einmal unterhalten müssen, Herr Möller.Es wäre deshalb gut, Herr Stoltenberg — das geht auch an die Kolleginnen und Kollegen aus den Reihen der Regierungsfraktionen — , wenn wir uns alle darin einig sind — und das auch gemeinsam gegenüber den Landesregierungen vertreten — , das Strukturhilfegesetz tatsächlich zu nutzen, um den Gemeinden und Landkreisen zu helfen, die es brauchen,
nämlich denen, die durch Ihre verfehlte Arbeitsmarktpolitik in große Schwierigkeiten gekommen sind. Wenn wir uns darüber einig sind, dann hat diese Debatte wenigstens noch einen versöhnlichen Ausklang.
Das Wort hat Herr Dr. Daniels .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Struck, ich will Ihnen nur einmal den ersten Satz Ihres Entschließungsantrags vorlesen:Die Politik der Bundesregierung hat die Länder und Gemeinden systematisch geschwächt.Angesichts der Zahlen, die wir heute nicht nur von der Koalition, sondern auch von den Gemeindespitzenverbänden gehört haben, ist es sicher nicht übertrieben, diesen Satz als Polemik zu bezeichnen.
Aber ich will mich hier nicht mit Ihrer Polemik beschäftigen, sondern mit der Reform der Gemeindesteuern, wohl einer der schwierigsten Fragen, die uns in Zukunft bevorstehen.Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt ausdrücklich die erneute Gewerbesteuergarantie der Bundesregierung, solange keine Ersatzlösung gefunden ist, der alle Beteiligten zustimmen können. An jedes künftige kommunale Steuersystem sind nach unserer Auffassung zwei Anforderungen zu stellen: Erstens. Die Städte und Gemeinden müssen zumindest teilweise auch über die Höhe ihrer Einnahmen entscheiden können. Zweitens. Die Steuereinnahmen der Städte
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8933
Dr. Daniels
und Gemeinden müssen sich auch an der örtlichen Wirtschaftskraft orientieren.Ein wesentliches Element der kommunalen Selbstverwaltung ist die Entscheidung darüber, welche Leistungen den Bürgern durch die Stadt oder Gemeinde angeboten werden sollen. Nun sind solche Leistungen in der Regel nicht kostendeckend und müssen deshalb zumindest teilweise aus Steuern finanziert werden. Zur Selbstverwaltung gehört es deshalb auch, daß sich eine Gemeinde für eine geringere Steuerbelastung der Bürger entscheiden kann, wenn sie infolgedessen auf zusätzliche Leistungen verzichtet. Es ist ja kein Zufall, daß in der Regel in den CDU-regierten Städten die Gewerbesteuerhebesätze erheblich niedriger sind als in den SPD-regierten Städten.
So kann z. B. eine Gemeinde vor der Frage stehen, ob sie ein neues Schwimmbad bauen oder ob sie darauf verzichten und dann auch mit geringeren Steuersätzen auskommen will.Diese Fragen können von den Mitgliedern der Räte der Städte und Gemeinden im täglichen Kontakt mit den Bürgern diskutiert werden. Deshalb sollen auch die Räte über die sich dadurch für die Bürger ergebenden Steuerbelastungen mit entscheiden können. Problematisch ist es allerdings, wenn von der Steuerbelastung, über deren Höhe die Gemeinde selbst bestimmen kann, wie bisher nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung betroffen ist. Die Einnahmen werden dann von wenigen finanziert, mit den davon bezahlten Wohltaten werden aber alle Bürger beglückt. Da ist die Versuchung für gewählte Politiker groß, zusätzliche Ausgaben zugunsten vieler zu beschließen und sie mit Steuererhöhungen für wenige zu finanzieren. Dieser Versuchung — ich sage es noch einmal — erliegen die Politiker der SPD in der Regel mehr als die meiner Fraktion. Nur wenn alle merken, daß die Forderungen den eigenen Geldbeutel schmälern, kommt Sparsamkeit heraus.
— Ich kann nur sagen, Herr Bernrath, an der unteren Grenze liegen Aachen, Münster und Bonn, um nur Nordrhein-Westfalen zu nehmen.
— Wenn Sie Ihre Zwischenrufe so lang machen, muß ich den Herrn Präsidenten bitten, die Uhr anzuhalten.
Ich war gerade schon daran.
Meine Damen und Herren, nach meiner Einschätzung trägt diesen Grundsätzen und auch der bisherigen Kritik sowohl der Gemeinden als auch der Wirtschaft an der Gewerbesteuer der Vorschlag des sogenannten Kronberger
Kreises am meisten Rechnung. Hier wird vorgeschlagen, die Gewerbesteuer, die Grundsteuer und den Gemeindeanteil an der Einkommensteuer durch eine neue Gemeindesteuer zusammenzufassen, die prinzipiell in gleicher Weise das in der Gemeinde erwirtschaftete wie das in der Gemeinde empfangene Einkommen erfaßt. Die Gemeinden sollen dann auf alle Bemessungsbasen dieser Steuer nur einen einheitlichen Hebesatz festsetzen können.
Dies schränkt zwar auf der einen Seite die Autonomie ein, zwingt die Gemeinden auf der anderen Seite jedoch, für zusätzliche Ausgaben alle Bürger zu belasten. Das wird zu einer sorgfältigen Abwägung der Notwendigkeit solcher zusätzlichen Ausgaben führen, es wird den Räten Anreiz zur sparsamen Haushalts- und Wirtschaftsführung sein, und es wird den Bürgern Anlaß sein zur Überprüfung ihrer Ansprüche.
Beides, so scheint mir, ist politisch erwünscht, auch und gerade im Hinblick auf eine von breiter Bürgerzustimmung getragene kommunale Selbstverwaltung.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hämmerle.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man dieser Debatte seit heute morgen 9 Uhr zugehört hat, dann hat man viel Koalitionslob vernommen.
Man hat auch gehört, daß der Deutsche Städtetag ganz offensichtlich aus Jux und Dollerei Erklärungen abgibt, die nicht stimmen. Man hat auch gehört, daß abgeflachte Steigerungsraten angeblich zur Gesundung der Gemeindefinanzen beitragen. Diesen drei Punkten kann ich nicht zustimmen.Ich möchte in meinen Ausführungen einen weiteren Punkt ansprechen, der in erheblichem Umfang zur Belastung der Gemeindefinanzen beiträgt und heute in dieser Form noch nicht zur Sprache gekommen ist. Ich meine die Situation der Aussiedler und Übersiedler in unseren Gemeinden.Sie sagen, Herr Innenminister: Dieses Problem müssen der Bund, die Länder und die Gemeinden miteinander lösen. Dazu kann ich nur sagen: nur zu! Dieses ist richtig. Aber es muß schnell geschehen, Herr Innenminister. Die Kommunen können in dieser Situation nicht länger auf die Hilfe des Bundes warten. Im Jahre 1988 sind 200 000 Menschen zu uns gekommen, 300 000 Menschen werden nach Ihren gestrigen Zahlen, Herr Staatssekretär, zu uns kommen. Ich glaube, Herr Lüder, unter Berücksichtigung dieser Tatsache wäre es falsch, das zu tun, was Sie heute morgen hier ausgeführt haben, nämlich immer erst im nachhinein darauf zu reagieren. Ich glaube, diese Bundesregierung ist in ihrem Sofortprogramm aufgefordert, vorsorglich auf diese Zahlen zu reagieren und nicht im nachhinein, wenn diese Menschen bei uns sind, wenn sie in den Gemeinden vor der Tür stehen, Verbesse-
Metadaten/Kopzeile:
8934 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Frau Hämmerlerungs- oder Nachbesserungsmaßnahmen vorzunehmen.
Am schlimmsten trifft die Gemeinden die katastrophale Situation auf dem Wohnungsmarkt. Seit der Bund den sozialen Wohnungsbau nicht mehr fördert,
fehlt es überall, in allen Gemeinden, an preiswerten Sozialwohnungen, die auch für diese neu ankommenden Bürgerinnen und Bürger erschwinglich sind.Die Folge ist, daß diese Menschen viel zu lange, viel länger, als ihnen selbst und den kommunalen Behörden lieb ist, in den Übergangseinrichtungen verbleiben müssen. Hier ist ein rasches Handeln dringend erforderlich. Die Gemeinden handeln. Die Gemeinden können sich aus Notsituationen selbst herausbringen. Das weiß ich sehr wohl. Aber sie können es nicht auf Dauer. Deswegen ist hier eine nachdrückliche und schnelle Hilfe des Bundes dringend erforderlich.
Diese Aussiedlerproblematik ist — das haben wir immer wieder gesagt — eine späte Kriegsfolge. Deswegen kann man mit diesen Kriegsfolgelasten die Kommunen nicht allein lassen. Das Beseitigen von Kriegsfolgelasten ist nicht die Aufgabe von Kommunen,
sondern es ist in allererster Linie die Aufgabe des Bundes. Deswegen sind Sie, Herr Bundesinnenminister und Herr Staatssekretär, hier in der Pflicht, die Versprechungen wahrzumachen.Ich sagte es schon: Der unzureichende Versuch, planerische Nachbesserungen vorzunehmen, wird in dieser Situation nicht mehr greifen. Die Gesamtsumme von 1,5 Milliarden DM, von denen der Bund 750 Millionen DM geben möchte, reicht nicht aus. Der von Ihnen heute schon so viel geschmähte Deutsche Städtetag hat verlangt und berechnet, daß 30 000 Wohnungen, wie wir sie eigentlich hier einmal diskutiert haben, bei weitem nicht ausreichen. Der Städtetag geht von einem Bedarf von 60 000 Wohnungen aus, und dieses wäre rein rechnerisch — das wissen Sie alle, die hier sitzen — eine Summe von annähernd 6 Milliarden DM. Da frage ich mich: Was soll man eigentlich mit 750 Millionen DM, so gut das gemeint ist, im Endeffekt in dieser Situation ausrichten?
Ich möchte hier noch einmal ganz deutlich sagen, daß die SPD immer gesagt hat: Ein Sonderwohnungsbauprogramm nur für Aussiedler und Übersiedler ist nicht der richtige Weg.
Frau Kollegin Hämmerle, wollen Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Ja.
Bitte schön, Herr Lüder.
Frau Kollegin, halten Sie es nicht gerade im Interesse der Aussiedler für richtig, daß wir erst einmal das Programm umsetzen, das die Bundesregierung schnell auf den Weg gebracht hat, auf das sich die Länder aber erst sehr spät geeinigt haben, und dann jährlich 30 000 Wohnungen mit dem jetzigen Programm bauen lassen und fördern, statt neue Überlegungen mit den entsprechenden Effekten der Verzögerung wieder aufzulegen?
Herr Kollege Lüder, ich habe immer gesagt, daß ich in den Grundzügen mit der Absicht des Sonderprogramms der Bundesregierung einverstanden bin. Selbstverständlich müssen wir schrittweise handeln, aber das kann uns nicht daran hindern, zu sagen, daß es nicht bei diesen ersten Schritten bleiben darf, sondern daß wir darüber hinaus für den gestiegenen Bedarf Sorge tragen müssen.
— Ich bin erfreut, daß wir einer Meinung sind.Ich möchte das noch einmal aufnehmen, was ich eben gesagt habe. Sie alle wissen, und ich weiß es ganz besonders, weil ich täglich mit dieser Frage befaßt bin: Die Aggressionen gegen Aussiedler und Übersiedler, aber auch gegen Asylsuchende und unsere De-facto-Flüchtlinge steigen in einem Umfang, der mich sehr beängstigt und dem wir alle miteinander als Demokraten, so glaube ich, nachdrücklich entgegentreten müssen.
Wenn wir aber durch Sonderprogramme Aussiedler und Übersiedler z. B. im Wohnungsbau gegen die anderen Zugangsberechtigten des sozialen Wohnungsbaus, gegen kinderreiche Familien, Alleinerziehende, Studenten und Studentinnen usw., bevorzugen, dann ist es ganz klar, daß wir diese Aggressionen nicht in den Griff bekommen. Wir können ihnen dann nicht entgegentreten.Die SPD hat immer gesagt, sie ist dafür, Aussiedler und Übersiedler gleichzustellen. Aber ich sage hier noch einmal nachdrücklich: Gleichstellung bedeutet nicht Bevorzugung. Dieses, glaube ich, sollten wir uns in dieser Problematik auch bei dem Themenbereich des sozialen Wohnungsbaus merken.Ein anderes ganz dringendes Problem für die Kommunen ist die Tatsache, daß die Übergangseinrichtungen für die Aussiedler und Übersiedler nicht mehr von den Kommunen in diesem Umfang finanziert werden können, in dem sie benötigt werden. Ich glaube, Herr Staatssekretär, es ist an der Zeit, daß wir uns ernsthaft darüber unterhalten, daß die Kommunen beim Bau, aber auch beim Betrieb und der Unterhaltung von Übergangseinrichtungen eine Hilfe des Bundes bekommen.Ich möchte ganz zum Schluß meiner Ausführungen zu den Problemen der Aussiedler und Übersiedler noch sagen, daß wir uns noch gar nicht klargemacht haben, daß diese Menschen nicht nur eine Wohnraumversorgung benötigen, sondern in großem Um-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8935
Frau Hämmerlefang auch eine kulturelle Integration in unsere Gemeinden. Auch diese wird Geld kosten, und auch mit diesen Kosten dürfen wir die Gemeinden von hier aus nicht alleinlassen.
Ich freue mich sehr, daß Sie hier zu diesem Punkt auch zustimmend nicken.Ich möchte außerhalb der Aussiedlerproblematik doch noch etwas zum kommunalen Wahlrecht sagen. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause, wir alle, insbesondere auch die Koalition, geben große, schöne, hehre und richtige Erklärungen zu Europa ab. Dies ist gut und richtig so. Ich glaube aber, es ist an der Zeit, diese Erklärungen durch die Forderung anzureichern, daß sich in einem vereinten Europa alle Bürgerinnen und Bürger, zumindest die Bürgerinnen und Bürger des vereinten Europas, durch ihr tätiges Handeln, nämlich die Ausübung des kommunalen Wahlrechts, an der politischen Gestaltung der Gemeinden beteiligen können, in denen sie in dem vereinten Europa leben.
— Dieses ist, wie Sie wissen und eben selber angemahnt haben, ein erster Schritt, der zu tun ist. Sie wissen, daß wir uns in der SPD darüber hinaus Gedanken machen. Aber es geht hier um das kommunale Wahlrecht, und nur dies möchte ich ansprechen.
— Ja, so ist das.Ich habe, glaube ich, meine Zeit jetzt schon überzogen. Ich möchte, weil der Herr Bundesinnenminister noch hier ist und weil Sie auch so zustimmend genickt haben, Sie von der Koalition und von der Regierung noch einmal ganz dringend bitten, zur Bewältigung der Problematik der Aussiedler, der Übersiedler, der Asylsuchenden und der De-facto-Flüchtlinge — dies alles geht Sie an, Herr Zimmermann — schnellstens vom Bund aus verstärkte Hilfen über das Sonderprogramm hinaus zu leisten. Wir dürfen die Kommunen mit diesen großen Belastungen nicht weiterhin allein lassen, denn sonst sind sie nicht mehr in der Lage, ihre anderen Aufgaben zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger wahrzunehmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schroeder.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist für mich eine Freude, gerade nach Frau Hämmerle reden zu dürfen, mit der ich sonst am Donnerstagmorgen gemeinsam versuche, in Parlamentsenglisch übereinzukommen.
— Bei den Aussiedlerfragen verstehen wir uns auch in Deutsch, Frau Kollegin Hämmerle. Sie haben da Beifall teilweise auch aus der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion bekommen. Beim Ausländerkommunalwahlrecht allerdings haben wir doch etwas differenzierte Meinungen.Ich möchte mich den Aussiedlerfragen zuwenden, weil es hier in der Tat besondere Verflechtungen zwischen dem Bund und den Gemeinden gibt. Wir alle haben das Wort des Bundeskanzlers im Ohr: Wir nehmen die Aussiedler mit offenen Armen auf. — Ich hoffe, daß das auf allen Plätzen dieses Hauses Allgemeingut ist. Die Koalition redet nicht nur von der Solidarität mit den Aussiedlern, wir lassen die Gemeinden und Kreise, Frau Hämmerle, auch nicht allein, sondern wir helfen vor Ort. Das hervorragende Sonderprogramm zur Eingliederung der Aussiedler ist bereits Mitte letzten Jahres geschaffen worden, dank des Engagements des Herrn Bundesinnenministers und des Herrn Staatssekretärs Dr. Waffenschmidt, denen ich für das schnelle Handeln auch an dieser Stelle Dank sagen möchte.
Dieses Programm kann und soll auch nicht in allen Punkten vorgetragen werden, aber ich will auf vier Punkte hinweisen: erstens ein umfassendes Aussiedlerwohnungsbauprogramm, zweitens Hilfen bei der schulischen und beruflichen Eingliederung von Aussiedlern, drittens die Sprachförderung und viertens die soziale Betreuung und individuelle Beratung der Aussiedler, wo Sie ja auch, Frau Kollegin Hämmerle, ganz besonders engagiert sind.Zu Punkt eins, der Eingliederung der zumeist kinderreichen Aussiedlerfamilien. Sie haben als Deutsche freie Wohnsitzwahl. Sie kommen ins Bundesgebiet, und wir können nicht steuern, wohin sie wollen; sie wollen vor allen Dingen gerade auch in den Süden, Frau Kollegin Hämmerle, gerade nach Baden-Württemberg.
— Auch nach Nordrhein-Westfalen. — Wir wissen, daß das in einer Zeit, in der es in einigen Ballungsgebieten des Südens zugegebenermaßen Wohnungsprobleme gibt, auch in meiner Heimatstadt Freiburg und in Karlsruhe, Probleme auslöst. Da nützt den Aussiedlern der Hinweis auf leerstehenden Wohnraum in einigen Bereichen des ländlichen Raumes nicht sehr viel.Die Bundesregierung hat deshalb dieses Wohnungsbausonderprogramm schnell aufgelegt. Wenn Sie hier von Verzögerungen reden, Frau Kollegin Hämmerle, muß ich natürlich darauf hinweisen: Die Bundesregierung hat schnell gehandelt. Wenn alle Länder so schnell wie die Bundesregierung gehandelt hätten, wären wir hier ein ganzes Stück weiter.
Als erstes Bundesland hat Baden-Württemberg die Verwaltungsvereinbarung unterschrieben und seine Mittel eingebracht. Die SPD-regierten Länder waren hier am Ende des Abschlusses der Verwaltungsvereinbarung. Es wäre sehr hilfreich gewesen, wenn hier die SPD-Länder genauso wie die CDU-Länder gehandelt hätten.
Metadaten/Kopzeile:
8936 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Dr. Schroeder
Sie haben angemahnt, Frau Kollegin Hämmerle, daß 30 000 nicht ausreichen. Das Innenministerium und das Wohnungsbauministerium haben angekündigt, daß wir nächstes Jahr verstärkt mit weiteren 30 000 fortfahren. Dann haben wir genau die 60 000 Wohnungen, die Sie vorhin — wie der Städtetag — als notwendig bezeichnet haben.Dieses Bauprogramm bietet in unseren Gemeinden nicht nur eine Chance, Wohnungen zu schaffen, sondern auch eine Chance für das Baugewerbe und damit auch für Arbeitsplätze.Zweitens. Auch bei der Bewältigung anderer sozialer Aufgaben können die Gemeinden auf die Unterstützung des Bundes zählen, z. B. durch Hilfen für die schulische, berufliche und gesellschaftliche Eingliederung junger Aussiedler mittels eines Garantiefonds. Die Bewilligung der Beihilfen obliegt den Stadt- und Landkreisen, und diese Beihilfen umfassen die Ausbildungskosten und die Kosten des Lebensunterhaltes. Ich kann hier wegen der Zeit zur Sozialhilfe nicht viel ausführen. Aber hier ist gerade ein überzeugendes Beispiel einer Entlastung der Gemeinden bei den Problemen der Sozialhilfe gegeben, Probleme, die andere Kolleginnen und Kollegen ebenfalls angesprochen haben.Drittens. Durch eine umfassende Sprachförderung der Aussiedler, die nicht die erforderlichen deutschen Sprachkenntnisse besitzen, wird ebenfalls vor Ort durch den Bund bzw. durch die Bundesanstalt für Arbeit eine wichtige sachliche und finanzielle Unterstützung gewährt, und zwar durch die Gewährung von Unterhaltsgeld für den Lebensunterhalt des Kursteilnehmers und seiner Familie. Es wird nicht nur für die Dauer des Sprachkurses bei der Eingliederung geholfen, sondern die Gemeinden werden bei ihren eigenen Bemühungen, die sie in Volkshochschulen und anderen Einrichtungen erbringen, unterstützt.Viertens und letztens. Die Städte und Gemeinden stellen in jüngster Zeit in Kindergärten und Kinderhorten verstärkt Plätze für Aussiedlerkinder zur Verfügung. Der Bedarf an solchen Plätzen steigt. Auch hier haben wir eine direkte Hilfe des Bundes, indem nämlich über das Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit bis zu 80 % der Personal- und Sachkosten für die individuelle und soziale Beratung und Betreuung von Aussiedlern gewährt wird. Kirchliche Einrichtungen und andere Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege beschäftigen hier derzeit 550 hauptamtliche und 1 100 ehrenamtliche Kräfte. Diese Zahl kann mit Hilfe des Bundes verdoppelt werden.Abschließend: In dieser Kommunaldebatte konnte nur ein Teil der Eingliederungshilfen für Aussiedler dargestellt werden. Aber schon aus diesem kleinen Teil wird ersichtlich, daß sich der Bund auch im Aussiedlerbereich der Probleme nicht zu Lasten der Gemeinden entledigt, sondern daß er den Gemeinden unter die Arme greift, so wie die Gemeinden das vom Bund erwarten können.Wir vom Bund belassen es nicht bei goldenen Worten und bei nichts kostenden humanitären Appellen und Aufrufen. Letztendlich kann aber — jetzt nehme ich das, was Sie, Frau Kollegin Hämmerle, am Schluß gesagt haben, auf — das Ziel einer gesellschaftlichenund wirtschaftlichen Eingliederung der Aussiedler aus dem Osten nur erreicht werden, wenn alle Bürger bereit sind, die deutschen Landsleute aus dem Osten als gleichberechtigte Bürger zu akzeptieren und ihnen alle menschliche Hilfe zu geben, die gerade Aussiedler mehr als andere brauchen.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Zeitlmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer an der Diskussion heute vormittag teilgenommen hat, der wird erfreut die vielen Gemeinsamkeiten der Kollegen aus den verschiedenen Fraktionen zum Thema Kommunalpolitik zur Kenntnis genommen haben. Ich will auf einige Punkte eingehen, von denen ich meine, daß es dort Widersprüche gibt.Herr Kollege Lüder, es wird noch sehr starke Widersprüche geben, was die Frage der Abschaffung der Gewerbesteuer anlangt. Ich meine, es ist etwas widersprüchlich, hier apodiktisch die Abschaffung der Gewerbesteuer zu fordern, aber gleichzeitig keine angemessene Alternative anzubieten.
Ich möchte einige Anmerkungen zur Frage der Sozialkosten machen. Das stellt ja trotz der sehr positiven Zahlen, was die Finanzausstattung der Gemeinden angeht, gerade in diesem Jahr doch eines der großen Probleme dar. Ich meine, wenn man mit den Kommunalpolitikern vor Ort diskutiert hat, dann kann man, was die Gründe der Steigerung der Sozialkosten anlangt, ein Thema hier auf gar keinen Fall ausklammern: Das ist das Thema Asyl. Ich möchte von hier aus gerade auch an die Kollegen aus den anderen Fraktionen den dringenden Appell richten, auf ihre Innenpolitiker einzuwirken, daß wir in der Frage, wie dem Mißbrauch des Asylrechts begegnet werden kann, endlich weiterkommen, daß wir zur Sache kommen können und daß dabei die Polemik vielleicht etwas zurücktritt. Wir werden um gesetzliche Maßnahmen zur Eindämmung dieses Mißbrauchs nicht herumkommen.
Gestatten Sie mir einige Bemerkungen zu der Frage, warum die Kosten der Sozialhilfe im kommunalen Bereich gewachsen sind. Sie sind ganz allgemein in den Jahren von 1966 bis 1986, in denen Sie von der SPD ja auch Verantwortung getragen haben, kräftig gewachsen. Die Zahl der Empfänger von Sozialhilfe ist um 109 % gestiegen; die Ausgaben für Sozialhilfe sind in dem genannten Zwanzig-Jahres-Zeitraum um 900 % gestiegen.Ich will Ihnen die Gründe für diese Steigerungen nennen. Zuvor muß jedoch klar gesagt werden, daß in den 70er Jahren die stärkste Zunahme mit Steigerungsraten zwischen 14 und 20 % zu verzeichnen war.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8937
ZeitlmannAls Gründe für diese Kostensteigerungen sind viele Bereiche heranzuziehen, die außerhalb des eigentlichen Sozialhilferechts liegen. Ich nenne nur Stichworte : Steigerung der Lebenshaltungskosten, letztlich auch das Verbraucherverhalten im sozialen Bereich, die Preise bei den Heim-, Pflege- und Gesundheitskosten und natürlich die Arbeitslosenzahl, die in den Jahren 1973 und 1974 und entscheidend in den Jahren 1980 und folgende gestiegen ist.Man muß, glaube ich, auch eines sehen: Der Bund hat sich hier nicht seiner Verantwortung entzogen. Wenn Sie sich die Leistungen des Bundes im Rahmen der Arbeitslosenhilfe vor Augen führen, dann, so meine ich, hat sich der Bund hier durchaus seiner Verantwortung gestellt.Weitere Gründe für diese Kostensteigerungen liegen sicherlich auch in der Altersstruktur. Die Pflegebedürftigkeit gerade der über 75jährigen hat natürlich zugenommen. Zugenommen hat auch die Zahl der Alleinerziehenden, und zwar auf Grund gestiegener Scheidungsraten. Aus diesem Grunde ist natürlich auch vermehrt Sozialhilfe in Anspruch genommen worden.Zu der Zunahme der Zahl von Asylsuchenden habe ich mich bereits geäußert.Meine Damen und Herren, ich glaube, daß die Gesundheitsreform, die wir vor kurzem verabschiedet haben, mit einem Einstieg in bezug auf die Pflegekosten sicherlich eine Entlastung zur Folge haben wird, und zwar auch was die soziale Situation in den Kommunen angeht.Ich bin der Auffassung, daß zur finanziellen Besserstellung der Kommunen die Tatsache beigetragen hat, daß es in den sechs Jahren der CDU/CSU/FDP-Regierung gelungen ist, zusätzlich eine Million Arbeitsplätze zu schaffen. Nicht zuletzt auf Grund der Beteiligung an der Lohn- und Einkommensteuer haben dies natürlich auch die Gemeinden verspürt.Ich möchte aber auch noch auf folgendes hinweisen: Auch das heute schon angesprochene Strukturhilfegesetz, nach dem in einem Zeitraum von zehn Jahren 2,4 Milliarden DM an die Länder gezahlt werden — verbunden mit dem klaren Wunsch des Gesetzgebers, davon etwas an die Kommunen weiterzugeben — , entspricht der Verantwortlichkeit des Bundes für die Kommunen.Ich möchte nicht abschließen, ohne noch einen Teilbereich des sozialen Netzes zu erwähnen, den ich aus meiner kommunalpolitischen Erfahrung heraus für ganz wesentlich halte, nämlich den großen Bereich der ehrenamtlichen Tätigkeit. Wenn sich die ehrenamtliche Tätigkeit beziffern ließe und wir vielleicht irgendwann dies bezahlen müßten, dann wäre das soziale Netz zerrissen, komplett zerrissen. Ich kenne es aus der untersten Ebene der Kommunen. Deswegen, meine ich, ist es richtig, hier als abschließenden Satz einen großen Dank des Hauses an alle auf der kommunalen Ebene ehrenamtlich Tätigen im sozialen Bereich auszusprechen und sie zu bitten, in ihren Bemühungen fortzufahren.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3909. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Entschließungsantrag mit Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag der Kommission für eine Entscheidung des Rates über ein spezifisches Forschungsprogramm im Gesundheitsbereich: Prädiktive Medizin: Analyse des menschlichen Genoms
— Drucksachen 11/3021 Nr. 2.11, 11/3555 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Seesing Catenhusen
Kohn
Frau Schmidt-Bott
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Zeit von 30 Minuten vorgesehen worden. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ein äußerst ernstes Thema, das wir in den kommenden 30 Minuten beraten wollen. Es geht um die prädiktive Medizin, also um die voraussagende Medizin. Was will Medizin voraussagen?Man kann davon ausgehen, daß viele weitverbreitete Krankheiten in der westlichen Welt auf einem Defekt bestimmter Gene in den Körperzellen beruhen. Man sagt, daß diese Krankheiten, wie z. B. Herzkranzgefäßerkrankungen, Diabetes, Sichelzellenanämie oder Immunschwäche, eine genetische Komponente haben. Sie können ausbrechen, wenn die wegen ihrer genetischen Struktur anfälligen Menschen bestimmten Umweltbelastungen ausgesetzt werden.Aufgabe der prädiktiven Medizin soll es sein, Menschen mit einer solchen genetischen Empfänglichkeit festzustellen und ihre Erbkrankheit — um eine solche handelt es sich nämlich — früh zu erkennen. Damit sollen eine bessere Behandlung oder gar eine Verhütung der Krankheit ermöglicht werden. Hierzu soll das Verfahren der Genomanalyse dienen. Sie ermöglicht, daß zunächst die Forscher, später vielleicht viele Ärzte, die Erbanlagen des Menschen wie in einem Buch lesen können, wenn man das so sagen will. Die Technik der Genomanalyse auch bei einem Menschen ist bekannt.Der Deutsche Bundestag wird sich in den nächsten Wochen noch intensiv mit den Chancen und Risiken der Genomanalyse befassen müssen. Ich halte den Beratungs- und den Handlungsbedarf für recht groß. Es ist gut, daß eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Ge-
Metadaten/Kopzeile:
8938 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Seesingnomanalyse" ihre Arbeit aufgenommen hat. Sie soll sich mit einer Reihe von Themenbereichen befassen. Dazu gehören genetische Beratung, pränatale Diagnostik, Neugebornen-Screening, Genomanalyse an Arbeitnehmern, Genomanalyse im Strafverfahren und Öko- und Pharmakogenetik.Ökogenetik meint genetische Veranlagungen, die durch Umweltbelastungen eine Krankheit aufbrechen lassen können. Unter der Pharmakogenetik verstehen wir die Feststellung, daß bestimmte außergewöhnliche Reaktionen auf Arzneimittel z. B. genetisch bedingt sind. Wenn man das Genbild des betreffenden Menschen kennt, kann man die Zuführung solcher Arzneimittel und damit Krankheit oder gar Tod verhindern.Die Europäischen Gemeinschaften möchten nun mit einem Programm „Prädiktive Medizin" die Analyse des menschlichen Genoms vorantreiben. Es soll versucht werden, bestimmte genetisch bedingte Krankheitsveranlagungen eines Menschen frühzeitig zu erkennen. Wenn wir tatsächlich wollen, daß persönliche Veranlagungen für bestimmte Krankheiten so früh wie möglich erkannt werden, damit Lebensweise und medizinische Behandlung noch greifen, dann werden wir auch die Genomanalyse bejahen müssen. Ich für meine Person tue das.Ich mache aber deutlich, daß noch viele Fragen ungelöst sind. So muß der Schutz des einzelnen Menschen vor der Ausforschung seines Seins gesichert sein. Ich begrüße im Grunde auch europäische Anstrengungen, die vielfältigen Forschungsansätze zusammenzufassen, die wir in diesem Bereiche kennen.Die Zielrichtung des vorgesehenen EG-Programmes muß ich aber ablehnen. Sie wird im folgenden Satz deutlich:Zusammengefaßt zielt prädiktive Medizin darauf ab, Personen vor Krankheiten zu schützen, für die sie von der genetischen Struktur her äußerst anfällig sind, und gegebenenfalls die Weitergabe der genetischen Disponiertheit an die folgende Generation zu verhindern.Bei der Realisierung solcher Vorstellungen sind dem Mißbrauch Tor und Tür geöffnet.
Ich befürchte, daß der Wert menschlichen Lebens immer stärker an seinen genetischen Merkmalen gemessen wird. Wir können ein Denken in diese Richtung nicht verhindern. Wir können aber verhindern, daß aus diesem Denken ein Handeln wird.
Wie verhindere ich denn die Weitergabe krankhafter Gene an die nächste Generation? Am sichersten doch wohl, wenn ich dieses Leben töte. Ein Embryo wird dann vielleicht nur noch unter der Voraussetzung ausgetragen, daß sein günstiges Genbild förderungsfähig wird. Wer entscheidet über die Konsequenzen, die aus diesem Denken zu ziehen sind? Meine Damen und Herren, ich habe äußerst große Sorge, daß man dann werdende Mütter zur Abtreibung zwingt, wenn ihr Embryo vielleicht eine Krankheitsveranlagung aufweist, wenn ein behinderter Mensch geboren werden kann, vielleicht. Man spart ja Gesundheitskosten. Das kann man auch im Kommentar zu diesem Programm lesen. Müssen sich später vielleicht Behinderte oder Kranke gegen die Anklage wehren, sie dürften ja eigentlich gar nicht leben. Ihre Eltern hätten schließlich gewußt, daß sie die Gesellschaft mit einem solchen Menschen belasten würden.Ich will, daß Wissenschaft, Forschung und Medizin alle nur denkbaren Wege gehen, um menschliches Leben zu erhalten, Krankheiten zu verhindern und zu heilen. Sie sind aber nicht Herren oder Herrinnen über das Leben. Ich wehre mich gegen den perfekten Menschen. Ich möchte, daß es auch in Zukunft Menschen mit Vorzügen und Fehlern gibt, Menschen eben. Wir, meine Damen und Herren, sind dazu aufgerufen, ihre Würde und ihr Leben zu sichern.
Das Wort hat der Abgeordnete Catenhusen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor dreißig Jahren als Gymnasiast habe ich ein Buch mit dem schönen Titel gelesen: Umsturz im Weltbild der Physik. Ich habe damals erfahren, wie sehr die Erkenntnisfortschritte der atomaren Physik unsere Vorstellungen vom Anfang und Ende der Welt verändert haben. Denn nicht nur das Können des Menschen, etwa die Fähigkeit zum Bau der Atombombe, wuchs mit der Atomphysik sprunghaft an. Auch unser Weltbild hat sich durch die moderne Naturwissenschaft insgesamt in den letzten Jahrzehnten fundamental verändert.Die Gentechnologie gibt uns das Handwerkszeug, daß wir Menschen in neuer Geschwindigkeit und Genauigkeit Erbinformationen — auch die des Menschen — erkennen, lesen und über Artengrenzen hinweg austauschen können. Diese Entwicklung hat uns schon zu einer rapiden Erweiterung unseres Könnens und auch der Gefährdungen, die wir selbst verursachen, geführt. Das neue Wissen und Können in der Gentechnologie beginnt aber auch unser Bild vom Leben, von der Natur, aber auch unser Verständnis von uns selbst in Frage zu stellen. Der Mensch, ist er wirklich ein Geschöpf Gottes, wo er sich doch selbst zum Schöpfer aufschwingen könnte? Kann der Mensch einmal dort technisch endlich die Eigenschaften, die uns heute zu einem fehlerhaften, fehlenden, leidenden Menschen machen, regulieren, beeinflussen oder gar aufheben?Forschung an menschlichen Genen findet auch in der Bundesrepublik Deutschland seit längerem statt, mit im Einzelfall durchaus sinnvollen Fragestellungen und Zielsetzungen. Es ist etwa für uns alle wichtig, zu erkennen, welche Gene beim Menschen das Zellwachstum steuern und welche Gene damit bei Störungen für das Krebswachstum von Zellen verantwortlich sind. Wir haben bereits Gene des Menschen gefunden, die die Information für die Produktion von Inhaltsstoffen des menschlichen Blutes tragen. Wir brauchen dieses Wissen, um diese Inhaltsstoffe endlich sicher gewinnen zu können, die an Blutkrankhei-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8939
Catenhusenten leidende Menschen dringend brauchen. Es geht darüber hinaus aber auch um die Suche nach einzelnen Genen, die für das Ausbrechen schwerer, nicht behebbarer Erbkrankheiten verantwortlich sind. Genomforschung, meine Damen und Herren — da möchte ich Ulrich Beck in seinem Essay im „Spiegel" widersprechen — ist nicht per se, ist nicht automatisch Eugenik. Ich stimme aber Ulrich Beck sehr wohl zu, wenn er schreibt:Auf diese Weise können auch Vorstellungen vom „lebenswerten" und „lebensunwerten" Leben, die noch im kollektiven Unterbewußtsein schlummern, durch den Duft der technischen Möglichkeiten geweckt werden.Dieser Duft ist in letzter Zeit verstärkt in der Öffentlichkeit zu spüren.Nur gilt für mich hier das, was auch schon für die Auseinandersetzung um medizinische Mißbräuche im Dritten Reich, um Menschenversuche in der Medizin galt: Die Ideologie des Rassismus, die Vorstellung von der Verbesserung des Menschen durch Zucht, durch Selektion und Manipulation muß auf der ideologischen und politischen Ebene bekämpft werden. Ein Verbot der modernen Naturwissenschaften und Medizin scheint mir nicht der richtige Ansatz zu sein, die Idee der Eugenik und des Rassismus aus unserer Gesellschaft zu verbannen. Wir müssen dafür sorgen, meine Damen und Herren — auch das ist sicherlich eine Lehre aus dem Dritten Reich — , daß Wissenschaft, die den Menschen selbst betrifft, in ethische Zielsetzungen eingebunden werden und bleiben muß.Das von der Europäischen Kommission vorgelegte Forschungsprogramm „Prädiktive Medizin" hat zu Recht massive Kritik und Protest in der deutschen Öffentlichkeit und in den Medien hervorgerufen. Was auch mich bestürzt, ist seine Zielsetzung und ist seine Begründung: die Vision einer eugenisch ausgerichteten Medizin und Gesundheitspolitik auf europäischer Ebene. Haben die Schreiber die EG wirklich als Organisator von Massenuntersuchungen der Bevölkerung hin auf Risikofaktoren gesehen, von Risikofaktoren, die Menschen anfälliger gegen Umweltbelastungen machen könnten als andere? Der Text läßt doch wohl keine andere Deutung zu. Soll etwa diesen Menschen künftig ein gesundheitlich vernünftiges Verhalten als Zwang gesellschaftlich aufdiktiert werden?Es ist auch für mich unfaßbar, daß in einem offiziellen Dokument der Europäischen Kommission der unsägliche Satz formuliert wurde: „gegebenenfalls die Weitergabe der genetischen Disponiertheit an folgende Generationen zu verhindern" . Die EG als Vorbereiter eugenisch orientierter Abtreibungsprogramme, meine Damen und Herren, das kann und darf nicht sein.
Ich bin aber auch nicht zufrieden mit dem zynischen Kommentar, da werde endlich einmal ausgesprochen, was eigentlich Sache in der Wissenschaft sei, hier würden sozusagen die wahren Beweggründe enttarnt, die die Wissenschaftler trieben. Zumindest weiß ich aus vielen Diskussionen und Gesprächen mit deutschen Medizinern und Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, auch durch meine Mitarbeit in der zentralen Kommission der Bundesärztekammer, daß in der deutschen Wissenschaft der Mißbrauch der medizinischen Forschung im Dritten Reich bei vielen nicht vergessen wird. Es gibt auch eine Reihe ausländischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die über derartige Äußerungen beunruhigt sind. Aber wir müssen in unserer Diskussion in der Bundesrepublik ganz nüchtern konstatieren, wie unbefangen das Verhältnis in der angelsächsischen Öffentlichkeit und bei vielen Wissenschaftlern aus diesen Ländern zu einer eugenischen Denkweise ist, die dort ja eine lange und leider ungebrochene Tradition hat.Ich möchte für meine Fraktion unterstreichen, daß das Ziel und die Begründung des Forschungsprogramms „Prädiktive Medizin" unakzeptabel sind.
Wir begrüßen es sehr, daß sich heute der gesamte Deutsche Bundestag diese Kritik zu eigen machen will. Wir fordern Sie auf, Herr Minister Riesenhuber, sich dafür einzusetzen, daß die eugenische Begründung und Zielsetzung des Forschungsprogramms zurückgenommen wird. Ein EG-Forschungsprogramm, das der Entwicklung einer eugenisch orientierten Gesundheitspolitik in der EG dienen könnte, ist für uns nicht akzeptabel. Wir meinen auch, Herr Minister, daß Sie ohne eine Veränderung des Forschungsprogramms in diesem Sinne dem Programm nicht zustimmen dürfen.Das geplante EG-Programm mit seinen 15 Millionen Rechnungseinheiten spielt aber in der weltweiten Genomforschung so gut wie keine Rolle. Es ist absurde Hochstapelei, in einem solchen Programm die Antwort Europas auf die japanische und amerikanische Herausforderung zu sehen; denn hier geht es um ganz andere dramatische Entwicklungen und Größenordnungen. Sequenzierautomaten haben längst Einzug in die menschliche Genomforschung gehalten. Stolz vermeldete gestern die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" — ich zitiere —:Die Erbsubstanz DNS unter dem Rastertunnelmikroskop: Die Struktur des spiralförmigen Moleküls haben Wissenschaftler der Universität von Kalifornien erstmals sichtbar gemacht.Dieses Mikroskop, meine Damen und Herren, soll weiter so verbessert werden, daß dann auch die einzelnen Basenpaare eines DNS-Moleküls sichtbar und damit fotografierbar gemacht werden können,Ein solches Verfahren — so schließt der Bericht —könnte die geplante Kartierung des menschlichen Erbgutes wesentlich vereinfachen.Die Genkarte des Menschen ein Fotoalbum? Meine Damen und Herren, darüber hatte ich noch nicht nachgedacht.Weltweit, meine Damen und Herren, das ist meine Sorge, beginnt sich die Forschung an menschlichen Genen von durchdachten wissenschaftlichen und medizinischen Fragestellungen und von jeglichen ethischen Bindungen zu lösen. Nun gilt es wieder: Wer
Metadaten/Kopzeile:
8940 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Catenhusenwird Sieger im Wettkampf um die erste vollständige Genkarte? Das Genkartenprojekt wird in Japan massiv gepusht, um die Stärke der japanischen Industrie im Apparategeschäft zu demonstrieren. Heißt es bald auch bei uns: Wer ist der erste? Fuji und Seyko vielleicht oder Bayer, Agfa und Siemens? Und schon beginnt auch bei uns der bei wissenschaftlich technischen Großprojekten so wirksame Mechanismus zu greifen: Wir dürfen uns nicht abkoppeln, wir müssen wettbewerbsfähig bleiben. Was die anderen tun, müssen auch wir tun. Wie man hört, haben ja auch mittlerweile deutsche Wissenschaftler dem Bundesforschungsministerium in einer Denkschrift vorgeschlagen, 15 Jahre lang jährlich 100 Millionen DM für die deutsche Antwort auf die amerikanische und japanische Herausforderung im Wettlauf um die Entschlüsselung menschlicher Erbanlagen auszugeben. Auch die Sowjetunion ist mittlerweile mit 10 Millionen Dollar in das Geschäft eingestiegen.Ich wiederhole: Ich möchte Genomforschung nicht verteufeln. Es ist aber unakzeptabel, daß ohne durchdachte wissenschaftliche Fragestellungen und medizinische Zielsetzungen das Tempo der Entschlüsselung des menschlichen Genoms in unvorstellbarer Weise beschleunigt werden soll.
Wir brauchen keinen Genrausch. Wir brauchen auch keinen Wettlauf, welcher Forscher, welches Land als erstes seine Fahne am Nord- oder Südpol der Genkarte des Menschen aufpflanzen kann, werden hier doch Verfahren und Methoden vorbereitet, mit denen künftig Daten über die gesundheitliche Disposition von Menschen gewonnen werden können. Es geht hier um Daten, die in elementarster Weise die Persönlichkeit eines Menschen und damit sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung berühren. Hier können wir doch nicht den Weg gehen, einen Riesendatenberg über Menschen anzuhäufen und anschließend die Frage zu stellen, was wir mit diesem Datenberg eigentlich anfangen sollen.
Hier, meine Damen und Herren, werden Methoden im Schnellverfahren vorbereitet, die künftig für die vorgeburtliche Diagnostik und für die Genomanalyse in der Arbeitswelt nutzbar gemacht werden können. — Kollege Seesing hat auf die ethischen, moralischen und sozialen Probleme dieser möglichen Anwendung der Genomanalyse hingewiesen. — Könnte nicht gerade die maßlose Aufblähung der Genkartenforschung das uns bewußte ethische Dilemma dramatisch verstärken, daß wohl unser Wissen über genetische Dispositionen und über Methoden ihrer Erkennung zunimmt, ohne daß unsere Möglichkeiten zum Heilen durch intensive Forschungsanstrengung in gleichem Maße steigen? Ich denke, Herr Minister Riesenhuber, es dürfen hier keine Entscheidungen über nationale Schwerpunktprogramme auf diesem Gebiete getroffen werden, bevor nicht der wissenschaftliche Sinn und Nutzen und die ethische Einbindung eines solchen Projektes kritisch geprüft und hinterfragt werden, bevor nicht diese Frage öffentlich und auch im Parlament erörtert werden kann, ob hier überhaupt vertretbare Prioritäten in der Forschungsförderung gesetzt werden können. Ich darf meine Skepsis schon hier anmelden.Meine Damen und Herren, zum Abschluß möchte ich darauf hinweisen, daß wir uns bewußt sein müssen, daß wir viel schneller, als wir vielleicht noch vor ein bis zwei Jahren geglaubt haben, feste Regeln brauchen, ob und zu welchem Zweck genetische Daten an Menschen erhoben und ausgewertet werden dürfen. Wir sind im Bundestag an der Arbeit, die Bund-Länder-Gruppe ist an der Arbeit.Meine Damen und Herren, wir wissen aber alle, daß wir auch eine EG-weite Verständigung brauchen. Lassen Sie mich da mit einer Schlußbemerkung enden. Unsere Vorstellung von menschlicher Würde, die uns in dieser Debatte im Bundestag verbindet, ist ja nicht nur unserem Grundgesetz eigen. Sie ist auch ein gemeinsames Erbe christlicher und aufklärerischer europäischer Tradition. Dies stelle ich hier fest, obwohl ich weiß, wie stark die Auffassungen über die sozialen und ethischen Implikationen der Gentechnik in den westeuropäischen Ländern in Wirklichkeit auseinandergehen. Aber, meine Damen und Herren, wir müssen den mühsamen Versuch unternehmen, auch auf europäischer Ebene eine gemeinsame Basis dafür zu finden, daß die Würde des Menschen gegen ihre Gefährdungen durch neue Methoden der Genomanalyse wirksam geschützt wird. Das neue EG-Forschungsprogramm, meine Damen und Herren, könnte diesen Versuch schon zu Anfang erschweren, wenn nicht gar zerstören.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Kohn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Analyse des menschlichen Genoms zur Identifizierung von Genen, die für Krankheiten verantwortlich sind, wird, wie wir wissen, weltweit vorangetrieben. Es gibt solche Programme in den Vereinigten Staaten und in Japan. In der Hand verantwortungsbewußter Ärzte kann die Genomanalyse ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung von Krankheiten werden. Kollege Seesing hat hier ausführlich dargestellt, welches Potential in dieser Methode steckt. Von daher macht der EG-Vorschlag eines Forschungsprogramms zur Analyse des menschlichen Genoms Sinn.Völlig unakzeptabel — ich wiederhole: völlig unakzeptabel — für uns Liberale ist jedoch die Begründung der EG-Kommission für dieses Programm. Und es bedarf nun gewiß keiner hermeneutischen Zwangsmaßnahmen, um den eugenischen Begründungszusammenhang herzustellen, auf den hier schon hingewiesen wurde. Wenn es dort heißt — ich zitiere —:Zusammengefaßt zielt prädiktive Medizin darauf ab, Personen vor Krankheiten zu schützen, für die sie von der genetischen Struktur her äußerst anfällig sind, und gegebenenfalls die Weitergabe
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8941
Kohnder genetischen Disponiertheit an die folgende Generation zu verhindern.— dann ist an dieser Stelle genau der Punkt erreicht, an dem wir uns gemeinsam gegen eine solche Konzeption wenden müssen.Vielleicht sind wir in Deutschland vor dem Hintergrund der Mißachtung der Menschenrechte und der Menschenwürde in den Jahren 1933 bis 1945 in diesen Fragen übersensibel, wie uns ja von manchen aus der EG-Kommission vorgehalten wird. Aber diese Kritiker frage ich: Ist es nicht besser, wenn wir in Deutschland in dieser Frage sensibel, vielleicht sogar übersensibel sind, als wenn wir Deutsche die Erfahrungen, die wir in dem Zeitraum von 1933 bis 1945 gemacht haben, verdrängen würden?
Deshalb bleiben wir dabei: Gegen einen eugenischen Mißbrauch der Genomanalyse werden wir uns mit aller Kraft zur Wehr setzen. Wir bitten unsere Nachbarn in Europa um Verständnis dafür und um ein Sich-Einlassen auf die Argumente und die Beweggründe, die uns zu dieser Position gebracht haben. Die Menschenwürde des Individuums und die Menschlichkeit einer Gesellschaft machen die Bekämpfung von Krankheiten nötig. Aber sie verbieten alles, was auch nur entfernt auf den Weg zu einer Menschenzüchtung führen würde.Wir haben in der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie" eine ganze Anzahl konkreter Bedingungen genannt, die erfüllt sein müssen, wenn Genomanalyse in bestimmten Feldern angewendet werden soll. Dazu zählen aus unserer Sicht insbesondere das Prinzip der Freiwilligkeit und das Prinzip des Datenschutzes; denn — auch hierauf ist schon hingewiesen worden — hier geht es um Daten von ganz besonders sensiblem Charakter.Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt hinweisen, der für uns ebenfalls nicht akzeptabel ist. In dem Vorschlag der EG-Kommission heißt es: „In Westeuropa mit einer Bevölkerung mit zunehmendem Durchschnittalter und einem damit verbundenen stetigen Kostenanstieg im Gesundheitswesen sind diese Methoden besonders attraktiv."Auch dies ist für uns nicht akzeptabel, weil hier der Grundsatz verletzt wird, der doch über unser aller Handeln stehen muß, daß der Mensch niemals Mittel zu einem Zweck sein darf, gerade nicht unter Kostengesichtspunkten, sondern immer Selbstzweck sein muß.
Ich bitte die Kommission, auch dies zu revidieren.Welche Probleme mit Genomanalyse und pränataler Diagnostik verbunden sind, sehen wir ja schon an den heutigen Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik, etwa in einem anderen kulturellen System wie in Indien, wo das Lebensrecht von Frauen und Mädchen bestritten wird, wo nämlich bereits eine Selektion erfolgt, weil man keine Mädchen als Kinder haben will. Das zeigt doch deutlich, auf welche schiefe Ebene man sich begibt, wenn man hier nicht rechtzeitig den Anfängen wehrt.
Das Lebensrecht jedes Menschen, unabhängig von seiner genetischen Konstitution, darf niemals bestritten werden. Deswegen bitten wir die Bundesregierung, in der EG-Kommission mit Nachdruck diese Position, die wir erfreulicherweise gemeinsam über alle Fraktionsgrenzen hinweg in diesem Haus vertreten, durchzusetzen. Das ist für uns die Voraussetzung für eine Zustimmung zu diesem Forschungsprogramm.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt-Bott.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Antwort auf Japan und die USA will Europa in ein 30-Milliarden-Projekt zur Analyse des menschlichen Genoms, genannt prädiktive Medizin, einsteigen. Die genaue Abfolge der über 3 Milliarden chemischer Bausteine soll mit Hilfe gigantischer Computervernetzungen und -analysen festgestellt werden, um 50 000 bis 100 000 Gene entschlüsseln zu können.Für Humangenetiker, die unsere Krankheiten, Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen nur auf die Gene reduzieren wollen, dies aber nicht so richtig überzeugend können, verspricht ein Traum wahr zu werden. Magengeschwüre, Rheuma, Diabetes, Psychosen, Epilepsie, Schizophrenie, ja auch Alkoholismus, Spielsucht, kriminelles Verhalten, Schüchternheit, Homosexualität, für alles werden die Gene verantwortlich gemacht, die endlich gefunden werden sollen.Europaweit sollen mit Hife von Reihenuntersuchungen genetische Veranlagungen mit dem Ziel aufgedeckt werden, „gegebenenfalls die Weitergabe der genetischen Disponiertheit an die folgende Generation zu verhindern" .Das ist negative Eugenik. Traditionell wird negative Eugenik als die Verhinderung erbkranken Nachwuchses definiert. Wir erleben derzeit eine Modernisierung der Begrifflichkeit: Statt „erbkrank" heißt es nun „genetische Disponiertheit".Wie die Weitergabe dieser angeblich genetisch bedingten Disponiertheit verhindert werden soll, geht aus dem Programm natürlich nicht hervor. Aber einige Methoden aus der klassischen Eugenik sind dafür sicher noch ganz brauchbar. Neue werden hinzukommen. Herr Seesing, Herr Kohn und, ich glaube, auch Herr Catenhusen, da stellt sich gar nicht unbedingt das Problem der Abtreibung. Mit Sterilisation geht's eleganter — das ist ja bekannt.Das Programm zur prädiktiven Medizin beruht auf der Weltanschauung, daß sich der Mensch der modernen Industriegesellschaft anzupassen hat. Nicht die Belastungen der Luft, der Lebensmittel, des Wassers, nicht der Streß am Arbeitsplatz oder der Streß über den nicht vorhandenen Arbeitsplatz, auch nicht die zahlreichen Arztfehler oder die durch Raserei venir-
Metadaten/Kopzeile:
8942 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Frau Schmidt-Bottsachten Verkehrsunfälle werden als Ursachen für Krankheiten anerkannt und bekämpft, sondern die angeblich dafür verantwortlichen Gene. Herr Zimmermann freut sich vielleicht schon auf die Identifizierung des Gens, welches kritisches Denken bewirkt.
Die prädiktive Medizin ist die moderne Weiterentwicklung der klassischen Eugenik. Sie argumentiert auch damit, sowohl individuelles Leid als auch soziale Kosten ersparen zu wollen. Das Programm wird damit begründet, daß — ich zitiere — „durch die Entwicklung einer prädiktiven Medizin zahlreiche Krankheiten zurückgehen werden, die für den Patienten und seine Familie sehr belastend und in sozialer Hinsicht für die Gemeinschaft sehr kostspielig sind" . Die Wohltäter-Mafia stirbt nicht aus!Die prädiktive Medizin setzt die Eugenik in neuem Gewand fort. Der Wissenschaftssoziologe Ulrich Beck beschreibt das Problem so:Die Gefahr liegt darin, daß die Eugenik, die uns droht, alle Kennzeichen einer finsteren Verschwörung abgelegt hat und das Kostüm von Gesundheit und Produktivität trägt.Das neue Kostüm — oder besser: der neue Anzug — von Gesundheit und Produktivität ist den EG-Kommissaren noch nicht so ganz auf den Leib geschneidert; die vergilbten langen Unterhosen gucken noch heraus. In ihrer Begeisterung über dieses Vorhaben müssen sie sich der Akzeptanz so sicher gewesen sein, daß sie gar nicht mehr versucht haben, die eindeutigen und offensichtlichen eugenischen Absichten dieses Programms zu umschreiben.Diese unverblümte Offenheit wollten die SPD und die Regierungskoalition nicht teilen. Sie stellten daher im Ausschuß für Forschung und Technologie den Antrag, daß die eugenische Begründung des Forschungsvorhabens zurückgenommen wird. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Nicht der Inhalt des Programms stieß auf Kritik; allein die so ehrlich formulierte Begründung verursachte Bauchschmerzen.Wenn hier heute — von Herrn Catenhusen noch einmal besonders betont — auch die Zielsetzung des Programms kritisiert wird, frage ich alle anderen Fraktionen hier im Hause, warum dann die Beschlußempfehlung der Mehrheit im Ausschuß nach wie vor so lautet, wie sie hier vorliegt, und nicht entsprechend geändert worden ist. Es geht bei diesem Programm — das sage ich speziell noch einmal Herrn Seesing, der, glaube ich, dazu etwas gesagt hat — nicht um den Mißbrauch, sondern der Gebrauch der Eugenik ist das, was wir alle ablehnen müßten.
Wir tun es.
Das Wort hat der Bundesminister für Forschung und Technologie.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Ich bedanke mich für die Reden aus den Koalitionsfraktionen und der sozialdemokratischen Fraktion. Sie zeigen bei großer Sensibilität eine grundsätzliche Übereinstimmung. Dies belegt auch die Beschlußempfehlung des Forschungsausschusses. Die Beschlußempfehlung steht im Grundsatz für den Willen, eine neue Technik zu ergreifen, aber gleichzeitig festzustellen, wo die ethischen Grenzen sind, wo unsere Verantwortung Grenzen zu setzen hat, wo wir gegebenenfalls auch durch das Gesetz Grenzen erkennbar machen müssen.
Der Verantwortung stellt sich nicht, wer die Technik verweigert. Die Aufgabe besteht darin, das, was an Wissenschaft und Technik neu entsteht, in einer vernünftigen Weise zu gestalten.
Ich unterstreiche ausdrücklich einige Aussagen, die hier gemacht worden sind. Genomanalyse darf nicht für eine eugenisch orientierte Gesundheitspolitik eingesetzt werden. Zur Durchführung des Programms gehört eine ethische und rechtliche Bewertung und Begleitung. Ein Eingriff in menschliche Keimbahnzellen darf nicht sein. Freiwilligkeit und Datenschutz — der Kollege Kohn hat darauf hingewiesen — müssen bei der Genomanalyse gesichert sein. Dies ist der Rahmen, in dem wir uns bewegen.
Das ist noch nicht die Rechtfertigung des Programms. Hierzu hat Herr Seesing Grundsätzliches gesagt, was von Herrn Catenhusen und auch von Herrn Kohn ergänzt worden ist. Die Rechtfertigung ist, daß wir hier eine einzigartige Möglichkeit haben, Leid zu lindern, menschliches Leid anzugehen, Krankheiten zu verstehen, die wir bis jetzt nicht verstanden haben, und damit einen Schritt in Richtung Heilung zu tun.
Die Spannweite zwischen den Möglichkeiten der Diagnose und der Therapie, über die Herr Catenhusen nachdenklich gesprochen hat, ist ein grundsätzliches Problem. Ich bin ohne jede Illusion, daß wir auf dem Wege dieser Wissenschaft noch ethische Probleme ganz unterschiedlicher Art haben werden, von der pränatalen Diagnostik über die Frage der Anwendung auf den Arbeitsplatz bis zur Frage der Sicherheit. Klar ist, daß so etwas nicht durchschlagen darf, beispielsweise in Versicherungssysteme, beispielsweise in die Bewertung von Menschen, beispielsweise in Vorwürfe an Menschen — worauf Kollege Seesing hingewiesen hat —, etwa dadurch, daß die Diskussion, ob Leben lebenswert sei, wieder geführt werden kann. Dies darf grundsätzlich nicht sein. Das gehört zum Grundbestand der Gemeinsamkeiten, aus denen wir leben.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Wieczorek-Zeul? — Bitte schön.
Herr Minister, ich wüßte gerne, wenn der jetzt vorgelegte Entwurf im Ministerrat anstünde, ob Sie ihm dann in der jetzt vorliegenden Form zustimmen oder ob Sie ihn ablehnen würden?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8943
Frau Wieczorek-Zeul, ich werde genau der Linie folgen, die ich hier erklärt habe. Die Eckpunkte, die ich genannt habe, müssen in der Sache und in der Begründung gewährleistet sein. Dies ist die Bedingung dafür, daß wir dieser Sache zustimmen können.
Dies ist die Linie, die die Bundesregierung seit 1982 eingehalten hat. Die Diskussion über die Anwendung neuer Medizintechnik und Gentechnologie auf das menschliche Erbgut war damals nicht vorhanden.
Unsere Konferenz im Jahr 1983 hat Wissenschaftler zusammengeführt, Geisteswissenschaftler und Naturwissenschaftler. Sie haben uns gesagt, was wir können werden und was wir dürfen. Ich bin mit Entschiedenheit für die Freiheit der Forschung, denn wenn sie nicht frei ist, dann ist sie tot; aber sie hat ihre Grenze dort, wo die Würde des Menschen berührt wird. Dies immer neu zu erkennen, festzustellen und sichtbar zu machen, ist eine der entscheidenden Aufgaben, die in einem offenen und umfassenden Dialog zwischen Philosophen, Theologen, Naturwissenschaftlern, Medizinern und Biologen aufgearbeitet werden muß.
Ich bin sehr dankbar, daß in dieser menschlichen und nachdenklichen Weise die Diskussion mit den großen Leistungen der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags weitergeführt worden ist, aber auch in den Kirchen, auf dem Evangelischen Kirchentag, in den Bischofskonferenzen, in der Bund-LänderKommission, die wir eingerichtet haben, um diese Fragen aufzuarbeiten. Ich bin dankbar, daß sich hier ein so umfassendes Gespräch entwickelt hat.
Wir müssen uns aber darüber klar sein, daß dies nicht die europäische Diskussionslage ist. Die Differenzen sind exorbitant. Nach den Aussagen unserer britischen Kollegen ist nach dem jetzigen Stand der Diskussion die totipotente befruchtete menschliche Zelle bis zum 14. Tag beliebig verfügbar. Dies sei kein Individuum. Was sich hier an Unterschieden aufzeigt, müssen wir auch im Gespräch mit unseren Partnern in Europa zur Sprache bringen. Ich habe das Gespräch Anfang letzten Jahres unter deutscher Präsidentschaft aufgenommen. Wir haben es informell schon vorher geführt. Wir haben es im Forschungsministerrat aufgegriffen. Diese Initiative der Präsidentschaft hat zu einer Konferenz in Mainz geführt. Sie ist unter der griechischen und jetzt spanischen Präsidentschaft weitergetragen worden. Was hier erkennbar wird, ist, daß die Standpunkte in einer sehr grundsätzlichen Frage außerordentlich weit auseinander liegen, in einer Frage, die nicht einer Mehrheitsabstimmung unterworfen werden kann.
Weil dies so ist, müssen wir das Gespräch mit dem Willen führen, einen möglichst weitgehenden Konsens mit den Partnern zu erreichen.
Europa, das ist nicht nur ein Europa von Wissenschaften, von Technik und von Märkten. Europa ist gleichzeitig über 2 000 Jahre gemeinsame kulturelle Geschichte, der Aufbau der Philosophie, eine ethische Diskussion über 2 500 Jahre, eine Diskussion, die von den Griechen über das hohe Mittelalter bis zu den
Philosophen der Neuzeit geführt worden ist. Dies ist eine europäische Diskussion in ihren wesentlichen Elementen gewesen. Die Aufgabe, vor der wir heute stehen, ist der Versuch, an diesem gemeinsamen Sprechen über Werte anzuknüpfen, der Versuch des Begründens der menschlichen Existenz aus Werten und der Versuch, aus diesen Gesprächen dem alten Europa wieder eine gemeinsame Grundlage zurückzugewinnen, nicht auf der Grundlage administrativer oder politischer Kompromisse, sondern auf der Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses für die Würde des Menschen, ihrer Schutzbedürftigkeit, und auf der Grundlage der Notwendigkeit, auch in einer Welt, die zunehmend von Wissenschaft geprägt wird, immer wieder die Dimension der Menschlichkeit zu gewinnen, nicht nur erfolgreich zu sein, sondern auch menschlich verantwortlich zu gestalten.
Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie auf Drucksache 11/3555. Wer für die Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich der Stimme? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit Mehrheit und gegen die Stimmen der Fraktion der GRÜNEN und einer Reihe von Kollegen aus der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über die Verwendung von gentechnisch veränderten Mikroorganismen in abgeschlossenen Systemen
— Drucksachen 11/2724 Nr. 31, 11/3563 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Seesing Catenhusen
Kohn
Frau Schmidt-Bott
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat, meine Damen und Herren, sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch.
