Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Befragung der Bundesregierung
Meine Damen und Herren, die zentralen Punkte, die in der heutigen Kabinettssitzung behandelt worden sind, hat die Bundesregierung mitgeteilt. Die Zusammenstellung ist verteilt worden.
Die Bundesregierung hat weiter mitgeteilt, daß der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Professor Dr. Töpfer einleitend, bis zu fünf Minuten, berichtet.
Das Wort hat der Bundesminister Professor Dr. Töpfer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann berichten über das Errichtungsgesetz für das Bundesamt für Strahlenschutz und über die Novelle zur Strahlenschutzverordnung sowie mit wenigen Sätzen über die vertraglichen Regelungen im Umweltschutz, die wir mit der Volksrepublik Ungarn einzugehen beabsichtigen.
Zum ersten: Errichtungsgesetz für ein Bundesamt für Strahlenschutz. Mit diesem Gesetz ist festgelegt worden, daß ein derartiges Bundesamt zum 1. Juli 1989 eingerichtet wird. Der Sitz dieses Instituts wird in Salzgitter sein mit Nebenstellen in Neuherberg bei München und in Freiburg. Im Endausbau wird dieses Amt etwa 400 Mitarbeiter haben.
Aufgaben des Amtes sind in besonderer Weise die Errichtung und der Betrieb von Endlagern des Bundes für radioaktive Abfälle, die Genehmigung der Beförderung und der Aufbewahrung von Kernbrennstoffen sowie staatliche Verwahrung, die Überwachung der Umweltradioaktivität im Rahmen des integrierten Meß- und Informationssystems, das nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl bundesweit aufgebaut worden ist, und die Einrichtung und Führung eines Dosisregisters zum besseren Schutz für beruflich strahlenexponierte Personen. Darüber hinaus soll das Amt den Bundesumweltminister in Angelegenheiten des Strahlenschutzes, der kerntechnischen Sicherheit und der Entsorgung radioaktiver Abfälle fachlich unterstützen. Es soll zur Erfüllung seiner Aufgaben wissenschaftliche Forschung betreiben können. Es führt zu einer Konzentration der bisher auf verschiedene Ministerien verteilten Aufgaben.
In diesem Errichtungsgesetz sind gleichzeitig organisationsrechtliche Regelungen, materielle Änderungen von Vorschriften des Atomgesetzes enthalten, die mit der Aufgabenwahrnehmung des Bundesamtes in unmittelbarem Zusammenhang stehen. So soll im Genehmigungsverfahren zur Aufbewahrung von Kernbrennstoffen nach § 6 des Atomgesetzes, für das das Bundesamt für Strahlenschutz zuständig ist, künftig eine Öffentlichkeitsbeteiligung durchgeführt werden, wenn es sich um Aufbewahrung abgebrannter Brennelemente oder hochradioaktiver Spaltproduktlösungen aus der Wiederaufarbeitung handelt.
Das Gesetz sieht ebenfalls eine Verordnungsermächtigung für ein Register über Strahlenexpositionen beruflich strahlenexponierter Personen vor.
Zur Strahlenschutzverordnung darf ich auf folgende wesentliche Verbesserungen hinweisen: einmal die Einführung des Konzepts der effektiven Dosis, das eine differenziertere Erfassung von Strahlenexpositionen bewirkt. Zweitens. Für den Schutz der Arbeitnehmer wird zusätzlich ein Dosisgrenzwert für das gesamte Berufsleben von 400 Milli-Sievert vorgesehen, der beim Umgang mit radioaktiven Stoffen und bei der Anwendung ionisierender Strahlen im Berufsleben nicht überschritten werden darf. Damit wird vorsorglich schon jetzt den sich abzeichnenden neuen Bewertungen des Strahlenrisikos Rechnung getragen. Drittens die Erweiterung der Vorschriften für den Bevölkerungsschutz durch Grundsätze der radioökologischen Berechnungsverfahren und die Aufnahme von Dosisfaktoren; viertens die Ergänzung der Vorschriften für die medizinischen Anwendungsbereiche Forschung, Diagnostik und Behandlung; fünftens die Neuordnung der Abfallregelungen und Verbesserung der Aufsicht beim Transport radioaktiver Stoffe sowie eine Harmonisierung der Strahlenschutzverordnung mit der 1987 novellierten Röntgenverordnung. Nicht zuletzt wird der Forderung nach einer Anpassung an europäische Regelungen entsprochen.
Abschließend darf ich sagen, daß mit dem Vertrag mit der Volksrepublik Ungarn das Netz der zweiseitigen Verträge, die die Bundesregierung auch und
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Bundesminister Dr. Töpfer
gerade mit Staaten des Warschauer Paktes abgeschlossen hat, im Umweltschutz weiter vervollständigt wird. Wir werden mit diesem Vertrag alle relevanten Umweltbereiche abdecken können und in bilateraler Zusammenarbeit dazu beitragen, daß auch in der Volksrepublik Ungarn moderne Umwelttechnologien verfügbar gemacht werden.
Recht herzlichen Dank.
Ich bitte jetzt die Mitglieder des Hauses, die Fragen stellen möchten, sich an die Saalmikrophone zu begeben. Da sind zunächst Herr Penner, Dr. Daniels und Herr Jahn.
Frau Präsidentin, ich möchte zu einem anderen Thema eine Frage stellen: Ich frage die Bundesregierung, ob sie zur Kenntnis genommen hat, daß nach der SPD, nach der FDP, nach den GRÜNEN nunmehr auch bei der CDU politische Zweifel angemeldet worden sind, ob es sinnvoll sei, die Wehrpflicht zu erhöhen. Meine Frage lautet: Hat diese Frage wenigstens am Rande der Kabinettssitzung eine Rolle gespielt?
Herr Penner, darf ich darum bitten, daß wir diese Frage bis 13.15 Uhr zurückstellen und erst die Fragen zum Tagesordnungspunkt abhandeln, der hier angesprochen wurde. Ich rufe Sie gleich wieder auf. — Herr Dr. Daniels.
Herr Minister, Sie haben gesagt, daß die Strahlenschutzverordnung novelliert worden ist. Ist es richtig, daß in dieser Strahlenschutzverordnung die sogenannte effektive Dosis eingeführt worden ist, die bedeutet, daß man, was das Strahlenrisiko angeht, nur noch die Mortalitätsrisiken, also die Wahrscheinlichkeit, daß jemand durch Strahlung getötet wird, berücksichtigt und daß das Krebsrisiko, das durch die Strahlenbelastung erhöht wird, bei dieser neuen Rechnungsmethode herausfällt, so daß Sie insgesamt damit die Werte, was die Belastung angeht, verschönern?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Daniels, zunächst kann ich Ihnen bestätigen, daß wir die effektive Dosis einführen; das ist richtig. Dies führt nicht zu einer Verminderung, sondern zu einer Verbesserung der Vorsorge gegen radioökologische Belastungen. Es führt nämlich dazu, daß die bisher als Teilkörperdosis oder als Ganzkörperdosis festgelegten Belastungen kumulativ berücksichtigt werden.
Zum zweiten Teil der Frage: Es ist richtig, daß die Mortalität und nicht die Morbidität die Grundlage der Dosisberechnung ist. Dies ist international so vorgenommen worden, einfach deswegen, weil es verläßliche Morbiditätsuntersuchungen nicht gibt, die hier herangezogen werden könnten.
Ich darf Sie aber darauf aufmerksam machen, daß dies nicht eine Verminderung des Vorsorgeschutzes darstellt. Die Bundesrepublik Deutschland ist durch das 30-mrem-Konzept in dieser Strahlenschutzverordnung in der Europäischen Gemeinschaft eindeutig führend. Wir haben nicht eine Angleichung an
Europa dahin gehend vorgenommen, daß wir das dort geltende 500-mrem-Konzept eingeführt haben.
Herr Abgeordneter Schmidbauer.
Herr Minister, welche Bedeutung hat die Errichtung des neuen Bundesamts für Strahlenschutz im Hinblick auf Meldungen und Auswirkungen von Störfällen, auch unter dem Lichte des Vorkommnisses in Biblis?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Schmidbauer, die Bundesregierung hat die Bildung eines Bundesamts für Strahlenschutz bereits im März dieses Jahres grundsätzlich beschlossen und bereits damals festgehalten, daß in das neue Bundesamt für Strahlenschutz auch die sogenannte Störfallmeldestelle der GRS, der Gesellschaft für Reaktorsicherheit, eingebunden werden soll.
Ich glaube, daß die zwischenzeitlichen Ereignisse, die Diskussionen also, wie Störfälle gemeldet werden, wie sie bewertet und kategorisiert werden, diese Entscheidung außerordentlich nachhaltig bestätigen. Es ist sicher richtig, daß wir mit diesem Bundesamt für Strahlenschutz im unmittelbaren Zugriff des Bundesministers eine solche Stelle bekommen, die sämtliche Störfälle oder Vorkommnisse in Kernkraftwerken erfaßt, kurzfristig sichtet und auch über ihre Verwendung in der Öffentlichkeit dann besser und nachvollziehbarer entscheiden kann. Ich darf hinzufügen, daß wir auch der Überzeugung sind, daß das Bundesamt für Strahlenschutz darüber hinausgehende Aufgaben der Reaktorsicherheit zu erfüllen haben wird.
Herr Abgeordneter Jahn.
Diese Befragung der Bundesregierung geht auf eine Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag zurück mit dem Ziel, sicherzustellen, daß der Bundestag über wesentliche Entscheidungen des Kabinetts mit Vorrang unterrichtet wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Beabsichtigt die Bundesregierung, die Verabredung dieser Unterrichtung des Parlaments einseitig aufzukündigen und diese Praxis in Zukunft fortzusetzen?
Frau Abgeordnete Hamm-Brücher.
Kommt jetzt eine Antwort, oder soll ich gleich meine Frage stellen?
Wenn das noch dazu ist, sind Sie jetzt dran.
Ich wollte dazu die ergänzende Frage stellen, ob es zutrifft, daß jetzt
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8327
Frau Dr. Hamm-Brücher
gleichzeitig zur Regierungsbefragung auch eine Bundespressekonferenz stattfindet.
Ich bitte Herrn Bundesminister Schäuble um Auskunft.
Frau Präsidentin, wir haben innerhalb der Bundesregierung und im Benehmen mit den Fraktionen des Hauses abgesprochen, daß wir Pressemitteilungen über Kabinettssitzungen mit einer Sperrfrist versehen, die nach Ende der Regierungsbefragung liegt. Die Bundesregierung beabsichtigt, sich an diese Verabredung auch in Zukunft zu halten.
Was die Pressekonferenz des Regierungssprechers betrifft, so habe ich wenige Minuten vor Beginn dieser Regierungsbefragung davon Kenntnis bekommen, daß die Bundespressekonferenz, die selbständig ist, die die Entscheidung trifft, wann sie tagt, und die den Regierungssprecher zu ihren Pressekonferenzen einlädt, mit Rücksicht auf die nationale Europakonferenz, die unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers heute ab 14 Uhr stattfindet, darum gebeten hat, daß der normale Beginn der Pressekonferenz, 14.30 Uhr, heute ausnahmsweise auf 12.30 Uhr vorverlegt werden soll. '
Ich habe den Regierungssprecher darum gebeten, sofort die Präsidentin des Bundestages davon zu unterrichten und um Verständnis für diese außergewöhnliche Situation zu bitten, die auf Initiative der Bundespressekonferenz zurückgeht.
Danke schön. — Ich bitte um Verständnis, wenn ich hier kommentiere, daß dies das Instrument der Regierungsbefragung belastet und daß dies ein einmaliger Vorgang bleiben muß. Denn sonst kommen wir mit der Erprobung dieses Instruments in Schwierigkeiten.
Ich möchte noch eine Anmerkung machen: Ich bitte, Frau Präsidentin, der Regierung dann zu empfehlen, diese Veranstaltung und ihre Beteiligung daran lieber abzusagen, statt das in dieser für das Parlament unzumutbaren Form zu machen. Presseerklärungen mit Sperrfrist, die offensichtlich gar nicht ernst gemeint ist, wie die von mir zitierte dpa-Meldung zeigt, sind ein weiteres Indiz, das entsprechende Behandlung verdient.
Ich fahre dann in der Befragung fort. Als nächste hat Frau Abgeordnete Wollny das Wort.
Herr Minister, wie wollen Sie garantieren, daß Verschleierungen, wie wir sie
gerade jetzt über Biblis erfahren haben, mit dem neuen Bundesamt nicht noch stärker zum Zuge kommen, als das bisher schon war? Sie kennen meine Einwände: alles unter einem Dach, Absprachen von Tür zu Tür usw.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete Wollny, zunächst bin ich nicht der Meinung, daß im Zusammenhang mit Biblis von einer Verschleierung gesprochen werden kann.
Wir haben heute den ganzen Vormittag im dafür zuständigen Ausschuß berichtet, in welcher Weise alle Bundesländer, alle Betreiber, alle sachverständigen Organisationen und auch die internationalen Instanzen über diesen Vorfall unterrichtet worden sind.
Zum zweiten: Ich glaube, daß gerade die Zusammenfassung in einem solchen Bundesamt Gewähr dafür liefert, daß wir auf einer sehr schnellen Interpretationsbasis entscheiden können, die erforderlich ist, wenn wir der Öffentlichkeit nicht nur ein Faktum, sondern auch die daran anknüpfende Bewertung mitteilen wollen. Denn jeder wird von uns erwarten, daß wir nicht nur sagen, es ist dies und dies passiert, sondern daß die Bundesregierung oder die zuständige Aufsichtsbehörde der Länder auch sagt, welche Bewertung dieser Vorgang zu finden hat. Deswegen ist es mehr als notwendig, daß wir das in ein derartiges Bundesamt für Strahlenschutz einbinden. Von irgendwelchen internen Mauscheleien kann überhaupt keine Rede sein.
Darf ich vielleicht noch anfügen, daß dieses Gespräch heute morgen nur stattgefunden hat, weil es eine Veröffentlichung in einem amerikanischen Magazin gegeben hat; andernfalls wäre dieses Gespräch heute sicher nicht gewesen. Das heißt, es kann also von Offenheit ganz sicher nicht die Rede sein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich darf nur daran erinnern, Frau Abgeordnete Wollny, daß die Bundesregierung jährlich sämtliche in deutschen Kernkraftwerken vorkommenden Störfälle oder sonstige Vorkommnisse veröffentlicht und jedem zugängig macht, daß auch dieser Störfall in Biblis selbstverständlich Niederschlag in diesen Veröffentlichungen findet. Also von daher kann ebenfalls nicht der Eindruck entstehen, als hätte nur auf Grund anderer Meldungen hier eine Diskussion stattgefunden.
Darf ich einen neuen Punkt ansprechen: Herr Bundesminister, was bedeutet die vorgesehene Änderung des § 6 des Atomgesetzes, wonach bei bestimmten Vorfällen mit Kernbrennstof-
8328 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Harries
fen eine Öffentlichkeitsbeteiligung im neuen Genehmigungsverfahren vorgesehen ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Harries, wir sind der Überzeugung, daß — —
Wir haben eben gesagt, freie Fragen erst nach einem späteren Zeitpunkt. Ich bitte Sie, Herr Harries, noch einen Augenblick zu warten. Ich habe dies Herrn Penner ebenso gesagt.
Das ist im Rahmen der Berichterstattung gewesen, Störfallverordnung, Punkt 2.
— Bundesamt für Strahlenschutz und die damit beabsichtigte Novellierung des Atomgesetzes. Darauf bezog sich die Frage des Kollegen Harries.
Entschuldigen Sie, bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Harries, wir haben mit dieser Änderung des § 6 zwei wesentliche Themen mitangesprochen: Einmal die Klarstellung, daß alle diese Genehmigungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung durchzuführen sind. Das ist eine Verbesserung der Informationsmöglichkeit der Bürger vor Ort, die wir bei solchen Abfallstoffen für notwendig erachten.
Wir haben zweitens klarzustellen versucht, daß Abfallstoffe auch über den § 6 einer Genehmigung zugeführt werden können und nicht nur über den § 9 a des Atomgesetzes. Wir waren immer dieser Meinung; wir glauben aber, daß es rechtssicher gemacht werden sollte und deswegen dieser Vorschlag.
Ich hätte noch eine Zusatzfrage, die sich jetzt auf Biblis bezieht. Dieser Bericht, der schon von Frau Kollegin Wollny angesprochen worden ist, enthält ja auch Äußerungen der amerikanischen Atomaufsichtsbehörde, aus denen hervorgeht, daß ein solcher Unfall, wie er in Biblis passiert ist, in den USA als ein Ereignis von höchster Bedeutung für die Sicherheit eingestuft worden wäre. Falls dort ein dem Störfall von Biblis vergleichbares Ereignis eingetreten wäre, wäre dort ohne Zweifel innerhalb von Stunden ein erweitertes Inspektionsteam vor Ort gewesen. Dabei wäre nach einem solchen Fehler für eine lange Zeit die Atomanlage abgeschaltet worden. Das heißt also, in den USA ist dieser Störfall wesentlich ernster eingeschätzt worden als hier in der Bundesrepublik.
Ich frage mich jetzt, ob heute morgen nicht über diese wirklich notwendigen Konsequenzen auch im Bundeskabinett diskutiert worden ist. Welche Konsequenzen beabsichtigt die Bundesregierung jetzt tatsächlich zu ziehen, nachdem man davon ausgehen muß, daß es wohl einer der gefährlichsten und schwierigsten Störfälle gewesen ist, der dazu hätte führen können, daß es hier einen größten anzunehmenden
Unfall geben hätte können, den es jetzt zwar nicht gegeben hat, aber wir waren auf dem Weg dahin.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Daniels, wenn Sie diese amerikanische Quelle richtig zitieren,
— nein, nein —, so werden Sie hinzufügen müssen, daß der dort nicht namentlich genannte Mitarbeiter der NRC unterstellt, daß es zu einem Bruch gekommen ist, zu einem leak, so steht es dort wörtlich drin. Genau dies ist in Biblis nicht der Fall gewesen. Er geht also von einer anderen Fallgestaltung aus. Der dort namentlich genannte Mitarbeiter der NRC, Herr Murley, hat genau dies nicht bestätigt. Wenn Sie auch das vorlesen würden, was Herr Murley dort zitierend gesagt hat, dann werden Sie sehen, daß Ihre Wertung so nicht zutrifft.
Wir haben uns das noch einmal von NRC, also der amerikanischen Atombehörde, bestätigen lassen. Ich zitiere aus dem Brief, der uns gestern erreicht hat; hier wird gesagt: „That was not an alarming incident. — Dies war kein alarmierender Unfall" , aus der Sicht der Amerikaner. Wir wollen das gar nicht zum Maßstab unserer Bewertung machen. Wir haben heute morgen auch mit Ihnen zusammen, Herr Abgeordneter Daniels, mehr als drei Stunden darüber gesprochen. Ich halte es für sachdienlicher, wenn man diese Frage dann weiter im Umweltausschuß in der Tiefe, deren diese Frage bedarf, erörtert als in der Kürze einer solchen Regierungsbefragung, zumal da wir beide gerade über drei Stunden lang genau dieses Thema so bereits erörtert haben.
Wir haben jetzt für die Befragung zum heutigen Kabinettspunkt 15 Minuten gehabt. Ich unterbreche jetzt diesen Punkt und lasse zunächst die aktuellen Fragen zu. Als erster Herr Abgeordneter Dr. Penner.
Frau Präsidentin! Ich möchte nicht so unhöflich sein, meine Frage zu wiederholen, weil ich davon ausgehe, daß die Kapazität der Bundesregierung ausreicht, um die Frage, die ich gestellt habe, zu behalten.
Frau Parlamentarische Staatssekretärin Hürland.