Dann kann ich die Aussprache eröffnen. Das Wort hat der Abgeordnete Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will zunächst versuchen, zu erläutern, worum es bei dieser Beratung geht. Wir sprechen über einen Teilaspekt der Gentechnologie. Wir sprechen nicht, wie beim vorherigen Beratungspunkt des Deutschen Bundestages, über die Genomanalyse beim Menschen, auch nicht über die Möglichkeiten der Gentherapie. Erst recht gehören nicht zu unserem Thema menschliche Ei- und Samenzellen, Embryo-
Metadaten/Kopzeile:
8944 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Seesingnen, Samenspender und Leihmütter. Da stellt sich also die Frage: Was ist denn Gentechnologie?Ich halte sie für eine große Herausforderung unserer Gesellschaft und gleichzeitig für eine Schlüsseltechnologie der Zukunft. Sie ist ein Verfahren der Biotechnologie. Die Biotechnologie hat schon Verfahren zur Nutzung von Mikroorganismen, von Bakterien, Schimmelpilzen und Hefen also, entwickelt. Dadurch haben wir gelernt, z. B. Käse, Joghurt, Brot, Bier und Wein herzustellen. Eine gezielte Auswahl von Bakterien hat dazu geführt, daß man wertvolle chemische Stoffe gewinnnen kann, z. B. Vitamin B, Zitronensäure, Essigsäure und Penicillin oder auch andere Arzneimittel. Die Gentechnologie ist also ein Verfahren der Biotechnologie. Sie betrifft die Erbinformationen von Viren, Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren.Wir können nun einzelne Erbinformationen, die in lebenden Zellen vorhanden sind, analysieren, d. h. einzelne auf ihre Eigenschaft bestimmen. Wir können diese Erbinformationen aus ihrer Umgebung herauslösen und über Arten und Grenzen hinweg in andere Organismen übertragen. Schließlich werden wir auch neue genetische Informationen in der Retorte erzeugen können, um sie dann in einem lebenden Organismus zum Ausdruck zu bringen. Es geht darum, Erbanlagen von Viren, Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren gezielt zu verändern. Es geht darum, diesen Organismen neue Fähigkeiten zu verleihen oder unerwünschte aus ihnen zu entfernen. Es geht also um eine Leistung, die es in der Natur so nicht gibt, wenigstens nicht im Augenblick. Wahrscheinlich kann man auch mit vielen Züchtungsschritten nach Jahren zu einem ähnlichen Ergebnis kommen.Wir wissen, meine Damen und Herren, daß jede Technik Chancen und Risiken bietet. Eine Technik ist dann anwendbar, wenn man diese Anwendung für verantwortbar hält. Ich wehre mich etwas gegen das häufig angewandte Wort von einer „beherrschbaren Technik". Ein solcher Begriff könnte außer acht lassen, daß bei jeder Technik ein gewisses Restrisiko bleibt, das verantwortbar sein muß.Eines der schwächsten Glieder in einer Schutzkette ist der Mensch. Seinetwegen brauche ich bestimmte rechtliche Regelungen, die den Menschen und seine Umwelt vor unerwünschten und oft vollkommen unnötigen Technikfolgen schützen sollen, die vermeidbar sind. Diese Schutzziele müssen aber so ausgewogen sein, daß die angesprochene Technik noch jederzeit praktizierbar ist.Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat nun eine EG-Richtlinie vorgeschlagen, durch die die Verwendung von gentechnisch veränderten Mikroorganismen in abgeschlossenen Systemen geregelt werden soll. Es ist zu begrüßen, daß es im EG-Raum zu einer Vereinheitlichung der rechtlichen Regelungen darüber kommen soll. Es ist schon wichtig, diejenigen Sicherheitsvorschriften festzulegen, mit denen eine Schadensvorbeugung europaweit erreicht werden kann.Nun wissen wir, daß weltweit schon mehrere Millionen Gentransfers stattgefunden haben, ohne daß esauch nur in einem Falle zur Schädigung der Umwelt gekommen ist. Dennoch sieht man ein Restrisiko.Deswegen hat auch die Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie" eine Reihe von Forderungen für den Umgang mit und die Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen genannt. Diese und auch die schon bestehende Rechtslage in der Bundesrepublik gehen zum Teil weit über den Vorschlag der EG-Kommission hinaus, den wir gerade diskutieren. So möchten wir schon sichergestellt wissen, daß die Genlabors und die gentechnischen Produktionsstätten registriert und zugelassen werden. Wie sollten wir gentechnische Anlagen von einer solchen Zulassung freistellen, wenn wir für jeden Teddybär praktisch eine TÜV-Untersuchung und eine TÜV-Genehmigung brauchen!Der Ausschuß für Forschung und Technologie hat Vorschläge für eine Verbesserung des EG-Richtlinienentwurfs gemacht. In Ziffer 4 dieses Vorschlags wird von einer Abstufung der Sicherheitsmaßnahmen nach den jeweiligen Gefährdungsgruppen gesprochen. Ich meine, es ist an der Zeit, das jeweilige Gefährdungspotential im einzelnen aufzuzeigen und dieses zur Grundlage für gesetzliche Regelungen zu machen.National sollten wir ein einheitliches Gengesetz schaffen, das den Rahmen für die Verordnungen abgibt, die die Handhabung der Technik festlegen. Aber dieses kommende Gesetz soll helfen, die Gentechnologie für den Menschen zu nutzen, nicht aber dazu beitragen, eine sinnvolle Nutzung der Gentechnologie zu verhindern.Dem Beschlußvorschlag des Ausschusses für Forschung und Technologie stimmen wir zu. Ich glaube, auch sagen zu dürfen: Diese Diskussion wird nicht die letzte Erörterung von Fragen der Gentechnologie im Deutschen Bundestag sein.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Bulmahn.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der zur Debatte stehende Richtlinienvorschlag der EG-Kommission über die Verwendung von gentechnisch veränderten Mikroorganismen in abgeschlossenen Systemen ist dilettantisch, nachlässig und in vielen Punkten blauäugig gemacht. Er wird den besonderen Anforderungen, die an eine Regelung des Umgangs mit gentechnisch veränderten Organismen zu stellen sind, nicht gerecht. Für die Bürgerinnen und Bürger beinhaltet der Richtlinienentwurf völlig unzureichende Bestimmungen der Gefahrenabwehr und Schadenvorsorge. Der Industrie bietet er nicht die notwendige Sicherheit und Verläßlichkeit für Ihre Investitionsentscheidungen.Zu der angestrebten Vereinheitlichung der in den einzelnen Mitgliedstaaten der EG bestehenden Regelungen und Verfahrensweisen trägt der Entwurf nur unzureichend bei. Von seinem materiellen Gehalt her bleibt er hinsichtlich der Schutzvorkehrungen deutlich unter den bei uns geltenden rechtlichen Regelungen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8945
Frau BulmahnBereits von den Formulierungen her und hinsichtlich der verwendeten Definition präsentiert sich der Vorschlag der EG-Kommission in einer Form, die eine sachgerechte Auseinandersetzung und Wertung kaum noch möglich macht. Heißt es in der Begründung zu der Richtlinie — ich zitiere —, „Personen, die zum ersten Mal die Verwendung in abgeschlossenen Systemen gentechnisch veränderter Mikroorganismen vornehmen wollen, müssen der zuständigen Behörde zuerst eine Absichtserklärung vorlegen", so lautet der entsprechende Passus in Art. 6: „Personen, die in einer bestimmten Anlage zum ersten Mal die Verwendung von gentechnisch veränderten Organismen in abgeschlossenen Systemen vornehmen wollen, haben ... eine Erklärung vorzulegen". Ich frage Sie: Strebt die Kommission nun eine Anmeldung nur dann an, wenn ein Unternehmen oder eine Institution zum ersten Mal mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen arbeitet oder wenn diese damit zum ersten Mal in einer bestimmten Anlage arbeiten? Ist die Anmeldung nur einmal nötig und gilt sie dann auch für die Verwendung von anderen als den ursprünglich angemeldeten Organismen? — Fragen, auf die der Entwurf keine sicheren Antworten gibt.Lassen Sie mich noch ein weiteres Beispiel anführen. Wiederum in der Begründung zu der Richtlinie verweist die EG-Kommission darauf, daß „Personen außerhalb der Anlage, die durch einen Unfall gefährdet werden könnten, in geeigneter und wirksamer Weise über alle sicherheitsrelevanten Punkte unterrichtet werden müssen". Unbefangene mögen darin vielleicht eine Beteiligung und Information der Öffentlichkeit erkennen, wie sie etwa in der 4. BundesImmissionsschutz-Verordnung vorgesehen ist. Doch in Art. 11 heißt es lapidar, die verantwortliche Behörde müsse sicherstellen, „daß alle Personen, die von einem Unfall betroffen sein könnten, in geeigneter Weise über die Notstandsmaßnahmen und korrektes Verhalten unterrichtet werden".Dieser unverbindliche Sprachgebrauch, die Laxheit, mit der hier formuliert wird, tragen weder zum Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die — wohlgemerkt nur anzumeldenden, nicht einem Genehmigungsverfahren zu unterziehenden — gentechnischen Anlagen bei, noch führen sie zu der von der Industrie im Hinblick auf die Verwirklichung des Binnenmarktes geforderte Vereinheitlichung der Verfahren.Naivität und den gleichen Grad der Unverbindlichkeit zeigt die EG-Kommission bei der Definition des Zentralbegriffes des Regelwerkes, nämlich der gentechnisch manipulierten Organismen. Zwar, so der Entwurf, sei die Definition „absichtlich breit gefaßt, um gegenwärtige und künftige Techniken mit einzuschließen". Doch im gleichen Atemzug werden zahlreiche Formen gen- und biotechnischer Manipulationen wie die Deletion von Genen ausgeschlossen und damit für nicht regelungsbedürftig erklärt; angesichts der Veröffentlichung einer schwedischen Arbeitsgruppe in der Zeitschrift „Nature", die bei einem moderaten Verwandten des Pesterregers Yersinia pseudotuberculosis zwei Gene zerstörten, mit dem Ergebnis, daß ein sprunghafter Anstieg der Virulenz erfolgte, ein mehr als fragwürdiges Vorgehen.Als nicht weniger problematisch erweist sich die platte Einteilung in pathogene bzw. nicht pathogene Organismen. Sie entspricht in keiner Weise dem Stand der Wissenschaft.Ich möchte in diesem Zusammenhang nur auf eine Untersuchung der kalifornischen Biologen Judith Bouma und Richard Lenski verweisen. Sie untersuchten die Überlebensfähigkeit von Darmbakterienzellen, denen zwei Antibiotikaresistenzgene eingepflanzt worden waren. Entgegen der landläufigen Annahme der Genetik, solche Manipulationen schwächten auf Grund der Last des Tragens und Ablesens fremder DNA die Überlebensfähigkeit des rekombinanten Organismus, erwiesen sie sich nach zirka 75 Tagen als überlebensfähiger als die nicht manipulierten Bakterien. Auch solche Nachkommen der manipulierten Bakterien, denen man die Antibiotikaresistenz wieder entzogen hatte, erwiesen sich als überlebensfähiger als die nicht manipulierten Bakterien. Ein Entweichen der konkurrenzfähigeren manipulierten Bakterien wäre keinesfalls ungefährlich, da sie zu einer Beeinträchtigung der natürlichen Darmflora des Menschen führen könnten.Meine sehr verehrten Herren und Damen, diese Beispiele zeigen meines Erachtens zur Genüge, wie unsicher und lückenhaft unser Wissen im Bereich der Genetik noch ist. Das Grundgesetz verpflichtet den Staat aber nicht nur zum Schutz von Leben und Gesundheit der Menschen und damit auch ihrer natürlichen Umwelt vor bekannten, vorhandenen Risiken, sondern auch vor zu vermutenden Risiken. Wir sind verpflichtet, auch die möglichen Folgen einer Technologie abzuschätzen und in unseren Entscheidungen zu berücksichtigen. Wir können und dürfen uns nicht damit begnügen, Regelungen erst dann zu treffen, wenn unbeabsichtigte Folgen einer Technologie bereits eingetreten sind. Richtlinien, Verordnungen und Gesetze dienen auch dem Schutz gegen vermutete Gefahren und Risiken. Sie müssen dem Gesichtspunkt der Schadensvorsorge in ausreichendem Maße Rechnung tragen.Der vorliegende Entwurf der EG-Kommission wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Er bleibt weit hinter bundesdeutschen Regelungen und Sicherheitstandards zurück. Nicht einmal ein förmliches Zulassungs- und Genehmigungsverfahren hält die EG-Kommission für erforderlich. Statt dessen schlägt sie ein bloßes Anmelde- und Berichtsverfahren vor. Stuft zum Beispiel die Betreiberin einer gentechnischen Anlage die von ihr verwandten Mikroorganismen als nicht pathogen ein, so kann sie — Art. 7 zufolge — nach erfolgter Anmeldung bei den zuständigen Behörden sofort mit der Produktion beginnen. Das, meine verehrten Damen und Herren, ist skandalös und unhaltbar.
Die Abschätzung und Bewertung der Sicherheitsstandards und des Gefahrenpotentials einer Anlage dürfen nicht den Betreibern allein überlassen werden. Sie bedürfen der behördlichen Überprüfung in einem förmlichen Zulassungs- und Genehmigungsverfahren
Metadaten/Kopzeile:
8946 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Frau Bulmahnmit klar definierten Vorgaben für die einzureichenden Unterlagen und den Verfahrensablauf sowie präzisen Kriterien, an Hand derer die Umweltverträglichkeit des Vorhabens zu prüfen ist.Verbindliche, eindeutige Vorschriften enthält der Richtlinienentwurf auch nicht für die Genehmigung und den Betrieb von Anlagen, in denen mit als pathogen einzustufenden genetisch veränderten Organismen umgegangen wird. Auch hier begnügt sich die EG-Kommission mit einem bloßen Anmeldeverfahren. Wenn die Betreiber industrieller Anlagen die hierfür nötigen Formalitäten erfüllt und die Behörden keine Nachfragen haben, kann die Anlage 60 Tage nach Anmeldung in Betrieb genommen werden. Für eine sachadäquate Prüfung der eingereichten Unterlagen und die Überprüfung der Anlage ist eine derartige Frist völlig unzureichend.Die wenig präzisen, recht allgemeinen Formulierungen des Richtlinienentwurfs hinsichtlich der einzureichenden Unterlagen sowie der Kriterien und der Art und Weise der Überprüfung der Angaben dürften in der Praxis zu uneinheitlichen, widersprüchlichen Entscheidungen der Behörden führen. Unklare Bestimmungen und Regelungen, widersprüchliche Entscheidungen schaffen Rechtsunsicherheit, rufen eine Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten hervor und erweisen sich damit letztlich als innovations- und investitionshemmend.Eine Beteiligung der Öffentlichkeit nach dem Vorbild der am 1. September 1988 in Kraft getretenen Vierten Bundesimmissionsschutzverordnung sieht der Richtlinienentwurf der EG nicht vor. Genau in dieser für uns wichtigen Frage scheint die Bundesregierung mehr und mehr dem Druck der Industrie nachzugeben.
— Doch. In Brüssel ist jedenfalls von einem Engagement der Bundesregierung in dieser Frage nichts zu spüren.
Hier, sehr geehrte Damen und Herren von der Regierungsbank, ist eine klare und eindeutige Stellungnahme von Ihrer Seite dringend erforderlich. Ich würde mich freuen, wenn Sie diese leisten würden.Wer die offene Diskussion — dies sollten wir uns alle vor Augen halten — über die mit der technischen Entwicklung verbundenen Probleme und Ziele scheut, wer die Erfordernisse eines breiten gesellschaftlichen Konsenses über die Forschungs- und Technologiepolitik leugnet, erzeugt letztendlich Technikfeindlichkeit und blockiert die in der sozial- und umweltverträglichen Technikgestaltung liegenden Entwicklungschancen. Die Öffentlichkeitsbeteiligung bei der Durchführung von Genehmigungsverfahren bringt schließlich auch den Antragstellern mehr Sicherheit für das gesamte Verfahren.
Der Verzicht auf ein förmliches Zulassungs- und Genehmigungsverfahren, der Ausschluß der Öffentlichkeit stellen eine Entmündigung unserer Bürgerinnen und Bürger dar, die wir nicht mittragen wollen.Mangelhaft ist die EG-Vorlage auch noch hinsichtlich einiger anderer Punkte. Z. B. der Begriff des Unfalls, aber auch die Frage der Entsorgung der Abfälle, des Transports, der Überwachung, der Sanktionsmaßnahmen, Fragen der zivilrechtlichen Haftung sind nur unzureichend geklärt.Angesichts der unzähligen Mängel des vorliegenden Entwurfs fordern wir die Bundesregierung auf, sich mit Nachdruck für Regelungen in Brüssel einzusetzen, die geltendes deutsches Recht und eingeführte Standards nicht unterschreiten. Europäische Standards, die ein nicht den deutschen Regelungen vergleichbares Sicherheitsniveau beinhalten, sind für uns nicht annehmbar. Wichtige Eckpunkte, die in diesen Verhandlungen sichergestellt werden sollten, enthält die im Forschungsausschuß mit großer Mehrheit verabschiedete Beschlußempfehlung. Sie findet die uneingeschränkte Unterstützung meiner Fraktion.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ich komme zum Schluß.
Sollten sich die in der Empfehlung genannten Mindeststandards in Brüssel nicht durchsetzen lassen, so sollte die Bundesregierung darauf beharren, daß nicht Art. 100a des EWG-Vertrags, sondern Art. 130s die Rechtsgrundlage für diese Richtlinie sein sollte.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Kohn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den Beratungen der EnqueteKommission über Chancen und Risiken der Gentechnologie habe ich mich für die FDP-Fraktion für den Vorrang der Sicherheit gegenüber anderen Überlegungen bei der Verwendung gentechnisch veränderter Mikroorganismen in Forschung und Produktion eingesetzt. Der jetzt vorliegende und hier zur Diskussion stehende Vorschlag für eine EG-Richtlinie stellt eine deutliche Abschwächung gegenüber den Beschlußempfehlungen der Enquete-Kommission dar und ist aus diesem Grunde für uns so nicht akzeptabel.In der Bundesrepublik und in der Europäischen Gemeinschaft müssen nach unserer Auffassung folgende Grundsätze verwirklicht werden:Erstens. Es bedarf einer schnellen gesetzlichen Regelung, damit insbesondere für die Industrie zuverlässige Rahmenbedingungen für Investitionsentscheidungen gegeben sind.
Wir alle wissen, was im Zusammenhang mit Anträgen von Unternehmen in diesem Bereich passiert ist. Wir wissen auch, daß etwa im Bereich der Forschung die nicht geklärte Rechtslage dazu geführt hat, daß sich ein Unternehmen entschlossen hat, einen großen Teil seiner gentechnologischen Forschungskapazitäten an die Ostküste der Vereinigten Staaten zu legen. Dieses
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8947
Kohnwollen wir mit Blick auf den Forschungsstandort Bundesrepublik Deutschland verhindern.
Zweitens. Die gesetzlich vorzuschreibenden Sicherheitsmaßnahmen müssen sich in abgestufter Weise an dem tatsächlichen Gefährdungspotential orientieren, das von gentechnisch veränderten Mikroorganismen ausgehen kann. Ich will an dieser Stelle deutlich sagen, daß ich Überlegungen, die darauf hinauslaufen, alles, was gentechnologische Forschung und Produktionen betrifft, unabhängig vom Gefährdungspotential sozusagen unter einen generellen Sicherheitsverdacht zu stellen, nicht akzeptieren werde.Drittens. Die Zulassungs- und Genehmigungsverfahren einschließlich dessen, was mit der Umweltverträglichkeitsprüfung usw. zusammenhängt, müssen in einem einheitlichen Verfahren organisiert werden, um unnötige bürokratische Hemmnisse zu verhindern. Unser Motto lautet: Höchste Sicherheitsstandards so wie bisher, ja, wuchernder Bürokratismus, nein.Wir Liberalen fordern die Bundesregierung auf, sich in Brüssel dafür einzusetzen, daß EG-weit das hohe Sicherheitsniveau, das in der Bundesrepublik Deutschland bisher vorhanden war und in Zukunft vorhanden sein wird, verbindlich gemacht wird, und wir fordern die Bundesregierung dazu auf, das Stammgesetz zur Gentechnologie in dem Sinne vorzulegen, wie es von der Enquete-Kommission „Gentechnologie" des Deutschen Bundestages erarbeitet wurde, und wir bitten darum, dieses möglichst rasch, nämlich noch vor der Sommerpause, zu machen. Es besteht dringender Handlungsbedarf. In diesem Sinne trägt die FDP-Fraktion die Beschlußempfehlung des Bundestagsausschusses für Forschung und Technologie voll mit.Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt-Bott.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer Zeit, in der der Ursprung und die Entstehungsgeschichte des HIV-Virus noch immer ungeklärt sind, sollen durch eine Pauschalgenehmigung für Genfabriken weiteren potentiellen Krankheitserregern im wahrsten Sinne des Wortes Tür und Tor geöffnet werden. Die Richtlinie soll zwar die Verwendung gentechnisch veränderter Mikroorganismen in abgeschlossenen Systemen regeln, es wird aber gleichzeitig zugegeben, daß es diese abgeschlossenen Systeme gar nicht gibt. Im Text heißt es wörtlich — ich zitiere — :Gentechnisch veränderte Mikroorganismen können im Laufe ihrer Verwendung in abgeschlossenen Systemen auf zwei verschiedene Arten in die Umwelt freigesetzt werden.Das kann erstens routinemäßig passieren, also beim laufenden Betrieb, über Abfälle, Abluft oder Abwasser, und zweitens unbeabsichtigt auf Grund verschiedenster Pannen oder Störfälle. Ich sage: Wenn in denGenbetrieben beim Aufleuchten von Warnanlagen genauso aufmerksam reagiert wird wie beim Atomkraftwerk in Biblis, wird diese unbeabsichtigte Freisetzung wohl kein Einzelfall werden.
Das Restrisiko tragen wir dann wieder, denn — auch das steht in dieser Richtlinie, ich zitiere — : „In gewissen Fällen können solche Freisetzungen eine Gefahr für die menschliche Gesundheit und die Umwelt mit sich bringen. "Alle Fraktionen haben Kritik an dieser EG-Richtlinie bzw. an ihrem Entwurf geäußert. Die Mehrheit des Ausschusses hat sich darauf verständigt, die Bundesregierung zu ersuchen, bei den weiteren Beratungen darauf hinzuwirken, daß die vorgesehenen europäischen Regelungen auf ein mit den bestehenden deutschen Regelungen vergleichbares Sicherheitsniveau angehoben werden und dem Vorsorgeprinzip Rechnung getragen wird.Wir sagen: Die bundesdeutschen Richtlinien sind kein Vorbild für Europa. Schließlich ist bei der 5. Fassung der Richtlinien zum Schutz vor Gefahren durch in vitro neu kombinierte Nukleinsäuren der Sicherheitsstandard in entscheidenden Punkten verwässert worden:
Zahlreiche Experimente sind nicht mehr anzeigepflichtig, Anweisungen zur Abfallbeseitigung und zum Reinigen von Arbeitsgeräten und -räumen sind schwammig formuliert, verbindliche Ausbildungsmaßnahmen für das Personal gentechnischer Labors in mikrobiologischen Sicherheitstechniken sind nicht vorgesehen,
die Neuregelungen für den Einsatz gentechnisch manipulierter Organismen im Produktionsmaßstab lesen sich genauso wie der Anhang III im vorliegenden Richtlinienentwurf der EG, auch in der Bundesrepublik ist eine Produktionsstufe ohne besondere Sicherheitsauflagen vorgesehen. Bei anderen Produktionsstufen, LP 1 bis 3, werden ebenfalls Freisetzungen von gentechnisch veränderten Mikroorganismen in Kauf genommen.Umfassende Sicherheitsanalysen im Sinne der Störfallverordnung sind nicht vorgesehen. Darüber hinaus ist der begrenzte Geltungsbereich der Richtlinien in diesem Haus schon mehrfach thematisiert worden. So doll ist das also gar nicht bei uns in der Bundesrepublik. Der Molekulargenetiker Holger Jeske nennt die bundesdeutschen Regelungsversuche — wie ich finde sehr zutreffend — „institutionalisierte Sorglosigkeit". Er führt in „Forum Wissenschaft" aus — ich zitiere — :Die Behauptung, daß ein überzeugender Beweis für die Ungefährlichkeit dieser Technik dadurch erbracht sei, daß bis heute keine Schädigungen bekannt geworden seien, läßt demgegenüber Befürchtungen aufkommen, daß sich Sorglosigkeit ausbreitet. 10 Jahre nicht nachgewiesener Schädigungen sind bei der bekannten Problemlage
Metadaten/Kopzeile:
8948 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Frau Schmidt-Bottsicherlich keine gute Induktionsbasis für derartige Behauptungen.Weiter im gleichen Text:Es gilt heute in der Fachwelt als gesichert, daß bestimmte DNA-Sequenzen in ihrer mutagenen Wirkung mit Strahlen und Chemikalien durchaus vergleichbar sind.Das einzige, was die Bundesrepublik hat, ist die 4. Bundes-Immissionsschutzverordnung. Durch sie müssen seit dem 1. September 1988 gentechnische Produktionsanlagen zur Herstellung von Arzneimitteln in einem öffentlichen Verfahren genehmigt werden.
Nun ist das Bundes-Immissionsschutzgesetz kein spezifisches Gesetzeswerk für die Gentechnologie und kann Umwelteinwirkungen dieser Technologien nur begrenzt abwehren. Aber allein die Öffentlichkeit des Genehmigungsverfahrens hat uns in Marburg im Falle der Behring-Werke gezeigt, wie unvollständig die notwendigen Genehmigungsunterlagen der Betreiber sind, wie schwierig dadurch eine Risikoabschätzung wird bzw. wie schwierig solche Abschätzungen mit unserem Nichtwissen derzeit überhaupt sind und welche Probleme die überstürzte Umsetzung der Gentechnologie in die Produktion mit sich bringt.Hinzu kommt, wie die Rechtsanwältin Ulrike Riedel feststellt:Die zum Vollzug des Bundes-Immissionsschutzgesetzes eingerichteten Landesbehörden sind auf die neuartigen Probleme nicht vorbereitet und bei der Beurteilung derartiger Genehmigungsanträge völlig überfordert.Der Mitarbeiter des Umweltbundesamtes Hans Joachim Uth weist darauf hin, daß auch die ZKBS nicht um den entsprechenden Sachverstand aus Sicherheitspolitik und Verfahrenstechnik erweitert wurde.Ich muß kürzen. — Nicht einmal die Minimalforderung, die hier heute auch vorgetragen worden ist, nämlich Beteiligung der Öffentlichkeit am Genehmigungsverfahren, ist in der Beschlußempfehlung des Ausschusses enthalten. Dabei ist die Beteiligung der Öffentlichkeit, wenn auch nur für einen kleinen Bereich der Verwendung gentechnisch manipulierter Organismen, das einzige, was wir dem EG-Richtlinienentwurf wirklich voraushaben.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen.
Selbst dieses Minimum fehlt in der Beschlußempfehlung. Das allein ist schon Grund genug für unsere Ablehnung.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Herr Pfeifer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich auf einige wenige Bemerkungen beschränken. In dieser Debatte sind neben den Risiken der Gentechnik zu Recht die Chancen und die mit der Gentechnik verbundenen positiven Entwicklungen hervorgehoben worden. Ich meine, gerade aus gesundheitspolitischen Erwägungen können wir auf eine verantwortbare Entwicklung neuer Methoden der Diagnostik, auf die Entwicklung neuer und verbesserter Arzneimittel, auf die Entwicklung neuer und verbesserter Impfstoffe, die wir von der Gentechnik erwarten, nicht verzichten.
Verantwortbare Entwicklung heißt aber zugleich, daß wir Mensch und Umwelt zuverlässig vor den Risiken schützen müssen, die mit der Gentechnik verbunden sein können. Dies ist der Maßstab, den wir an die Richtlinienvorschläge der EG zum Umgang mit der Gentechnik in geschlossenen Systemen anlegen; das ist auch der Maßstab, den die Bundesregierung in ihren Eckwerten für das beabsichtigte nationale Gesetz zugrunde legt.Die EG-Kommission hat ihren Richtlinienvorschlag auf Art. 100 a des EWG-Vertrages gestützt. Das halte ich im Prinzip für richtig, weil nur so das Ziel erreicht werden kann, die rechtlichen Vorschriften zur Gentechnik in allen Mitgliedstaaten auf gleichem Niveau zu vereinheitlichen. Allerdings ist unser Ziel nicht nur Vereinheitlichung, unser Ziel ist Vereinheitlichung auf einem für Mensch und Umwelt hohen Schutzniveau. Das heißt, wir treten im Bereich der Gentechnik grundsätzlich für präventive Sicherheitsstrategien ein, die durch ein staatliches Genehmigungsverfahren überall in der EG gewährleistet werden müssen.Gentechnische Arbeiten sollen erst dann aufgenommen werden dürfen, wenn staatliche Prüfungsverfahren ergeben haben, daß durch diese Arbeiten unvertretbare Risiken für Mensch und Umwelt nicht bestehen. Dieses Verfahren muß in der Tat durch Transparenz und durch die Einbeziehung eines breiten Spektrums von sachlicher Kompetenz gekennzeichnet sein.Der vorliegende Richtlinienvorschlag begnügt sich demgegenüber im wesentlichen mit Buchführungs-, Anzeige- und Anmeldepflichten. Dies ist als Grundsatz nicht akzeptabel und in meinen Augen beispielsweise bei gentechnischen Arbeiten mit pathogenen Mikroorganismen auch nicht vertretbar.Der Richtlinienvorschlag sichert deshalb das hohe Schutzniveau nicht, welches die Bundesregierung für notwendig hält. Demgemäß verhalten wir uns in Brüssel.Der Richtlinienvorschlag gefährdet aber auch das Ziel der Rechtsvereinheitlichung; denn manche Passagen sind so allgemein und unverbindlich formuliert, daß die Umsetzung und der Vollzug dieser Regelungen in den einzelnen Migliedstaaten ganz unterschiedlich ausfallen kann. Dies ist aber aus zwei Gründen nicht akzeptabel:Einmal darf es in der Technologiepolitik und vor allem in der Entwicklung moderner Technologien im
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8949
Parl. Staatssekretär Pfeifergemeinsamen europäischen Binnenmarkt keine Entwicklung geben, in welcher der Partner, der auf hohes Sicherheitsniveau Wert legt, seinen Wissenschaftlern und seiner Industrie Wettbewerbsnachteile zumutet.
Zum zweiten: Gefährdungen aus der Entwicklung moderner Großtechnologie machen an den Landesgrenzen nicht halt. Deshalb gehört es zur gemeinsamen europäischen Politik, daß wir eine gemeinsame Verantwortung für ein gemeinsames hohes Schutzniveau bei der Entwicklung moderner Technologien im gesamten EG-Bereich entwickeln und praktizieren.
Dies ist — wenn ich auf das, was Frau Kollegin Bulmahn gesagt hat, Bezug nehmen darf — mit einer Richtlinie, die auf Art. 130 des EG-Vertrages aufbauen würde, nicht erreichbar. Deswegen wollen wir die Veränderung dieser Richtlinie mit der von mir dargelegten Zielrichtung erreichen.Meine Damen und Herren, ich sehe in der Beschlußempfehlung des Ausschusses, die hier zur Beschlußfassung ansteht, eine ausgesprochene Stärkung der Verhandlungsposition der Bundesregierung, für die ich dankbar bin.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie auf Drucksache 11/3563 — das ist die hier diskutierte Richtlinie des Rates der EG. Wer für die Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.Es folgen nun eine Reihe von Abstimmungen zu Tagesordnungspunkten ohne Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 bis 13 auf:8. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 25 02 Titel 661 23— Abwicklung des Regionalprogramms 1971 bis 1977 —— Drucksachen 11/3053, 11/3638 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Schroeder NehmFrau Vennegerts9. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 15 02 Titel 681 15— Erziehungsgeld —— Drucksachen 11/3057, 11/3639 —Berichterstatter: Abgeordnete Kalb Frau ConradZywietzFrau Vennegerts10. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 06 40 Titel 681 05— Haushaltsjahr 1988 —— Drucksachen 11/3173, 11/3686 —Berichterstatter:Abgeordnete Deres KühbacherFrau Seiler-Albring Frau Rust11. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 14 05 Titel 525 21— Aus- und Fortbildung, Umschulung —— Drucksachen 11/3193, 11/3687 —Berichterstatter:Abgeordnete Müller Frau Seiler-AlbringKühbacherFrau Rust12. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Titel 646 02— Erstattung der Aufwendungen für die Krankenhilfe an Heimkehrer und durch Gesetz gleichgestellte Personengruppen —— Drucksachen 11/3268, 11/3688 —Berichterstatter:Abgeordnete Sieler StrubeZywietzFrau Rust13. a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 95 zu Petitionen— Drucksache 11/3857 —b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 96 zu Petitionen— Drucksache 11/3858 —
Metadaten/Kopzeile:
8950 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Vizepräsident WestphalWir kommen zuerst zu Abstimmungen über eine Reihe von Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses — Tagesordnungspunkte 8 bis 12 — zu überplanmäßigen Ausgaben. Ich gehe davon aus, daß wir über diese Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen können. — Ich sehe keinen Widerspruch.Wer stimmt den Beschlußempfehlungen auf den Drucksachen 11/3638, 11/3639, 11/3686, 11/3687 und 11/3688 zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlungen sind einstimmig angenommen worden.Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung zur Sammelübersicht 95 ab — das ist der Tagesordnungspunkt 13 a — : Wer für die Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/3857 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 13 b. Hier liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3921 vor. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Änderungsantrag abgelehnt worden.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/3858. Wer dieser zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.Meine Damen und Herren, wir treten in eine relativ kurze Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt.Ich unterbreche die Sitzung.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 11/3892 —
Der Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr braucht nicht aufgerufen zu werden, weil die Fragen 13 und 14 des Kollegen Grünbeck auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden sollen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Herr Staatsminister Dr. Stavenhagen steht zur Beantwortung der Frage zur Verfügung.
Ich rufe Frage 1 des Abgeordneten Schily auf:
Treffen Meldungen des Kölner Privatfernsehsenders „RTL Plus", der „International Herald Tribune" und der „Frankfurter Rundschau" zu, daß mit Hilfe bundesdeutscher Firmen sowie bundesdeutscher Wissenschaftler und Techniker im Irak eine Fabrik für biologische Kampfstoffe errichtet wurde?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Herr Abgeordneter, der Bundesregierung sind Hinweise bekannt, wonach es im Irak eine für die Herstellung biologischer Kampfstoffe geeignete Anlage geben könnte. Die vorliegenden Erkenntnisse lassen zur Zeit keine sicheren Angaben über Lage, Ausstattung, Fertigstellung oder Produktion einer solchen Anlage zu.
Angaben in den Medien über eine angebliche Beteiligung deutscher Firmen, Wissenschaftler und Techniker an der Errichtung einer solchen Anlage zur Herstellung biologischer Kampfstoffe kann die Bundesregierung nach ihrem derzeitigen Kenntnisstand nicht bestätigen.
Herr Schily, Zusatzfrage.
Wann sind der Bundesregierung diese Hinweise durch wen bekanntgeworden?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, die nachrichtendienstlichen Hinweise können hier verständlicherweise nicht dargelegt werden. Sie werden in den zuständigen parlamentarischen Gremien dargelegt, so z. B. gestern in der Parlamentarischen Kontrollkommission.
Aber ich kann darauf hinweisen, daß dieses Thema in den nachrichtendienstlichen Hinweisen zum erstenmal im Jahre 1984 auftauchte.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Schily.
Darf ich aus der Beantwortung dieser Frage den Schluß ziehen, daß Sie seit 1984, also, wenn ich richtig zähle, seit etwa viereinhalb Jahren, nicht feststellen konnten, ob diese Hinweise zutreffen oder nicht?
Dr. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe darauf hingewiesen, daß es bis heute keine Hinweise auf die angebliche Beteiligung deutscher Firmen, Wissenschaftler und Techniker gibt. Die Hinweise auf die angebliche Existenz einer solchen Anlage, die wir haben, sind zwischen 1984 und 1989 nicht wesentlich konkreter geworden.
Keine weiteren Zusatzfragen.Wir sind am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich danke dem Staatsminister für die Beantwortung der Fragen.Ich brauche den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit nicht aufzurufen, weil Frage 15 der Abgeordneten Frau Blunck und die Fragen 16 und 17 des Herrn Abgeordneten Pauli auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden sollen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Rawe steht uns zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8951
Vizepräsident WestphalDie Fragen 18 und 19 des Herrn Abgeordneten Paterna sind zurückgezogen worden.Ich rufe Frage 20 des Abgeordneten Toetemeyer auf:Kann die Bundesregierung bestätigen, daß 1985 durch den Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen eine umfangreiche Werbekampagne für den Kabelanschluß in Hagen durchgeführt und dabei jenen Anschlußwilligen, die in der Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1985 einen entsprechenden Antrag stellen, eine Anschlußgebühr von 350 DM zugesagt wurde?Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident, wenn der Herr Kollege Toetemeyer einverstanden ist, würde ich gerne beide Fragen des Herrn Abgeordneten Toetemeyer im Zusammenhang beantworten.
Er hat nichts dagegen. — Dann rufe ich auch Frage 21 des Herrn Abgeordneten Toetemeyer auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß nunmehr — unter Berufung auf die ab 1. Januar 1988 gültige Telekommunikationsordnung — bei jenen Bürgern, die 1985 den Anschluß beantragt hatten, dieser aus von der Deutschen Bundespost zu vertretenden Gründen aber erst 1988 hergestellt werden konnte, eine Gebühr von 675 DM je Wohneinheit verlangt wird, und teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß dies — unabhängig von der rechtlichen Problematik — zumindest ein eklatanter Verstoß gegen Treu und Glauben ist?
Rawe, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Toetemeyer, einheitliche Werbeaktionen für einen Breitbandanschluß sind im ganzen Bundesgebiet, gezielt in, ganz bestimmten Gebieten durchgeführt worden. So wurde auch im Bereich des Fernmeldeamtes Hagen geworben. Dabei haben wir aber ganz bewußt Fristen für ganz bestimmte Baugebiete festgesetzt. Es hat mehrere Ausschreibungen gegeben, z. B. eine, die bis zum 30. Juni 1985 befristet war. Bei dieser Aktion sollten pro Wohneinheit nur 250 DM bezahlt werden. Dieser Subskriptionspreis galt, wenn der betreffende Anschluß bis zum 31. Dezember 1985 übergeben werden konnte.
Es hat dann eine weitere Aktion gegeben. Wenn der Anschluß bis zum 31. Dezember 1987 zu erstellen war, betrug der Preis 350 DM.
In jedem Fall hat es sich um ganz klar abgegrenzte Gebiete gehandelt, für die diese Preise angeboten worden sind. Insofern kann ich nicht einsehen, daß unterschiedliche Maßstäbe angelegt worden sind; denn die jeweils Betroffenen sind über diese Fristen und über den Geltungsbereich des Subskriptionspreises genau unterrichtet gewesen.
Zusatzfrage, Herr Toetemeyer.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen der Brief des Hagener Bürgers Robert Hillebrand vom 11. Januar 1989 an den Minister bekannt, in dem dieser Bürger, auf den sich meine Fragen stützen, im einzelnen darlegt, daß er genau den Kriterien entspricht, die Sie gerade genannt haben, und daß ihm am 10. Dezember 1985 ausdrücklich bestätigt worden ist, daß sein Anschluß zu diesem Preis eingerichtet würde, und erst im Jahre 1987 mitgeteilt wurde, erst jetzt könne aus technischen Gründen der Anschluß hergestellt werden?
Rawe, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Toetemeyer, ich bitte um Verständnis; mir ist dieser Schriftwechsel nicht bekannt. Wenn Sie aber so konkret dartun, daß er die für den Subskriptionsfall vorgesehenen Bedingungen eingehalten hat, will ich den Fall selbstverständlich überprüfen.
Darum würde ich bitten.
Zu einer Zusatzfrage Frau Faße.
Herr Staatssekretär, ich nehme mit Erstaunen zur Kenntnis, daß, die gleichen Fristen gemeint, unterschiedliche Werbeangebote gemacht wurden. Ist Ihnen bekannt, daß der Ärger, der auftaucht, nicht auf einen Einzelfall beschränkt ist? Ist Ihnen bekannt, daß auch im Petitionsausschuß zu diesem Bereich Petitionen eingegangen sind, die genau das beinhalten, was mein Kollege gesagt hat: rechtlich unumstritten, korrekt, so wie Sie es gesagt haben, aber, wie auch bei mir in einem Einzelfall, 500 DM vertraglich festgelegt ohne eine Zeitangabe im Vertrag, ohne mündliche Informationen über eine Zeitangabe? Halten Sie unterschiedliche finanzielle Anreize und so ein Verfahren der Post für kundenfreundlich?
Rawe, Parl. Staatssekretär: Sie wissen, daß wir in diesem Bereich keine privatrechtlichen Verhältnisse haben, Frau Kollegin Faße. Ich kann nur wiederholen, was ich gesagt habe: Natürlich ist mir bekannt, daß viele Bürger, die nicht in den Subskriptionsgebieten wohnen, nachher versucht haben, sich auf diese Preise zu berufen. Wir hatten auch einige Fälle, wo die Betroffenen leider vor Gericht gegangen sind und in denen für die Deutsche Bundespost positiv entschieden worden ist.
Ich kann mein Angebot, das ich Herrn Toetemeyer unterbreitet habe, nur wiederholen: Wenn Sie mir die konkreten Angaben zusenden, kontrolliere ich selbstverständlich gern den Fall. Ein solcher Fall ist unerfreulich; darüber brauchen wir uns nicht zu unterhalten.
Ich lasse jetzt eine weitere Frage von Frau Faße zu.
Diesen Fall habe ich Ihnen bereits zugesandt; ich warte auf die Antwort.
Meine zweite Frage: Halten Sie es für korrekt, daß die Oberpostdirektion Hamburg schriftlich antwortet, es müsse sich wohl um eine Fehlinformation des betreffenden Beamten gehandelt haben?
Rawe, Parl. Staatssekretär: Das kann ich erst dann beurteilen, wenn ich den Vorgang tatsächlich kenne. Ich bin ja nicht in der Lage, einfach zu sagen: „Da handelt jemand unkorrekt" , wenn ich gar nicht die Tatsachen kenne, um die es sich dreht.
Zu einer weiteren Frage erteile ich das Wort dem Abgeordneten Toetemeyer.
Metadaten/Kopzeile:
8952 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Herzlichen Dank, Herr Präsident, obwohl es formal nicht ganz in Ordnung war.
Es war korrekt. Sie haben insgesamt vier Zusatzfragen.
Aber ich hatte auf die eine verzichtet, und Sie geben mit trotzdem die Chance. Ich bedanke mich.
Ich gebe mir Mühe.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Danke schön. — Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht, daß zwischen dem 11. Januar und heute lange Zeit war, im Bundespostministerium eine ganz wichtige Frage des Bürgers zu beantworten, und könnten Sie bestätigen, daß ich selbst — das habe ich eben erst festgestellt — am 17. Januar den Herrn Minister angeschrieben und gebeten habe, mir in dieser Frage seine Meinung darzutun?
Rawe, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Toetemeyer, ich habe Ihnen gerade gesagt, daß ich es bedaure, daß ich den unmittelbaren Fall, den Sie vorgetragen haben, noch nicht kenne, daß ich ihn aber selbstverständlich gerne prüfe.
Vielleicht wird es ganz gut sein, wenn Regreß in Form von Briefmarken geleistet wird.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich danke dem Parlamentarischen Staatssekretär Rawe für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Echternach steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung. Wir kommen zuerst zur Frage 22 des Abgeordneten Dr. Sperling.
Wann wird die Bundesregierung die von Bundesbauminister Dr. Schneider angekündigte Novelle zur Anpassung des Wohngeldes vorlegen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Die Antwort auf die Frage des Kollegen Sperling lautet: Eine Novelle zur Anpassung des Wohngeldes setzt einen Gesamtüberblick über den finanziellen Spielraum für Verbesserungen in Leistungsgesetzen voraus. Dieser Spielraum kann nur aus einer finanzpolitischen Gesamtschau aller auf den Bundeshaushalt zukommenden Anforderungen ermittelt werden, die in absehbarer Zeit vorgenommen werden wird.
Zusatzfrage, Herr Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, haben Sie in Ihrem Ministerium einmal überprüfen lassen, wann eine Gesetzesvorlage — die von Ihrem Minister angekündigt wurde — spätestens vorliegen muß, damit die
Wohngeldverbesserungen wirksam noch vor der Wahl in Kraft treten können?
Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Sperling, dieser Zeitpunkt ist sicher noch lange nicht erreicht. Wir haben etwa zwei Jahre in dieser Legislaturperiode vor uns. Von daher besteht durchaus die Möglichkeit, noch während dieser Legislaturperiode eine Novelle zu beschließen.
Zweite Zusatzfrage, bitte schön, Herr Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, mit der allgemeinen Antwort, da wäre noch Zeit, weil noch zwei Jahre bleiben — es sind weniger als zwei Jahre — , bin ich nicht ganz zufrieden. Könnten Sie mir die Terminplanungen schriftlich zukommen lassen, die für das Wirksamwerden von Geldleistungen noch vor der Wahl nötig sind oder für das rechtzeitige Verabschieden, ohne daß die Wirksamkeit noch vor der Wahl eintritt?
Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Sperling, es geht darum, daß zunächst einmal innerhalb der Regierung eine Entscheidung getroffen werden muß, ob es noch während dieser Legislaturperiode zu einer Novellierung des Wohngeldgesetzes kommen soll
oder nicht. Diese Entscheidung — das habe ich eben in meiner ersten Antwort gesagt — kann erst getroffen werden, wenn eine Gesamtschau über den finanziellen Handlungsspielraum, den wir in dieser Legislaturperiode noch haben, erfolgt. So hat es die Koalition zu Beginn dieser Legislaturperiode festgelegt. Das sollte zur Mitte der Legislaturperiode erfolgen, und es wird in den nächsten Monaten auch geschehen.
Dann rufe ich die Frage 23 des Abgeordneten Dr. Sperling auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, den Überlegungen von Bundesbauminister Dr. Schneider zu folgen und die Abschreibungsdauer für Wohngebäude zu verkürzen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Sperling, wie bereits von meinem Kollegen Dr. Häfele auf eine entsprechende Frage des Abgeordneten Müntefering am 6. Januar dieses Jahres ausgeführt wurde, gibt es derzeit keine Absicht der Bundesregierung, die steuerlichen Abschreibungsbedingungen für Wohngebäude zu verändern.
Zusatzfrage, Herr Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, können Sie mir dann sagen, wie Ihr Minister dazu gekommen ist, vor Weihnachten, und zwar am 16. Dezember, gegenüber der „Welt" zu erklären, daß so etwas von ihm in Aussicht genommen werde, wenn im Januar der Staatssekretär im Finanzministerium dies dementiert?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8953
Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Sperling, ich habe von den Absichten der Bundesregierung im Augenblick gesprochen. Sie wissen, daß die Forderung nach einer Veränderung der Abschreibungsbedingungen für Wohngebäude seit einiger Zeit diskutiert wird, nicht vom Bundesbauminister in die Diskussion gebracht worden ist, sondern von der Bauwirtschaft intern und öffentlich angesprochen wurde. Es hat aber auch in den Koalitionsfraktionen entsprechende Überlegungen gegeben, die auch öffentlich diskutiert worden sind. Es ist die Pflicht des zuständigen Ressortchefs, auch in dieser Richtung eine Prüfung vorzunehmen. In diesem Stadium befinden wir uns. Wenn die Prüfungen abgeschlossen sind, wird die Bundesregierung möglicherweise in entsprechende Überlegungen eintreten. Derzeit — danach haben Sie gefragt — gibt es keine Absichten der Bundesregierung in dieser Richtung.
Weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, könnten Sie nicht Ihren Minister veranlassen, sich als Teil der Bundesregierung zu fühlen
und dann bei seinen Ankündigungen zu sagen, er werde prüfen, ob die Bundesregierung bereit sein könnte, solchen Anregungen zu folgen, statt etwas anzukündigen und dann erleben zu müssen, daß das Finanzministerium dementiert, was er angekündigt hat?
Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Sperling, ich muß richtigstellen: Es gibt keine solche Ankündigung des Bundesbauministers.
Wohl aber gibt es die Zusicherung, die er gegenüber denen abgegeben hat, die ihn daraufhin angesprochen haben, diese Forderung zu prüfen.
Jetzt rufe ich die Frage 24 des Abgeordneten Kastning auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Situation, daß sich die Wohnungsfürsorge für versetzte Soldaten der Bundeswehr und ihre Familien trotz festgestellten allgemeinen Wohnungsmangels, erhöhter Nachfrage, steigender Mieten sowie bestehenden Wettbewerbs zwischen Wohnungsanbietern nach dem Wegfall des Besetzungsrechts für Bundesdarlehenswohnungen auf Vermittlungsbemühungen um Wohnungen des freien Marktes beschränken soll?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kastning, wenn Sie damit einverstanden sind, würde ich gern beide Fragen zusammen beantworten.
Der Abgeordnete ist einverstanden. Dann rufe ich auch die Frage 25 des Abgeordneten Kastning auf:
Was beabsichtigt die Bundesregierung zu unternehmen, um die sich daraus ergebenden nachteiligen Folgen zu mildern bzw. zu verhindern?
Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kastning, wie Sie zu Recht in Ihrer Frage andeuten, sind Umfang und Wirkungsgrad der Wohnungsfürsorge u. a. von der allgemeinen Wohnungslage abhängig. Das breite und auch attraktive Angebot auf den örtlichen Wohnungsmärkten hat dazu geführt, daß die Angehörigen der Bundeswehr überwiegend Wohnungen des freien Marktes anmieten und ein großer Teil der mit Bundesmitteln geförderten Wohnungen bisher zur anderweitigen Vermietung freigegeben werden mußte.
Inzwischen gibt es in den wirtschaftsstarken Ballungsgebieten und den dortigen Standorten der Bundeswehr Engpässe im Wohnungsangebot. Aus diesem Grunde beschränkt sich die Wohnungsfürsorge des Bundes in diesen Gebieten auch nicht allein auf Vermittlung von im Besetzungsrecht des Bundes stehenden Wohnungen und von Wohnungen des freien Wohnungsmarktes. Die Bundesregierung ist vielmehr bemüht, gerade dort den Bestand an verfügbaren Wohnungen durch Verlängerung oder Erneuerung von Wohnungsbesetzungsrechten zu erhalten. So konnten seit 1985 insgesamt 1 253 Besetzungsrechte verlängert oder neu begründet werden. Auch hat die Bundesregierung mit dem Bundeshaushalt 1989 Voraussetzungen dafür geschaffen, daß zur Verbesserung der Wohnraumversorgung von Soldaten und ihren Familien neben der Eigentumsförderung und weiteren Besetzungsrechtsverlängerungen noch in diesem Jahr die Förderung des Baus einer größeren Zahl von neuen Mietwohnungen eingeleitet werden kann. Der Bund hat deshalb die Mittel für die Wohnungsfürsorge von 15 Millionen DM im vergangenen Jahr auf 41 Millionen DM im laufenden Jahr erhöht.
Zusatzfrage, Herr Kastning.
Herr Staatssekretär, trotz dieser zum Teil grundsätzlich positiven Antwort möchte ich Sie noch fragen: Trifft es denn zu, daß vom April 1987 bis April 1988, also im letzten Jahr, auf Grund eines Berichtes über Bundeswehrwohnungsfragen, den es wohl gibt, 3 000 Bundesdarlehenswohnungen verlorengegangen sind und daß von diesen 3 000 2 500 allein in der Zeit von Oktober 1987 bis Frühjahr 1988 weggefallen sind, es also einen erklecklichen Schwund gegeben hat?Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bin gern bereit, Ihnen eine Auskunft darüber zukommen zu lassen, ob die Zahl, die Sie eben genannt haben, zutrifft. Ich kann sie natürlich aus der hohlen Hand nicht bestätigen. Aber insgesamt ist sicher die Tendenz vorhanden, daß an vielen Standorten wegen des ausgeglichenen Wohnungsmarktes sich die Soldaten am freien Wohnungsmarkt versorgen, nicht mehr Wohnungen aus dem Bestand der Wohnungsfürsorge angemietet haben und dementsprechend diese Wohnungen freigegeben werden mußten. Von daher wurde auch dort, wo Besetzungsrechte zur Ver-
Metadaten/Kopzeile:
8954 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Parl. Staatssekretär Echternachlängerung anstanden, oft eine Verlängerung nicht für erforderlich gehalten. Insofern sind Besetzungsrechte durchaus auch ausgelaufen.
Weitere Zusatzfrage, Herr Kastning.
Nach meinen Informationen hat sich auch bei den Bundesmietwohnungen im Verlauf der letzten anderthalb Jahre keine nennenswerte Erhöhung der Zahl der Wohneinheiten ergeben. Ich glaube, es handelt sich nur um 50 oder 60 Einheiten. Deswegen möchte ich Sie, nachdem Sie für 1989 eine größere Anzahl angekündigt haben, etwas konkreter fragen: In welcher Größenordnung sollen Wohnungen — ich glaube, es sollen Darlehenswohnungen sein — neu geschaffen werden?
Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kastning, ich sagte schon: Wir haben die Mittel um 26 Millionen DM, von 15 auf 41 Millionen DM, aufgestockt. In welchem Umfang mit diesen Mitteln neue Wohnungen gebaut werden können, wird sich auch daraus ergeben, ob wir für die Wohnungsfürsorge genau wie für den sozialen Wohnungsbau den neuen, dritten Förderungsweg in Zukunft werden einschlagen können. Der Bundestag hat ja in diesem Sinne beschlossen; der Bundesrat wird darüber im nächsten Monat entscheiden.
Wenn dieser dritte Förderungsweg so Gesetz wird, ergibt sich die Möglichkeit, mit einem geringeren Subventionsaufwand eine größere Zahl von Wohnungen für einen begrenzten Zeitraum für die Besetzung mit Wohnungsfürsorgefällen zu erwerben. Mindestens aber kann mit dieser Summe eine dreistellige Zahl von neuen Mietwohnungen errichtet werden. Dabei denken wir insbesondere an die Brennpunkte, in denen wir heute besondere Engpässe haben, an den Raum Stuttgart und an den Raum München.
Weitere Zusatzfrage, Herr Kastning.
In welchem Umfang gibt es denn nach Einschätzung Ihres Hauses einen Modernisierungsbedarf bei Bundesdarlehenswohnungen, der ja, wenn man ihm nachkäme, zu einer Entlastung führen würde, weil Besetzungsrechte damit, glaube ich, verlängert würden?
Echternach, Parl. Staatssekretär: Es gibt einen Modernisierungsbedarf, der allerdings im Moment von mir nicht quantifiziert werden kann. Auch da bin ich gerne bereit, Ihnen eine entsprechende Auskunft schriftlich zukommen zu lassen.
Keine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Kastning. Aber Herr Dr. Sperling möchte noch eine Frage stellen.
Herr Staatssekretär, ist denn dieser Mangel an Bundesdarlehenswohnungen, der nun offensichtlich eingetreten ist, auch auf eine falsche Beratung zurückzuführen, die Ihr Minister, Herr Schneider, gegenüber der „Welt" — Verzeihung,
Herr Präsident — als eine Beratung von „Klugscheißern von Professoren" gekennzeichnet hat, die dazu geführt hat, daß man die Entwicklungen auf den Wohnungsmärkten völlig falsch eingeschätzt hat?
Echternach, Parl. Staatssekretär: Die Antwort lautet nein, Herr Kollege Sperling.
Sie wissen sehr genau, daß sich die Wohnungsmarktsituation in den letzten Jahren insgesamt drastisch verändert hat, daß wir noch vor kurzer Zeit lautstarke Klagen über leerstehende Wohnungen hatten, daß es Länderwohnungsbauminister gegeben hat, die leerstehende Wohnungshochhäuser sogar in die Luft sprengen wollten. Inzwischen haben wir eine veränderte Lage auf dem Wohnungsmarkt im allgemeinen, insbesondere in den wirtschaftsstarken Ballungszentren. Das wirkt sich natürlich auch auf die Wohnungsfürsorge aus.
Sie haben mich um Verzeihung gebeten, Herr Sperling. Ich wollte hinzufügen, daß ich dem natürlich entspreche. Aber allgemein trete ich dafür ein, daß bei der Verwendung der deutschen Sprache das Sprachniveau selbst bei Ministern doch ein höheres sein sollte.
Herr Kastning hat noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich darf Sie noch einmal fragen: Es trifft doch sicher zu, daß rund 35 000 Bundesbedienstetenwohnungen von NichtBundeswehrangehörigen belegt sind? Darf ich Sie um Auskunft bitten — gegebenenfalls schriftlich nach dieser Fragestunde — , an welchen Bundeswehrstandorten eine solche Art von Fremdbelegung u. a. zu Schwierigkeiten bei der Wohnungsvermittlung für Bundeswehrangehörige geführt hat?
Echternach, Parl. Staatssekretär: Dazu bin ich gerne bereit.
Dann kriegen Sie aber ein ganzes Paket Briefe.
Wir sind am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Herr Staatsminister Schäfer steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.Die Frage 26 des Abgeordneten Lowack soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Wir kommen zur Frage 27 des Abgeordneten Jäger:Welche Zusicherungen im Hinblick auf die Achtung der Menschen- und Volksgnippenrechte der in den Oder-Neiße-Gebieten lebenden Deutschen, die einen Besuch des Bundeskanzlers in Polen rechtfertigen würden, hat die Bundesregierung von der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8955
Vizepräsident Westphalpolnischen Regierung bisher erhalten, und ist die polnische Regierung insbesondere bereit, das Bestehen einer deutschen Minderheit jetzt nach den Beschlüssen von Wien offiziell anzuerkennen?Bitte schön, Herr Staatsminister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, die Bundesregierung setzt sich gegenüber der polnischen Regierung seit langem dafür ein, daß den in der Volksrepublik Polen wohnenden Deutschen die Möglichkeit gegeben wird, ihre kulturellen und sprachlichen Traditionen zu pflegen. Dieses Thema gehört zu den Fragen, die beide Seiten mit dem Ziel behandeln, in den deutsch-polnischen Beziehungen in diesem Jahr einen Durchbruch zu erzielen.
Zusatzfrage, Herr Jäger.
Herr Staatsminister, da Sie die Frage, die ich gestellt habe, leider nicht beantwortet haben, möchte ich die Zusatzfrage stellen, ob es zutrifft, daß sich der Bundeskanzler dahin gehend geäußert hat, daß er keineswegs um jeden Preis nach Warschau reisen werde, sondern nur dann, wenn er eine befriedigende Regelung der noch offenen Fragen — und dazu gehört die angesprochene Frage ja wohl — in Aussicht gestellt bekomme.
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, der Herr Bundeskanzler hat die Absicht, die Volksrepublik Polen in diesem Jahr zu besuchen, sobald die Voraussetzungen geschaffen sind, die auch die Klärung menschenrechtlicher und humanitärer Fragen umfassen.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Jäger.
Herr Staatsminister, gehört zu diesen Voraussetzungen auch, daß die Volksrepublik Polen endlich in Übereinstimmung mit den KSZE-Beschlüssen — jetzt etwa in Wien — die den Volksgruppen und nationalen Minderheiten zustehenden Regelungen auf die Deutschen erstreckt, die in ihrem Machtbereich leben?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, wir gehen davon aus, daß alle Gespräche, die vor der Reise des Bundeskanzlers geführt werden, auch dem Ziel dienen — das habe ich gerade zum Ausdruck gebracht —, die in der Volksrepublik Polen wohnenden Deutschen bei ihren Bemühungen um kulturelle Identität zu unterstützen und ihre humanitären Ansprüche zu erfüllen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Sperling.
Herr Staatsminister, teilt denn die Bundesregierung die in der Frage des verehrten Kollegen Jäger zum Ausdruck kommende Auffassung, daß nur eine Zusicherung von Fortschritten bei Menschen- und Volksgruppenrechten eine Reise des Bundeskanzlers nach Polen rechtfertigen könnte?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich dachte, meine Antwort an den Kollegen Jäger hätte deutlich gemacht, daß wir selbstverständlich bei einer Reise des Bundeskanzlers in die Volksrepublik Polen bemüht sind, zu erreichen, daß Anliegen, die wir schon seit langem der polnischen Regierung vortragen, seitens der polnischen Regierung mit größerem Entgegenkommen behandelt werden, als es bisher der Fall war. Ich glaube, das ist eine selbstverständliche Angelegenheit. Ich glaube aber nicht, daß die Reise des Bundeskanzlers ausschließlich von diesen Gesichtspunkten bestimmt wird.
Ich rufe die Frage 28 des Abgeordneten Jäger auf:
Ist der Bundesregierung der Bericht des US-Senators Christenson vor dem Senatsausschuß für auswärtige Beziehungen vom 22. Juni 1988 bekannt, der massiven Terror gegenüber südafrikanischen schwarzen Flüchtlingen seitens der SWAPO, der ANC und anderer Organisationen in Angola, Simbabwe, Sambia, Botswana und Kenia enthüllt, und was gedenkt die Bundesregierung auf Grund der Intervention von Menschenrechtsorganisationen auch in der Bundesrepublik Deutschland zu tun, um die genannten Staaten in Afrika zu einem Eingreifen zum Schutz der Menschenrechte dieser Flüchtlinge zu veranlassen?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Jäger, der Bundesregierung ist dieser Bericht nicht bekannt. Sie hat jedoch mehrfach durch Menschenrechtsorganisationen — sowohl durch amnesty international wie durch die deutsche Sektion der IGFM und ein von ihr betreutes namibisches Elternkomitee — Kenntnis von solchen Vorwürfen gegen die SWAPO erhalten. Sie hat diese mehrfach gegenüber der SWAPO zur Sprache gebracht. Die SWAPO hat der Bundesregierung gegenüber diese Vorwürfe stets als südafrikanische Propaganda zurückgewiesen. Die Bundesregierung hat sich ferner in jedem ihr bekanntgewordenen Fall um konkrete Auskünfte über das Schicksal von angeblichen SWAPO-Gefangenen gegenüber den Regierungen der Aufenthaltsländer Sambia und Angola und der SWAPO bemüht. Sie hat in dieser Frage Kontakt auch mit dem UNHCR und dem Internationalen Roten Kreuz aufgenommen. Beweise für die Vorwürfe gegen die SWAPO liegen der Bundesregierung bislang nicht vor. Die Bundesregierung geht aber allen Vorwürfen dieser Art selbstverständlich immer nach.
Zusatzfrage, Herr Jäger.
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung bereit, sich diesen Bericht, den sie ja bestimmt erhalten kann, zu beschaffen und sich daraus z. B. darüber sachkundig zu machen, daß in verschiedenen südafrikanischen Lagern von SWAPO und ANC im Ostblock ausgebildete sogenannte Kommissare ihr Handwerk treiben, die mit brutalen Maßnahmen bis hin zur Exekution solche Schwarze „behandeln", die nicht auf die jeweilige parteipolitische Linie einzuschwenken bereit sind?Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Jäger, ich glaube, bei allem Verständnis dafür, daß Sie jetzt sehr großen Wert darauf legen, aus einem Bericht, der uns sicher zugänglich gemacht werden kann, irgendwelche Konsequenzen zu ziehen, möchte ich doch einmal generell darauf hinweisen, daß wir im Augenblick in einer Situation sind, in der wir davon ausgehen kön-
Metadaten/Kopzeile:
8956 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Staatsminister Schäfernen, daß die Flüchtlingslager in anderen Staaten bald aufgelöst werden können, weil wir vor einer Implementierung der Resolution 435 stehen. Das heißt, daß die SWAPO zur Durchführung freier Wahlen auch wieder Zugang nach Namibia hat und sich damit diese Probleme sowieso lösen werden. Wir verfolgen aber alle menschenrechtlichen Fälle bis zu diesem Zeitpunkt mit Akribie weiter.
Bitte schön, Herr Jäger, die zweite Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, wenn es sich so verhält, wie Sie sagen, daß alle Menschenrechtsverletzungen mit Akribie verfolgt werden, wie erklären Sie es sich dann, daß ein so wichtiger Bericht wie der des amerikanischen Senators Christenson, nach dem ich gefragt habe, der Bundesregierung bisher nicht bekannt ist und daß sie bisher noch keine konkreten Nachforschungen über die in diesem Bericht zum Ausdruck gebrachten schweren Menschenrechtsverletzungen angestellt hat?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe darauf hingewiesen, daß dieser Bericht uns bis zur Stunde nicht vorliegt. Ich darf darauf hinweisen, daß es sich dabei um einen Senator aus den Vereinigten Staaten von Amerika handelt,
der vor dem Senatsausschuß für auswärtige Beziehungen in Washington eine Aussage gemacht hat. Ich bitte um Verständnis dafür, daß wir nicht sämtliche Protokolle und Berichte, die dem Auswärtigen Ausschuß des amerikanischen Senats vorgelegt werden, verfolgen können. Sie haben uns darauf aufmerksam gemacht, und wir können uns den Bericht sicher ansehen.
Ich darf aber wiederholen: Wir haben Vorwürfe, die uns von den verschiedensten Organisationen zur Kenntnis gebracht worden sind, verfolgt. Wir haben uns mit dem UN-Flüchtlingskommissar und mit dem Internationalen Roten Kreuz in Verbindung gesetzt. Die Vorwürfe konnten bis zur Stunde nicht bewiesen werden. Aber wir haben darauf hingewiesen und der SWAPO bei jedem Gespräch gesagt, daß solche Vorwürfe aus der Welt geschafft werden müssen.
Die Fragen 29 und 30 der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher sind zurückgezogen worden.
Die Fragen 31 und 32 des Abgeordneten Duve sowie 33 und 34 des Abgeordneten Westphal sind auf Bitten der Abgeordneten zur schriftlichen Beantwortung vorgesehen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe Frage 35 des Abgeordneten Gansel auf:
Hält die Bundesregierung ihre Angaben in ihrer Antwort auf meine parlamentarische Anfrage vom 1. Dezember 1988 aufrecht, daß Bundesaußenminister Genscher sich bei seinem Besuch in Teheran „wie bereits zweimal zuvor gegenüber der iranischen Führung ausdrücklich für Dr. Danesh eingesetzt und gebeten hat, das gegen ihn offenbar verhängte Todesurteil nicht zu vollstrecken", und wann hat der Bundesaußenminister Genscher erfahren, daß Dr. Danesh, für dessen Leben sich viele Bundestagsabgeordnete in Briefen an iranische Regierungsmitglieder und an den Bundesaußenminister eingesetzt hatten, wenige Tage vor dem Besuch des Bundesaußenministers auf Veranlassung der iranischen Führung schon umgebracht worden war?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung erhält die zitierte Antwort aufrecht.
Während des Besuchs von Bundesaußenminister Genscher in Teheran Ende November war eine gesicherte Information über das Schicksal von Herrn Dr. Danesh nicht zu erhalten. Auf das eindringliche Ersuchen des Ministers hin hat die iranische Regierung die Hinrichtung von Dr. Danesh Mitte Dezember offiziell bestätigt. Demnach hatte die Hinrichtung bereits einige Monate zuvor stattgefunden.
Eine Zusatzfrage, Herr Gansel.
Ist Ihre Antwort so zu verstehen, daß sich die iranische Führung angehört hat, wie sich der Bundesaußenminister persönlich dafür einsetzte, daß Dr. Danesh am Leben bleiben möge, daß zu diesem Zeitpunkt Dr. Danesh aber schon umgebracht worden war und die iranische Führung dies Bundesminister Genscher nach seinem Vortrag nicht mitgeteilt hat?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, wir haben genau diese Frage der iranischen Regierung gestellt. Daraufhin ist uns erklärt worden, die Nachforschungen nach dem Schicksal von Herrn Dr. Danesh auf Grund der Bemühungen des Bundesaußenministers in Teheran seien dadurch kompliziert worden — ich kann nur zitieren, was die iranische Regierung gesagt hat — , daß Dr. Danesh bei den iranischen Justizbehörden unter einem anderen Namen, Schariad Panahi, geführt worden sei. Das ist die Mitteilung, die uns auf Grund genau der Einlassung gegeben wurde, die Sie jetzt mir gegenüber machen und die wir gegenüber der iranischen Regierung gemacht haben.
Zusatzfrage, Herr Gansel.
Herr Staatsminister, wie reagiert eine Regierung gegenüber einer ausländischen Regierung, wenn Anlaß zu der Annahme gegeben sein könnte, daß ein Mensch umgebracht worden ist, weil sich der Außenminister für sein Leben einsetzen wollte? Wie reagieren Sie darauf, mit Erklärungen, mit Beileidsschreiben und dann „business as usual", oder wie reagiert die Bundesregierung auf diesen inhumanen Akt und auf diese Demütigung?Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, zunächst enthält Ihre Frage die — möglicherweise nicht beabsichtigte — Unterstellung, Herr Danesh sei umgebracht worden, w e i 1 sich der Bundesminister für ihn eingesetzt habe. Davon kann natürlich keine Rede sein. Nach dem, was wir jetzt wissen, ist Dr. Danesh vielmehr bereits Monate vor der Mitteilung der iranischen Regierung — ich hatte gesagt, im Dezember wurden wir offiziell informiert — hingerichtet worden, also wahrscheinlich vor dem Besuch von Herrn Genscher. Er ist also sicher nicht deshalb hingerichtet worden, weil sich Herr Genscher für ihn eingesetzt hat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8957
Staatsminister SchäferIch kann Ihnen auch sagen, wie wir darauf reagieren. Der Bundesaußenminister hat, nachdem ihm die Bestätigung der Hinrichtung mitgeteilt worden ist, betroffen reagiert und gegenüber der iranischen Regierung sein tiefes Befremden über die negative Reaktion auf sein Ersuchen und die Umstände der Unterrichtung über das Schicksal von Herrn Dr. Danesh zum Ausdruck gebracht. Das ist erfolgt.
— Herr Kollege Gansel, es steht Ihnen natürlich frei, Initiativen zu entwickeln, die über das, was wir getan haben, hinausgehen. Sie wissen aber, wie schwierig es ist — Sie selbst haben sich gemeinsam mit mir im Iran vor Jahren davon überzeugen können — , menschenrechtliche Fragen befriedigend zu lösen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatsminister, kann ich davon ausgehen, daß die Bundesregierung ohne eigene Nachprüfungen der iranischen Regierung ihre Erklärung abnimmt?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Jungmann, wir können natürlich nicht in den Akten iranischer Ministerien nachprüfen, ob es zutrifft, daß Herr Dr. Danesh unter einem anderen Namen geführt worden ist. Ich bitte um Verständnis dafür.
Bitte schön, zu einer Zusatzfrage, Herr Weisskirchen.
Herr Staatsminister, wie läßt sich denn erreichen, daß künftig solche schrecklichen Fälle, wie sie hier erörtert worden sind, bei der Regierung in Teheran nicht in ähnlicher Weise wieder vorkommen können? Welche Maßnahmen der Vorbeugung hat sich die Regierung überlegt?
Schäfer, Staatsminister: Sie wissen, Herr Kollege, daß wir in allen ähnlichen Fällen nicht nur gegenüber der Regierung in Teheran, sondern auch bei anderen Regierungen solche Ereignisse zum Anlaß nehmen, die betreffenden Regierungen dringend aufzufordern, die Menschenrechte einzuhalten. Aber Sie wissen auch, wie schwer es ist, gleichgültig, welche Bundesregierung hier sitzt, diese Staaten zu veranlassen, unseren dringenden Ersuchen nachzukommen.
Zusatzfrage, Frau Dr. Götte.
Herr Staatsminister, wie schätzt denn die Bundesregierung ihren eigenen Informationsstand ein, was Menschenrechtsverletzungen aus jüngster Zeit aus dem Iran betrifft? Verlassen Sie sich auf die Informationen, die Ihnen von amnesty international gegeben werden? Haben Sie die Möglichkeit, eigene Informationen einzuholen? Wie schätzen Sie den Stand Ihres Informationsgrades ein?
Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, es ist natürlich in diesem Fall äußerst schwierig, verläßliche Informationen zu erhalten und solche Informationen im Iran nachzuprüfen. Sie haben zu Recht amnesty international zitiert, und Sie haben andere Quellen genannt.
Ich darf hinzufügen: Auch das, was die Deutsche Botschaft, was dort akkreditierte Journalisten erfahren, spielt bei den Kenntnissen eine Rolle, die wir über die internen Vorgänge im Iran haben. Es ist sicher richtig, daß manches an den Zahlen, die von den Gegnern des Khomeini-Regimes genannt werden, übertrieben ist, wenn es um Tausende und aber Tausende von Hinrichtungen geht, von denen uns jeden Tag in der Zeitung berichtet wird. Es ist aber auch richtig, daß es nach der Beendigung des Krieges offensichtlich eine Welle von Hinrichtungen gegeben hat, die angeblich mit der Tatsache zusammenhängt, daß es sich hierbei um Gegner der Regierung gehandelt haben soll, die mit dem Feind, wie es dort heißt, kooperiert haben. Übrigens ist das auch eine Argumentation, die bei dem Nachbarstaat Irak wiederholt angeführt worden ist. Sie kennen das.
Es ist ungemein schwer, angesichts der derzeitigen Situation im Iran, völlig verläßliche Daten zu bekommen. Wir bemühen uns, aus allen uns zur Verfügung stehenden Quellen solche Daten zu erhalten.
Dann rufe ich die Frage 36 des Abgeordneten Jungmann auf:
Mit welchen konkreten Entscheidungen und Maßnahmen hat Bundesaußenminister Genscher auf die Nachricht reagiert, daß die iranische Führung Dr. Danesh wenige Tage vor dem Besuch des Ministers in Teheran hat umbringen lassen, obwohl sie wußte, daß Bundesaußenminister Genscher von Abgeordneten aller Fraktionen des Deutschen Bundestages gebeten worden war, sich anläßlich seines Besuches im Iran für das Leben von Dr. Danesh einzusetzen?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, Bundesaußenminister Genscher hatte sich seit Anfang September 1988 gegenüber der iranischen Regierung mehrfach eindringlich für Herrn Dr. Danesh eingesetzt, noch bevor Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit dem Fall befaßt waren. Die iranische Regierung hat die kurz vor dem Besuch des Ministers in Teheran aufgekommenen Meldungen über die Hinrichtung von Dr. Danesh zunächst nicht bestätigt. Dies geschah auf eindringliches Ersuchen erst Mitte Dezember 1988. Demnach, nach dieser Information, hatte die Hinrichtung bereits — ich sagte das schon — einige Monate zuvor stattgefunden.
Zusatzfrage, Herr Jungmann.
Herr Staatsminister, wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat sich der Außenminister nach Ihrer Aussage seit September für das Leben des Dr. Danesh gegenüber der iranischen Regierung eingesetzt. Erst sein persönlicher Besuch im Iran am 1. September und die Intervention auf Grund der Gerüchte haben dann zu einer Nachforschung geführt? Was läßt sich ein deutscher Außenminister eigentlich alles in so einem Land gefallen?
Metadaten/Kopzeile:
8958 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich hatte sehr ausführlich bereits im Anschluß an die vorher gestellten Fragen darauf hingewiesen, daß bei dem Besuch des Ministers keine Auskunft zu erhalten war und daß auf unser eindringliches Ersuchen und nachdem uns andere Hinweise gegeben worden waren, die iranische Regierung im Dezember bestätigte, daß Herr Danesh hingerichtet worden ist. Ich habe auch versucht, klarzumachen — ich kann mich nur wiederholen —, daß wir der iranischen Regierung gegenüber sehr deutlich zum Ausdruck gebracht haben, daß es so nicht gehen kann.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Jungmann.
Können Sie denn dann hier darstellen, welche Reaktion der Außenminister auf seine Intervention vom September bis zu seinem Besuch im Dezember von der iranischen Regierung bekommen hat?
Schäfer, Staatsminister: Ich hatte Ihnen das, was mir an Informationen zur Verfügung steht, bereits genannt.
Eine Zusatzfrage, Herr Dr. Sperling.
Herr Staatsminister, ich erinnere mich, daß es Zeiten gegeben hat, in denen unsere Regierung mit einer menschenrechtsfeindlichen Regierung im Iran behutsam umgegangen ist, weil dadurch etwas erreichbar war, z. B. die Befreiung amerikanischer Geiseln. Gibt es gegenwärtig irgendwelche gleichgearteten Gründe, um der iranischen Regierung bei ihrem Verhalten behutsam entgegenzukommen?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich würde den Begriff „behutsam entgegenkommen" in menschenrechtlichen Fragen für nicht richtig halten. Wir sind ihr nicht behutsam entgegengekommen. Sie deuten an, wir hätten sozusagen solche Hinweise oder den Fall Danesh behutsam aufgenommen und nichts unternommen. Das ist nicht der Fall.
Ich habe aber zu Ihrer Frage grundsätzlich zu sagen, daß unser Bemühen gegenüber beiden Kriegsparteien, Iran und Irak, den Frieden zu fördern, auch bei der Art und Weise unserer Reaktion gegenüber beiden Staaten eine Rolle gespielt hat. Sie erinnern sich an die Debatten über die Kurdenfrage und über den Einsatz von Chemiewaffen gegen die Kurden im Irak, die hier geführt worden sind. In beiden Fällen hat die Bundesregierung interveniert und ihre Meinung zum Ausdruck gebracht. Aber gleichzeitig war sie bemüht, die Kontakte aufrechtzuerhalten, damit es dort zum Frieden kommt. Das ist immer noch nicht der Fall. Es gibt einen Waffenstillstand; aber noch sind wir nicht bei dem Frieden, den wir alle wünschen.
Herr Gansel zu einer weiteren Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ich bedaure, daß Sie diese Fragen beantworten müssen, bei denen eigentlich der Außenminister selbst Rede und Antwort stehen müßte. Aber haben Sie Verständnis dafür, daß sich für einen Abgeordneten des Bundestages die Situation folgendermaßen darstellt.
Eine große Anzahl von Bundestagsabgeordneten, Abgeordnete aus allen Fraktionen — auch Herr Bötsch, der mir gerade zunickt, hat es getan — schreiben an die iranische Regierung und an die iranische Botschaft und setzen sich aus humanitären Gründen für das Leben eines Menschen ein. Sie schreiben auch an Bundesaußenminister Genscher, der den Iran besuchen will. Sie bekommen hinhaltende Antworten. Der Bundesaußenminister wird in Teheran von den Iranern mit einer Falschauskunft zu einem Zeitpunkt abgespeist, als in der Bundesrepublik und bei den Journalisten in Teheran, die den Minister begleiteten, das Gerücht herumlief, Dr. Danesh sei schon umgebracht worden. Dann wickelt der Bundesaußenminister seinen Besuch wie normal ab. Nachdem er 14 Tage später erfahren hat, daß der Mann tot ist, schickt er ein Telegramm der Empörung, und das war es.
Glauben Sie, daß man mit dem iranischen Regime so umgehen darf? Glauben Sie, daß man in Zukunft hoffen kann, sich so weiter für das Leben von Menschen einsetzen zu können. Glauben Sie, daß man so den Stolz und das Selbstwertgefühl gegenüber einer Regierung wie der iranischen behalten kann?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Gansel, Sie haben Gelegenheit, im Deutschen Bundestag als Abgeordneter der Bundesregierung alternative Haltungen vorzuschlagen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß das, was im Fall Dr. Danesh geschehen ist, auch Herrn Genscher desavouiert hat, daß er über diese Methode sehr betroffen war, und daß er seiner Betroffenheit in der richtigen Form Ausdruck gegeben hat.
Aber Sie stellen mir jetzt die Frage nach weiteren Möglichkeiten. Dies sollten wir dann bitte gemeinsam und miteinander im Auswärtigen Ausschuß und möglicherweise auch im Plenum diskutieren. Wenn Sie Vorschläge haben, die sicherstellen, daß es anders gehen kann oder besser werden könnte, dann stehen wir natürlich gerne zur Verfügung, diese Vorschläge miteinander zu diskutieren.
Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen. Wir sind am Ende dieses Geschäftsbereichs.Ich rufe dann den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Vogt steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.Die Frage 41 des Abgeordneten Hinsken und die Frage 42 des Abgeordneten Stiegler sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Jetzt kommt Frage 43 der Abgeordneten Frau Steinhauer:Ist der Bundesregierung bekannt, daß durch die 9. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes, wonach Fortbildungsmaßnahmen nur noch im Rahmen einer Ermessensleistung bezuschußt werden, bei den antragstellenden Arbeitnehmern, die zum Beispiel von Arbeitslosigkeit bedroht sind, erhebliche Unsicherheit besteht, weil die Arbeitsämter mangels vorliegender Anordnung keine Entscheidung über die Kostenerstattung bei Teilnahme an einer beruflichen Bildungsmaßnahme geben können, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, damit Rechtsklarheit besteht?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8959
Vizepräsident WestphalBitte schön, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin, es ist nicht zutreffend, daß die Arbeitsämter im Hinblick auf die mit der Neunten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz vorgenommenen Änderungen keine Entscheidung über die Kostenerstattung nach § 45 des Arbeitsförderungsgesetzes treffen.
Unabhängig davon, daß der Förderungsanspruch bis zum 31. Dezember 1988 unverändert fortbestand, hat der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit schon mit Runderlaß vom 24. Oktober 1988 alle Dienststellen angewiesen, bei der Beratung von Antragstellern, die arbeitslos, von Arbeitslosigkeit unmittelbar bedroht oder Ungelernte sind, darauf hinzuweisen, daß dieser Personenkreis nach der Fassung des Gesetzentwurfs vorrangig zu fördern ist. Ergänzend wurde ebenfalls schon mit Runderlaß vom 7. November 1988 angeordnet, daß diesen Antragstellern der sonst übliche Hinweis auf die Gesetzesänderungen nicht mehr auszuhändigen ist.
Über vorliegende Förderungsanträge der vorstehend genannten Antragsteller wird grundsätzlich ohne Verzögerung entschieden.
Eine Zusatzfrage, Frau Steinhauer.
Herr Staatssekretär, trifft es denn nicht zu, daß die Arbeitsämter auf eine Anordnung warten, wie das Ermessen nach §§ 45, 44 etc. des Arbeitsförderungsgesetzes zu handhaben ist, und daß man in dieser Zeit — ich könnte Ihnen einen konkreten Fall nennen — noch keine Entscheidung hinsichtlich einer Förderung treffen kann, wenn Arbeitslosigkeit droht? Das gilt z. B. für die Aufstiegsförderung, die vom Arbeitgeber gefordert wird — hier eine Meisterprüfung im Handwerk — , weil sonst der Arbeitsplatz verlorengeht.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die Neufassung der Anordnung „Fortbildung und Umschulung" wird vom Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Arbeit in seiner Sitzung am 28. Februar dieses Jahres beraten. Soweit es der derzeitige Beratungsstand erlaubt, wird — das kann ich sagen — am 28. Februar 1989 abschließend über diese Neufassung der Anordnung entschieden werden.
Ich weise darauf hin, daß auf Grund der Erlasse, die ich vorhin in Beantwortung Ihrer Frage genannt habe, die Arbeitsverwaltung gegenüber arbeitslosen Arbeitnehmern, von Arbeitslosigkeit bedrohten Arbeitnehmern und ungelernten Arbeitnehmern in dem Sinne entscheidungsfähig ist, daß damit zu rechnen ist, daß sie die Kostenerstattung voll erhalten.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Steinhauer.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade eine Formulierung gebraucht, die mich stutzig macht: Es sei damit zu rechnen, daß sie das erhalten. Das schafft ja keineswegs Rechtsklarheit für den Betroffenen, wenn es darum geht, sich für die Fortbildung zu entscheiden und konkrete Vereinbarungen hinsichtlich der Fort- und Weiterbildung zu treffen. Meinen Sie nicht, daß der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit den Arbeitsämtern sagen sollte, daß sie bis zur neuen Anordnung auch éntsprechend dem neuen Gesetz zu arbeiten und zu entscheiden haben?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, das Gesetz ist am 1. Januar 1989 in Kraft getreten. Das Gesetz gilt. Der Präsident hat aber in den Runderlassen entsprechend dem Sinn des Gesetzentwurfs, so wie er im Herbst vorigen Jahres beraten und im Haus verabschiedet worden ist, darauf hingewiesen, daß bestimmte Personenkreise, die ich genannt habe, vorrangig zu fördern sind. Ich habe darauf hingewiesen, daß nach dem Stand des Gesprächs in dem von der Selbstverwaltung geschaffenen Arbeitskreis eben damit zu rechnen ist, daß die Anordnung so ausfällt, daß die genannten Personenkreise voll in die Kostenerstattung fallen.
Die Fragen 44 und 45 des Abgeordneten Müller werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Wimmer steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 46 des Abgeordneten Weisskirchen auf:
Welche Gründe haben den Bundesminister der Verteidigung bewogen, durch Erlaß zu regeln, daß künftig auch Firmen mit Sitz in Berlin Aufträge des Bundesamtes für Wehrtechnik und Beschaffung für die Bundeswehr erhalten können, und wie gliedert sich diese Regelung in die Berlin-Verträge ein?
Bitte schön, Herr Wimmer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Weisskirchen, die Bundesregierung ist bestrebt, die Wirtschaftskraft von Berlin weiter zu steigern und die Wettbewerbslage für Berliner Unternehmer weiter zu verbessern. Diesem Ziel dient auch die neue Regelung, nach der unter strenger Beachtung der Vorschriften der Kontrollratsgesetze Nr. 43 und 23 Beschaffungen der Bundeswehr in Berlin möglich sind. Damit können sich nunmehr in diesem Rahmen auch interessierte Firmen aus Berlin in das Vergabeverfahren der Bundeswehr einschalten. Diese Regelung steht im Einklang mit der Rechtslage Berlins. Die drei Mächte haben dieser Regelung zugestimmt.
Zusatzfrage, Herr Weisskirchen.
Wenn ich es richtig sehe, besagt die Rechtslage nach dem Gesetz Nr. 43 des Alliierten Kontrollrates, daß Kriegsmaterial dort nicht hergestellt werden kann, daß Bestandteile, Zubehörstücke, Ersatzteile und ähnliches Material, die für militärische Zwecke bestimmt sind, nicht hergestellt werden können. Wo sind da die Grenzlinien?
Metadaten/Kopzeile:
8960 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Weisskirchen
Sind sie ganz deutlich und klar erkennbar? Oder gibt es da fließende Übergänge?Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Weisskirchen, die Rechtslage ist absolut klar und eindeutig. Das können Sie schon aus der Tatsache entnehmen, daß die alliierten Mächte dieser Regelung zugestimmt haben.Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß die Streitkräfte über Kriegsmaterial hinaus natürlich einen sehr hohen Bedarf an Beschaffungen haben, der sich auf sogenanntes handelsübliches Gerät und handelsübliche Materialien bezieht. In dem Zusammenhang werden diese Beschaffungen auch durchgeführt.Es heißt ausdrücklich: Die Verbotslage nach den alliierten Gesetzen ist sehr eindeutig. Sie wird auch eindeutig gewährleistet, und die Beschaffungen werden in dem anderen Rahmen durchgeführt.
Weitere Zusatzfrage, Herr Weisskirchen.
Nun kann man sich vorstellen, daß das alles auch über den Transitweg gehen muß. Ich habe deswegen die Frage zu stellen, ob es bei Beschreitung der Transitwege rechtliche Komplikationen mit dem Viermächtestatus geben kann.
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Wir schließen diese Komplikationen in Anbetracht der getroffenen Regelungen aus.
Herr Jungmann zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß sich Berliner Firmen nur an Ausschreibungen der Bundeswehr beteiligen können, die Auftragsvergaben im handelsüblichen Bereich betreffen? Können Sie ausschließen, daß sich Berliner Firmen bei Ausschreibungen für Kriegsgerät als Unterlieferanten und Zulieferanten beteiligen?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Das richtet sich, wie gesagt, nach der eindeutigen Rechtslage. Wir haben diese Frage auch mit den Alliierten sorgfältig behandelt. Deswegen ist nach den für Berlin geltenden Definitionen unter dem Gesichtspunkt „Definition Kriegswaffen" eine eindeutige Regelung beschlossen worden. Danach richten sich alle anderen Umstände.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lüder.
Herr Staatssekretär, ist meine Erinnerung richtig, daß das Transitabkommen nicht auf den Lieferanten abstellt, sondern auf die Ware, so daß alle Produkte im Rahmen dieser Möglichkeiten, die jetzt kommen, auch durch den Transitverkehr gehen, wie z. B. Tischtücher für Kantinen, um ein konkretes Beispiel zu nennen?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß wir im Zusammenhang mit der eindeutigen
Rechtslage überhaupt keine Probleme mit dem Transitabkommen haben.
Dann rufe ich die Frage 47 des Herrn Abgeordneten Weisskirchen auf:
Wie groß ist das derzeitige Auftragsvolumen, welches das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung über Berlin abwickelt, und sind Verstöße gegen die bisher gültigen Entmilitarisierungsbestimmungen von Berlin (West) bekannt?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Auf Grund der neuen Regelung wurden von der Bundeswehr bisher sechs Aufträge mit einem Gesamtvolumen von zirka 32 000 DM an Firmen in Berlin vergeben.
Verstöße gegen die Entmilitarisierungsbestimmungen sind nicht bekannt.
Zusatzfrage, Herr Weisskirchen.
Wenn ich mich recht erinnere, haben die drei Westalliierten bisher nur eine einzige Ausnahmelizenz für die Julius Peters GmbH erteilt, soweit ich das aus der Literatur gesehen habe. Darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß es eine Reihe von Firmen gibt, die jetzt zusätzlich Rechte erworben haben?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich gehe dieser Frage gern nach und lasse sie einzeln überprüfen, insbesondere in Anbetracht der von Ihnen genannten Firma. Ich werde Ihnen die Antwort zukommen lassen.
Herr Weisskirchen zu einer zweiten Zusatzfrage.
Welche Funktionen hat bei diesen Aufträgen die Berliner Absatzorganisation BAO?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Dieser Frage werde ich in der gleichen Weise nachgehen. Die Einrichtungen, die in Berlin vorgesehen sind, sind mit den Bestimmungen nicht nur in gleicher Weise konfrontiert, sondern halten sie auch entsprechend ein. Deswegen kann ich zu der Berliner Situation nur sagen: Die Rechtslage ist sehr eindeutig. Die Regelungen sind eindeutig. Deswegen sollte man aus der Benennung der einen oder anderen Unternehmensgruppe oder Absatzorganisation keine anderen Schlüsse ziehen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Mechtersheimer.
Herr Staatssekretär, teilen Sie die Auffassung, daß ein massiver Einbruch in den Status der entmilitarisierten Stadt vorliegt, wenn das Ministerium dem BWB gegenüber folgendes angeordnet hat:Notwendigkeit und Umfang von Güteprüfungen in Berlin richten sich nach den für den Güteprüfdienst der Bundeswehr allgemein geltenden Vorschriften. Die Güteprüfaufgaben sind
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8961
Dr. Mechtersheimerim Wege der Dienstreise bzw. Abordnung wahrzunehmen.Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Mechtersheimer, ich gehe nicht davon aus, daß Ihre Vermutung auch unsere Auffassung ist, daß es sich um einen Verstoß gegen eine bestimmte Rechtssituation Berlins handelt.
Herr Lüder zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da die Berliner Absatzorganisation eine Unterorganisation der Industrie- und Handelskammer zu Berlin ist, die nur vorhandene Firmen betreuen kann, frage ich: Ist eine Änderung der Berliner Produktions-, Produkt- oder Angebotspalette durch Ihren Erlaß beabsichtigt?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lüder, wir gehen davon aus, daß die leistungsstarke Berliner Wirtschaft in Anbetracht der Nachfragesituation auch bei den deutschen Streitkräften ein ausreichendes Angebot im Rahmen dessen, was ich eben angesprochen habe, zur Verfügung stellen kann. Durch eine gute Berlin-Politik ist in den letzten sechs Jahren die Leistungsfähigkeit auch der Berliner Wirtschaft entscheidend gesteigert worden. Hier ist eine gute Entwicklung. Wenn sie noch besser werden kann — um so besser.
Die Frage 48 des Abgeordneten Dr. Klejdzinski wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Da der Abgeordnete Hederich nicht im Saal ist, wird seine Frage 49 entsprechend der Geschäftsordnung behandelt.
Ich rufe die Frage 50 des Abgeordneten Dr. Mechtersheimer auf:
Wie will die Bundesregierung diejenigen Soldaten und Reservisten der Bundeswehr behandeln, die in einem Mobilmachungsfall erkennen und erklären, daß ihr Gewissen ihnen den Kriegsdienst mit der Waffe verbietet?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Über den Antrag eines Soldaten oder gedienten Wehrpflichtigen auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nach Art. 4 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes entscheiden nach den Vorschriften des Dritten Abschnitts des Kriegsdienstverweigerungsgesetzes der Ausschuß bzw. die Kammern für Kriegsdienstverweigerung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hindert der Antrag nicht die Einberufung zum Wehrdienst.
Zusatzfrage, Herr Dr. Mechtersheimer.
Gibt es Planungen, daß die Kapazitäten der Prüfungskammern im Mobilmachungsfall erweitert werden?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Derartige Planungen liegen nicht vor.
Keine weitere Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 51 des Abgeordneten Mechtersheimer auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß eine Eingliederung dieser Kriegsdienstverweigerer im Mobilmachungsfall in Verbände der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes verfassungswidrig wäre, und fürchtet die Bundesregierung angesichts der derzeitigen Verweigerungsquoten bei zum Grundwehrdienst anstehenden Jugendlichen und bei Einberufenen zu Reserveübungen einen solchen Aufstand des Gewissens im Mobilmachungsfall, der die Handlungsfähigkeit der Streitkräfte stark einschränkt?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich kann die Frage des Herrn Kollegen Dr. Mechtersheimer zunächst einmal mit Nein beantworten. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Januar 1987 hindert der Antrag eines gedienten Wehrpflichtigen, ihn als Kriegsdienstverweigerer anzuerkennen, nicht seine Heranziehung zum Wehrdienst. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. April 1985 gebietet der Kernbereich des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung jedoch, daß im Spannungs- oder Verteidigungsfall ungediente Wehrpflichtige nur zu einem waffenlosen Dienst in den Streitkräften herangezogen werden. Eine derartige Einschränkung gilt für Soldaten und gediente Wehrpflichtige, d. h. Reservisten, nicht.
Herr Dr. Mechtersheimer, Zusatzfrage, bitte.
Das heißt aber, daß Soldaten, die den Antrag gestellt haben, an die Front müssen, bevor entschieden ist.
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Mechtersheimer, die Situation ist nicht so, wie Sie vermuten. Aber wir haben auch keine politische Situation, die eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser Frage heute als so zwingend erscheinen läßt, daß wir jede Eventualität ausschließen müssen.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Sind Sie dann nicht der Auffassung, daß man WINTEX/CIMEX sofort absagen kann?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Mechtersheimer, Sie wissen, daß die WINTER/ CIMEX-Übungen der allgemeinen staatlichen Planung in Notfall- und Krisenzeiten dienen.
Deswegen gehen wir davon aus, daß diese Übungen ihren Sinn machen und notwendig sind.
Ich rufe die Frage 52 des Abgeordneten Gansel auf:Hält die Bundesregierung es für zulässig, Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr für Tätigkeiten mit militärischem Bezug, wie z. B. Rüstungsprojekte oder Ausbildungshilfe im Dienst ausländischer Regierungen, zu beurlauben, und zugunsten welcher Staaten sind solche Beurlaubungen erfolgt?Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Metadaten/Kopzeile:
8962 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, die Bundesregierung hält es für zulässig, Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr auf entsprechenden Antrag für Tätigkeiten mit militärischem Bezug im Dienst ausländischer Regierungen ohne Geld- und Sachbezüge zu beurlauben, wenn die auszuübende Tätigkeit auch im gesamtpolitischen Interesse der Bundesrepublik Deutschland liegt. Dies wird in jedem Einzelfall unter Beteiligung aller zuständigen Ressorts geprüft. Entsprechend wurde auch von seiten der sozialliberalen Bundesregierung verfahren.Zur Zeit — darauf darf ich aufmerksam machen — sind Beurlaubungen für folgende Staaten ausgesprochen: Ecuador, Fidschi, Kuwait und Singapur.
Zusatzfrage, Herr Gansel.
Herr Staatssekretär, inwieweit hat die Bundesregierung einen Überblick darüber, ob auch aus dem Dienst ausgeschiedene Soldaten der Bundeswehr, die aber noch unter Geheimhaltungspflichten oder unter besonderen Auflagen in bezug auf die Ableistung von Reserveübungen stehen, im Ausland an militärischen Projekten beteiligt sind?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, ich darf darauf aufmerksam machen, daß Ihre Zusatzfrage vielleicht nicht in vollem Umfang von Ihrer ursprünglich gestellten Frage gedeckt ist.
Deshalb versuche ich, insoweit eine ergänzende Antwort darauf zu geben.
Wir sind uns darüber im klaren, daß wir möglicherweise nicht in jedem Einzelfall wissen, was von diesen ausgeschiedenen Offizieren, wenn sie die Bundeswehr verlassen haben, in Praxis gemacht wird. Wir können dieser Frage, wenn dies gewünscht wird, auch noch in vollem Umfang insoweit nachgehen, als wir Ihnen vielleicht Erfahrungswerte zur Verfügung stellen.
Sie haben noch eine weitere Zusatzfrage.
Sind Sie bereit, mir entsprechende schriftliche Auskünfte zu geben und dabei zu überprüfen, ob aus dem Dienst ausgeschiedene Offiziere und Unteroffiziere bei militärischen Projekten in Libyen, im Irak oder im Iran tätig sind?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Unter dem Gesichtspunkt, den Sie selber eingeführt haben, daß bestimmte Kriterien maßgebend sind, sind wir dazu bereit.
Sie hatten sich, Herr Jungmann, vor 15 Uhr gemeldet. Ich gebe Ihnen als letztem Zusatzfrager das Wort.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß auch ausgeschiedene Offiziere noch der Wehrüberwachung unterliegen und daß sie, wenn sie die Bundesrepublik Deutschland länger als drei Monate verlassen wollen, zum Verlassen die Genehmigung des Kreiswehrersatzamtes einholen müssen und dabei die Gründe ihres Auslandsaufenthaltes mitteilen müssen, und gab es auch in der Vergangenheit Beurlaubungen ohne Geld- und Sachbezüge für Messen, die Rüstungsunternehmen im Ausland durchgeführt haben, ohne daß unbedingt ein Interesse der Bundesrepublik Deutschland festzustellen war?
Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jungmann, das sind Erklärungstatbestände, wo wir auf zutreffende Angaben der betroffenen Personen angewiesen sind. Für den Fall, daß uns Mißbrauchstatbestände bekannt würden, würden wir diese Frage möglicherweise in der Weise beantworten können, wie Sie sie gerade hier gestellt haben. Aber da wir derzeit keine Veranlassung haben, davon auszugehen, daß Angaben unrichtiger Art gemacht worden sind, kann ich diese Frage auch noch nicht mal hypothetisch beantworten.
Wir sind wegen Zeitablaufs am Ende der Fragestunde. Ich bedaure, daß die letzten Fragen nicht mehr beantwortet werden konnten.
Die Fragen 53 und 54 der Abgeordneten Frau Dr. Götte, 55 des Abgeordneten Kolbow und 56 und 57 der Abgeordneten Frau Schmidt werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Fragestunde ist beendet.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 2 auf: Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu zunehmenden Aktivitäten von Alt- und Neonazisten, insbesondere der DVU
Die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem oben genannten Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Olms.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Nazis in der Bundesrepublik, die alten und die neuen, werden immer frecher. Klüger geworden sind sie in den letzten Jahren, treten unter neuen Namen als „DVU" oder als „Republikaner" zu Wahlen an, geben sich den Anschein bürgerlicher Reputierlichkeit. Die Drecksarbeit, Überfälle auf ausländische Mitbürger, Hakenkreuzschmierereien, Schmierereien an der Gedenkstätte in Berlin-Plötzensee, Brandanschläge auf Flüchtlingswohnheime usw., lassen sie von militanten Schlägertrupps verrichten.Sie verfügen — das kann niemanden überraschen — über finanzkräftige Gönner. Der DVU-Vorsitzende Frey läßt sich eine Postwurfsendung nicht weniger als 6 Millionen DM kosten. Ihr Inhalt: eine widerliche rassistische Hetze. Die Empfänger: 28 Millionen Haushalte, darunter viele ausländische Mitbürgerinnen. Auch sie werden aufgefordert, sich für Ausländerbegrenzung einzusetzen, sich dafür einzusetzen, daß sogenannte Scheinasylanten und kriminelle Ausländer abgeschoben werden und Arbeitsplätze nur an deutsche Arbeitnehmer vergeben werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8963
Frau OlmsAuch sie dürfen sich zur Belohnung kostenlos einen Aufkleber mit der Aufschrift bestellen: „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein".Was, meine Damen und Herren, glauben Sie wohl, haben diese ausländischen Mitbürgerinnen gedacht, als sie von höchster Stelle erfuhren, daß die Verbreitung von rassistischem Gedankengut in der Bundesrepublik grundgesetzlich geschützt ist, als sie erfuhren, daß der Bundespostminister in einer bei ihm bis dahin nie vermuteten Gesetzestreue seine Beamten anwies, diesen rassistischen Dreck zu verteilen, als sie erfuhren, daß Postbeamte, die sich weigern, die Nazipropaganda auszuteilen, mit Disziplinarmaßnahmen zu rechnen haben?
Aber warum sollte ein Postminister die Versendung von Forderungen stoppen wollen, die seine Bundesregierung in vielen Punkten bereits zum Programm erhoben hat oder fordert.
Was sollte auch ein Postminister gegen die Verbreitung von Freys Parolen haben, wenn sein eigener Parteifreund Stoiber öffentlich in lupenreinem Nazijargon vor der Gefahr einer „durchraßten" Gesellschaft warnt.
Frau Olms, ich muß Sie unterbrechen. Wir haben uns hier strikt vorgenommen, jeden Vergleich heutiger Verhaltensweisen mit denen der Nazizeit sofort zum Gegenstand einer Einwendung zu machen. Dies ist in unserer Art, in der wir unsere Verhandlungen führen, parlamentarisch nicht erlaubt. Bitte fahren Sie fort.
Wenn die Bundesregierung an den Aktivitäten von Neonazis überhaupt etwas beunruhigt, dann doch nur die Möglichkeit des Verlustes von Wählerstimmen. So wurde nach dem Tode von Franz Josef Strauß völlig schamlos darüber nachgedacht, ob es dem christdemokratischen Lager auch künftig gelingen könne, das rechtsradikale Wählerspektrum einzubinden. Die Antwort, obwohl sie brutalerweise einfach ist, wurde der Öffentlichkeit verschwiegen: Rechtsradikale einbinden kann nur eine Partei, die rechtsradikale Positionen vertritt. Das ist das Kalkül, das hinter den besorgten Mienen christdemokratischer Politiker steckt.
Die öffentlich zur Schau getragene Betroffenheit über Brandanschläge auf Ausländerwohnheime nehmen wir jedenfalls niemanden ab, der zur gleichen Zeit Flüchtlinge als Wirtschaftsasylanten, also als Schmarotzer am deutschen Wohlstand definiert.
Aber es gibt auch anderes zu berichten. Mehr als 20 000 Briefe der DVU werden täglich von empörten Bürgerinnen an die Postämter zurückgeschickt; weit mehr landen auf dem Müll. Die Postgewerkschaft meldet, daß immer mehr Postbotinnen sich weigern,
Nazipropaganda auszuteilen — trotz angedrohter Disziplinarmaßnahmen. Ihnen gilt unsere Solidarität.
— Die sind angedroht, das wissen Sie ganz genau!
Augenblick! Die Möglichkeit zu reden haben auch Sie. Zwischenrufe sind weiterhin erlaubt, nur müssen sie eine Grenze zumindest in der Länge haben.
: Solidarisch sind wir mit den 3 000 Schwelmer Bürgerinnen, denen es gelang, trotz und nicht wegen massiver Polizeipräsenz die Gründungsveranstaltung eines DVU-Ortsverbandes zu verhindern.
Überall gründen sich in Reaktion auf die Angriffe von Neonazis Bürgerinitiativen, um Solidarität mit Ausländern nicht nur zu bekunden, sondern auch zu praktizieren. Widerstand ist nötig. Ausgestattet mit finanziell großzügigen Mitteln, politisch von den Regierungsparteien zumindest geduldet, werden die Aktivitäten der Neonazis zunehmen. Ob als DVU oder in Berlin jetzt als Republikaner oder im kommenden Europawahlkampf, wir werden es mit einer dramatischen Zunahme an ausländerfeindlicher, rassistischer Propaganda und antidemokratischer Hetze zu tun haben. Und am 20. April dieses Jahres werden die alten und neuen Faschisten den 100. Geburtstag Hitlers für ihre Aufmärsche und Jubelfeiern nutzen.
Die Bürgerinnen können es sich jedenfalls nicht leisten, die kommenden Auseinandersetzungen den Regierenden zu überlassen. Der Kampf gegen Faschismus und Neofaschismus muß in die eigenen Hände genommen werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Olderog.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich schäme mich, daß in dieser Weise in dieser Sprache im Deutschen Bundestag vorgetragen werden kann.
Meine Damen und Herren, daß ein Rechtsradikaler wie Frey mit einem finanziellen Millionenaufwand seinen raffinierten Propagandabrief in jeden Haushalt schicken konnte, das ist mehr als ein politisches Ärgernis. Aber wir leben in einem Rechtsstaat, und
Metadaten/Kopzeile:
8964 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Dr. Olderogsosehr wir alle politisch den Inhalt und die dahinterstehende Absicht dieses Briefes scharf verurteilen,
so sehr müssen wir akzeptieren, daß die Bekämpfung des linken und rechten Extremismus nur im Rahmen unserer Verfassung und der Gesetze stattfinden darf.Wieviel stärker wäre doch der propagandistische Erfolg, die propagandistische Wirkung dieses Briefes gewesen, wenn nach einer rechtswidrigen Ablehnung der Verteilung durch die Bundespost ein unabhängiges Gericht in einer spektakulären Entscheidung die Verteilung angeordnet hätte!
Wir erleben doch immer wieder, daß Veranstaltungen kleiner rechtsradikaler Grüppchen erst dadurch die große Publizität erhalten, daß ihnen etwa kommunale Versammlungsräume rechtswidrig zunächst verweigert werden und ihnen anschließend Gerichte die Türen öffnen. Hüten wir uns davor, daß sich der Staat durch vom Gesetz nicht gedeckte Entscheidungen ins Unrecht setzt! Wir dürfen nicht eine Art Märtyrereflekt für die Rechtsradikalen entstehen lassen.
Es gibt heute keine alarmierende Entwicklung beim links- und rechtsextremistischen Potential in der Bundesrepublik Deutschland.
Wir haben Ende 1988 etwa 62 000 Mitglieder in linksextremistischen Organisationen mit einer fallenden Tendenz. Bei den Rechtsextremen sind es weniger als die Hälfte, nämlich etwa 28 000. Aber wir nehmen es ernst, daß hier ein leichter Anstieg zu verzeichnen ist, auch wenn wir von früheren erheblich höheren Zahlen — wie etwa 1967 mit 38 700 Mitgliedern — heute weit entfernt sind.Gerade in diesem Jahr ist eine historische Rückbesinnung besonders geboten. Uns wird bewußt, wie wichtig es ist, daß wir eine wehrhafte und streitbare Demokratie haben. Wir alle, die wir diese Demokratie wollen, sind aufgerufen, linken und rechten extremen Auffassungen und Kräften geistig offensiv entgegenzutreten.
Die Erfahrung zeigt, daß darüber hinaus geforderte gerichtliche Verbote, die nur auf Regierungsantrag erfolgen können, wenig wirksam sind. Das gilt auch für die FAP. Verbote schaffen selbst einer unbedeutenden Splitterpartei vor dem Bundesverfassungsgericht ein unverdientes propagandistisches Forum, vielleicht über Monate.
Das Verbot selbst kann später — wie wir aus der DKP-Zeit wissen — auch leicht umgangen werden.Meine Damen und Herren, wir müssen hervorheben: Mitglieder, vor allem Wähler rechtsextremer Parteien, wollen häufig keineswegs eine Neuauflage totalitärer Herrschaft. Oft wollen sie unter den gegebenen Umständen nur ihre Staats-, Parteien- und Politikverdrossenheit ausdrücken, insbesondere ihren Protest z. B. gegen die herrschende Ausländer-, Agrar- und Deutschlandpolitik der maßgeblichen Parteien, aber auch ihre Reaktion auf angebliche oder tatsächlich vorhandene Pannen, Skandale und Affären.Ein Anstieg der Wähler und Mitglieder im rechtsextremen Lager ist ein Alarmsignal und eine Herausforderung für die Regierungsverantwortlichen ebenso wie für die Opposition, die dann offensichtlich auch nicht zu überzeugen vermag. Insofern sind wir alle unmittelbar herausgefordert.Darüber hinaus sollten wir uns aber fragen, ob der Stil unserer politischen und parlamentarischen Auseinandersetzung — mit zu vielen Übertreibungen, Verallgemeinerungen und persönlichen Angriffen — nicht viele Mitbürger irritiert. Vor allem sind wir gemeinsam aufgerufen, unsere Demokratie jungen Menschen noch überzeugender zu vermitteln.
Das Wort hat der Abgeordnete Penner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß es Aktivitäten von Alt- und Neonazis gibt, ist nicht neu; daß sie in letzter Zeit besonders virulent geworden sind, ist bekannt, aber leider viel zuwenig beachtet. Daß die politische Auseinandersetzung damit rar — zu rar — ist, ist unbestreitbar.Dabei gibt es gerade in jüngster Zeit ein nachahmenswertes Beispiel. Ich denke an die Bürger von Schwelm: 4 000 Bürger haben in der vergangenen Woche friedlich gezeigt, daß sie vom Nazismus nichts halten, daß sie damit nichts zu tun haben wollen.Daß sich die Bundesregierung in die Nähe der Komplizenschaft und des finanziellen Nutznießers hat rükken lassen,
ist durch die Beförderung von Millionen rechtsradikaler Schmähschriften durch die Bundespost düsteres Ereignis geworden, Herr Kollege Pfeffermann.Die Bundesregierung pocht dabei auf geltendes Recht. Gewiß hat der Vorfall auch einen rechtlichen Aspekt. Ich füge hinzu: Welcher Lebenssachverhalt hat in der Bundesrepublik Deutschland nicht auch seine rechtliche Seite?In diesem Fall ist es die Postordnung, die minutiös anordnet, was die Post unter welchen Umständen nicht befördern darf. Das öffentliche Wohl und die Sittlichkeit dürfen nicht verletzt werden, so heißt es, und Bemerkungen politischen und religiösen Inhalts dürfen nur auf der Rückseite von Schreiben notiert werden und so weiter und so weiter.Natürlich gibt es auch Kommentare für alle diese Vorschriften und wahrscheinlich auch eine einge-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8965
Dr. Pennerschliffene Verwaltungspraxis. Obendrein kann sich die Post darauf berufen, daß sie an das Recht, nämlich an die Postordnung, gebunden ist. Kann es damit aber sein Bewenden haben? Dazu sage ich, dazu sagen wir Sozialdemokraten eindeutig nein.
Eine nicht erst jüngst zu beobachtende Neigung der Bundesregierung — wie beim Thema C-Waffen geschehen — , mit den Parametern gesetzeskonformen Handelns — „gerichtsverwertbar", „beweiskräftig" waren die vom Bundeskanzler in diesem Zusammenhang benutzten Vokabeln — politische Tatenlosigkeit oder gar Hilflosigkeit zu kaschieren, ist nicht hinnehmbar, schon gar nicht bei diesem Thema.
Wir wollen, ja, wir dürfen nicht vergessen, daß Rassenhaß, daß Chauvinismus, daß Fremdenfeindlichkeit Tod für Millionen Menschen, Völkermord, Unglück für viele Länder und Völker — uns Deutsche eingeschlossen — zur Folge gehabt haben. Und es ist ein besonderer Auftrag für uns Sozialdemokraten von den Menschen, die uns nahestehen, die uns vertrauen, ist Vermächtnis unserer politischen Väter, peinlich darüber zu wachen, daß Ausschwitz, daß Sobibor, daß Treblinka, daß Theresienstadt sich nie wiederholen dürfen.
Wir haben sie verstanden, die Empfänger, die Briefträgerinnen und Briefträger, die Briefsortiererinnen und die Briefsortierer und Postfahrer, die empört waren, mit jenem braunen Brei aus dem Hause jenes unsäglichen Verlegers in Berührung gebracht zu werden. Noch beklemmender ist die Tatsache, daß die Post damit Kasse gemacht hat, nämlich 3 Millionen DM mindestens.
Herr Minister, Herr Staatssekretär, die Post hat es fertiggebracht, die Versendung von Karten zu unterbinden, weil auf diesen der Wortlaut des Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes — „Männer und Frauen sind gleichberechtigt" — gedruckt war. Begründung: auf der Rückseite ja; auf der Aufschriftseite nein, weil politischer Inhalt.Herr Minister, Herr Staatssekretär, es ist schon eine besondere Delikatesse wenn Meßlatte für das Grundgesetz die Postordnung wird und der Wortlaut eines Grundrechts für nur bedingt transportfähig erklärt wird.
Herr Minister, wir wollen nicht daran glauben, daß Sie diesen Schwachsinn tatenlos hinnehmen
und jene Braunprodukte weiterhin passieren lassen.Wir wollen, daß Sie dies unterbinden und nicht Geburtshilfe für die Verbreitung von Nazi-Schriften leisten.Auch der Minister und seine Partei können sich nicht aus den Lehren des Geschehens der NS-Gewaltideologie und -Herrschaft entpflichten. Sie sind auf das Grundgesetz vereidigt, Herr Minister, auf die Unantastbarkeit der Würde des Menschen und den Grundrechtskatalog zuförderst. Mit dem Hinweis auf formalisierte Regeln, an die Sie gebunden sind, ist es nicht getan, ganz abgesehen davon, daß uns das Grundgesetz selbst aus wohlerwogenen Gründen auf die Beachtung von Gesetz und Recht festlegt. Hier geht es um Grundfragen unseres Staates. Bitte, Herr Minister, die Abkehr vom Nazismus muß ein unbestrittener Eckstein unseres Staatswesens sein und bleiben.
Das fordert zum Handeln heraus. Herr Minister, Herr Staatssekretär, walten Sie Ihres Amtes.
Das Wort hat der Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bundesweite Verteilung der Postwurfsendung für die Deutsche Volksunion hat bei den Postzustellern und bei der Bevölkerung verständlichen Ärger hervorgerufen, auch bei mir. Das ist gar keine Frage.
Aber Emotionen und Ironisierungen,
wie Sie, Herr Staatsanwalt a. D. Dr. Penner, es betreiben, helfen überhaupt nicht weiter.
Wir müssen uns vielmehr an die bestehende Rechtsordnung halten, und diese Rechtsordnung hat der Postminister ordnungsgemäß geprüft. Er hat § 13 der Postordnung, in der geregelt ist, unter welchen Voraussetzungen ein Ausschluß von der Postbeförderung erfolgen muß, ordnungsgemäß wahrgenommen. Dabei ist auch Rücksicht zu nehmen auf den hohen Rang des Grundrechts der freien Meinungsäußerung.
Der Ausschluß der Beförderung von Sendungen ist nach § 13 Abs. 1 nur in sehr engen Grenzen möglich.
Metadaten/Kopzeile:
8966 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Funke— Wir sollten uns immer schlicht ans Gesetz halten. Wir können Gesetze ändern; das ist gar keine Frage. Die gesetzlichen Voraussetzungen aber müssen wir einhalten.
Das Grundgesetz, Frau Kollegin Dr. Sonntag, ist natürlich auch einzuhalten.Bislang aber haben weder Ihre Postminister noch die Postminister der liberal-konservativen Regierung je einen Zweifel daran gehabt, daß § 13 der Postordnung verfassungsgemäß ist. Auch Sie, Herr Dr. Penner, haben in der Vergangenheit hieran noch keinen Zweifel geäußert.
— Ich wollte gerade diesen Satz sagen.Auch wenn wir mit dem Inhalt der Wurfsendung und der dort geäußerten Meinung nicht übereinstimmen und sie sogar verurteilen,
sind wir nicht bereit, zu akzeptieren, daß sich in Zukunft die Bundesregierung oder der Bundespostminister zum Oberzensor für politische Meinungsäußerungen aufschwingen können.
Ich glaube auch, daß es die Stärke des Rechtsstaats gegenüber allen Unrechtssystemen ist, wenn man auch gegenüber Andersdenkenden die einmal beschlossenen Gesetze anwendet und nicht ad hoc nach politischen Opportunitätsgesichtspunkten und politischen Meinungen urteilt;
denn sonst könnte allzuleicht die Meinungsäußerung auch von demokratisch legitimierten und von weiten Kreisen der Bevölkerung getragenen Gruppen zensiert werden und deren Verbreitung verhindert werden.Auch die äußere Aufmachung der Postwurfsendung ist nach der bestehenden Postordnung zulässig gewesen. Auch insoweit kann dem Bundespostminister kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß er den Vertrieb zuließ.
Ich darf Sie daran erinnern, daß gerade Sie von den GRÜNEN vor dem Oberverwaltungsgericht Münster obsiegt haben, als Sie auf einer Briefsendung ein Signet aufgedruckt haben.
Das Oberverwaltungsgericht hat in meinen Augen zuRecht entschieden, daß das Grundrecht der freienMeinungsäußerung dem Anspruch des Bundespostministers, daß keine politische Äußerung auf den Briefen zu erfolgen hat, vorgeht.
Sie haben mit diesem Anspruch obsiegt. Ich halte dies auch für richtig.
Wenn Sie die Postordnung ändern wollen, weil mit dieser Postordnung Mißbrauch betrieben worden ist, dann sind auch wir bereit, mit Ihnen gemeinsam darüber nachzudenken; aber das hohe Grundrecht der Meinungsfreiheit wollen wir nicht in Frage stellen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Herr Spranger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung setzt sich seit Jahren offensiv mit dem Extremismus von links und von rechts auseinander und wird dies auch zukünftig tun. Daß sich ausgerechnet die GRÜNEN Sorgen um die Haltung der Bundesregierung zum politischen Extremismus machen, wirkt ausgesprochen merkwürdig.
Gerade die GRÜNEN betonen immer wieder, keine Berührungsängste gegenüber dem Linksextremismus zu haben.
In der heutigen Rednerin haben Sie eine ganz besonders repräsentative Vertreterin für diese Richtung gefunden. Ich brauche bloß an ihre Rede vor kurzem hier im Bundestag zur IWF-Tagung und den Krawallen in Berlin im Zusammenhang damit zu denken.
Die Mitgliederzahlen im deutschen Rechtsextremismus und seinen drei wesentlichen Strömungen — die Rede zur IWF-Tagung hat sie doch zu Protokoll gegeben — , den sogenannten Neonationalsozialisten, Nationaldemokraten und National-Freiheitlichen um Dr. Frey, entwickelten sich in den letzten Jahren sehr unterschiedlich. Ende der 60er Jahre gab es weit über 30 000 Mitglieder in rechtsextremistischen Organisationen. Jahrelang stagnierten die Zahlen dann bei 22 000. Ende 1988 gab es rund 28 000 organisierte Rechtsextremisten. Die Zahl der Linksextremisten und vor allem deren Gewaltbereitschaft und deren Gewalttaten sind um ein Vielfaches höher.Es bleibt festzuhalten, daß der ganz überwiegende Teil unserer Bevölkerung den Aktivitäten links- und
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8967
Parl. Staatssekretär Sprangerrechtsextremistischer Gruppierungen ablehnend und mit Unverständnis gegenübersteht. Die Mitgliederzahlen und Aktionen der Neonationalsozialisten haben seit Veröffentlichung des letzten Verfassungsschutzberichtes nicht zugenommen.Der Aktivistenkreis um Kühnen, die sogenannte „Bewegung" , und die Anhänger der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei, FAP — insgesamt etwa 500 —, zeigen sich zunehmend zerstritten und gespalten.
Das wird zu einem weiteren Absinken seiner Bedeutung führen.Bei den sogenannten National- Freiheitlichen, der Deutschen Volksunion um den Verleger Dr. Frey, müssen wir allerdings einen Aufwärtstrend feststellen. Das deutete sich, wie auch dem Verfassungsschutzbericht 1987 zu entnehmen ist, bereits damals an und setzte sich fort. Im Schlepptau dieser Entwicklung zeichnet sich auch ein leichter Aufwärtstrend bei den sogenannten Nationaldemokraten ab.Die DVU versucht, die Unzufriedenen anzusprechen und Themen zu besetzen, für die sie in einigen Bevölkerungsschichten Resonanz erwartet. Diese sollen mit undifferenzierten Schlagworten eingefangen werden. Themen sind insbesondere die Ausländerproblematik, die Arbeitslosigkeit, die Rentenfrage, die Drogenkriminalität, die EG-Problematik, insbesondere in bezug auf die Landwirtschaft, und die jüngste deutsche Geschichte und die Wiedervereinigung. Der Zulauf bei Rechtsextremisten beruht also auf einer Reihe von Gründen
und ist Äußerungsform des politischen Protestes aus Unzufriedenheit. Dieser Protest ist um so erfolgreicher, je wirksamer es Rechtsextremisten verstehen, die Unzufriedenheit für sich zu nutzen und den demokratischen Politikern Untätigkeit, Versagen oder Wählertäuschung vorzuwerfen. Je überzeugender die Politik der demokratischen Parteien ist und je verständlicher sie den Bürgern unseres Landes gemacht werden kann, desto weniger werden die Parolen der rechtsextremistischen Gruppierungen ein Echo finden.
Die Bundesregierung wird auch in Zukunft die Konzeption „Verfassungsschutz durch Aufklärung" — das ist nicht erst die Arbeitsweise dieser Bundesregierung — und die geistig-politische Auseinandersetzung mit dem politischen Extremismus intensiv betreiben.
Soweit das nicht ausreicht, wird sie nicht zögern, exekutiv vorzugehen,
alle Mittel des Strafrechts und des Verwaltungsrechtseinsetzen und auch — wie 1983 beim Verbot der ANS/NA — in den Fällen, in denen es rechtlich und politisch notwendig und zweckmäßig ist, auch künftig extremistische Organisationen verbieten.
Das Wort hat der Abgeordnete Häfner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich Herrn Spranger so zuhöre, dann habe ich den Eindruck, daß die Aktivitäten des Herrn Frey Ihren besonderen Schutz genießen
und Sie uns vorhin klarmachen wollten, daß die eigentlichen Verfassungsfeinde aus Ihrer Sicht hier im Hause sitzen.
Ich schlage Ihnen vor, einmal in Ihrem Hause nachzuschauen — —
— Herr Gerster, Sie können Ihr Niveau bei Zwischenrufen kaum noch unterbieten. Ich schlage Ihnen vor, einen Moment zuzuhören.
Die zunehmenden Aktivitäten von Alt- und Neonazis machen mir angst! Ich glaube, wir sollten hier auch einmal überlegen, wie das, was da in Millionenauflage verschickt worden ist, auf die zahllosen ausländischen Mitbürger in diesem Lande wirken muß, die hier im Parlament leider nur sehr wenig vertreten sind. Wir sollten uns das deutlich ins Bewußtsein rufen.Trotzdem — und hier gibt es eine deutliche Differenz etwa zu Herrn Penner — will ich deutlich sagen, daß es nicht meiner Auffassung und meinem Bild von Demokratie entspricht, daß der Bundespostminister oder irgendein Beamter das Recht haben sollte, inhaltlich zu entscheiden, was befördert wird und was nicht. Interessant dabei ist allerdings, was alles von der Bundespost bislang nicht verschickt wurde, z. B. Post der Friedensbewegung mit einem zerbrochenen Gewehr auf dem Umschlag. Also hier wieder eine erschrekkende Ungleichheit zwischen der Aufmerksamkeit nach rechts und der Aufmerksamkeit, jetzt will ich gar nicht sagen: nach links, sondern: gegenüber der Friedensbewegung beispielsweise.
Was wir hier aber an Stelle von Verbotsforderungen, die in diesem Falle weder gehen noch überhaupt politisch Sinn machen, tun sollten, ist, zu fragen, wo die Ursachen liegen und woher z. B. das viele Geld des Herrn Frey kommt. Ursachen sind z. B. die gewaltige Arbeitslosigkeit, die durch die Politik der Bundesregierung ja nicht abgebaut, sondern aufrechter-
Metadaten/Kopzeile:
8968 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Häfnerhalten und noch verstärkt wird, die Perspektivlosigkeit für junge Menschen, die Tatsache, daß viele Menschen in diesem Land überhaupt nicht mitreden können bei den politischen Entscheidungen, sondern diese Demokratie nur als eine Zuschauer-Demokratie erleben müssen. Da hilft es nichts, wenn Herr Olderog gesagt hat: Wir müssen die jungen Menschen von der Demokratie überzeugen. — Das geht doch so gar nicht, sondern Demokratie muß gelebt werden. Das braucht echte Beteiligungsmöglichkeiten. Wer hier immer wieder nur die Arroganz der Macht erlebt, der wird natürlich resignieren oder militant werden. Auch das müssen wir berücksichtigen.Und noch etwas ist mir wichtig — : Was hier vonstatten geht, zunehmende rechtsextreme Tendenzen, das müssen wir bekämpfen, politisch, geistig und gesellschaftlich. Deswegen gehört meine Solidarität nicht den Forderungen an den Postminister. Aber sie gehört denen, die in Schwelm demonstriert haben. Sie gehört denen, die die Annahme dieser Briefe verweigern und sie empört zurückschicken, Zwanzigtausend täglich. Sie gehört vor allem aber und genauso den Briefträgern, die sich geweigert haben, so etwas auszutragen — was ich für richtig halte.
Ein Letztes möchte ich schließlich, gerichtet an den Bundespostminister, der heute offenbar lieber nicht hier ist, sagen: Sie sollten dieses Geld nicht einstekken. Das wäre wenigstens ein Zeichen, das Sie setzen könnten. Sie sollten dieses Geld, 3,2 Mio. angeblich, anders verwenden, bewußt, und zwar für Ausländerzentren, für Begegnungszentren deutscher und ausländischer Mitbürger, für Kulturinitiativen von Ausländern. Das wäre doch das Mindeste und es wäre wenigstens einmal ein Zeichen im Gegensatz zu dem, was heute hier von der Bundesregierung geboten wurde und was mich beschämt hat.
Das Wort hat der Abgeordnete Pfeffermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß gestehen, daß mich neben dem eigentlichen Vorgang, der diese Aktuelle Stunde verursacht hat, Herr Kollege Penner, Ihr Beitrag als ein Beitrag aus einer demokratischen Fraktion in besonderem Maße betroffen gemacht hat.
Ich sage dies deswegen, weil ich mich frage, ob es nicht doch in die Nähe der Verkommenheit politischer Sitten führt,
wenn wir erleben müssen, daß Sie Auschwitz und Treblinka und Begriffe dieser Art mit ihren Inhalten nutzen müssen, um hier ein parteipolitisches Süppchen zu kochen, Herr Penner.
Ich halte das für einen Niedergang der politischen Sitten — um das ganz klar zu sagen.
Herr Präsident, rechts- und linksradikale Gruppierungen verteufeln diesen Staat, nehmen aber für ihre politischen Aktivitäten selbstverständlich die Infrastrukturen des Staates in Anspruch, genau des Staates, den sie bekämpfen. Dabei belastet uns alle natürlich die Tatsache, daß Radikale die Rechtsordnung für diesen Zweck mißbrauchen. Ob aber dieser Mißbrauch wie z. B. die Nutzung der Postdienste für den Versand von Pamphleten von vornherein verhindert oder durch Änderung der Postordnung ausgeschlossen werden kann, ist die andere Frage. Die Ausschlußvorschriften sind hinreichend bekannt. Ich will sie nicht im einzelnen zitieren.Eines nur muß uns deutlich sein: Die Ausschlußvorschrift über Sendungen mit politischen Vermerken auf der Aufschriftseite ist in der Vergangenheit Gegenstand vieler Diskussionen gewesen. Diese Vorschrift ist in der jüngsten Vergangenheit durch die Rechtsprechung außerordentlich eingeengt worden. An dieser Entwicklung haben gerade die GRÜNEN einen erheblichen Anteil. Deshalb ist es unredlich, dies dann zu bedauern, wenn Radikale den neu geschaffenen Freiraum ausnutzen.Für Postwurfsendungen ist diese Vorschrift im übrigen nicht anwendbar. Ob die Postwurfsendung im vorliegenden Fall durch die Art der Aufmachung einem Brief vergleichbar ist, d. h. eine Vortäuschung vorliegt, und wie sie deswegen für die Zukunft von der Beförderung ausgeschlossen werden kann, wird eingehend geprüft. In dieser Prüfung ist mit eingeschlossen, ob durch eine Änderung der Postordnung eine Täuschung ausgeschlossen werden kann. Und hier möchte ich an dieser Stelle ganz klar hinzufügen:
Nur der Hinweis der Nichtidentifikation der Post mit diesem politischen Aufdruck ist in der Vergangenheit der Hinderungsgrund für die Verbreitung politischer Thesen auf der ersten Seite dieser Sendungen gewesen.Es wird auch in Frage gestellt, ob die Vorschriften der Post zum Ausschluß bestimmter Sendungen ausreichend sind. Bei einer Erweiterung der Ausschlußtatbestände müssen notwendigerweise auch die Regelungen des Grundgesetzes, Art. 5 Abs. 1, beachtet werden, wonach jedermann die Meinungsäußerungsfreiheit gewährt ist. Da Postwurfsendungen am ehesten Zeitungen vergleichbar sind, gilt hier auch Art. 21 des Grundgesetzes. Dieser eröffnet den Parteien einen erheblichen Betätigungsraum. Im demokratischen Rechtsstaat gilt dies für alle Parteien, wenn sie nicht durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt werden.Die genannte Ausschlußvorschrift bei Verstößen gegen das öffentliche Wohl kann aber sicherlich nicht so ausgelegt werden, daß mit Rücksicht auf sie Wahlkampfwerbung der einen Partei erlaubt und einer an-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8969
Pfeffermannderen verboten wird. Für den durchaus vergleichbaren Fall der Fernsehwerbung von Parteien ist sogar gerichtlich entschieden worden, daß die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten Wahlkampfwerbung einer extremen politischen Partei sogar dann ungekürzt und unzensiert ausstrahlen müssen, wenn darin gegen Strafgesetze verstoßen wird. Sie sehen daran: Der Handlungsspielraum der Deutschen Bundespost ist also gegenüber den Parteien und damit leider auch gegenüber den radikalen Parteien von rechts und links gering, und die Deutsche Bundespost darf vor allem keine Zensurbehörde sein.In diesem Zusammenhang ist die Strafanzeige der GRÜNEN gegen Postminister Schwarz-Schilling wegen des Verdachts der Beihilfe zur Volksverhetzung geradezu grotesk. Um nicht zum nützlichen Idioten der Radikalen zu werden, versage ich mir eine Begründung dazu, warum diese Anzeige scheitern mußte. Die Tatsache, daß die Staatsanwaltschaft Bonn schon die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen Volksverhetzung abgelehnt hat, weil die entsprechenden Tatbestandsmerkmale fehlen, kennzeichnet die gegebene Situation.Im übrigen ist die Post nicht untätig. Sie hat vor Jahresfrist eine Sendung einer rechtsstehenden Organisation von der Beförderung ausgeschlossen. Das Verwaltungsstreitverfahren ist anhängig und leider noch nicht abgeschlossen. Sein Ausgang wird zeigen, ob der Handlungsspielraum der Deutschen Bundespost verändert werden kann.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Börnsen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Pfeffermann, es sei Ihnen empfohlen, die Rede von Herrn Penner noch einmal in Ruhe nachzulesen. Ich glaube, dann wird deutlich, daß zu Aufgeregtheiten, wie Sie es hier soeben gezeigt haben, kein Anlaß besteht.
Insofern sei also auch an Ihre Adresse gesagt, Herr Pfeffermann: Man sollte erst einmal zuhören, was die Kollegen tatsächlich sagen, bevor man sich darüber in einer solchen Weise erregt.Meine Damen und Herren, wenn es nicht so traurig wäre — man könnte die Geschichte dieser Postwurfsendung der „Deutschen Volksverhetzungsunion" geradezu als Kalauer bezeichnen. Einer rechtsradikalen Gruppe in der Bundesrepublik ist es gestattet, politische Parolen auf einer Postwurfsendung zu verbreiten, weil diese keine Anschriftenseite hat. Andererseits wird einer Partei, deren Mitglieder von den Nazis verfolgt, in die Emigration gedrängt, gar ermordet wurden, die Verwendung eines Freistempels mit einem Zitat aus dem Grundgesetz untersagt,
weil dieses Zitat auf der Anschriftenseite gedruckt wird.
Meine Damen und Herren, sehr geehrter Herr Kollege Funke, wenn man von Zensur spricht, wenn man den Begriff „Zensur" einführt, dann sollte man es nicht nur auf die hier zur Diskussion anstehende Postwurfsendung beschränken, sondern auch die anderen Fälle mit einbeziehen.
Wir haben den Begriff „Zensur" ohne Zweifel erst einmal nur auf die Postwurfsendungen bezogen. Aber ich meine, der Vergleich macht erst deutlich, welche politische Dimension wir hier tatsächlich diskutieren.Und dieser Vergleich muß als Aufforderung begriffen werden, über Sinn und Unsinn dieser Postordnung nachzudenken. Das Nachdenken darf allerdings nicht, Herr Staatssekretär, so wie Ihr Minister es hier in der Fragestunde ausgeführt hat, allein bei oberflächlichen Änderungen enden, also in der Form, daß in der Postordnung zusätzlich verboten wird, Imitationen von Briefmarken auf Postwurfsendungen aufzudrucken, um damit zu erreichen, daß durch die Postwurfsendung der Eindruck eines Briefes und damit einer hoheitlichen Funktion entsteht. Das wäre eine oberflächliche Änderung, die an dem Problem nichts ändert.Vielmehr muß das in die Frage nach der Glaubwürdigkeit politischen Handelns einer Regierung münden, die so gern auf die demokratische Reife unseres Staatswesens hinweist, auf die in Staat und Bevölkerung vorhandene Sensibilität gegenüber rechtsradikalen Strömungen.Wer eigentlich hat diese demokratische Reife bewiesen? Die Bürger, die die Annahme der DVU-Pamphlete des Dr. Unfreyheit ablehnten, oder diese Regierung, die hilflos und formalrechtlich reagierte?
Ich gestehe für mich persönlich ein, daß ich, vielleicht aus einer gewissen Kleinmütigkeit, glaubte, diese Postwurfsendung nicht immer wieder problematisieren zu sollen, weil damit vielleicht nur die DVU aufgewertet werde. Aber durchaus beschämt bekenne ich, daß es die Bürger unseres Staates sind, die nicht nur massenweise die DVU-Sendungen zurückbeförderten — auf den Müll nicht nur der Geschichte, wo sie hingehören, sondern auf den Müll der Postcontainer —, und zugleich die Bürger es waren, die in Demonstrationen an diesem Wochenende — es wurde erwähnt — die Gründung weiterer DVU-Organisationen verhinderten. Respekt, Respekt!Um so mehr ist die Frage erlaubt, ob Sie, Herr Bundespostminister, und Sie, Herr Staatssekretär, Ihrer politischen Verantwortung gerecht geworden sind. Ihr Haus hat die Frage geprüft, ob dieser DVU-Schwachsinn versendet werden kann oder darf.