Herr Kollege Penner, ich danke Ihnen für diese ihre positive Einstellung
zur Bundesregierung.
Die von Ihnen angesprochene Frage ist im Kabinett nicht behandelt worden. Wie Sie wissen, ist das eine ernstzunehmende Frage. Wie Sie weiter wissen — ich möchte, um das Kompliment zurückzugeben, fast sagen: Sie kennen das Haus fast besser als ich — , befindet sich der Bundesminister der Verteidigung,
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8329
Parl. Staatssekretärin Frau Hürland-Büning
Prof. Scholz, zur Zeit in Amerika. Es wird danach geprüft werden.
Frau Abgeordnete Däubler-Gmelin.
Frau Staatssekretärin, nachdem jetzt Herr Penner der Bundesregierung solche Komplimente gemacht hat, frage ich: Da die Frage, was denn nun eigentlich mit der Verlängerung des Grundwehrdienstes wird, so viele Menschen beschäftigt, sind Sie nicht der Meinung, daß dies auch ohne die persönlich-körperliche Anwesenheit des Herrn Bundesverteidigungsministers geprüft werden könnte? Und können Sie uns nicht sagen, ob die Tatsache, daß Sie das nicht im Kabinett besprochen haben, nicht vielmehr daran liegt, daß die politischen Widerstände der CSU zu groß werden oder daß Sie sich nicht einigen können, ob 500 000 oder gar 700 000 junge Leute auf ihre Einberufung warten?
Noch einmal Frau Hürland.
Frau Kollegin Däubler-Gmelin, Sie wissen, daß wir nicht so sehr, wie vielleicht manche Abgeordnete, für Schnellschüsse sind. Ich meine, ich habe sehr deutlich gemacht, daß das eine sehr ernstzunehmende Frage ist, die geprüft werden muß, und leider oder auch Gott sei Dank doch — ich bitte dafür um Verständnis — auch die Anwesenheit des Bundesministers der Verteidigung erfordert.
Darf ich eine Bemerkung dazu machen? Ich meine, das ist unbefriedigend. Können Sie uns wenigstens sagen, wann mit der körperlichen Anwesenheit des Herrn Bundesverteidigungsministers und deswegen mit dem Fortgang der Prüfung gerechnet werden kann?
Frau Kollegin, der Bundesminister der Verteidigung beabsichtigt, am kommenden Dienstag zurückzukehren.
Frau Abgeordnete Wollny.
Ich habe, wie man sich denken kann, noch eine Frage an Herrn Minister Töpfer. Herr Minister Töpfer, hoffen Sie, daß mit dem Standort Salzgitter, das heißt damit, daß Sie die Stadt Salzgitter mit Ihrem neuen Bundesamt beglücken, nun der Widerstand der SPD gegen Conrad beerdigt werden kann? Ich meine die SPD in Salzgitter — um es klar zu sagen —.
Frau Wollny, darf ich kurz unterbrechen — weil wir ja bei einem anderen Themenkreis der aktuellen Fragen waren — und fragen, ob an den Saalmikrophonen zunächst noch Personen zu anderen Fragen stehen. —
— Das ist der Fall bei Frau Fuchs. Ich komme gleich auf Ihre Frage zurück. Nun bitte Frau Fuchs.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. — Zu einer aktuellen Meldung: Hat der Bundeskanzler schon jetzt vor, den noch nicht im Amt befindlichen Dr. Haussmann nur auf Zeit zu berufen und 1990 durch Herrn Dr. Waigel zu ersetzen, wie man heute den Zeitungen entnehmen kann?
— Ja; das ist wahr.
Herr Bundesminister Schäuble wird dazu Stellung nehmen.
Frau Kollegin, die Frage beantwortet sich aus dem Grundgesetz.
Die Mitglieder der Bundesregierung werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Herrn Bundespräsidenten ernannt. Das gilt jeweils für eine Legislaturperiode.
Ich darf noch eine Bemerkung machen. Ich dachte, das sei vielleicht eine Auswirkung des sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetzes des Herrn Blüm, die jetzt auf das Kabinett umschlägt.
Ich kehre nun zu den Fragen zum Tagesordnungspunkt zurück. Frau Wollny hatte gefragt. Ich glaube, wir brauchen die Frage nicht zu wiederholen. Herr Bundesminister Töpfer wird antworten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete Wollny, ich bin nicht der Meinung, daß die Entscheidung für den Sitz Salzgitter für dieses Bundesamt auf Parteien irgendeinen korrumpierenden Eindruck haben könnte. Die Entscheidung für Salzgitter ist aufgrund der Tatsache gefallen, daß es naheliegend ist, möglichst an den Orten auch mit Fachleuten präsent zu sein, an der eine Entsorgungsaufgabe zum Beispiel bewältigt werden soll. Es ist eine sachgerechte Entscheidung, die auch von der Stadt Salzgitter als außerordentlich sinnvoll und richtig angesehen wird. Daß darüber hinaus auch andere Standortfaktoren, etwa die Nähe zu Braunschweig und der physikalisch-technischen Bundesanstalt aber auch die Tatsache, daß es sich hier um ein Zonenrandgebiet handelt, eine Rolle gespielt haben, das möchte ich ergänzend hinzufügen.
8330 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Danke. Herr Abgeordneter Schmidbauer.
Herr Minister, die Bundesregierung hat die Zusammenarbeit mit Ungarn auf dem Gebiet des Umweltschutzes beschlossen. Darf ich Sie fragen, ob weitere Planungen bestehen, derartige Abkommen auch mit anderen Staaten unserer östlichen Nachbarn abzuschließen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Schmidbauer, diese Überlegungen bestehen. Sie sind uns von den Nachbarstaaten außerordentlich nachdrücklich immer wieder abverlangt worden; so verhandeln wir gegenwärtig in abschließenden Verhandlungen mit der Volksrepublik Polen, die ebenfalls an einem solchen Umweltabkommen dringend interessiert ist. Wir haben entsprechende Verhandlungen und Gespräche mit Bulgarien aufgenommen und werden es sicherlich mit den verbleibenden Staaten Rumänien und mit Abstrichen mit Jugoslawien ebenfalls tun. Alle anderen Staaten sind bereits in einem derartigen bilateralen Vertragsverhältnis mit der Bundesrepublik Deutschland.
Danke. Herr Abgeordneter Häfner.
Herr Bundesminister, die Öffentlichkeit fragt sich in diesen Tage zu Recht, wie es möglich war, daß ein Störfall von einem solchen potentiellen Ausmaß wie in Biblis passieren kann, ohne daß die Öffentlichkeit hierüber unterrichtet wird. Nun wurde wiederholt nachgefragt, welche Konsequenzen die Bundesregierung, und zwar unmittelbare und konkrete Konsequenzen, aus dieser Tatsache zieht und wie sichergestellt werden kann und wird, daß in Zukunft eine umgehende Unterrichtung der Öffentlichkeit erfolgt und welche konkreten Kompetenzen in diesem Zusammenhang dem von Ihnen einzurichtenden neuen Strahlenbundesamt gegeben werden. Ich möchte Sie bitten, auf diese Frage nun zu antworten. Sie sind in meinen Augen der Frage wiederholt ausgewichen.
Die Tatsache, daß, wenn Sie mich das noch ergänzen lassen, der Störfall in den Behörden, die Sie genannt haben, bekannt wurde, daß das aber nicht der Öffentlichkeit mitgeteilt wurde, erhöht die Sorge noch. Meine Frage ist deshalb, was wird hier konkret geschehen in bezug auf die Änderung des bisherigen Geschehnisablaufes und Meldeablaufes?
Bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte noch einmal ganz deutlich machen, daß diese Information, die hier gelaufen ist, nicht eine atypische Informationspolitik für dieses Ereignis gewesen ist.
Im Jahre 1987 sind insgesamt 11 sogenannte EherEreignisse vorgekommen, und über alle diese ist in gleicher Weise verfahren worden. Insofern stimme ich Ihnen zu: Änderungen sind generalisierend und nicht
spezifisch für den „einen Fall" erforderlich. Darin unterscheiden wir uns.
Wir sind der Überzeugung, daß für die Information der Öffentlichkeit die Aufsichtsbehörden zuständig sein müssen, also die Bundesländer, die die Aufsicht über diese Kernkraftwerke haben, weil sie die Ortsnähe haben und weil sie die Anlagen kennen und sie sehr schnell auch inspizieren können. Dies ist in der Vergangenheit so gewesen. Jedes Bundesland konnte auch nach seiner Wertung entsprechend informieren und hat es auch, wenn es es für erforderlich gehalten hat, getan. Wir sind in Kenntnis dessen, was an Reaktion auf diesen Fall vorgekommen ist aber durchaus der Überzeugung, daß wir dieses auch durch eine Vorgabe des Bundes an die Bundesländer noch mit unterstreichen können. Das würde dann auch die Aufgabe des Bundesamtes sein, weil dort die Meldestelle ist und von daher gesehen auch die Bewertung vorgenommen werden kann, falls ein Bundesland nicht informiert hat, durch unsere Entscheidung zu sagen, aber hier muß informiert werden.
Frau Abgeordnete, ich erinnere daran, daß wir morgen den Vorfall Biblis ebenfalls auf der Tagesordnung haben. Herr Abgeordneter Eylmann.
Herr Minister, ich habe eine Frage zur Novellierung der Strahlenschutzverordnung. Werden bei dieser Novellierung auch die neuesten Erkenntnisse über Strahlenrisiken aus Hiroshima und Nagasaki berücksichtigt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Erkenntnisse aus den Atombombenstädten in Japan sind gegenwärtig in einer internationalen Aufarbeitung durch die entsprechenden internationalen Agenturen. Es war die Überzeugung, daß diese Arbeit nicht vor dem Beginn der 90er Jahre abgeschlossen werden kann. Wir haben deswegen jetzt eine Entscheidung getroffen, die offenhält, weitere Entwicklungen im internationalen Bereich aufzunehmen. Die Strahlenschutzkommission ist mit uns der Überzeugung, daß das deutsche 30-Millirem-Konzept ohnedies so weit im Bereich der Vorsorge ist, daß wir auf jeden Fall auf der richtigen Seite liegen und weiteren Entwicklungen dann mit Offenheit entgegensehen können.
Herr Abgeordneter Schily. — Vielleicht darf ich in Erinnerung rufen: Zur Regierungsbefragung wird nicht nach der Reihenfolge der Wortmeldungen aufgerufen, sondern immer wechselnd.
Ich habe es verstanden, danke schön.
Herr Bundesminister, Sie haben bekanntlich auch das Ressort Reaktorsicherheit, was in der Öffentlichkeit mitunter in Vergessenheit gerät — verständlicherweise. Sind Sie der Meinung, daß Sie über die Störfälle in Biblis, mögliche Störfälle in Stade und generell über alle Störfälle von Atomkraftwerken in der Bundesrepublik umfassend genug und zeitnah genug informiert worden sind und informiert werden, und teilen Sie die Auffassung, daß Bedenken gegen
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8331
Schily
die Zuverlässigkeit der Betreiber auch angesichts der jüngst bekanntgewordenen Vorkommnisse geäußert werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zunächst, Herr Abgeordneter Schily, habe ich in den nun neunzehn Monaten meiner Amtszeit nicht den Eindruck gehabt, daß in der Öffentlichkeit in Vergessenheit geraten könnte, daß mein Ministerium etwas mit Reaktorsicherheit zu tun hat.
Diese Sorge habe ich nicht gehabt.
Zum Zweiten. Es hat sich bestätigt, daß die Praxis in der Bundesrepublik Deutschland, wie sie über all die Jahre bestanden hat, daß nämlich eine Störfallmeldestelle bei der Gesellschaft für Reaktorsicherheit gebildet ist, in der alle diese Störfälle, Vorkommnisse in Kernkraftwerken aufgenommen, ausgewertet und, wo notwendig, in die Praxis der Aufsicht zurückgegeben werden, richtig ist.
Ich halte es allerdings für dringend notwendig, daß wir diese Störfallmeldestelle unmittelbar in den staatlichen Bereich hineinziehen. Deswegen gab es weit vor Biblis die Entscheidung, diese Meldestelle für die Störfälle in deutschen Kernkraftwerken in das Bundesamt für Strahlenschutz hineinzunehmen, also aus der GRS herauszunehmen. Sie sehen auch daran, daß ich der Meinung bin, da ist etwas verbesserungsbedürftig. Wir haben die organisatorischen Voraussetzungen dafür jetzt geschaffen.
— Zur Frage der Zuverlässigkeit der Betreiber: Ich habe gestern bei meinem Kollegen Weimar angefragt, ob die Aussage, die ihm zugeschrieben worden ist, zutreffend ist. Danach habe er gesagt, daß erkennbar falsch informiert worden sei. Ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht, wenn erkennbar falsch informiert worden sei, würde das Rückfragen an die Zuverlässigkeit oder die Sachverständigkeit der Betreiber auslösen. Ich würde mir möglicherweise Maßnahmen nach § 19 des Atomgesetzes vorbehalten. Dies habe ich bereits gestern getan. Wir gehen dieser Frage selbstverständlich nach.
Ich weise darauf hin, in zwei Minuten ist die vorgesehene Zeit abgelaufen. Ich verlängere um fünf Minuten, damit noch alle Fragesteller aufgerufen werden können.
Herr Abgeordneter Laufs.
Herr Bundesminister, ist es richtig, daß Sie im Rahmen des Gesetzes zur Errichtung des Bundesamtes für Strahlenschutz beabsichtigen, auch das Atomgesetz zu ändern, um es z. B. an die Rechtsprechung anzupassen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Laufs, ich habe bereits darauf aufmerksam gemacht,
daß wir in diesem Errichtungsgesetz den § 6 des Atomgesetzes zur Veränderung vorschlagen. Wir sind der Meinung, daß das aus zwei Gründen notwendig ist, einmal, um klar und eindeutig festzuhalten, daß eine öffentliche Beteiligung bei diesen Genehmigungsverfahren verbindlich ist. Bisher ist das auf freiwilligem Wege über die Physikalisch-Technische Bundesanstalt durchgeführt worden. Stichwort: Brennelementzwischenlager in Gorleben. Dort hat eine solche öffentliche Beteiligung stattgefunden, aber ohne gesetzliche Verpflichtung dazu.
Zweitens wollen wir eindeutig klarstellen, was nach Meinung von Bund und Ländern schon jetzt gilt, daß nämlich auch der § 6 für die Zwischenlagerung nicht wiederaufzuarbeitender Abfallstoffe anwendungsfähig ist. Hier gab es unterschiedliche Äußerungen, daß diese Maßnahme nur über den § 9 a des Atomgesetzes als sogenanntes Sicherstellungslager durchgeführt werden könnte. Wir sind dieser Meinung nicht, wollen das aber diesem Hohen Hause im Gesetzgebungsverfahren vorlegen, um eine abschließende Klärung zu erreichen.
Herr Abgeordneter Penner.
Ist im Kabinett darüber beraten worden, wie angesichts der hohen Studentenzahlen Universitäten und Studenten schnellstmöglich geholfen werden kann?
Herr Minister Möllemann.
Herr Kollege Dr. Penner, über diese Frage hat es heute ein weiteres Gespräch zwischen dem Finanzminister und mir gegeben, um die Sitzung des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten der Länder am 15. Dezember vorzubereiten. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß bei dieser Sitzung der Versuch unternommen werden soll, gemeinsam mit den Ländern alles nur Denkbare und Mögliche, in der jeweiligen Zuständigkeit Liegende zu tun, um die Situation an den Hochschulen zu verbessern.
Hat das Gespräch im Kabinett stattgefunden, oder war das ein Gespräch außerhalb des Kabinetts? Wir befinden uns bei der Kabinettsbefragung.
Es hat am Rande des Kabinetts stattgefunden.
Danke, Herr Bundesminister. Herr Abgeordneter Schily.
Ich habe noch eine Frage zu einem anderen Thema: Hat die Bundesregierung den Prozeß der Meinungsbildung betreffend die sogenannte Modernisierung von Kurzstreckenraketen abgeschlossen? Es wäre ja für die Öffentlichkeit interessant, das zu erfahren, damit nicht das Profil so entsteht: Einige
8332 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Schily
Kabinettsmitglieder sind dagegen oder vielleicht nur eines, einige sind dafür, und manche wissen nicht so genau. Es wäre vielleicht ganz erfreulich, wenn wir von der Bundesregierung dazu eine klare Auskunft erhalten könnten. Und wenn die Meinungsbildung noch nicht abgeschlossen ist, für welchen Zeitpunkt dürfen wir sie erwarten?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung arbeitet kontinuierlich am Gesamtkonzept des Bündnisses mit.
Meine Damen und Herren, die für die Befragung der Bundesregierung vorgesehene Zeit ist abgelaufen. Ich danke den Vertretern der Bundesregierung und beende die Befragung.
Wir setzen die Beratungen mit der Fragestunde fort.
Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
— Drucksache 11/3640 —
Wir haben zunächst Dringliche Fragen der Abgeordneten Dr. Penner und Frau Dr. Däubler-Gmelin, und zwar aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern zu behandeln. Herr Minister Zimmermann steht zur Verfügung.
Ich rufe die Dringliche Frage 2 des Abgeordneten Dr. Penner auf:
Ist Bundesminister Dr. Zimmermann politisch bevollmächtigt, bei der nächsten Tagung der EG-Einwanderungsminister Vereinbarungen zur Asyl- und Visafrage einzugehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bei dem Treffen der für Einwanderungsfragen zuständigen Minister der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1988 in Athen werden keine grundsätzlichen Vereinbarungen zum materiellen Asylrecht beschlossen. Die Minister werden entsprechend dem Auftrag der Staats- und Regierungschefs ihre Beratungen über notwendige Harmonisierungen im Bereich des Asylverfahrens und der Visapolitik mit dem Ziel fortsetzen, möglichst zügig die Voraussetzungen für die Verwirklichung des Großen Marktes in der Gemeinschaft zu schaffen. Dies entspricht sowohl dem einstimmigen Beschluß der Innenministerkonferenz vom 29. April 1988, als auch dem Ergebnis des Gesprächs des Bundeskanzlers mit den Regierungschefs der Länder sowie den Partei- und Fraktionsvorsitzenden von SPD, FDP, CDU und CSU am 25. September 1986.
Zusatzfrage, Herr Dr. Penner.
Herr Minister, wie soll denn nach Ihrer Auffassung die Harmonisierung aussehen?
Dr. Zimmermann, Bundesminister: Die Probleme, die der Große Markt mit sich bringen wird, sind klar. Die Landung eines Flugzeuges mit Asylbewerbern in einem beliebigen Teil der Gemeinschaft in irgendeiner Stadt, von London bis Rom oder Madrid, setzt einen bestimmten Mechanismus in Gang, der bis jetzt in jedem Land natürlich verschieden ist. Das zu harmonisieren ist das Ziel der Tagung der sogenannten Einwanderungsminister, die in Athen das dritte Mal stattfindet.
Weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Penner.
Herr Präsident, ich will mich lieber auf eine Frage beschränken. — Herr Minister, haben Sie Ihr diesbezügliches Vorgehen im Kabinett abgestimmt?
Dr. Zimmermann, Bundesminister: Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, daß sowohl die Regierungschefs der Länder mit den Partei- und Fraktionsvorsitzenden der von mir genannten Parteien wie die Innenministerkonferenz, bei der der Bundesinnenminister Gast ist, mich dazu verpflichtet haben.
Das erste Gremium dazu:
Der Zustrom von Asylbewerbern muß auf allen europäischen Gesprächsebenen behandelt werden. Ziel muß ein koordiniertes Verhalten der europäischen Staaten sein.
So die Regierungschefs.