Sie haben ohne Gespür für die zu erwartende Empörung der Bürger und ohne Gespür auch für die Schädigung des Ansehens der Bundespost und der dort
Metadaten/Kopzeile:
8970 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Börnsen
Beschäftigten dennoch der Verteilung der Wurfsendung zugestimmt. Ihnen fehlte der Mut, fehlte das demokratische Selbstbewußtsein, den Transport dieser Hetzschriften zu verweigern. Sie flüchten nun in formalrechtliche Argumente, fordern die notwendige politische Auseinandersetzung ein und sind nicht bereit, zuzugeben, daß Sie selbst sich an einer rechtzeitigen offensiven politischen Auseinandersetzung vorbeigemogelt haben.
Sie gewähren formalrechtlichen Schutz, statt daß Sie zu einer offensiven politischen Konfrontation bereit sind.Ich unterstelle dem Bundespostminister, Herrn Schwarz-Schilling, persönlich durchaus nicht, daß er die Inhalte der Postwurfsendung in irgendeiner Hinsicht gutheißen oder auch nur tolerieren würde. Aber es stellt sich für uns trotzdem die Frage: Ist vielleicht taktisch gedacht und gehandelt worden?
Wollte der Postminister erreichen, daß das rechte Spektrum nicht verärgert wird?
Sind die Einvernehmensregelungen zwischen Innenminister und Postminister inzwischen dahin erweitert worden, auf dem rechten Auge blind sein zu müssen?
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei manchem, was ich hier höre, frage ich mich, ob wir gemeinsam gegen Rechts- und Linksextremisten antreten wollen oder ob wir sie zum Vorwand nehmen wollen, uns gegenseitig anzuöden.
Ich frage mich, welche demokratische Selbstsicherheit eigentlich besteht, wenn man Recht als formal bezeichnet —
doch offenbar, um im Unterton zu sagen, also daran braucht ihr euch nicht zu halten; welche demokratische Selbstsicherheit, wenn man sagt, es ist großartig, wenn Postbeamte ihr eigenes Recht schaffen, statt zu sagen, wir wollen die Postordnung ändern.Was die Änderung der Postordnung angeht: Ich will nicht, daß die Post Zensur ausübt. Das ist das einzige, worin ich Ihnen zustimme. Ich will nicht, daß die Post Zensur ausübt.
Es ist auch nicht so, daß wir etwa den Kampf gegen Rechtsradikale und Linksradikale nur der Regierung überlassen dürfen. Das ist unsere eigene Angelegenheit.Und nun fragen wir uns einmal: Woran liegt es denn eigentlich? Es gibt ja mehrere Bereiche — das ist doch nicht eine Frage der Postordnung —, in denen Rechtsradikale Erfolge haben oder suchen. Sie sind gegen die Integration von Ausländern. Sie sind gegen die Aufnahme politischer Flüchtlinge, die sie generell als Scheinasylanten diffamieren. Sie sind gegen die Integration der Bundesrepublik in die Europäische Gemeinschaft. Sie versuchen, insbesondere im Zusammenhang mit der Landwirtschaft die Bauern für sich zu mobilisieren. Sie sind gegen den Ausgleich mit unseren östlichen Nachbarn und fordern die Wiedervereinigung, als ob sie in der Art einer Angliederung der DDR an die Bundesrepublik möglich wäre. Sie sind gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und sprechen von der „Notverwaltung des deutschen Ostens". Sie beschwören alle denkbaren Ängste von AIDS bis zur Kriminalität, weil sie glauben, daß alle diese Probleme nur durch den Machtapparat des Staates gelöst werden könnten, der ihnen gar nicht stark genug sein kann. Ein Psychologe würde sagen, daß sie sich mit ihrem eigenen kleinen erbärmlichen Ich nur dann abfinden, wenn sie sich als Teil eines großen und mächtigen Staates verstehen können.Wir wissen aus allen Berichten, wie zahlenmäßig wenig Rechtsradikale es in der Bundesrepublik gibt. Die Mitgliederzahl allein ist natürlich kein Maßstab. Sie gibt allerdings Anlaß zu der Frage, ob wir nicht auch durch übermäßige Reaktionen diese Leute überhaupt erst interessant machen, sie zu politischen Märtyrern machen.
Es hat in der Vergangenheit Gegendemonstrationen gegeben, die nach Größe und Heftigkeit so bedeutend waren — man kann ja sagen: hervorragend, wie gut das demokratische Bewußtsein funktioniert — , daß der Anlaß der Gegendemonstration öffentlich überhaupt erst durch die Gegendemonstration zur Kenntnis genommen wurde,
während sonst kein Mensch auch nur ein Ohr daran gehängt hätte.
Es ist richtig, daß es in unserer Gesellschaft einen Bodensatz rassistischer und faschistischer Gedanken gibt. Ich habe einen ganzen Leitz-Ordner voller Briefe, die ich nur deswegen nicht veröffentliche, weil man sich als deutscher Demokrat für sie schämen müßte und weil man Wasser auf die Mühlen derjenigen gießen würde, die die Bundesrepublik überhaupt als faschistisch und unverbesserlich darstellen wollen.Die Bekämpfung der Rechtsradikalität ist nicht allein Sache der Bundesregierung. Sie geht uns alle an. Wir müssen auch die Ängste ernst nehmen, die manche Mitbürger belasten und sie in die Arme Extremer treiben. Ich denke an unsere Diskussion im Zusammenhang mit der Ausländerpolitik. Aber unsere Reaktion kann nicht sein, solchen Emotionen nachzugeben und die Lösung darin zu suchen, unsere demokra-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8971
Dr. Hirschtischen, humanitären, liberalen, christlichen Ideale aufzugeben oder sie einzuschränken, weil der überwiegende Teil der Bevölkerung an ihnen hängt. Wir müssen uns vielmehr in diesem Jahr und noch mehr im nächsten entscheiden, ob wir im Stil der Auseinandersetzung demokratischer Parteien untereinander der Herausforderung gerecht werden, die Extreme zweifellos darstellen,
ob wir in den Fragen, in denen Rechtsradikale Anklang suchen, in unserer Auseinandersetzung untereinander ernsthaft und aufrichtig genug sind. Daran entscheidet sich der Kampf gegen Rassismus, gegen Ausländerhaß, gegen nationalistische Ressentiments, nicht an irgendwelchen bürokratischen Entscheidungen.Die Demokraten können versagen, unabhängig davon, ob sie im Parlament oder in der Regierung sitzen, und deswegen geht unser Appell dahin, in der politischen Diskussion das Maß nicht zu verlieren. Wir haben in vielen Fragen einen gemeinsamen Gegner, nämlich diejenigen, die unsere Demokratie zerstören wollen und die nichts, aber auch gar nichts von dem begriffen haben, was die Bundesrepublik in den letzten 40 Jahren ausgemacht hat. Mit denen müssen wir uns in diesen Grundfragen auseinandersetzen,
statt sie zum Anlaß zu nehmen, uns gegenseitig Vorhaltungen zu machen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.
Es tut mir leid, Herr Westphal, es waren fünf Minuten angesagt.
Es sind nicht fünf Minuten angesagt, sondern wir haben eine Aktuelle Stunde.
Das ist wirklich unerträglich!
Herr Abgeordneter — — Wüppesahl : Ich beginne.
Herr Abgeordneter, hören Sie bitte noch einen Moment zu. Die Aktuelle Stunde ist in unserer Geschäftsordnung als eine Stunde beschrieben. Sie ist schon erweitert, um einer Fraktion, die eine kleine Fraktion ist, ein Zusatzrecht zu geben, das in die Stunde nicht hineinpaßt. Ich habe Sie als einen einzelnen Abgeordneten zu beurteilen und hätte, wenn ich gerecht vorgehen müßte, die Stunde
durch 520 zu teilen, um Ihnen die Redezeit zuzuteilen. Ich gebe Ihnen drei Minuten.
Bitte schön!
Ich möchte etwas zur Geschäftsordnung sagen.
Sie sind jetzt mit Ihrer Wortmeldung dran. Zur Geschäftsordnung kann man sich innerhalb der Aktuellen Stunde nicht melden. Das müßten Sie nachher tun.
Dann lassen Sie bitte die drei Minuten stehen, Herr Westphal.
— Wissen Sie, das ist eine Art und Weise, wie Demokratie ausgeübt werden soll, wenn man fünf Minuten angekündigt bekommt!
Meine Damen und Herren, ich bin nicht der Auffassung, daß eine Postsendung dieser Art durch den Bundespostminister hätte verboten werden dürfen. Man kann keinen Rechtsradikalismus bekämpfen, wenn man durch die Post oder durch irgendeine andere Instanz eine Vorzensur im Meinungskampf installieren möchte, solange keine Straftatbestände oder andere Normen verletzt sind. Es kann in diesem Hause auch nicht darum gehen, sich innerhalb der Opposition darin überbieten zu wollen, wer der Radikalste ist, und dann Behauptungen aufzustellen, die im besonderen von der SPD in der eigenen Regierungszeit nicht annähernd eingelöst worden sind.Wir befinden uns hier in einem hochsensiblen Bereich, nämlich im Bereich des Meinungskampfes, der Meinungsbildung und — bei dem Anlaß dieses Beispieles — des Briefgeheimnisses. Was glauben Sie denn, wieviel Straftaten beispielsweise täglich — ich behaupte Hunderte — durch den Transport von irgendwelchen Gegenständen durch die Deutsche Bundespost bewirkt werden? Wie wollen Sie denn in einem solchen Bereich agieren, wenn Sie bereits hier, wo noch nicht einmal Straftaten oder ähnliches begangen worden sind, mit solchen Zensurmitteln agieren wollen?
Sobald Sie eine Zensur dieser Art installieren wollen, schaffen Sie auch — und das geht im besonderen an die GRÜNEN — wieder die Legitimation für Einrichtungen wie z. B. den Verfassungsschutz. Wer soll denn solche Kontrollen durchführen? Ich möchte sogar, daß Meinungen dieser Art offensiv in der Öffentlichkeit bekämpft werden können. Ich kann nur den Verfassungsschutz durch die Bevölkerung geltend machen — und das ist auch Programmatik bei den
Metadaten/Kopzeile:
8972 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
WüppesahlGRÜNEN, in der Tendenz auch bei der SPD — , wenn unsere Bürger und Bürgerinnen die Gelegenheit haben, sich mit solchen Meinungen auseinanderzusetzen. Ich kann ein solches Bewußtsein nicht verordnen, sondern ich kann das nur durch die Auseinandersetzung zu schaffen versuchen. Von daher ist auch diese Aktuelle Stunde der geeignete Anlaß, im politischen Meinungskampf aufzuzeigen, wie fürchterlich — aus meiner Sicht, mit meiner Wertungsskala — solche Positionen sind, wie die DVU sie jetzt verteilen ließ.Die Aktuelle Stunde hat aber einen anderen Titel. Die DVU ist nur der Anlaß. Er heißt: Haltung der Bundesregierung zu zunehmenden Aktivitäten von Alt-und Neonazisten, insbesondere der DVU. Da, denke ich, ist dieses Beispiel nur Anlaß für eine Tatsache, die wir feststellen müssen, nämlich daß die Bundesregierung in der Tat zu lasch agiert, sobald rechtsradikale Positionen laut werden.Denken Sie z. B. daran, daß wir jetzt Anti-TürkenTests oder Spiele mit Computersimulation „clean Germany" oder „the Nazi" haben. Wächter von Konzentrationslagern können darin z. B. verhindern, daß sogenannte Volksfeinde den Ausbruch durchführen können. Oder ein sogenannter Volksführer wird in solchen Spielen gefragt: Soll Ihre SS eine Judenverfolgung durchführen? Viele Beispiele dieser Art ließen sich anführen. Ich frage in der Tat die Bundesregierung und die Mehrheitsfraktion im Hause, was Sie eigentlich zu solchen Vorgängen ins Feld führen und welche Aktivitäten sie vorweisen können.Ein letztes Beispiel: Im November vorigen Jahres wurde der deutsche Generalkonsul in Italien Steinkühler, vom Auswärtigen Amt dafür kritisiert, daß er ehemalige NS-Kriegsverbrecher auf einem Soldatenfriedhof im Namen der Bundesregierung am Volkstrauertag nicht ehren will.Von daher bin ich in der Tat der Meinung, Herr Olderog, daß die Position, die Sie formuliert haben — es gebe keine besorgniserregende Entwicklung im Rechtsextremismus, es handle sich um viele Übertreibungen und Verallgemeinerungen — nicht zu halten ist,
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
und daß gerade diese Regierung sehr viel mehr Anlaß hätte, in dem Spektrum aktiv zu sein.
Der nächste Redner ist Dr. Blank. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Winfried Penner, zumindest der Eingang Ihres Beitrages war eine böse Entgleisung.
Die Bundesregierung in Komplizenschaft zu Rechtsradikalen zu bringen ist ebenso eine böse Entgleisung wie das Verhalten des ansonsten von mir geschätzten Kollegen Schröer aus der SPD-Fraktion am 17. Januar 1989, als er — ich zitiere wörtlich — im Zusammenhang mit der Bundesregierung von Handlangern von Rechtsextremisten sprach.
Meine Damen und Herren, ich halte es da mit dem Kollegen Paterna, der jetzt ja aus der SPD-Bundestagsfraktion dieser Debatte auch schweigend, denke ich, zuhört nach dem, was die Kollegen von der SPD hier gesagt haben. Er erklärte am 20. Januar 1989 — ich zitiere wörtlich — :Änderung der Postordnung dürfen allerdings nicht davon ablenken, daß Verordnungen keinen Ersatz für politische Auseinandersetzungen mit rechtsradikalen Elementen sein können und dürfen. Der bewußte Verzicht auf Verbot rechtsradikaler Parteien zwingt dazu.Herr Kollege Paterna, Sie haben völlig recht. Meine Damen und Herren, ich bin über den bisherigen Verlauf der Debatte eigentlich deswegen etwas enttäuscht, weil ich mir natürlich wie wohl die meisten hier die Frage gestellt habe, warum die zunächst von den GRÜNEN beantragte Aktuelle Stunde zum Thema „Postwurfsendung der Deutschen Volksverhetzungsunion" gestern mittag in „Haltung der Bundesregierung zu zunehmenden Aktivitäten von Alt- und Neonazisten" umbenannt worden ist. Etwas versöhnt bin ich allerdings durch den Redebeitrag des Kollegen Hirsch.Wenn wir uns über das Thema des Rechtsradikalismus und einer wehrhaften Demokratie hier unterhalten, nachdem das andere offensichtlich durch die Fragestunde in der vergangenen Woche und durch die Regierungsbefragung mehr als ausgelutscht ist, hätten in der Tat andere Beiträge von diesem Pult zu erfolgen, als sie zum Teil bisher hier vorhin geleistet worden sind.
Meine Damen und Herren, ich will die rechtsextremistischen Propagandafelder, die der Kollege Hirsch hier angesprochen hat, im einzelnen nicht wiederholen. Ich möchte aber einmal sagen: Wenn diese Propagandafelder von Rechtsextremisten in letzter Zeit offenbar erfolgreich genutzt werden konnten, so muß das doch Ursachen haben.
Ich denke, ein Begleitumstand, der die Agitation von Rechtsextremisten begünstigt, ist — nun hören Sie einmal gut zu; vielleicht stimmen Sie mir da ja zu — zunächst einmal der Generationenwechsel. Immer mehr Jahrgänge rücken nach, die keinerlei persönliche Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus haben. Ihnen fehlt deswegen
— bei Ihnen sowieso — natürlich dieses prägende Negativerlebnis.Meine Damen und Herren, ein zweites Stichwort in dieser Debatte ist doch sicherlich auch „Flucht aus der Geschichte". In den letzten beiden Jahrzehnten war unsere Schulpolitik in allen Bundesländern, in denen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8973
Dr. Blankder SPD etwas mehr, von mangelnder Vermittlung von Geschichtskenntnissen zugunsten von soziologischen Lernprozessen geprägt.
— Nun gut.Meine Damen und Herren, wenn man einmal über Perspektivlosigkeit bei Jugendlichen nachdenkt, die durch rechtsradikale, durch scheinbar einfache Lösungen mißbraucht werden und denen mit nationalistisch verbrämter Lagerfeuerromantik und kraftmeierischer Randale und Nazisprüchen fehlende Anerkennung im zwischenmenschlichen Bereich durch eine vorgespielte Geborgenheit ersetzt werden soll, wenn man also einmal darüber nachdenkt, müßte man vielleicht auch zu anderen Ergebnissen kommen.Meine Damen und Herren, die feststellbare Zunahme an Staatsverdrossenheit wird von Extremisten mit dem Ruf nach dem starken Mann erwidert, der einfache Lösungen anzubieten hat.Was ist zu tun? Ich denke, Patentrezepte gibt es nicht. Aber was wichtig ist: Wir in diesem Haus hier müssen in den sensiblen Feldern der Ausländer-, der Europa- und der Wiedervereinigungspolitik ausgewogene Lösungen ansteuern,
gerade um Angriffsflächen für rechtsextremistische Agitatoren wegzunehmen. Wo wegen besonderer Probleme politische Lösungen absehbar nicht zu erreichen sind, ist es notwendig, daß sich das demokratische Lager mit den demagogischen, allzu einfachen Lösungsmodellen der Rechtsextremnisten offensivkämpferisch auseinandersetzt. Das, meine Damen und Herren, ist eine Aufgabe von Regierung und Opposition gleichermaßen. Die GRÜNEN will ich gerne aus dieser Verpflichtung entlassen.
Meine Damen und Herren, da Rechtsextremismus als politisches Phänomen nicht weggeprügelt und durch Aussperrung nicht erledigt werden kann, können administrative und gesetzgeberische Verbote nur Ultima ratio sein. In der politischen Auseinandersetzung der demokratischen Parteien in diesem Haus sind die Grundlagen zu schaffen, die rechtsextremistischen Demagogen die Basis für ihre Agitation entziehen.Vielen Dank.
Herr Wüppesahl, ich habe vorgemerkt, daß Sie sich zur Geschäftsordnung gemeldet haben. Innerhalb einer Aktuellen Stunde ist das nicht möglich. Sie können also erst nachher drankommen.
Jetzt kommt Herr Kretkowski.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man unterstellt, was schwerfällt, da manches in der Postwurfsendung an die Herren Zimmermann und Spranger erinnert — —
— Also, Herr Pfeffermann, ich habe Sie nicht genannt. Ich sage Ihnen einmal, wenn Sie die Rede von Herrn Penner, die ich in diesem Teil einmal zitieren darf, den Sie angeprangert haben, diffamieren, gehören Sie mit in diese Klasse. Denn Herr Penner hat nichts anderes gesagt als:Wir wollen, ja, wir dürfen nicht vergessen, daß Rassenhaß, daß Chauvinismus, daß Fremdenfeindlichkeit Tod für Millionen Menschen, Völkermord, Unglück für viele Länder und Völker — uns Deutsche eingeschlossen — zur Folge gehabt haben. Und es ist ein besonderer Auftrag für uns Sozialdemokraten von den Menschen, die uns nahestehen, die uns vertrauen, ist Vermächtnis unserer politischen Väter, peinlich darüber zu wachen, daß Auschwitz, daß Sobibor, daß Treblinka, daß Theresienstadt sich nie wiederholen dürfen.Diffamieren Sie solche Äußerungen?
Wenn man trotz solcher Eskapaden unterstellt, daß unter den demokratischen Kräften Einvernehmen darüber besteht,
daß Rechtsradikalismus mit aller Kraft bekämpft werden muß, dann bleibt, meine ich, auch nach dieser Debatte der Vorwurf gegenüber dem Postminister, daß die Art und Weise, wie er sich in dieser Affäre verhält, mindestens dazu beiträgt, die Rechtsradikalen hoffähig zu machen; denn den Skandal auf den Punkt gebracht: Sie — die Bundesregierung, die Koalition — verschanzen sich hinter der geltenden Postordnung, die solche Schmierereien leider zuläßt.
Sie sind nicht einmal bereit, darüber nachzudenken,
wie man diese Schweinereien beim nächsten Mal verhindert.Glauben Sie denn wirklich, daß ein normal begabter Bürger der Bundesrepublik, glauben Sie wirklich, daß ein Bürger im Ausland diese schwachsinnige Unterscheidung zwischen Brief- und Postwurfsendung kapiert?
Metadaten/Kopzeile:
8974 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
KretkowskiSelbst bei einem wohlwollenden Betrachter im Ausland bleibt der Eindruck, daß die Bundesrepublik wieder einmal so weit ist: U-Boote nach Südafrika, Kampfstoffabriken nach Libyen, Tornados nach Jordanien. Und jetzt obendrauf: Ein Staatsunternehmen verteilt rechtsradikale Kampfschriften und Parolen.Sind Sie sich eigentlich wirklich bewußt, was Sie mit dieser Politik aufs Spiel setzen?
Denkt der Minister eigentlich an seine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Mitarbeitern, denen er mit dem Hinweis auf die Postordnung zumutet, etwas zu tun, das diese mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können?Der Minister verfolgt rücksichtslos DKP-Mitglieder bei der Deutschen Bundespost, und gleichzeitig zwingt er die Mitarbeiter, die Zusteller, rechtsradikale Schriften zu verteilen.
Er verfolgt mit großem Engagement und auch viel Durchsetzungskraft die neue Poststruktur.
Mich erschreckt, mit welcher Gleichgültigkeit, mit welcher Leidenschaftslosigkeit dieser Minister diese Affäre behandelt. Macht Sie das nicht selbst nachdenklich?Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Bühler .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Inhalt des Briefes, um den es in dieser Aktuellen Stunde im wesentlichen geht, wird von allen im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen einhellig abgelehnt. Mehr noch: Wir sind uns darüber einig, daß mit gewissen Passagen, Ausländerfeindlichkeit betreffend, dem inneren Frieden in diesem Land erheblicher Schaden zugefügt wurde.Auch bei mir bleibt ein etwas ungutes Gefühl darüber zurück, daß der Versand dieses Briefes, dieser Sendung durch die Deutsche Bundespost erfolgte, ja erfolgen mußte. Aber wir sollten die Dinge wirklich redlich betrachten, meine Damen und Herren von der Opposition.Ich möchte ein Zitat unseres Kollegen Paterna bringen, das am 20. August 1988 in der „Augsburger Zeitung" zu lesen war. Bitte hören Sie jetzt genau zu, damit Sie die Differenzierung, die er redlicherweise vorgenommen hat, auch nachvollziehen können. Dann kämen wir wieder auf ein Gleis, das der Ernsthaftigkeit des Themas gerecht wird. Herr Paterna wird zitiert:Da ist nichts zu machen. Der Frey würde die Postverklagen und vor jedem deutschen Gericht gewinnen. Art. 5 des Grundgesetzes garantiert dieMeinungsfreiheit, so weh das inhaltlich in diesem Fall auch tut.Dann ist einfach nicht einsichtig, daß man in dieser Debatte den Eindruck erweckt, als ob die Deutsche Bundespost wider besseres Wissen,
wider bessere politische Überzeugung und nur entsprechend den geltenden Bestimmungen einer radikalen Partei Vorschub leistet. Das muß ich ganz erheblich zurückweisen.
Meine Damen und Herren, in diesem Jahr feiern wir 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Bei allem Schmerz über die noch bestehende Teilung und andere Nachteile können wir auf eines stolz sein: In diesen 40 Jahren haben sich die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland in hohem Maße politisch immun gezeigt. Denn alle radikalen Parteien, ob von rechts oder von links, haben in diesen 40 Jahren bei den vielen, vielen Wahlen, die es gab, immer vernichtende Abfuhren erfahren. Auf dieses politische Reifezeugnis sollte man auch einmal hinweisen. Deswegen sollten wir als gewählte Vertreter dieser Bürgerinnen und Bürger hier mehr auf die Gemeinsamkeiten als Demokraten abheben.
Wir haben in der Vergangenheit viel zu oft bewiesen, daß wir in der Lage sind, miteinander zu streiten. Wir haben viel zu oft bewiesen, daß wir da mitunter ein sehr geringes Niveau haben. Wir sollten viel mehr darauf abheben, in der Gemeinsamkeit als Demokraten die Alternative zu vertreten, die uns die freiheitlich-demokratische Grundordnung bietet, nämlich das, was wir im Grundgesetz festgeschrieben haben.Es bringt uns gar nichts, es bringt auch der Debatte gar nichts, wenn hier ein Wettbewerb entsteht, wer die besseren Demokraten sind. Wir sollten gegenüber den Rechten oder den Linken unter Beweis stellen, daß wir in der Gemeinsamkeit als Demokraten zu den im Grundgesetz festgelegten Werten stehen
und sie auch zu verteidigen wissen, meine Damen und Herren.
Mir ist, wenn ich die Sache so sehe, um den Bestand dieser Demokratie in diesem Lande weniger bang.Ich möchte einen weiteren Aspekt einführen, über den von einigen Kollegen schon kurz gesprochen wurde. Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn dieses Thema, das wir jetzt zum dritten Male in diesem Hause behandeln — Regierungsbefragung, Fragestunde, Aktuelle Stunde — , nicht so hoch aufgehängt worden wäre. Es wurde dreimal behandelt. Die elektronischen Medien und die gedruckten Medien haben das mit einer Hingabe verbreitet und draußen den Eindruck erweckt, als sei die Demokratie bedroht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8975
Bühler
Ich darf in diesem Zusammenhang zitieren, was ein Leserbriefschreiber in der „Bonner Rundschau" am 20. Januar 1989 geschrieben hat. Er hat folgendermaßen formuliert:Die gesamte deutsche Medienwelt ist auf den cleveren Münchener Vorsitzenden der Deutschen Volksunion, Dr. Gerhard Frey, hereingefallen. Seine werblich hervorragende Postwurfsendung wäre sicherlich in den Papierkorb gewandert, wenn nicht Funk und Fernsehen, direkt reagierend, und auch die regionale Presse sich den bundesweit vertriebenen Zeitungen angeschlossen und für Dr. Gerhard Frey und seine Deutsche Volksunion gratis die Werbetrommel gerührt hätten. Negativ-Reklame ist bekanntlich noch länger im Ohr, und jeder will nun die Postwurfsendung zumindest lesen.Meine Damen und Herren, hätte dieser Leserbriefschreiber gewußt, daß sich der Deutsche Bundestag im Anschluß daran noch dreimal mit dieser Materie befassen wird, hätte er uns wahrscheinlich in diese Kritik einbezogen, ich meine, nicht ganz zu Unrecht.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Graf.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Wiedererstarken des deutschen Rechtsextremismus kommt weder über Nacht noch ist es ein Zufall. Seit Jahren weisen zahllose aufgebrachte Bürgerinnen und Bürger, Institutionen, Parteien und Vereine darauf hin, daß die vom Rechtsextremismus ausgehende Gefahr wächst.Leider müssen wir feststellen, daß die Bundesregierung und insbesondere ihr zuständiger Bundesinnenminister durch seine Art, die vom Rechtsextremismus ausgehende Gefahr zu bagatellisieren, dazu beitragen, daß rechte Parteien in unserem Lande wieder eine Chance haben. Durch die einäugige, einseitige Fixierung auf den Linksextremismus hat der Bundesinnenminister über Jahre hinweg dazu beigetragen, daß die Gefahr von rechts konsequent übersehen wurde.Jeder Verfassungsschutzbericht, der die Unterschrift des Ministers trägt, ist hierfür ein unwiderlegbarer Beweis. Den linksextremistischen Bestrebungen hat der Verfassungsschutzbericht 1986 148 Seiten gewidmet. Der Rechtsextremismus wurde auf 50 Seiten kurz und bündig zusammengeschrieben.
Eine der ersten Maßnahmen von Bundesinnenminister Zimmermann war unter anderem auch die Änderung der Reihenfolge beim Verfassungsschutzbericht: erst links, dann rechts. Vorher war es umgekehrt.Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Einäugigkeit der Bundesregierung läßt sich aber auch an ganz anderen Ereignissen festmachen. Nicht vergessen ist, daß der Bundesinnenminister im Jahre 1983 die Deutsche Bundesbahn bedrängte, Fahrpreisermäßigungen für Gruppenreisen zu den Friedensdemonstrationen in Bonn zu versagen. Wörtlich hat damals der hier anwesende Parlamentarische Staatssekretär Spranger erklärt, daß die Friedensdemonstrationen „erkennbar die Bundesregierung unter Druck" setzen wollen und deshalb eine Fahrpreisermäßigung untersagt werden sollte.Bei der durch Mitarbeiter der Deutschen Bundespost mit ermäßigter Gebühr verteilten Parteipropaganda für die rechtsextreme Deutsche Volksunion hat der Bundesminister keinen so strengen Maßstab angelegt und sich nicht an seinen Kollegen im Postministerium gewandt, um darauf hinzuwirken, daß die Briefe nicht verteilt werden.
Er hatte in diesem Fall offensichtlich nicht den Eindruck, daß die rechtsextreme Propaganda des Herrn Frey und der Deutschen Volksunion die Bundesregierung in irgendeiner Form unter Druck setze und deshalb die Gebührenermäßigung versagt werden sollte. Wenn Mitarbeiter der Deutschen Bundespost, in hoher Zahl Beamte, rechtsextreme politische Parolen von Haustür zu Haustür verteilen, dann muß in der breiten Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, daß diese politischen Parolen in der Bundesrepublik Deutschland offensichtlich wieder hoffähig geworden sind.Die Deutsche Volksunion hält sich mit rechtsextremen und neofaschistischen Thesen zur Zeit zurück. Es steht aber eindeutig fest, daß diese Partei auch eine faschistische Ausrichtung hat. Das 1971 von der DVU vorgelegte 24 Punkte umfassende Aktionsprogramm will an die dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte anknüpfen. Forderungen der DVU sind hiernach u. a.: westliche Aufrüstung zur Bekämpfung des Bolschewismus , Wiederherstellung des Großdeutschen Reichs. Mit den Aussagen dieses Aktionsprogramms schürt die DVU Ausländerfeindlichkeit, Gewerkschaftsfeindlichkeit, Terror gegen links. Nicht zuletzt leugnet sie Kriegs- und Naziverbrechen.Es ist schon erstaunlich, daß Ende Oktober 1986 der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Herr Boeden, eine Abhandlung an einen kleinen Kreis politischer Persönlichkeiten verteilt hat, die sich mit dem Anwachsen im Bereich des deutschen Rechtsextremismus auseinandersetzt. Wörtlich heißt es in diesem Papier — ich zitiere — : „Rechtsextremistische Parolen kommen offenbar wieder an." Beinahe zum gleichen Zeitpunkt, als der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz mahnend auf die Gefahr rechtsextremistischer Parolen hinweist, stellt der Postminister der Deutschen Volksunion seinen ganzen Apparat preiswert zur Verfügung.Wenn wir heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit großer Besorgnis die Entwicklung im rechtsextremistischen Bereich verfolgen, dann können wir nicht darüber hinwegsehen, daß die Bundesregierung durch ihre tolerante Haltung gegenüber all dem, was von rechts kommt, einen Teil der Mitverantwortung trägt.Danke schön.
Metadaten/Kopzeile:
8976 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Das Wort hat der Abgeordnete Gerster .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion hat durch verschiedene Redner deutlich gemacht, daß wir weder den Inhalt noch die Tatsache der Verteilung dieses Briefes des Herrn Frey überhaupt billigen. Im Gegenteil, wir bedauern dies. Nur ist ein Unterschied zwischen der Frage — ich möchte das noch einmal deutlich machen — , ob man etwas will, ob man etwas persönlich für richtig hält, und der Frage, was die Post zu leisten rechtlich verpflichtet ist. Die Post ist ein Monopolbetrieb. Dieser Monopolbetrieb kann nur unter ganz bestimmten Bedingungen eine Lieferung verhindern.
Der Kollege Hirsch hat zu Recht gesagt: Wo kommen wir hin, wenn wir der Bundespost als Monopolbetrieb praktisch eine Zensur zumuten und dies zulassen wollten? Ich möchte in einem derartigen Staat nicht leben.
Mich stört, daß die Sozialdemokraten mit vorbereiteten Reden ständig argumentieren, der Minister hätte das verhindern müssen. Ihr eigener postpolitischer Sprecher weist darauf hin: Es mußte verteilt werden. Hier hat kein Redner das Gegenteil behauptet, aber ständig wird dem Postminister unterstellt, er wolle mit Rechtsradikalen Bündnisse eingehen oder sie unterstützen. Ich finde diese Methode unanständig.
Sie verkünden damit im Prinzip ein Gesinnungsrecht. Sie wenden das Recht nämlich an, wie es Ihnen gerade paßt.
Mich stimmt sehr bedenklich, daß ausgerechnet Politiker, die seit Jahren der Beschäftigung von Kommunisten im Staatsdienst das Wort reden, etwa bei den GRÜNEN, die also wollen, daß Kommunisten, die gegen diesen Staat agieren, mit staatlichem Gehalt und Pensionsanspruch die Jugend politisch verderben können, jetzt, wenn es um die Rechtsradikalen geht, gegen das Recht verhindern wollen, daß die Post gegen Gebühren etwas befördert.
Das nenne ich einäugig und blindäugig auf einem Auge.
Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, daß hier ein Vertreter einer Partei steht, die in den 60er Jahren mit aller Macht die NPD mit dem Ziel und dem Erfolg bekämpft hat, daß diese Partei bei der Bundestagswahl 1969 unter 5 % fiel, was der CDU/CSU die taktische Regierungsmehrheit mit der FDP weggenommen hat. Das heißt, unser Kampf gegen die NPD hat — das sehen Sie bei genauer Betrachtung der historischen Gegebenheiten — die CDU um die Regierungsfähigkeit gebracht.
Das war genau die andere Strategie als diejenige, die Sie gegenüber den GRÜNEN angewandt haben: Sie haben mit Ihren Anbiederungsversuchen bei den GRÜNEN bewirkt, daß diese in den Bundestag gekommen sind.
Weil dies so ist, verbitten wir uns Belehrungen in der Frage, wie rechts- oder linksradikale Parteien zu behandeln sind. Sie sind beide unser entschiedener Gegner, und sie müssen beide mit allen Mitteln bekämpft werden.
Deswegen bedauere ich, daß die Bundespost diese Verteilung vornehmen mußte, und ich bitte den Bundespostminister dringend, zu überprüfen, ob man die rechtlichen Voraussetzungen schaffen kann, um zukünftig derartige Verteilaktionen zu verhindern. Ich sage nur noch einmal: Gerade die Sozialdemokraten und die GRÜNEN, die Opposition, scheinen mir nicht besonders berufen zu sein, hier mit erhobenem Zeigefinger Belehrungen zu erteilen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich gebe das Wort zur Geschäftsordnung dem Abgeordneten Wüppesahl.
Meine Damen und Herren! Ich spreche zu dem Rederecht, das meiner Person zuteil wurde. Sie werden das sicherlich auch noch mit Geduld hinnehmen, weil in nicht einmal vier Wochen die Verhandlungen in Karlsruhe zu diesem Problembereich stattfinden werden.Mir wurden bei der Anmeldung des Redebeitrages fünf Minuten Redezeit zugestanden, und exakt in dem Moment, als ich an das Rednerpult trat, wurde mir mitgeteilt, ich dürfe nur drei Minuten sprechen. Ich denke, dies ist unfair und auch unseriös. Sie wissen, ich spreche meistens frei, aber ich mußte mein Stichwortkonzept wegen der kurzfristigen Mitteilung der Reduktion meiner Redezeit um 40 % umstellen. Nach den Vorkommnissen in der letzten Sitzungswoche, der ersten in diesem Jahr, in der ich bestimmte Vorkommnisse einfach habe geschehen lassen — u. a. war durch geschicktes Agieren ein Redebeitrag von mir zur Europadebatte unmöglich gemacht worden —, bin ich nicht mehr bereit, dies hinzunehmen. Deswegen dieser Beitrag zur Geschäftsordnung.Ich hatte die Hoffnung, auch ein bißchen verstärkt durch bestimmte Ansprüche, die von der neuen Bundestagspräsidentin formuliert worden waren, daß sich vielleicht an der Art und Weise, wie ich behandelt werde, zumindest bis zu dem Urteilsspruch aus Karlsruhe, etwas ändern würde; aber dies ist offensichtlich nicht der Fall. Ich empfinde das, was heute konkret geschehen ist, als schikanös, wie ich das schon zum Ausdruck gebracht und auch begründet habe. Der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8977
WüppesahlAnspruch, der aus der SPD-Fraktion heraus formuliert und auch von dem präsidierenden Kollegen übernommen worden ist, daß die Redezeit durch 520 zu teilen sei, ist natürlich absurd, was Sie wissen. Sie als Fraktion reden zu jedem Tagesordnungspunkt entweder selbst, also persönlich oder durch einen Ihrer Kollegen oder eine Ihrer Kolleginnen,
und ich rede gerade ein-, vielleicht zweimal in einer Sitzungswoche.
— Ich bekomme noch viel zuwenig an Redezeit, das werden Sie sicherlich auch in Kürze lesen können. —
Das ist in der Tat abgedeckt durch Art. 38 des Grundgesetzes und das ungeschriebene Minderheitenschutzrecht, das im parlamentarischen Betrieb in der Tat eine große Tradition hat.
— Sie können zu jedem Tagesordnungspunkt an jedem Tag, an dem Sitzungswoche ist, reden — ich habe das eben schon einmal gesagt —, selbst, persönlich
oder durch Ihre Kollegen, die Sie delegieren oder mandatieren.
Gerade die Art und Weise, in der dieser Vorfall hier zustande gekommen ist, läßt mich den Antrag zur Geschäftsordnung stellen, daß ich zwei Minuten Redezeit, die ursprünglich vorgesehen waren, nachträglich bewilligt bekomme.
Herr Bötsch, Sie wollen zur Geschäftsordnung sprechen? — Bitte schön, Herr Bötsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir hören zum wiederholten Male die Anklagen des Kollegen Wüppesahl, er habe zuwenig Redezeit. Ich glaube, angesichts der Mehrheitsverhältnisse und der Zahl der Abgeordneten in diesem Hause ist dies nur als absurd zu bezeichnen.
Ich möchte mich für die heutige Handhabung — darüber haben wir jetzt diskutiert — in der Fragestunde, welche Redezeit — und an welcher Stelle — dem Kollegen Wüppesahl eingeräumt wurde, beim amtierenden Präsidenten ausdrücklich bedanken.
Frau Traupe hat sich zur Geschäftsordnung gemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst ausdrücklich meinem Vorredner, Herrn Bötsch, anschließen. Ich fand die Fairneß und die Gerechtigkeit, mit der Sie hier einem von 519 Abgeordneten entgegengekommen sind, sehr großzügig. Ich bin deshalb sehr betroffen über die Art, in der Sie sich anmaßen, entgegen der Geschäftsordnung den amtierenden Präsidenten hier zu kritisieren, und weise das in jeder Form zurück.
Im übrigen, Herr Kollege Wüppesahl, weiß ich nicht, woher Sie das Recht nehmen, sich nicht wie viele der Kolleginnen und Kollegen, die hier sitzen und die sehr viel mehr Stimmen auf sich vereint haben, ob als Landeslistenvertreter oder als direkt gewählte Abgeordnete eines Wahlkreises, den Spielregeln anzufügen, daß sie nicht alle reden können und dies wiederum ertragen müssen.
Wir sind der Meinung, der Präsident hat richtig gehandelt. Sie haben von uns ein großzügiges Minderheitenrecht eingeräumt bekommen.
Wir erwarten umgekehrt Ihre Kollegialität, dieses Minderheitenrecht nicht in diesem Maße zu strapazieren.
Meine Damen und Herren, es muß auf einen Irrtum beruhen, daß der Abgeordnete Wüppesahl meinte, ich hätte ihm fünf Minuten zugeteilt. Ich habe ihm Rederecht zugeteilt; das steht ihm zu. Ein Blick in die Geschäftsordnung macht klar, daß es sich um eine Aktuelle Stunde handelt, die eine „Stunde" ist. Wenn wir dort fraktionslose Abgeordnete einordnen wollen, bedeutet das eine neue Aushandlung von Zeiten.
— Ich bin in der Lage, das zu ertragen, obwohl er das hier nicht tun sollte, denn wir haben die alte Regel, die da heißt: Präsidenten im Stuhl können nicht kritisiert werden. — Er hat die Möglichkeit, sich an anderer Stelle zu beklagen.Wir haben ihm die Möglichkeit gegeben, zur Geschäftsordnung zu sprechen. Ich habe ihm eine Redezeit zugebilligt, die insgesamt drei Minuten umfaßte. Ich fand, das ist eine generöse und nicht unseriöse Entscheidung.
Meine Damen und Herren, ich rufe nun
den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Metadaten/Kopzeile:
8978 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Vizepräsident Westphala) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wartenberg , Dr. Penner, Dr. Nöbel, Bernrath, Dr. Emmerlich, Graf, Hämmerle, Lambinus, Lutz, Paterna, Schröer (Mülheim), Dr. Sonntag-Wolgast, Tietjen, Peter (Kassel), Schütz, Dr. Skarpelis-Sperk, Vahlberg, Weiler, Wiefelspütz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Bundesbeauftragter für den Datenschutz)— Drucksache 11/3729 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Rechtsausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und GeschäftsordnungInnenausschußHaushaltsausschußb) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wartenberg , Dr. Penner, Dr. Nöbel, Bernrath, Dr. Emmerlich, Graf, Hämmerle, Lambinus, Lutz, Paterna, Schröer (Mülheim), Dr. Sonntag-Wolgast, Tietjen, Peter (Kassel), Schütz, Dr. Skarpelis-Sperk, Vahlberg, Weiler, Wiefelspütz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz personenbezogener Informationen (Bundes-Informationsschutzgesetz — BISG)— Drucksache 11/3730 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und GeschäftsordnungRechtsausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungHaushaltsausschuß mitberatendund gemäß § 96 GOMeine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte 90 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Wartenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Fraktion legt dem Bundestag heute zwei Gesetzentwürfe vor, und zwar ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, mit dem die Stellung und Berufung des Datenschutzbeauftragten verbessert werden soll, und ein Bundes-Informationsschutzgesetz. Bevor ich auf die Einzelheiten unseres Entwurfs eines Bundes-Informationsschutzgesetzes eingehe, setze ich mich mit den politischen Rahmenbedingungen auseinander, in denen der Datenschutz und die Diskussion um den Datenschutz in unserer Republik im Augenblick stattfinden.Frau Leuze, die Datenschutzbeauftragte des Landes Baden-Württemberg, hat ihren Bericht, den sie im Dezember vorgelegt hat, mit folgenden Worten begonnen:Warten auf Bonn hieß auch im Jahr 1988 die Devise im Datenschutz. Die Flaute in der Gesetzgebung — seit Jahren zu beobachten — setzte sich fort mit all den negativen Folgen. Ganz anders verlief dagegen die Entwicklung bei Einsatz dermodernen Informations- und Kommunikationstechnik. Bürokommunikationssysteme hatten Hochkonjunktur. Netzverbindungen wurden forciert. Moderne Kleinrechner sprossen wie Pilze aus dem Boden. An der Zahl der Bildschirme bemessen manche Behördenleiter schon die Bedeutung der Leistungsfähigkeit ihrer Behörde. Kurzum, der Ausbau der kommunikations- und informationstechnischen Infrastruktur schreitet in einem raschen Tempo voran.Frau Leuze folgerte daraus, diesem Auseinanderdriften von Technik und Recht müsse schnellstens Einhalt geboten werden.Doch was steht dem an politischer Handlung von seiten der Bundesregierung entgegen? Die Leitbildfunktion des Bundes in Richtung auf ein fortschrittliches und der technischen Entwicklung entsprechendes Datenschutzgesetz ist immer geringer geworden. Obwohl wir uns nun schon im Jahre sechs nach dem Volkszählungsurteil befinden, bewegt sich im Bereich des Datenschutzes auf Bundesebene so gut wie nichts. In den meisten Bereichen ist der Verfassungsauftrag nicht erfüllt. Noch immer stützt sich die Verwaltung auf Rechtsgrundlagen, die vielleicht zu einer Zeit angemessen waren, als man noch keine Computer hatte, die aber gewiß nicht mehr der Gegenwart entsprechen.Die in der letzten Legislaturperiode eingebrachten Sicherheits- und Datenschutzgesetze auf Bundesebene — die dann nicht beschlossen wurden — machten deutlich, daß der Inhalt nicht hielt, was die Verpackung versprach. Von vielen Seiten, nicht nur von den Datenschutzbeauftragten, hagelte es zu Recht Kritik. Allzusehr waren die Gesetzentwürfe der Regierung von dem Bestreben geleitet, den Status quo nach Möglichkeit festzuschreiben, der Verwaltung einen an ihren Wünschen ausgerichteten, nicht kneifenden Maßanzug zu verschaffen und den Flurschaden zu begrenzen, den angeblich das Volkszählungsurteil in den Augen vieler angerichtet hatte.Nicht nur, daß man den Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht bei dem Volkszählungsurteil gestellt hatte, nicht gerecht wurde, nein, im Laufe der Zeit meldeten sich in der Exekutive immer deutlichere Stimmen, die die angeblichen Folgen des Volkszählungsurteils in den schlimmsten Farben an die Wand malten. Von völligem Stillstand der Verwaltung, unübersehbarem Paragraphenwald und von Überbürokratisierungswahn war da die Rede.Diese Leute entwickelten Abwehrstrategien und setzten diese bewußt ein. Der Widerstand gegen den Datenschutz in Politik, Wirtschaft und Verwaltung ist immer noch groß. Wie in der Zeit vor dem Volkszählungsurteil feiern Schlagworte wie „Datenschutz gleich Tatenschutz " wieder fröhliche Urstände. Wann immer irgendwo eine Panne passiert, eine Spionageaffäre aufgedeckt, ein Verbrechen begangen und nicht sofort aufgeklärt wird, sofort findet sich der passende Sündenbock: der überzogene Datenschutz.Erst in der letzten Woche wurde das deutlich, als der bayerische Innenminister, Edmund Stoiber, den nordrhein-westfälischen Innenminister, Herbert Schnoor, angriff, weil dieser dankenswerterweise den Entwurf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8979
Wartenberg
eines Polizeigesetzes vorgelegt hat, das dem Verlangen des Grundgesetzes und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung trägt, so daß auch der Polizei und ihrer politischen Führung in der Abwägung gegenüber dem Bürger und Grundrechten Grenzen gesetzt werden.Daraufhin hat Stoiber Schnoor vorgeworfen, dieser mache den Datenschutz im Polizeirecht zu einem nicht verantwortbaren Tummelplatz für linksliberale Ideologien. Das macht deutlich, daß das Verhältnis der Konservativen zum Datenschutz nicht nur gestört ist, sondern daß der Datenschutz instrumentalisiert wird, um populistisch als Sündenbock für nicht gelöste politische Probleme zu dienen.Es gibt nicht nur die Gruppe der hirnverbrannten Gegner des Datenschutzes vom Schlage Stoiber, sondern auch eine andere Gruppe von Gegnern, die etwas intelligenter vorgehen. Sie wollen den Datenschutz darauf zurückdrängen, daß durch ihn nur offenkundiger Mißbrauch verhindert werden darf. Allzu leicht fällt dabei aber unter den Tisch, daß man Mißbrauch aber erst feststellen kann, wenn man zuvor festgelegt hat, wer wann welche Informationen wie lange und wozu erheben, speichern und nutzen darf, und daß es dabei das Selbstbestimmungsrecht und damit die Freiheit des anderen so weit wie irgend möglich zu wahren gilt.Inzwischen gibt es nun einen weiteren Datenschutzentwurf der Bundesregierung. Auch dieser stößt wie der Entwurf in der letzten Legislaturperiode zu Recht auf massive Kritik. Ich will einige Haupteinwände kurz schildern, damit deutlich wird, inwieweit sich der SPD-Entwurf von diesem unzulänglichen Gesetzentwurf der Bundesregierung unterscheidet: Der Gesetzentwurf zur Neufassung des Bundesdatenschutzgesetzes wird nicht einmal seinen eigenen Zielsetzungen gerecht, wie sie in der Begründung des Referentenentwurfs niedergelegt sind. Der technische Fortschritt auf dem Gebiet der automatisierten Datenverarbeitung wird überhaupt nicht berücksichtigt. Die in der Praxis aufgetretenen Auslegungsfragen im Zusammenhang mit dem Bundesdatenschutzgesetz werden nicht ausgeräumt. Das Gesetz wird nicht an die Grundsätze des Volkszählungsurteils angepaßt, ja es bleibt sogar hinter der gegenwärtigen Rechtslage zurück.
Der Geltungsbereich wird auf die Verarbeitung personenbezogener Daten in Dateien beschränkt. Dadurch werden auch die Kontrollbefugnisse des Bundesbeauftragten für den Datenschutz nachhaltig eingeschränkt.Der Entwurf enthält wieder keine Regelung für die Verarbeitung von Arbeitnehmerdaten. Hingegen wird die Datenverarbeitung in der Wirtschaft weiter erleichtert.Die verfassungsrechtlich gebotene Verbesserung der Auskunftsrechte der Betroffenen findet nicht statt.Gegen diesen unzulänglichen Entwurf der Bundesregierung stellt die SPD ihren eigenen Gesetzentwurf, der eine grundlegende Überarbeitung des geltendenBundesdatenschutzgesetzes darstellt. Dieser Gesetzentwurf hat die bereits novellierten Landesdatenschutzgesetze in Hessen, Bremen und NordrheinWestfalen sowie den Entwurf eines Hamburgischen Datenschutzgesetzes einbezogen und will auf diese Weise ein Stück Rechtseinheitlichkeit in der Bundesrepublik sicherstellen und auch hier in Bonn eine Leitfunktion zurückgewinnen, die von der Bundesregierung beim Datenschutz nicht mehr wahrgenommen wird.Den Gesetzestitel „ Bundes-Informationsschutzgesetz " haben wir gewählt, um von dem etwas unglücklichen Begriff „Datenschutz" wegzukommen. Der Begriff „Datum" bezieht sich auf die Datenverarbeitung in Computern. In der praktischen Lebensumwelt handelt es sich bei dem zu schützenden Gegenstand jedoch um Informationen über den einzelnen und über den Austausch von Informationen. Die Datenschutzgesetzgebung bezweckt den Schutz des Bürgers vor Gefahren und den Ausgleich von Schäden, die bei unangemessenem Umgang mit personenbezogenen Informationen entstehen.Der bisherige Titel des Gesetzes ist zu eng und überdies mißverständlich. So liegt der Schluß nahe, als bezwecke das bisherige Gesetz den Schutz von Daten vor Mißbrauch bei der Datenverarbeitung. Das von uns vorgeschlagene Gesetz soll von einem Gesetz gegen mißbräuchliche Anwendung der Datenverarbeitung zu einer „Informationsverkehrsordnung" weiterentwickelt werden, die den „fairen Umgang" mit personenbezogenen Informationen regelt. Der Titel des Gesetzes soll den Schutzzweck des Gesetzes angemessen wiedergeben, ihn zumindest nicht unangemessen einengen oder verfälschen. Die Verwendung des Begriffes „Information" soll auch eine Verknüpfung zu einem anderen, noch zu schaffenden Bürgerrecht, dem Informationszugangsrecht, herstellen. Wir haben hier häufig darüber diskutiert, aber die Bundesrepublik Deutschland ist bis jetzt — im Unterschied zu Schweden und den Vereinigten Staaten — nicht in der Lage gewesen, ein vernünftiges Informationszugangsrecht zu schaffen, das für eine demokratische Gesellschaft dringend notwendig ist.Unser Gesetzentwurf enthält folgende Grundlinien: In unserem Gesetzentwurf wird jeder Umgang mit personenbezogenen Daten ohne Rücksicht auf die jeweilige Form der Verarbeitung als Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht gewertet. Dies führt zu einer grundsätzlichen Einbeziehung auch der traditionellen Formen der Informationsverarbeitung, nämlich der Akten, in den Schutzbereich des Gesetzes und löst die Geltung des Gesetzes von der bisher vorhandenen Bindung an die dateimäßige Verarbeitung.Eine Anknüpfung an die Verarbeitung in Dateien mag zum Entstehungszeitpunkt der ersten Datenschutzgesetze noch plausibel gewesen sein. Heute reicht das nicht mehr aus. Wenn aber die informationelle Selbstbestimmung wirklich gesichert werden soll, dann muß der Zugriff auf personenbezogene Daten und nicht die Verarbeitungsform maßgeblich sein.
Metadaten/Kopzeile:
8980 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Wartenberg
Eine Orientierung an der Datei, wie sie sich etwa nach wie vor in den Entwürfen der Bundesregierung findet, macht es deshalb letztlich vom Zufall abhängig, ob das von der Verfassung geforderte Maß an Schutz gewährt wird.Dies hat auch Auswirkungen auf die Kontrollbefugnis des Bundesbeauftragten für den Datenschutz. Mit der Einbeziehung jeglicher personenbezogener Informationsverarbeitung werden auch seit Jahren bestehende unterschiedliche Auffassungen über den Umfang dieser Kontrollbefugnisse endgültig ausgeräumt.Im Bundesrat hat die Einbeziehung der Akten in dieser Woche schon zu Turbulenzen geführt. Gestern haben die SPD-Länder zusammen mit dem CDU/FDP-regierten Land Hessen bei Enthaltung von Niedersachsen im Innenausschuß des Bundesrates einem Antrag der SPD zugestimmt und damit den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu korrigieren versucht.Das Delikate daran ist, daß Bundesinnenminister Zimmermann noch kurz vorher einen Brief an alle CDU-regierten Länder geschrieben hat, um diese Länder auf seine datenschutzrechtliche — und damit grundrechtsfeindliche — Linie festzulegen. Dies scheint ihm im Augenblick nicht geglückt zu sein. Es scheint Länder zu geben, in denen es unterschiedliche Meinungen — wohl auch aus den Koalitionsdebatten heraus, die in diesen Ländern stattfinden — gibt. Das bestätigt uns in unserem Entwurf, den wir vorgelegt haben.Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen von der Koalition ernsthaft, diesen Punkt — Einbeziehung der Akten — aus dem SPD-Entwurf zu übernehmen; denn nur dadurch läßt sich ein sinnvoller Datenschutz überhaupt gewährleisten. Alles andere ist ein Rückfall.
Es ist abzuwarten, wie sich die Länder am 10. Februar in der Beschlußfassung über die Empfehlung des Bundesrates verhalten werden. Dann wird man ja sehen, ob FDP und CDU hier qualitativ tatsächlich etwas verbessern wollen.Abweichend vom geltenden Recht wird in unserem Gesetzentwurf die Phase der Erhebung — dies ist der erste Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung — in den Geltungsbereich des Gesetzes einbezogen. Dadurch werden auch die Aufklärungs-und Belehrungspflichten gegenüber den Betroffenen entsprechend erweitert.Bei anderen Stellen oder Personen dürfen personenbezogene Informationen nur unter Voraussetzungen erhoben werden, unter denen eine Zweckänderung gespeicherter Informationen zulässig wäre. Der Datenverarbeitungsbegriff umfaßt auch in Zukunft jede Nutzung personenbezogener Daten.Das Zweckbindungsprinzip wird in unserem Entwurf strikt durchgeführt. Dies gilt nicht nur für die Weiterverarbeitung durch die erhebende Stelle selbst, sondern auch für die Übermittlung dieser Daten an andere Stellen oder Personen und ist auch bei der Erhebung von Bedeutung. Die Weiterverarbeitung wird grundsätzlich an den Erhebungszweck gebunden.Das bisherige Auskunftsrecht wird erweitert. Es wird eine grundsätzlich unentgeltliche Auskunft eingeführt. Für Akten wird ein Einsichtsrecht eingeräumt. Das Auskunftsverweigerungsrecht wird erheblich eingeschränkt. Für die Verweigerung wird eine Begründungspflicht eingeführt.
Auch dies ist ein ganz wesentlicher Unterschied zum Gesetzentwurf der Regierung, bei dem insbesondere die Sicherheitsbehörden und die verdeckt arbeitenden Behörden keine Begründungspflicht haben, um eine Auskunft zu verweigern. Dies halten wir grundsätzlich für falsch.Ein weiterer Punkt ist die Einführung eines verschuldensunabhängigen Schadenersatzanspruches bis zu einem Betrag von 500 000 DM. Wir wissen, daß heute durch die fälschliche Verwendung von Informationen und Daten Bürger in höchstem Maße geschädigt werden können. Deswegen muß der verschuldensunabhängige Schadenersatzsanspruch endlich eingeführt werden.Außerdem werden die Vorschriften über die Sperrung und Löschung von Daten weiter verschärft. Grundsätzlich wird eine Löschungsverpflichtung eingeführt. Die Vorschriften über die Datenschutzkontrolle werden verbessert und gleichzeitig vereinfacht. Die Rechtstellung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz wird dadurch gestärkt. Seine Aufgaben werden erweitert.Zusätzlich — was ganz besonders wichtig ist — wird in unserem Gesetzentwurf die Stellung der betrieblichen Datenschutzbeauftragten gestärkt. In immer mehr Großbetrieben besteht die Gefahr, daß über die Verarbeitung der Arbeitnehmerdaten große Probleme für Beschäftigte entstehen können: von der Leistungskontrolle bis hin zu der Abfrage über bestimmte Verhaltensweisen und über den Gesundheitszustand.Daher ist es dringend notwendig, im Bereich der Arbeitnehmerdaten eine Lösung zu bekommen. In Ihrem Gesetzentwurf ist nichts davon enthalten. Wir sind deswegen, wie wir es auch schon in unserer Großen Anfrage vor drei Jahren deutlich gemacht haben, fest entschlossen, dem Gedanken des Arbeitnehmerdatenschutzes in der Bundesrepublik endlich zum Durchbruch zu verhelfen.
Dies geht bei diesem Gesetz nur über die individualrechtliche Seite. Es muß gleichzeitig auch auf der kollektivrechtlichen Seite, d. h. im Betriebsverfassungsgesetz, entsprechend festgelegt werden. Das ist also nicht nur eine Sache des Datenschutzgesetzes, das wir hier als Rahmengesetz vorlegen.Ein besonders wichtiger Punkt, der bei uns einen großen Stellenwert hat, ist das Gefährdungspotential bei Direktzugriffsverfahren, den sogenannten OnLine-Verbindungen. Hier müssen neue Rechtsvorschriften, so wie wir sie vorgeschlagen haben, eingeführt werden. Die Einrichtung von Direktzugriffsverfahren muß von dem Vorhandensein einer Rechtsvorschrift abhängig gemacht werden. Das ist auch das, was wir in den letzten Wochen bei der Beratung des 8. und 9. Datenschutzberichts immer wieder festge-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8981
Wartenberg
stellt haben: zunehmend die Einrichtung von Dateien und Direktzugriffen — APIS beispielsweise ist ohne jede Gesetzesgrundlage —, und das in einem höchst sensiblen Bereich von Dateien, in denen immerhin einige zigtausend Bürger gespeichert worden sind! Das ist ein Punkt, der endlich abgestellt werden muß.
Gestern hat der Datenschutzbeauftragte im Ausschuß insbesondere bei einigen Dateien noch einmal deutlich auf die Verfassungswidrigkeit hingewiesen. Auch das wird vom Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht gelöst.Gleichzeitig haben wir, was insbesondere das Widerspruchsrecht des Bürgers angeht, eine stärkere Regelung in unserem Gesetzentwurf verankert.Lassen Sie mich noch auf einen Punkt eingehen, den wir in unserem Gesetz angesprochen und bei dem wir eine Teillösung erreicht haben. Das ist der Bereich der Direktwerbung. Immer mehr Bürger ärgern sich, daß mit ihren Adressen Handel getrieben wird und pausenlos in ihren Briefkästen Material von Firmen landet, mit denen sie freiwillig niemals in Kontakt getreten sind. Die Briefkästen sind voll damit. Das wird man nicht vollständig verbieten können. Allerdings haben wir eine Regelung eingeführt, daß sich der Bürger dagegen wehren kann, daß er bei einer zentralen Stelle Widerspruch einlegen kann, um zu verbieten, daß mit seinem Namen und seiner Adresse Handel getrieben wird und er unaufgefordert von Firmen belästigt wird.
Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, um diese Unzulänglichkeiten endlich abzustellen.Im Bereich der Medien haben wir eine Regelung avisiert, die nicht einfach ist, die schwierig ist, weil die Pressefreiheit natürlich ein ganz besonders sensibler Bereich unserer demokratischen Gesellschaft ist. Wir haben aber versucht, einige Probleme zu entschärfen, indem wir vorgeschlagen haben, daß jetzt grundsätzlich auch bei Informationen über Personen bei der Presse dann, wenn diese Informationen nicht richtig waren und der Bürger dagegen protestiert und eine Gegendarstellung verlangt hat, diese Daten zukünftig nur mit dieser Gegendarstellung weitergegeben werden dürfen, um somit dem Bürger eine größere Sicherheit zu geben, daß er von der Presse nicht falsch zitiert und dargestellt wird. Gleichzeitig soll der Bürger das Recht haben, einzusehen, welche Informationen über ihn an dieser Stelle vorliegen. Das ist wohl das einzige, was man an Eingrenzung in diesem Bereich machen kann. Die Pressefreiheit kann an dieser Stelle nicht eingeschränkt werden. Hier kann es nur darum gehen, dem Bürger ein Recht zu geben, daß Mißbrauch verhindert wird.Als letzten Punkt ganz kurz eine Vorschrift zur Videoüberwachung. Videoüberwachung spielt eine immer größere Rolle. Die Videoüberwachung ist auch eine Informationsspeicherung über Personen, etwa bei Banken oder in Bahnhöfen. In zunehmendem Maße stellen wir das fest. Hier haben wir uns insbesondere darauf festgelegt, daß die Löschung sofort erfolgen muß, daß das Material nicht über Wochen und Monaten aufbewahrt werden und nicht zu anderen Zwecken als zu dem konkreten Zweck, zu dem diese Videoüberwachung gemacht worden ist, verwandt werden darf.Meine Damen und Herren, die Sozialdemokraten haben ein sehr umfängliches, kompliziertes Gesetz vorgelegt — kompliziert, weil die Materie komplex ist. Oppositionen legen in der Regel derart komplizierte und umfängliche Gesetze nicht vor, sondern formulieren meist nur Grundsatzpositionen. In diesem Fall haben wir uns dafür entschieden, ein vollständiges, umfängliches Gesetz vorzulegen, weil die Bundesregierung seit sechs Jahren nicht in der Lage ist, den Grundsätzen des Verfassungsgerichtsurteils zu entsprechen. Deswegen mußten wir ein Zeichen setzen. Wir haben ein Gesetz vorgelegt, das so verabschiedet werden könnte. Es entspricht dem neuesten Stand der Datenschutzdiskussion und schützt den Bürger.Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Blens.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat am 20. Dezember 1988 einen Regierungsentwurf zur erforderlichen Reform des Datenschutzes verabschiedet. Ich gehe davon aus, daß wir diesen Regierungsentwurf noch im März dieses Jahres, also in etwa zwei Monaten, hier in erster Lesung werden beraten können. Es wäre deshalb sicherlich ökonomischer gewesen, wenn die erste Lesung über die heute vorliegenden Gesetzentwürfe der SPD bis zu diesem Zeitpunkt zurückgestellt worden wäre. Aber es ist natürlich das gute Recht der Opposition, eine isolierte Beratung ihrer Gesetzentwürfe zu verlangen.Ich möchte zu einigen zentralen Punkten der SPD-Entwürfe Stellung nehmen, und zwar zu solchen Punkten, die bei der gesamten vor uns liegenden Diskussion über die Reform des Datenschutzrechts mit Sicherheit eine Rolle spielen werden.Als erstes: Sie schlagen vor, das Grundgesetz zu ändern und den Datenschutzbeauftragten im Grundgesetz zu verankern. Er soll, abweichend vom geltenden Recht, nicht nur von der Bundesregierung ernannt, sondern auf Vorschlag der Bundesregierung vom Bundestag gewählt werden. Nach § 22 Abs. 2 Ihres Gesetzentwurfs für ein Informationsschutzgesetz soll zur Wahl des Datenschutzbeauftragten eine Zweidrittelmehrheit der Mitglieder des Bundestages erforderlich sein.Ich will dazu im wesentlichen nur das wiederholen, was ich hier schon einmal aus Anlaß der Beratung eines Antrags der GRÜNEN gesagt habe: Die bisherigen Datenschutzbeauftragten haben sich bewährt. Das ist allgemein anerkannt. Alle Datenschutzbeauftragten haben ihr Amt in voller Unabhängigkeit von der Regierung und dem jeweiligen Innenminister ausüben können. Es besteht für uns also keine Veranlassung, das bisher praktizierte und bewährte Verfahren zu ändern.
Metadaten/Kopzeile:
8982 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Dr. BlensWenn man das Verfahren trotzdem ändern will, z. B. deshalb, weil es in den Landesdatenschutzgesetzen anders geregelt ist, wenn man statt der Bestellung des Datenschutzbeauftragten allein durch die Bundesregierung festlegen will, daß Bundesregierung und Bundestag bei der Bestellung des Datenschutzbeauftragten zusammenwirken, dann braucht man dafür nicht das Grundgesetz zu ändern, dann braucht man erst recht nicht für die Wahl eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages vorzusehen. Ich meine, besonders mit der Zweidrittelmehrheit wird die Sache doch etwas zu hoch aufgehängt, jedenfalls dann, wenn man berücksichtigt, daß die Zweidrittelmehrheit normalerweise nur erforderlich ist, um das Grundgesetz zu ändern oder eine Anklage gegen den Bundespräsidenten im Bundestag zu beschließen. Wenn schon Wahl durch den Bundestag, dann muß auch die einfache Mehrheit ausreichen.Allerdings bestimmt dann in der Praxis die jeweilige Regierungsmehrheit zusammen mit der Bundesregierung den Datenschutzbeauftragten, und die Opposition ist draußen vor. Ich kann mir deshalb die Forderung der SPD nach der Einführung einer Zweidrittelmehrheit für die Wahl des Bundesdatenschutzbeauftragten nur so erklären, daß Sie die Hoffnung auf Regierungsbeteiligung endlich aufgegeben haben und davon ausgehen, daß Sie auch in Zukunft die sicherlich nützliche und auch notwendige Rolle der Opposition spielen werden und dann wenigstens beim Datenschutzbeauftragten etwas mitreden wollen.
— Ich habe ja Verständnis dafür, meine Damen und Herren, aber auch Sie müssen Verständnis dafür haben, daß wir da anderer Meinung sind.Lassen Sie mich abschließend dazu feststellen: Wir sehen keine Veranlassung, das Verfahren zur Bestellung des Datenschutzbeauftragten zu ändern, und zwar weil es sich bewährt hat. Sollte es zu einer Änderung kommen, sind für uns weder eine Verfassungsänderung noch eine Zweidrittelmehrheit für die Wahl des Datenschutzbeauftragten diskutabel.Zu einem zweiten Punkt: Das geltende Datenschutzgesetz bezieht sich nur auf den Schutz von Daten bei der automatisierten Datenverarbeitung, es bezieht sich nicht auf den Schutz von Daten in Akten. Der Regierungsentwurf enthält ebenfalls Datenschutzvorschriften für Daten in Akten der öffentlichen Stellen des Bundes, allerdings nicht im Datenschutzgesetz, sondern im Verwaltungsverfahrensgesetz, was aber in der Sache für den Datenschutz unerheblich ist und keinen Unterschied macht. Entscheidend ist, daß auch der Regierungsentwurf den Datenschutz auf Akten der Bundesbehörden ausdehnt.Sie gehen nun über diesen Vorschlag insofern erheblich hinaus, als Sie alle Akten, auch die privater Betriebe und Unternehmen, vom kleinen Handwerksbetrieb bis zum Großkonzern mit 300 000 Beschäftigten, in das Datenschutzgesetz einbeziehen wollen. Nun hört es sich zunächst ganz überzeugend an, wenn man sagt: Wir wollen den Datenschutz auf alle Akten der privaten Wirtschaft ausdehnen. Aber die Sache sieht meines Erachtens völlig anders aus, wenn man sich klarmacht, welche Auswirkungen das in der Praxis auf die Wirtschaftsunternehmen hat.Ich habe mir von einigen Kölner Unternehmen Zahlen beschafft, die ich auch Ihnen nicht vorenthalten möchte. Da ist ein Kölner Industrieunternehmen mit rund 1 400 Beschäftigten, das einen Bestand von etwa 29 000 Aktenordnern hat. Ein Kölner Schreinermeister mit fünf Beschäftigten hat mir gesagt, er habe zur Zeit 128 laufende Akten. Wenn man nur diese beiden — sicherlich nicht aktenintensiven — Betriebe zugrunde legt, dann heißt das, daß auf jeden Beschäftigten rund 20 Akten kommen. Rechnet man das auf 28 Millionen Erwerbstätige in der Bundesrepublik hoch, dann wären das rund 560 Millionen Akten der privaten Wirtschaft, die dem Datenschutz unterworfen würden, wenn Ihre Regelung Gesetz würde.Die Zahlen sind aber wahrscheinlich noch erheblich höher, wenn man nämlich diejenigen Betriebe einbezieht, die erheblich aktenintensiver sind als solche Handwerks- oder Industriebetriebe, z. B. Versicherungen. Da gibt es eine Versicherung — und ich nenne wieder Zahlen aus der Praxis — mit etwa 3 000 Beschäftigten, die ca. 5 Millionen Akten hat. Eine andere Versicherung mit 3 500 Beschäftigten, die noch nicht so weit computerisiert ist, hat einen Bestand von etwa 12 Millionen Akten. Und eine Versicherung mit etwa 20 000 Beschäftigten verwaltet rund 40 Millionen Akten und Mikrofilme — eine einzige Versicherung!Wenn man alle diese Akten dem Datenschutz unterwirft, dann macht man die betrieblichen Datenschutzbeauftragten, die in großen Betrieben heute schon oft überfordert sind, gleichzeitig dafür verantwortlich, daß in all diesen Akten die Datenschutzvorschriften eingehalten werden. Dieser Verantwortung können die betrieblichen Datenschutzbeauftagten nur gerecht werden, wenn sie einen Riesenkontrollapparat mit erheblichem Personalbestand zur Verfügung haben. Dasselbe gilt für die staatlichen Aufsichtsbehörden, die die Einhaltung des Datenschutzes in der privaten Wirtschaft zu überwachen haben.Ich komme zu dem Ergebnis: Wenn Ihre Forderung nach Ausdehnung des Datenschutzgesetzes auf Akten der privaten Wirtschaft Gesetz würde, dann käme auf die privaten Betriebe in der Bundesrepublik ein enormer zusätzlicher bürokratischer Aufwand mit einer entsprechenden Kostenbelastung zu. Und ich sage Ihnen ganz klar: Das ist mit der CDU/CSU-Fraktion nicht zu machen.Wir wollen nicht weitere Bürokratisierung in der Wirtschaft, sondern wir wollen Entbürokratisierung. Wir wollen nicht weitere Regulierung, sondern wir wollen Deregulierung in der Wirtschaft — und das alles nicht zuletzt im Hinblick auf den gemeinsamen europäischen Binnenmarkt 1992. Wenn unsere Unternehmen in der Bundesrepublik mit den anderen europäischen Unternehmen Schritt halten wollen, dann dürfen wir unseren Betrieben nicht weitere bürokratische und kostenmäßige Fesseln anlegen, so wie Sie das mit Ihrem Vorschlag tun wollen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8983
Dr. BlensEin Drittes: Lassen Sie mich noch einige Anmerkungen zum Problem Datenschutz und Wirtschaft allgemein machen. Zunächst: Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts enthält ausschließlich Aussagen über die Bedeutung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung gegenüber dem Staat. Auf die Wirkung des Grundrechts gegenüber privaten Unternehmen enthält das Urteil keinerlei Hinweise. Nun will ich die Bedeutung der Drittwirkung von Grundrechten nicht unterschätzen. Ich bestreite auch nicht, daß man — unabhängig vom Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts — in einzelnen Fällen zu Verbesserungen des Datenschutzes in der privaten Wirtschaft kommen kann und kommen muß. Ich will aber hier eines feststellen: Nach meiner Überzeugung ist eine Verschärfung der geltenden Datenschutzregelungen in der Privatwirtschaft verfassungsrechtlich nicht zwingend erforderlich. Das hat nichts damit zu tun, ob sie nicht politisch wünschbar ist und auch gemacht wird.Und noch eines: Sie sagen in Ihrem Gesetzentwurf — übrigens in Übereinstimmung mit dem geltenden Datenschutzgesetz und mit dem Regierungsentwurf — , jede Verarbeitung personenbezogener Daten und deren Nutzung auch durch private, nichtöffentliche Stellen sei grundsätzlich verboten und nur gestattet, soweit die Datenverarbeitung ausdrücklich gesetzlich erlaubt sei oder soweit der Betroffene eingewilligt habe.Ich bin der Meinung, wir müssen bei der Beratung aller Gesetzentwürfe sehr sorgfältig prüfen, ob dieses sogenannte Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, wonach grundsätzlich alles verboten ist, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, mit unserer Verfassung vereinbar ist. Nach unserem Grundgesetz gilt für jeden Privatmann, aber auch für jede private Firma der genau umgekehrte Grundsatz, nämlich: Es ist alles erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist. Dieser Grundsatz unserer freiheitlichen Verfassung gilt selbstverständlich auch für die Datenverarbeitung durch private Stellen — wohlgemerkt: durch private, nicht durch staatliche Stellen; da gilt eine andere Rechtslage.Ein letztes zum Problem Datenschutz in privaten Betrieben. Sie übernehmen in Ihrem Gesetzentwurf aus dem geltenden Datenschutzgesetz — übrigens wieder in Übereinstimmung mit dem Regierungsentwurf — die Regelung, daß Betriebe mit fünf oder mehr Arbeitnehmern, die personenbezogene Daten automatisiert verarbeiten, einen Beauftragten für den Datenschutz, einen betrieblichen Datenschutzbeauftragten, bestellen müssen.Ich meine, wir sollten die vor uns liegenden Beratungen auch dazu nutzen, zu prüfen, ob es sinnvoll ist, eine solche Regelung beizubehalten. Sie hat nämlich zur Folge, daß z. B. ein Schreinermeister mit zwei Auszubildenden und drei Gesellen, dessen Frau mit einem Personal-Computer die Büroarbeit — von der Führung der Kundendatei über die Lieferantendatei bis zur Lohnabrechnung; lauter Sachen mit personenbezogenen Daten — erledigt, einen Datenschutzbeauftragten bestellen müßte.Nun ist die Frage: Wen nimmt er dafür?
Der Chef des Betriebs darf die Aufgabe nicht übernehmen, weil er ja die speichernde Stelle ist. Auch seine Frau darf es nicht, weil sie ja diejenige ist, die vom Datenschutzbeauftragten kontrolliert werden soll; sie macht ja die Arbeit. Er müßte also einen seiner Gesellen oder Auszubildenden zum Datenschutzbeauftragten bestellen.
Nur hat das natürlich einen Haken. Die können zwar Tische und Stühle und Schränke bauen, die können auch Holzverkleidungen an Wänden machen; nur eines können sie mit Sicherheit nicht, denn davon haben sie keine Ahnung: die Datenverarbeitung.
— In der Regel ist es so. Also fehlt ihnen schon die für die Tätigkeit eines Datenschutzbeauftragten erforderliche Sachkunde. Im übrigen würden sie sich sicher sehr unwohl dabei fühlen, wenn sie die Frau ihres Chefs in Sachen Datenverarbeitung überwachen müßten.Nach dem SPD-Gesetzentwurf müßte der Datenschutzbeauftragte in diesem Handwerksbetrieb übrigens sogar mit Zustimmung des Betriebsrats bestellt werden. Das stößt allerdings auf erhebliche und nicht überwindbare Schwierigkeiten, weil dieser Handwerksbetrieb nach dem Betriebsverfassungsgesetz keinen Betriebsrat zu haben braucht und in der Regel wohl auch keinen hat.Für mich ist das ein Beispiel dafür, daß wir die Reform des Datenschutzrechts auch zum Anlaß nehmen sollten, das Datenschutzgesetz von offensichtlich weit überzogenen und auch durch die Technik überholten Regelungen zu entrümpeln.Ein Viertes. Von der Wirtschaft zurück zu den öffentlichen Stellen des Bundes: Nach dem geltenden Datenschutzgesetz erstreckt sich die Kontrollbefugnis des Bundesdatenschutzbeauftragten nicht auf die Akten der Bundesbehörden, sondern nur auf Daten, die automatisiert verarbeitet werden.Der Regierungsentwurf geht einen Schritt weiter. Der Datenschutzbeauftragte soll in Zukunft Akten der Bundesbehörden kontrollieren dürfen, wenn er im Einzelfall Anlaß zu der Annahme hat, daß Datenschutzvorschriften bei der Aktenbearbeitung nicht beachtet werden. Der SPD-Entwurf geht noch weiter. Er will dem Datenschutzbeauftragten das Recht einräumen, auch ohne jeden Anlaß jederzeit alle Akten der Bundesbehörden zu prüfen.Auch hier ist es sinnvoll, sich zunächst einige Zahlen vor Augen zu halten, ehe man hehre Grundsätze verkündet. Im Bundesdienst sind zur Zeit etwa 1 200 000 Leute beschäftigt. Das heißt, es gibt schon 1 200 000 Personalakten bei den Bundesbehörden. Dazu kommen die Akten, die diese 1 200 000 Beschäftigten tagtäglich produzieren. Allein im Bundesinnenministerium, also in einem einzigen Ministerium, gibt es zur Zeit 103 000 Aktenordner mit 514 800 Einzelvorgängen. 1976 hat der Bundesrechnungshof eine Teilerhebung über die Aktenzahlen bei den Bundesoberbehörden gemacht und festgestellt, daß bei 48 Oberbehörden des Bundes damals 150 000 laufende Meter, d. h. 150 km, Akten vorhanden waren. Die Bundesversicherungsanstalt verfügte 1976 über
Metadaten/Kopzeile:
8984 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Dr. Blens250 km Akten. Das sind also insgesamt 400 km Akten nur dieser zuletzt genannten Behörden. Der Bundesdatenschutzbeauftragte bräuchte also etwa 100 Stunden oder, auf die 40-Stunden-Woche umgerechnet, zweieinhalb Arbeitswochen, um an den zuletzt genannten 400 km Akten auch nur vorbeizumarschieren; ich unterstelle eine Geschwindigkeit von 4 km pro Stunde. Meine Damen und Herren, wenn die Forderungen nach der generellen Ausdehnung der Kontrolltätigkeit des Bundesbeauftragten für den Datenschutz auf alle Akten der Bundesbehörden nicht nur schöner Schein, nicht nur hohle Worte sein sollen, müssen wir eine riesige Bundesdatenschutzbehörde aufbauen, um diesen gigantischen Aktenbestand des Bundes auch nur einigermaßen kontrollieren zu können. Ich muß Ihnen sagen: Ich halte das für eine absurde Vorstellung.
Noch eines in diesem Zusammenhang: Bei einer Ausdehnung der Kontrollbefugnis des Datenschutzbeauftragten auf alle Akten wird das Problem einer sinnvollen Abgrenzung zwischen dem Fachurteil der jeweiligen Fachbehörde, die die Akten führt oder die Datenverarbeitung betreibt, und der Kontrollbefugnis des Datenschutzbeauftragten immer gravierender. Das Problem ergibt sich daraus, daß die Behörden nach dem Datenschutzrecht diejenigen Daten sammeln und verarbeiten dürfen, die für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben erforderlich sind. Die Frage, was für die Aufgabenerfüllung erforderlich ist, wird aber in sehr vielen Fällen von den Fachbehörden völlig anders beurteilt als von den Mitarbeitern des Datenschutzbeauftragten. Das führt zu ständigen Kontroversen zwischen den Fachbehörden auf der einen Seite und dem Datenschutzbeauftragten auf der anderen Seite über die Frage, ob gegen das Gesetz verstoßen worden ist.Ich halte es für notwendig, darüber nachzudenken, wie die Fachkompetenz der Fachbehörden und die Kontrollbefugnis des Datenschutzbeauftragten besser als bisher voneinander abgegrenzt werden können. Man könnte z. B. daran denken, den Fachbehörden einen Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage, was erforderlich ist, einzuräumen und die Kontrollbefugnis des Datenschutzbeauftragten darauf zu begrenzen, ob die Fachbehörde ihren Beurteilungsspielraum unzulässig überschritten hat, wie wir es etwa im Verhältnis von Prüfungsbehörden und Verwaltungsgerichten heute schon haben.Eine letzte Bemerkung zum Datenschutz im Medienbereich: Das geltende Recht und in Übereinstimmung damit der Regierungsentwurf stellen die Medien faktisch vom Datenschutz frei. Der SPD-Entwurf weicht davon ab und macht Vorschläge, die meines Erachtens eine eingehende Prüfung verdienen. Mir gehen allerdings, Herr Wartenberg, diese Vorschläge deshalb nicht weit genug, weil sie dem Betroffenen erst dann Rechte verleihen, wenn seine Daten bereits in Presse, Rundfunk oder Fernsehen veröffentlicht sind, wenn also das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Meines Erachtens müssen wir uns überlegen, ob es verfassungsrechtlich möglich ist, vorher anzusetzen. Es gibt ja kaum einen schwereren Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung als die Preisgabe persönlicher Daten in Presse, Rundfunk und Fernsehen. Grundrechtsschutz ist deshalb gerade hier dringend erforderlich.
Auf der anderen Seite muß bei jeder datenschutzrechtlichen Regelung natürlich das für die Demokratie lebenswichtige Recht der Pressefreiheit geachtet werden.Ich könnte mir eine Lösung ähnlich dem, was Sie vorschlagen, vorstellen, die beiden Grundrechtspositionen angemessen Rechnung trägt. Sie könnte etwa so aussehen, daß dem Privatmann gegenüber den Medien auch vor einer Veröffentlichung hinsichtlich der über seine Person gespeicherten Daten ein Auskunftsrecht eingeräumt wird, daß den Daten, deren Richtigkeit von dem Betroffenen bestritten wird, für die Dauer der Speicherung im Archiv eines Mediums eine Gegendarstellung beigefügt werden muß und daß die Daten nicht ohne diese Gegendarstellung veröffentlicht werden dürfen. Schließlich könnte eine Verpflichtung zur Berichtigung nachweisbar unrichtiger Daten in den Archiven der Medien eingeführt werden, ähnlich wie wir ja eine Regelung im Archivgesetz gefunden haben.Meine Damen und Herren, dieser kurze Überblick über einige zentrale Probleme des Datenschutzes zeigt, daß wir in den nächsten Monaten eine ganze Menge Sacharbeit zu leisten haben. Wir werden an diese Arbeit mit dem Ziel herangehen, den Datenschutz zu verbessern, aber auch mit dem Ziel, zu verhindern, daß die Arbeitsfähigkeit und die Funktionsfähigkeit staatlicher Behörden beeinträchtigt werden, und mit dem Ziel, zu verhindern, daß durch falsche, überzogene Forderungen den privaten Betrieben und Unternehmen Belastungen auferlegt werden, die in keinem Verhältnis zum möglichen Erfolg stehen. Wir brauchen Datenschutz, wir brauchen die Konsequenzen aus dem Volkszählungsurteil. Wir sollten sie so ziehen, daß jeder vernünftig damit leben kann.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schmidt-Bott.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD-Fraktion hat zwei Gesetzentwürfe vorgelegt, in denen eine Antwort auf die schon lange notwendigen Fragen nach der Weiterentwicklung der Datenschutzvorschriften zu geben versucht wird und einige Ansätze enthalten sind, beispielsweise die Forderungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem Volkszählungsurteil von 1983 umzusetzen.Zunächst noch einige Bemerkungen zum Stellenwert von Datenschutz, mit dem wir uns hier beschäftigen müssen. Es ist leider schon Tradition, trotz der relativ kurzen Zeitspanne von zehn Jahren, die das Bundesdatenschutzgesetz in Kraft ist, daß die Datenschutzbeauftragten hinter der technischen Entwicklung und der staatlichen Praxis hinterherlaufen wie der Hase hinter dem Igel. Da sind zum einen technische Entwicklungen, die in staatlicher Verantwor-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8985
Frau Schmidt-Botttung, jedoch ohne gesetzliche Grundlage und ohne demokratisches Entscheidungsverfahren eingeführt werden, wie etwa Btx, die Digitalisierung des Telefonnetzes und ISDN, Fernüberwachungsdienste wie TEMEX, die ganz erhebliche Datenschutzprobleme für die Bürgerinnen und Bürger mit sich bringen und geeignet sind, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu unterlaufen. Die Datenschützer melden zwar Bedenken an, die aber regelmäßig kaum zur Kenntnis genommen und besonders von dieser Bundesregierung mit einem Federstrich beiseite gewischt werden. Eine gesellschaftliche Diskussion über die Sinnhaftigkeit neuer Techniken wird gar nicht erst geführt. Ob eine solche neue Technik sozial verträglich ist, bleibt völlig ungeprüft.Es müssen wirkungsvolle Möglichkeiten geschaffen werden, damit die durch den Fortschritt technischer Entwicklungen entstehenden Datenschutzrisiken gemindert werden. Deshalb fordern die GRÜNEN die Prüfung der Sozialverträglichkeit vor Einführung neuer Technologien. Es müssen wirksame demokratische Mechanismen geschaffen werden, um die Technik vor jedem neuen Entwicklungsschub für die Bürger transparent und einer politischen Entscheidung wirklich zugänglich zu machen. Das bedeutet, daß solche technischen Entwicklungen, die Grund- und Freiheitsrechte gefährden, weil sie die einzelnen immer stärker zum verdateten Objekt behördlicher Neugierde oder privater Profitinteressen machen, wirklich verhindert werden können.Wir GRÜNEN sind der Meinung, und da gehen wir grundlegend über den Ansatz der Gesetzentwürfe der SPD hinaus, daß der Schutz der Bürger/-innen nicht erst dort beginnen kann, wo Daten bereits erhoben sind und verarbeitet werden, sondern noch vor deren Erhebung. Die richtige Forderung ist deshalb: Erfassungsschutz. Da, Herr Dr. Blens, sind wir selbstverständlich dafür, wenn schon Datenschutz, dann natürlich Einbeziehung von herkömmlichen Akten. Nur, es macht gleichzeitig — da haben Sie ja auch wieder recht — das Problem deutlich, welchen Apparat man braucht, der in sich dann kaum wirklich die Möglichkeiten hat, ernsthaft zu kontrollieren. Das heißt, Datenschutz kleckert bestenfalls immer hinterher.Um also den Grundsatz, Erfassungsschutz, zu realisieren, sollten wir über ein Datenverweigerungsrecht für alle Bürger/-innen nachdenken. Ein solches würde aber in der Praxis der geltenden Leistungsgesetze unserer Gesellschaft zu erheblichen Problemen führen. Denn gerade in der Sozialpolitik werden ständig neue Gesetze geschaffen, die erhebliche Datenerhebungen bei Bürger/-innen zur Folge haben, soweit diese überhaupt noch Sozialleistungen vom Staat erwarten können. Als Beispiel nenne ich hier die erst kürzlich verabschiedete sogenannte Gesundheitsreform, die uns in ganz erhebliche Datenschutzprobleme gestürzt hat, auch wenn ein bißchen davon wieder zurückgenommen wird. Wir werden uns mit Sicherheit in den nächsten Jahren damit wiederholt beschäftigen müssen. Ich nenne die Sozialhilfegesetzgebung, die das zum Existenzminimum Notwendige nur gewährt, wenn sich die Bürger/-innen mit dem Eindringen der staatlichen Informations- und Kontrollbedürfnisse bis in den privaten Bereich abfinden. Der Geist solcher Gesetze, der anspruchsberechtigte Bürger/-innen zu gläsernen Objekten des Staates degradiert, der mit der sozialen Bedürftigkeit auch gleichzeitig den Verlust des Rechtes auf Privatheit, die weitgehende Außerkraftsetzung von Persönlichkeitsrechten — auf den Sozialämtern sieht es katastrophal aus — durch zum Teil unwürdige Kontrollverfahren bedeutet, macht deutlich, daß Datenschutz in vielen Fällen nur versuchte Reparatur falscher gesellschaftspolitischer Entscheidungen sein kann.Eine ausreichende soziale Grundsicherung, auf die alle Bürger und Bürgerinnen Anspruch hätten, würde die Erhebung, Verarbeitung und Sicherung von Millionen von Daten unnötig machen.
Eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes, der Arbeit und der Einkommen würde die Datenflut der Behörden minimieren. Eine Innenpolitik, die anstelle von Kriminalisierung, Bespitzelung und Überwachung die offene politische Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Opposition suchen würde, würde die Vernichtung der Magnetbänder ermöglichen. APIS und NADIS und weitere wären kein Problem mehr.Einer solchen entscheidenden Veränderung der Datenschutzpolitik, wie wir sie für notwendig erachten, werden jedoch auch die beiden SPD-Gesetzentwürfe nicht gerecht; dies können sie auch nicht, weil sie immanent herangehen. Ich behaupte nicht, daß, wenn wir einen Gesetzentwurf vorlegen würden, dieser alles total besser machen würde, weil diese Systemimmanenz Teil des Problems Datenschutz ist.Trotzdem versuchen wir, an einigen Punkten weiterzudiskutieren und -zudenken. So stellen wir uns z. B. alternativ eine qualitative Fortentwicklung der Datenschutzpolitik vor, die dem Parlament bei der Gesetzgebung eine Datensparsamkeitsprüfung bei jedem Gesetzentwurf auferlegt. Dies wäre ein erster Schritt, um politische Entscheidungen zu verhindern, die weiter zur Verdatung der Bürger und Bürgerinnen beitragen.Ein weiterer Schritt wäre, den abhängig Beschäftigten in den Betrieben die Mitbestimmungs- und Verweigerungsrechte zu garantieren, die eine gesellschaftliche Diskussion über die Probleme dieser Technik erst einmal eröffnen würden.Die Gesetzentwürfe der SPD entsprechen diesen grundsätzlichen Anforderungen nicht. Dennoch stimmen wir dem SPD-Entwurf für die Wahl des Bundesbeauftragten für den Datenschutz insoweit zu, als er die Wahl durch zwei Drittel der Mitglieder des Deutschen Bundestages und die Ausstattung mit einem eigenen Etat im Bundeshaushalt vorsieht. Das entspricht auch unserem Entwurf von 1987.Was jedoch die Stärkung der Stellung des Bundesbeauftragten anbelangt, so muß bezweifelt werden, ob die Angleichung an die Stellung des Wehrbeauftragten eine ausreichende Stärkung darstellen kann. Wie der Kollege Wartenberg bei der Beratung unseres Entwurfs im Mai 1988 richtig betont hat, kommt es auf das Zusammenspiel der rechtlichen Möglichkeiten an, die ein solches Amt hat. Da erscheint uns die An-
Metadaten/Kopzeile:
8986 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Frau Schmidt-Bottbindung als Hilfsbehörde des Deutschen Bundestages auch aus der Erfahrung mit Verwaltungspraxis weitaus weniger wirkungsvoll als die von uns vorgeschlagene Einrichtung als unabhängige oberste Bundesbehörde analog dem Bundesrechnungshof. Dies würde nicht nur die Stellung gegenüber der Verwaltung erheblich stärken und die Unabhändigkeit besser sichern, sondern dies würde die Behörde auch etwas mehr aus den parteipolitischen Abhängigkeiten lösen, die sich daraus ergeben, daß die Regierungsmehrheit natürlich gleichbedeutend mit Parlamentsmehrheit ist.
Verfassungsrechtlich kann eine Gleichstellung mit dem Wehrbeauftragten und seinen Rechten schon deshalb durch das von der SPD vorgeschlagene Verfahren nicht gewährleistet werden, weil dem Wehrbeauftragten wie dem Verteidungsausschuß besondere Kontrollrechte gegenüber dem Verteidigungsminister verbürgt sind, die es für den Innenausschuß nicht gibt.Völlig im Widerspruch zur Absicht, die Wahl durch das Parlament durchzuführen, steht es auch, das Vorschlagsrecht der Regierung zuzubilligen. Hier geht die SPD, wie wir finden, wieder einen Schritt zurück. Wir meinen, konsequenterweise sollten die Fraktionen ein Vorschlagsrecht haben, wie in unserem Entwurf.Weil es die einzige Möglichkeit für Bürger/-innen ist zu erfahren, welche Kandidaten/-innen mit welcher Befähigung von den Parteien vorgeschlagen werden, haben wir ein öffentliches Anhörungsverfahren im Innenausschuß des Bundestages vor der Wahl vorgesehen.Der SPD-Entwurf für ein Informationsschutzgesetz weckt unserer Meinung nach größere Erwartungen, als er erfüllen kann. Zahlreiche Ausnahmeregelungen weichen die zunächst fortschrittlich klingenden Datenschutzmaßnahmen und Betroffenenrechte derart auf, daß von einem solchen Gesetz keine einschneidenden Änderungen der Datenverarbeitungspraxis zu erwarten wären. Die Verarbeitung personenbezogener Daten wird nicht hinreichend geregelt, und das informationelle Selbstbestimmungsrecht wird vielfach verletzt zugunsten von Amtshilfe, Aufgabenerfüllung der Behörden, Rechtsvorschriften oder sonstiger übergeordneter Interessen.Da ich nervige Erfahrungen mit dem Überziehen der Redezeit habe, nenne ich jetzt nur noch kurz die entsprechenden Paragraphen. Ich kann das leider nicht noch weiter begründen.
— Mich erwischt es aber auffallend häufig, habe ich den Eindruck. — Das gilt einmal für § 4, zum anderen für § 24. Diese Vorschrift ist mir ganz wichtig. § 24 schränkt die Prüfungsbefugnis bei Sicherheitsbehörden nämlich dahin gehend ein, daß in Einzelfällen solche Daten nicht offenbart werden müssen, wenn eine Sicherheitsbehörde Vertraulichkeit zugesichert hat. Da frage ich doch die SPD: Soll das ein Schlupfloch für V-Leute, Under-cover-Agenten oder Verfassungsschutzmitarbeiter sein? Ich denke, das müßten Sie schon noch einmal prüfen. Die Auseinandersetzung darüber wird ja im Ausschuß noch stattfinden.
Ich fasse zusammen: Wir sind mit den SPD-Gesetzentwürfen nicht zufrieden. Aber — das will ich nicht verhehlen — wir diskutieren schon lieber über diese Entwürfe als über das, was uns an Vorlagen aus dem Hause Zimmermann bereits bekannt ist und noch offiziell auf den Tisch gelegt werden wird.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Diskussion um den Datenschutz ist so schwierig, weil das Ganze so kompliziert ist. Das fängt schon mit den Begriffen an. Die meisten Bürger können sich unverändert wenig unter Datenschutz vorstellen. Wenn ich höre, daß das eine linke Teufelei sei, muß ich sagen: Das geht bis in die höchsten Kreise hinein.Datenschutz heißt ja nichts anderes als Privatheit, privacy, Schutz der Privatsphäre. Ebensowenig können die meisten etwas mit diesem schönen Wort informationelles Selbstbestimmungsrecht — das muß man richtig auswendig lernen — anfangen. Sie halten das für eine modernistische Teufelei.Als Herzog Alba in den spanischen Erbfolgekriegen den Niederländern verbot, sich mit mehr als drei zusammenzurotten, wollte er auch verhindern, daß sie das in geschlossenen Räumen tun. Er hat deswegen angeordnet, daß sie keine Gardinen an den Fenstern haben dürfen. Das ist der Grund, warum man heute noch in Holland in die Fenster gucken kann. Wir haben eine Gardine vor dem Fenster, das ist das informationelle Selbstbestimmungsrecht, nämlich die Vorrichtung, die andere daran hindert, von unserem Privatleben mehr zu erfahren, als wir selber gerne möchten. So einfach ist das. Nur, die Sprache der modernen Technik drückt es anders aus.
— Ja, im Prinzip ganz einfach.Wieso das links ist, habe ich wirklich nie begriffen. Dabei ist übrigens die Debatte zwischen Herrn Stoiber und Herrn Schnoor, Herr Wartenberg, die Sie darstellen, deswegen so witzig, weil der Gesetzentwurf noch gar nicht auf dem Tisch lag, sondern nur eine Presseerklärung über einen Gesetzentwurf.Im Grunde genommen ist das ja ein außerordentlich konservativer Gedanke, nämlich die Grenzen staatlichen Wissens neu zu vermessen, die Wirksamkeit des Staates abzugrenzen gegen die Privatheit, den Totalitarismus eines Staates zu brechen. Das ist ein ganz konservativer und im Grunde genommen vernünftiger Gedanke.
— Natürlich. — Es kommt darauf an, diesen Kern desDatenschutzrechtes — Schutz der Privatheit — in das
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8987
Dr. Hirschöffentliche Bewußtsein zu heben und natürlich in der Gesetzgebung zu verwirklichen.Die Gesetzentwürfe der SPD zum Datenschutz berühren eine offene Wunde nicht nur der Koalition, sondern unseres Rechtssystems überhaupt, weil das grundlegende Volkszählungsurteil von 1983 gesetzgeberisch in der Tat nicht bewältigt worden ist und weil der Übergangsbonus, der für so grundlegende und umfangreiche Arbeiten notwendig ist, nach Meinung selbst wohlwollender Kommentatoren am Ende dieser Legislaturperiode ausläuft. Die Aufgaben gehen über das reine Datenschutzrecht weit hinaus. Offen sind die Datenschutzgesetzgebung im Bund und in den meisten Bundesländern, die Novellierung des Polizeirechts im Bund und in fast allen Bundesländern— natürlich auch in den sozialdemokratisch regierten —, ein neues Bundeskriminalamtsgesetz, ein Gesetz über die Kontrolle der Nachrichtendienste, zahlreiche Einzelregelungen bis hin zur Regelung meinetwegen des Personalaktenrechts, die Neufassung der Strafprozeßordnung, Neuregelungen im privaten Bereich — also eine Regelung der Arbeitnehmerdaten —, eine Überprüfung des Gesetzes über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen, weil Datenverarbeitungsklauseln in zunehmendem Maße in AGBs erscheinen und häufig sehr einseitig, wie ich finde, formuliert sind.Es ist für eine Opposition relativ leicht, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Als unser jetziger Koalitionspartner in der Opposition war, hat er uns ein Datenschutzgesetz vorgelegt, das weit über das hinausging, was wir damals für möglich hielten. Der Abgeordnete Gerster, der leider nicht mehr hier sein kann, hat uns damals damit ziemlich zugesetzt. Wir werden es uns nicht nehmen lassen, im Laufe der kommenden Beratungen auch auf diesen alten Gesetzentwurf zurückzukommen, da die Datenschutzprobleme nicht leichter, sondern in der Tat komplizierter geworden sind.
— Er weiß das. Ich habe ihm das gesagt. Er weiß natürlich, daß wir diesen alten Entwurf da haben.
Das Vordringen der Personalcomputer, die Errichtung großer Verbundsysteme, die Umstellung vieler Verwaltungen auf die EDV haben zu tiefgreifenden Veränderungen geführt. Die Arbeit kann leichter und perfekter erledigt werden. Es ist völlig richtig, daß die Widerstände gegen eine moderne Datenschutzgesetzgebung nicht in erster Linie in der Politik liegen; sondern sie liegen in den Verwaltungen, die um keinen Preis auf Möglichkeiten verzichten wollen, welche die Datenverarbeitung zur Perfektionierung der Verwaltung bietet. Sie wollen nicht auf die Möglichkeit verzichten, Vorgänge in der Massenverwaltung schematisiert zu erledigen. Sie wollen nicht darauf verzichten, irgendwo vorhandenes, irgendwann einmal erlangtes Wissen lückenlos anzuwenden.In diesem Punkt gleichen sich die Interessen der großen Verwaltungen und der Organisationen im öffentlichen wie auch im privaten Bereich. Die Strukturen sind gleich. Es besteht der Wunsch, vorhandenesWissen präsent zu halten, zu verwenden, perfektionistisch wahrnehmen zu können. Alles das ist im Staat genauso wie in großen Organisationen, ob das Gewerkschaften sind, Kirchen, Wirtschaftsverwaltungen,
— Bundestag. Es ist überall dasselbe.Dabei wird zweierlei übersehen. Erstens. Es geht nicht darum, den Staat oder irgendeine Organisation künstlich dumm zu machen. Es geht darum, sie daran zu hindern, allwissend zu werden. Der perfekte Staat, in dem lückenlos ein Rädchen ins andere greift, gleicht einer unerbittlichen, blank geputzten Maschine. Perfektionismus ist unmenschlich.
Menschliche Unvollkommenheit ist ein Element der Freiheit. Wenn wir die Totalität des Wissens brechen wollen, ist es eine Art Gewaltenteilung neuer Art, die notwendig ist.Zweitens. Es wird übersehen, daß die Forderung nach Durchsichtigkeit, Transparenz staatlichen Handelns mit der Kompliziertheit der Lebensverhältnisse wachsen muß, weil der Mensch fürchten muß, zu einem verwalteten Objekt des Staates zu werden, einem nicht mehr erkennbaren Kontrollsystem unterworfen zu sein, wie das vor vielen Jahren Kafka in dem Buch „Der Prozeß" als eine Vision beschrieben hat. Ohne eine überzeugende Datenschutzgesetzgebung wird das Mißtrauen der Menschen gegen die Verwaltungen wachsen. Dieses Mißtrauen wird auch viel leichter mobilisiert werden können.Wer die Anwendung moderner Technik in den Verwaltungen des Staates und in den privaten Organisationen auf Dauer ermöglichen möchte, muß die Gewißheit schaffen, daß die wirklich außerordentlichen Möglichkeiten dieser Technik nicht mißbraucht werden.Nun treten wir in diesem Halbjahr, von allen Seiten angefeuert, in die konkrete Datenschutzgesetzgebung ein. Alle Fraktionen haben ihre Vorstellungen auf den Tisch gelegt. Der entsprechende Gesetzentwurf der Bundesregierung befindet sich zur Zeit im Bundesrat. Die FDP hat dazu auch im Kabinett klargestellt, welche Änderungen dieses Entwurfs sie für notwendig und welche Änderungen sie für wünschenswert hält. Wir werden dabei auch unter Berücksichtigung der neueren Gesetzgebung der Länder in diesem Hause darüber beraten müssen.Ein Teil davon ist in der Tat das mehrfach behandelte Problem, ob sich der Schutz der Privatheit nur auf die elektronische Datenverarbeitung oder auch auf Akten beziehen soll. Man muß ja wohl zugeben, daß es für die Privatheit ziemlich gleichgültig ist, ob sie in Akten oder in der EDV verletzt wird, wenn ich das als einen Grundwert anerkenne.
— Da sehen Sie, wie kompliziert das ist. Das sage ich ja die ganze Zeit.
Metadaten/Kopzeile:
8988 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Dr. HirschMan wird zweitens zugeben müssen, daß bei dem Vordringen der Personalcomputer die Schnittstelle — was ist, wie es in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung heißt, Nutzung unmittelbar aus der Datei, und wo hört die Unmittelbarkeit auf — kaum überzeugend, für den Bürger schon gar nicht überzeugend, zu definieren ist. Hört das schon auf, wenn ich mir den Bildschirminhalt ausdrucken lasse und dann ein Stück Papier habe? Ist das unmittelbar aus der Datei? Ist das dann dem Schutz des Gesetzes sozusagen entkommen? Das kann nicht richtig sein.Ich möchte unter Berücksichtigung der Tatsache, daß wir diese Gesetze in Kürze in voller Schönheit und Breite hier noch einmal behandeln werden, jetzt keine Einzelbetrachtung der beiden Gesetzentwürfe vornehmen. Manches deckt sich mit unseren Vorstellungen: mehr Transparenz, Prüfkompetenz des Datenschutzbeauftragten, die gegenwärtig unbefriedigende Schadenersatzregelung — die Beweislastverteilung ist völlig unbefriedigend —.Sie haben ein großes Problem angeschnitten, nämlich die Frage: Wie sieht das in der privaten Wirtschaft aus? Wir wollen die private Wirtschaft nicht mit einer unzumutbaren Bürokratie überziehen; weiß Gott nicht. Aber man muß auf der anderen Seite auch akzeptieren, daß die Wirtschaft in manchen Datenschutzregelungen hinter dem zurückhängt, was wir im öffentlichen Bereich selbstverständlich verlangen, auch erwarten, obwohl natürlich auch private Macht in erheblichem Umfang ausgeübt wird, beispielsweise ganz selbstverständlich in großen Personalverwaltungen. Die großen Datenverarbeitungsverbundsysteme sind natürlich auch in der privaten Wirtschaft vorhanden. Denken Sie an die Systeme der Versicherungswirtschaft, an die Systeme der Kreditwirtschaft, an Bankensysteme. Bei all diesen Dateien wird durch die Übertragung von Wissen Einfluß ausgeübt.Da sind wir schon der Meinung, daß weder die Regelungen noch die Berichterstattungen darüber befriedigend sind. Ich finde sehr gut, daß einzelne Verwaltungen — begonnen hat, glaube ich, SchleswigHolstein — Berichte über die Prüftätigkeit im privaten Bereich veröffentlichen, so daß man einen Einblick hat, welche Probleme sich dort stellen. Ich wünschte, daß noch mehr Länder — es wäre schön, wenn auch Nordrhein-Westfalen sich dazu entschließen könnte — sich solchen Berichten anschließen.Wir müssen also den privaten Bereich überprüfen. Aber ich gebe Ihnen völlig recht: Es ist nicht unsere Absicht und nicht Sinn des Unternehmens, durch zusätzliche Bürokratisierungen etwa Wettbewerbsveränderungen gegenüber anderen Ländern herbeizuführen.Zur Beteiligung des Bundestags an der Bestellung des Datenschutzbeauftragten: Da greifen Sie einen Gedanken auf, der in allen Bundesländern, ausgenommen Niedersachsen, schon verwirklicht ist. Wir sind auch der Meinung — wir haben das verschiedentlich zum Ausdruck gebracht —, daß eine Beteiligung des Bundestages bei der Bestellung des Datenschutzbeauftragten notwendig ist. Ich möchte bei dieser Gelegenheit aber ausdrücklich betonen, daß sich die bisherigen personellen Entscheidungen der Bundesregierungen bei der Auswahl der Datenschutzbeauftragten als gut erwiesen haben. Es handelt sich nämlich um Persönlichkeiten, die sich, ohne nach rechts oder links zu sehen, ihrer Aufgabe entschlossen gewidmet haben.Einen Systembruch sehe ich bei dem Gesetzentwurf der SPD in der Aufnahme spezieller Regelungen für Arbeitnehmerdaten. Das Datenschutzgesetz ist eine Auffangregelung, die überall da zum Zuge kommen soll, wo es besondere gesetzliche Vorkehrungen im Datenschutz nicht gibt. Die Regelungen für Arbeitnehmerdaten, die notwendig sind, gehören in solche spezielle Regelungen, sei es das Betriebsverfassungsgesetz, sei es eine andere Spezialmaterie.Übrigens: Aus der Tatsache, daß das Datenschutzgesetz ein Auffanggesetz ist, ergibt sich die zwingende Notwendigkeit, auch den Datenverbund von Verfassungsschutz und Polizei zu regeln, weil die allgemeinen Klauseln der Zulässigkeit von Übermittlungen von einer Behörde an die andere, wie sie im Datenschutzgesetz niedergelegt sind, für Bereiche wie Polizei und Verfassungsschutz so natürlich nicht gelten können. Zwischen beidem besteht also ein Zusammenhang.Bei aller notwendigen Kritik an einzelnen Bestimmungen dieser Gesetzentwürfe stehe ich nicht an, zu sagen, daß diese Gesetzentwürfe eine Bereicherung der Diskussion sind und daß wir diese Vorschläge zusammen mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung beraten, prüfen und würdigen werden. Dementsprechend stimmen wir der Überweisung, wie vorgeschlagen, an die Ausschüsse zu.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Waffenschmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD hat hier zwei inhaltlich miteinander verzahnte Gesetzentwürfe vorgelegt, deren Inhalt wichtige Aufgaben für den Datenschutz anspricht, aber doch weit über das hinausgeht — das will ich gleich zu Beginn sagen — , was das Bundesverfassungsgericht in jenem oft zitierten Volkszählungsurteil als für den Umgang mit personenbezogenen Daten erforderlich ansieht.Ich will hier auch gleich folgendes sagen, wobei ich an einiges anknüpfe, was Kollege Blens und Kollege Hirsch gesagt haben: Gewiß gibt es im Detail einige Vorschriften, die konsensfähig sein könnten. Auf meinen Widerstand — das will ich aber genauso deutlich sagen — treffen aber einige extreme Tendenzen dieser Entwürfe.
— Einige doch sehr weitgehende Tendenzen — sagen wir es einmal so — dieser Entwürfe. Ich will es einmal zugespitzt so ausdrücken. Würden sie Gesetz, würde das Informationsschutzgesetz der SPD wirklich Rechtskraft erhalten, dann hätten wir in weiten Bereichen unserer Gesellschaft demnächst eine schweigende Gesellschaft. Ich fände dies für eine freiheitlich-demokratische Entwicklung nicht gut.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8989
Parl. Staatssekretär Dr. WaffenschmidtSie von der SPD — das ist hier mit Recht angesprochen — wollen auch im nichtöffentlichen Bereich das Erheben von Daten so stark einschränken — ich betone: im nichtöffentlichen Bereich — , daß man fragen muß: Wo bleibt die Freiheit der Bürger? Sie verbinden den Entwurf des Informationsschutzgesetzes mit dem Anspruch, den Datenschutz den raschen technischen Entwicklungen anzupassen und die Rechtsstellung des Bürgers entscheidend zu verbessern. Diesem Anspruch wird der Entwurf aber leider in weiten Bereichen nicht gerecht. Eher ist das Gegenteil der Fall. Ich will das erläutern. Es wird der Eindruck erweckt, als sei es z. B. eine bahnbrechende Errungenschaft, daß mit diesem Entwurf der SPD die Verwendung personenbezogener Informationen in Akten geregelt wird. Ich darf darauf hinweisen, daß es Regelungen für diesen Bereich längst gibt. Ich verweise auf das Verwaltungsverfahrensgesetz, das Sozialgesetzbuch und die Prozeßordnung, und ich sage ausdrücklich: Es ist gut, daß es sie gibt.Die Bundesregierung selbst hat bereits im vergangenen Jahr ein Artikelgesetz beschlossen, durch das der Datenschutz für Dateien und Akten in dem notwendigen und gebotenen Umfang verbessert werden soll. Dieses Vorhaben ist schon — daran will ich ausdrücklich noch einmal erinnern — zu Beginn der Legislaturperiode in der Koalition ausdrücklich vereinbart worden. Die SPD will in ihrem Entwurf nun die Erhebung von Daten und ihre Verwendung in Akten viel weitergehend regeln. Das Regelungsziel könnte man so lange und so weit als geboten ansehen, wie es sich um den Bereich der öffentlichen Verwaltungen handelt — da kann sicherlich mancher Konsens erzielt werden — , aber die von der SPD auch für den privaten Bereich gewählte Lösung führt ja im Grunde — das wird deutlich, wenn man sich das ansieht — zu einer von uns nicht gewollten globalen Datenverkehrsordnung, deren Einhaltung von externen Kontrolleinrichtungen in vollem Umfang überwacht werden soll; eine neue Bürokratie müßte entstehen.Kontrolleinrichtungen für die Bundesverwaltung, meine Damen und Herren — das muß hier herausgestrichen werden — ist ja der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, der sich — das wurde hier eben mit Recht erwähnt — in der bisherigen Tätigkeit bewährt hat. Dies gilt auch für die Art und Weise, wie die Bestellung erfolgte. Die Persönlichkeiten, die das Amt des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und seine Aufgaben wahrgenommen haben, haben dies doch in einer guten und hier im Hause zu Recht immer wieder als hervorragend angesprochenen Art und Weise getan. Ich will diese Debatte ausdrücklich zum Anlaß nehmen, den Bundesbeauftragten für den Datenschutz noch einmal für ihre Arbeit zu danken, denn sie haben durch ihre Arbeit bewußt gemacht, daß wir Datenschutz nicht nur verbal betreiben. Ich finde, wir hatten Persönlichkeiten, wenn ich gerade an den jetzt amtierenden Datenschutzbeauftragten und seinen Vorgänger denke, die die Aufgaben in ausgezeichneter Weise wahrgenommen haben.Bisher kontrolliert der Datenschutzbeauftragte die Einhaltung datenrechtlicher Vorschriften bei der dateimäßigen Datenverarbeitung. Nach den Vorstellungen der Bundesregierung soll diese Kontrollbefugnis — das sagen wir in der Gesetzesvorlage der Regierung eindeutig — ausgedehnt werden, und zwar auf eine Anlaßkontrolle. Der SPD-Entwurf läßt dagegen jedes Augenmaß insoweit vermissen, als Kontrollgegenstand nicht mehr die Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorschriften ist, sondern — hier liegt das, was ich eben als viel zu weitgehend angesprochen habe — die Beachtung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung schlechthin. Damit würde der Bundesbeauftragte eine Position fast wie das Bundesverfassungsgericht erhalten, allerdings noch mit zusätzlichen Ermittlungskompetenzen. Ich sage, dies wäre doch sicher zu weitgehend.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?
Herr Staatssekretär Waffenschmidt, wäre es nicht eher Ihres Amtes, die Vorstellungen der Bundesregierung zu diesem Themenkomplex zu präsentieren, anstatt sich wertend mit Initiativen der SPD auseinanderzusetzen?
Herr Kollege Penner, ich habe eben mit Freude festgestellt, daß Sie sich mit Ihren Nachbarn unterhalten haben. Dadurch ist Ihnen entgangen, daß ich die Position Ihres Entwurfs und die Position unseres Regierungsentwurfs hier immer vergleichend dargelegt habe. Das verstehe ich unter echtem Abwägen zweier Entwürfe. Ich kann es für Sie noch einmal wiederholen. Zum Beispiel habe ich bei der Anlaßkontrolle gesagt: Nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung soll der Bundesbeauftragte tätig werden; Sie gehen viel weiter. Ich finde, das ist eine gute parlamentarische Beratung. Ich muß Ihnen allerdings sagen, dies scheint Ihnen ein bißchen fremd zu sein, denn Ihr Sprecher ging nur auf das ein, was Sie alles vorschlagen, und hat die weitergehenden Vorschläge, die von der Bundesregierung zum Datenschutz eingebracht wurden, zu wenig gewürdigt und hat sich auch zu wenig mit dem befaßt, was hier in Fortführung guter Erfahrungen ausgeführt worden ist.Meine Damen und Herren, ich sprach gerade über den Bundesbeauftragten für den Datenschutz. In diesem Zusammenhang noch dies: Es ist sicherlich wichtig, daß er seine Aufgaben aus gegebenem Anlaß, wie wir das in unserem Entwurf vorsehen, wahrnehmen kann, aber es wäre sicherlich zu weitgehend, ihm eine Position zu geben, die letztlich dazu führen müßte, daß eine riesige neue Bürokratie entsteht, um die Aufgaben wahrnehmen zu können.Die von der SPD vorgesehene Kompetenzausweitung stößt auch auf viele, viele Bedenken in der Praxis. Wenn nämlich der Bundesbeauftragte für den Datenschutz künftig Millionen von Akten der Bundesbehörden überprüfen soll, auch ohne jeweils einen konkreten Anlaß zu haben, dann müßte ja ein riesenhaftes Kontrollverfahren gegenüber der öffentlichen Verwaltung entwickelt werden. Die Folge wäre wahrscheinlich, daß man sich gar nicht mehr auf die ganz wichtigen Fälle konzentrieren könnte. Es wäre — ich sage das einmal so ganz offen — auch einmal die Frage zu stellen: Wie werden dies eigentlich die Ein-
Metadaten/Kopzeile:
8990 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidtrichtungen unseres freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaats, die ja ohnehin berufen sind, die öffentliche Verwaltung zu kontrollieren, bewerten? Ich will in diesem Zusammenhang einmal daran erinnern, daß die öffentliche Verwaltung auch unter der Kontrolle des Parlaments und unter der Kontrolle der Gerichte steht. Dies sollte dabei nicht außer acht bleiben.Demgegenüber ist die von der Bundesregierung vorgesehene Lösung der Problemlage angemessen. Kollege Penner, der Bereich der Dateien, der auch vom Bundesverfassungsgericht als besonders gefahrbehaftet angesehen wird, wird im Bundesdatenschutzgesetz der Bundesregierung den nötigen Restriktionen unterworfen und unterliegt unbeschränkter Kontrolle. Das ist sachgerecht; das hat auch das Bundesverfassungsgericht angesprochen. Bei Akten soll die Kontrollbefugnis in begründeten Einzelfällen eingreifen. Aber im übrigen kann es und darf es bei der Kontrolle durch die Gerichte verbleiben.Nun noch zu den Regelungen, die Sie besonders für den privaten Bereich vorsehen. Hier präsentiert die SPD unter dem Deckmantel angeblicher Bürgerfreundlichkeit in Wahrheit ein Gesetz zu Lasten der Bürger. Der Kollege Blens hat schon darauf hingewiesen, daß hier geradezu eine Lawine von neuen Kontrollmechanismen und auch von Kosten auf die deutsche Wirtschaft zukäme. Ich stimme seiner Analyse und den Folgerungen ausdrücklich zu. Ich freue mich, daß der Kollege Hirsch gesagt hat, für die FDP wäre es sicherlich kein Weg, diese neue große Kontrollbürokratie zu entwickeln.Meine Damen und Herren, die nähere Ausgestaltung dessen, was die SPD hier heute vorschlägt, zeigt, daß nicht nur geschäftliche Zwecke, sondern sogar auch ideelle Zwecke zur Anwendbarkeit des Gesetzes führen.Ebenso bedenklich ist das absolute Verbot jeglicher Zweckänderungen für die Verwendung übermittelter Daten durch den Empfänger. Das kann nicht auf das sogenannte Volkszählungsurteil gestützt werden. Dieses Urteil hat nämlich die Zweckbindung im Zusammenhang mit der Datenerhebung durch den Staat angesprochen. Dies ist auch konsequent; denn Behörden haben bestimmte gesetzlich fixierte Aufgaben, zu deren Erfüllung sie Daten erheben. Diese Aufgaben umreißen die Zwecke, zu denen die Daten benötigt werden.Aber im privaten Bereich kann man die Erwägungen des Gerichts, die nun wirklich in allen Einzelheiten für den Datengang bei den Behörden bestimmt sind, doch nicht einfach undifferenziert auf den Umgang der Bürger untereinander übertragen.Es kann Bereiche gewerblicher Tätigkeiten geben — das will ich hier ausdrücklich ansprechen — , in denen zusätzliche staatliche Reglementierungen angebracht sind. Genannt werden in diesem Zusammenhang — mit Recht, will ich hier sagen — Auskunfteien und Detekteien. Das berechtigt aber nicht zu solchen gegenüber jedem einzelnen ohne Unterschied wirkenden einschneidenden Regelungen.Der Entwurf der SPD — Herr Kollege Penner, ihn haben Sie hier heute ja zur Debatte gestellt — enthält auch Regelungen zum Arbeitnehmerdatenschutz.Dazu hat die Bundesregierung wiederholt erklärt, daß sie diesen Bereich für zu wichtig hält, als daß er in einer Vorschrift eines Querschnittgesetzes geregelt werden kann. Ich wiederhole hier ausdrücklich, daß die Bundesregierung dazu ein eigenes Gesetz vorlegen wird.
Der Inhalt der vorgesehenen Vorschrift bestätigt diese Einschätzung.Ich darf hier ganz deutlich sagen: Es sollte gerade auch für Sie mit Ihrer Tradition in der Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen doch wichtig sein, eine solche bedeutsame Frage nicht im Rahmen einer Vorschrift in einem Querschnittgesetz zu regeln, sondern mit uns dafür zu streiten, daß hier alsbald ein eigenes Gesetz vorgelegt wird.
— Das wird so bald wie möglich geschehen; darauf können Sie sich verlassen.Ich habe die Probleme hinsichtlich der Kontrolle für den öffentlichen Bereich dargestellt. Im privaten Bereich würden sie sich nach dem SPD-Entwurf noch potenzieren.Zusammengefaßt: Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf klargemacht, daß der Datenschutz fortentwickelt werden soll. Niemand — insofern war die Kritik des SPD-Sprechers hier unangebracht — ist der Meinung, alles könne so bleiben wie es ist, alles sei topfit und uneingeschränkt gut. Vielmehr sagen wir: Es soll weiterentwickelt werden. Es müssen Menschenwürde, persönliche Sphäre und Freiheit der Bürger vor innerer und äußerer Gewalt geschützt werden. Die freie Entfaltung im zwischenmenschlichen und wirtschaftlichen Bereich muß aber nach wie vor soweit wie möglich gewährleistet sein.Zur Erhaltung dessen, was Wohlstand und auch sozialen Standard unserer Gesellschaft wie auch technischen Fortschritt ausmacht, muß das Notwendige geschehen, aber auch nur das. Es gilt, die negativen Auswirkungen moderner Technik zu vermeiden, die positiven aber auch zu nutzen. Es ist unsere Aufgabe, bei grundsätzlicher Offenheit für die moderne Technologie dort einzugreifen, wo Bürgerrechte gefährdet sind. Ich glaube, es ist ganz entscheidend, daß wir uns dort als Hüter der Bürgerrechte verstehen, wo sie in entscheidenden Kernbereichen als gefährdet angesehen werden können.Diesen Zielsetzungen trägt das Rechnung, was als Novellierungspaket der Bundesregierung jetzt im Bundesrat vorgelegt worden ist.
Wir haben uns innerhalb der Bundesregierung auch unter Einschaltung vieler Fachleute viel Mühe gemacht, ein ausgewogenes Novellierungspaket vorzulegen.Der Entwurf der SPD wird der Notwendigkeit, die verschiedenen Ziele der Politik miteinander zu koordinieren, in weiten Bereichen nicht gerecht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8991
Parl. Staatssekretär Dr. WaffenschmidtDeshalb muß ich zusammenfassend sagen: Es mag sein, daß wir in einzelnen Punkten einen Konsens erzielen können. In vielen Bereichen, die Gegenstand Ihres Vorschlags sind, kann dieser Konsens nach unserer Auffassung nicht erzielt werden. Was aber geschehen soll, ist eine konsequente und für den Bürger gute Fortentwicklung unseres Datenschutzrechts in der Bundesrepublik Deutschland.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Emmerlich.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Informationszeitalter mit elektronischer Datenerfassung, Datenverarbeitung und Datenweitergabe ist der Schutz persönlicher Daten unerläßlich, damit der gläserne Mensch nicht Wirklichkeit wird, damit die Freiheit des einzelnen und seine Würde gewahrt bleiben.Zu den großen und bleibenden Errungenschaften, die unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung geschaffen worden sind, gehört die Datenschutzgesetzgebung. Wir schulden denen Dank, die diese Pionierleistung vollbracht haben. Ich möchte insbesondere an unseren früheren Kollegen, den SPD-Abgeordneten Frank Haenschke, erinnern. Er war ein hervorragender und auch erfolgreicher Kämpfer für das Bundesdatenschutzgesetz.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, von entscheidender Bedeutung für einen wirksamen Datenschutz war die Einsetzung von Datenschutzbeauftragten im Bund und in den Bundesländern. Die Datenschutzbeauftragten haben durch ihre Kontrolltätigkeit wesentlich dazu beigetragen, daß die Idee des Datenschutzes Fuß gefaßt und an Boden gewonnen hat. Nicht zuletzt durch die Verfolgung von Einzelanliegen, vor allem aber durch ihre von den Medien aufgenommenen jährlichen Tätigkeitsberichte haben die Datenschutzbeauftragten daran mitgewirkt, daß die Bürger mehr und mehr von der Notwendigkeit des Schutzes ihrer persönlichen Daten durch den Staat überzeugt sind.Gleichwohl, ein Zustand ausreichenden Datenschutzes ist keineswegs erreicht. Im Gegenteil, es ist zu befürchten, daß es auf breiter Front zu einer verstärkten Erfassung persönlicher Daten der Bürger kommen wird, zum einen weil die Zahl der Datenerfassungs- und Datenverarbeitungsanlagen nach wie vor steigt und auch ihre Leistungsfähigkeit ständig erhöht wird, und zum anderen, weil maßgebende Kräfte in CDU und CSU zum Angriff auf den Datenschutz angetreten sind und zielbewußt die Gegenreform betreiben. Sie wollen, daß die in der elektronischen Datenverarbeitung liegenden Möglichkeiten, das Volk unter Kontrolle zu halten, wahrgenommen werden.Die Rechtfertigung der Gegenreform, Datenschutz dürfe nicht zu einer Gefährdung der inneren Sicherheit werden, auch nicht der wirtschaftlichen Effektivität, ist — so wie die Dinge bei uns liegen — nur theoretisch von Belang. Unsere Aufgabe besteht nach wie vor darin, den Wildwuchs, der sich bei der Datenerhebung, Datenverarbeitung und Datennutzung entwikkelt hat, zurückzuschneiden und dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung die ihm auch von Verfassungs wegen gebührende Beachtung zu verschaffen.
Zu diesem Zweck muß das Datenschutzgesetz, ausgehend von den Grundsätzen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sowie unter Berücksichtigung der technologischen Entwicklung und der Erfahrungen seit seiner Verabschiedung, weiterentwikkelt werden.Dabei räume ich Ihnen, Herr Kollege Blens, gern ein, daß die Regelung — die wir aus dem geltenden Gesetz übernommen haben — nach der bei fünf Arbeitnehmern und bei Vorhandensein einer automatischen Datenverarbeitung ein Datenschutzbeauftragter eingesetzt werden muß, angesichts der neuen billigen Datenverarbeitungsanlagen nicht mehr zeitgemäß ist. Das, was ich hier zur Berücksichtigung der technologischen Entwicklung ausgeführt habe, gilt auch insoweit. Was ich zu Ihrer Anregung gesagt habe, gilt für alle Kritik, die von Ihrer Seite an unserem Entwurf vorgetragen worden ist. Wir werden diese Kritik unvoreingenommen prüfen und uns bei ihrer Bewertung danach richten: „Was ist die bessere Lösung?" und nicht danach: „Wir wollen recht behalten" .Bei der Novellierung des Datenschutzgesetzes ist es besonders notwendig, die Stellung der Datenschutzbeauftragten zu festigen. Sie müssen ihrer Aufgabe der Datenschutzkontrolle gerecht werden können. Nur dann können die Parlamente Regierung und Verwaltung auf dem Gebiete des Datenschutzes kontrollieren. Nur dann erhält der Deutsche Bundestag die Informationen, die erforderlich sind, um Umfang und Qualität der Datenerfassung und der Datenverarbeitung zu erkennen und daraus die notwendigen politischen Schlußfolgerungen zu ziehen.Starke Datenschutzbeauftragte braucht vor allem der Bürger, damit ein beliebiger Zugriff der Mächtigen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft auf seine Daten verhindert werden kann.
Herr Waffenschmidt und Herr Blens haben davor gewarnt, den Datenschutz auch auf den privaten Bereich — sie meinen die Wirtschaft — zu erstrecken. Ich sage, das Recht auf den Schutz persönlicher Daten, Herr Staatssekretär, ist ein Grundrecht. Dieses Grundrecht macht vor der Wirtschaft nicht halt, sondern muß auch in der Wirtschaft durchgesetzt werden.
Die alte Maxime der Reaktion in unserem Lande „Vor den Fabriktoren hören die Grundrechte auf " ist nicht unsere Devise und nicht unsere Richtschnur.
Die wesentlichen Vorschläge, die wir Sozialdemokraten zur Stärkung der Stellung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz machen, sind folgende.
Metadaten/Kopzeile:
8992 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Dr. EmmerlichErstens. Der Bundesbeauftragte soll vom Deutschen Bundestag gewählt werden. Seine Aufgabe wird im Grundgesetz festgelegt. Dadurch wird der Bundesbeauftragte von der Bundesregierung wirklich unabhängig.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Gerne, wenn sie nicht auf die Redezeit angerechnet wird.
Nein, natürlich nicht. — Herr Dr. Blens.
Sie sind jetzt schon ein bißchen weiter, Herr Emmerlich.
Sie sagten soeben etwas zu der Geltung von Grundrechten gegenüber der privaten Wirtschaft. Würden Sie mit mir übereinstimmen, daß das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung in der privaten Wirtschaft wie überhaupt im privaten Bereich auf andere Grundrechte beispielsweise der Unternehmen stößt, z. B. auf Grundrechte aus Art. 2, Art. 12 und Art. 14, und daß deshalb im privaten Bereich eine ganz andere verfassungsrechtliche Situation gegeben ist als im Verhältnis zwischen Bürger und Staat?
Herr Blens, die Konkurrenz der Grundrechte ist eine allgemeine Erscheinung. Mit ihr haben wir nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlichen Bereich zu tun. Was aber im privaten Bereich zu Besonderheiten führen muß, ist, daß das Instrumentarium zur Datenschutzkontrolle, das für den öffentlichen Bereich vorhanden sein muß, nicht ohne weiteres auf den privaten Bereich, auf den Bereich der Wirtschaft übertragen werden kann. Da bedarf es eigener Möglichkeiten.
Ich erinnere z. B. daran, daß in diesem Zusammenhang in der privaten Wirtschaft die Betriebsräte eine wichtige Rolle spielen können und somit auch spielen müssen. Dies ist unsere Vorstellung. Wir haben ja auch bisher nicht vorgesehen, daß die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder im privaten Bereich die Datenschutzkontrolle übernehmen. Die Institution des Datenschutzbeauftragten der Betriebe ist der Ansatz, den wir entwickeln müssen. Dabei dürfen wir, Herr Blens — da haben Sie völlig recht — , das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Bekanntlich tut derjenige, der das macht, dem Kind nicht Gutes, sondern er schadet ihm. Das ist nicht das, was wir wollen. Wir wollen den Datenschutz verbessern. Wir wollen ihn nicht ad absurdum führen.Ich hatte gesagt, der Bundesbeauftragte solle durch den Deutschen Bundestag gewählt werden. Seine Aufgabe solle im Grundgesetz festgelegt werden. Dadurch werde er von der Bundesregierung wirklich unabhängig. Das ist deshalb erforderlich, Herr Blens, weil es nicht angeht, daß ein Kontrollorgan von der Stelle berufen wird, die seiner Kontrolle unterliegt. Schon allein das genügt zur Begründung dieses Vorschlags.Zweitens. Unangebracht ist auch, wenn die Bundesregierung, die kontrolliert werden soll, auf die personelle und sachliche Ausstattung des Datenschutzbeauftragten maßgeblichen Einfluß hat. Weil die Kontrollfähigkeit des Bundesbeauftragten entscheidend von seiner personellen und sachlichen Ausstattung bestimmt wird, soll sein Haushalt in einem Einzelplan des Deutschen Bundestages ausgewiesen werden.In diesem Zusammenhang, Herr Staatssekretär, muß ich leider feststellen, daß die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz eine ausreichende personelle und sachliche Ausstattung nicht zukommen lassen. Aus einem Vortrag des Bundesbeauftragten am 12. Januar dieses Jahres ergibt sich, daß ihm z. B. für die Kontrolle der Datenverarbeitung beim Verfassungsschutz, beim Militärischen Abschirmdienst, beim Bundesnachrichtendienst, beim Bundeskriminalamt sowie beim Bundesgrenzschutz und bei der Zoll- und Steuerfahndung insgesamt nur vier — ich wiederhole: vier — Mitarbeiter zur Verfügung stehen. Diese sind auch noch für den internationalen Datenschutz zuständig, der bekanntlich immer mehr an Bedeutung gewinnt. Bei einer derartigen Personalsituation ist eine hinreichende Kontrolle unmöglich.Drittens. Die Kontrollbefugnis des Bundesbeauftragten für den Datenschutz muß grundsätzlich jeden Eingriff öffentlicher Stellen des Bundes in das informationelle Selbstbestimmungsrecht erfassen. Seine Kontrollfähigkeit würde in nicht vertretbarer Weise beeinträchtigt, wenn er, wie die Bundesregierung das beabsichtigt, nicht mehr die Erhebung personenbezogener Daten zu kontrollieren hätte. Das ist ja der entscheidende Punkt, wo wir ansetzen müssen: daß es zu keiner ungerechtfertigten Erhebung persönlicher Daten kommt. Wer die diesbezügliche Kontrolltätigkeit des Bundesbeauftragten nicht für zulässig erklären will, der macht einen schweren Fehler. Das Kontrollrecht bedeutet ja nicht, daß eine Kontrollpflicht besteht. Natürlich nimmt der Bundesbeauftragte, nehmen die Datenschutzbeauftragten ihre Kontrolltätigkeit nur auf, wenn eine Veranlassung gegeben ist. Aber Sie dürfen nicht sagen: Nur wenn diese Veranlassung von Betroffenen kommt, ist eine hinreichende Veranlassung gegeben. Das ist der Fehler, den Sie nach meiner Meinung machen.