Nun die Innenminister im April diesen Jahres:
Im übrigen sind die Innenministerkonferenz und der Bundesinnenminister der Überzeugung, daß die Asylpolitik dringend einer europäischen Harmonisierung bedarf. Der Bundesminister des Innern wird gebeten, bei der TREVI-Konferenz im Juni in München auf weitere Schritte in dieser Richtung zu drängen.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Dr. Däubler-Gmelin.
Sie haben gerade gesagt, es würden keine grundsätzlichen materiellen Vereinbarungen getroffen. Die Frage war aber, ob für die Bundesrepublik überhaupt wirksame Vereinbarungen abgeschlossen werden. Ich darf sagen, warum ich das frage — ich bitte Sie, mir zu gestatten, daß ich das vorlese — : Am Samstag war in der „Süddeutschen Zeitung" zu lesen, daß Ihr Herr Staatssekretär, der an diesem Gespräch am Freitag ja wohl teilnehmen wird, gesagt hat, daß dann, wenn ein Beitritt zu diesem System mit allen Rechten und Pflichten erfolgt sei, „eine Anpassung des deutschen Grundrechts auf Asyl erforderlich ... wird" . Das war ein wörtliches Zitat. Das deckt sich mit dem, was Sie hier sagen, nicht. Ich bitte um Klarstellung.
Dr. Zimmermann, Bundesminister: Es deckt sich mit dem, was ich hier sage, sehr wohl. Ich habe Ihnen bereits zweimal gesagt, wer alles — lückenlos alle A-´und B-Länder und ebenso die Regierungschefs — eine Harmonisierung des Asylrechts in Europa für unabdingbar, für absolut notwendig hält.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8333
Bundesminister Dr. Zimmermann
Unsere Partnerstaaten und auch wir arbeiten daran. Wir müssen uns ja auf bestimmte Formen verständigen. Wir sind noch längst nicht so weit. Wenn wir so weit sind, werde ich das Parlament selbstverständlich informieren. Vielleicht sind auch Änderungen von Gesetzen notwendig. Das kann ich alles noch nicht sagen. Das Problem wird aber von allen gesehen und deswegen behandelt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Olderog.
Herr Minister, habe ich Sie richtig verstanden, daß ein europäischer Binnenmarkt und die Aufhebung aller Grenzkontrollen nicht vorstellbar sind, ohne daß zuvor eine Harmonisierung des Asylrechts in der Europäischen Gemeinschaft stattgefunden hat? Und ist es zutreffend, daß das Asylrecht der Bundesrepublik Deutschland mit Abstand das großzügigste ist und daß dies in der Vergangenheit zu einer besonderen Belastung der Bundesrepublik Deutschland geführt hat?
Dr. Zimmermann, Bundesminister: Nicht nur eine Harmonisierung des Asylrechts ist notwendig. Beim Wegfall der Grenzkontrollen ist auch eine Harmonisierung anderer Rechtssysteme, des Strafrechts, des Strafprozeßrechts und bestimmter Vorschriften im Polizeirecht, notwendig. Da stehen wir ohnehin noch vor einer Fülle von Harmonisierungsaufgaben.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Alle anderen elf EG-Minister wissen, daß wir das einzige Land in der Europäischen Gemeinschaft sind, das eine Rechtswegegarantie im Art. 19 des Grundgesetzes und ein Verfassungsrecht auf Asyl für politisch Verfolgte im Art. 16 hat.
Das gibt es sonst nirgendwo.
Zusatzfrage des Abgeordneten Wartenberg.
Herr Minister, ist Ihnen eigentlich bekannt, daß in Athen einige Punkte vordringlich behandelt werden sollen, wie beispielsweise die Fragen, wer für welches Verfahren zuständig ist, und wenn ein Verfahren in einem Land abgeschlossen worden ist, ob dieses in einem weiteren Land wiederaufgenommen werden kann? Sind diese Fragen — da Sie sich dazu nur sehr global äußern — , die ja das Grundgesetz berühren, mit dem Bundeskabinett oder mit den Länderchefs abgesprochen worden?
Dr. Zimmermann, Bundesminister: Wir sind mitten in Verhandlungen; die werden natürlich auch nicht allein von den zwölf Einwanderungsministern persönlich geführt — die Beratungszeit in Athen ist auf 90 Minuten festgesetzt — , sondern diese Beratungen finden in Arbeitsgruppen der Einwanderungs- und der Innenministerkonferenz auf der Ebene der Beamten statt, die immer wieder zusammentreffen. Also ich wiederhole : Entscheidungen, Ergebnisse, Fixierungen, Festlegungen gibt es in Athen nicht.
Zusatzfrage des Abgeordneten Gerster .
Herr Minister, teilen Sie meine Auffassung, daß eine Harmonisierung dieser Asylverfahrensbestimmungen schon deshalb notwendig ist, weil es nach derzeitiger Rechtslage geschehen kann, daß ein Land den Antrag eines Asylbewerbers rechtskräftig ablehnt, dann aber derselbe Asylbewerber theoretisch in elf anderen Ländern hintereinander entsprechende Rechtswegverfahren beschreiten kann, so daß ein Bewerber theoretisch in allen zwölf Staaten hintereinander ein derartiges Verfahren beantragen und durchführen kann?
Dr. Zimmermann, Bundesminister: Unsere Partnerstaaten sind aus diesen, von Ihnen gerade in der Frage genannten Gründen der Auffassung, daß wir eine möglichst weitgehend einheitliche Regelung und eine gegenseitige Information nötig haben, um so etwas zu vermeiden.
Ich rufe die Dringlichkeitsfrage 1 der Abgeordneten Frau Dr. Däubler-Gmelin
auf:
Hat der Bundesminister des Innern den für das Ausländer- und Flüchtlingsrecht zuständigen EG-Ministern mitgeteilt, daß er nicht berechtigt ist — und deshalb auch im Hinblick auf die Tagung der EG-Minister am 9. Dezember 1988 nicht bevollmächtigt sein kann —, Vereinbarungen abzuschließen, die gegen Artikel 16 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz verstoßen?
Dr. Zimmermann, Bundesminister: Die Antwort lautet: Der Bundesminister des Innern hat die Einwanderungsminister der EG über die in der Bundesrepublik Deutschland geltende Rechtslage unmißverständlich und umfassend informiert.
Zusatzfrage, Frau Dr. Däubler-Gmelin.
Herr Minister, eigentlich sollte es ja überflüssig sein, daß man das hier bespricht. Aber Ihnen ist genauso bekannt wie uns, daß es eine Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes weder mit der CDU — Herr Gerster hat sich dementsprechend eingelassen — noch mit der FDP — Herr Lambsdorff hat sich dementsprechend eingelassen — gibt. Können Sie uns deshalb mitteilen, wie Sie vermeiden wollen, daß hier Absprachen getroffen werden, die dann wegen Verstoßes gegen Art. 16 des Grundgesetzes hier im Bundestag doch keinen Bestand haben können?
Dr. Zimmermann, Bundesminister: Wir werden keine Regelungen treffen, die Art. 16 außer Kraft setzen, weil das gar nicht geht, und müssen trotzdem im europäischen Bereich Regelungen finden, mit denen auch die anderen leben können. Das ist doch wohl klar. Daran arbeiten wir. Das ist eine ganz komplexe, komplizierte und noch lang andauernde Arbeit.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Minister, jetzt kommen wir zur materiellen Grundlage. Was ich überhaupt nicht verstehe: warum Sie auf diesem europäischen Schleichweg der Ministerabsprache verfah-
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Frau Dr. Däubler-Gmelin
rensrechtlich vorgehen wollen; denn Sie kommen an der Schranke des Art. 16 gar nicht vorbei. Welche Initiativen ergreift denn eigentlich die Bundesregierung, um den Auftrag des Europäischen Parlamentes, auf der Basis der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 eine gemeinsame europäische Flüchtlingskonzeption zu entwickeln, zu unterstützen?
Dr. Zimmermann, Bundesminister: Das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Ich wiederhole — ich möchte es nicht ein drittes Mal vorlesen — , daß mich die Innenminister der Länder, die Regierungschefs, die Parteivorsitzenden, die Fraktionsvorsitzenden von SPD, FDP, CDU, CSU, wie vorher zitiert, für eine Harmonisierung weiter einzutreten, sie zu verhandeln und sie für notwendig zu halten beauftragt haben. Ich führe hier einen Beschluß der Innenministerkonferenz der Länder durch, Frau Kollegin.
Warum beantworten Sie meine Frage nicht? Ich habe nach dem Auftrag des Europäischen Parlaments, nämlich die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 eben zur Grundlage dieser europäischen Flüchtlingspolitik zu machen, gefragt. Das ist, wie Sie sagen, eine Alternative zu Ihrem verfassungsrechtlich bedenklichen Vorgehen.
Dr. Zimmermann, Bundesminister: Die Bundesregierung und die Länderinnenminister halten mein Vorgehen nicht für verfassungsrechtlich bedenklich. Ich überschreite die Schwelle des Art. 16 nicht und muß trotzdem für eine Harmonisierung eintreten.
Zusatzfrage des Abgeordneten Gerster.
Ich halte zunächst die Feststellung in der Frage, daß ein Minister durch Vereinbarungen die Verfassung bricht, für unzulässig und nicht richtig.
Darüber hat der Präsident hier zu entscheiden, und der liest das Wort „Ausländer- und Flüchtlingsrecht" in der Frage.
Herr Minister, ich habe folgende Frage: Ist es denkbar, daß EG-Richtlinien, EG-Recht unsere Verfassung aufheben kann nach dem Prinzip „Europarecht bricht Bundesrecht und Bundesverfassungsrecht"?
Dr. Zimmermann, Bundesminister: Das gehört zu den schwierigsten Fragen überhaupt, Herr Kollege Gerster. Sie gestatten mir, daß ich darauf in einer Fragestunde — das würde nämlich ein Symposium und eine Befassung von vielen Experten voraussetzen — aus dem Stand nicht antworten möchte.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Penner.
Herr Bundesminister Dr. Zimmermann, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß kein SPD-Politiker einer Harmonisierung des Asylrechts in der EG unterhalb des Niveaus von Art. 16 das Wort geredet hat; und stimmen Sie mit mir darin überein, daß besonders der Verfassungsminister eines Landes gehalten ist, sich für Grundrechte und grundrechtsähnliche Positionen seines eigenen Landes einzusetzen?
Dr. Zimmermann, Bundesminister: Das zweite ist eine Selbstverständlichkeit, das erste ist ein Auftrag der Innenministerkonferenz, die auch nicht eine Tangierung von Art. 16 wollte, sondern alles, was möglich ist, europäisch harmonisieren will, ohne daß unsere Verfassungsbestimmung tangiert wird.
Zusatzfrage des Abgeordneten Wartenberg.
Herr Minister, können Sie noch einmal auf die Frage eingehen, in der Herr Gerster darauf hingewiesen hat, daß die Ablehnung eines Asylbewerbers in einem anderen Land zur Wiederaufnahme des Verfahrens in der Bundesrepublik Deutschland führen kann und daß eine Harmonisierung, die das unmöglich macht, Art. 16 tangiert? Oder tangiert das nicht Art. 16? Zweitens: Gehen Sie auf Grundlage der Genfer Konvention in diese europäische Verhandlung hinein, oder welche Grundlage, welches Konzept, liegt den Verhandlungsbemühungen der Bundesregierung zugrunde?
Dr. Zimmermann, Bundesminister: Wir sind gerade dabei, die Verhältnisse, wie sie sich in Europa entwikkeln, zu besprechen. Da gibt es Länder, die sind daran nicht besonders interessiert, da gibt es andere Länder, die sind sehr interessiert. Die Rechtslage ist überall anders. Was der Kollege Gerster vorher mit seinem Beispiel brachte, nämlich die theoretische Möglichkeit zwölf verschiedener Asylanträge in zwölf verschiedenen Ländern mit zwölfmal verschiedener Behandlung, das soll, soweit es geht, unterbunden werden.
Ich hoffe, es kommt zu einer gemeinsamen Regelung, weil es zu einer Entwicklung nicht kommen sollte: Es sollte nicht dazu kommen, daß sich elf Länder einigen und wir das Reserveland für die elf anderen sind. Das wäre katastrophal. Da stimmen wir doch hoffentlich überein.
Zusatzfrage des Abgeordneten Olderog.
Herr Minister, ist es zutreffend, daß sich 90 % der Asylbewerber, die in die Bundesrepublik Deutschland kommen, zu Unrecht auf das Asylrecht berufen, und verfügen die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft über Asylrechtssysteme, die einen solchen Mißbrauch vermeiden?
Dr. Zimmermann, Bundesminister: Die Anerkennungsquote betrug im letzten Monat, im November, 8,7 %. Alle anderen Länder verfügen über ein Ermessensinstrumentarium, das mit dem unseren überhaupt nicht zu vergleichen ist.
Wir sind damit am Ende der Dringlichkeitsfragen. Ich danke dem Minister für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Die Fragen 19 und 20 der Abge-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8335
Vizepräsident Westphal
ordneten Frau Schmidt , die Fragen 21 und 22 des Abgeordneten Duve, die Fragen 23 und 24 des Abgeordneten Gansel sowie die Fragen 25 und 26 der Abgeordneten Frau Würfel werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich komme nun zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Der Herr Parlamentarische Staatssekretär Grüner steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 der Abgeordneten Frau Wollny auf :
Welche Gründe rechtfertigen nach Ansicht der Bundesregierung den Weiterbetrieb der Urananlage Ellweiler trotz fehlender immissionsrechtlicher Genehmigung, trotz erheblichen Überschreitens der erlaubten radioaktiven Höchstwerte und Gefährdung von Mitarbeitern, Bevölkerung und Grundwasser durch den Betrieb der Anlage?
Bitte schön, Herr Grüner.
Frau Kollegin, Immissionsmessungen des Landesamtes für Umweltschutz in Mainz haben gezeigt, daß keine schädlichen Umwelteinwirkungen von der Urananlage Ellweiler durch Luftverunreinigungen ausgehen. Die an den ungünstigsten Aufpunkten durchgeführten Messungen für Schwebstaub, Blei und Cadmium ergaben Werte, die erheblich unter den Immissionswerten der Technischen Anleitung Luft liegen. Die zuständige Genehmigungsbehörde hat daher den Erlaß einer aufschiebend bedingten Stillegungsanordnung angekündigt, die dem Betreiber Gelegenheit geben soll, prüffähige Antragsunterlagen vorzulegen.
Die Strahlenbelastung in der Umgebung der Urananlage Ellweiler wurde durch Sanierungsmaßnahmen deutlich gesenkt. Der Grenzwert des § 44 Abs. 1 der Strahlenschutzverordnung wird an fast allen Punkten des Anlagengeländes selbst dann eingehalten, wenn man dort den ständigen Aufenthalt einer Person unterstellen würde. Auch an den zwei Punkten, an denen bei unterstelltem ständigem Aufenthalt geringfügig höhere Werte errechnet werden können, wird nach Errichtung vorgesehener weiterer Schutzwände der genannte Wert unterschritten.
Messungen des Bundesgesundheitsamtes und des Landesamtes für Umweltschutz in Mainz haben gezeigt, daß sowohl die Beschäftigten in der Anlage als auch die Bevölkerung zu keiner Zeit durch den Betrieb der Anlage gefährdet waren.
Auf Grund der gemessenen Grundwasserwerte ist sichergestellt, daß der Grenzwert der Strahlenschutzverordnung von 0,3 Millisievert über den Wasserpfad pro Jahr nicht überschritten wird.
Frau Wollny, Zusatzfrage, bitte schön.
Werden bei den Berechnungen der Emissionen aus der Anlage in Ellweiler auch die besonders hohen natürlichen Strahlenaufkommen berücksichtigt? Immerhin beträgt die sogenannte natürliche Strahlung dort 730 Millirem.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die Werte, die ich hier angegeben habe, beruhen auf den Grundlagen und Anforderungen, die die Strahlenschutzverordnung stellt.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Die berücksichtigen aber nicht die natürliche Strahlung?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich möchte noch einmal betonen, daß das die gesetzlichen Vorschriften sind, die überall angewandt werden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Hüser, bitte schön.
Ich möchte Sie fragen, ob bei der Ermittlung für den Meßplan durch das Landesamt für Umweltschutz und Gewerbeaufsicht nach der TA Luft und hier insbesondere nach den Ziffern 2.6.2 e und 2.6.2f vorgegangen worden ist, wo insbesondere die Fläche und der Zeitraum geregelt sind?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich möchte unterstreichen, daß die zuständige Behörde nach den gesetzlichen Grundlagen ermittelt hat, ohne daß ich hier in der Lage bin, auf Spezialfragen einzugehen. Dafür wäre die zuständige Genehmigungsbehörde sicher der richtige Ansprechpartner.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Daniels .
Stimmen Sie mit mir darin überein, daß die Grenzwerte der Uranerze, die dort verarbeitet werden, bei 370 Becquerel pro Gramm liegen? Wie bewerten Sie die neueren Messungen des Heidelberger Umwelt- und Prognoseinstituts, das festgestellt hat, daß zwar der Mittelwert unter 370 Becquerel pro Gramm liegt, nämlich bei 340 Becquerel — das ist ja auch schon bedenklich nahe daran — , daß aber die Strahlung der Erze insgesamt bei 437 Becquerel pro Gramm liegt und daß die konzentrierten Rückstände der Urangewinnung sogar 4 000 Becquerel pro Gramm an Strahlung abgegeben haben? Das heißt doch, daß hier Materialien gelagert werden, die in Einzelfällen noch weit oberhalb der Grenzwerte liegen. Deswegen müßte die Anlage doch sofort geschlossen werden.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie werden verstehen, daß ich auf die hier gestellte Frage die Werte mitteile, die von den dazu berufenen amtlichen Stellen vor Ort gemessen worden sind, und daß ich mich darüber hinaus nicht auf mögliche Hochrechnungen und andere Äußerungen stützen kann. Wir haben dafür die entsprechenden Einrichtungen, die die entsprechenden Messungen vor Ort durchführen. Ich habe Ihnen das Ergebnis dieser Messungen soeben hier vorgetragen.
Frau Teubner, Zusatzfrage, bitte schön.
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Ich möchte Sie zunächst fragen, ob sich Ihr Ministerium mit dem Material des Ministeriums für Umwelt in Rheinland-Pfalz vom Mai 1988 — das ist die Dokumentation zu Ellweiler — vertraut gemacht hat, und ich möchte Sie weiter fragen, ob Ihnen die Studie des Öko-Instituts vom 1. September 1988 vertraut ist, aus der hervorgeht, daß die Aussagen, die Sie hier über die Einhaltung der Strahlenschutzgrenzwerte gemacht haben, insofern gar nicht zutreffen können, als bestimmte Belastungspfade gar nicht meßbar sind? Zum Beispiel sind die Voraussetzungen für die Meßbarkeit der Luftbelastung gar nicht gegeben, weil man in Ellweiler gar keine eindeutigen Meßpfade hat, denn es strahlt dort nach allen Seiten. Kennen Sie diese Untersuchungen, und wie beurteilen Sie sie?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich kenne diese Untersuchungen. Sie sind auch Grundlage der behördlichen Überlegungen gewesen. Die Meßwerte, die ich Ihnen hier mitgeteilt habe, entsprechen dem, was die Behörden vor Ort in Kenntnis aller Einwände als Grundlage ihrer Einschätzung der Lage in Ellweiler mitgeteilt haben. Ich habe das hier in aller Knappheit wiedergegeben.
Ich rufe jetzt Frage 2 der Abgeordneten Frau Wollny auf:
Welchen Stellenwert hat der Betrieb der Urananlage Ellweiler im sogenannten Brennstoffkreislauf der bundesdeutschen Atomenergienutzung, und welche Konsequenzen würde eine Stillegung der Urananlage Ellweiler für die Versorgung bundesdeutscher Reaktoren mit Urankonzentrat und seinen Folgeprodukten nach sich ziehen?