Viertens. Der Bundesbeauftragte hat nach unserem Gesetzentwurf das Recht, von allen Stellen des Bundes Auskunft sowie Einsicht in Unterlagen und Akten und jederzeitigen Zutritt in alle Diensträume zu verlangen. Wir halten es für falsch, daß dieses Recht nach den Vorstellungen der Bundesregierung bei den Nachrichtendiensten und der Polizei durch eine oberste Bundesbehörde mit der Behauptung verweigert werden kann, dadurch werde die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gefährdet. Das darin zum Ausdruck kommende Mißtrauen der Bundesregierung gegenüber der Institution des Bundesbeauftragten für den Datenschutz ist nach den Erfahrungen, die wir alle damit gemacht haben, unberechtigt, aber ein Symptom dafür, welch nachgeordnete Bedeutung die Bundesregierung dem Datenschutz beimißt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8993
Dr. EmmerlichFünftens. Die Bundesregierung will in ihrem Entwurf nicht ausdrücklich festlegen, daß sich jedermann an den Bundesbeauftragten für Datenschutz wenden darf. Eine solche Aussage im Informationsschutzgesetz stellt klar, daß der Bundesbeauftragte der Datenschutzanwalt des Bürgers ist. Eine solche Klarstellung ist erforderlich.
Ich will zum Schluß kommen. Ich sehe, daß die gelbe Lampe aufleuchtet.
— Ich will der roten vorbeugen.Zum Schluß möchte ich darauf zurückkommen, daß der Datenschutz durch die sozialliberale Koalition begründet worden ist. Daraus folgt nicht nur für uns Sozialdemokraten, sondern nach meiner Meinung auch für die FDP die politische Verpflichtung, den Datenschutz zu verteidigen und ihn so fortzuentwikkeln, wie das geboten ist. Herrn Hirsch will ich gern sagen, auch wenn er nicht mehr da ist,
daß wir keine Probleme darin sehen, die Arbeitnehmerrechte im Bereich des Datenschutzes in einem bereichsspezifischen Gesetz niederzulegen.
Herr Staatssekretär, ich fasse Ihre Bemerkungen dazu als die Zusage auf, daß Sie mit uns gemeinsam bei den vor uns liegenden Beratungen durch entsprechende Bestimmungen in bereichsspezifischen Gesetzen — im BGB dem Betriebsverfassungsgesetz oder in einem Sondergesetz — dafür sorgen, daß es zu der dringend erforderlichen Verbesserung des Schutzes von Arbeitnehmerdaten im Betrieb kommt.
Ich appelliere also an die FDP, ich appelliere an die Regierung, an die CDU/CSU — dabei sehe ich Sie, Herr Blens, ganz besonders an — , ich appelliere auch an uns, gemeinsam zu versuchen, zu den dringend erforderlichen Verbesserungen des Datenschutzes in unserem Lande zu kommen. Wer dieses Ziel verfolgt, findet in den Sozialdemokraten Verbündete.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, die Gesetzentwürfe der Fraktion der SPD an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es darüber hinaus weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Das Haus ist auch mit diesen Überweisungen einverstanden? — Es wird so verfahren.
Ich rufe Punkt 15 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sellin, Dr. Knabe, Frau Hensel und der Fraktion DIE GRÜNEN
Einrichtung eines Umwelt-Swing und Umwelt-Fonds zur Minderung grenzüberschreitender Emissionen durch DDR-Kraftwerke
— Drucksache 11/3661 —
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Das Haus ist damit einverstanden. Wir verfahren so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sellin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die GRÜNEN stellen heute einen Antrag zur Debatte, der die Einrichtung eines Umwelt-Swing und eines Umwelt-Fonds zur Minderung grenzüberschreitender Emissionen durch DDR-Kraftwerke fordert. Der vorgeschlagene Umwelt-Swing soll als verwendungsgebundener zusätzlicher Kreditrahmen bei der Deutschen Bundesbank nach dem Muster des Swing der DDR angeboten werden. Der UmweltSwing soll in der Höhe dynamisch angeboten werden, d. h. sich nach dem finanziellen Volumen der Modernisierungsprojekte zur durchgreifenden energetischen Rationalisierung und Emissionsminderung orientieren.Über diese zinsfreien Kredite im Rahmen des Umwelt-Swing hinaus soll ein Umwelt-Fonds mit einem Finanzvolumen von 2 Milliarden DM in Form von verlorenen Zuschüssen eingerichtet werden, der zum Bau von Rauchgasreinigungs- und Entstickungsanlagen für DDR-Kraftwerke verwandt werden kann, die unmittelbar und überproportional zu einer erheblichen Belastung West-Berlins und grenznaher Gebiete der Bundesrepublik beitragen.Der Antrag verweist auf die Unterlassungssünden der Bundesregierung und des Berliner Senats. Spätestens seit 1984/85 wiederholt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung regelmäßig Vorschläge zur Finanzierung der Investitionskosten von Umweltschutzinvestitionen von DDR-Kraftwerken und industriellen Erzeugungsanlagen, die überproportional die Lebensqualität von Berlin zerstören. Bis heute hat die Bundesregierung kein Finanzierungskonzept.Im April 1987 legte das Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung, Berlin, ein Gutachten zur alternativen Energiepolitik in der DDR und in Berlin vor. Professor Martin Jänicke erklärte der Öffentlichkeit die in der veralteten Energieanlagenstruktur der DDR begründete Energieverschwendung und das ursächlich damit verbundene riesige Emissionsvolumen der DDR-Energieerzeugungsanlagen.Die alten Braunkohlekraftwerke blasen vier Fünftel der eingesetzten Energie einfach als Abwärme in die Luft. Der Pro-Kopf-Energie-Verbrauch der DDR ist mehr als doppelt so hoch wie in Westeuropa oder in Japan. Der spezifische Energieverbrauch der DDR liegt bei einer Vielzahl von Industrieanlagen und Industriegütern um 30 bis 50 % höher als in der Bundesrepublik. Allein die Modernisierung der öffentlichen Stromerzeugungsanlagen könnte der DDR eine Ersparnis um 60 Millionen t Braunkohle bringen.Die Energieverschwendung verlangt ein Investitionsprogramm, das die Modernisierung der Energie-
Metadaten/Kopzeile:
8994 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Sellinanlagen, die Entschwefelung und Entstickung integriert, da eine Steigerung des Wirkungsgrades der Stromerzeugungsanlagen umfassende Rationalisierungseffekte mit Emissionsminderungen zu kombinieren erlaubt. Filtertechnologien allein sind allenfalls für die modernsten, zuletzt gebauten Braunkohlenkraftwerke der DDR ausreichend.Die Investitionskosten zur Entschwefelung aller „Dreckschleudern" werden je nach Verfahren auf 6 bis 11 Milliarden DM geschätzt und die der Entstikkung auf 2 bis 3 Milliarden DM. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die DDR nur ca. 30 % der notwendigen Ausrüstung aus technologischen Gründen im Westen zu kaufen gezwungen ist.Die Emissionen von Kraftwerken und Heizwerken können von heute 3 Millionen t SO2 auf ca. 130 000 t SO2, also um mehr als 95 %, und von mindestens 430 000 t NOX auf etwa 64 000 t NOR, also um fast 85 %, vermindert werden. Vergleichen Sie das entsprechende Gutachten des IÖW.Die Bundesregierung und der Berliner CDU-Senat waren bisher nicht fähig oder willens, mit der DDR ein Finanzierungskonzept zur Modernisierung und Entschwefelung der Energieanlagen und einen Technologietransfer auszuhandeln. Immerhin muß festgestellt werden, daß der Wahlkämpfer Diepgen das Thema in dieser Woche entdeckte. In der „Süddeutschen Zeitung" heißt es: „Aber unter Umständen sei eine Mark, die ... in eine Rauchgasentschwefelungsanlage in Ost-Berlin investiert werde, für den Westen weit effektiver als eine im Westen investierte Mark." Der Groschen scheint gefallen zu sein.Das konkrete Beispiel aus unserer Studie, die ich hier schon mehrfach zitiert habe: Die Emissionsminderung, die durch das Umwelt-Investitionsprogramm der Bewag, also des Westberliner Energieerzeugungsbetriebs, von 46 000 um 34 000 auf 12 000 t SO2 erzielt werden kann, verhält sich zu den Gesamtemissionen der DDR geradezu lächerlich. Mit den von der West-Berliner Bewag zu investierenden 2,5 Milliarden DM ließen sichin der DDR die Braunkohlenkraftwerke Bocksberg und Jänschwalde — die südlich von West-Berlin liegen — , die jährlich zusammen rund 800 000 t SO2 ausstoßen, mit Rauchgasreinigungsanlagen versehen.Der Umweltentlastungseffekt ist um ein Vielfaches größer, wenn durch Umwelt-Swing, also zinsfreie Kredite, und Umwelt-Fonds, verlorene Zuschüsse, für ausgewählte Kraftwerke aus Devisen- und Kapitalmangel der DDR unterlassene Investitionen finanzierbar werden. Die ersparten ökologischen und sozialen Kosten kommen beiden Volkswirtschaften, der der Bundesrepublik und der der DDR, zugute.Die Gesundheit der Menschen muß unverzüglich geschützt werden. Der nächste Smog muß nicht erst abgewartet werden; denn er ist in diesem Winter bisher nur zufällig ausgeblieben, wie auch der CDU-Senat in Berlin selbst zugibt, der die Smog-Verordnung für die Wahl am nächsten Sonntag extra geändert hat, damit jeder Wähler, auch die Rentnerin, von der CDU per Auto zum Wahlbüro gebracht werden kann. Man höre und staune!
Ich stelle fest: Der Umwelt-Swing und der UmweltFonds stehen im deutsch-deutschen Interesse. Die Regierung hat bisher nicht gehandelt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN, einen speziellen UmweltSwing und einen Umwelt-Fonds zur Minderung grenzüberschreitender Emissionen durch DDR-Kraftwerke einzurichten, können und werden wir in dieser Form nicht unterstützen.Der bereits existierende Swing, Herr Kollege Sellin, im Umfang von 850 Millionen DM — auch nutzbar für Umweltprojekte — wird von der DDR zur Zeit nur mit 225 Millionen DM in Anspruch genommen.
Vor diesem Hintergrund scheint ein zusätzlicher Umwelt-Swing überflüssig zu sein.Es hört sich jetzt etwas hart an, Herr Kollege Sellin: Ich unterstütze Sie in Ihrer gesamten Begründung — Sie haben hier nichts anderes als die Realität des Umweltschutzes in der DDR geschildert und hier grenzüberschreitende Probleme aufgezeichnet —, nur sind die Schlußfolgerungen, die wir ziehen, andere.
Auch die Einrichtung eines Umwelt-Fonds ist unserer Meinung nach in diesem Zusammenhang kein geeignetes Mittel zur Verminderung von grenzüberschreitenden Emissionen.Im Vordergrund unserer Bemühungen, Herr Kollege, sollte jetzt nicht die Frage nach der am besten geeigneten Finanzierung für emissionsmindernde Maßnahmen stehen,
sondern das Bestreben, zusammen mit der DDR ein Konzept für eine aufeinander abgestimmte, modellhafte Umweltkooperation aufzubauen, basierend auf dem beiderseitigen guten Willen, u. a. unsere Luft- und Wasserqualität insgesamt so schnell wie möglich zu verbessern.Auf Grund der geographischen Lage unserer beiden Staaten tragen wir hierfür eine besondere Verantwortung. Nur wenn in der Mitte Europas die umweltpolitischen Weichen richtig gestellt sind, kann Umweltschutz in Gesamteuropa erfolgreich sein.Neben den internationalen Verpflichtungen, so vor kurzem das Abkommen der KSZE-Folgekonferenz in Wien, sehen wir vor allem die im September 1987 mit der DDR geschlossene Umweltvereinbarung als Grundlage für eine enge Zusammenarbeit in allen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8995
SchmidbauerBereichen des Umweltschutzes an. Diese Vereinbarung kann und soll nun praktisch umgesetzt werden. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion befürwortet, daß Lösungsmöglichkeiten zur Verminderung von Umweltbelastungen gemeinsam mit der DDR schnell und intensiv erörtert werden.Im Bundeshaushalt — auch das ist eine neue Form— stehen für Investitionen zur Verminderung von Umweltbelastungen in diesem Jahr mehr als 100 Millionen DM zur Verfügung. Ich finde, das ist ein sehr guter Einstieg. Davon können auch Pilotprojekte in der DDR mitfinanziert werden. Wir sehen alle Umweltschutzmaßnahmen als förderfähig an, die einen Pilot- und Demonstrationscharakter haben bzw. auch in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlins zu einer Verringerung von Umweltbelastungen beitragen.Eine Vielzahl gemeinsamer Vorhaben bietet sich an. Zum Beispiel könnten durch die Ergänzung des Luftmeßnetzes in der DDR die jeweiligen Emissionsdaten bei Smog-Wetterlagen ausgetauscht werden.In noch einem haben Sie recht. Das ist ja nichts anderes als der Töpfer-Plan, wenn ich Ihnen das sagen darf.
— Vizepräsident können Sie nicht werden. Aber ich sage Ihnen etwas dazu.
Herr Abgeordneter Schmidbauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sellin?
Wenn Sie meine Zeit kurz anhalten: Ja.
Bitte schön.
Aus der heutigen Presse kann man u. a. entnehmen, daß Baden-Württemberg ein weiteres Kohlekraftwerk entschwefelt und entstickt. Daran können wir beispielhaft feststellen, wie weit das Investitionsprogramm in der Bundesrepublik im Rahmen der Entschwefelungs- und Entstickungsanlagen vollzogen ist. Wie stehen Sie dazu, daß in der DDR, die keinen Akkumulationsfonds hat, aus eigener Kraft diese Rieseninvestitionen finanzierbar werden, die nach übereinstimmender Meinung bis heute unbezweifelbar unterlassen worden sind? Gibt es da nicht ein deutsch-deutsches Interesse, ökologische und soziale Folgekosten zu sparen?
Das ist genau der Punkt, Herr Sellin, auf den ich jetzt eingehen wollte.Zunächst zu dem Stichwort Töpfer-Plan, wozu der Kollege Stahl ständig gefragt hat, was das ist.
Herr Kollege Töpfer hat diese Punkte ja schon ständig erwähnt. Ich will es Ihnen sagen: Bei uns sind auf Grund der eingesetzten Technik weitere Verbesserungen im Bereich Luftreinhaltung nur mit verhältnismäßig hohem Mehraufwand und Mittelaufwand möglich. In der DDR lassen sich auf Grund des Nachholbedarfs mit weniger Aufwand relativ weiterreichende Verbesserungen erzielen. Das ist der Mechanismus. Den haben vorhin auch Sie angeschnitten. Den stelle ich nicht in Abrede. Im Gegenteil; das waren Ausführungen von unserer Seite.Es geht nur um die Frage der Finanzierung. Es besteht Bedarf, daß wir ein Projekt gemeinsam beginnen.
— Sie reden nachher und werden uns dann dazu etwas sagen.Wichtig erscheint uns vor allem, Herr Kollege Sellin, daß die DDR uns zunächst die ihr geeignet erscheinenden Projekte vorschlägt. Im Anschluß daran kann und muß die Finanzierung geklärt werden.Selbstverständlich wird und kann dadurch — das sage ich deutlich — das Verursacherprinzip nicht in Frage gestellt werden.Neben der Luftreinhaltung muß es in unser beider Interesse auch sein, gemeinsam die Schadstoffbelastungen in den deutsch-deutschen Flüssen zu vermindern und zu verhindern. Wir begrüßen die Entscheidung der DDR, Gespräche über eine möglichst schnelle Verringerung der Schadstofffrachten in der Elbe zu führen.In diesem Zusammenhang ist auch nach Lösungen zu suchen, um die hohe Nährstoffbelastung, die in der Nordsee Störungen des ökologischen Gleichgewichts verursacht, z. B. die explosionsartige Algenvermehrung und deren Auswirkungen für die Meeresökologie, zu verringern.Gemeinsames Ziel der deutsch-deutschen Kooperation sollte sein, durch gezielte Maßnahmen an Verschmutzungsschwerpunkten eine rasche Verbesserung der Gewässerqualität zu erreichen, eine dauerhafte und an weiterführenden Zielen orientierte Zusammenarbeit einzuleiten und dabei — auch dies ist hier wohl schon besprochen worden — die Tschechoslowakei einzubeziehn, die ebenfalls für Schadstoffeinträge in die Elbe verantwortlich ist.Wir sind bereit, auf Wunsch der DDR ein Aktionsprogramm zur Verbesserung der Wasserqualität der Elbe in deren gesamten Einzugsbereich zu unterstützen, ebenso ein Programm, das die Einbeziehung der Industriestandorte in und um Berlin vorsieht.Die hierzu nötigen Finanzmittel werden nach unserer Erfahrung beträchtlich sein. Ist die DDR bereit, solche Projekte in Angriff zu nehmen, und zeigt sie sich an einer technologischen bzw. finanziellen Unterstützung interessiert, wird sich der Deutsche Bundestag— bei zu erwartenden positiven Auswirkungen auf die Luft- und Wasserreinhaltung in der DDR und im Bundesgebiet sowie bei qualitativen Verbesserungen für die Bürger auf beiden Seiten — sicher nicht verschließen, die nötigen Finanzmittel zu bewilligen. Über einige dieser Vorhaben wird bereits auf Fachebene gesprochen. Da gibt es ja bereits Arbeitsgruppen, die sich mit diesem Problem beschäftigen. Ich
Metadaten/Kopzeile:
8996 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Schmidbauermeine, hier könnte durchaus zügiger verhandelt werden.
— Ich sagte vorhin: über 100 Millionen. Überlegen Sie doch einmal, was Sie in einem einzigen Haushalt eigentlich verbauen können!
— Herr Kollege Lennartz, ich kann nicht hierhin und dorthin hören. Sie haben offensichtlich das Bedürfnis, etwas zu fragen. Da müssen Sie sich schon melden; das ist hier so üblich.
Zweifellos gibt es in der DDR einen großen Handlungsbedarf zur Verminderung von Umweltbelastungen. Die deutsch-deutsche Umweltvereinbarung stellt zwar hohe Ansprüche an beide Seiten, enthält aber gleichzeitig vielfältige Kooperationsmöglichkeiten zum Wohle der Bevölkerung in beiden Teilen Deutschlands.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Lennartz.
Herr Kollege, können Sie uns bitte einmal den Einzelplan nennen, in dem die 100 Millionen DM festgelegt sind, und können Sie auch sagen, für welchen Verwendungszweck die 100 Millionen DM in diesem Einzelplan ausgewiesen sind?
Ich sagte vorhin — und Sie waren ja bei den Beratungen dabei und haben bei der Abstimmung mitgewirkt — : Wir haben 115 Millionen DM eingesetzt und haben dabei 30 Millionen DM speziell für Vorhaben in der DDR in diesem Jahr, für Pilot- und Demonstrationsprojekte. Die Höhe der Mittel ist dadurch übrigens nicht begrenzt. Wenn Sie davon ausgehen, daß dies Zinshilfen sein könnten, können Sie ohne weiteres 300 Millionen DM verbauen. Im übrigen möchte ich einmal sehen, wie jemand das in elf Monaten verbaut. Daran kann es also nicht scheitern, sondern es geht darum, daß wir dieses Programm hier gemeinsam auf den Tisch legen.
Wir hoffen, daß die DDR gemeinsam mit uns an einer erfolgreichen grenzüberschreitenden Umweltpolitik interessiert ist und würden das begrüßen. Wir sind der Meinung, daß es heute nicht wichtig ist, über Umwelt-Swing und -Fonds zu reden, sondern daß baldmöglichst nicht nur Verhandlungen stattfinden, sondern diese auch dazu führen, daß wir zu einem gemeinsamen Projekt kommen, um eine mittel- und langfristige Umweltkonzeption abzusprechen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stahl .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Feststellung, daß der Umweltschutz keine Grenzen kennt, fehlt heute inkeiner Rede. Meine Vorredner haben ja auch auf die entsprechende Politik hingewiesen. Dabei wird deutlich, daß dies ein Feld der Politik ist, das neben der Friedenssicherung und den wirtschaftlichen Beziehungen zunehmend einen hohen Stellenwert erhält. Das gilt für die östlichen wie für die westlichen Nachbarn. Die Einsicht, daß man dieses Problem schneller angehen muß, ist vorhanden; doch muß man auch sagen, daß die Geschwindigkeit der Umsetzung von schon vorhandenen Möglichkeiten manche Fragen offenläßt. Herr Sellin, darin stimme ich Ihnen grundsätzlich zu. Ich kann Ihnen in dem, was Sie gesagt haben, teilweise folgen, in der Konsequenz am Ende allerdings nicht.Heute gibt es in der Beurteilung der Notwendigkeit, die natürlichen Lebensgrundlagen und die Umwelt insgesamt zu schützen, keine prinzipiellen Unterschiede mehr zwischen Ost und West. Es ist sicher, daß zwischen allen Parteien Einvernehmen darüber herrscht, daß wir den Frieden zwischen Ost und West nur im Rahmen der Sicherheitspartnerschaft sichern können. Ich meine, die Umwelt über die Grenzen hinweg zu schützen können wir ohne ökologische Partnerschaft ebenfalls nicht verwirklichen.Diesen Begriff möchte ich Ihnen einmal etwas verdeutlichen. Er bedeutet für uns Sozialdemokraten, daß in diesem neuen europäischen Haus zunächst die gemeinsame Einsicht in die Notwendigkeit, die Umweltprobleme in Ost und West rasch zu lösen, vorhanden sein muß. Trotz bisher nationaler Maßnahmen in Ost wie West ist es nicht gelungen — ja, wir sind eigentlich erst am Anfang — , die bedrohlich angewachsenen Probleme in den Griff zu bekommen. Das gilt für die Luftreinhaltung, für die Gewässerverschmutzung, für die Abfallwirtschaft und nicht zuletzt für den Klimaschutz.Aber ökologische Partnerschaft darf nicht beim Erkennen der Umweltprobleme in den jeweiligen Systemen steckenbleiben. Sie heißt für uns Sozialdemokraten auch, gemeinsame Lösungen zu suchen, die die natürlichen Lebensgrundlagen und die Umwelt besser schützen. Dieses Suchen nach gemeinsamen Lösungen in den eben ausgeführten Bereichen muß aber die spezifischen nationalen Interessen und die Möglichkeiten der einzelnen Länder, soweit es irgend geht, mit einbeziehen.Trotz aller nationalen Differenzen in der Einschätzung einzelner Probleme sollte es gelingen, konkrete Prinzipien und Ziele für eine ökologische Partnerschaft im europäischen Haus zu vereinbaren. Dabei sollte es möglich sein, diese Partnerschaft in einer europäischen Umweltpolitik auf folgende Handlungsfelder hin zu orientieren: Luftreinhaltung, Gewässer- und Meeresschutz, rationelle und sparsame Energieverwendung, Forschung und Entwicklung für Energie- und Umwelttechnologien und Weitergabe der Erkenntnisse, Schutz des Klimas. Hierbei könnte das Europäische Parlament mit der EG-Kommission und den RGW-Staaten eine gemeinsame Linie festlegen. Daß die Zusammenarbeit zwischen den RGW-Staaten eine andere, eine losere ist als die innerhalb der EG, sollte eigentlich kein Hindernis sein.Auch die Finanzierung sollte auf dieser Ebene in praktikablen Formen unter Mitwirkung aller Staaten
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8997
Stahl
geregelt werden. Dabei wären nationale Beiträge je nach Höhe des Bruttosozialprodukts und die Beteiligung der EG unter gezielter Beteiligung der Projektländer eine Möglichkeit. Dabei sind wir Sozialdemokraten uns bewußt, daß dieser Rahmen über das, was im Rahmen der ECE und der Schlußakte von Helsinki aus dem Bereich der Umweltpolitik an Vereinbarungen zwischen Ost und West getroffen wurde, weit hinausgeht. Der Antrag der GRÜNEN — Herr Sellin, das müssen Sie zugeben, das haben Sie eben auch angedeutet — deckt nur einen kleinen Teil des eben dargelegten Rahmens ab. Er löst die Probleme der Luftverschmutzung in Mitteleuropa nicht.Sie haben z. B. nicht darüber gesprochen, daß wir die CSSR, Polen, Rumänien und Ungarn — wenn wir schon etwas bewegen wollen — in den mitteleuropäischen Rahmen einbeziehen müssen.Dabei hat die SPD-Fraktion nichts dagegen, nein, wir haben nichts dagegen, im Gegenteil, wir begrüßen das, daß auch Projekte der bilateralen Zusammenarbeit, die derzeit mit der DDR im Gespräch sind und hoffentlich bald fest vereinbart werden, weiter zahlreich durchgeführt werden. Wir begrüßen diese Zusammenarbeit ausdrücklich. Aber Sie wissen ja selbst, daß der Weg dorthin, diese Projekte auch tatsächlich durchzuführen, nicht so einfach ist wie Ihre Antragstellung und ihr Reden hier vor dem Plenum.Lassen Sie mich an die Adresse der Fraktion DIE GRÜNEN als Antragsteller auch sagen: Ob die Einrichtung eines neuen Umwelt-Swing mit einem zusätzlichen bilateralen Umwelt-Fonds für die Finanzierung großer langfristiger Projekte der Weg zu einer schnellen Behebung der im Antrag angesprochenen Umweltprobleme ist, bedarf noch mehr als nur einer ernsthaften Prüfung. Der Swing als Kreditrahmen umfaßt 850 Millionen DM, wobei im Jahresmittel 1987 von der DDR nur 265 Millionen DM ausgeschöpft wurden. Mit großen Zahlennennungen, wie Sie es hier vorgenommen haben, von 2 Milliarden DM, machen Sie eine sicherlich spektakuläre Aussage. Das wollen wir Ihnen gerne zugestehen. Ich bin nicht sicher, ob es richtig sein kann, schon jetzt im Antrag solche weittragenden Zahlen zu nennen.Was würden Sie, verehrte Kollegen von den GRÜNEN, und Sie, Herr Sellin, dazu sagen, wenn ein reicher Onkel von Ihnen per Brief ohne ernsthafte Besuche und einvernehmliche Gespräche in Ihrer grünen Töpferei mit einem schon vorher aufgestellten Plan und einem vorgehaltenen Spiegel Ihre umweltpolitischen Sünden ändern möchte? Ich kann mir Ihre freundlichen Gesichter schon gut vorstellen, zumal Sie alle friedfertig im Gleichklang sagen: Der neue Töpfer-Plan ist so in Ordnung. Nach den bisherigen Erfahrungen, nach dem, was z. B. Herr Schmidbauer gesagt hat, finde ich den Plan gar nicht so in Ordnung.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Bitte sehr, Herr Sellin.
Also mich wundert schon Ihre Kommentierung, daß man, wenn man die Unterlassungssünden, die ich geschildert habe, zur Kenntnis nimmt, Mut hat, 2 Milliarden DM hinauszuwerfen.
Ich möchte Sie fragen: Ist es denn in Ihrem Interesse, daß West-Berlin oder das Zonenrandgebiet, so wie es herkömmlicherweise in der Bundesrepublik heißt, auf westlicher Seite weiterhin den überproportionalen SO2-Emissionen und NOX-Emissionen ausgesetzt ist? Oder wollen Sie nicht selber ein aktives Angebot machen, auch in finanzieller Hinsicht, daß die DDR überhaupt ein Investitionsprogramm umsetzen kann?
Herr Sellin, wenn Sie mir zugehört haben, werden Sie festgestellt haben, daß ich Ihnen, bezogen auf die Zahlen, die Sie für die Verschmutzung der Umwelt genannt haben, zugestimmt habe. Nur ist doch unbestritten, daß Ihr Antrag völlig spektakulär ist und die Probleme, die wirklich zu lösen sind, im Zuge der Verhandlungen — und alles was dazugehört — mit diesem Antrag doch nicht bewegt werden, sondern es sogar fraglich ist, so etwas überhaupt zu tun.Herr Sellin, ich war vor einer Woche auf einer Tagung in Berlin, wo auch Gäste aus den eben genannten Ländern zugegen waren. Dort verstieg sich einer Ihrer Freunde zu der Meinung, bei der Lösung von Umweltproblemen, deren Lösung auch wir als Sozialdemokraten für dringend notwendig halten, zu der Aussage, in diesem Bereich zähle keine nationale Souveränität. Wenn Sie mit den Nachbarn also so umgehen wollen, dann ist das, glaube ich, der falsche Weg.Die Antwort kam postwendend von Teilnehmern aus den Ländern: Man wolle keinen Ökokolonialismus; die Prioritäten auch bei der Bewältigung des Umweltschutzes wollten sie in ihren Ländern selbst setzen. Würde es uns in der Bundesrepublik — Herr Sellin, hier spreche ich im besonderen auch die grüne Fraktion an — nicht ernsthaft gut anstehen, etwas bescheidener aufzutreten? Dabei sind wir uns darüber einig, daß es sehr wünschenswert wäre, die Entlastung der Umwelt möglichst bald herbeizuführen, auch im Interesse der Berliner Mitbürger, die im Antrag der GRÜNEN besonders aufgeführt sind.Ich bin weiterhin der Meinung, daß es für die Berliner hilfreich ist, wenn die in der Bundesrepublik durchgeführten Maßnahmen auch bei ihnen sofort erfolgen.Lassen Sie mich abschließen. Wir brauchen das zu Beginn meiner Ausführungen dargestellte europäische Haus und eine umfassende europäische Umweltschutzkonvention. Die im Bereich der Luftreinhaltung nach der Genfer Luftreinhaltekonvention vereinbarte Verminderung von 30 % SO2 — Stand 1980 — bis 1993 ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Dabei ist schon heute ersichtlich, daß das Ziel wohl nicht von allen Beteiligten erfüllt werden wird. Wir müssen also ernsthafte Überlegungen nicht nur für die Beschleunigung des Abbaus von SO2-Emissionen anstellen, sondern wir müssen auch NOX-
Metadaten/Kopzeile:
8998 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Stahl
Belastungen, die Abfallwirtschaft und den Gewässerschutz mit einbeziehen.Wir Sozialdemokraten fordern die Bundesregierung auf, den dargelegten Gedankengang auf europäischer Ebene aufzunehmen und zielgerichtet zu verfolgen. Dabei reicht die europäische Konvention alleine als Ziel nicht aus. Die wirtschaftlich starken Länder haben in der Regel auch höhere Umweltstandards und -technologien. Sie haben diese; sie müssen aber im eigenen Interesse höhere Beiträge leisten, um mehr neue Technologien und Ideen als Leistungen in diese europäische Zusammenarbeit einzubringen.Den ökologischen Nutzen einer derart vernünftigen Umweltpolitik auch auf europäischer Ebene hätten alle Menschen.Schönen Dank fürs Zuhören.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wolfgramm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die gemeinsame Verantwortung, Herr Kollege Sellin, der Bundesrepublik und der DDR für unsere Lebensgrundlagen und damit natürlich auch besonders für die Umwelt bestreitet niemand. Es ist richtig, wenn Sie das hier hervorheben.Es ist auch richtig, daß wir das Umweltschutzabkommen, das wir mit der DDR abgeschlossen haben, über Informationen hinaus, die übrigens auch noch besser laufen könnten — da wird noch einiges zu tun sein — , nun mit konkreten Maßnahmen ausfüllen. Wir wollen da unsere Hilfe — das haben wir überall und auch jetzt übereinstimmend betont — anbieten. Auch das ist richtig.
— Oh, oh, lieber Herr Kollege: Im Verhältnis zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik geziemt es sich, sich sehr sorgfältig zu informieren. Das ist eine der schwierigsten politischen Beziehungen, die die Bundesrepublik hat. Wer in die DDR fährt und sich dort Gedanken darüber macht — das gilt genauso umgekehrt — , muß sich sehr genau mit den Gegebenheiten und den Vorstellungen auseinandersetzen.Deswegen darf ich Ihnen schon an dieser Stelle sagen: Sie hätten gut daran getan, sich mit den Haushältern zusammenzutun. Denn wir haben gerade im Haushalt für 1989 zum erstenmal einen Betrag mit einem Haushaltsvermerk so eingesetzt, daß wir in der Lage sind, Pilotprojekte ausschließlich mit der DDR zu betreiben. Das finde ich schon ganz schön.
— Die Summe, die Sie genannt haben, entspricht natürlich Ihren Vorstellungen vom Haushalt. Sie müssen uns dann einmal sagen, wie Sie sich den Gesamthaushalt vorstellen, wenn Sie hierfür bereits 2 Milliarden DM einsetzen. Ich finde, 115 Millionen DM für Projekte in der DDR, von denen die DDR bis jetzt nochnicht eines vorgelegt hat, sind für das Jahr 1989 schon ein sehr ordentliches Angebot.Ich meine, Sie tun der deutsch-deutschen Sache keinen besonderen Dienst, wenn Sie das im HauruckVerfahren fordern, ohne sich je abzustimmen oder auch über das zu informieren, was hier im Hause schon beschlossen ist und was bereits läuft.
— In West-Berlin gehen Sie mit Ihrer Gruppierung AL, von der ich den Eindruck habe, daß sie Ihnen in einer gewissen Weise entspricht — es sind ja auch Kollegen von denen hier drin — , hin und sagen: Die Anstrengungen des dortigen Senats sind viel zuwenig. Sie müssen in West-Berlin viel mehr selbst tun. Hier sagen Sie — vielleicht nicht ganz ohne Grund —, daß die Relation nicht die richtige ist. So ist es ja nun nicht. Wenn Sie feststellen, daß die Sache dort immerhin um 34 000 t, d. h. um zwei Drittel reduziert wird, dann ist das ja schon ein ganz schöner Wert. Man kann also nicht so u n d so argumentieren. Dann bleibt man nicht glaubwürdig.Vor allen Dingen ist man für diejenigen nicht glaubwürdig, für die man hier mit erhobenem Zeigefinger etwas Gutes zu tun vorhat. Das erinnert mich so ein bißchen an ein Faust-Zitat — ich will es freundlich abwandeln — : Sie sind ein Teil von jener Kraft, die hier das Gute will und dann das Böse schafft. Das ist nicht gescheit. Das muß man anders machen.
— Ja, der Töpfer-Plan. Zum Töpfer-Plan kann ich Ihnen nur den Schüttelreim vortragen: Die Bombe schon dem Schöpfer tickt, weshalb er uns Klaus Töpfer schickt.
Wir wollen uns noch einmal auf Berlin konzentrieren, weil Sie das besonders herausgestellt haben. Es ist sicher richtig, daß wir in Berlin besonders starke SO2-Emissionen haben, und zwar — geschätzt —45 % aus dem Umland. Das Gefälle der Bundesrepublik zur DDR im Hinblick auf Umweltinvestitionen ist in den letzten Jahren nicht kleiner, sondern größer geworden, weil die DDR in letzter Konsequenz noch nicht erkannt hat, welche Anstrengungen sie zusätzlich unternehmen muß.Wir können eine Menge tun. Wir haben das in den Haushalt eingesetzt. Aber wir können nun nicht alles tun. Es muß auch jemand die Kraft haben, zu sagen, welche Pilotprojekte angenommen werden: Diese Projekte wollen wir haben, hinsichtlich dieser Projekte wollen wir uns mit der Bundesrepublik einigen.Wir können nur ein Pilotprojekt anbieten, aber der DDR nicht sagen: Wir finanzieren den Umbau all eurer alten Kraftwerke.Dann muß man sich nämlich in der DDR auch mit der Frage auseinandersetzen — das können wir ihnen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 8999
Wolfgramm
nicht ersparen —, ob dort nicht alte Kraftwerke, die diesen hohen Emissionsausstoß hab en, überhaupt stillgelegt und die modernen — sie haben ja nach dem Plan vor, noch 13 zu bauen — von vornherein mit entsprechenden Filteranlagen und Entschwefelungsanlagen ausgerüstet werden sollen. Übrigens hat mir Herr Reichelt beim letzten Besuch zugesagt, die neu zu bauenden Kraftwerke in der DDR, deren Rauchfahnen mit dem Westwind nach West-Berlin ziehen, zuerst mit solchen Filteranlagen auszurüsten. Ich finde, das ist ein guter Ansatz. Aber das ersetzt immer noch nicht die Verhandlungen und letztlich die Angebote der DDR, welche Pilotprojekte wir dort mit ihnen zusammen fördern können.
Wir haben das Angebot im Haushaltsplan verankert. Wir haben keinen Anlaß, jetzt so zu tun, als ob die Bundesrepublik in der Lage wäre, sämtliche noch fehlenden und nicht vorhandenen Umweltmaßnahmen in der DDR, in der Volksrepublik Polen, in Ungarn und in der Tschechoslowakei zu finanzieren. Eigenanstrengungen dieser Länder sind nötig, und zwar in großem Maße.Ich hatte das Vergnügen, daß ich beim letzten Besuch gefragt wurde, ob ich nicht abends einen Besuch eines Theaters einplanen würde. Ich habe mich für die „Distel" entschieden. In der „Distel" gab es mehrere Sketche, und einen, der die Situation vielleicht ein wenig trifft, habe ich behalten. Sie hatten dort den Smogalarm in West-Berlin genommen und gesagt: Es ist ja unglaublich, wie die im kapitalistischen WestBerlin mit dem Umweltschutz umgehen. Smogalarm, die Luft war so dicht, man konnte keine Hand vor Augen sehen. Bei uns in der Hauptstadt der DDR kein Smogalarm, es war alles in Ordnung. Das liegt daran, daß die Grenze so dicht ist.Sie sehen, die „Distel" darf so etwas schon einmal aufspießen. Daher dürfen wir auch annehmen, daß sich die Dinge weiterentwickeln. Immerhin ist die DDR Mitglied im 30-%-Klub, d. h. sie will die SO2-Emissionen bis 1993 um 30 % reduzieren. Angesichts der alten Kraftwerke sollte dort wirklich überlegt werden, ob man sie nicht stillegt; denn die 30 % werden bei den alten Kraftwerken wohl sehr schwer zu erreichen sein.Wir haben nicht nur diese Beträge im Haushalt eingestellt. Bereits im jetzigen Swing haben wir Möglichkeiten. Die DDR schöpft den Swing übrigens gar nicht voll aus. Das will sie auch gar nicht, und zwar im eigenen Interesse. Schon der jetzige Swing ermöglicht die Finanzierung von Umweltschutzprojekten.Weiter haben wir verbilligte Kredite über die Kreditanstalt für Wiederaufbau und die Ausgleichsbank angeboten. Auch das ist nun wirklich nichts besonders Neues. Es ist alles schon da, aber es wird vom Partner bis jetzt nicht angenommen und auch nicht genutzt. Das müssen wir hier festhalten. Es hilft uns nichts, hier in einen Überbietungswettbewerb einzutreten und zu überlegen, wieviel Geld man noch einsetzen kann. Jetzt geht es zunächst einmal darum, daß wir Pilotprojekte bekommen, um eine gemeinsame Umweltpolitik in die Praxis umzusetzen.
— Bleiben wir in Ihrer Diktion, Herr Sellin! Es wäre gut gewesen, wenn Sie sich nicht nur auf die Luftreinhaltung konzentriert hätten. Unser Vermerk im Haushalt zielt nicht etwa nur auf Luftreinhaltung, sondern natürlich genauso auf die Gewässerreinhaltung, d. h. darauf, das ganze Projekt Elbschutzabkommen zu verwirklichen, und zwar natürlich, wie wir das gerne möchten, unter Einbeziehung der Tschechoslowakei.Ich will noch anmerken, daß wir dafür eine deutliche Unterstützung durch die Ministerpräsidentenkonferenz haben, die solchen Maßnahmen ihre Zustimmung gegeben hat.Es fehlt also nicht an Geld. Es fehlt an der Zustimmung der DDR zu konkreten Projekten, die nun vorgelegt werden müssen. Das heißt, jetzt sind Entscheidungen der DDR gefragt, und die mahnen wir an.
Ich erteile Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Grüner das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat mit Abschluß der Vereinbarung über Umweltzusammenarbeit mit der DDR im September 1987 dokumentiert, daß sie der Zusammenarbeit mit der DDR im Umweltschutz hohe Bedeutung beimißt. Mit der Umweltvereinbarung ist ein wichtiges und wirksames Gesprächs- und Verhandlungsforum geschaffen worden. Die deutsch-deutschen Expertentreffen sind Ausdruck dafür. Dieses Verhandlungsforum ist deshalb so außerordentlich wichtig, weil es gerade die Grundlage dafür darstellt, daß wir erfahren und wissen können, inwieweit die DDR bereit ist, auch in den wirtschaftlichen Fragen des Umweltschutzes mit uns zusammenzuarbeiten.Erinnern wir uns daran, welch großer deutschland-und umweltpolitischer Fortschritt, durch unsere Politik mit bewirkt, darin liegt, daß die Gespräche über die Elbreinhaltung, die 1983 unterbrochen worden sind, im Rahmen dieser Vereinbarung wieder aufgenommen werden. An dieser Erinnerung wird deutlich, wie sehr es auf Konsens ankommt, wie sehr es darauf ankommt, nicht große Ankündigungen einseitig zu machen, ohne auf die Verhältnisse, die Möglichkeiten, die Prioritätensetzung in der DDR einschließlich aller ihrer politischen Überlegungen einzuwirken.Im Vordergrund der Bemühungen stehen also intensive Gespräche mit der DDR über konkrete Umweltschutzprojekte. Bundesminister Töpfer bemüht sich mit aller Intensität um diese Gespräche und vor allem um ihre Konkretisierung. Für beide Seiten geht es darum, sichtbare und spürbare Signale für weitere Fortschritte bei der Verminderung der Umweltbelastung zu setzen.Wenn wir mit der DDR eine Einigung über konkrete Projekte der Zusammenarbeit erzielen, werden wir auch in der Frage der Finanzierung angemessene Lösungen finden — davon bin ich überzeugt —, allerdings unter der Voraussetzung, daß dem Verursacherprinzip Rechnung getragen wird. Ich muß das mit ganz großem Nachdruck sagen: Wer das Verursacher-
Metadaten/Kopzeile:
9000 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Parl. Staatssekretär Grünerprinzip verläßt, führt den schwersten denkbaren Schlag gegen den Umweltschutz, der überhaupt denkbar ist. Denn er unterminiert die eigenen Anstrengungen. In Helsinki ist jetzt noch einmal von der internationalen Staatengemeinschaft gerade auch im Blick auf den Umweltschutz das Verursacherprinzip als eine Grundlage für die grenzüberschreitende Umweltpolitik festgehalten worden.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ja. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
: Wie stehen Sie zu der Erkenntnis Ihres Parteikollegen Diepgen,
der in der „Süddeutschen Zeitung" vom 25. Januar 1989 zitiert wird, in der deutsch-deutschen Zusammenarbeit könne es nicht darum gehen, das Verursacherprinzip auf den Kopf zu stellen; aber unter Umständen sei eine Mark, die in eine Kläranlage im Einzugsgebiet der Elbe oder in eine Rauchgasentschwefelungsanlage in Ost-Berlin investiert werde, für den Westen weit effektiver als eine im Westen investierte Mark? Das widerspricht genau Ihrer Aussage.
Herr Sellin, ich bin schon bei Ihren anderen Zwischenfragen sehr großzügig gewesen. Es müssen Fragen sein. Das war aber eine Bemerkung. Ich bitte beim nächsten Mal darum.
Ich meine nicht, Herr Kollege, daß es meinen Ausführungen widerspricht, wenn in diesem Fall der Koalitionspartner Diepgen eine solche Äußerung tut. Richtig ist natürlich, daß durch unsere Bereitschaft, die das Parlament ermöglicht hat, etwa im Technologieaustausch — das ist das entscheidende Stichwort: Technologietransfer — Mittel zur Verfügung zu stellen, ein Abstrich vom Verursacherprinzip gemacht wird. Dieses Prinzip wird aber nicht aufgegeben. Wir sind bereit, Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten.
Wenn es langfristig im Umweltschutz zu einer tragfähigen Zusammenarbeit mit der DDR kommen soll, dann kann diese Zusammenarbeit keine Einbahnstraße sein, weder finanziell noch technologisch. Das hat Herr Diepgen mit seiner Äußerung gemeint. Wenn man einmal konkrete Vorstellungen hat, wie denn die Interessenlage der DDR ist, wo sie denn bereit ist, technologisch zu kooperieren, dann hat man die finanziellen Entscheidungen zu treffen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stahl?
Bitte sehr, Herr Kollege Stahl.
Herr Kollege Grüner, würden Sie mir zustimmen, daß es notwendig ist, neben der Deutschen Demokratischen Republik, was die Zusammenarbeit auf diesen Gebieten, die wir eben angesprochen haben, betrifft, vor allem auch die anderen osteuropäischen Länder gemeinsam mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mehr zu bewegen? Nur dies schafft doch Entlastung. Wie beurteilen Sie die Chance, daß die 30 %-Regelung tatsächlich eingehalten wird?
Herr Kollege, ich teile Ihre Meinung. Um so bedeutsamer ist natürlich das Festhalten am Verursacherprinzip, die Mobilisierung der eigenen Kräfte in diesem Lande. Es ist sicher mit Recht gesagt worden, daß die mangelnde Energieeffizienz gerade in den osteuropäischen Staaten ein zentrales wirtschaftliches und ein noch zentraleres umweltpolitisches Problem für diese Staaten darstellt. Aber es wäre eine Täuschung der Öffentlichkeit, wenn wir den Eindruck erwecken würden, wie das der Antrag der GRÜNEN tut, das ließe sich beheben, wenn wir entsprechend in die Taschen greifen. Das ist der zentrale Ansatz.
Ich teile durchaus die Überlegungen, die Sie hier anstellen, Herr Kollege Stahl.Im Vordergrund müssen daher Demonstrationsprojekte stehen, mit denen Initialzündungen zur flächendeckenden Verbesserung des Umweltschutzes in der DDR möglich sind, die für die DDR Priorität haben — es ist eine wichtige Voraussetzung, wenn man mit gleichberechtigten Partnern verhandelt, daß man ihnen nicht sagt und nicht sagen darf, was man von ihnen erwartet — , und die gleichzeitig eine Verbesserung der Umweltqualität bei uns bewirken. Darüber sind wir uns einig. Die politische Zustimmung zu solchen Finanzierungen werden wir auf Dauer nur erreichen können, wenn wir unseren Mitbürgern sagen können: Das geschieht unmittelbar auch in unserem Interesse.Es geht also bei dem Projekt, das die Bundesregierung dank der Unterstützung des Bundestages in die Wege leiten kann, um Technologietransfer im Bereich der Umwelttechnologie. Ich betone noch einmal: Unsere Erwartung ist, daß das keine Einbahnstraße ist. Gerade eine an Ressourcen so knappe Volkswirtschaft wie die der DDR — jedenfalls im Vergleich zu uns — ist mit Sicherheit angesichts der menschlichen Kapazitäten in der Lage, interessante Technologien zu entwickeln, die auch für uns nutzbar sind und die vielleicht stärker, als das bei uns üblich ist, auf die knappen Ressourcen Rücksicht nehmen.Insofern meine ich, daß es eine Zielsetzung in unseren Gesprächen mit der DDR sein muß, auch den Versuch zu machen, eine Zweibahnstraße herzustellen. Man darf nicht den Eindruck erwecken: Da kommt der reiche Onkel aus der Bundesrepublik Deutschland und sagt den Leuten drüben, was sie machen sollen, und er finanziert das. Das hielte ich für eine ganz gefährliche politische Entwicklung, die nicht lange tragen würde.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 9001
Parl. Staatssekretär GrünerDie grundsätzlichen Möglichkeiten, in diesem Sinne umwelttechnologisch zusammenzuarbeiten, hat der Deutsche Bundestag mit der Verabschiedung des Bundeshaushaltes 1989 eröffnet. Dort ist in dem Investitionstitel des Bundesumweltministeriums ausdrücklich die Mitfinanzierung von Demonstrationsprojekten in der DDR als ein Verwendungszweck der Mittel aufgeführt. Ich halte es auch für ganz wichtig, daß dieser Titel gleichzeitig zur Förderung von Demonstrations- und Pilotprojekten hier bei uns dient. Es ist nicht die Idee, hier eine Sondersituation zu schaffen, sondern so, wie wir aus dem Titel, wenn die Voraussetzungen gegeben sind, Demonstrationsprojekte bei uns finanzieren können, soll es auch in der DDR sein.
Auf die Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau ist hingewiesen worden. Ich will auch nicht wiederholen, was über die Möglichkeiten des Swings gesagt worden ist; er macht besonders deutlich, daß es politischer Prioritätsentscheidungen der DDR bedarf.Sowohl dem Verursacherprinzip wie auch unseren vom Parlament festgesetzten finanziellen Möglichkeiten widerspricht allerdings der Vorschlag der Fraktion der GRÜNEN zur Einrichtung eines Umweltfonds. Mit solchen, wie ich meine, unbedachten und unpolitischen Vorschlägen ist außerdem die Gefahr verbunden, daß konkrete Fortschritte im Moment verhindert werden. Bei solchen Angeboten kann sich in der DDR der Eindruck geradezu aufdrängen, daß sie nur lange genug warten müsse, um letztlich Umweltschutz zu Lasten Dritter realisieren zu können. Und unterschätzen Sie die Bedeutung dieses Arguments nicht! Das wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß dort staatliche Behörden die Investitionsentscheidungen treffen und wie schwer sie sich tun, diese Prioritätsentscheidungen zugunsten des Umweltschutzes zu treffen, und zwar gerade wegen der Kostenwirkungen.Deshalb, meine ich, gehört in diesen Zusammenhang ein sehr ruhiges und bedachtsames Vorgehen zu dem, was im Augenblick das Gebot der Stunde ist. Das Parlament hat der Bundesregierung den notwendigen Spielraum zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit — ich betone es noch einmal — im Bereich des Technologietransfers eingeräumt. Wir sollten ihn zusammen mit der DDR nutzen, ohne jede Bevormundung, ohne jede Hochnäsigkeit, ohne jede Berufung auf unsere materiellen Möglichkeiten, und dann im Lichte der gemachten Erfahrungen Bilanz ziehen. Dazu ist es mit Sicherheit vor Beginn einer konkreten Demonstrationsprojektförderung, die wir ja angeboten haben, weiß Gott zu früh.
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3661 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 und den Zusatztagesordnungspunkt 3 auf:
16. Beratung des Antrags der Abgeordneten Schmidbauer, Carstensen , Dörflinger, Eylmann, Fellner, Dr. Friedrich, Dr. Göhner, Harries, Dr. Lippold (Offenbach), Niegel und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Baum, Kleinert (Hannover), Frau Dr. Segall, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDP
Verbot von Pentachlorphenol — Drucksache 11/3599 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Garbe, Dr. Knabe, Frau Teubner, Frau Vennegerts und der Fraktion DIE GRÜNEN
Maßnahmen gegen Umweltbelastung und Gesundheitsgefährdung durch Chlorphenole und bromhaltige Flammschutzmittel
— Drucksache 11/3904 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte eine Stunde vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch dies beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Göhner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Chemikalie Pentachlorphenol muß vollständig und dringend verboten werden. Das ist die klare Aussage des vorliegenden Antrages der Koalitionsfraktionen. Wir wollen dieses umfassende Verbot möglichst europaweit durch eine EG-Richtlinie durchsetzen, notfalls allerdings auch — dies stellen wir in dem Antrag ausdrücklich fest — durch einen nationalen Alleingang.PCP ist biologisch schwer abbaubar und wirkt stark giftig auf die Umwelt. Es bestehen Hinweise, wenn auch keine exakten Nachweise für chronisch schädigende Wirkungen durch Ausgasung von PCP aus behandelten Erzeugnissen. Wir begrüßen deshalb auch, daß alle bedeutenden Hersteller von Holzschutzmitteln in der Bundesrepublik bereits seit Mitte 1985 PCP nicht mehr verwenden. Aber es gibt nach wie vor Importwaren bei Holz, bei Textilien, die mit PCP behandelt sind, und es gibt den Versuch eines ausländischen Herstellers, PCP über eine deutsche Tochterfirma im Bundesgebiet wieder in den Verkehr zu bringen. Wir brauchen deshalb dringend die Rechtsgrundlagen, um das zu verhindern.Schon im Frühjahr 1987 hat die Bundesregierung eine Verordnung zum Verbot von PCP verabschiedet. Diese Verordnung wird derzeit noch bei den Europäischen Gemeinschaften blockiert.
Metadaten/Kopzeile:
9002 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Dr. GöhnerDie EG hat einen eigenen Richtlinienentwurf vorgelegt, der allerdings das Papier nicht wert ist. Es wird gesagt, daß dieser gefährliche Stoff im Grundsatz zu verbieten sei, zur Behandlung von Textilien und Holz aber erlaubt bleiben soll. Das ist eine Verhöhnung der bisherigen Forschungsergebnisse zu diesem Stoff.
Es reicht nicht, daß PCP bei uns nicht produziert und auch nicht mehr angewandt wird.
Wir importieren PCP-haltig imprägnierte Hölzer z. B. durch Obstkisten. Wir importieren Textilien, die PCP-haltig gegen Pilzbefall behandelt sind. Im Sommer dieses Jahres sind Untersuchungen in Sachen Klärschlamm in Hinblick auf Dioxinbehandlungen bekanntgeworden. Die Wissenschaft kennt nicht die exakten Ursachen, aber es wird vermutet, daß eine wesentliche Quelle auch dieser Dioxine in Klärschlämmen bei PCP liegen könnte.Angesichts dieser Problematik ist es um so dringender, ein umfassendes PCP-Verbot zu erwirken. Wenn es bis zum Ende dieses Jahres keine EG-Richtlinie mit einem solchen umfassenden Verbot gibt, muß eine nationale Verordnung in Kraft treten, die auch den Import von PCP-behandelten Hölzern und Textilien verbietet. Ich weiß, daß diese Importkontrolle in der Praxis außerordentlich schwierig sein wird. Deshalb sollten schon heute seitens der Bundesregierung Initiativen ergriffen werden, um mit den Bundesländern darüber zu reden, wie man solche Importkontrollen wirksam gestalten kann.Die EG-Kommission hat schriftlich mitgeteilt, daß sie gegen einen nationalen Alleingang der Bundesrepublik klagen wird. Wir müssen das zur Kenntnis nehmen. Bundesminister Töpfer hat, auch schon hier im Plenum, dankenswerterweise klargestellt, daß er dieser Frage im Lichte der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, mit der aus Gründen des Gesundheits- und Umweltschutzes erweiterte Möglichkeiten auch zu nationalen Maßnahmen eingeräumt werden, gleichwohl in dem Sinne nachgehen werde, daß ein nationaler Alleingang vollzogen wird, falls keine EG-Regelung zustande kommt. Daß zuvor eine EG-Regelung noch einmal versucht wird — das möchte ich hier allerdings unterstreichen — ist vernünftig und notwendig; denn auch in dieser Frage gilt,
was andere Redner vorhin zu einem anderen Thema, z. B. Sie, Herr Stahl, betont haben, daß nämlich Umweltbelastungen nicht an den Grenzen haltmachen. Deshalb hätten wir das gerne EG-weit. — Es hat mit Zuwarten, Herr Kollege Stahl, gar nichts zu tun. Wenn wir in der Bundesrepublik das Verbot der Herstellung und das Verwendungsverbot praktisch ohnehin durchgesetzt haben, dann geht es im wesentlichen um die Frage: Wie schaffen wir eine Rechtsgrundlage, um auch den Import zu erreichen? Das ist eine Sache, die hier nicht realisiert ist.Meine Damen und Herren, wir wollen unseren Antrag aber auch zum Anlaß nehmen, den Anwendungsbereich des PCP-Verbotes nach der vorliegenden Verordnung kritisch zu überprüfen. Wir tun bisher so— alle Seiten des Hauses haben das festgestellt —, als ob diese Verordnung der Bundesregierung ein vollständiges PCP-Verbot beinhaltet. Das ist aber bei näherem Hinsehen nicht der Fall. Deswegen sollten wir den Anwendungsbereich kritisch überprüfen. Die Verordnung erlaubt nämlich weiterhin die Anwendung von Zubereitungen mit bis zu 0,5 % PCP. Das hört sich zunächst wenig an. Aber Professor Hagen-maier von der Universität Tübingen, ein auf diesem Gebiet außerordentlich angesehener und geschätzter Wissenschaftler, beispielsweise meint, daß für ein Fungizid eine solche Konzentration zum Erzielen der erwünschten Wirkungen im allgemeinen völlig ausreichend sei. Das gehe auch eindeutig aus Firmenschriften aus den 60er Jahren zur Anwendung des PCP in verschiedenen Einsatzbereichen hervor.Im Klartext: Für zahlreiche Anwendungsbereiche bliebe nach diesem Verordnungsentwurf der Bundesregierung PCP nach wie vor einsetzbar. Ich weiß, daß die 0,5-%-Grenze im Hinblick auch auf die Möglichkeiten der EG aufgenommen wurde. Sie ist deshalb auch von keiner Seite dieses Hauses kritisiert worden, bemerkenswerterweise übrigens auch nicht durch den von den GRÜNEN heute vorgelegten Entschließungsantrag. Richtig ist ja auch, daß in den Holzschutzmitteln in der Bundesrepublik Deutschland PCP überhaupt nicht mehr verwendet wird. Es gibt allenfalls noch einen Verunreinigungsgrad von 0,1 %, der vernachlässigt werden kann. Die entscheidende Frage, ob wir diesen Spielraum von 0,5 % bis 0,1 vermindern können, werden wir in den Beratungen auch im Umweltausschuß sorgfältig prüfen müssen. Die jedenfalls über 0,1 % hinausgehende Zulassung— also bis 5 % bei Zubereitungen z. B. von Holzschutzmitteln — würde sich damit praktisch als ein Schutz für ausländische Hersteller erweisen.In dem Fall, daß eine EG-Regelung nicht zustande kommt und wir dann im nationalen Alleingang bei diesem Wert keine besondere Rücksicht nehmen müssen, um den Kompromiß auf EG-Ebene zu erreichen, sollten wir in diesem Sinne den Anwendungsbereich kritisch überprüfen und auf eine Herabsetzung hinwirken.Dabei müssen wir, denke ich, auch überprüfen, ob die Produktkonzentration von 5 mg/kg bei mit solchen PCP-haltigen Mitteln behandelten Textilien oder Hölzern akzeptabel bleibt oder ob auch hier— entsprechend einer Verminderung bei den PCP-Zubereitungen — eine Verminderung möglich ist.Ich meine, man sollte diese Forderung von Professor Hagenmaier, der auch die Dioxinuntersuchungen im Klärschlamm durchgeführt hat, gerade vor dem Hintergrund dieser Problematik sehr ernst nehmen und sorgfältig überprüfen.Der Umweltausschuß hat in dieser Woche sehr ausführlich über die Klärschlammproblematik diskutiert, auch über die überflüssigen Schnellschüsse, die es aus der SPD-Fraktion dazu gegeben hat. Bei diesen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 9003
Dr. GöhnerThemen zeigt sich, daß solche Schnellschüsse völlig deplaziert sind.
— Herr Stahl, Ihre Kritik am Verhalten des Ministers, daß er zu weitgehende Verwendungsbeschränkungen erlassen habe, ist ja eine besonders scharfe Kritik an dem Verhalten der SPD-Bundestagsfraktion, die darüber hinausgehend das sofortige Verbot der Verwendung von Klärschlamm in der Landwirtschaft gefordert hatte, also etwas, was in den bisherigen Untersuchungen keine Stütze findet. Aber dann darf man nicht aus der gleichen Fraktion Herrn Töpfer kritisieren, wenn er eine weitergehende Verwendungsbeschränkung erläßt. Ich sehe auch mit Interesse, daß die nordrhein-westfälische Landesregierung überhaupt nicht daran denkt, diesem Schnellschuß der SPD-Bundestagsfraktion nachzukommen und etwa ein Verbot — was sie ja durch eine entsprechende Empfehlung könnten — im eigenen Land durchzusetzen.Ich glaube, daß gerade diese Parallele deutlich macht: Wir müssen die Auswirkungen von PCP auf Dioxine und damit auch die Möglichkeiten eines umfassenden und vollständigen PCP-Verbotes überprüfen und deshalb auch die von uns begrüßte Verordnung der Bundesregierung im Falle eines nationalen Alleinganges hinsichtlich einer Verschärfung, einer Herabsetzung der Werte, erneut überprüfen. Wir werden das, denke ich, gemeinsam im Umweltausschuß tun können.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um das Fazit vorwegzunehmen: Wir teilen die Grundposition des Antrags und werden nicht nur hier zustimmend dazu reden, sondern wir wollen es auch positiv im Ausschuß begleiten. Das heißt aber nicht, daß wir dazu keine Anmerkungen machen müßten.Erste Anmerkung. Ich glaube, es ist zu problematisch, die Frage der chlorierten Kohlenwasserstoffe auf PCP zu verengen; dazu komme ich gleich noch einmal ausführlicher.Zweite Anmerkung. Wir müssen auch sehen: Die Forderung nach einem Verbot von PCP steht nicht erst seit 1987, als Ihre Initiative eingeleitet wurde, sondern ist sehr viel älter.
Im nachhinein, wenn man Ihre heutigen Aussagen hört, wo Sie selbst die Problematik zugestehen, muß man als Bundestag natürlich sagen: Wir haben in der PCP-Frage leider viel Zeit verschenkt.Ich möchte, bevor ich zu den einzelnen Punkten komme, eine weitere Anregung machen: Ich bitte Sie, damit einverstanden zu sein, daß wir diesen Antrag nicht nur an die vorgesehenen Ausschüsse, sondern auch an den Rechtsausschuß überweisen. Ich halte es für unverzichtbar, diese Problematik — also nationaler Alleingang — auch im Rechtsausschuß ausführlich zu behandeln.
Wir sollten es auf jeden Fall erweitern. Ich glaube aber, damit sind Sie einverstanden. Dazu wird übrigens mein Kollege Stiegler die entsprechenden Ausführungen machen.Ich komme zum Thema selbst: Seit rund zehn Jahren zeigen viele Ärzte zunehmend viele Krankheitsbilder und Krankengeschichten auf, wo die Ärzte selbst nicht wissen, wo die Ursachen liegen. Es geht dabei insbesondere um eine breite Palette von Beschwerden wie Kopfschmerzen, Gleichgewichtsstörungen, Depressionen, Konzentrationsschwächen oder auch Muskelschwächen, wo trotz aller Unklarheiten immer die Vermutung geäußert wurde: Sie sind insbesondere auf Rückstandsmengen von chlorierten Kohlenwasserstoffen zurückzuführen. Genannt werden insbesondere das Pilzgift PCP, also Phentachlorphenol, oder der Insektenvernichter HCH, also Lindan, oder andere hochgiftige Dioxine.Wir müssen hier heute einfach feststellen, daß obwohl wir eine Vielzahl von Hinweisen auf Beschwerden hatten, das Bundesgesundheitsamt, aber auch andere verantwortliche Stellen in der Bundesrepublik bei dieser Problematik eine höchst unzureichende, ja, sogar sehr kritische Rolle gespielt haben. Ich erinnere daran, daß insbesondere das Bundesgesundheitsamt über Jahre hinweg nur abgewiegelt hat und jede wirklich intensive Beschäftigung mit der Problematik oder auch nur die Annahme, die Hypothese, daß die chlorierten Kohlenwasserstoffe entsprechende Wirkungen hervorrufen könnten, beiseite geschoben hat, und zwar in einer, wie ich heute meine, unverantwortlichen Weise. Unsere Kritik gilt in hohem Maße dem Bundesgesundheitsamt, das seiner Aufgabe, frühzeitig vorsorgend zum Schutze der Menschen einzugreifen, nicht gerecht wurde.In der Zwischenzeit — Herr Göhner, da bin ich etwas anderer Auffassung als Sie — kann man nicht mehr davon reden, daß im Hinblick auf chlorierte Kohlenwasserstoffe in hohem Maße nur Verdachtsmomente, krankheitsverursachend zu sein, bestehen. Ich weise insbesondere darauf hin, daß es in der Zwischenzeit weltweit computergestützte Diagnosen über die Gehirntätigkeit von Menschen gibt, die insbesondere mit chlorierten Kohlenwasserstoffen in Berührung gekommen sind. Diese Untersuchungen haben in der Tat eindeutige und — lassen Sie mich das hinzufügen — erschreckende Ergebnisse gehabt.Durchgängiger Befund dieser Untersuchungen ist, daß mehr als 50% der Menschen, die in diesem Zusammenhang diagnostiziert wurden, einen erheblich blockierten Blutfluß im Gehirn haben. Bei vielen dieser Menschen sind heute Gehirnstrukturen festzustellen, wie sonst nur bei Greisen zu finden sind. Das heißt: Ganze Regionen des Gehirns der Menschen, die intensiver mit bestimmten chlorierten Kohlenwasserstoffen in Berührung gekommen sind, sind nicht durchblutet. Das bedeutet: Diese Schäden sind nicht
Metadaten/Kopzeile:
9004 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Müller
psychosomatisch, sondern sie haben eine entscheidende organische Ursache.Insofern ist sehr wohl zu vermuten — diese Vermutung muß ernsthaft geprüft werden — , daß es sich bei dem Problem PCB und bei den Beschwerden der durch Holzschutzmittel Geschädigten im Kern nicht nur um die Spitze eines Eisberges handelt. Es ist zu fragen, ob es nicht tatsächlich um ein sehr viel umfassenderes Problem geht, nämlich darum, daß eine jahrelange intensive Berührung mit chlorierten Kohlenwasserstoffen zu einer Anreicherung dieser Stoffe im menschlichen Körper führt, was erhebliche gesundheitliche Probleme und erhebliche gesundheitliche Schäden zur Folge hat.Ich kann von dieser Stelle aus nur sagen: Wir müssen gemeinsam über dieses Problem nachdenken. Diese Arbeitsergebnisse, diese Untersuchungsergebnisse können wir nicht beiseite schieben. Wir müssen, um unserer Verantwortung gerecht zu werden, dieser Problematik intensiv nachgehen.Es hat sich gezeigt: Wenn ein bestimmter Grad der Anreicherung im Körper erreicht ist, dann sind schon geringe Konzentrationen ausreichend, um chronische Schäden hervorzurufen. Das ist in der Tat alarmierend. Deshalb müssen wir eine ganze Menge tun.Eines ist auch klar: Chlorierte Kohlenwasserstoffe sind heute ja fast überall zu finden. Sie sind ja in fast allen Lösungsmitteln, in fast allen Reinigungsmitteln und in allen Entfettungsverfahren enthalten. Insofern handelt es sich um eine Gefahr, die überall besteht. Um so wichtiger ist es meines Erachtens, dieser Frage sehr sorgfältig nachzugehen.
Ich will nur vier Beispiele nennen, die mich außerordentlich alarmiert haben:Erstens. Es ist eine Kontrolluntersuchung zweier gleich großer Gruppen von Menschen durchgeführt worden. Die Mitglieder der einen Gruppen waren mit Unkrautvernichtungsmitteln bzw. mit chlorierten Lösungsmitteln in Berührung gekommen, die anderen hingegen nicht. Es war signifikant, daß die Probanden, die nicht intensiver mit den genannten Stoffen in Berührung gekommen waren, fast überhaupt keine Schädigungen aufwiesen, während die Angehörigen der anderen Gruppe zu über 50 % geschädigt waren.Ich nenne ein zweites Beispiel. Es gibt eine intensive Studie über fast 900 Arbeiter, die mit Lösungsmitteln und auch mit Unkrautvernichtungsmitteln in Berührung gekommen sind. In dieser Studie kam man zu dem Ergebnis, daß nahezu 60 % dieser Arbeitnehmer Gehirnstörungen aufwiesen; fast 50 % davon wiesen sogar schwere Schädigungen auf. Dies ist in der Tat alarmierend.Drittens. Wenn man spezielle hohe Konzentrationen von PER, Dioxin oder PCP in der Atemluft mißt, ist bei den Menschen, die dem besonders ausgesetzt sind, fast automatisch eine merklich erhöhte Störung der Durchblutung feststellbar.Viertens. Ich will die Untersuchung über die Holzschutzmittel-Patienten nennen. Von 900 Untersuchten hatten mehr als 700 Störungen im zentralen Nervensystem. Das sind alarmierende Zahlen.Meine Damen und Herren, hinzu kommen die anderen bekannten Beispiele: erstens die Allergiewirkungen, zweitens die Abnahme der Helferzellen, d. h. einer zentralen Funktion des Immunsystems — die Zerstörung der Helferzellen bedeutet, daß die Menschen für Krankheiten ganz schnell anfällig werden — , und drittens die Störungen im Konzentrationsvermögen, die sehr weit gehen.Ich glaube, wir müssen an Hand der Diskussion über den PCP-Antrag weiter auch darüber nachdenken: Es kann nicht nur um die PCPs gehen, also um Pentachlorphenol, sondern es muß um die gesamte Palette der chlorierten Kohlenwasserstoffe gehen.
In diesem Zusammenhang finde ich die Untersuchung aus der Schweiz hochinteressant. Eine der Schlußfolgerungen in der Schweiz aus den ganzen Chemieskandalen war, daß eine so große Firma CibaGeigy heute sagt: Wir akzeptieren, daß da ein erhebliches Gefährdungspotential ist, und wir wollen deshalb eine Strategie entwickeln, um insbesondere aus den chlorierten Kohlenwasserstoffen schrittweise auszusteigen. So etwas kann man nur begrüßen.Wir wollen ja gerade die Innovationsfähigkeit der Industrie, aber eine Innovationsfähigkeit in die richtige Richtung. Ich finde, die deutschen Chemieunternehmen sollten sich in diesem Fall ein Beispiel an Ciba-Geigy nehmen.
Ich glaube, daß es deshalb nicht hilfreich ist, isoliert nur einzelne Stoffe zu behandeln, sondern daß es wichtig ist, einerseits sozusagen die Grundstruktur der chlorierten Kohlenwasserstoffe zu bewerten und andererseits zu fragen, welche davon denn tatsächlich notwendig sind. Nach der Schweizer Untersuchung ist man zu dem Ergebnis gekommen, daß bestenfalls 90 wirklich notwendig sind und davon mehr als die Hälfte in einer gewissen Übergangsphase zurückgedrängt, d. h. auf sie verzichtet werden könnte.Meine Damen und Herren, wir haben ungefähr 35 Millionen t synthetisierte oder als Nebenprodukt anfallende chlorierte Kohlenwasserstoffe im Umlauf. Es ist deshalb notwendig, nicht nur über das Verbot eines einzelnen Stoffes zu reden, sondern endlich zu der längst überfälligen, systematischen, langfristig ausgerichteten Chemiepolitik — das nennen wir ökologische Modernisierung der Volkswirtschaft — und zu einer systematisch angelegten Innovationspolitik in der Bundesrepublik zu kommen und von der Flickschusterei mit dem „Schadstoff des Monats" wegzukommen. In dieser Frage aber, in der langfristig angelegten Chemie- und Umweltpolitik, haben wir leider noch erhebliche Defizite aufzuweisen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Segall.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Mit dem Verbot der Chemi-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 9005
Frau Dr. Segallkalie Pentachlorphenol national und EG-weit wollen wir den Bürger vor diesem Mittel umfassend schützen. Dies entspricht dem Ziel unserer Chemikalienpolitik, Umwelt- und Gesundheitsgefahren durch die notwendigen Maßnahmen, erforderlichenfalls auch durch Verbot, zu begegnen. Weder kurzfristig noch langfristig dürfen chemische Produkte zu einem Risiko für Mensch und Umwelt werden. Hierzu haben wir bereits ein umfangreiches rechtliches Instrumentarium aufgebaut. Ich verweise nur auf das Chemikaliengesetz und die Gefahrstoffverordnung.Wir haben im Deutschen Bundestag wiederholt die Gefährlichkeit von Pentachlorphenol eingehend erörtert. Dieser Stoff findet sich praktisch überall, ist in der Umwelt außerdordentlich mobil, biologisch schwer abbaubar und wirkt stark giftig auf die Umwelt. Als problematisch kommt insbesondere hinzu, daß die zum Einsatz kommenden technischen Produkte Verunreinigungen anderer problematischer Stoffe enthalten, wie z. B. Dioxine und Furane.National sind aus der Einstufung von PCP als problematischem Stoff wichtige Konsequenzen gezogen worden. PCP wird in der Bundesrepublik nicht mehr hergestellt. Alle bedeutenden Hersteller von Holzschutzmitteln in der Bundesrepublik Deutschland haben die Verwendung von PCP als Wirkstoff im Holzschutzmittel eingestellt.
Mit der am 1. Oktober 1986 in Kraft getretenen neuen Gefahrstoffverordnung wurde das Verbot der Anwendung von PCP in Innenräumen unverzüglich wirksam.Die Bundesregierung ist ferner der Bitte des Bundesrats in seinem Beschluß zur Gefahrstoffverordnung, Sorge dafür zu tragen, daß die Verwendung von Pentachlorphenol in offener Anwendung baldmöglichst untersagt wird, rasch gefolgt. Am 20. Mai 1987 hat die Bundesregierung eine Pentachlorphenol-Verbotsverordnung beschlossen. Allein weil die Notifizierung bei der EG-Kommission immer noch nicht abgeschlossen werden konnte — wegen des Widerstandes anderer EG-Staaten —, haben wir bisher noch kein nationales und auch kein EG-weites Verbot. Das Verbot brauchen wir aber dringend, da nur so importierte mit PCP behandelte Produkte von Verbrauchern ferngehalten werden können. Gerade auch im Hinblick auf den EG-Binnenmarkt brauchen wir eine europäische Lösung. Zudem stehen umweltfreundlichere Ersatzstoffe ohne weiteres zur Verfügung.Der von der EG-Kommission im April 1988 vorgelegte Vorschlag für eine Richtlinie zur neunten Änderung der Richtlinie für Beschränkungen des internationalen Inverkehrbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen kann keinesfalls genügen. Schon die Begrüdung der Richtlinie ergibt, daß hier schärfere Maßnahmen, nämlich ein generelles Verbot, angebracht sind. In der Begründung heißt es dazu, daß „Pentachlorphenol und seine Verbindungen gefährliche Stoffe für den Menschen und die Umwelt, inbesondere für die Gewässer" sind. Das ausdrücklich genannte Ziel der Richtlinie, nämlich wirksamer Schutz von Mensch und Umwelt, wird aber nicht erreicht, wenn, wie es der Richtlinienvorschlag vorsieht, ein generelles Produktionsverbot fehlt und die Verwendung von Pentachlorphenol und seiner Verbindungen zur Behandlung von Holz oder für die Imprägnierung schwerer Textilien gestattet werden.Unsere Haltung zu PCP ist also eindeutig: Wir halten uneingeschränkt an dem von der Bundesregierung vorgeschlagenen umfassenden PCP-Verbot in der EG fest. Wir brauchen das nationale Verbot. Wir brauchen aber auch ein EG-weites Verbot. Wir unterstützen daher die Bundesregierung mit unserem Antrag in ihren entsprechenden Aktivitäten. Der Entwurf der EG-Kommission bleibt hinter der Verordnung der Bundesregierung zurück und wird von uns abgelehnt.
Die Bundesregierung sollte also auf eine baldmögliche Verabschiedung der PCP-Verordnung hinwirken. Gerade auch im Hinblick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Einwegflaschenregelung in Dänemark sehe ich gute Chancen dafür, daß ein derartiges nationales Verbot vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand hat. Wir sollten es halt mal probieren.Wir bitten die Bundesregierung ferner, mit allem Nachdruck weiter auf eine umfassende EG-Regelung
zum Verbot von PCP zu drängen. Auch die EG muß diesem berechtigten Umweltschutzanliegen entsprechen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Vennegerts.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal geschehen noch Zeichen und Wunder in diesem Parlament. Heute liegt uns ein Antrag der Koalitionsfraktionen vor, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, das Dioxingift und Holzschutzmittel Pentachlorphenol baldmöglichst zu verbieten, und zwar notfalls im nationalen Alleingang, sollte sich ein Verbot in der EG nicht durchsetzen lassen.Wir freuen uns, daß ganze acht Jahre, nachdem wir GRÜNEN auf die große Gefährlichkeit dieses Giftes erstmals hingewiesen haben, auch die Koalitionsparteien das PCP nun zur Symbolchemikalie erhoben haben und ein Totalverbot beantragen. Im Herbst 1981 haben die GRÜNEN bereits den Skandal um die Dioxinfabrik Dynamit Nobel in Rheinfelden aufgedeckt. Dieses Unternehmen war damals der einzige bundesdeutsche Hersteller von Pentachlorphenol.Gegen die geballte Behördenwillkür von Landratsämtern, Regierungspräsidium, Landes- und Bundesregierung haben wir überhaupt erst bewiesen, daß diese Unheilchemikalie mit gefährlichen Dioxinen verunreinigt ist und daß diese Dioxine Mensch und
Metadaten/Kopzeile:
9006 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Frau VennegertsUmwelt in hohem Maße gefährden, nicht nur bei uns in der gesamten Bundesrepublik, sondern auch in der Dritten Welt, wo sie zur Pilzbekämpfung beim Holzeinschlag im tropischen Urwald eingesetzt wird. Obwohl die Beweise durch uns Stück für Stück auf die Behördentische gelegt wurden, obwohl sich die Holzschutzmittel- Geschädigten zu einer starken Interessengemeinschaft zusammenschlossen, ist jahrelang von Ihrer Seite nichts geschehen.
Sie haben der Dioxinvergiftung freien Lauf gelassen.
Das muß hier einmal gesagt werden. Natürlich ist das so passiert.Erst 1986 beendete die Firma — wie sie selbst zugab, auf Grund des öffentlichen Drucks, den die GRÜNEN und die Bürgerinitiativen entfacht hatten — freiwillig ihre PCP-Produktion. Denn auch der Verband der Chemischen Industrie wollte nun seine beiden schwarzen Dioxin-Schafe, Boehringer, Hamburg, und Dynamit Nobel, Rheinfelden, loswerden.Als wir hier im Bundestag begannen, die DioxinProblematik aufzugreifen, wurden wir von der Koalition als Panikmacher diffamiert. So versuchte der ehemalige Abgeordnete Boroffka in einer Aktuellen Stunde am 27. Januar 1984 die Probleme der Chlorkohlenwasserstoffe insgesamt als „giftgrüne Horrorschau" abzutun; denn er habe als Arbeiter bei Siemens vor 30 Jahren die Hände in Trichlorethylen gewaschen, und es habe ihm nicht geschadet. Trichlorethylen, meine Damen und Herren, ist krebserregend.Wohlgemerkt, erst nachdem der einzige PCP-Produzent in der Bundesrepublik seine Dioxin-Pforten geschlossen hatte, ging die Bundesregierung unter Minister Wallmann daran, eine Verbotsverordnung für PCP zu erstellen. Jetzt konnte man hierzulande ja keinem Konzern mehr weh tun.Erst der jüngste Skandal scheint die Koalition wachgerüttelt zu haben. Am 30. November letzten Jahres verunglückte ein Lastwagen bei Miesbach in Bayern,
und mehrere Fässer, die mit einer PCP-Ester-Mischung gefüllt waren, platzten. Es waren die GRÜNEN im Bayerischen Landtag, die die Behörden darauf aufmerksam machten, daß auch Dioxine ausgeflossen waren. Schriftliche Fragen, von uns unmittelbar darauf an die Bundesregierung gestellt, ergaben, daß bei uns auch heute noch ein munterer Handel mit PCP-Verbindungen betrieben wird.
Uns wurde mitgeteilt, daß dieses PCP von der RhonePoulenc stammt, in England mit Laurylsäure verestert und dann über die Böblinger Firma Schill & Seilacher nach Bayern transportiert wird, wo eine Verarbeitung zu einem Imprägniermittel für Zelte erfolgt. In Böblingen ermittelt übrigens im Moment die Staatsanwaltschaft gegen diese Firma. Inzwischen steht durch Analysen fest, daß diese PCP-Verbindungen so hoch mit Dioxinen verseucht sind, daß sie überhaupt nicht auf der Straße transportiert werden dürfen. In Böblingen stoßen wir auf die gleiche Behördenarroganz wie damals in Rheinfelden. Die Behörden sehen nichts, hören nichts und schweigen.Aber damit nicht genug. Nach Auskunft des Textilhilfsmittelverbandes werden bei uns jährlich noch 50 t dieser PCP-Verbindung umgeschlagen. Die in diesen 50 t enthaltene Dioxinmenge entspricht jener Menge, die jährlich aus allen Müllverbrennungsanlagen der Bundesrepublik in die Luft geblasen wird. PCP-Laurat wird vor allem im Ausland vielen Textilien zugesetzt. Die Textilien werden wieder importiert. Und wir tragen das PCP und die Dioxine damit direkt auf der Haut. So konnten 1986 in den Strümpfen einer Textilfabrik aus Schopfheim 300 mg pro Kilogramm Pentachlorphenol nachgewiesen werden.Das Gift wandert direkt durch die Haut in unseren Körper. Eine der Folgen wird uns in drastischer Weise im Umweltgutachten 1987 des Sachverständigenrates für Umweltfragen deutlich gemacht. Dort heißt es:Die bisher bekanntgewordene Belastung der Muttermilch mit der Stoffgruppe der Dioxine und Furane führt dazu, daß ein gestillter Säugling in der Bundesrepublik Deutschland täglich eine Menge aufnimmt, die erheblich über der liegt, die als vorläufige duldbare tägliche Aufnahmemenge für Erwachsene für vertretbar gehalten wird.Das ist nur ein Teil des täglichen Dioxinwahnsinns, der uns infolge der bisherigen „Tunichts-Politik" dieser Regierung noch jahrzehntelang begleiten wird.Meine Damen und Herren, wenn ein vernünftiger Antrag aus den Reihen der Koalition vorgelegt wird, so tragen wir ihn mit. Daher wird der PCP-Antrag unsere Zustimmung erhalten.Dennoch weisen wir in unserem Antrag auf zusätzliche Probleme hin, die in die Ausschußberatungen einfließen müssen:Erstens. Selbst nach einem PCP-Totalverbot wird es den Herstellern möglich sein, durch eine einfache Produktionsumstellung auf andere dioxinhaltige Chlorphenole umzusteigen. Und das muß verhindert werden.Zweitens. Eine weitere große Dioxingefahr geht von bromhaltigen Flammschutzmitteln aus, die Kunststoffen zugesetzt werden und schon in jedem Haushalt zu finden sind. Denken Sie nur einmal an Ihr Telefon. Ich denke, daß schnellstens ein Totalverbot auch dieser Chemikalien erfolgen muß.
Deshalb unser Antrag, dem Sie hoffentlich zustimmen werden, Herr Kollege Weng; denn sonst müßte ich Ihren Antrag für einen Schein-Antrag halten.
Das Wort erteile ich dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Grüner.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 9007
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung unterstützt den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP zu Pentachlorphenol. Auch sie sieht das Verbot dieses Gefahrstoffes als notwendig an. Im Mai 1987 hat das Bundeskabinett die Pentachlorphenol-Verbotsverordnung verabschiedet. Wir haben die bekannten und hier schon dargelegten Probleme bei der Notifizierung dieser Verordnung in Brüssel erfahren. Es ist darauf hingewiesen worden, daß die Richtlinie, die die Kommission vorgelegt hat, inhaltlich nicht den Vorstellungen entspricht, die wir an eine solche Richtlinie stellen, die natürlich den großen Vorteil hätte, wenn sie akzeptabel wäre, daß Pentachlorphenol in sehr viel größerem Umfange aus dem Verkehr gezogen würde. Der Richtlinien-Entwurf bleibt auf halber Strecke stehen. Wir erkennen sehr wohl den Verbraucherschutzaspekt, der im Entwurf enthalten ist, andererseits fehlt beispielsweise das Herstellungsverbot für Pentachlorphenol und seine Verbindungen.
Insgesamt hemmt dieser Vorstoß der Kommission zunächst einmal unsere innerstaatlichen Aktivitäten. Es fällt nicht ganz leicht, einen Alleingang zu machen, angesichts der Notwendigkeit, in Europa gemeinsame Lösungen zu finden, in Europa zu überzeugen und auch bei unseren Partnern nicht den Eindruck zu erwecken, daß wir diejenigen seien, die sozusagen ganz genau wüßten, wo es langgehen müsse. Uns in dieser Frage zu einem Alleingang durchzuringen ist also nicht einfach. Aber gerade bei den doch sehr eindrucksvollen Nachweisen, die über Pentachlorphenol vorliegen, müssen wir diesen Weg tatsächlich ins Auge fassen — mit all den Risiken, die wir dabei eingehen.
Ich möchte sehr davor warnen, derartige Entwicklungen mit so massiven Vorwürfen zu verbinden, wie das hier zum Teil geschehen ist. Man kann sich irren.
— Man kann auch Erkenntnisse zu spät gewinnen. Wir alle wissen, auf wie vielen Feldern wir durch moderne Meßverfahren zu neuen Erkenntnissen kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Partner-Regierungen in der Europäischen Gemeinschaft, denen diese Untersuchungen genauso vorliegen, wie sie uns vorliegen, gegenüber ihrer Bevölkerung so verantwortungslos handeln, wie das hier dargestellt worden ist.
Herr Kollege Müller, ich war von Ihrer Darstellung sehr beeindruckt, einer Darstellung, die ich mangels Fachkenntnis nicht beurteilen kann, was die CKWs anlangt. Aber ich muß das Bundesgesundheitsamt doch mit großem Nachdruck in Schutz nehmen.
Sie haben hier von einem unverantwortlichen Verhalten des Bundesgesundheitsamtes gesprochen. Meine
Damen und Herren, wenn wir Politiker nicht mehr das
Zutrauen zu Wissenschaftlern haben können, die Spitze in der Welt sind,
die gleichzeitig unabhängig sind — —
— aber das ist ja immer eingeschlossen, und wer wüßte das besser als wir Politiker, wenn wir alle Fehler, die wir gemacht haben, einmal Revue passieren lassen!
— Auch uns fällt das Bekennen gelegentlich schwer.
Ich mache mir diese Vorwürfe inhaltlich nicht zu eigen, weil ich sie nicht beurteilen kann. Aber ich bitte doch darum, die Auseinandersetzung in der Form zu führen, die es uns ermöglicht, zusammenzuarbeiten und die hohe Qualifikation dieser Einrichtung entsprechend zu würdigen.
Ich möchte zum Abschluß nur darauf hinweisen, daß Pentachlorphenol nicht das einzige Holzschutzmittel ist, das wir einer Regelung unterwerfen wollen. Zur Zeit finden im Ressortkreis Beratungen über eine Verordnung zur Beschränkung der Teeröle statt. Diese wirksamen Holzschutzmittel, die im Außenbereich, z. B. zum Schutz von Bahnschwellen oder Telegrafenmasten, Anwendung finden, besitzen ein krebserzeugendes Potential. Unser Ziel ist es, insbesondere den Verbraucher vor dem unmittelbaren Kontakt mit diesen Teerölen zu schützen. Und wir müssen versuchen, all das, was wir an Erkenntnissen auf diesem Gebiet haben, die Handlungsmöglichkeiten, die wir sehen, in der Europäischen Gemeinschaft zum gemeinsamen Konsens werden zu lassen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stiegler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin gebeten worden, aus europarechtlicher Sicht noch ein paar Bemerkungen dazu anzubringen.Ich fürchte eines: daß wir uns hier in Sachen Umweltpolitik zwar alle einig sind, aber uns leider die Kompetenz zur Regelung ausgegangen ist. Das wäre das Schlimmste, was uns in diesem Bereich passieren könnte. Dann wären alle Bekenntnisse hier nichts anderes als Beruhigungs- und Tarnveranstaltungen.Da ich mich immer als Jurist verstanden habe, der nicht nur überlegt, wie man etwas ablehnen kann, sondern auch, wie man etwas möglich machen kann,
meine ich, wir sollten uns im Rechtsausschuß und imUnterausschuß Europarecht mit der Frage des Wie der
Metadaten/Kopzeile:
9008 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
StieglerDurchsetzung befassen. Mir scheint, die Bundesregierung hat die Möglichkeiten der Regelung nicht ausgeschöpft und geht viel zu defensiv an die Sache heran; insbesondere hat sie die Möglichkeiten, die uns die Einheitliche Europäische Akte mit dem neuen Art. 100a Abs. 4 gewährt, überhaupt nicht ausgeschöpft.
Ich habe heute den ganzen Tag lang recherchiert. Die Beamten, bei denen ich den Art. 100a Abs. 4 zur Sprache gebracht habe, haben ihn zurückgewiesen, als hätte ich ihnen einen unsittlichen Antrag gemacht. Sie sagen: Das können die Dänen als erste machen, aber nicht wir. Sie wollen an diese Möglichkeit nicht heran, daß wir hier aus Umweltschutzgründen und Arbeitsschutzgründen darauf besinnen, eine Regelung zu machen,
die vom europäischen Recht abweicht und ihm vorauseilt und die durch ein Einfuhrverbot mittelbare Wirkungen auf die anderen entfaltet.Diese Möglichkeit ist gegeben.
— Nein; das ist leider Gottes nicht unstreitig. Bisher läuft das nach dem eingefahrenen Verfahren, zu sagen: Wir können Art. 36 nicht anwenden, weil schon eine Regelung besteht; die Bundesregierung hat notifiziert und muß jetzt ein Jahr lang warten; die Anmeldefrist läuft in ein paar Monaten ab; erst dann können wir nach dem alten Verfahren handeln.
Ich meine, wir können, indem wir nach Art. 100 a Abs. 4 vorgehen, schon sofort handeln. Wir müssen es darauf ankommen lassen, eine Auseinandersetzung mit der Kommission und dem Rat vor dem Europäischen Gerichtshof einfach zu riskieren.
Wir wollen in diesem Bereich die neue Vorschrift einfach ausloten. Wer die Kommentare zu dieser Vorschrift liest, die ja im Rahmen eines politischen Kompromißverfahrens, im Rahmen des Opting-Out, hereingekommen ist, stellt fest: Diese Vorschrift wird sehr unterschiedlich interpretiert. Die einen sagen: Um Gottes willen, wir wollen es ganz eng interpretieren; rührt nicht daran. Aber es gibt europaweit eine Reihe von Persönlichkeiten, gerade bei den Dänen, aber auch bei den Wissenschaftlern, die sagen: Das läßt neue Handlungsspielräume zu. Diese sollten wir in diesem Sinn, das wir selber sofort handeln, ausloten. Ich meine, wir werden im Rechtsausschuß sehr schnell zu einer entsprechenden Empfehlung kommen.
— Nein. Die EG-Versuche sollen parallel dazu weiter betrieben werden. Schauen Sie sich doch die EG-Situation an! Es liegt der Kommissionsentwurf vor. Dieser Kommissionsentwurf kann nur einstimmig ge-ändert oder mit Mehrheit verabschiedet werden. Die griechische Präsidentschaft hat ihn schlummern lassen. Kein Mensch weiß, was aus der spanischen Präsidentschaft wird.
Ich vermute aber, daß die Kommission bei ihrem Vorschlag bleiben wird. Das heißt, wir werden unseren Vorschlag in keinem Fall durchbekommen; wir werden bestenfalls überstimmt werden.Da wir das wissen, verhalten wir uns, bitte schön, gleich heute so, als ob wir überstimmt worden wären.
— Nein; nicht Kompromiß! Wenn Sie sich das Gesetzgebungsverfahren im Rat einmal anschauen, stellen Sie fest: Es gibt nur sehr begrenzte Möglichkeiten. Wir müßten Einstimmigkeit im Rat erreichen, um abzuweichen. Aber da die Holländer in diesem Verfahren schon bei dem jetzigen Vorschlag ausgestiegen sind, gibt es nicht die Spur einer Chance, daß wir auf europäischer Ebene sozusagen im Konsensverfahren zu einer vernünftigen Richtlinie kommen werden. Es wird mehrheitlich abgestimmt werden. Wir können nur mittelbaren Druck ausüben.Wir können vielleicht in einem helfen, indem die Untersuchungen, die der Kollege Müller dargestellt hat, auch den Brüsselern nahegebracht werden. Ich habe bei der Kommission recherchiert und in Erfahrung bringen müssen, daß die Bundesregierung bei ihrem Vortrag in Brüssel trotz gutwilliger Zuhörerschaft nicht allzu gut ausgesehen hat. Ich meine, die Bundesregierung hat eben nicht alles ausgeschöpft, was man vortragen kann, was man vortragen muß, und vielleicht bewaffnen Sie sich mit dem Kollegen Müller, dann kommen Sie weiter, Herr Staatssekretär. Ich kann Ihnen das nur empfehlen!
Er ist kundig genug, um so etwas voranzutreiben.In dieser Parallelität „Wir nutzen unsere nationalen Handlungsspielräume aus, und wir schieben Argumente in diesen Bereich nach" kommen wir voran. Alles andere ist Augenwischerei. Es werden wieder Jahre ins Land gehen, und in dieser Sache wird sich letztlich nichts ändern.
— Entschuldigung, wir haben sehr viel Zeit verloren, weil wir rechtlich die alten Wege gegangen sind. Wir könnten schon ein Jahr weiter sein. Nur am mangelnden Mut vor allem des Bundeswirtschaftsministers ist es gescheitert. Reden Sie doch mit den Beamten im Umweltministerium; die wären viel eher bereit, hier forsch heranzugehen. Der Bundeswirtschaftsminister
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 9009
Stieglerbremst und will hier nicht weiter voran. Lassen Sie uns hier drücken!
— Bitte schön.
Sie gestatten die Zwischenfrage?
Entschuldigung, Herr Präsident, vorauseilender Gehorsam hat mich veranlaßt, das zuzulassen.
Vielen Dank für das Entgegenkommen! — Bitte sehr.
Herr Kollege Stiegler, ist Ihnen bekannt, daß das Bundeswirtschaftsministerium und die betroffenen Verbände eher darauf drängen, das vollständige PCP-Verbot rechtskräftig zu bekommen, weil dadurch die Importwaren abgewehrt werden und weil unsere einheimische Industrie ja ohnehin keine PCP-haltigen Mittel mehr verwendet?
Verehrter Herr Kollege, Sie sind von der verkehrten Fragestellung ausgegangen. Es geht darum, die richtigen rechtlichen Mittel anzuwenden.
— Ich habe heute im Bundeswirtschaftsministerium mit der Frage recherchiert: Gehen Sie mit nach Art. 100 a Abs. 4? Bei der Vorstellung, daß sie so etwas anfassen sollen, ist denen vor Schreck der Bleistift aus der Hand gefallen! Daran liegt es. Die sind zwar, weil unsere Wirtschaft nicht betroffen ist, natürlich bereit, da mitzugehen, aber dazu, auch die Mittel anzuwenden, sind sie nicht bereit, weil sie Angst davor haben, daß das einreißt und daß andere das in anderen Bereichen auch machen.
— Nein, Herr Dr. Göhner, die wollen grundsätzlich die Möglichkeit, nationale Alleingänge zu machen, nicht in Betracht ziehen. Ich sage Ihnen: Wenn wir im europäischen Umweltschutz den Zug in Bewegung bringen wollen, müssen wir alle Möglichkeiten, die uns verblieben sind, ausschöpfen,
um Druck auszuüben, und darum bin ich für eine neue juristische Vorgehensweise.
Einen zweiten Punkt wollte ich noch ansprechen. Wir beraten ja im Rechtsausschuß zur Zeit das Produkthaftungsgesetz. Gerade in diesem Bereich ist PCP ein schlagender Beweis dafür, daß wir mit Recht
immer mehr zu der Erkenntnis gelangen, daß wir die Haftung für Entwicklungsrisiken brauchen,
weil gerade hier der Wissenschaft sozusagen erst langsam die Erkenntnisse dämmern, das aber gleichwohl nicht auf dem Rücken der Bevölkerung und der Verbraucher ausgetragen werden kann. Ich denke, gerade die Haftung für Entwicklungsrisiken in diesem Bereich wird auch die Bereitschaft, auf solche Stoffe zu verzichten, wesentlich steigern können. Wir haben hier ein zusätzliches Argument, um im Rechtsausschuß, wenn wir demnächst die Produkthaftung beraten, in diesem Bereich weiterzugehen, als die Bundesregierung bisher zu gehen bereit ist. Ich bitte Sie, da mitzuziehen.
— Eben nicht! Die Bundesregierung ist leider Gottes — —
— Entschuldigung, Töpfer ist dafür, aber die Bundesregierung, der Bundesjustizminister, hat einen Entwurf ohne Regelung des Entwicklungsrisikos eingebracht. Bitte schön: Helfen Sie mit, Herrn Töpfer zu überzeugen.
— Da sieht man schon: Immer dann, wenn es ernst wird, wenn man nicht nur Sprüche machen kann, wenn man handeln will, werden Sie wieder vorsichtig. Wir wollen aber Taten, nicht nur Reden.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lippold .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde das Engagement der Kollegen gerade aus der SPD immer wieder bestechend. Der Kollege Göhner hat darauf hingewiesen, daß das Bundesgesundheitsamt sich mit der Problematik von PCP seit 1975 beschäftigt. Jetzt stelle ich fest, in welch engagierter Form die beiden SPD-Kollegen die Bundesregierung zum Handeln auffordern. Seit 1975 sind jetzt immerhin 14 Jahre vergangen. Herr Stiegler, da hätte ich Ihr Engagement zu einem etwas früheren Zeitpunkt für förderlich gehalten. Ich sage das einmal, Herr Stiegler, weil wir bei einer ganzen Reihe von Diskussionen erleben mußten, daß Ihnen hinterher alles nicht schnell genug ging, was Sie vorher selbst nicht betrieben haben.Wenn es um gesicherte Erkenntnisse geht, dann weise ich einmal auf das Katalysator-Auto hin, das in Japan 1972 und in den USA 1973 eingeführt wurde. Da lagen gesicherte Erkenntnisse vor, und trotzdem haben Sie bis 1982 nichts gemacht. Das sind die Realitäten.
Metadaten/Kopzeile:
9010 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Dr. Lippold
Jetzt wollen wir hier einmal zu einer normalen Diskussion zurückkehren und sehen, was erforderlich ist und was getan werden kann. Frau Vennegerts, ich finde, Ihr Beitrag hat eigentlich im Kern nur deutlich gemacht, daß es primär darauf ankommt — Sie haben die Importproblematik besonders hervorgehoben —, zu einer EG-Vereinbarung zu kommen, EG-weit vorzugehen und die Quellen zu verstopfen, damit wir nicht mühsam an den Grenzen forschen müssen, ob nicht doch Umgehungen vorkommen, ob nicht doch Stoffe hereinkommen. Sie wissen, daß uns bei dem Binnenmarkt ab 1992 und den Erleichterungen an den EG-Grenzen gar nichts anderes übrig bleibt, als möglichst EG-weit das gleiche Schutzsystem, das gleiche Vorsorgesystem zu haben, um so Gesundheit zu schützen und Umweltschutz zu realisieren. Ich glaube, da sind wir schon lange im gleichen Boot. Nur, wie gesagt, uns geht es darum — da, Herr Stiegler, sind wir eben im fachlichen Vorgehen anderer Auffassung — , dieses zunächst einmal EG-weit zu versuchen und zu sehen, wie wir uns durchsetzen können, um dann alle Mittel auch national auszuschöpfen, die ausgeschöpft werden müssen. Ich glaube, da gibt es doch gar keine Frage.Der Kollege Müller hat angesprochen, daß in einem weiteren Sinne gehandelt werden muß, und er hat darauf hingewiesen, wie engagiert in der Schweiz vorgegangen wird. Da möchte ich doch einmal zu dem Gesamtkomplex Chemie sagen, daß wir die ersten und bislang einzigen gewesen sind, die z. B. die Konsequenzen aus den Katastrophen bei Sandoz in der Schweiz gezogen haben, und zwar mit einer kompletten Störfallverordnung und mit dem Regelwerk, welches notwendig ist, um das umzusetzen. Warum loben Sie das nicht auch einmal? Warum loben Sie nur eine einzelne Firma, die gerade in einem Bereich etwas tut? Wir können doch sagen, daß glücklicherweise unsere chemischen Unternehmen auf breiter Front seinerzeit Verbesserungen ergriffen und durchgesetzt haben. Das kann man doch dann auch einmal akzeptieren, statt nur solche peanuts an einem Einzelpunkt herauszugreifen.Sagen Sie dann doch auch einmal, daß es eine gute Leistung ist, wenn wir uns nicht mit Einzelstoffen auseinandersetzen, sondern wenn jetzt der Bundesumweltminister das Gesamtkonzept zur Altstoffprüfung neu geordnet, neu vorgelegt und effizienter gestaltet hat, damit wir hier nicht zu einem fallweisen Vorgehen kommen, sondern zu einem systematisch geordneten Vorgehen, das bei den Stoffen anfängt, die uns primär gefährden können, die primär die Umwelt belasten können. Das ist doch der Kernpunkt: nicht ein vereinzeltes Vorgehen — Herr Müller hat es ja vorhin angesprochen — , nicht der Gefahrstoff der Woche, sondern systematisches Handeln aus Vorsorgegedanken heraus und nicht aus einem vereinzelten Aktionismus heraus, der ja gar nicht sicherstellt, daß wir auch alles das erfassen, was erforderlich ist. Nein, ich glaube, daß unsere Vorgehensweise die wesentlich systematischere ist und daß wir deshalb gehalten sind, diesen Schritt fortzusetzen. Wir werden dies auch mit weiteren Novellierungen in diesem Bereich tun.Ich will jetzt nicht noch einmal auf die Gefährdungsmöglichkeiten und die Gefährdungen eingehen,
die von PCP ausgehen. Ich glaube, darüber sind wir uns einig. Ich würde aber eines nicht tun — und das auch wieder mit Blick zu dem Kollegen Müller —, nämlich dann ganze Stoffgruppen einzubeziehen und ohne jede Differenzierung nach Gefährlichkeit das, was bei den gefährlichsten Stoffen zu erwarten ist und wo wir wirklich sinnvoll und schnell Vorsorge treffen müssen, ganz einfach undifferenziert zu übertragen. Ich glaube, wir müssen eine Vorgehensweise wählen, die den Gefährdungskriterien entspricht. Wir müssen dies sauber herausarbeiten und uns dann mit aller Kraft auf die gefährlichsten Stoffe konzentrieren und hier Abhilfe schaffen. Nur so leisten wir wirklich einen vernünftigen Beitrag zur Vorsorge, zum Gesundheitsschutz und zum Umweltschutz in unserem Lande.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge auf den Drucksachen 11/3599 und 11/3904 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Außerdem sollen die Anträge zusätzlich zur Mitberatung an den Rechtsausschuß überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneten Frau Beck-Oberdorf und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Finanzierung empfängnisverhütender Mittel durch die Krankenkassen— Drucksache 11/597 —a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 11/3884 —Berichterstatter:Abgeordneter Haack
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 11/3885 —Berichterstatter:Abgeordnete Sieler StrubeZywietzFrau Rust
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Ist das Haus auch damit einverstanden? — Dann ist es so beschlossen. Wir werden so verfahren.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 9011
Vizepräsident StücklenIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Beck-Oberdorf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nun schon länger als ein Jahr her, daß hier über unseren Gesetzentwurf zur Finanzierung von Verhütungsmitteln durch die Krankenkassen debattiert wurde. Zunächst einmal wurde ja der fadenscheinige Versuch unternommen, so zu tun, als paßten Verhütungsmittel nicht in die Systematik der zu erstattenden Güter, weil sie nicht als Medikamente anzusehen sind, die der Behandlung einer Krankheit dienen.Fürwahr, der Wunsch nach Liebe und Sexualität ist keine Krankheit; ich würde ihn so nicht einstufen wollen. Das aber sind Schwangerschaft und Geburt ebenfalls nicht. Bisher jedoch kam niemand von Ihnen auf die Idee, diese Kosten aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen zu streichen. Das aber enthüllt nur, daß die Frage, was erstattet wird und was nicht, pure Ideologie ist. Die heilige Mutterschaft ja, aber Sexualität gehört eben immer noch in den Bereich des Bösen und ist deswegen selbstverständlich nicht von der Krankenkasse zu unterstützen.So wird meiner Kollegin Verhülsdonk ja auch schon angst und bange bei dem Gedanken, daß durch eine kostenfreie Abgabe von Verhütungsmitteln der — ich zitiere sie aus der letzten Debatte — „ungebremste, der blinde Sexualkonsum auch noch gefördert werden könnte". Nein, verehrte Frau Kollegin — nun ist sie leider heute nicht da; aber sie wird es ja vielleicht noch einmal nachlesen —, Sexualität wird es immer geben, mal mit mehr, mal mit weniger Liebe, mal mit, mal ohne Treue. Da wird auch ziemlich unbedeutend sein, was die GRÜNEN als Totengräber der Sexualmoral, als die Sie uns ja schon sehen, postulieren.Allerdings sind die Bedingungen, unter denen Liebe stattfindet, zu beeinflussen, ob mit mehr oder weniger Angst, eben auch Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft. Da spielt der freie Zugang zu Verhütungsmitteln eine große Rolle. Ja, da darf Verhütung auch niemals an der Größe des Geldbeutels scheitern.Aber nun entdeckte die Regierungskoalition ja flugs die Eigenverantwortlichkeit und persönliche Entscheidungskompetenz von Frauen in Sachen Sexualität.Ich zitiere noch einmal Frau Verhülsdonk:Der Umgang mit der menschlichen Sexualität gehört in den Bereich der höchst privaten Lebensführung. Hier hat der Staat nichts zu suchen.Sie erläuterte weiter ebenfalls im Zusammenhang mit Sexualität und Fortpflanzung:Vielmehr heißt nach unserem Verständnis Freiheit auch, Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung für persönliche Entscheidungen und Verhaltensweisen.Auch ihre liberale Kollegin Frau Würfel pflichtete ihr bei:Gerade bei der Familienplanung ... muß doch die eigene Verantwortung im Vordergrund stehen.Auch das ist ein Zitat.Sollten also die vielen Frauen und Frauengruppen, die seit nunmehr 20 Jahren für das Recht auf Selbstbestimmung über ihren Körper kämpfen, endlich Grund zum Jubel haben? Sollten die Regierungsparteien also doch noch ihre Haltung zum § 218 überdacht und auf ihr entmündigendes Beratungsgesetz verzichtet haben, weil diese Zitate es ja eigentlich nahelegen? Mitnichten! Selbstverständlich wurden hier die Begriffe der Freiheit, der Entscheidung und der Verantwortung nicht für Frauen eingefordert, die ungewollt schwanger geworden sind, sondern diese vornehme liberale Zurückhaltung des Staates aus dem Intimleben seiner Bürgerinnen und Bürger wurde wieder einmal selektiv bemüht, und zwar in diesem konkreten Fall dafür, Geld an einer Stelle einzusparen, wo es wirklich sinnvoll investiert wäre: bei der Finanzierung empfängnisverhütender Mittel durch die Krankenkassen.Ich möchte mich deswegen in dieser kurzen Runde auf das selektive Verständnis staatlicher Abstinenz und staatlicher Intervention konzentrieren, das uns hier je nach Anlaß einmal in einer Debatte über Verhütungsmittel, einmal in einer über § 218 von Christdemokratinnen dargeboten wird. Wo etwa blieb die Eigenverantwortung des einzelnen in der staatlichen Gemeinschaft, die nach Ansicht von Frau Verhülsdonk der Staat fördern muß, bei den Memminger Prozessen? Drückte sich der staatliche Respekt in dem berüchtigten Fragebogen aus, der an Zeuginnen verschickt wurde, etwa in Fragen nach Dauer und Zustand ihrer Beziehungen zum Partner, nach Hindernissen gegen Festigung der Beziehung, wann und wie oft sie mit wem unter welchen Bedingungen geschlafen hatten?Diesen Fragebogen, mit dem schamlos in den persönlichen Lebensverhältnissen von Frauen, die einen Abbruch haben vornehmen lassen, herumgeschnüffelt wurde — das setzt sich im Augenblick tagtäglich in Zeugenvernehmungen im Prozeß gegen Dr. Theissen fort — , haben Sie zwar nicht zu verantworten. Aber Sie sind mitverantwortlich für die Entstehung des gesellschaftlichen Klimas, auf dessen Boden solche Schnüffelpraxis durchsetzbar wird.Nun will sich allerdings auch die konservative Bundesregierung in ihrem Handeln nicht allein auf Strafandrohung beschränken, wie wir in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage lesen konnten. Nach ihren eigenen Aussagen geht ihr Bemühen dahin — ich zitiere —, „Notlagen schwangerer Frauen erst gar nicht entstehen zu lassen oder aber sie zu beheben, damit ein Abbruch der Schwangerschaft nicht mehr in Erwägung gezogen wird". Wohlgemerkt: Die Bundesregierung sieht ihre Aufgabe nicht darin, die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür zu verbessern, daß Frauen gar nicht erst ungewollt schwanger werden, sondern die ungewollte Schwangerschaft wird bereits vorausgesetzt. Die Konflikte, die hierdurch für viele Frauen entstehen, werden nur auf finanzielle Nöte reduziert. Dann werden alle familienpolitischen Register gezogen, um die betroffenen Frauen gegen ihren Willen zum Austragen einer Schwangerschaft zu drängen, wie z. B. mit der Stiftung „Mutter und Kind".
Metadaten/Kopzeile:
9012 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Frau Beck-OberdorfWer es als staatliche Verletzung von Eigenverantwortung und eigenen Entscheidungen bezeichnet, Geld für die Erforschung von Verhütungsmitteln, für Sexualpädagogik und für die Versorgung mit Verhütungsmitteln auszugeben, um dann denselben Staat mit Vehemenz heranzuziehen, Frauen hinsichtlich ihrer ureigensten Entscheidung darüber, ob sie Mutter werden wollen oder nicht, zu enteignen, der macht sich einer unverfrorenen Heuchelei schuldig.
Dann sagen Sie bitte klipp und klar, was Sie wollen.Sie haben offensichtlich kein Interesse an verstärkten Forschungsbemühungen für sichere und gleichzeitig unschädlichere Verhütungsmittel als z. B. Pille und Spirale. Sie halten auch die Möglichkeit zu einer angstfreien, lustvollen Sexualität nicht für wichtig. Das hat Frau Verhülsdonk ja leider in der ersten Lesung zu diesem Gesetzentwurf in peinlicher Weise deutlich ausgeführt. Vielmehr scheint sich hier durchzusetzen, was Männer offensichtlich instinktiv spüren: daß nichts ein besseres Unterdrückungsmittel gegen Frauen ist, als die in der latenten Angst vor Schwangerschaft zu halten, und daß genau diese Angst den Männern in der Gesellschaft ein gewisses Machtgefühl verleiht.
Abschließend möchte ich noch einmal betonen: Wir befinden uns mit unserem Gesetzentwurf zur Krankenkassenfinanzierung in guter Gesellschaft mit denjenigen Verbänden und Gruppen, die etwas von dem Thema verstehen und teilweise aus eigener Beratungspraxis beurteilen können, welch wichtiger Beitrag zur Schwangerschaftsprophylaxe gerade auch die Kostenübernahme von Kontrazeptiva wäre.Es gehört im übrigen auch nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß infolge der Gesundheitsreform mit ihren gestiegenen Rezeptgebühren, der erhöhten Eigenbeteiligung an den Kosten für Brillen und Zahnersatz und für weitere notwendige Heilmittel in Zukunft bei Bürgerinnen und Bürger mit niedrigem Einkommen auch einmal eher zu Lasten der bisherigen Haushaltsposten für Verhütungsmittel entschieden werden wird.Wir beziehen uns weiter auf internationale Erfahrungen — das ist alles belegbar — , wonach eine Verbesserung der gesamtgesellschaftlichen Aufklärung und Versorgung mit Verhütungsmitteln zusammen mit einer liberaleren Abtreibungsgesetzgebung insgesamt eine Senkung der Zahl sowohl von ungewollten Schwangerschaften als auch von Abbrüchen bewirken. Auch wenn die Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung das abstreiten: Es ist so.
— Ich nenne als Beispiel nur Dänemark.
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich um jüngere Frauen in der Schul- und Berufsausbildung verdient machen wollen, um Frauen, die schon mehrere Kinder haben und keine mehr wollen, überhaupt um die vielen Frauen bei uns, die immer noch wenig eigenes Geld zur Verfügung haben, wenn Sie es für ebenso wichtig erachten wie wir, daß Lebensplanungen nicht durch Frühschwangerschaften oder sonstige ungeplante Schwangerschaften jäh unterbrochen werden — sie werden für Frauen schmerzlich unterbrochen und nicht für Männer —, so sorgen Sie für Aufklärung und Kostenübernahme und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu. Wenn nicht, dann verschonen Sie bitte die Frauen mit Ihrer repressiven staatlichen Fürsorge, die immer erst erwacht, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dempwolf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viel Neues ist der Fraktion der GRÜNEN zur Begründung ihres Gesetzentwurfes zur Finanzierung empfängnisverhütender Mittel durch die Krankenkassen nicht eingefallen.
Ich will Sie auch nicht überfordern. Statt dessen haben wir wieder Ihre Philosophie von der streßfreien und lustvollen Sexualität gehört — ein Zustand der Glückseligkeit, der nun auch noch vom Staat finanziert werden soll.
Dies wäre ein Irrweg. Es kann nicht Aufgabe des Staates sein, ja, er soll sich gefälligst zurückhalten, auch die intimste Sphäre des einzelnen mit seiner Fürsorge zu überziehen.
— Ich habe Sie auch nicht unterbrochen, Frau BeckOberdorf. Ich habe ganz gut zugehört.
Mit Ihrer gesetzlichen Initiative erwecken Sie bei den Menschen eine Anspruchshaltung gegenüber dem Staat, der er nicht gerecht werden kann und es auch nicht sollte. Sie meinen außerdem, daß Verhütungsmittel ein unverzichtbarer Bestandteil der Gesundheitsvorsorge seien und deswegen in den Leistungskatalog der Krankenversicherung einbezogen werden sollen. Wo kommen wir hin, wenn jede Form der Vorsorge des einzelnen vom Staat in die Hand genommen werden sollte? Wo bleibt da der mündige Bürger?Alles menschliche Tun hat konkrete Folgen. Es ist unsere Aufgabe, unerwünschte Folgen unseres Tuns durch vorausschauendes Verhalten zu vermeiden. Dazu gehört für mich auch die Schwangerschaftsverhütung. Hier ist verantwortliche Vorsorgeentscheidung des einzelnen gefordert und nicht der Staat. Aufgabe des Staates kann es nur sein, die Verantwortung des einzelnen in bestimmten Bereichen zu fördern.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 9013
Frau DempwolfUm welche Verantwortungen geht es konkret? Es geht um einen Bereich der höchst privaten Lebensführung, um den Umgang mit der menschlichen Sexualität. In Ihrem Gesetzentwurf fordern Sie, daß Sexualität angstfrei genossen werden soll.
Hier zeigt sich ein reduziertes, für mich sehr reduziertes Sexualitätsverständnis. Psychologie und Anthropologie gehen zu Recht von einem ganzheitlichen Sexualbegriff aus, der eine Vielzahl von seelischen und körperlichen Reaktionen des Menschen einbezieht.
Sexualität, die nicht in eine zwischenmenschliche Beziehung eingebunden ist und Verantwortlichkeit von sich weist, führt zu Bindungslosigkeit und zu Genußsucht. Lust ohne Last, so läßt sich Ihre Begründung für die Krankenkassenfinanzierung von Verhütungsmitteln zusammenfassen. Das wäre aber kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt in den zwischenmenschlichen Beziehungen.Die Frage der Schwangerschaftsverhütung kann nicht auf eine technische Frage reduziert werden. Entscheidend kommt es darauf an, wie gefestigt die Bindung zwischen Mann und Frau ist. Das Vertrauen und die Zuneigung zueinander sowie das Verantwortungsgefühl für das gemeinsame Verhalten von Mann und Frau sind entscheidende Faktoren.Ich wundere mich eigentlich über Ihr Verhalten. Sie sind es immer, die dann, wenn Sie hier stehen und zu diesem Thema sprechen, zum Teil die Männer der Fraktionen angreifen, weil Sie sich nicht ernstgenommen fühlen. Wenn ich in Ihre Gesichter schaue, dann sehe ich eigentlich das, was Sie sonst immer so kritisieren.Unsere Auffassung vom Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Sie in Ihrem Gesetzentwurf ansprechen, beinhaltet auch, daß man Verantwortung für das eigene Verhalten übernimmt. Je mehr Freiheiten in der Gesellschaft gang und gäbe sind, desto mehr muß sich der einzelne seiner ureigenen Verantwortung in seinem Sexualverhalten stellen.
— Ich meine Männer und Frauen.Wenn es so einfach wäre, daß es mit Verhütungsmitteln zu keinem Schwangerschaftsabbruch mehr kommen könnte, dann kann ich mir nicht vorstellen, daß eine Ihrer führenden Damen Schwangerschaftsabbruch bekennt; denn da kann es ja sicher nicht an der Finanzierung gelegen haben.Aus diesem Grunde gehört auch die Finanzierung der empfängnisverhütenden Mittel nicht in den Aufgabenbereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Erst vor wenigen Wochen haben wir hier in diesem Hause eine Gesundheitsreform verabschiedet, um unser freiheitliches Gesundheitswesen für die Solidargemeinschaft der Versicherten leistungsfähig zu erhalten.
Das Reformgesetz zielt darauf ab, die Leistungen der Krankenkassen auf das medizinisch Notwendige zu konzentrieren. Insbesondere die Förderung der Eigenverantwortung in der Gesundheitsfürsorge soll verstärkt werden.Die Empfängnisverhütung gehört eindeutig in den Bereich der persönlichen Vorsorge, die man dem einzelnen generell zumuten kann. Für sozial Schwache wie Sozialhilfempfänger werden empfängnisverhütende Mittel durch die Krankenkasse zum Zwecke der Familienplanung finanziert.Nur am Rande sei angemerkt, daß die von Ihnen angegebenen Gesamtkosten Ihres Vorschlags keineswegs bei 600 Millionen DM liegen, sondern nach Auskunft der Medizinisch-Pharmazeutischen Studiengesellschaft bei nahezu dem Doppelten, nämlich bei 1,1 Milliarde DM pro Jahr. Wie auch immer, eine erneute finanzielle Mehrbelastung der gesetzlichen Krankenkassen würde den Reformerfolg beeinträchtigen.Gegen die Übernahme einer Leistung mit derartiger versicherungsfremder Zielsetzung durch die Krankenkasse können auch gesundheitspolitische Bedenken bestehen. So kann es z. B. durch eine Langzeitmedikation mit chemischen Verhütungsmitteln wie der Pille insbesondere bei jungen Menschen zu negativen gesundheitlichen Folgen kommen.Die Finanzierung von Verhütungsmitteln — das wage ich zu behaupten — kann sich auch negativ auf die Bereitschaft der Männer zur Mitverantwortung auswirken. Die Erfahrungen in anderen Ländern wie z. B. Schweden — ich nenne Schweden; Sie nahmen Dänemark — beweisen, daß die staatliche Finanzierung von Schwangerschaftsverhütungsmitteln Abtreibungen nicht verhindert, ja sie nicht einmal reduziert. Es ist ein Irrglaube, kostenlose Verhütungsmittel könnten Abtreibungssituationen verhindern.Wir bleiben dabei: Bei der Empfängnisverhütung stehen Aufklärung, medizinische Beratung und Bewußtseinsbildung im Mittelpunkt. Die Aufklärung muß im Elternhaus und in der Schule ansetzen. Hier kann der Staat fördernd eingreifen, und er tut es. Ich verweise auf eine neue Broschüre der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die sich speziell an junge Menschen richtet. Ein achtteiliger Film des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, der dieselbe Zielgruppe anspricht, wurde im deutschen Fernsehen bereits gesendet. Eine Broschüre dazu ist im Druck.Eine weitere Broschüre wendet sich an Ehepaare zum Thema der Familienplanung. Materialien für die Sexualerziehung in der Jugendarbeit stehen vor der Veröffentlichung. Wir meinen, dies sind Schritte in die richtige Richtung.Die zweite Forderung, die medizinische Beratung durch den Arzt über empfängnisregelnde Mittel, ist im Leistungskatalog der Krankenversicherung ja bereits verankert.
Metadaten/Kopzeile:
9014 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Frau DempwolfAuch die Maßnahmen sind zu nennen, die wir durch das geplante Beratungsgesetz vorsehen, und hier haben Sie Möglichkeiten mitzuwirken.
Die Schwangerschaftsberatungsstellen und Familienzentren müssen ausgebaut werden, so daß qualifizierte Berater Jugendlichen, Schulklassen und Familien in Sexualfragen und Familienplanung eine wirksame Hilfe leisten können. Es gilt, das Bewußtsein für eine gemeinsame persönliche Verantwortung von Mann und Frau in ihrer Liebesbeziehung zu wecken und zu stärken. Der Staat oder die gesetzliche Krankenversicherung haben hier keinen Handlungsbedarf.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Haack .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf der Fraktion der GRÜNEN zur Finanzierung empfängnisverhütender Mittel durch die Krankenversicherung. Darin wird vorgeschlagen, daß künftig die Kosten für diese Mittel durch die gesetzliche Krankenversicherung getragen werden. Die Kosten geben die GRÜNEN mit 600 Millionen DM an. Fachleute sagen, es handelt sich dabei — hochgerechnet — um einen Betrag von rund 1,1 bis 1,2 Milliarden DM.
Wir haben im Ausschuß ausführlich die verschiedenen Aspekte dieses Gesetzes beraten und sind als Fraktion der SPD zu dem Schluß gekommen, diesen Gesetzentwurf der GRÜNEN abzulehnen, und zwar allein aus dem Grund, daß es nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung sein kann, empfängnisverhütende Mittel unabhängig von der individuellen Bedürftigkeit zu finanzieren. Das geschieht in einer Situation, in der wir durch die Beratung des Gesundheitsreformgesetzes allgemein wissen, daß wir ab 1983 eine defizitäre Entwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung haben, und zwar in der Größenordnung von 2,5 bis 2,9 Milliarden DM. Durch dieses Gesetz packen Sie noch einmal 1 Milliarde DM drauf.
Für uns ist die Frage des Umgangs mit Sexualität ein Bestandteil der Lebensplanung. Es sollte somit Aufgabe der Familienberatungsstellen und Stellen der Sexualberatung sein, Betroffenen zu helfen. Frau Beck-Oberdorf, Sie haben in der ersten Debatte zu Recht darauf hingewiesen, daß die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen einen entsprechenden Beschluß gefaßt hat, der Ihrem Antrag entspricht. Ich habe mich einmal nach deren Konzeption erkundigt. Sie sagen, das soll alles eine Aufgabe der Ehe-, Familien- und Sexualberatungsstellen sein, und Bund und Länder müßten in diesem Zusammenhang die Mittel für diese Ehe- und Familienberatungsstellen entsprechend aufstocken. Sie sagen im Gegensatz zu Ihnen, nicht jeder soll das bekommen, sondern nur derjenige, der nicht in der Lage ist, das selber zu bezahlen.
Um der Debatte etwas von der Heftigkeit zu nehmen, habe ich mich für unsere Fraktion verschiedentlich erkundigt, wie der derzeitige Regelungsstand ist: Wenn jemand in einer Sexualberatungsstelle nach einer Beratung tatsächlich darlegt, daß er nicht in der Lage ist, entsprechende Verhütungsmittel zu bezahlen, dann werden ihm diese nach dem Bundessozialhilfegesetz vom jeweiligen Träger bezahlt. Natürlich ist dies — meine Damen und Herren, dies gebe ich Ihnen sofort zu — eine äußerst unbefriedigende Regelung. Neben der Beratung über Empfängnisverhütung und Schwangerschaftsabbruch sollten Familien-, Ehe- und Sexualberatungsstellen künftig die Möglichkeit haben, bei individueller Bedürftigkeit empfängnisverhütende Mittel abzugeben. Darüber werden wir in der Sozial- und Gesundheitsministerkonferenz demnächst mit den Ländern zu reden haben.Ich möchte zu einem anderen Aspekt, der insbesondere von Ihnen, Frau Beck-Oberdorf, in der Debatte angeführt worden ist, auch noch Stellung nehmen. Der natürliche Umgang mit Sexualität setzt das Wissen um Verhütungsmethoden voraus, damit es nicht zu einer ungewollten Schwangerschaft kommt. In diesem Zusammenhang hat sich die Arbeit der Ehe-, Familien- und Sexualberatungsstellen als unverzichtbar erwiesen. Bei den Beratungen im Ausschuß wurde das Problem des Schwangerschaftsabbruchs insbesondere von Ihnen und von unseren Frauen in der Fraktion angesprochen. Nach Angaben des statistischen Bundesamtes liegt die Zahl 1987 offiziell bei rund 88 000 Abtreibungen. Sie wird aber mit der Dunkelziffer auf rund 300 000 bis 350 000 im Jahr geschätzt. Ich denke, wer diese Zahlen beklagt, muß sich dann indirekt natürlich auch mit dem Problem der Finanzierung von Verhütungsmitteln befassen und Lösungen anbieten, wie Sie sie vorschlagen bzw. wie wir sie uns vorstellen.Es geht nicht an, Frauen an den Pranger zu stellen und gleichzeitig das Begehren nach Finanzierung von Verhütungsmitteln lächerlich zu machen, wie es in der ersten Lesung die Kollegin Verhülsdonk getan hat. Ich möchte hier noch einmal zitieren, wie sie dort argumentiert hat. Das Zitat aus der ersten Lesung heißt:Das heißt für mich, daß wir Erwachsenen den jungen Menschen wieder deutlicher vermitteln müssen, was richtiger Umgang mit der Sexualität für sie persönlich bedeutet. Blinder Sexualkonsum führt zu Bindungslosigkeit mit oft schwerwiegenden psychischen Langzeitfolgen für die Betroffenen.Ich habe mich bemüht, diesen Sachverhalt durch Lesen wissenschaftlicher Literatur aufzuklären. Ich muß Ihnen sagen, meine Damen und Herren von der CDU, fündig bin ich da nicht geworden. Aber, Herr Dr. Bekker, Sie werden mir das sicherlich zuschicken, weil Sie sagen, Sie wüßten es. Mit solchen Formulierungen begründete seinerzeit die Fraktion der CDU/CSU die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 9015
Haack
Ablehnung des Gesetzentwurfs. Hier wird aus unserer Sicht in einer subtilen Form die Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft geschürt.Wir Sozialdemokraten lehnen den vorgelegten Gesetzentwurf nicht aus ideologischen Gründen ab — das wollen wir damit deutlich machen — , wie dies die Fraktion der CDU/CSU tut. Wir halten die Behauptung für absurd, daß eine kostenlose Abgabe von empfängnisverhütenden Mitteln an Bedürftige den hemmungslosen Sexualkonsum in unserer Gesellschaft fördert. Konservative Ideologien, die sich die Angst vor ungewollten Schwangerschaften zunutze machen wollen, sind hier fehl am Platze.Wir Sozialdemokraten fordern statt dessen die Rücknahme des Entwurfs des Beratungsgesetzes und eine stärkere finanzielle Ausstattung aller vorhandenen Familien-, Ehe- und Sexualberatungsstellen — das scheint uns die adäquate Antwort zu sein —, verbunden mit einer Finanzierung der Verhütungsmittel nach Bedürftigkeit. Wir lehnen dieses Gesetz also ab.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Würfel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Erstattung der Kosten für Verhütungsmittel durch die gesetzliche Krankenversicherung lehnen wir Liberale ab. Bereits bei der vergangenen Behandlung dieses Themas im Plenum haben wir deutlich gemacht, daß wir dieser Erstattung aus den verschiedensten Gründen nicht zustimmen wollen.Ein wichtiger Aspekt bei der Entscheidungsfindung ist für mich der, daß durch die kostenlose Bereitstellung von Verhütungsmitteln durch die gesetzliche Krankenkasse überwiegend wieder einmal die Frauen dazu angeregt werden — wie auch bisher schon — , sich allein vollverantwortlich für Empfängnisverhütungsmaßnahmen zu fühlen. Das geht meines Erachtens in die falsche Richtung.Was wir brauchen, ist meiner Meinung nach etwas ganz anderes: Wir brauchen eine Aufklärung und eine Sexualpädagogik, die darauf abzielt, sich mit Sexualität als einer Kraft auseinanderzusetzen, die Verbindung schafft, wobei aus dieser Verbindung auch Leben, d. h. Kinder, hervorgehen können. Sexualität ist ein untrennbarer Bestandteil des Menschen, aber offenbar ist es der Teil des Menschen, auf den Frau und Mann in unserer Gesellschaft am allerwenigsten vorbereitet sind.Wir müssen uns schon fragen: Wie gehen wir mit der uns angeborenen Sexualität heute um? Wenn wir uns nicht konsequent mit dieser Frage auseinandersetzen, wird es uns auch in Zukunft nicht gelingen, auch auf diesem Gebiet eine Hinwendung zu mehr Partnerschaft im Umgang miteinander zu erreichen.Daß wir beim Umgang miteinander auf fast allen gesellschaftlichen Ebenen noch heute erhebliche Defizite zu beklagen haben, läßt sich auch auf eine mehr als 2000jährige wechselvolle Geschichte des Umgangs mit der Sexualität zurückführen. Ich benutze die verbleibenden Minuten, um Ihnen hieraus einige Kostproben zu vermitteln.Ich möchte mit Plato anfangen: Plato vollzieht mit seiner Ideenlehre und in der These vom Gegensatz zwischen Leib und Seele — Sie wissen alle: platonische Liebe — die Abwendung des abendländischen Menschen von der alten Lebensfreude und unbeschwerter Sinnlichkeit der altgriechischen Zeit hin zur leibfeindlichen und asketischen Betrachtung und damit auch zur antisinnlichen Anschauung.Die im alten Testament beschriebene mosaische Jahwe-Religion und ihre unzähligen Gesetze unterdrücken die Frau auf eine bisher in der Menschengeschichte noch nie dagewesene Weise: Die Frau ist nahezu aller Rechte beraubt und fällt am Ende unter das gesetzlich zu schützende Eigentum des Mannes, was seinen Ausdruck in der Formulierung findet: „Du sollst nicht begehren deines nächsten Weib, Knecht, Magd, Haus, Hof, Vieh und alles, was sein ist."Bei den Nachfolgern Moses und ihren unzähligen Geboten und Vorschriften sieht es nicht anders aus: Auf Ehebruch steht der Tod, aber nur wenn die Frau ihn begeht. Auf Vergewaltigung eines verlobten Mädchens steht der Tod durch Steinigung; aber es wird das Opfer gesteinigt, nicht der Täter, wenn diese Tat innerhalb der Stadtmauern geschah.Der Mann kann den Scheidebrief ausstellen und die Frau damit verstoßen, wobei andererseits die Frau, auch wenn sie als 12jährige mit einem Greis verheiratet wurde, zur absoluten Monogamie verpflichtet war.Der Prophet Hesekiel warnt mit bewegten Worten vor der Hurerei. Obwohl für den Mann jegliche Form von Sinnenfreude sowie die Haltung von Nebenfrauen und der uneingeschränkte sexuelle Mißbrauch von Sklavinnen und kriegsgefangenen Frauen erlaubt war, darf für die Frau die Sexualität ausschließlich in der Ehe stattfinden und dies mit einem Mann, den sie sich in den wenigsten Fällen selbst erwählt hat. Wir begegnen hier zum erstenmal einer erzwungenen Doppelmoral, die als ideologischer Bestandteil leider bis in unsere heutigen Tage fortgewirkt hat.Bedenken Sie einmal die mißtrauische Frage, die in unseren Gerichtssälen gestellt wird, ob sich das vergewaltigte Mädchen während der Vergewaltigung auch genügend gewehrt habe.Diese neue Sexualmoral tritt zum damaligen Zeitpunkt leider nicht nur in Israel auf, sondern wir finden sie in fast allen Kontinenten. Wie es weltweit möglich war, die Frauen als Wesen zweiter Klasse zu unterdrücken, ist bis heute nicht endgültig geklärt. Manche Erklärungsversuche beginnen bei der Schöpfungsgeschichte und der Darstellung des sogenannten Sündenfalls, die aus dem 5. Jahrhundert stammt und wo es heißt, daß die Menschen sehend werden und wissen, was gut und böse ist. Mann und Frau sehen sich gegenseitig an, und die, die sich vorher nicht „geschämt" haben, „schämen" sich jetzt und bedecken ihre Geschlechtsteile.Wissenschaftler interpretieren diese Textstelle so, daß die Erkenntnis von der Unterschiedlichkeit der
Metadaten/Kopzeile:
9016 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Frau WürfelGeschlechter und damit von der Sexualität schlechthin als etwas Böses dargestellt wird, dessen man sich zu schämen hat. Es entsteht der Eindruck, daß die Menschen sich vermehren sollen, daß aber Sexualität um ihrer selbst willen böse ist.Paulus führt als zentrales Element das Gehorsamsideal in die christliche Kirche ein. Sie wissen ja: Gehorsam sollte man gegenüber allen sein. Aber besonders gehorsam sollen die Frauen gegenüber ihren Männern sein, denn — Originalton Paulus — „die Frau ist vom Manne gekommen" .Immer wieder wird in vielen Briefen des Paulus an einzelne Gemeinden die Frau — übrigens ganz im Gegensatz zu Handlungen und Äußerungen von Jesus Christus — gegenüber dem Mann zurückgesetzt und zu Disziplin und Unterwerfung aufgefordert; denn ihr wurde unterstellt, zur Sinnlichkeit zu neigen und damit zur Sünde prädestiniert zu sein.Paulus sieht sich also fortwährend gezwungen, seine weiblichen und männlichen Christenbrüder vor den Verlockungen des Fleisches zu warnen und sie zu Gehorsam und Askese zu ermahnen, was dazu führte, daß die Frauen beim Gottesdienst abgesondert wurden und somit zum Schweigen gebracht worden sind.Danach, wie es heute in den Gemeinden aussieht, brauche ich wohl nicht zu fragen. Denn es stimmt ja wohl, daß das, was Paulus in der damaligen besonderen historischen Situation für seine christlichen Gemeinden für gut befand, weitgehend das kirchliche und damit auch das gesellschaftliche Leben für Jahrhunderte bestimmte.Im 1. Korintherbrief lehrt Paulus, daß Sexualität ein Mißbrauch des Körpers sei, indem er sagt:Die Speisen sind für den Bauch und der Bauch für die Speisen ... der Leib ist nicht für die Unzucht, sondern für den Herrn, und der Herr für den Leib. Fliehet der Unzucht, der Unzüchtige sündigt gegen seinen eigenen Leib.Paulus ist allerdings realistisch genug, um die Ehe zu billigen. Er schreibt im 1. Korintherbrief, daß es für die Menschen gut ist, kein Weib zu berühren, aber — Originalton —um der Verhütung von Unzuchtsünden willen soll jeder seine eigene Frau und jede ihren eigenen Mann haben.Paulus stellt die Weichen für die jahrhundertelang anhaltende Auseinandersetzung zwischen dem abstrakten Prinzip der Leibfeindlichkeit und der menschlichen Natur. Obwohl Paulus ein Einzelfall war, werden seine Ideen zu offiziellen Tugenden erhoben. Jede Art von Lebensgenuß, vitale Daseinsfreude überhaupt, gilt jahrhundertelang als Sünde, und es beginnt ein Missionsfeldzug ganz beispielloser Art.Das geht nachher so weit — ich muß hier ein bißchen kürzen — , daß der alleinige Zweck der Ehe die Zeugung von Kindern ist und daß der Geschlechtsverkehr zu anderen Zwecken völlig verpönt war. Die Frage ist, wie die katholische Kirche heute darüber denkt.Im Jahre 400 nach Christi beginnt die geistige Auseinandersetzung um den Begriff der Erbsünde, wobei sich Augustinus und Pelagius gegenüberstehen. Augustinus setzt sich mit der These durch, daß der Mensch sündig sei von Anbeginn. Augustinus erklärt die Ehe zum Sakrament und läßt den Geschlechtsverkehr zum Zwecke der Kinderzeugung für die Ehegatten zu. Der eheliche Akt, der zur Zeugung dient, ist frei von Schuld, wird er aber — Originalton — „zur Befriedigung der Begierde" vollzogen, ist er eine verzeihliche Schuld, solange dies in der Ehe erfolgt. Folgerichtig gibt es von nun an enthaltsame Tage, und von Kindern, die an empfängnisfreien oder an enthaltsamen Tagen gezeugt worden sind, meint Augustinus, daß diese unheilbare Krankheiten haben oder wenigstens von Dämonen besessen sein müssen.Zu Zeiten der deutschen Mystiker, etwa eines Heinrich Seuse, ist Sünde einfach alles, was über die Erzeugung von Nachkommen hinausgeht.Die Abwertung der Frau hat einen Grad erreicht, der sie beinahe auf eine Stufe mit einem nützlichen Haustier stellt. Der bedeutendste Kirchentheoretiker seiner Zeit, der Scholastiker Thomas von Aquin, beschreibt noch im Hochmittelalter die Frau als ein „animal imperfectum" , was nichts anderes heißt als: ein unvollkommenes Lebewesen.Von Aristoteles übernimmt das Mittelalter die Vorstellung, daß im männlichen Samen der ganze Mensch enthalten sei, der im Körper der Frau nur ernährt und zu einem Knaben wird, wenn der Vater gesund, kräftig und lebenstüchtig war. Hat er dagegen irgendeine Schwäche an sich, entwickelt sich aus seinem Samen nur ein Mädchen.So ist die Frau nicht nur zweitrangig und durch ihre angebliche Sündhaftigkeit gebrandmarkt, sondern sie ist auch noch biologisch minderwertig, eine Art Fehlentwicklung der Natur, nötig nur zur Arterhaltung.Auf einer solchen Stufe der gesellschaftlichen Erniedrigung des einen Geschlechts ist natürlich Liebe zwischen Mann und Frau nicht mehr denkbar, weil Liebe Partner voraussetzt, die, wenn nicht gleichberechtigt, so doch gleichwertig sind.Mitte des 14. Jahrhunderts werden immer mehr Frauen in Europa der Zauberei und der Teufelsanbetung beschuldigt. Aus der Sexualisierung der Erbsünde des Augustinus ziehen die religiösen Eiferer furchtbare Konsequenzen.Über den Beischlaf, so sagen die Autoren des „Hexenhammers", des damaligen Gesetzes, sei dem Teufel mehr Macht gegeben als über alle anderen menschlichen Handlungen, weil — Originalton —„die erste Verderbnis der Sünde, durch die der Mensch Sklave des Teufels geworden ist, durch den Zeugungsakt in den Menschen hineingekommen ist" . Die Verfolgung der Frauen dauerte zwei Jahrhunderte.Nach der Geschichtsschreibung kommt nun Luther. Wer sich von Luther ein Umdenken erwartet, wird bitter enttäuscht, denn Luther sagt in seinem Werk „Sermon über den ehelichen Stand" in der Weimarer Ausgabe, daß „die Sünde der Lust wegen der ehelichen Pflicht der Kinderzeugung nicht angerechnet werden soll". Auch nach seiner eigenen Heirat bleibt Luther
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 9017
Frau Würfeldabei, daß die Lust in der Ehe nicht rein sei, sondern da, wo Begierde im Spiel sei, Sünde und Unzucht bedeute.Der Dreißigjährige Krieg bringt ganz Europa einen Rückfall in Primitivität, Roheit und Gewalt.In seiner 1648 veröffentlichten Schrift „Über die Leidenschaften der Seele" stellt Descartes Liebe und Begehren als gut und nützlich und überwiegend positiv für die Menschen dar, indem er sagt:Bei dem Begehren ist das Besondere, daß es das Herz stärker als die übrigen Leidenschaften bewegt, dadurch erhält das Gehirn mehr Lebensgeister.Immerhin etwas.Wir müssen uns nun noch kurz der viktorianischen Moral zuwenden, denn jetzt erreicht die abendländische Prüderie ihren absoluten Höhepunkt, einen Höhepunkt, den es noch nicht einmal im Jahre 400 unter Augustinus oder im sogenannten finsteren Mittelalter gab.Nach der viktorianischen Moral soll die Frau ihre geschlechtliche Identität gar nicht mehr erfahren oder sie wenigstens als peinlich wahrnehmen. Das steht in einem Mädchenkalender aus dem Jahre 1884, in dem es heißt:Wenn Du ein Bad nimmst, so streue etwas Sägemehl auf das Wasser, damit Dir der peinliche Anblick Deiner Scham erspart bleibt.Leider blinkt die rote Lampe schon. Es entgehen Ihnen also die Äußerungen von Napoleon oder eines William Acton, der 1857 schrieb:Ich darf sagen, daß die Mehrzahl der Frauen, und dafür kann ich unsere Gesellschaft glücklich preisen, nur von sehr wenigen geschlechtlichen Empfindungen irgendwelcher Art belästigt wird.Ich kann Ihnen auch nicht sagen, wie es um das Ansehen der Frauen unter Hitler und der Nazi-Zeit bestellt war, und ich kann Ihnen ferner nicht sagen, wie das Sittengefühl in den USA zur Zeit des McCarthyismus war.