Bitte schön.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Die Urananlage Ell-weiler produziert zur Zeit 60 bis 80 Tonnen Urankonzentrat im Jahr. Im Hinblick auf die Uranversorgung der Bundesrepublik spielt die Anlage nur eine untergeordnete Rolle. Eine Stillegung der Uranaufbereitungsanlage in Ellweiler würde deshalb zu keinen merklichen Konsequenzen für die Uranversorgung deutscher Kraftwerke führen.
Eine Zusatzfrage, Frau Wollny.
Dann frage ich ganz simpel: Warum fällt es dann so schwer, die Anlage stillzulegen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, das ist so, weil die Frage, ob eine Anlage stillzulegen ist oder nicht, nach Recht und Gesetz und nicht vor dem Hintergrund der Frage zu entscheiden ist, ob eine Uranversorgung gefährdet ist oder nicht gefährdet ist.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Frau Wollny.
Würde eine Stillegung nicht gleichzeitig bedeuten, daß man mit der Urangewinnung in Menzenschwand dann auch aufhören müßte?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich sehe diesen Zusammenhang nicht.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Teubner.
Herr Staatssekretär, das widerspricht der Aussage des Geschäftsführers der Gewerkschaft Brunhilde, die sowohl Ellweiler als auch Menzenschwand betreibt. Wie stehen Sie dazu, daß der Geschäftsführer gesagt hat: „Wenn Ellweiler geschlossen wird, dann entfällt auch die Notwendigkeit, in Menzenschwand weiter Erz zu fördern?" Das ist durch Zeitungsberichte mehrfach dokumentiert.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Das hat keinen Einfluß auf meine Meinung, die ich hier geäußert habe. Die Äußerung eines Geschäftsführers, die ich nicht kenne, ist nicht unbedingt dafür ausschlaggebend, wie ich die Lage einschätze.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Hüser.
Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, wie groß bei der Verarbeitung und Produktion der Anteil des uranhaltigen Materials aus dem nicht-bergmännischen Bereich ist? Sind also überhaupt Anteile verarbeitet worden, und, wenn ja, wie groß sind sie?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Es ist eine Spezialfrage, die Sie stellen, auf die ich gerne schriftlich zurückkommen würde.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich danke dem Parlamentarischen Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Probst steht zur Beantwortung der Fragen zu Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 der Abgeordneten Frau Ganseforth auf:
Hält die Bundesregierung das drastische Zurückfahren der Forschungsförderung für rationelle Energieverwendung auf Beträge, die seit 1986 mit jährlich abnehmender Tendenz unter denen von 1974 liegen und 1990/91 nur noch ein Drittel der Mittel von 1980/81 betragen werden, angesichts der zu erwartenden Klimakatastrophe und den von Fachleuten beklagten Defiziten auch bei der verbrauchsorientierten Forschungsförderung rationeller Energieverwendung für verantwortbar?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Ganseforth, Ihre Frage 3 beantworte ich mit Ja. Die aktuelle Forschungsförderung für rationelle Energieverwendung liegt entgegen der Darstellung der Frage deutlich über der des Jahres 1974. Auch gegenüber 1980/81 liegt ein nennenswerter Rückgang der Forschungsförderung nur in zwei Teilbereichen vor, nämlich Fernwärmetechnik als Hauptgebiet der Aktivität „Rationelle Energieverwendung in der Energiewirtschaft" — 1980 waren es 66 Millionen DM, 1989 sind es 12 Millionen DM — und Energieeinsparung und Solaranwendung im Gebäude- und Dienstleistungsbereich, 1980 mit 28 Millionen DM und 1989 mit 11 Millionen DM.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8337
Parl. Staatssekretär Dr. Probst
In beiden Gebieten folgt die Forschungsförderung der abnehmenden Forschungsintensität der Gebiete. Es geht nicht um Anwendung, sondern um Forschung. Für die anderen Fördergebiete der rationellen Energieverwendung gelten folgende Zahlen im Vergleich zwischen 1980 und 1989: energiesparende Industrieverfahren 1980 19 Millionen DM, 1989 18 Millionen DM, also ähnlich, Energiespeicher 1980 12,3 Millionen DM, 1989 28 Millionen DM. Auch hier folgt die Veranschlagung dem Forschungsbedarf.
In der Summe stehen also 1989 69 Millionen DM zur Verfügung, gegenüber 13 Millionen DM 1974 und 125 Millionen DM 1980. Die in den Titeln 683 13 und 892 13 des Kapitels 30 05 des Bundeshaushaltes 1989 veranschlagten Budgetmittel können darüber hinaus im Rahmen titelinterner Flexibilität überschritten werden, wenn überzeugende Anträge vorliegen; sie sind also erweiterungsfähig.
Rationelle Energieverwendung ist allerdings ein umfassenderes Thema der Forschungspolitik, als es in diesen Zahlen zum Ausdruck kommt. So werden beispielsweise bei der Förderung von fortschrittlichen Kraftwerkstechnologien, neuen Verkehrstechniken, in der Biotechnologie oder bei der Materialforschung in erheblichem Umfang Beiträge für die rationelle Energieverwendung erbracht.
Eine Zusatzfrage, Frau Ganseforth.
Herr Staatssekretär Probst, wie erklären Sie denn die Presseerklärung des Forschungsministeriums vom 27. Oktober 1988 mit der Überschrift „Mehr Leistung mit weniger Energie — Beiträge der Forschung"? In dieser Presseerklärung ist das Forschungsprogramm „Rationelle Energieverwendung 1974 bis 1991 " des Ministeriums aufgeführt. Wenn ich das einmal hochhalten darf: Das sieht so aus. Es hat sein Maximum 1980/81 erreicht und geht von diesem Zeitpunkt ab kontinuierlich bis zum Jahr 1990/91 herunter. Wie verträgt sich diese Veröffentlichung bzw. diese Aussage des Forschungsministeriums mit den von Ihnen geschilderten Zahlen? Ich könnte natürlich auch noch die Achsen zeigen, die sich auf Grund der Beträge ergeben.
Dr. Probst, Parl. Staatssekretär: Wenn Sie sie anschauen, werden Sie feststellen, daß sie sich dekken.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Wie kann sich so eine abnehmende Tendenz mit Zahlen decken, die — wenn ich eben richtig zugehört habe — eine zunehmende Tendenz aufweisen sollen?
Dr. Probst, Parl. Staatssekretär: Dann haben Sie nicht richtig zugehört, Frau Kollegin. Ich habe gesagt, daß wir unsere Finanzmittel dem Forschungsbedarf anpassen müssen. Der Forschungsbedarf besteht einfach in einem großen Bereich in wichtigen Teilen nicht mehr, so daß man hier zwar weitere Forschungsmittel einsetzen, aber keinen zusätzlichen Erfolg daraus ziehen könnte.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Daniels.
Ich bin entsetzt über Ihre Äußerung. Wie bewerten Sie dann die Tatsache, daß in anderen Ländern, z. B. in Schweden, im wesentlich größeren Umfang in die Erforschung der Energieeinspartechnologien eingestiegen worden ist und daß diese Energiereserve — dem müßten Sie doch eigentlich zustimmen — , die durch Energieeinsparung gewonnen wird, am schnellsten und am billigsten zu erschließen ist, und wäre es deshalb nicht absolut dringlich — auch unter dem Gesichtspunkt der Klimakatastrophe — , die Anstrengungen der Bundesregierung in diesem Bereich so schnell wie möglich zu intensivieren, anstatt sie abnehmen zu lassen, wie Sie jetzt behaupten?
Dr. Probst, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter, Sie verwechseln die Entwicklung von Techniken und ihre Einführung. Es ist ein großer Unterschied, ob eine Technologie entwickelt und vorhanden ist — dafür ist der Bundesforschungsminister zuständig — oder ob sie sich in der Wirtschaft durchsetzt und einführen läßt. Sie können mit Forschungsaufwand große Differenzen, die einfach im wirtschaftlichen Bereiche liegen, nicht überspringen.
Wir sind auch nicht für Schweden zuständig, sondern für die Bundesrepublik Deutschland. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß wir über 30 % unserer Energie eingespart haben, also auf dem Wege zu einer rationellen und sparsamen Energieverwendung außerordentlich erfolgreich waren.
Ich rufe die Frage 4 der Abgeordneten Frau Ganseforth auf:
Entspricht die Abnahme der Förderquote für Forschungsvorhaben rationeller Energieverwendung, die 1974 bis 1977 noch 80 v. H. betrug, auf inzwischen unter 50 v. H. der Bewertung der Bundesregierung in bezug auf ihre Verantwortung für diesen Forschungszweig?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. Probst, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Ganseforth, Ihre Frage 4 beantworte ich ebenfalls mit Ja. Rationelle Energieverwendung kann nur erfolgreich mitwirken, die Umwelt zu schonen und insbesondere Klimagefahren zu verringern, wenn sie breit angewandt wird. Ziel von Forschung und Entwicklung müssen daher marktfähige, wirtschaftlich attraktive Lösungen sein. Daß sich die Wirtschaft an solchen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten finanziell erheblich beteiligt und beteiligen muß, ist daher wirtschaftspolitisch und umweltpolitisch vernünftig.
Eine Zusatzfrage, Frau Ganseforth.
Herr Staatssekretär Probst, geben Sie mir recht, daß die Zuwächse im Zusammenhang mit dem Energiesparen zum Stillstand gekommen sind und daß das vielleicht auch damit zusammenhängt, daß an diesem Punkt ein kontinuierlicher Rückgang der Forschungsförderung durch das Forschungsministerium stattgefunden hat?
8338 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Dr. Probst, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen leider, so schwer es mir fällt, nicht recht geben.
Sie haben trotzdem noch eine Zusatzfrage, Frau Ganseforth.
Wie beurteilen Sie die Aussagen von Fachleuten sowohl aus der Industrie als auch aus der Wissenschaft, die dem Forschungsministerium vorwerfen, daß nicht genügend getan wird, um die Grundlagenforschung im Bereich erneuerbarer Energien, aber auch den Weg von den Laborerkenntnissen zur Massenfertigung und -anwendung zu fördern? Wie beurteilen Sie die Klagen aus der Wissenschaft und Industrie, daß das Forschungsministerium hier nicht aktiv ist?
Dr. Probst, Parl. Staatssekretär: Für die Übertragung in den wirtschaftlichen Bereich ist natürlich das Forschungsministerium nicht erstrangig verantwortlich. Das ist eine wirtschaftspolitische Frage.
Ich gebe Ihnen aber zu, daß bei den niederen Ölpreisen, die wir heute haben, die Übertragungen von Energietechniken, die erheblich teurer sind, außerordentlich schwierig sind. Aus diesem Grunde hat die Bundesregierung auch die Mineralölsteuer angehoben und führt die Erdgassteuer ein, damit andere Energien hier leichter zum Zuge kommen können. — Das ist der eine Teil Ihrer Frage.
Der andere Teil: Die Diskussionen, die es natürlich immer wieder darüber gibt, ob die Forschungsgelder genügend sind, sind so alt, wie es Forschungsförderung gibt, weil natürlich jeder noch mehr möchte. Bloß, auf diesem Gebiete gibt es keinen guten Forschungsantrag, der auch wirtschaftliche Bedeutung haben kann und für den dann ausreichend Geld zur Verfügung stünde, auch in der Grundlagenforschung.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Daniels.
Herr Staatssekretär, ich hoffe, daß Sie mich jetzt beruhigen können; denn es gibt ja so viele Anträge, und sie werden ja möglicherweise alle bearbeitet: Ihnen dürfte bekannt sein, daß bei der Energieeinsparung eine besondere Technologie eine sehr große Rolle spielt. Ich frage Sie, ob diese Technologie massiv, was die Forschung angeht, von der Bundesregierung unterstützt und weiterentwickelt wird. Es geht dabei um einen neuen Typ von Waschmaschinen, die weder mit Wasser noch mit Chemikalien arbeiten und von der Energiebilanz wesentlich günstiger sind: die sogenannte UltraschallWaschmaschine. Wie sieht es da mit der Förderung der Bundesregierung aus? Dieses Projekt wird ja in anderen Ländern, sprich: Japan, mit massiven Fördermitteln versehen.
Sozusagen durchpusten!
Dr. Probst, Parl. Staatssekretär: Mir ist nicht bekannt, daß es einen Antrag an unser Haus für eine solche Waschmaschine gibt. Nur, wenn das Prinzip bereits entwickelt ist — wie Sie schildern — , dann
wird sich diese Maschine in erheblichem Umfange und sehr schnell bei uns in den Konsum einführen.
Ein bißchen Wasser wäre ja ganz schön beim Waschen.
Ich bin am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Die Fragen 5 und 6 des Abgeordneten Dr. Schöfberger sollen auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf: Die Fragen 7 und 8 des Abgeordneten Dr. Hitschler sowie die Frage 9 des Abgeordneten Grünbeck sollen auf Wunsch der Fragesteller ebenfalls schriftlich beantwortet werden. Auch diese Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf: Die Fragen 10 und 11 des Abgeordneten Müller sollen ebenfalls schriftlich beantwortet werden. Auch diese Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Ministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf: Die Fragen 12 und 13 der Abgeordneten Frau Adler sowie Frage 14 des Abgeordneten Vahlberg sollen ebenfalls auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Köhler steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung. Ich rufe die Frage 15 des Abgeordneten Dr. Hirsch auf:
Ist es zutreffend, daß Staatssekretär Lengl während seines Besuches in Paraguay vom 11. bis 14. November 1988 ständig von 40 Sicherheitsbeamten beschützt wurde, und was war der Grund für diese Maßnahme?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Hirsch, der paraguyaischen Regierung war bekannt, daß Staatssekretär Lengl in der Bundesrepublik Deutschland Personenschutz gewährt wird. Ihm wurde deshalb auch während seines Besuches in Paraguay Personenschutz gewährt. Die organisatorische und personelle Ausgestaltung dieser Maßnahme obliegt wie immer dem Gastland.
Zusatzfrage, Herr
Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, ist es denn zutreffend, daß der Staatssekretär Lengl außer dem ständigen Schutz durch 40 Sicherheitsbeamte noch eine dekorative Polizeieskorte von, ich glaube, acht Polizeibeamten bekommen hat?
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8339
Dr. Köhler, Parl. Staatssekretär: Herr Staatssekretär Lengl ist bei diesem Besuch, wie es auch bei anderen Besuchen vorkommt, mit hohen protokollarischen Ehren begrüßt worden. Nach dem Bericht der Botschaft ist eine solche Polizeieskorte, die aber im Sinne Ihrer Frage mit Personenschutz wohl nichts zu tun hat, gestellt worden.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für denkbar, daß dieser auch für unsere Begriffe außergewöhnlich hohe Personenschutz damit zusammenhängt, daß es sich bei Paraguay um eine Diktatur handelt, in der Menschenrechte wirklich mit Füßen getreten werden und in der deswegen die innenpolitischen Verhältnisse außerordentlich unsicher sind?
Dr. Köhler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hirsch, da ich selber in einem befreundeten europäischen Land schon einmal in eine Situation geraten bin, in der der Sicherheitsaufwand für meinen Besuch mir völlig unangemessen erschien, da ich selber die Erfahrung gemacht habe, daß in diesem Fall meine Bemühungen gegenüber den Behörden dieses Landes nutzlos waren, weil sie sagten, daß ihnen die Beurteilung der Sicherheitsfrage obliegt, und auch meine Bemühungen, das Bundeskriminalamt zu bewegen, in Zukunft bei einer solchen Gelegenheit für eine Verminderung solcher Maßnahmen zu sorgen, völlig nutzlos waren, kann ich das, was der Kollege Lengl hier erlebt hat, nicht automatisch mit den politischen Sachverhalten, die Sie genannt haben, in Verbindung bringen.
Herr Schanz hat um eine Zusatzfrage gebeten.
Herr Staatssekretär, könnte es sein, daß Herr Staatssekretär Lengl in Paraguay deshalb so immens geschützt werden mußte, weil das Volk gegen diese Ordensverleihung war bzw. ist?
Dr. Köhler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schanz, für die Vermutung, die Sie in Ihrer Frage äußern, fehlt mir jeglicher Anhaltspunkt.
Jetzt rufe ich die Frage 16 des Abgeordneten Dr. Hirsch auf:
Ist es zutreffend, daß dem Staatssekretär Lengl bei diesem Besuch das Großkreuz des paraguayischen Verdienstordens verliehen wurde, und ist ihm die für die Annahme erforderliche Genehmigung nach § 5 Ordensgesetz durch den Bundespräsidenten erteilt worden?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. Köhler, Parl. Staatssekretär: Es trifft zu, Herr Kollege Hirsch, daß Staatssekretär Lengl das Großkreuz des paraguayischen Verdienstordens verliehen wurde. Das Genehmigungsverfahren gemäß § 5 Ordensgesetz ist eingeleitet.
Zusatzfrage, Herr
Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für angemessen, einen Orden eines Landes anzunehmen, das nicht nur von privaten Menschenrechtsorganisationen, sondern selbst vom Menschenrechtsausschuß des amerikanischen Kongresses zu Recht als ein Staat gebrandmarkt wird, der Menschenrechte mit Füßen tritt, in dem Menschen verschwinden, in dem Menschen gefoltert werden und in dem Zustände herrschen, die sich mit zivilisierten Maßstäben eigentlich nicht mehr vereinbaren lassen? Halten Sie es für angemessen, daß das Großkreuz eines Ordens eines solchen Staates angenommen wird?
Dr. Köhler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hirsch, als Entwicklungspolitiker haben sowohl der Kollege Lengl als auch z. B. ich oft mit Ländern zu tun, in denen die Menschenrechtslage äußerst unbefriedigend ist, in denen aber die Existenz normaler diplomatischer Beziehungen und der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit uns dazu zwingt, die Veränderung der von Ihnen beklagten Zustände nicht durch dramatische Aktionen, sondern in stiller Beharrlichkeit zu betreiben.
Weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, da Ordensverleihungen dieser Art nicht wie Naturereignisse vom Himmel fallen, sondern unter den Beteiligten vorher protokollarisch abgestimmt werden, möchte ich Sie fragen, ob das gesetzlich vorgeschriebene Genehmigungsverfahren beim Bundespräsidenten vor der Verleihung oder erst nach der Verleihung eingeleitet worden ist.
Dr. Köhler, Parl. Staatssekretär: Das Genehmigungsverfahren wird in der Praxis in aller Regel nach Verleihung des Ordens eingeleitet, wie es auch hier der Fall ist.
Zusatzfrage des Abgeordneten de With.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß man das Bismarck-Wort, wonach es erdiente, erdinierte und erdienerte Orden gibt, um eine vierte Kategorie ergänzen müßte, daß es nämlich Orden gibt, die man annehmen muß, damit man die Beziehungen nicht stört?
Dr. Köhler, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, Herr Kollege, wer die Praxis auf diesem Gebiet weltweit kennt, weiß, daß man sie nicht in einfache Kategorien einteilen kann. Glücklich die Zeit, in der man das — wie Bismarck — noch so einfach unterscheiden konnte!
Man kann auch ablehnen. Ich rufe dann die Frage 17 des Abgeordneten Schanz auf:
Wieviel Stellen und Planstellen des Einzelplans 23 sind 1988 dem Referat Presse und Information zugewiesen, und beabsichtigt der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, diesem Referat 1989 weitere Stellen/Planstellen zuzuweisen?
Ich bitte, sie zu beantworten, Herr Staatssekretär.
Dr. Köhler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schanz, das Referat Presse und Information ist 1988 mit acht Stellen/Planstellen ausgestattet. Im Einzel-
8340 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Parl. Staatssekretär Dr. Köhler
plan 23 sind im Haushalt 1989 für dieses Referat keine neuen Stellen bzw. Planstellen ausgebracht.
Zusatzfrage, Herr
Schanz.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, mir bzw. uns mitzuteilen, welche Referate mit neuen Stellen ausgestattet werden?
Dr. Köhler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schanz, das kann ich gerne tun. Freilich überschreitet es, da in den Haushaltsberatungen eine ganze Reihe von Stellen bewilligt worden sind, mein Gedächtnis, das in diesem Moment lückenlos zu tun. Ich bitte Sie, das nachreichen zu dürfen.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Schanz.
Herr Staatssekretär, auch wenn ich konzediere, daß im Bereich der Entwicklungspolitik, was die öffentliche Aufklärung betrifft, mehr getan werden muß, um das Bewußtsein der Bevölkerung für die Nord-Süd-Problematik zu stärken, so frage ich Sie dennoch, ob es nicht auch sinnvoll ist, insbesondere dem Umweltschutzbereich, das Referat Umweltschutz personell so auszustatten, daß es qualitativ imstande ist, all die notwendig gewordenen Fragen, die uns ja jeden Tag aktuell überrollen, sehr schnell zu beantworten. Wäre es vor diesem Hintergrund nicht sinnvoller — neben der personellen Ausstattung des Öffentlichkeitsreferats — , gerade das Referat Umweltschutz personell besser auszustatten?
Der Zusammenhang zur Frage ist schwierig herzustellen, aber ich möchte es dem Herrn Staatssekretär überlassen, ob er antworten will.
Dr. Köhler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe den Eindruck, daß Sie hier eine Vermengung einer Kapazitätserweiterung in einem Referat durch Kräfte, die mit Werkvertrag arbeiten, vornehmen mit der Notwendigkeit, eventuell das Umweltschutzreferat durch weitere volle Planstellen zu ergänzen.
Insofern fällt es mir sehr schwer, Ihre Frage zu beantworten; denn bei der Frage der Planstellen können wir uns nur im Rahmen dessen bewegen, was uns das Parlament im Haushaltsgesetz zur Verfügung gestellt hat.
Eine prinzipielle Verstärkung der Arbeit des Umweltschutzreferates dürfte zwischen uns beiden nicht strittig sein.
Ich rufe die Frage 18 des Herrn Abgeordneten Schanz auf:
Wieviel Aushilfskräfte werden im Referat Presse und Information des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit beschäftigt, und wieviel Personal ist dem Referat gegenwärtig unter Werk- oder Honorarvertrag organisatorisch oder mit Arbeitsplatz im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit zugeordnet?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Köhler, Parl. Staatssekretär: Mit der Übertragung des Bereichs Öffentlichkeitsarbeit auf das
Pressereferat war lediglich die Übertragung einer Stelle verbunden. Bis zur Organisationsänderung am 16. — — Verzeihung, Herr Präsident, ich habe mich eben vertan.
Die Reihenfolge war falsch; Nr. 18.
Dr. Köhler, Parl. Staatssekretär: Die Antwort auf die Frage 19 — ich bitte nochmals um Entschuldigung — lautet: Im Referat Presse und Information werden zur Zeit vier Kräfte auf Werkvertragsbasis beschäftigt.
Sie haben also eine andere Numerierung. Bei mir ist das Nr. 18. Wahrscheinlich sind wir deswegen durcheinandergekommen. Aber das war die Antwort, die erfragt worden war.
Bitte, Herr Schanz, zu einer Zusatzfrage.
Herr Präsident, insofern war die vorabgegebene Antwort, bezogen auf die erste Frage, nicht ganz korrekt; denn ich habe mich ganz bewußt auf Planstellen bezogen, was ja aus der ersten Frage hervorging, und dies bezogen auf das Referat Umweltschutz.
Was die Werkverträge betrifft, frage ich jetzt, ob denn die Bundesregierung bereit ist, auch das Referat Umweltschutz mittels Werkverträgen zusätzlich personell zu stützen?
Dr. Köhler, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, ich habe in der Tat die erste Frage des Kollegen Schanz mit Bezug auf Planstellen beantwortet und das auch ganz klar gesagt.
Ob das Umweltschutzreferat auf dem Wege durch Werkverträge verstärkt werden kann, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, die wir zunächst prüfen müssen, bevor ich Ihnen diese Frage beantworten kann.
Sie haben keine weitere Zusatzfrage? — Dann sind wir am Ende dieses Geschäftsbereiches. Ich danke dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe auf den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Vogt steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 27 des Herrn Abgeordneten Dr. de With auf:
Welche Gründe haben die Bundesregierung bisher bewogen, dem Bildungswerk der DAG e. V., Bamberg, die Teilnahme an Reintegrationsmaßnahmen zur beruflichen Qualifizierung von rückkehrwilligen jungen Türken zu versagen, obwohl dessen Konzept mit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung abgesprochen wurde?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Wenn Herr Kollege de With zustimmt, möchte ich gerne die Fragen 27 und 28 gemeinsam beantworten.
Vizepräsident Westphal: Er ist einverstanden.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8341
Vizepräsident Westphal
Ich rufe damit die Frage 28 des Herrn Abgeordneten Dr. de With auf:
Was hat die Bundesregierung veranlaßt, bei der Vergabe von weiteren Projekten während der Modellphase stets nur einen einzigen Anbieter zu berücksichtigen, obwohl zumindest ein weiterer Anbieter gleicher Qualität vorhanden ist?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung prüft zur Zeit die Möglichkeiten und Erfolgsaussichten einer beruflichen Qualifikation rückkehrwilliger Ausländer in einem Modellprojekt, das die Ausbildung von Fachkräften im Hotel- und Gaststättengewerbe vorsieht.
Mit der Durchführung dieses Modellprojektes ist bislang ein Träger beauftragt, der in vier Kursen insgesamt 70 rückkehrwillige junge Türken qualifiziert. Weitere Projekte sind bisher nicht vergeben worden, da zunächst die Ergebnisse der Modellphase abgewartet werden sollen. Aus Kostengründen ist der Umfang des Projekts auch bewußt klein gehalten worden. Erst nach Abschluß der Modellphase wird geprüft werden können, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang solche Reintegrationsmaßnahmen auch unter Beteiligung weiterer Träger fortgeführt werden sollen.
Das von Ihnen angesprochene Konzept des Bildungswerks der DAG Bamberg ist dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung bekannt. Es ist allerdings erst eingereicht und erörtert worden, nachdem das von mir erwähnte Modellprojekt bereits angelaufen war, nämlich Beginn 1. Mai 1986.
Zusagen für eine Förderung des Konzepts der DAG wurden nicht gemacht.
Zusatzfrage, Herr
de With.
Können Sie sagen, wie lange im einzelnen ein Projekt dauert und was es kostet?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann Ihnen im Augenblick nicht beantworten, was die Projekte kosten. Ich bin gern bereit, Ihnen dies noch in den nächsten Tagen schriftlich mitzuteilen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr de With.
Sind Sie bereit, einzuräumen, daß die Bamberger DAG in diesem Jahr so rechtzeitig vorstellig geworden ist, daß gleichwohl ein Modellversuch ihr hätte übertragen werden können mit Rücksicht darauf, daß die Haushaltsberatungen für 1989 überhaupt nicht abgeschlossen waren und durchaus ein solcher Modellversuch einem weiteren Träger hätte übertragen werden können?
Vogt, Parl. Staatssekretär: In Anbetracht der für diese Maßnahmen zur Verfügung stehenden Mittel war es sinnvoll, den bisherigen Träger der Maßnahme weiterhin mit der Durchführung dieser Kurse zu beauftragen. Ich habe ja gesagt: Sobald die Modellprojekte abgeschlossen und ausgewertet sind — ich hoffe, das wird im Herbst 1989 der Fall sein — , kann entschieden werden, ob die Projekte weitergeführt und weitere Träger in die Maßnahme einbezogen werden können.
Weitere Zusatzfragen, Herr de With.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß es den Eindruck der Voreingenommenheit hervorrufen muß, wenn nach Ihren eigenen Worten sage und schreibe vier Projekte einer einzelnen Gesellschaft übertragen werden und — was Sie nicht bestritten haben — durchaus die Übertragung eines weiteren auf eine andere Gesellschaft möglich gewesen ist, die mindestens dieselben Voraussetzungen wie die erste hat?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Ich möchte dem Eindruck entgegenwirken, der vielleicht aus Ihrer Frage entstehen konnte. Hier ist nicht Voreingenommenheit Richtmaß für die Beauftragung des Trägers gewesen, sondern dieser Träger war für diese Maßnahme besonders vorbereitet und qualifiziert. Er ist derjenige, der sich rechtzeitig, als das Modellprojekt eingeleitet wurde, bei uns für die Maßnahme gemeldet hat. Die DAG ist sozusagen zu spät gekommen. Wir haben keinen Anlaß zu meinen, daß nicht auch die DAG dieses Modellprojekt hätte durchführen können. Aber in Anbetracht der Mittel und eben des Modellcharakters schien es uns sinnvoll zu sein, jetzt erst einmal bei diesem Träger zu bleiben, von dem Sie ja wissen, daß es sich um das Europäische Schulungszentrum in Bad Neustadt an der Saale handelt.
Sie haben die letzte Zusatzfrage. Bitte schön, Herr de With.
Darf ich andersherum fragen. Wenn Sie schon den Eindruck verwischen wollen, daß es Voreingenommenheit gegeben habe, ist dann nicht der Eindruck der einseitigen Bevorzugung entstanden, da auf einen einzigen Träger vier Maßnahmen entfallen sind und der andere die Möglichkeit, sein Angebot zu bringen, rechtzeitig wahrgenommen hat? Wenn Sie auch dies verneinen: Wann ist denn dann mit einer weiteren Vergabe überhaupt zu rechnen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich hatte darauf hingewiesen, daß die Modellprojekte ausgewertet werden. Ich bin darüber informiert, daß aussagekräftige Ergebnisse im Herbst 1989 erwartet werden. Dann wird die Entscheidung zu fällen sein, ob die Maßnahmen weitergeführt und ob weitere Träger in die Maßnahmen einbezogen werden.
Ich wollte jetzt die Fragen 29 und 30 des Abgeordneten Müller aufrufen. Aber er ist nicht im Saal. Die Fragen werden geschäftsordnungsmäßig behandelt.
Die Fragen 31 und 32 des Abgeordneten Jaunich sollen schriftlich beantwortet werden. Das gleiche gilt für die Fragen 33 und 34 des Abgeordneten Haack . Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 35 des Abgeordneten Dreßler:
Kann die Bundesregierung angeben, wie sich die Summe von etwa 4,5 Milliarden DM, in deren Höhe die Versicherten laut Pressemitteilung Nr. 549 des Staatssekretärs Ost durch das Gesundheits-Reformgesetz „profitieren" werden, im einzelnen zusammensetzt?
8342 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Vizepräsident Westphal
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dreßler, wenn Sie einverstanden sind, beantworte ich Ihre Fragen 35 und 36 gemeinsam.
Herr Präsident! Mit Verlaub, es handelt sich jetzt um so viele Zahlen. Die kann ich nicht alle behalten. Können wir das nicht zweigeteilt behandeln?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Aber gerne, Herr Kollege. — Durch neue Leistungen und Entlastungen infolge von Beitragssatzsenkungen, Wegfall von Zuzahlungen und Neuregelung von Härtefallregelungen werden die Versicherten insgesamt in Höhe von rund 10 Milliarden DM begünstigt. Demgegenüber werden die Versicherten durch Neugestaltung von Zuzahlungen, Leistungsausgrenzungen und Leistungsbegrenzungen um rund 4,7 Milliarden DM und durch die Anpassung des Beitragssatzes aus Renten um rund 800 Millionen DM belastet. Daraus ergibt sich, daß die Versicherten insgesamt mit etwa 4,5 Milliarden DM von der Reform profitieren werden.
Zusatzfrage, Herr Dreßler.
Herr Staatssekretär, können Sie mir erklären, warum kein Abgeordneter der Regierung und keiner der Koalition während der Debatten im Deutschen Bundestag jemals diese Zahl genannt hat?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie wissen, daß diese Zahlen, dieses Finanztableau dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung bei seinen Beratungen des Gesundheits-Reformgesetzes vorgelegen haben.
Zusatzfrage, Herr Dreßler.
Das war eine Frage an mich und keine Antwort. Ich weiß es nämlich nicht. Sie haben auch nicht vorgelegen, Herr Präsident. Aber ich kenne die Mechanik hier. Man kann daran nichts ändern, wenn so geantwortet wird. Ich will das also noch einmal wiederholen. Können Sie mir sagen, Herr Staatssekretär, ob das, was in der Pressemitteilung Nr. 549 des Staatssekretärs Ost formuliert ist, mit der soeben von Ihnen gegebenen Darstellung identisch ist?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dreßler, die Darstellung des Kollegen Staatssekretär Ost hat sich in einem Punkt von dem Zahlentableau, das Ihnen und dem Hohen Hause vorliegt und das ja auch in der dritten Lesung hier erörtert worden ist, unterschieden und zwar dadurch, daß er sich in seiner Pressemitteilung in der Frage der Höhe der Pflegeleistung auf den Gesundheitsreform-Gesetzentwurf bezieht. Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens sind in diesem Bereich Veränderungen vorgenommen worden, die dazu führen, daß wir sagen, daß für die Pflege in mittelfristiger Sicht — Sie wissen, daß die Pflegeleistungen stufenweise in Kraft treten — 5,1 Milliarden DM aufgewendet werden müssen. Diese Auffassung teilt auch die Bundesregierung.
Jetzt rufe ich Ihre Frage 36 auf, Herr Abgeordneter Dreßler:
Kann die Bundesregierung angeben, wie sich die Summe von über 7 Milliarden DM im einzelnen zusammensetzt, die laut Pressemitteilung Nr. 549 vom 27. November 1988 auf Seite 2 im zweiten Absatz durch das Gesundheits-Reformgesetz bei den Leistungserbringern eingespart werden soll?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dreßler, die vorgesehenen Regelungen zu den Festbeträgen bei Arznei- und Hilfsmitteln, die vorgesehene Ausgrenzung unwirtschaftlicher Arznei-, Heil- und Hilfsmittel und die durch die Wirkungen der Neuregelungen zu erwartenden Struktureffekte im ambulanten und stationären Bereich werden die Leistungserbringer insgesamt mit rund 7 Milliarden DM belasten.
Zusatzfrage, Herr Dreßler.
Mit Verlaub, Herr Staatssekretär, ich möchte das jetzt noch einmal bestätigt haben. Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie mir gerade berichtet haben, daß die Pressemeldung Ihres Kollegen Ost so zu verstehen ist, daß die Bundesregierung behauptet, daß '7 Milliarden DM durch das Gesundheits-Reformgesetz bei den Leistungserbringern eingespart werden?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Genauso ist es, Herr Kollege. Ich kann das, was Sie in Ihrer Frage aussagen wollen, nur bestätigen.
Das reicht mir, Herr Präsident.
Die Fragen 37 und 38 des Abgeordneten Dörflinger sollen auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zu der Frage 39 der Abgeordneten Frau Bulmahn:
Wie hat sich die Zahl der Eintritte in Maßnahmen der beruflichen Fort- und Weiterbildung im Bereich des Arbeitsamtes Hannover von August 1988 bis Oktober 1988 gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres entwickelt, und wie hoch war jeweils der Anteil der Arbeitslosen an denjenigen, die eine Weiterbildungsmaßnahme begannen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, wie Ihnen bekannt ist, ist die Zahl der Eintritte in von der Bundesanstalt für Arbeit geförderte Weiterbildungsmaßnahmen in den letzten Jahren sehr stark angestiegen. Im Jahre 1987 hatten wir fast 600 000 Neueintritte erreicht. Nachdem sich dieser Anstieg auch noch im ersten Halbjahr dieses Jahres mit einem Plus von 5,8 % fortgesetzt hat, macht sich mit Beginn des zweiten Halbjahres ein leichter Rückgang bemerkbar. Dieser hat sich im Bereich des Arbeitsamtbezirkes Hannover in der Zeit von August 1988 bis Oktober 1988 wie folgt ausgewirkt: Während 1987 in dieser Zeit 2 396 Teilnehmer neu in eine Bildungsmaßnahme eintraten, waren es 1988 1 961 Teilnehmer. 1987 waren 1 516 bzw. 63,3 % dieser Teilnehmer vorher arbeitslos, 1988 waren es 1 108 bzw. 56,5 % der Teilnehmer.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8343
Zusatzfrage, Frau Bulmahn.
Herr Staatssekretär, wie hoch ist nach Ihren Kenntnissen der Anteil derjenigen Absolventen und Absolventinnen von Qualifizierungsmaßnahmen, die nach erfolgreicher Teilnahme an diesen Maßnahmen einen Arbeitsplatz gefunden haben?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, wir wissen auf Grund dessen, was uns die Bundesanstalt für Arbeit mitteilt, daß etwa 70 % derjenigen, die solch eine Maßnahme mit Qualifikation abgeschlossen haben, im Laufe von sechs Monaten in ein Beschäftigungsverhältnis kommen.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Kollege, können Sie dann begründen, warum Sie trotz dieser hohen Zahl an Absolventen/innen, die hinterher einen Arbeitsplatz finden, d. h. trotz des Erfolgs der Weiterbildungsmaßnahmen und Qualifizierungsmaßnahmen, durch die 9. Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz eine Reduzierung dieser Maßnahmen herbeigeführt werden soll?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich nehme an, daß Sie zur Kenntnis genommen haben, daß wie im Bund so auch im Arbeitsamtsbezirk Hannover der Anteil derjenigen Teilnehmer an Maßnahmen zur beruflichen Qualifikation, die arbeitslos waren, prozentual zurückgegangen ist und daß der Anteil derjenigen, die aus einem festen Beschäftigungsverhältnis in eine Maßnahme zur beruflichen Qualifikation gekommen sind, angestiegen ist. Da wir gerade wollen, daß die Mittel der Bundesanstalt für Arbeit für den Personenkreis eingesetzt werden, der arbeitslos ist oder von Arbeitslosigkeit unmittelbar bedroht ist oder ungelernt ist, haben wir die Maßnahmen der 9. Novelle ergriffen.
Ich rufe die Frage 40 der Abgeordneten Frau Bulmahn auf:
Wieviel Prozent der AB-Maßnahmen im Bereich des Arbeitsamtes Hannover werden mit 100% gefördert, und wie viele Teilnehmer/innen haben diese AB-Maßnahmen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, im Bereich des Arbeitsamtes Hannover wurden 349 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder 58,5 % der insgesamt im ersten Halbjahr 1988 begonnenen 596 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit einem Zuschuß in Höhe von 100 % des Arbeitsentgeltes gefördert. 795 Beschäftigte oder 71,5 % erhalten einen Zuschuß in Höhe von 100 % des Arbeitsentgeltes.
Zusatzfrage, Frau Bulmahn.
Herr Staatssekretär, die Bundesanstalt für Arbeit geht von einem Rückgang der Zahl der Stellen im Rahmen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen von bundesweit ca. 30 000 aus. Wie hoch schätzen Sie auf dieser Basis den Rückgang für Hannover?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich kann die Angabe über einen wahrscheinlichen Rückgang der Zahl der Teilnehmer an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen um 30 000, die Sie gerade gemacht haben, nicht bestätigen und kann deshalb auf Ihre Frage auch keine Antwort geben.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Frau Bulmahn.
Die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg geht davon aus, daß durch Kürzungen im Rahmen der 9. Novelle zum AFG die Zahl der Arbeitslosen insgesamt steigen wird. Haben Sie Vorstellungen darüber, Herr Staatssekretär, mit welchen Mitteln die Kommunen die sich hieraus für sie ergebenden zusätzlichen Belastungen und Kosten finanzieren sollen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, zuerst einmal: Die Kommunen werden in diesem Jahr einen Anstieg ihrer Steuereinnahmen von etwa 6,5 % bis 7 % zu verzeichnen haben. Die Kommunen sind durchaus in der Lage, einen Teil der zusätzlichen Aufwendungen zu finanzieren. Im übrigen weise ich darauf hin, daß hier gerade in diesen Tagen — ich glaube, morgen oder am Freitag — ein Gesetz in zweiter und dritter Lesung behandelt wird, durch das die Finanzausstattung der Länder, und zwar insbesondere die der finanzschwachen Länder, verbessert wird. Wir gehen davon aus, daß die Länder die Mittel, die sie vom Bund zusätzlich bekommen, an ihre Gemeinden zur Verbesserung der Wirtschaftsstruktur weitergeben, was auch einen arbeitsmarktpolitischen Effekt haben wird.
Herr Kolb möchte gerne eine Zusatzfrage stellen.
Herr Staatssekretär, können Sie die AB-Maßnahmen, die mit 100 % gefördert wurden, nach Trägern differenzieren, weil wir hier ausnahmsweise genau wissen, wie viele mit 100 % gefördert werden: Wie viele waren es im kommunalen Bereich, wie viele bei karitativen Trägern und ähnlichen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kolb, ich kann aus dem Gedächtnis nur referieren, daß rund 60 % der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die zu 100 % gefördert werden, in kommunaler Trägerschaft erfolgen. Ich kann nicht weiter aufgliedern, welchen Anteil einzelne gemeinnützige Träger, etwa Wohlfahrtsverbände, an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen haben, die zu 100 % gefördert werden. Ich kann nur diese eine Zahl aus dem Gedächtnis referieren.
Wir haben eine Sondersituation. Einerseits sind wir heute sehr schnell durch das ganze Fragespiel durchgekommen. Das konnte dazu führen, daß Abgeordnete nicht rechtzeitig hier sein konnten. Andererseits haben wir sogar noch ein bißchen Zeit. Denn die Geschäftsbereiche „Verkehr" und „Verteidigung" brauchen nicht aufgerufen zu werden, und zwar wegen des Wunsches der Kollegen nach schriftlicher Beantwortung ihrer Fragen. Es handelt sich um die Fragen 41 der Abgeordneten Frau Schilling, 42 und 43 des Abgeordneten Dr. Mechtersheimer, 44 und 45 des Abgeordneten Pauli, 46 und 47
8344 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Vizepräsident Westphal
des Abgeordneten Haungs sowie 48 und 49 des Abgeordneten Dr. Sperling. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Insofern kann ich dem Abgeordneten Müller noch erlauben, seine Fragen zu stellen. Das muß ich als Sondersituation darstellen, damit es kein Präzedenzfall wird.
Ich rufe deshalb die Frage 29 des Herrn Abgeordneten Müller auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun hinsichtlich der Festlegung der Personalbemessungswerte in den psychiatrischen Kliniken?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Ich nehme an, Herr Kollege Müller, Sie sind damit einverstanden, daß ich Ihre beiden Fragen gemeinsam beantworte. —
Dann rufe ich auch die Frage 30 des Herrn Abgeordneten Müller auf:
Sieht die Bundesregierung die Möglichkeit, die sozialpsychiatrischen Dienste am Wohnort weiter auszubauen bzw. zu beschussen, damit dort die Nachsorge durchgeführt werden kann?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Der weitere Ausbau der sozialpsychiatrischen Dienste ist grundsätzlich Länderangelegenheit. Ausgehend vom Reformimpuls der Psychiatrie-Enquete hat die Bundesregierung die Entwicklung psychosozialer Dienste auf kommunaler Ebene im Rahmen des Modellprogramms und des Modellverbundes Psychiatrie gefördert und damit ihre Bedeutung in der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter unterstrichen. Die Laufzeit des Modellprogramms war im Dezember 1985 beendet. Im Rahmen des Modellverbundes Psychiatrie wurden in den Jahren 1976 bis 1985 insgesamt fünf psychosoziale Dienste mit modifizierten Konzeptionen und unterschiedlicher Laufzeit gefördert. Grundsätzlich ist es möglich, Projekte im Rahmen des Modellverbundes Psychiatrie weiterhin zu fördern. Voraussetzung ist jedoch, daß die Modellvorhaben weiterführende Erkenntnisse für die Entwicklung und Erprobung neuer Methoden oder für die Überprüfung bestehender Methoden oder Konzeptionen bringen.
Zusatzfrage, Herr Müller.
Herr Präsident, zunächst darf ich mich herzlich für die Großzügigkeit bedanken, die Sie mir hier entgegengebracht haben.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß für eine Minimalversorgung der 250 000 Patienten, die in psychiatrischen Kliniken behandelt werden, etwa 7 000 bis 10 000 Mitarbeiter fehlen, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, damit dieser Zustand beseitigt wird?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, diese Zahlenangaben sind uns aus Zeitungsberichten ebenfalls bekannt. Aber zum Personalbedarf in den psychiatrischen Kliniken gibt es zur Zeit keine Erhebungen, die aus unserer Sicht eine generelle Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen könnten. Der Bundesarbeitsminister beabsichtigt deshalb, kurzfristig
ein Forschungsvorhaben in Auftrag zu geben, mit dem für diesen Bereich gesicherte Zahlen gewonnen werden können.
Zusatzfrage.
Kann die Bundesregierung bestätigen, daß Patienten der psychiatrischen Kliniken oft über lange Zeit hinweg deshalb mit stark wirkenden Medikamenten ruhiggestellt werden, weil Pfleger bzw. Pflegerinnen in der genannten Zahl fehlen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, das kann ich jetzt so nicht bestätigen. Aber ich bin gern bereit, Ihrer Frage nachzugehen und Ihnen eine schriftliche Antwort zukommen zu lassen.
Die würde uns alle interessieren. Stellen Sie die Frage lieber nächstes Mal noch einmal, denn das ist eine schlimme Geschichte, wenn das mit dem Ruhigstellen so ist.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Auch ich bitte den Kollegen Müller, daß er das im Januar neu als Frage hier einbringt, damit es eine öffentliche Antwort gibt.
Sie haben noch zwei Zusatzfragen. Bitte schön, Herr Müller.
Welche Möglichkeit sieht die Bundesregierung, damit endlich psychisch Kranke mit körperlich Kranken gleichgestellt werden? Es ist ein noch unbewältigtes Phänomen, das wir bei uns in der Gesellschaft haben, daß wir sehr viel tun, um körperlich Kranken zu helfen, aber die psychisch Kranken oft links liegen lassen.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich hatte darauf hingewiesen, daß hier vor allem die Länder gefordert sind und nicht der Bund. Wir haben diese Modellvorhaben gefördert und sind unter bestimmten Bedingungen, wie gesagt, auch bereit, solche Modellvorhaben auch zukünftig zu fördern. Aber die Versorgung psychisch Kranker ist zunächst einmal eine Angelegenheit der Länder.
Letzte Zusatzfrage.
Aus Zeitungsmeldungen entnehme ich — ich habe mich auch durch Besuche persönlich davon überzeugt — , daß Zustände in den psychiatrischen Kliniken oftmals nicht mehr länger hinnehmbar sind und Menschenrechtsverletzungen nahekommen. Teilt die Bundesregierung diese meine Einschätzung?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich würde den Ländern dies nicht so unterstellen wollen, wie es aus Ihrer Frage hervorgeht.
Damit sind wir nicht nur am Ende dieses Geschäftsbereichs, sondern auch am Ende der Fragestunde, weil wir alles abgearbeitet haben. Es muß wohl mit der Adventszeit oder mit Weihnachten zu tun haben, daß es so schnell ging.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8345
Vizepräsident Westphal
Ich unterbreche die Sitzung bis 15 Uhr. Sie wird dann mit der Aktuellen Stunde fortgesetzt.
Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur Modernisierung nuklearer Kurzstreckenwaffen
Die Fraktion der SPD hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem obengenannten Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat Frau Fuchs das Wort. Bitte schön, Frau Abgeordnete.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Die SPD hat diese Aktuelle Stunde beantragt, weil die Bundesregierung heute endlich auf die Fragen antworten soll, die wir seit einiger Zeit nur in der Presse lesen: Hat der Bundeskanzler in Washington die Zustimmung zur sogenannten Modernisierung gegeben? Hat der Bundeskanzler Frau Thatcher in Rhodos zugesagt, daß die Regierung im kommenden Jahr über die Modernisierung entscheiden wird? Welche Haltung nimmt die Bundesregierung morgen auf der NATO-Außenministerkonferenz ein, wo es ja auch um diese Frage geht?
Seit Monaten hören wir, es gebe keine Entscheidung und es stünde überhaupt noch keine an. In Wahrheit aber wird unter der irreführenden Bezeichnung einer Modernisierung eine völlig neue Aufrüstung mit land- und luftgestützten Atomraketen vorbereitet.
Die amerikanische Regierung will die 120 km weit fliegenden Lance-Raketen durch neue Raketen mit erheblich größerer Reichweite von bis zu 500 km ersetzen. Genauso wie die Lance-Rakete, die sowohl einen konventionellen als auch einen atomaren Sprengkopf tragen kann, soll ihr Nachfolgesystem mit der Bezeichnung ATACMS doppelt verwendungsfähig sein. Die Einführung der konventionellen ATACMS-Rakete soll dabei als trojanisches Pferd für die neue atomare ATACMS-Rakete dienen.
Warum? Im laufenden amerikanischen Haushalt finden sich 78 Millionen Dollar für die Produktion der ersten 66 konventionellen ATACMS-Raketen. Ab 1990 werden diese konventionellen Raketen in der Bundesrepublik stationiert. In dem Moment aber — so steht es im amerikanischen Haushaltsgesetz — , in dem die ersten konventionellen ATACMS-Einheiten in der Bundesrepublik einsatzfähig sind, will der amerikanische Kongreß die Gelder für die Atomsprengköpfe für eben dieses System freigeben.
Der erste erfolgreiche Test dieses Atomsprengkopfs hat bereits 1983 stattgefunden. Auf ein konventionelles Waffensystem — Herr Scholz beteuerte, es handle sich um ein „ausschließlich konventionelles" Waffensystem — sollen im nachhinein Atomsprengköpfe gesetzt werden. Das nenne ich atomare Aufrüstung durch die Hintertür.
Oberste Priorität bei der Aufrüstung mit Atomwaffen in Europa hat für die NATO eine luftgestützte Atomrakete, die mit dem Trägerflugzeug zusammen dieselbe Reichweite wie die Waffen haben soll, die jetzt nach dem INF-Vertrag verschrottet werden.
Unionspolitiker wie die Herren Dregger und Rühe haben sich ausdrücklich für eine solche luftgestützte Atomrakete ausgesprochen.
— Eine erstaunliche Einigkeit in dieser Frage.
Staatssekretär Rühl sagt, es müßten die vom INF-Vertrag „freigelassenen Möglichkeiten" genutzt werden. Ihm geht es darum, daß die zu verschrottenden landgestützten Mittelstreckenraketen „durch vergleichbar wirksame, eindringfähige, treffgenaue und reaktionsschnelle Träger derselben Reichweite ... ersetzt werden können" . Ist das nun Kompensation oder nicht?
Diese verhängnisvolle Politik würde all das wieder kaputtmachen, was mit dem INF-Vertrag erreicht wurde.
Und auch hier sind in den USA längst konkrete Entscheidungen gefallen: Die neue luftgestützte Atomrakete heißt abgekürzt SRAM II. 200 Millionen Dollar sind im amerikanischen Haushalt für ihre Entwicklung eingestellt, 26 Millionen Dollar für die Vorbereitung der Produktionsstätten, in denen die dazugehörigen Atomsprengköpfe gebaut werden sollen. Das sind die Fakten, die die Bundesregierung bisher verschweigt.
Der Gipfel ist: Die Bundesregierung sagt, bei der Stationierung dieser neuen Atomraketen habe der Deutsche Bundestag nicht mitzureden und nichts zu entscheiden. Ist das wirklich Ihr Ernst, Herr Würzbach, daß qualitativ neuartige Atomwaffen in der Bundesrepublik stationiert werden sollen, ohne daß das Parlament dem politisch zustimmt? Wenn das Parlament in Grundfragen der Sicherheitspolitik nichts mehr zu sagen hätte, dann hätte die frei gewählte Volksvertretung, denke ich, ausgespielt.
Glauben Sie bitte nicht, daß Sie sich mit einer Mogelpackung retten können, indem Sie die atomare Artillerie reduzieren, die Raketen aber qualitativ aufrüsten und das Ganze dann als den großen Abrüstungsschlager verkaufen.
Halten Sie die Bürger und Bürgerinnen wirklich für so dumm? Wir wissen, daß mit uns die übergroße Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung weitere NullLösungen will. Das mit der Sowjetunion auszuhandeln wird die Aufgabe der nächsten Monate sein, und dazu möchten wir Sie ausdrücklich ermuntern.
8346 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rühe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Fuchs! Ich finde, wir sollten uns als Abgeordnete Mühe geben, uns so auszudrükken, daß wir auch noch verstanden werden, d. h. wir sollten uns hier nicht in Einzelheiten von allen möglichen Raketensysemen — ATACMS etc. — verlieren, obwohl das aus Ihrem Munde schon ganz erstaunlich klingt.
Worum geht es eigentlich? Die Diskussion muß klar, aber auch behutsam geführt werden.
Da finde ich es positiv, daß der Kollege Ehmke heute nachmittag den Begriff der Modernisierung positiv verwandt hat. Er hat gesagt, auch Sie seien nicht gegen eine reine Modernisierung der Kurzstreckenraketen. Das sind neue Töne, und das ist, glaube ich, auch näher an der Sache.
Worum geht es? Wir wollen im Bündnis bis Mitte nächsten Jahres ein Gesamtkonzept ausarbeiten, und in diesem Gesamtkonzept soll für die Zukunft die Struktur der nuklearen Abschreckung in und für Europa geklärt werden. Es soll gleichzeitig geklärt werden, welche Schritte wir innerhalb der NATO ergreifen müssen, um zu dieser Struktur zu kommen, und welche Abrüstungsmöglichkeiten es in diesem Bereich gibt, z. B. auch im Lichte von konkreten Ergebnissen bei Verhandlungen über konventionelle Waffen. Es geht uns also bei diesem Gesamtkonzept um die Struktur. Wir sind uns in der Koalition einig
— darin unterscheiden wir uns von Ihnen — , daß wir glauben, daß zur Kriegsverhütung auch in Zukunft nukleare Abschreckung nötig ist.
— Gut. Aber wir sind uns darüber einig, und darauf kommt es innerhalb der Regierung an.
Wir sind uns zweitens darüber einig, daß wir das Ziel mit so wenig Nuklearwaffen wie möglich erreichen wollen. Deswegen verwenden wir den Begriff Mindestmaß. Ich habe vor wenigen Tagen mit aller Deutlichkeit gesagt, daß man aus meiner Sicht z. B. von den noch immer 4 000 nuklearen Sprengköpfen, die es in Europa gibt, auf die Hälfte und mehr verzichten könnte, solange es die richtige Struktur gibt.
Es ist also das erste Ziel, das Mindestmaß zu definieren und deutlich unterhalb dessen anzusetzen, wo wir heute sind. Wir können noch weiter heruntergehen, wenn wir bei den Verhandlungen über konventionelle Waffen weiterkommen.
Die zweite Frage ist: Wie ist das deutsche Interesse im Hinblick auf die Struktur der Nuklearwaffen? Da sehe ich inzwischen mehr Einigkeit, daß diese Waffen, je kürzer ihre Reichweiten sind, desto unpolitischer für die Abschreckungsstruktur sind und desto weniger auch im deutschen Interesse sind. Der Außenminister nickt — das war unsere Meinung —, und ich finde, wer sich damit beschäftigt, muß dem auch zustimmen. Deswegen sage ich: Wenn es um die Struktur geht, ist es für mich ganz entscheidend, daß es zu drastischen Reduzierungen bei den Systemen mit der kürzesten Reichweite kommt, nämlich bei der nuklearen Artillerie. Das müssen wir durch die Gespräche innerhalb des Bündnisses erreichen.
Ich glaube, daß man auf eine begrenzte Zahl von landgestützten Kurzstreckensystemen nicht verzichten kann — auch das ist die Meinung der Regierung — , denn wir wollen keine dritte Null-Lösung. Wenn das aber so ist, dann muß man natürlich diese Systeme, je nachdem, in welchem Zustand sie sich befinden, auch modern halten.
Wenn man Systeme nicht will, dann muß man sie abschaffen. Aber sie abzuschaffen, indem man sie mehr oder weniger zufällig verrosten läßt, das ist keine vernünftige Politik. Über all diese Fragen gibt es eine Einigkeit innerhalb der Bundesregierung.
Wir sollten also das Mindestmaß definieren, umstrukturieren, um eine glaubwürdige und überzeugende Struktur zu bekommen, insbesondere bei der Artillerie reduzieren und dann auch deutlich machen, daß es, je nachdem, wie es im konventionellen Bereich aussieht, eine begrenzte Zahl von Nuklearwaffen gibt, die dann nicht mehr verhandlungsfähig sind. Ich finde, das ist ein vernünftiges Konzept, das wir in dieses Bündnis einbringen sollten. Wir sollten es nicht unter den falschen Überschriften und Schlagworten diskutieren, etwa nur unter der Überschrift der Modernisierung.
Ich möchte also dafür plädieren, daß wir eine behutsame, eine sorgfältige, eine differenzierende Debatte führen, damit wir unsere spezifischen deutschen Interessen in dieser schwierigen Frage in den nächsten Monaten und Jahren in das Bündnis vernünftig einbringen können. An diesem Beitrag werden wir Sie messen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Mechtersheimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Morgen jährt sich die Unterzeichnung des INF-Vertrages vom 8. Dezember 1987. Wir wissen heute, daß die Tinte unter diesem Abkommen noch nicht trocken war, als die US-Regierung schon zu planen begann, wie die abzurüstenden Waffen durch andere Nuklearsysteme ersetzt werden könnten. Mittlerweile ist die militärische Entscheidung gefallen: Mit neuen Kurzstreckenraketen mit 499 km Reichweite und mit flugzeuggestützten Marschflugkörpern soll, soweit wie irgend möglich, die Lücke geschlossen werden, die mit dem INF-Vertrag in den Nuklearpotentialen bewußt geschaffen wurde.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8347
Dr. Mechtersheimer
Die NATO und ihre politischen Helfer reden von Modernisierung und wollen damit verschleiern, Herr Rühe, was sie tun.
Die NATO rüstet das erste nukleare Abrüstungsabkommen der Geschichte mit neuen Nachrüstungen zugrunde. Das ist das, was im Augenblick geschieht.
Es ist ein gravierender Mangel des Vertrages, daß er folgenden Satz enthält: „Vor der Vernichtung können der nukleare Sprengkopf und die Lenkelemente entfernt werden. " Beide Supermächte müssen kritisiert werden, weil sie einen solchen Vertrag mit dieser ganz wesentlichen Einschränkung unterschrieben haben. Bemerkenswert ist allerdings, daß Verteidigungsminister Carlucci im Kongreß gesagt hat: Das ist wesentlich unser Verdienst.
Deshalb werden die eigentlichen atomaren Vernichtungsladungen nicht zerstört. Sie liegen bereit, um zumindest teilweise in die neuen Systeme eingebaut zu werden. Darüber wird ernsthaft geredet, und es wird geprüft. Wenn geschieht, was die NATO vorbereitet hat, dann wird der INF-Vertrag durch ein Austauschprogramm der Träger für dieselben Sprengköpfe unterlaufen. Bei weiteren nuklearen Abrüstungsabkommen ist es unerläßlich, daß der gefährlichste Teil der Waffensysteme, nämlich die nukleare Sprengladung, mit erfaßt wird.
Die Umgehung des INF-Abkommens geschieht auch mit Hilfe von anderen Waffensystemen wie z. B. den 72 US-Kampfflugzeugen, die von Spanien nach Italien verlegt werden, übrigens mit finanzieller Unterstützung der Bundesrepublik. Selbstverständlich werden diese Kampfflugzeuge, soweit wie technisch und militärisch möglich, auch dazu benutzt, um die Aufgaben der Cruise Missiles zu übernehmen, die bisher in Comiso auf Sizilien stationiert sind.
Wenn die Modernisierung erforderlich ist — jetzt hat man gar niemanden, den man bei diesem Appell und dieser Frage richtig anschauen kann —,
weshalb sagt dann die Bundesregierung und weshalb sagen die Koalitionsparteien das der Bevölkerung nicht in aller Klarheit? Welches Demokratieverständnis zeigt sich eigentlich bei dieser sogenannten Sicherheitspolitik? Die Sicherheit der Bevölkerung kann es ja wohl nicht sein, was Sie zum Handeln veranlaßt; denn die Bevölkerung ist eindeutig dagegen, und das mit guten Gründen.
Sie rüsten und leugnen es zugleich. Das ist sicher ein Fortschritt, was die öffentliche Meinung angeht, aber kein Fortschritt, was Ihre Politik anbelangt.
Wer heute eine neue Nachrüstung in Gang setzt, zeigt, daß er das Doppel-Null-Abkommen nie wirklich gewollt hat; sonst würde er jetzt nicht versuchen, die abgerüsteten Waffen möglichst durch neue zu ersetzen. Das wirft auf alle Erklärungen über „Wer hat hier was herbeigeführt?" meines Erachtens ein ganz neues Licht.
Ich glaube auch, daß sich einige verkalkulieren, wenn sie annehmen, daß sich Gorbatschow in der Bundesrepublik mit einem neuen Nachrüstungsbeschluß empfangen läßt. Wer jetzt noch schnell vor den Wahlen in der Bundesrepublik die neue Nachrüstung durchdrücken will, errichtet böswillig ein Hindernis für den Abrüstungsprozeß. Er will übrigens Waffen installieren, die vergleichbar sind mit den ca. 200 sowjetischen SS-23-Raketen, die im Zuge des INF-Abkommens abgebaut worden sind.
Wer die Nachrüstung verhindern will, muß gegen jede Modernisierung eintreten — das sage ich auch an die SPD — , der darf auch nicht stillschweigend zustimmen, wenn die französischen sogenannten prästrategischen Waffen weiterentwickelt werden. Die Hades soll bereits heute eine größere Reichweite haben als die angegebenen 500 km. Die Pershing-Raketen — Herr Stobbe, darf ich Ihnen auch das deutlich sagen — dürfen weder durch amerikanische noch französische und erst recht nicht durch westeuropäische Atomwaffen ersetzt werden.
Wir fordern, alle Energien in die weitere Abrüstung zu investieren und Abrüstungsabkommen nicht durch geheime Ersatzrüstungen zu einer Irreführung der Öffentlichkeit zu machen. Deshalb Finger weg von allen Massenvernichtungsmitteln!
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Feldmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich gleich mit Rhodos anfangen: Frau Kollegin Fuchs, legen Sie doch dem Bundeskanzler nicht etwas in den Mund, was er nicht gesagt hat!
Im übrigen: Der Bundeskanzler gibt keine Versprechungen ab, für die es keine Mehrheiten gibt.
Die Lance — um die geht es hier — ist noch bis mindestens 1995 einsatzfähig. Damit ist die Glaubwürdigkeit der Strategie gesichert. Deshalb besteht jetzt kein Entscheidungsbedarf; mehr noch: Jede Entscheidung zum jetzigen Zeitpunkt wäre falsch. Eine Modernisierungsentscheidung darf weder isoliert noch vorzeitig getroffen werden. Wir werden unsere Entscheidung dann treffen, wenn sie erforderlich ist. Dies ist die Haltung der FDP.
Mit der FDP wird es auch keine Kompensationen der im INF-Abkommen vereinbarten Abrüstungsschritte geben. Es gibt kein Austauschprogramm, wie Sie es formuliert haben, Herr Kollege Mechtersheimer. Abrüstung in einem Bereich darf nicht durch Aufrüstung in einem anderen Bereich ausgeglichen werden.
8348 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Dr. Feldmann
Das INF-Abkommen — morgen jährt sich die Unterzeichnung — hat unsere Sicherheit verbessert. Was unsere Sicherheit verbessert, braucht nicht kompensiert zu werden.
Wir lassen uns auch nicht auf eine falsche Fährte locken. Modernisierung ist auch keine Voraussetzung für Abrüstung bei nuklearen Gefechtsfeldwaffen, Herr Kollege Rühe. In beiden Bereichen ist Abrüstung notwendig und möglich, und zwar ohne den Waffenmix zu gefährden.
Wir wollen das Thema Modernisierung auch gar nicht tabuisieren. Waffen machen nur Sinn, wenn sie funktionsfähig sind, wir wollen Abrüstung nicht durch Verrosten, sondern durch Verhandlungen.
Wir wollen uns auch nicht aus dem Risikoverbund herausstehlen.
Die Modernisierung ist für uns kein Zuverlässigkeitstest als Bündnispartner; das lassen wir uns auch nicht aufreden.
Wir sind auch nicht bereit, abrüstungspolitische Tabuzonen zu akzeptieren. Weder hier noch anderswo darf es Brandmauern geben.
Friedenssicherung, meine Damen und Herren, ist sicher nicht nur Abrüstung; sie kann aber erst recht nicht auf Modernisierung reduziert werden. Deshalb wurde in Reykjavik ein Gesamtkonzept für Sicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle gefordert. Auf dieses Gesamtkonzept sollten wir uns als Parlament konzentrieren. Hier gilt es, deutsche Interessen einzubringen. Hier sollten wir uns um Gemeinsamkeiten bemühen. Hier besteht auch Beratungsbedarf;
denn im Sommer 1989 soll hierüber in London beschlossen werden.
Wenn wir hier über Lance reden, müssen wir auch die große Überlegenheit der Sowjetunion in diesem Bereich sehen. Diese Bedrohung gilt es zu beseitigen. Das kann — da werden Sie mir sicher zustimmen — keine Modernisierung leisten. Dazu ist die Einbeziehung dieser Waffen in den Abrüstungsprozeß erforderlich.
Hier müssen wir auf das Tempo drücken, nicht bei der Modernisierung.
In Reykjavik wurde der enge Zusammenhang zu den Wiener Verhandlungen über konventionelle Abrüstung hergestellt. Frankreichs Außenminister Dumas hat daher recht: Der beste Zeitpunkt für eine Modernisierungsentscheidung ist gewiß nicht jetzt, wo die konventionellen Verhandlungen gerade erst beginnen sollen. Die FDP stimmt dem voll zu.
Vor Beginn neuer Verhandlungen eine Modernisierung festzuschreiben wäre ein falsches abrüstungspolitisches Signal. Es wäre aber auch ein falsches Signal, jetzt zur Modernisierung nein zu sagen. Ein solches
Nein könnte der Sowjetunion einen wichtigen Anreiz nehmen, ihre Überrüstung abzubauen.
— Nein, das ist kein Widerspruch; hören Sie doch genau zu, Herr Kollege. — Auch durch ein Nein darf dem Gesamtkonzept nicht vorgegriffen werden. Die FDP sieht daher keinen aktuellen Entscheidungsbedarf.
Das Wort hat der Abgeordnete Stobbe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 3. November dieses Jahres konnten wir im „Bulletin" der Bundesregierung folgendes lesen — ich zitiere — :
Wir wollen durch Abrüstungsschritte mehr Sicherheit schaffen. Deshalb sehen wir in der Kompensation von Abrüstung durch neue Aufrüstung an anderer Stelle einen Verstoß gegen den Sinn stabilitätsbildender Abrüstung.
Sie würde neue Instabilität schaffen und einen neuen Rüstungswettlauf in Gang setzen.
Um ein Beispiel zu nennen: Das INF-Abkommen hat mehr Sicherheit geschaffen.
Wollte man an anderer Stelle — wo es durch Abkommen noch nicht untersagt ist — Ersatz für die nuklearen Mittelstreckenraketen einführen, so würde man
— das ist immer noch Zitat —
das erste nukleare Abrüstungsabkommen der Geschichte in sein Gegenteil verkehren.
Diese Worte hat der Außenminister und Vizekanzler der Regierung Kohl gesprochen.
Die Haltung, die in den Worten von Herrn Genscher zum Ausdruck kommt, und der Politikansatz, der darin deutlich wird, verdienen meiner Meinung nach die Unterstützung des ganzen Hauses.
Spricht Herr Genscher aber, so frage ich, auch im Namen der Bundesregierung?
Diese Frage muß leider verneint werden.
Die Bundesregierung hat einer Meldung von heute zufolge nach Angaben aus informierten NATO-Kreisen
ihren Verbündeten in den vergangenen Wochen eindeutig signalisiert, daß sie sich im kommenden Jahr
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8349
Stobbe
öffentlich zur Modernisierung der atomaren Kurzstreckenwaffen bekennen wird.
Amerikanischen Pressemeldungen zufolge hat Bundeskanzler Kohl dem amerikanischen Präsidenten die Zusage für eine Modernisierung der Lance-Rakete gegeben, und zwar im Sinne einer Veränderung der strategischen Mission dieser Waffe, Herr Rühe. Darauf kommt es an.
Er hat ferner die Zustimmung der Bundesregierung zu neuen luftgestützten nuklearen Abstandswaffen gegeben.
Diese Klarheit des Kanzlers ist neu. Bisher hatte er sich bei den fälschlicherweise „Modernisierung" genannten Aufrüstungsplänen hartnäckig hinter dem Argument verschanzt, daß noch kein Entscheidungsbedarf bestehe, weil eine Erneuerung der Lance erst Mitte der 90er Jahre fällig sei.
Heute steht eines fest, Herr Feldmann — und da waren Sie meines Erachtens hinter der Zeit — : Der untaugliche Versuch des Bundeskanzlers, die nuklearen Kompensationspläne nach dem INF-Abkommen zu verschleiern, um eine Entscheidung der Bundesregierung bis nach den Bundestagswahlen 1990 hinausschieben zu können, ist von ihm selbst aufgegeben worden. Dieser Versuch war angesichts der Vorlaufnotwendigkeiten für amerikanische Entscheidungen im Sinne dieser Aufrüstungsphilosophie ohnehin nicht zu halten, und für die informierte deutsche Öffentlichkeit war er ohnehin eine Zumutung.
Die neue Lage bedeutet folgendes: Wir haben es mit einem Außenminister zu tun, dessen Wort in der Bundesregierung offensichtlich nichts gilt,
und mit einem Bundeskanzler, der sich zunächst durch Täuschung der deutschen Öffentlichkeit über die Runden zu retten trachtete,
der sich nun zu einer kompensatorischen Aufrüstung der NATO bekennt, die ein Schlag ins Gesicht des Außenministers ist — insbesondere gegenüber den Formulierungen, die ich vorhin zitiert habe.
Meine Damen und Herren, der Herausforderung und der Chance, die Gorbatschow bedeutet, kann nach Auffassung von uns Sozialdemokraten nur mit einem westlichen Abrüstungskonzept begegnet werden, das — neben vielen anderen Dingen — zunächst und vor allem die Gefahr einer neuen Aufrüstungsspirale vermeidet. Das unter der Tarnkappe der Modernisierung daherkommende Aufrüstungskonzept der NATO ist das denkbar falscheste politische Signal in dieser Situation. Rüstungskontrolle und Abrüstung werden dadurch nicht gefördert, sondern gestört, wenn nicht zerstört.
Die SPD warnt vor einem solchen Weg. Es wäre die Aufgabe der Bundesregierung, Vorkämpfer für neue und bessere Sicherheitsstrukturen in Europa zu sein.
Die Bundesrepublik hat das politische Gewicht, sich in der Allianz gegen politisch gefährliche Kompensationsgelüste, gegen Modernisierungsaufrüstung zur Wehr zu setzen. Die Bundesrepublik wäre stark genug, im Westen eine Politik durchzusetzen, wie der Außenminister sie in der von mir zitierten Rede formulierte.
Aber wir Sozialdemokraten werden es nicht bei der Klage über das abrüstungspolitische Versagen der Bundesregierung bewenden lassen. Wir sagen der Modernisierungsaufrüstung, wie sie sich abzeichnet, auf allen Ebenen der Politik unseren Kampf an.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Geiger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Motive für die von der SPD beantragte Aktuelle Stunde sind sehr durchsichtig: Angebliche Widersprüche in der Koalition sollen aufgedeckt werden.
Es wird Sie sehr betrüben, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, wir werden uns nicht vorführen lassen. Wir machen Ihr Spiel nicht mit. Die Frage der Modernisierung der Kurzstreckenwaffen steht heute nicht zur Entscheidung an.
Der Bundeskanzler hat immer wieder und zuletzt in Washington klar zum Ausdruck gebracht, daß über den Stellenwert und die Funktion der nuklearen Kurzstreckenraketen nur im Rahmen des Gesamtkonzepts der NATO
für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Sicherheit entschieden werden soll.
Das Bündnis hat sich zur Aufgabe gesetzt, über dieses Gesamtkonzept bis Mitte nächsten Jahres zu entscheiden. Dabei bleibt es. Alle Spekulationen zum jetzigen Zeitpunkt sind müßig. Wir jedenfalls werden uns an Spekulationen nicht beteiligen. Das hindert uns jedoch nicht daran, über notwendige Schritte nachzudenken. Die Arbeitsgruppe der Fraktion unter Leitung von Volker Rühe tut dies seit langem und mit großem Ernst.
Der SPD geht es meines Erachtens mit dieser Debatte auch nicht nur um das Aufdecken eventueller Widersprüche in der Koalition.
Es steht noch mehr auf dem Spiel.
8350 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Frau Geiger
Mit großer Sorge sehe ich, wie weite Teile der SPD seit Monaten versuchen, sich Schritt für Schritt vom Bündnis zu verabschieden.
Bei den GRÜNEN weiß man wenigstens, woran man ist, sie wollen heraus aus der NATO.
Die SPD macht es nach der Art der Haydnschen Abschiedssymphonie: Sie räumt allmählich eine Bündnisposition nach der anderen.
Wenn die SPD heute ganz bewußt auf eine Denuklearisierung Europas zusteuert, so ist dies ein verhängnisvoller Weg; denn für uns gilt: Atomwaffen dienen nicht dem Zweck, Kriege führbar zu machen, sondern sie sind ausschließlich dazu da, Kriege durch Abschreckung zu verhindern. Atomwaffen sind also politische Waffen, die Europa jeden Krieg, den konventionellen wie auch den nuklearen, ersparen müssen.
Angesichts des großen Übergewichtes des Warschauer Paktes bei den konventionellen Streitkräften ist die nukleare Komponente der Abschreckung unsere Versicherungspolice für den Frieden. Das konventionelle Übergewicht des Warschauer Paktes nimmt nicht etwa ab, sondern wächst weiter, wie der jüngste NATO-Streitkräftevergleich
und auch die Military-Balance-Studie des Londoner Internationalen Instituts für strategische Fragen übereinstimmend feststellen.
Herr Präsident, es ist ein bißchen schwierig, hier wegen der Zwischenrufe, man kann überhaupt nicht reden.
Die Beanstandung der Rednerin ist nicht völlig unberechtigt, Frau Fuchs. Ich wäre Ihnen schon dankbar, wenn Sie das mit der gebührenden Ruhe zur Kenntnis nehmen würden.
Ich finde, das ist ein sehr fahrlässiger Umgang mit unserer Sicherheit. Wer so handelt, macht sich mitverantwortlich, wenn die Einsicht in die Notwendigkeit unserer Verteidigungsanstrengungen in der Bevölkerung sinkt.
Die Aufgabe aller verantwortungsvollen Politiker in unserem Lande sollte es aber sein, die Akzeptanz unserer Sicherheits- und Abrüstungspolitik zu wahren; denn nur eine gesicherte Verteidigungsfähigkeit kann die Grundlage für mögliche weitere Reduzierungen sein.
Mit ihrer Haltung hat sich die SPD unter allen größeren Parteien in den Mitgliedstaaten des Bündnisses isoliert. Das soll nicht meine Sorge sein. Aber ich möchte Sie, sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen, eines fragen: Wie wollen Sie eigentlich das große Übergewicht der sowjetischen Kurzstreckenraketen abschaffen,
wenn Sie von vornherein auf entsprechende Optionen der NATO ohne Gegenleistung und ohne Verhandlungen verzichten? Wie wollen Sie die — in Ihrem Fall durchaus berechtigten — Zweifel ob der deutschen Zuverlässigkeit im Bündnis ausräumen?
Die Bundesrepublik Deutschland hat die längste Grenze mit den Ländern des Warschauer Pakts. Daraus ergibt sich von selbst, daß wir massiv daran interessiert sind, die Fähigkeit des Warschauer Paktes zu einer raumgreifenden Offensive zu beseitigen. Dies muß einer der Eckpunkte des Gesamtkonzepts sein.
Natürlich sind wir genauso daran interessiert, die in Europa noch vorhandenen Kernwaffen — wobei der Osten uns zahlenmäßig weit überlegen ist — auf ein noch zu definierendes Minimum herunterzuverhandeln. Die Voraussetzung für jeden einzelnen Schritt ist jedoch die Aufrechterhaltung einer glaubwürdigen Abschreckung, die auf einem Mindestmaß an Nuklearwaffen beruht.
Diese Grundsätze unserer Sicherheitspolitik offen zu vertreten ist leider in unserer politischen Landschaft keine Selbstverständlichkeit mehr. Ihre Reaktion beweist mir dies. Wir werden aber stets klar darstellen, was die unerläßlichen Bausteine für unsere Sicherheit sind, und zwar immer genau zu dem Zeitpunkt, wo dies notwendig ist.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat sich aus guten Gründen und schon seit längerer Zeit dafür ausgesprochen, ein Gesamtkonzept des Bündnisses für die Sicherheitspolitik zu erarbeiten.
— Frau Kollegin, nun üben Sie sich doch einmal in Geduld! Ihre Ungeduld hat Sie doch in Sicherheitsfragen schon einmal zu Fehlschlüssen geführt, wie wir beim Doppelbeschluß festgestellt haben.
Wir haben uns mit diesem Ziel auf der NATO-Außenministerkonferenz in Reykjavik im Juni 1987 durchgesetzt, und der Gipfel 1988 hat dieses Ziel bekräftigt.
Das Ziel ist, das Gesamtkonzept bei der NATO-Frühjahrstagung 1989 zu verabschieden. Wegen des
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8351
Bundesminister Genscher
40jährigen Bestehens der NATO wird diese Zusammenkunft auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs stattfinden. Dem Gesamtkonzept vorgezogene isolierte Entscheidungen über die Frage der Modernisierung einzelner Nuklearsysteme sind nicht beabsichtigt. Sie würden auch zu einer Verengung des Blickwinkels führen und den Gesamtzusammenhang außer acht lassen.
Zu Ihren Fragen, Frau Kollegin, und auch zu Ihren, Herr Kollege Stobbe, hat der Regierungssprecher sich schon am Montag geäußert. Ich darf wiederholen, was er gesagt hat: Modernisierungssignale sind derzeit überhaupt nicht aktuell. Dies alles muß in dem Gesamtkonzept bedacht werden. Für uns besteht derzeit auch kein aktueller Handlungsbedarf bei der Modernisierung etwa von Lance-Systemen, die ja bis 1995 modern sind, Es geht vielmehr um das Gesamtkonzept und damit um künftige Optionen für die Zukunft der Kurzstreckensysteme. Frau Kollegin Geiger hat das soeben noch einmal unterstrichen.
Auch für die nuklearen Systeme unterhalb der Reichweite von 500 km darf die Betrachtung nicht auf die Frage der Modernisierung verengt werden. Es geht vielmehr auch darum, möglichst schnell den Beschluß von Reykjavik auszufüllen und ein Mandat für die rüstungskontrollopolitische Erfassung der nuklearen Kurzstreckenraketen zu erarbeiten und darüber in Verhandlungen mit der anderen Seite einzutreten.
Das Problem ist offenkundig: Die Überlegenheit des Warschauer Pakts ist gerade in diesem Bereich erdrückend. Ich wiederhole den Appell der Bundesregierung an die Sowjetunion, auf wenigstens einen Teil ihres Potentials auf diesem Gebiet zu verzichten und damit ihre Überlegenheit zu reduzieren.
Eine solche einseitige Reduzierung ist ohne Beeinträchtigung der Sicherheit des Warschauer Pakts möglich.
Sie wäre ein Beitrag zu größerer Stabilität in Europa, und sie würde die Ausgangslage für die dringend notwendigen Verhandlungen verbessern. Es darf nicht außer acht gelassen werden, daß 88 westlichen Systemen weit über 1 000 Systeme des Warschauer Pakts gegenüberstehen. Jedes dieser Systeme ist nachladefähig.
— Lassen Sie mich das doch zu Ende führen. — Jedes dieser Systeme ist nachladefähig. Die Zahl der nuklearen Sprengköpfe auf beiden Seiten ist also erheblich höher als die Zahl der Abschußsysteme.
In Reykjavik ist das Verhandlungsziel definiert worden: Deutliche und überprüfbare Reduzierung amerikanischer und sowjetischer bodengestützter nuklearer Flugkörpersysteme kürzerer Reichweite, die zu gleichen Obergrenzen führen.
Wir erwarten von unseren westlichen Partnern eine konstruktive Mitarbeit an dem dafür erforderlichen Verhandlungsmandat. Es müssen auch in diesem Bereich Überlegenheiten abgebaut werden.
Von großem Interesse ist für uns auch eine weitere Reduzierung der nuklearen Gefechtsköpfe für die mehrfach verwendungsfähigen Artilleriegeschütze auf beiden Seiten. Ich spreche von weiterer Reduzierung deshalb, weil der Westen einseitig schon im Jahr 1988 eine Reduzierung um 2 400 amerikanische nuklare Gefechtsköpfe vorgenommen hat. Die Möglichkeiten solcher Reduzierungen zeichnen sich im übrigen ab. Sie sollten durch die Tatsache erleichtert werden, daß die Bedeutung für die Abschreckung um so geringer ist, je kürzer sich die Reichweite darstellt.
Die Aussichten, durch konsequente Schritte im Bereich der Abrüstung und Rüstungskontrolle mehr Sicherheit zu schaffen, haben sich verbessert. Sie eröffnen die Chance zu mehr Sicherheit auf einem verminderten Niveau der Rüstungen und ermöglichen es, die Strategie der Abschreckung durch ein Netz kooperativer Sicherheitsstrukturen zu ergänzen. Es bleibt das höchste Ziel der Allianz, eine gerechte und dauerhafte Friedensordnung für ganz Europa zu schaffen.
Bei der gegenwärtig angestrebten Weiterentwicklung des Gesamtkonzepts kommt es darauf an, im Sinne einer umfassenden sicherheits-, abrüstungs-
und rüstungskontrollpolitischen Kursbestimmung des Bündnisses politische Gestaltungsmöglichkeiten für die 90er Jahre zu definieren. Wir gehen dabei von folgenden Grundsätzen aus, die im Gesamtkonzept verankert werden sollen: Oberstes Ziel unserer Politik ist es, den Frieden zu sichern und jeden Krieg, konventionell wie nuklear, zu verhindern. Auf diesen Erwägungen hat unser Bündnis seine bewährte Strategie der Kriegsverhinderung entwickelt. Sie hat uns bisher vor Krieg bewahrt, und sie wird es auch in Zukunft tun. Für ihre Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit bedarf es ausgewogener nuklearer und konventioneller Streitkräfte, wobei die nuklearen Waffen die Aufgabe politischer Waffen haben, nämlich der Kriegsverhinderung.
Das Bündnis befürwortet in der Konsequenz die Kontinuität seiner Friedenspolitik, die Herstellung stabiler, ausgewogener und für alle Staaten sicherer Kräfteverhältnisse in Europa durch weitgehende Abrüstung in allen Bereichen. Rüstungskontrollvereinbarungen müssen die Erfordernisse der Sicherheit des Bündnisses und seiner Strategie in Rechnung stellen. Die Sicherheit von heute kann nicht auf Erwartungen für morgen gegründet werden. Es ist aber notwendig, bei der Vorbereitung von Rüstungsentscheidungen auch die Fortschritte und Ergebnisse der laufenden Rüstungskontrollverhandlungen zu berücksichtigen, aber auch zukünftige Möglichkeiten der Rüstungskontrolle in Rechnung zu stellen. Die Vertreter der Koalition haben ja dargelegt, welche Bedeutung gerade hier Fortschritte bei der konventionellen Abrü-
8352 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Bundesminister Genscher
stung haben können. Die Stockholmer Konferenz hat durch die Vereinbarung vertrauensbildender Maßnahmen einschließlich der Kontrollen vor Ort den Weg für verifizierbare Abrüstung freigemacht. Das INF-Abkommen ist das erste davon. Auf der Pariser C-Waffenkonferenz im Januar werden wir uns für den schnellen Abschluß der Genfer Verhandlungen und für die weltweite Beseitigung der chemischen Waffen einsetzen.
Auf der Tagesordnung der NATO-Außenministertagung morgen und übermorgen in Brüssel steht die Verabschiedung des westlichen Konzepts für die konventionelle Abrüstung. Das ist das Thema. Es wurde von der Bundesregierung maßgeblich beeinflußt.
Für die Bundesrepublik Deutschland ist das Kernproblem der militärischen Sicherheit in Europa das destabilisierende Ungleichgewicht im konventionellen Bereich. Die Beseitigung der bestehenden Ungleichgewichte und die Herstellung konventioneller Stabilität auch im Sinne von Nichtangriffsfähigkeit ist unser elementares sicherheitspolitisches Anliegen. Wir werden deshalb alles tun, um durch den schnellstmöglichen Abschluß der KSZE-Folgekonferenz in Wien den Weg für die Verhandlungen über die konventionelle Stabilität und über weitere vertrauens-
und sicherheitsbildende Maßnahmen freizumachen.
Die Entwicklung der letzten Jahre, Herr Kollege Stobbe, zeigt, daß die Bilanz der Entwicklung der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit den Staaten des Warschauer Paktes und die Bilanz unserer Rüstungskontrolle und Abrüstungspolitik gut ist. Wir werden auch in Zukunft die Chancen nutzen, die mit einer neuen Politik der Sowjetunion und verbesserten West-Ost-Beziehungen geboten werden.
Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beer.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die SPD hat diese Aktuelle Stunde beantragt, um etwas gegen die drohende Aufrüstung der NATO mit Ersatzwaffen für die Pershing und Cruise zu tun. Das ist schön, meine Herren von der SPD,
daß Sie hier sagen, daß Sie dagegen sind. Es ist auch schön, daß die FDP diese Waffen gerne wegverhandeln möchte und mancher CDU-Kollege öffentlich sagt, daß er eigentlich auch gerne wollen täte, wenn er nur können dürfte.
Meine Herren Raketengegner, irgendwen beschwindeln Sie hier. Entweder beschwindeln Sie uns hier, oder Sie beschwindeln unsere Verbündeten in der NATO.
Vor drei Wochen hatten Sie die Gelegenheit, vor Abgeordneten aus allen 16 NATO-Ländern zu zeigen,
daß Sie die neue Runde der atomaren Aufrüstung nicht wollen, daß Sie die Modernisierungsprogramme ablehnen, daß Sie über die Atomwaffen in und für Europa wenigstens verhandeln wollen, statt sie einfach zu bauen und aufzustellen. In der Nordatlantischen Versammlung in Hamburg wurde genau darüber in Breite diskutiert. Aber irgendwie ist es bei der SPD aus mit der Kritik, wenn sie ins Englische übersetzt werden soll. Im Angesicht der Verteidigungspolitiker aus den anderen NATO-Ländern sagen Sie nicht mehr nein, Sie sagen bestenfalls noch: Pst, nicht mehr so laut.
Die Nordatlantische Versammlung hat am 18. November 1988 in ihrer Abschlußresolution beschlossen, daß die NATO „die erforderlichen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Wirksamkeit ihrer nuklearen und konventionellen Streitkräfte ergreifen" soll. Das ist der NATO-offizielle Sprachgebrauch für die Modernisierung. Dem, meine Herren und Frau Traupe, haben Sie in der Versammlung zugestimmt.
Meinen Änderungsantrag, an geeigneter Stelle in der Resolution wenigstens zu fordern, „unverzüglich mit dem Warschauer Vertrag innerhalb eines geeigneten Forums Verhandlungen über die Begrenzung und den Abbau aller Atomwaffen in und für Europa" wenigstens aufzunehmen,
also die einfache FDP-Forderung nach Verhandlungen über diese Atomwaffen, bei denen die NATO aufrüsten will, haben Sie in der Nordatlantischen Versammlung ebenfalls einhellig abgelehnt: keine JaStimme, keine Enthaltung aus der Bundestagsdelegation bei der schlichten Forderung nach Verhandlungen über diese Atomwaffen.
Sie spielen ein doppeltes Spiel. In der Bundesrepublik wollen Sie den Eindruck erwecken, Sie würden heroisch gegen die neuen Atomwaffen streiten. Aber sobald Sie den Verbündeten gegenüberstehen, sobald es ernst wird, ist Schluß mit der neuen SPD-Friedenspolitik.
Frau Abgeordnete Beer, Sie wissen — —
Da wird noch an Worten herumgemäkelt.
Sie wissen, daß ich auf strikte Einhaltung der Redezeit in der Aktuellen Stunde zu achten habe.
Ich komme zum Schluß.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8353
Machen Sie mir das Geschäft nicht zu schwer.
In der Sache aber wird brav weitergemacht. Die Tagung der Nordatlantischen Versammlung in Hamburg war ein Lehrstück für diese Heuchelei.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Horn. — Entschuldigung, im Grunde genommen hätte der Abgeordnete Hauser das Wort gehabt.
— Sie lassen ihm den Vortritt. Herr Abgeordneter Horn, bitte schön, die Großzügigkeit des Abgeordneten Hauser ermöglicht es mir, Ihnen doch das Wort zu erteilen.
Eine Minute ist schon um.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube wirklich, daß Frau Beer nicht auf der Nordatlantischen Versammlung in Hamburg war. Sonst hätte sie das nicht erzählen können.
Ich darf zu einem anderen Punkt kommen. Herr Minister, Sie haben das etwas lahme Dementi von Herrn Ost hier noch einmal wörtlich übergebracht. Nun muß man sich allerdings doch fragen, ob es denn möglich ist, daß Frau Thatcher hinter vorgehaltener Hand falsche Zitate über ihr Gespräch mit Herrn Kohl weitergegeben hat. Denn an einem bleibt es wohl hängen. Unsere Frage ist, wieso zu einem Zeitpunkt, da sich die Sowjetunion vertraglich verpflichtet hat, ihre modernste Rakete mit Reichweiten um 500 Kilometer abzubauen, der Westen eine neue Atomwaffe mit knapp 500 Kilometern Reichweite aufstellen will.
Das muß die Bundesregierung erklären.
Was soll eine solche Atomwaffe erreichen? Kann sie, die ja auf Warschau zielt, die Sowjetunion abschrecken? Ist sie nicht in Wirklichkeit ebenfalls nur eine Kriegsführungswaffe, was z. B. im Zusammenhang mit dem FOFA-Konzept der NATO plausibel wird? Mit Zustimmung des Bundeskanzlers zu solchen weiterreichenden atomaren Kurzstreckenwaffen straft die Bundesregierung ihren Außenminister Lügen, der immer wieder behauptete, Atomwaffen dürften ausschließlich politische Waffen und niemals Kriegsführungswaffen sein.
Wir befinden uns in einer Situation, in der der Westen
beeinflussen kann, wie niedrig das Niveau nichtstrategischer Atomwaffen in Europa sein wird. Ich bin sicher, man kann von der Sowjetunion auch die beiderseitige Null-Lösung bekommen. Dislozieren wir aber jetzt neue Waffen, dann erschweren wir eine Null-Lösung erheblich; dann wird sie möglicherweise nicht mehr möglich sein. Das müssen Sie den Bürgern erklären, auch daß dieser Entscheidung weitere Forderungen — das wissen wir doch aus dem Ablauf — nach neuen Waffen folgen werden, nach Waffen, die die bodengestützten Atomwaffen schützen sollen. So wird doch das Wettrüsten nicht beendet. So drehen Sie im Grunde genommen an der Spirale weiter.
Die Lance wird derzeit im wahrsten Sinne des Wortes doch schon modernisiert. Die jetzt laufende Instandsetzung macht sie für weitere zehn bis fünfzehn Jahre funktionsfähig. Das ist ein Entscheidungsraum, den wir in Gespräche nutzbar einbringen sollten.
Die Entscheidung für eine weiterreichende Nachfolgewaffe ist nicht nur militärisch bedenklich und technisch überflüssig, sondern auch politisch falsch.
Die Sowjetunion ist bereit zu konventioneller Abrüstung. Die Positionen von Ost und West nähern sich doch immer mehr an. Die konventionelle Abrüstung soll mit dem Abbau bestimmter Asymmetrien beginnen. Wie können dann noch bestehende Asymmetrien als Gründe für neue Atomwaffen herhalten, erst recht, wenn es gar nicht stimmt, daß die bestehenden gar nicht mehr funktionsfähig sein werden? Soll die konventionelle Abrüstung eigentlich erschwert werden?
Diese Einwände wiegen mehr als die Aussicht auf eine Verringerung der nuklearen Artillerie, die im Zusammenhang mit der konventionellen Abrüstung ohnehin ins Gespräch kommen wird, die aber auch — das wäre das beste — mit dem Warschauer Vertrag gemeinsam und kontrolliert auf Null gebracht werden kann.
Wenn es Ihnen wirklich ernst ist mit dem Argument, nukleare US-Waffen würden gebraucht, solange die konventionelle Überlegenheit der anderen Seite noch bestehe, dann lassen Sie doch die Lance so lange stehen, und nutzen Sie den Zeitraum, bis die Asymmetrien beseitigt sind, und machen Sie sich dann daran, auch diese Raketen ersatzlos auf Null wegzuverhandeln. Es würde nicht nur den USA viel Geld sparen, sondern auch uns, wenn sich bewahrheitet, daß wir diese Waffen auch noch zur Hälfte mitbezahlen sollen.
Sicherheitspolitisch würde die Situation in Mitteleuropa bei einer Stationierung — das wissen Sie, Herr Minister — krisenanfälliger. Die Stationierung neuer atomarer Waffensysteme mit längerer Reichweite, höherer Zielgenauigkeit und stärkerer Penetration verändert einseitig die strategische Lage in Mitteleuropa
und konzentriert sie auf Mitteleuropa. Sie führt zu größerer militärischer Instabilität und damit auch zu einer vermehrten politischen Unsicherheit.
Mit dem vom Verteidigungsminister proklamierten Ziel der gegenseitigen Sicherheit ist dies jedenfalls
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Horn
nicht zu vereinbaren. Politische Verantwortung gebietet heute nicht umrüsten, sondern abrüsten. Das ist das Gebot der Stunde.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Nun hat der Herr Abgeordnete Hauser das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Horn, Sie sind eigentlich wirklich, so muß ich jetzt sagen, ein netter Kollege.
Aber haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt, warum Sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben? Sie sind sich in vielen Dingen selber nicht einig und nicht grün.
Sie sagen zu nuklearen Waffen als Bestandteil der NATO-Strategie „ja", manchmal sagen Sie „ja, aber", manchmal sagen Sie „vielleicht".
Die Frau Kollegin Fuchs sagt „nein" ; sie will das nicht.
Sie sollten erst wissen, was Sie wollen, bevor wir hier darüber diskutieren.
Beim NATO-Doppelbeschluß waren Sie auch erst dafür, dann waren Sie dagegen. Nachdem die Sache erfolgreich gelaufen war, waren Sie plötzlich dabei und waren Väter des Erfolgs.
Sie sollten eigentlich von damals für heute lernen. Das wäre sinnvoller.
Meine Damen und Herren, worum geht es hier? Es geht hier nicht darum, ein Höchstmaß an Rüstung zu beschreiben, sondern wir müssen ein sicherheitspolitisch unverzichtbares Mindestmaß an Nuklearwaffen definieren.
Jedoch ist heute klar — für uns ist das klar — : Die nukleare Abschreckung als Teil der NATO-Strategie muß beibehalten werden.
Daraus folgt, daß wir jetzt Maßstäbe und Konzepte
erarbeiten müssen, die erstens überzeugen, zweitens
politisch glaubwürdig sind und drittens von den Menschen, die wir verteidigen, verstanden werden.
Das Nuklearpotential der NATO darf nie isoliert nach einzelnen, in den Rüstungskontrollverhandlungen gefundenen Klassifizierungen betrachtet werden. Vielmehr ist auch nach dem Wegfall der Mittelstrekkenwaffen die nukleare Abschreckung weiterhin gewährleistet.
Der Beschluß von Montebello sieht nach dem Abzug auch die Modernisierung oder Umstrukturierung vor. Das heißt aber doch nichts anderes, daß, wenn nukleare Abschreckung gelten soll — davon gehe ich aus —, die dafür vorgesehenen Waffen im Sinne einer glaubwürdigen Abschreckung weiterhin effektiv gehalten werden.
Wenn wir das machen, dann nicht nur der Abschrekkung wegen, Herr Kollege Mechtersheimer, sondern auch um Erfolg in den Rüstungskontrollverhandlungen zu erreichen. Ich erinnere dabei an den NATO-Doppelbeschluß.
Diese Diskussion, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird leider mit viel Phantastereien, aber mit wenig Phantasie geführt. Das führt zu Irritationen und pauschalen Vorurteilen in der Bevölkerung. Ich glaube, daran kann uns nicht gelegen sein, Ihnen nicht, Herr Kollege Horn, und auch uns nicht; denn was wir wollen, ist doch, daß wir hier in Frieden und Freiheit weiterleben können. Das müßte im Grunde der Konsens sein.
Deshalb, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wäre meine Bitte: Wir müssen wieder einen gemeinsamen Nenner suchen, sofern dies überhaupt möglich ist; denn erst die Fähigkeit, unser Land zu verteidigen, führt dazu, die Hand in Richtung Osten auszustrekken, d. h. auf der einen Seite verteidigungsbereit und auf der anderen Seite dialogfähig zu sein.
Das ist kein Gegensatz, sondern das eine ergänzt das andere.
Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Professor Dr. Abelein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Welches ist die Situation? Das alte System des Gleichgewichts oder des Ungleichgewichts ist durch die Aufstellung von Mittelstreckenraketen SS 20 erheblich gestört worden. Es ist unter nicht unmaßgeblicher Beteiligung der Bundesregierung gelungen, diese Bedrohung