Ich denke aber, daß es an der Zeit ist, daß wir uns bewußt werden, wie eng Gleichberechtigung, Partnerschaft und Sexualität zusammenhängen. Meiner Meinung nach müßten wir in allen Lebensbereichen zu mehr Vorurteilsfreiheit, aber auch zu mehr Verantwortlichkeit kommen und bei allem Tun die Folgen dieses Tuns abschätzen und Konsequenzen ziehen. Eine grundsätzlich verantwortungsbewußte Haltung im Bereich der Sexualität bedeutet natürlich, die Folgen des Ausübens von Sexualität miteinander abzuklären und sich entsprechend einzurichten, wobei sich jeder Partner grundsätzlich und jederzeit darüber im klaren sein muß, daß bei der Ausübung von Sexualität Leben entstehen kann. Ich denke, wir alle miteinander müssen lernen, mehr Verantwortung für uns selbst und für den Partner zu übernehmen.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Vogt.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Gertrud Dempwolf hat überzeugend dargelegt, warum dem Antrag der Fraktion der GRÜNEN nicht zugestimmt werden kann. Der Kollege Haack hat, natürlich leicht abgesetzt von der CDU/CSU, seine Argumente, auch gewichtige Argumente, angeführt, die gegen diesen Gesetzesantrag sprechen. Frau Kollegin Uta Würfel hat auf ihre Art in einem interessanten Exkurs
wichtige Gründe für die Ablehnung dieses Gesetzesantrages der Fraktion der GRÜNEN dargelegt. Ich könnte jetzt die vielen guten Argumente wiederholen. Sie würden dadurch natürlich noch an Gewicht gewinnen. Das Gewicht dieser Argumente ist aber schon so groß, daß ich sie hier nicht wiederholen möchte.
Meine Damen und Herren, ich kann dem Gesetzentwurf der GRÜNEN zur Finanzierung empfängnisverhütender Mittel durch die Krankenkassen nur bescheinigen, daß er an den Notwendigkeiten der gesetzlichen Krankenversicherung voll vorbeizielt. Die Bundesregierung würde es begrüßen, wenn das Hohe Haus diesen Antrag ablehnen würde.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN Verkaufsstopp für Wohnungen des bundeseigenen SalzgitterKonzerns— Drucksache 11/2569 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
Metadaten/Kopzeile:
9018 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Vizepräsidentin Rengerb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN Verkaufsstopp für Wohnungen aus dem Besitz des Bundes— Drucksache 11/2570 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNEN Verkaufsstopp für die bundeseigene „Elefantensiedlung" in Neu-Ulm— Drucksache 11/2571 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
Im Ältestenrat ist eine gemeinsame Beratung mit einem Beitrag von 10 Minuten für jede Fraktion vorgesehen. — Das Haus ist einverstanden; dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Oesterle-Schwerin.
Ich kann Ihnen sagen: Mein Thema ist überhaupt nicht so witzig wie das letzte, was mir sehr leid tut.Einer der ersten Beschlüsse der Regierung von CDU/CSU und FDP nach der Wende 1983 war, 25 000 Wohnungen aus dem Besitz des Bundes zu verkaufen. Seitdem sind rund 13 000 Wohnungen verkauft worden, davon weniger als 5 000 an Mieterinnen und Mieter. Teilweise werden die Wohnungen aus dem Besitz des Bundes zu Schleuderpreisen verkauft. Sie können bei der Regierung eine Wohnung für ca. 56 000 DM kaufen, also für einen Bruchteil dessen, was der Bau einer neuen Wohnung kostet.Bei ihren Verkaufsbemühungen geht die Bundesregierung immer nach der gleichen Masche vor: Zuerst werden die Wohnungen pro forma den Mieterinnen und Mietern angeboten, obwohl die Bundesregierung genau weiß, daß gerade diese Leute nicht in der Lage sind, ihre Wohnungen zu kaufen. Danach wird versucht, die Gemeinden zu überreden, diese Wohnungen zu übernehmen, was meistens ebenfalls schiefgeht. Zum Schluß macht die Bundesregierung genau das, was sie von Anfang an vorhat: Sie verkauft die Wohnungen an gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften, die demnächst nicht mehr gemeinnützig sein werden. Was heute gemeinnützig ist, kann morgen für Mieterinnen und Mieter ganz gemein sein. Oder sie vergibt sie gleich als Spekulationsobjekte an private Unternehmer. Um die Gemüter zu beruhigen, schreibt die Bundesregierung in ihren Verkaufsverträgen einen verlängerten Kündigungsschutz von sechs Jahren vor, um die Leute, die in den Wohnungen wohnen, zu beruhigen. In Wirklichkeit ist dieser verlängerte Kündigungsschutz nicht mehr als eine Augenwischerei, und zwar aus drei Gründen.Erstens ist er viel zu kurz. Was sollen die Leute denn machen, wenn sie nach sechs Jahren aus ihrer Wohnung raus müssen?Zweitens hat diese Vereinbarung rein privatrechtlichen Charakter. Das bedeutet, die Bundesregierung kann bei einem Verstoß gegen diesen Kündigungsschutz zwar gegen die Käufer klagen; sie ist aber keineswegs verpflichtet, das zu tun. Sie wird es auch nicht tun. Sie wird ihr Interesse verlieren, und die Mieterinnen und Mieter haben überhaupt keine Möglichkeit, die Bundesregierung zu zwingen, das zu tun.Drittens ist dieser verlängerte Kündigungssschutz deswegen vollkommen unwirksam, weil im Vertrag schon drin steht, daß dieser Kündigungsschutz dann keine Gültigkeit hat, wenn er einer wirtschaftlichen Verwertung dieser Wohnungen im Wege steht. Das ist ein Gummiparagraph, der von den potentiellen Käufern immer zu ihren Gunsten ausgelegt werden kann.Ich möchte hier stellvertretend für den Verkauf von vielen Siedlungen drei Siedlungen besonders erwähnen.Erstens die „Elefantensiedlung" in Neu-Ulm. Das ist eine Siedlung mit 372 Wohnungen. Es wohnen dort ca. 1 500 Leute. Die Siedlung ist zu Beginn der 50er Jahre für sogenannte Kasernenverdrängte gebaut worden. Das sind teilweise Zwangsarbeiter gewesen, die in Deutschland geblieben sind. Teilweise sind es Ausgebombte gewesen, Leute, die in Neu-Ulm oder der Umgebung aus ihren Häusern ausgebombt waren. Es ist eine sehr schöne Siedlung, eine Siedlung, in der Menschen verschiedener Nationalitäten in guter Nachbarschaft nebeneinander wohnen.Jetzt hat die Siedlung das Pech, daß sich das Gelände genau gegenüber einem der größten Möbelmärkte in Süddeutschland befindet, einem Möbelmarkt, der sich bereits nach allen Seiten ausgedehnt hat. Er kann sich, wenn er sich jetzt noch ausdehnen will, nur noch in Richtung dieser Siedlung, auf das Gelände dieser Siedlung ausweiten. Es besteht die Gefahr, daß das passiert.Pro forma tritt als Käuferin die Sparkasse Neu-Ulm auf, die sich normalerweise aber überhaupt nicht mit der Vermietung von Wohnungen beschäftigt. Jetzt haben Gemeinderäte in Neu-Ulm — ich weiß gar nicht, ob es SPDler oder GRÜNE waren — versucht, eine Erhaltungssatzung für diese Siedlung im NeuUlmer Gemeinderat durchzusetzen.
— Prima, wir ziehen in dieser Sache an einem Strang. — Es war aber völlig erfolglos, weil sich die Sparkasse mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hat. Sie stellt sich auf den Standpunkt, daß sie dann, wenn die Erhaltungssatzung erlassen wird, als Käuferin sofort zurücktritt. Das ist natürlich ein Indiz dafür, daß die Sparkasse entgegen ihren Beteuerungen gerade nicht die Absicht hat, diese Siedlung zu erhalten. Nach sechs Jahren werden die Wohnungen verlorengehen. Das hat verheerende Wirkung nicht nur für die Mieterinnen und Mieter, sondern auch für den ganzen Wohnungsmarkt in Neu-Ulm.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 9019
Frau Oesterle-SchwerinDas zweite Beispiel ist der Fall der 3 380 Wohnungen des bundeseigenen Salzgitter-Konzerns. Dort werden die Bewohnerinnen und Bewohner regelrecht unter Druck gesetzt, ihre Wohnung zu kaufen. Eine Stuttgarter Maklerfirma ist vom Bund beauftragt worden, diese Leute unter Druck zu setzen. Teilweise geschieht das sogar mit falschen Angaben über die zukünftigen finanziellen Belastungen, die auf die Bewohner zukommen. Es wird mit allen Mitteln versucht, diese Leute in das Abenteuer Wohneigentum hineinzudrücken.
Das ist deswegen ein Abenteuer, weil die Arbeitsplätze in dieser Region in keiner Weise gesichert sind. Die Privatisierung von VW ist beschlossen. Die Privatisierung von Salzgitter ist in der Diskussion. Man zwingt also diese Leute, die Wohnung zu kaufen, obwohl sie in Zukunft dort vermutlich keine Arbeitsplätze mehr haben werden und die Wohnung nicht werden bezahlen können.
Das dritte Beispiel ist ein ganz mieses Beispiel. Hier dreht es sich um die Zwangsarbeitersiedlung in Dortmund-Eving. Auch das sind ca. 240 Wohnungen. Da wohnen heute über 300 Personen; 180 davon sind ehemalige Zwangsarbeiter. Die Hauptsprache in dieser Siedlung ist polnisch. Die Menschen, die dort wohnen, haben Angst, daß sie durch den Verkauf auseinandergerissen werden, daß sie ihre Wohnungen verlieren, was für sie gleichbedeutend wäre mit einer zweiten Verfolgung und einer zweiten Entwurzelung.Als wir das gehört hatten, haben wir eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt, in der wir u. a. gefragt haben, ob der Erhalt des Dauerwohnrechtes für diese Menschen nicht das mindeste sei, was sie an sogenannter Wiedergutmachung erwarten könnten. Daraufhin antwortete uns der Staatssekretär Dr. Voss — ich zitiere wörtlich — :Zwischen dem Erhalt entbehrlicher Wohnungen und Maßnahmen zur Wiedergutmachung besteht kein Zusammenhang.Ich denke, zynischer kann man sich nicht mehr äußern. Ich möchte gerne wissen: Was heißt denn „entbehrliche Wohnungen"? Für wen sind die Wohnungen entbehrlich? Für den Staatssekretär? Für die Menschen, die da wohnen, sind sie überhaupt nicht entbehrlich. Oder meint der Staatssekretär vielleicht, die Menschen seien jetzt entbehrlich?
— Es ehrt Sie, daß Sie das beleidigt. Aber das ist auch das einzige, was Sie in dieser Sache ehrt.
Kolleginnen und Kollegen, wir sind der Meinung, daß in einer Zeit, in der die Wohnungsnot von Monat zu Monat schärfer wird, in der immer mehr Asylsuchende und Aussiedlerinnen und Aussiedler in der Bundesrepublik eine Wohnung suchen, der Verkauf von preiswerten Wohnungen ungefähr das Dümmste ist, was die Bundesregierung überhaupt machen kann. Wir fordern, daß das endlich gestoppt wird. Wir fordern, daß alle Verkäufe gestoppt werden und keine neuen Verkaufsverhandlungen aufgenommen werden. Wenn die Bundesregierung nicht in der Lage ist, ihre Wohnungen zu verwalten, wenn die Bundesregierung ihre Wohnungen nicht mehr haben will, dann soll sie doch bitte diese Wohnungen den Gemeinden mit der Auflage übergeben, das Dauerwohnrecht dort zu sichern, meinetwegen zum Kaufpreis von 1 DM.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Kansy.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unabhängig von der allgemeinen Förderung des Wohnungsbaus und des Wohnens durch den Bund ist der Bund unmittelbarer Eigentümer von gut 60 000 Wohnungen sowie mittelbarer Eigentümer von ungefähr 50 000 weiteren Wohnungen,
die gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften gehören, die wiederum im Besitz des Bundes sind. Diese Wohnungen sind kein Instrument der Wohnungspolitik, sondern diese Wohnungen wurden und werden auch noch heute im Regelfall für die Wohnungsversorgung von Bundesbediensteten gebaut, im Einzelfall, so in dem eben erwähnten Beispiel in Neu-Ulm, für Dritte, für die der Bund eine besondere Verantwortung hat.Werden Wohnungen dieser Kategorie wegen veränderter Bedarfslage nicht mehr für die Zwecke der Wohnungsfürsorge benötigt, werden sie, nicht immer, aber teilweise, auch veräußert, um im übrigen parallel dort Bundeswohnungen zu bauen, wo wieder Bedarfsschwerpunkte sind. Das ist tatsächlich kein gutes Geschäft. Aber uns nützt eine leerstehende Bundeswehrwohnung meinetwegen in Munster nichts, wenn in München plötzlich für Postbedienstete Wohnungen gebraucht werden.
— Frau Kollegin, wenn dort kein Bedarf für Wohnungsfürsorge gegeben ist — und darüber reden wir heute — , ist es unter diesen Aspekten sinnvoll, solche Wohnungen auch zu veräußern und dann mit den Erlösen an anderer Stelle Wohnungen für Bundesbedienstete zu bauen.Bei diesen Verkäufen hat sich, im Gegensatz zu Ihren unrichtigen Darstellungen, über Jahre hinweg ein Verfahren eingespielt — wir kennen auch Einzelfälle; die sind im Finanzausschuß, im Haushaltsausschuß, teilweise auch im Bauausschuß in den letzten Jahren diskutiert worden — , das heute nicht zu beanstanden ist. Richtigerweise wird, wie Sie sagen, zunächst versucht, diese Wohnungen den Mietern als
Metadaten/Kopzeile:
9020 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Dr.-Ing. KansyKaufinteressenten anzubieten. Nun können Sie nicht gleichzeitig sagen, der Bund verschleudert die Wohnungen an irgendwelche Spekulanten, wenn diese Wohnungen zunächst einmal grundsätzlich den Mietern, die darin wohnen, zum gleichen Preis angeboten werden, und das ist auch richtig.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Bitte schön.
Wie können Sie sich denn erklären, Herr Kollege Kansy, daß z. B. in Neu-Ulm die Leute zwar gefragt wurden, ob sie die Wohnungen kaufen wollen, ihnen aber kein Preis genannt und kein Finanzierungsvorschlag gemacht wurde, so daß die Leute das Kaufangebot nicht angenommen haben? Heute geht der Bund hin und verkauft die Wohnungen zum Schleuderpreis von 20 000 DM pro Wohnung an die Sparkasse. Warum hat man diese Wohnungen den Bewohnerinnen und Bewohnern nicht zu dem Preis angeboten, zu dem die Sparkasse sie heute bekommt?
Das war eine etwas lange Frage, Frau Präsident, aber Sie sind auch mir gegenüber nachher sicherlich großzügig.
Ich kann diese Frage aus dem Stand nicht beantworten. Wir haben hier den Staatssekretär sitzen; der kann darauf eine Antwort geben.
— Tun Sie doch nicht so, als ob Sie alles aus dem Stand wüßten, wenn Sie zu einem Einzelfall gefragt werden.Dies ist mit Sicherheit nicht der Regelfall, und es läßt sich sicherlich auch im Einzelfall überprüfen, ob es so ist. Richtig ist aber, was Neu-Ulm angeht, daß von Anfang an eine Initiative entstand, an der Sie nicht ganz unmaßgeblich beteiligt sind, die den Leuten von vornherein gesagt hat: Lehnt euch gegen den Verkauf eurer Wohnungen auf!
Das darf man bei der Gelegenheit auch einmal sagen.Als zweiten werden sie dann tatsächlich Städten und Gemeinden angeboten, wenn z. B. die Gemeinden Bedarf haben, Wohnungen für verschiedene Bevölkerungskreise sicherzustellen, Belegungsbindungen sicherzustellen, und dann erst ergeht das Angebot an Dritte, mit dem wir — entsprechend unseren fiskalischen Vorschriften, die wir als Parlament der Regierung selber gegeben haben — die Wohnungen dann verkaufen und die Erlöse in den Bundeshaushalt einstellen.Es ist hier von Ihnen, Frau Kollegin, der angeblich massive Druck auf die Mieter angesprochen worden, der alles, was dort passiert, zu einer Farce macht. Ich habe jetzt nicht die Behauptung von Ihnen in der Drucksache im Detail im Kopf. Aber dies suggeriert ein Verfahren, das mit der Realität überhaupt nichts zu tun hat. Es werden, wie Sie richtig sagen, Bedingungen zum Schutze der bisherigen Mieter vereinbart. Nur, diese Bedingungen gehen über den gesetzlichen Kündigungsschutz für die 15 Millionen Mietverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland, dem diese Mietverhältnisse ganz normal unterliegen, hinaus, indem man eben diese Mieter wegen der besonderen Fürsorgepflicht des Bundes auch beim fiskalischen Handeln des Bundes schützen will. Es wird z. B. — das ist gesagt worden — eine Nutzung zu gesicherten Bedingungen über einen längeren Zeitraum — meistens sechs Jahre, manchmal etwa länger — sichergestellt. Dies ist doch im Vergleich mit einem normalen Wechsel in Mietwohnungen in der Bundesrepublik Deutschland eher eine Ausnahmesituation zum Positiven hin. Ich finde es erstaunlich, daß Sie das hier ankreiden. Dasselbe gilt für die Verhinderung von Luxusmodernisierungen, von unangemessenen Mieterhöhungen und ähnlichen Fragen. Ich frage mich wirklich, warum Sie unter diesen Umständen die Behauptung aufstellen, daß die Mieter unzulässig unter Druck gesetzt, aus ihrer Wohnung gedrängt werden und ähnliches mehr.
Die Rechtsansprüche — ich sage das noch einmal — , die wir den derzeitigen Mietern hier einräumen, gehen weit über das soziale Mietrecht hinaus. Vor dem Hintergrund, daß wir hier nicht über Wohnungsbaupolitik des Bundes, der Länder und der Gemeinden, sondern über Wohnungsfürsorge betreffend Wohnungen des Bundes reden, halten wir dieses Verfahren für angemessen.In der von Ihnen angesprochenen „Elefantensiedlung" — ohne jetzt ins Detail zu gehen — stellt sich die Situation heute so dar: Von den 372 Wohnungen werden übrigens, Frau Kollegin, nur noch 80 von dem Personenkreis bewohnt, den Sie hier angedeutet haben, einschließlich der Kinder und Kindeskinder, hinsichtlich der der Bund immer gesagt hat: Okay, die können drinbleiben.
Es ist richtig — ich habe erläutert, warum — , daß die Mehrheit der Leute dort die Übernahme ablehnt. Aber die ganze Angelegenheit ist ja nicht neu. Die Stadt Neu-Ulm hat zunächst sehr intensiv mit dem Bund verhandelt. Sie wollte die Wohnungen haben. Wir haben dem Kauf bereits vor drei Jahren zugestimmt. Soweit ich informiert bin — ich habe keine örtliche Sachkenntnis, sondern mußte Informationen über Dritte einholen —, wird weiterhin zwischen Bund, Gemeinde, Landkreis und Sparkasse durchaus verhandelt, um dort als Käufergesellschaft aufzutreten. Die Behauptung, die Sie in den Raum stellen, es sei ein Präventiv-Kauf gewesen, um an irgendeinen Dritten weiterzuverkaufen, können Sie durch nichts, aber auch gar nichts beweisen.Diese Art von Wohnung, über die wir jetzt gesprochen haben, ist nicht mit Wohnungen zu vergleichen, die in einem weiteren Antrag von Ihnen angesprochen werden. Ich meine die Wohnungen des Salzgitter-Konzerns. Obwohl das Unternehmen dem Bund
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 9021
Dr.-Ing. Kansygehört, wird die Geschäftspolitik dort nicht von der Bundesregierung gemacht, sondern von der zuständigen Geschäftsleitung im üblichen Rahmen, wie es in einem großen Montanbetrieb ansonsten geregelt ist. Ein direkter Eingriff der Bundesregierung sozusagen als Aktionär Bundesrepublik Deutschland in diese Wohnungsverkäufe ist gegenüber diesem Unternehmen schon aus rechtlichen Gründen nicht zulässig.
— Ich bin blauäugig. Das kann man übrigens in meinem Paß nachlesen.
— Ach ja; kommen Sie!
Wir haben natürlich eine politische Verantwortung. Der haben wir uns gestellt, Herr Müntefering. Wir haben uns auch mit Betroffenen unterhalten. Der örtliche Wahlkreisabgeordnete, der Kollege Sauer, der hier sitzt, hat in der Angelegenheit schon viele Gespräche geführt. Die Frage ist: Verhält sich dieses Unternehmen so, daß wir das, obwohl wir das nicht juristisch zu vertreten haben, politisch verantworten können, auch ohne daß wir juristische Eingriffsmöglichkeiten haben?Natürlich stellt sich auch die Frage, ob Ihre Behauptung zutrifft, die Sie, Frau Oesterle-Schwerin, in der Drucksache 11/2569 aufstellen: daß die Mieter dieser Wohnungen von der beauftragten Maklerfirma unter starken Druck gesetzt werden und daß unabhängige Berater an den Verkaufsgesprächen nicht teilnehmen dürfen, damit — das ist natürlich Ihre Folgerung — die Leute übers Ohr gehauen werden können.Auch diese von Ihnen in der Drucksache 11/2569 aufgestellten Behauptungen sind falsch. Auch bei dem Verfahren in Salzgitter gibt es natürlich verschiedene Meinungen, aber dort ist im Gegensatz zu NeuUlm eine viel größere Zahl der Betroffenen bereit, zu kaufen und dieses Verfahren zu akzeptieren. Die Wohnungen wurden zunächst den Mietern angeboten. Dann wurden sie allen Mitarbeitern dieses Unternehmens angeboten, dann der Stadt, die in diesem Fall aber nicht zur Übernahme bereit war.
Anschließend wurden sie, wie in anderen Bereichen, allgemein angeboten.
Ich fordere Sie also auf: Bringen Sie den Beweis— dann haben Sie unsere Fraktion an Ihrer Seite — für Ihre Behauptung, daß z. B. verhindert wird, daß diese Mieter diese Gespräche mit unabhängigen Beratern führen.Aber ich fürchte — damit, Frau Präsidentin, komme ich zum Schluß —, es ist wie üblich: Sie stellen leere Behauptungen in den Raum, verängstigen die Leute, sagen die Unwahrheit, ohne hier die Beweise auf den Tisch legen zu können.
Ich fordere Sie auf, dies zu tun.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Der Wohnungsmarkt ist leergefegt" — diese unwiderlegbare Feststellung meines verehrten Fraktionskollegen Gerhard Jahn in der Dezember-Debatte hier im Hause über eine soziale Wohnungs- und Städtebaupolitik kennzeichnet die Wohnungssituation in weiten Teilen der Bundesrepublik sehr präzise, so global diese Aussage auch angelegt war. Nicht nur in den Ballungszentren, sondern mittlerweile bis in die Mittelstädte wächst der Wohnungsnotstand. Hunderte und Tausende von Wohnungssuchenden sind in unseren Städten keine Seltenheit. Wer — wie wir alle sicherlich — spät abends ab und zu auf den Bahnhöfen Ausschau hält, stellt fest, daß bei der Auslieferung der Nachtzeitungen die Menschen Schlange stehen, um so früh wie möglich als erste an die Adressen heranzukommen und mit Wohnungsanbietern Kontakt aufzunehmen. Familien mit vielen Kindern, Asylbewerber, Aussiedler, ältere Menschen, Studenten und sozial Benachteiligte wohnen nur allzu häufig in mehr als problematischen Verhältnissen. Parallel dazu steigen die Mieten mehr und mehr.Der Bauminister sieht — das wissen wir mittlerweile hinlänglich — an diesen Problemen vorbei, und er predigt seine Litanei nach Art eines Gesundbeters.
„Der Markt wird's richten" ist sein Tenor; von sozialer Verantwortung auf dem Boden der Sozialverpflichtung des Eigentums nach Art. 14 keine Spur.Im Wohnungsbereich war diese vom Fachminister eingenommene Haltung bereits hinlänglich entlarvt und daher bekannt. Nun zieht mit Riesenschritten jemand nach, von dem man zwar auf Grund seiner Steuerpolitik wußte, daß er unsoziale und ungerechte Entscheidungen auf dem Rücken der breiten Masse unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger häufig genug getroffen hat, der nun aber auch als Experte am Wohnungsmarkt in Erscheinung tritt, nämlich der Herr Bundesfinanzminister.
Mitten in diese ohnehin schon belastete und vielfach unerträgliche Situation hinein gibt Herr Dr. Stoltenberg seinen Mitstreitern das Signal und den Auftrag, nach und nach beträchtliche Teile des bundeseigenen Wohnungsbestandes zu privatisieren.In diesem Zusammenhang ist es mehr als interessant, zu wissen, um wie viele Wohnungen es bei dieser
Metadaten/Kopzeile:
9022 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Schmidt
Aktion direkt oder indirekt gehen kann: um rund 370 000 nämlich. Rund 13 000 Wohnungen sind im Rahmen der Stoltenberg-Aktionen seit 1983 bereits verkauft worden; Gesamterlös: eine runde Dreiviertelmilliarde. Da es nach CDU-Philosophie der Markt schon richten wird, werden diese Verkäufe unter dem Eindruck der Notsituation und der dadurch steigenden Mieten und der dadurch wiederum steigenden Kaufpreise natürlich fortgesetzt: also nicht eine Frage der Wohnungsfürsorge und ihrer Beendigung, Herr Kansy, sondern eine rein fiskalische, eine rein kommerzielle Maßnahme.Die Folgen liegen auf der Hand. Einerseits erzielt die Bundeskasse auf diesem Wege zusätzliche Einnahmen, die den Finanzminister in die Lage versetzen, mindestens indirekt sein Haushaltsloch ein wenig zu stopfen. Andererseits vergrößert sich die soziale Spannung in den betroffenen Städten; denn Neuvermieter heben meist sehr schnell die Mieten an, um ihre Kaufaktion zur Rentierlichkeit zu bringen, tragen also zum Anheizen der Mietpreise massiv bei.Mitten in diese in vielen Städten ohnehin schon prekäre Lage setzt also der Bundesfinanzminister nun noch einen drauf: Unsensibel, nur auf finanzielle Vorteile des Bundes bedacht, trägt er zur Verschärfung der sozialen Probleme bei und verstärkt den Verdrängungswettbewerb nicht unwesentlich.Es ist gut, daß in dem Antrag der GRÜNEN auf Grund verschiedener Quellen schon einige praktische Beispiele aufgeführt sind, die zur Untermauerung meiner vorherigen Ausführungen beitragen können. Wie mir meine Fraktionskollegen Weiermann aus Dortmund und Dr. Wernitz aus Nördlingen bestätigt haben, sind beispielsweise die Verkaufsaktionen der Siedlung Dortmund-Eving und der sogenannten Elefantensiedlung in Neu-Ulm mit insgesamt rund 600 Wohneinheiten ohne Vorwarnung gegenüber den Mietern eingeleitet worden. Zum Teil jahrelange Unsicherheit, zum Teil jahrelange problematische Auseinandersetzungen über das künftige Schicksal, ständige Verhandlungen an den Mietern vorbei: Sie können sich sicher vorstellen, was für eine Resonanz dies in den beiden Städten erzeugt hat.Dabei hätte der Bund in beiden Fällen nicht nur die Sozialverpflichtung, sondern auch, wie Frau OesterleSchwerin mit Recht ausgeführt hat, eine besondere Sensibilität auf Grund des Entstehens dieser Siedlungen zu beachten gehabt. Sie sind nämlich beide —jedenfalls im wesentlichen — aus Marshallplan-Mitteln für ehemalige Zwangsarbeiter gebaut worden, die sich nach dem Kriege zum Bleiben im neuen Deutschland entschieden und nun dort eine neue Heimat gefunden hatten. Inzwischen zeichnen sich zwar möglicherweise verträgliche Lösungen durch Übernahme dieser Wohnungen bei örtlichen Gesellschaften ab,
aber der Bund hat seinen Schnitt gemacht und hat mit der langen Unruhe für unnötige Probleme in diesen Städten gesorgt.Um größere Dimensionen in jeder Beziehung handelt es sich im Falle des Verkaufs der Salzgitter-Wohnungen. Eine Konzerntochter der bundeseigenenSalzgitter AG, nämlich die Erzbergbau-Vermögensverwaltungsgesellschaft, stößt ihre sämtlichen 3 387 Wohnungen und 456 Garagen in drei Abschnitten ab. Mit dem Verkauf ist eine Privatfirma beauftragt, so daß man sich seitens des Konzerns nicht selbst „die Finger schmutzig macht" . Bei den Wohnungen handelt es sich um werkswohnungsähnliche Objekte; schließlich wohnen in ihnen viele aktive und viele ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Salzgitter-Konzerns.
Im Gegensatz zu Dortmund-Eving und zur Elefantensiedlung sind also in Salzgitter konkret Einzelverkäufe schon in Gang gesetzt worden. Trotz der Zusage, diese Verkäufe in sozialverträglicher Form vorzunehmen, sind natürlich solche Hinweise bei all den Mietern verständlicherweise völlig nutzlos, die ihre Wohnungen nicht kaufen wollen oder nicht kaufen können. Mit der ganzen Kälte und Rücksichtslosigkeit einer solchen Aktion verweisen der Konzern, die Verkaufsfirma und auch der Bundesfinanzminister bei den Antworten auf meine Fragen an ihn immer wieder darauf, daß der gültige Mieterschutz in vollem Umfang bestehen bleibt. Was macht aber eine Arbeiterfamilie vom Stahlwerk oder ein 30jähriges Rentnerehepaar, die sich für den Kauf der Wohnung, in der man 30 Jahre in Frieden zur Miete gewohnt hat, nicht mehr neu verschulden können? Was machen die denn eigentlich? Kann man sich denn nicht in die Lage dieser Leute versetzen?
— Sehen Sie, so ähnlich habe ich mir das gedacht. Meinen Sie denn, der gibt ihnen den zinslosen Kredit, mit dem sie sich dann besser neu verschulden können? Ich glaube, Sie sind da genauso blauäugig wie Herr Kansy. Sie sollten einmal in Ihren Personalausweis reingucken.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Gerne, natürlich.
Herr Sauer hat es nötig, hier die Fragen zu stellen. Vor Ort müßte er sich ein bißchen mehr einsetzen.
Ohne Polemik können Sie sicher nicht, Herr Kollege.
Herr Schmidt, würden Sie denn freundlicherweise einmal den Prozentsatz der bisher abgeschlossenen drei Verkaufsaktionen nennen, und zwar um welchen prozentualen oder personellen Umfang es sich bei diesen Härtefällen dreht?
Es sind nach unserer Kenntnis mehr als 300 von den 2 000 verkauften Wohnungen, die jetzt im Gespräch sind. Damit ist ein erklecklicher Prozentsatz erreicht. Das ist ja das Entscheidende.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 9023
Es sind unter 8 %, Herr Kollege.
Herr Kollege, würden Sie mir recht geben, daß es zwischen dieser Firma und der Stadt Gespräche gibt, um hier eine Regelung herbeizuführen,
auch im Verkauf von Wohnungen — siehe Mammutring — durch die dortige städtische Gesellschaft,
daß man sich also gerade um diese Härtefälle schon besonders kümmert?
Das sind aber einige wenige Härtefälle, nämlich insbesondere die der älteren Menschen. Das ist der Punkt, aber es sind viel zu wenig. Viele andere sind dabei, die natürlich viel bedrückter sind und von diesen wenigen Möglichkeiten, die ausgeschöpft werden können, um als Härtefälle geregelt werden zu können, auch betroffen sind.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja, gerne.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß die Menschen in Neu-Ulm in der Elefantensiedlung teilweise deswegen nicht in der Lage sind, ihre Wohnungen zu kaufen, weil sie bereits ihre Ersparnisse in Höhe von bis zu 20 000 DM in diese Wohnungen investiert haben?
So ist das. Das ist nicht nur in Neu-Ulm so, sondern genauso in DortmundEying und auch in Salzgitter. Das ist ja gerade die Verwerflichkeit. Diese Leute, die dort mit ihrem eigenen Engagement und ihren eigenen Mitteln diese Wohnungen hergerichtet haben, werden nun trotz Mieterschutz über kurz oder lang wahrscheinlich herausgesetzt. Dies haben mir meine Kollegen Weiermann und Dr. Wernitz genauso bestätigt, ebenso wie ich die Erfahrung in Salzgitter auch habe.Das Entscheidende, und darauf will ich noch einmal abheben, ist also, daß wir dort vor Ort eine Aktion erlebt haben, die allein unter dem Aspekt der Kapitalfindung und Kapitalbildung für die Salzgitter AG auf den Weg gebracht worden ist. Wenn man sozialverträgliche Lösungen gesucht hat, lieber Herr Sauer, dann hat man zum Teil diese Möglichkeit dazu abgelehnt. Seit einigen Tagen weiß ich nämlich, daß die Baugenossenschaft Wiederaufbau in Braunschweig, eine der größten in der Region, dem Salzgitter-Konzern schon vor Monaten das Angebot gemacht hat, den Komplex der Erzbergbauwohnungen ausdrücklich mit Mietpreisbindung zu übernehmen. Dieses Angebot ist vom Salzgitter-Konzern abgelehnt worden. Nun frage ich Sie einmal: Wie geht man denn nun mit diesem Wohnungsbestand und vor allen Dingen mit den Mietern in diesem Wohnungsbestand um? Ich halte das für einen Skandal. Ich halte das für einen Riesenskandal, und ich werde jede Gelegenheit nutzen, dies in der Öffentlichkeit auch zum Ausdruck zu bringen, denn dies kann so nicht hingenommen werden. Dies sind nämlich genau die Vorgehensweisen des Konzerns in diesem Falle. Wenn ich mir dann vorstelle, daß wir nicht ausschließen können, daß auch der nächste Konzern der Salzgitter AG, der noch viel mehr Wohnungen unter seinen Fittichen hat, nämlich die Salzgitter Wohnungs-AG mit 20 000 Wohneinheiten, eventuell irgendwann den nächsten Schritt folgen läßt, eben weil dieses Kapital gebraucht wird, angeblich oder vielleicht auch tatsächlich, dann frage ich mich, ob nicht die Ängste von vielen hundert Bürgern in Salzgitter, ohne daß man sie überhaupt nur geschürt hat, nicht doch berechtigt sind; und nicht nur viele hundert, sondern viele tausend.
Ich will Ihnen nur sagen, daß meine Bedenken an der Stelle erheblich sind. Das ist eine Geschichte, die der Bundesfinanzminister und seine Erfüllungsgehilfen bei der Salzgitter AG auch mit sich und ihrem Thema ausmachen müssen.Wir können es nicht auschließen, daß auf diese Weise — ich habe das auch in anderem Zusammenhang in Salzgitter gesagt — das Geld dafür beschafft wird, um den Salzgitter-Konzern insgesamt und zunächst in Teilen verkaufsreif zu gestalten. Dies, glaube ich, ist das, was wir auch in diesen Zusammenhang stellen müssen.Darum will ich sagen: Wer vor dem Hintergrund der besonders hohen Zahlen von zuziehenden Aussiedlern nach Salzgitter, vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit von 16 % und der damit verbundenen vielfältigen sozialen Probleme, vor dem Hintergrund der Strukturschwäche der gesamten Region Braunschweig, vor dem Hintergrund der Neuansiedlung eines großen Bundesamtes mit den damit verbundenen Wohnungsfragen, vor dem Hintergrund einer fast monopolartigen Wohnungsstruktur, vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die meisten Mieter aktive oder ehemalige Mitarbeiter der Salzgitter-Betriebe sind, die über Jahrzehnte für den Konzern ihre Haut zu Markte getragen haben, solche Entscheidungen auf den Weg bringt, setzt einen Flächenbrand in Gang, gegen den sich die politischen und gesellschaftlichen Kräfte in der Stadt mit Recht wehren.Die Initiatoren im Bundesfinanzministerium sollten sich bitte auf diese Dinge besinnen. Sie müssen ihren Wohnungsbestand behalten. Sie müssen ihn notfalls im Komplex in sozialverträglicher Form abgeben. Was hat das sonst mit der Fürsorge zu tun, die Sie vorhin, jedenfalls andeutungsweise, beschworen haben?In Anbetracht solcher vordergründigen Hintergründe kann ich, wie schon seit Monaten vor Ort und im direkten Schriftverkehr mit dem Finanzminister nur nachdrücklich dafür plädieren, daß diese Regierung aufgefordert wird, sämtliche Verkaufsaktionen sofort zu stoppen.Meine Fraktion ist nicht in allen Details mit den Formulierungen der drei Anträge der GRÜNEN einverstanden, signalisiert aber heute schon Richtungsgleichheit zumindest in den beiden konkreten Fällen Salzgitter und Neu-Ulm.
Metadaten/Kopzeile:
9024 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Schmidt
Der Bund hat eine Sorge; er hat aber auch die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, in der Wohnungsbaupolitik mit gutem Beispiel voranzugehen und unter Umsetzung des grundgesetzlichen Gebots des Art. 14 sozial und positiv regulierend die Mietensituation in seinem Wohnungsbestand zu beeinflussen. Solange Sie dies nicht tun, Herr Voss in Vertretung von Herrn Stoltenberg, werden Sie den Widerstand der Sozialdemokraten ebenso zu spüren bekommen wie Ihr Kabinettskollege Schneider.
Meine Fraktion stimmt der Überweisung der drei Anträge zur weiteren Behandlung an den Haushaltsausschuß und an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hitschler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die drei vorliegenden Anträge entstammen dem grünen Zettelkasten der Endlosanträge mit dem Reiter „Soziale Verelendung im prosperierenden Kapitalismus". Das ist ein Dauerlutscher der Frau Oesterle-Schwerin, den sie noch im Munde führen wird, wenn nichts Süßes mehr daran sein wird.
Die FDP-Fraktion kann diesen Anträgen aber nun wirklich gar nichts abgewinnen, weil sie Zielsetzungen verfolgen, die, auf sehr einfachen Denkstrukturen aufgebaut, zu folgenschweren ökonomischen Fehlentwicklungen führen würden. Es sollte sich eigentlich allmählich auch bei den notorischen Mangelverwaltern herumgesprochen haben, daß sich ökonomische Erfolge auf liberalisierten Märkten am ehesten einstellen und daß dieses Rezept, auf den Wohnungsmarkt übertragen, dort ebenfalls die schönsten Erfolge zeitigen würde.
Was wir also in der Wohnungspolitik brauchen, ist mehr Markt, besonders ein funktionsfähiger Preismechanismus, nach dem steigende Mieten nicht als das Böse an sich, sondern als vorübergehendes Knappheitsindiz und als Signal für private Investoren, daß sich der Einsatz von Risikokapital in der Wohnungswirtschaft lohnen würde, begriffen würden. Denn ein Mangel wird nur durch ein größeres Angebot beseitigt.
Deshalb ist eine Wohnungspolitk richtig, die auf private Investitionen setzt und sie durch günstige Rahmenbedingungen, niedrige Kapitalmarktzinsen, liberales Mietrecht und steuerliche Anreize fördert.
Falsch ist eine Wohnungspolitik, die staatliche Wohnungsbauprogramme, meist am Bedarf des Marktes
vorbei, mit einem Mitteleinsatz aufzulegen beabsichtigt, der, an den Bedürfnissen des Marktes orientiert, gar nicht ausreichen kann, sie zu befriedigen. Das Ergebnis ist sattsam bekannt: Fehlbelegungen en masse und überhöhte Kosten.
Graf Hohenthal hat in einem bemerkenswerten Artikel der „FAZ" am 9. Januar geschrieben:
Der soziale Wohnungsbau, nach den man jetzt wieder ruft, hat die Knappheit an „billigen" Wohnungen nun gerade nicht gemildert. Die noch bestehenden rund drei Millionen Sozialwohnungen werden weiterhin zu einem großen Teil von Leuten bewohnt, deren Gehälter längst gestiegen sind und die keinen Anspruch mehr auf solche Wohnungen haben.
Wie richtig! Aber wie schön und politisch wirksam ist es — im übrigen ist es das auch für die Behörden —, Berechtigungsscheine für eine Sozialwohnung ausstellen zu dürfen. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, daß es uns schwerfällt, davon zu lassen.
Die Bundesregierung ist in der Tat auf einem guten und richtigen, wenn auch behutsamen Weg. Sie verdient hier und da gewisse Anstöße zur weiteren Liberalisierung der Wohnungspolitik. Ein Blick in die Baustatistik bestätigt den Erfolg: im Jahr 1987 210 000 fertiggestellte Wohnungen. Für 1989 wird eine Zahl von 250 000 erwartet.
Allein über eine Angebotsvermehrung, welche im übrigen durch günstige Einkommensentwicklung und die gestiegenen Komfortwünsche initiiert wird, ist eine nachhaltige Nachfrageentlastung möglich. Dadurch wird auch in dem Bereich, in dem es insbesondere in Ballungsgebieten zu Engpässen kommt, nämlich im Sektor billiger Wohnungen, eine gewisse Entlastung wirksam.
Da die Wohnung, insgesamt betrachtet, wahrlich ein relativ teures Wirtschaftsgut ist, bedürfen einkommensschwache Familien in unserer sozialen Marktwirtschaft der Hilfestellung. Das Instrument hierfür ist das Wohngeld, das sich besonders deshalb bewährt hat, weil es eine nachfrageorientierte Förderung darstellt und die Mängel, die der Objektfinanzierung anhaften, vermeidet. Eine derart gestaltete Wohnungspolitik ist öffentliche Aufgabe des Bundes im Sinne des § 1 des Zweiten Wohungsbaugesetzes, nicht die Eigenverwaltung und Vorhaltung von bundeseigenen Wohnungen, sofern sie nicht der Fürsorge von Bundesbediensteten dienen. Von dieser Fessel muß sich der Bund befreien. Das kann nicht eine originäre bundesstaatliche Aufgabe sein. Deshalb ist es richtig, daß er sich nach und nach durch Verkauf solcher Wohnungen davon löst.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Weiermann?
Bitte sehr.
Herr Kollege, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß es politischer und moralischer Verantwortung bedarf, wenn es darum geht zu verhindern, daß ehemalige polnische Zwangsarbeiter,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 9025
Weiermanndie vor mehr als 40 Jahren ihre Heimat verloren haben, ihre Heimat ein zweites Mal verlieren, nämlich dieses Mal in Deutschland, in Dortmund-Eving? Muß man nicht mit besonderer politischer Sensibilität darangehen, diesen Menschen die Angst zu nehmen?
Ich bestätige Ihnen die Notwendigkeit dieser Sensibilität ausdrücklich, mache allerdings auch darauf aufmerksam, daß die Zuständigkeit und die Verantwortung für eine solche Art von Wohnungsbaupolitik die Länder und die Kommunen haben und nicht der Bund. Es ist deshalb richtig, wenn der Bund diese Wohnungen zuallererst den Kommunen zum Kauf anbietet. Es wäre sinnvoll, wenn die Kommune von ihrer Möglichkeit, diese Wohnungen zu kaufen, dann auch tatsächlich Gebrauch macht, wenn eine solche Lage vor Ort gegeben ist.
— Das ist kein Quatsch. Das ist so.
Schon gar nicht gehört es in den Aufgabenbereich des Bundes, in die unternehmerischen Entscheidungen eines selbständigen Unternehmens einzugreifen, noch dazu eines montanmitbestimmten — Herr Kollege Schmidt, Sie wissen das besser als ich — , dessen Aufsichtsrat der stellvertretende IG-Metall-Vorsitzende und ein weiteres DGB-Bundesvorstandsmitglied angehören. Sie haben diese soziale Verantwortung mitzutragen. Offensichtlich haben die beiden nach Ihren Worten die Verantwortung auch von sich geschoben. Oder wie haben Sie vorhin so schön formuliert?
Wir kommen nicht umhin festzustellen, daß die Sicherstellung der Versorgung besonders einkommensschwacher Familien eine originäre Aufgabe der Kommunen und der Länder ist, die diese Zuständigkeit für sich ja auch reklamiert und erhalten haben.
Die Kommunen werden bei anhaltenden Mangelerscheinungen bei Billigwohnungen nicht daran vorbeikommen, Belegungsrechte zu marktgerechten Preisen am Wohnungsmarkt zu erwerben und sie unter Inkaufnahme von Mietverlusten besonders einkommensschwachen Familien zur Verfügung zu stellen.
Die in den Anträgen inkriminierten Verkäufe spielen sich im übrigen allesamt in Gemeinden ab, deren Mietenniveaus im Durchschnitt des Mietenniveaus im ganzen Bundesgebiet liegen, in denen also keine besonders angespannten Marktverhältnisse vorliegen. Der besonderen Situation der Mieter — wie im Falle der Elefantensiedlung in Neu-Ulm — wird durch eine sechsjährige Wahrung des Kündigungsschutzes und des Modernisierungsverbotes in äußerst konzilianter Weise Rechnung getragen. Wie man dann noch von jahrelanger Verunsicherung reden kann, ist mir wirklich schleierhaft.
Wohin der wegen seiner Absurdität besonders verehrungswürdige Vorschlag der Einräumung eines Dauermietrechts führen würde — möglichst noch ohne jede Mietanpassung — , können Sie gut, Frau Oesterle-Schwerin, in einzelnen Bundesstaaten Indiens beobachten, wo es so etwas gibt. Dort hat das dazu geführt, daß inzwischen täglich mindestens ein völlig heruntergekommenes Haus einstürzt, weil der Vermieter nicht mehr daran denkt, auch nur eine Rupie in die Erhaltung zu investieren.
In der Sitzung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau vom 20. April 1988 ist die Veräußerungspraxis des Bundes vom Bundesfinanzministerium dargestellt und wohl begründet worden. Auf das Protokoll dieser Sitzung darf im besonderen verwiesen werden, ohne hier noch einmal auf die dort vorgetragenen Einzelheiten detailliert einzugehen.
Aber das ist ja auch der Fraktion der GRÜNEN nicht unbekannt, die sich nun einmal vorgenommen hat, jeden Einzelfall im Blick auf ihre Klientel unter dem klagenden Begleitgesang der Frau Oesterle-Schwerin zu beweinen, in der Gewißheit, beim nächsten zum Verkauf stehenden Objekt kann die Wiederbelebung dieser Debatte zelebriert werden.
Einer Ausschußüberweisung versagt sich unsere Fraktion ohne Aussicht auf ein positives Votum in der Abschlußberatung nicht.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Voss.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung vermag sich den von der Fraktion DIE GRÜNEN vorgetragenen Argumenten über einen Verkaufsstopp bundeseigener Liegenschaften oder von Wohnungen des Salzgitter-Konzerns nicht anzuschließen.In der Bundesrepublik sind rund 26 Millionen Wohnungen vorhanden. Der Bund ist Eigentümer von rund 50 000 Wohnungen. Weitere rund 11 000 Wohnungen des sogenannten Westvermögens sind für die Deutsche Bau- und Grundstücks AG im Grundbuch eingetragen und werden von ihr treuhänderisch für den Bund verwaltet. Der Bund übt über diese Wohnungen unmittelbaren Einfluß aus. Das sind insgesamt noch kein 0,3 v. H. des gesamten Wohnungsbestandes.Dieser Zahlenvergleich macht deutlich, daß der Bund mit den Wohnungen seines Liegenschaftsbestandes keine aktive Rolle bei der Wohnungsversorgung der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland übernehmen kann. Der Kollege Kansy hat bereits darauf hingewiesen.
Metadaten/Kopzeile:
9026 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Parl. Staatssekretär Dr. VossMit den seit 1983 intensivierten Verkaufsbemühungen werden mehrere Zielvorstellungen verfolgt. Einmal geht es darum, daß sich der Staat von Aufgaben löst, die ihm nicht notwendig zugeordnet sind. Zum anderen wird den vorhandenen Mietern die Bildung von Eigentum ermöglicht. Frau Kollegin OesterleSchwerin, das Angebot wird nicht nur pro forma gemacht, wie ich Ihnen gleich noch beweisen werde.Schließlich können durch die Veräußerung von Wohnungen auch Einnahmeverbesserungen erreicht und Ausgaben für die weitere Unterhaltung des Liegenschaftsbestands im Bundeshaushalt vermieden werden.Seit dem 1. Januar 1983 wurden aus dem allgemeinen Grundvermögen des Bundes rund 3 500 Wohnungen verkauft. Davon wurden etwa ein Viertel der Wohnungen an Mieter und deren nahe Angehörige, ein weiteres Viertel an Länder und Gemeinden sowie von diesen getragene Wohnungsgenossenschaften und schließlich die Hälfte an sonstige Wohnungsgesellschaften sowie Dritte abgegeben.
Die Verkaufsverhandlungen werden stets so geführt, daß in erster Linie die Mieter oder ihre nahen Angehörigen als Kaufinteressenten angesprochen werden. Wo eine Veräußerung an die Mieter nicht möglich ist, wird versucht, die Belegenheitsgemeinden und die Länder sowie die von ihnen getragenen Wohnungsbaugesellschaften für einen Erwerb zu interessieren. Bleiben auch diese Bemühungen ohne Erfolg, kommt ein Verkauf an nicht von der öffentlichen Hand getragene Wohnungsbaugesellschaften oder Dritte in Frage.Im Interesse der Mieter wird in den Kaufverträgen sichergestellt, daß die Mieter die Wohnungen auf jeden Fall für einen längeren Zeitraum, der im Regelfall sechs Jahre beträgt, zu angemessenen Bedingungen weiter nutzen können. Diese Regelung — auch das ist hier bereits betont worden — geht weit über das soziale Mietrecht hinaus.
Je finanzschwächer der Mieterkreis und je angespannter die Situation auf dem örtlichen Wohnungsmarkt ist, desto langfristiger ist der Schutz der Mieter vereinbart worden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Staatssekretär?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Bitte schön.
Herr Staatssekretär, was wird die Bundesregierung unternehmen, wenn sich einer der Käufer an diese Vereinbarung des sechsjährigen Kündigungsschutzes nicht hält? Welche Möglichkeiten haben die Mieter, dann auf die Bundesregierung einzuwirken, daß sie die Einhaltung des Vertrages einklagt?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Das werde ich gleich noch sagen. Ich kann es Ihnen aber schon vorweg sagen, Frau Kollegin. Es ist vertraglich vereinbart, daß ein klagbares Recht besteht. Die Bundesregierung wird die Mieter nicht im Stich lassen, wenn es zu einer Vertragsverletzung kommen sollte. Das heißt also, die Mieter erhalten durch die im Kaufvertrag vereinbarten Regelungen Rechtsansprüche, Frau Kollegin Oesterle-Schwerin, die über das soziale Mietrecht hinausgehen und deren Erfüllung einklagbar ist. Das ist vereinbart worden. Nach dem Auslaufen dieser vertraglichen Regelungen stehen die Mieter dann unter dem vollen Schutz des für alle geltenden sozialen Mietrechts.
Die Erfahrungen mit den Veräußerungen sind positiv zu bewerten. In einigen Regionen hält die Nachfrage aus dem Mieterkreis am Eigentumserwerb unverändert an.
Nach dem Stand der geführten Verhandlungen sollten Sie, meine Damen und Herren, auch dem von der Fraktion DIE GRÜNEN geforderten Verkaufsstopp für die bundeseigene Siedlung in Neu-Ulm nicht zustimmen. Die Kreis- und Stadtsparkasse Neu-Ulm plant den Erwerb der 372 Wohnungen. Träger des Kreditinstituts sind die Stadt und der Landkreis Neu-Ulm zu je 50 v. H. Die Verhandlungen sind noch nicht abgeschlossen. Der Bund geht davon aus, daß die Mieter bei dem beabsichtigten Eigentumswechsel in der ihnen vertrauten Umgebung bleiben können. Der in Aussicht genommene Käufer sowie dessen kommunale Träger bieten Gewähr dafür, daß die Wohnungen als geschlossene Siedlung auf Dauer erhalten bleiben.
Gestatten Sie noch einmal eine Zwischefrage?
Bitte schön, Frau Präsidentin.
Wie erklären Sie sich denn, daß den Mietern, als sie gefragt wurden, ob sie die Wohnungen kaufen wollen, kein Preis genannt worden ist? Die 20 000 DM, die die Sparkasse jetzt bezahlen muß, wurden den Mietern gegenüber nicht genannt. Wie erklären Sie sich das? Wie erklären Sie sich, daß sich die Stadtsparkasse einer Erhaltungssatzung widersetzt?
Frau Kollegin, im Gang des Verfahrens wird zuerst das Interesse der in Betracht kommenden Mieter festgestellt. Es wird allgemein nach ihrem Interesse gefragt. Erst nachdem das festgestellt ist, werden die Konditionen für einen Erwerb mitgeteilt. Das ist ganz normal.
— Aber keinesfalls! Es soll ja zuerst nur das Interesseam Erwerb festgestellt werden. Der Preis spielt dabeinur eine untergeordnete Rolle, Frau Kollegin. Hier
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989 9027
Parl. Staatssekretär Dr. Vosswird alles getan, um dem Interesse der Mieter gerecht zu werden.
Was den Verkaufspreis angeht, verhält man sich hier sehr flexibel, Frau Kollegin. Nur: Das alles wollen Sie offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen, sondern Sie bleiben offensichtlich bei Ihren bekannten Schablonen.Im Ergebnis gilt das, was ich eben sagte, auch für Dortmund-Eving. Auch bei der Veräußerung der von der Salzgitter Erzbergbau Vermögensverwaltungsgesellschaft gehaltenen Wohnungen sind durchaus positive Erfahrungen gemacht worden. Seit Mitte letzten Jahres erfolgt der Verkauf in einzelnen Abschnitten, wobei die Wohnungen zunächst den Mietern und ihren nahen Angehörigen zum Kauf angeboten worden sind, wie das immer der Fall ist.Beim ersten Verkaufsabschnitt konnten mit 546 Wohnungen rund 60 % der angebotenen Wohnungen an die jeweiligen Mieter veräußert werden. Bis zum 31. Dezember 1988 sind in den bisher gebildeten drei Verkaufsabschnitten von rund 2 000 Wohungen über 1 000 Wohnungen verkauft worden. Der Anteil der an Mieter verkauften Wohnungen betrug bislang insgesamt 41 %. Darüber hinaus bestehen Reservierungen für weitere 121 Wohnungen.
— Ich habe zwei Fälle genannt, Herr Kollege. Es gab bisher drei Verkaufsabschnitte. Im ersten Verkaufsabschnitt wurden 60 % der angebotenen Wohnungen an die jeweiligen Mieter veräußert.
— Dann ist Ihre Frage nicht verständlich, Herr Kollege. Darüber hinaus bestehen, wie gesagt, Reservierungen für weitere 121 Wohnungen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sauer?
Bitte schön.
Kollege Voss, trifft es zu, daß als Stichtag der 31. Dezember gewählt wurde, daß es eine laufende Verkaufsaktion ist und derzeit ein Fremdverkauf von lediglich 9 % zu verzeichnen ist? Trifft es zu, daß bei der ersten Aktion rund 60 der angebotenen Wohnungen gekauft wurden und daß Leute aus Organisationen, die sonst in Veranstaltungen als große Gegner auftraten, sogar mehrere Wohnungen gekauft haben?
Ja, das kann ich nur absolut bestätigen, Herr Kollege.
Nicht an die Mieter verkaufbare Wohnungen sind danach Konzernangehörigen und in weiteren Schritten Einwohnern sowie in Salzgitter Beschäftigten zum Kauf angeboten worden.
Das mit der Veräußerung beauftragte Unternehmen ist bemüht, alle auftretenden Härtefälle individuell zu lösen. Werden Wohnungen von als Härtefall eingestuften Mietern an Dritte verkauft, müssen sich die Käufer z. B. im Kaufvertrag verpflichten, auf die Geltendmachung von Eigenbedarf zu verzichten, solange dies der Mieter will. Da allgemein unbefristete Mietverträge bestehen, ergibt sich daraus ein individuelles Dauerwohnrecht des derzeitigen Mieters. Nicht kaufbereiten, jedoch auszugswilligen Mietern werden Ersatzwohnungen aus dem Bestand der Salzgitter Wohnungsbau AG angeboten.
Nach dem Eigentümerwechsel beträgt die Kündigungsfrist in der Regel bei langjährigen Mietverhältnissen mindestens vier Jahre, in Einzelfällen bis zu neun Jahre, als Folge der Bindungswirkung des sozialen Wohnungsbaus. Allgemein gilt, daß bestehende Sozialbindungen vom Käufer in vollem Umfang übernommen werden müssen.
Die vorgesehene Verkaufskonzeption wird genau eingehalten. Das Bundesministerium der Finanzen hat sich mehrfach sorgfältig und ins einzelne gehend über Ablauf und Stand der Wohnungsverkäufe informiert. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß das Verhalten der beteiligten Unternehmen zu beanstanden wäre.
Nach alledem kann den zur Beratung anstehenden Anträgen der Fraktion DIE GRÜNEN nicht zugestimmt werden.
Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Anträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/2569, 11/2570 und 11/257.Zunächst haben wir darüber abzustimmen, in welchem Ausschuß die federführende Beratung stattfinden soll. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP sowie die Fraktion DIE GRÜNEN wünschen, daß die Anträge auf den genannten Drucksachen zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau überwiesen werden, die Fraktion der SPD beantragt dagegen eine Überweisung der Anträge zur federführenden Beratung an den Haushaltsausschuß.Ich lasse zunächst über den zuerst genannten Antrag abstimmen. Diejenigen, die dafür sind, daß die Anträge im Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau federführend beraten werden, bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Dem Vorschlag ist mehrheitlich zugestimmt worden. Die Anträge werden also zur federführenden Beratung nicht an den Haushaltsausschuß, sondern an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau überwiesen.Die Fraktion DIE GRÜNEN hat beantragt, die Anträge dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zur Mitberatung zu überweisen. Wer stimmt dem zu? —
Metadaten/Kopzeile:
9028 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. Januar 1989
Vizepräsidentin RengerGegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Wunsch der GRÜNEN ist abgelehnt worden.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der SPD, die Anträge zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Das ist bei Enthaltung der GRÜNEN mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt.Damit sind wir am Ende der heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 27. Januar 1989, 9. Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen.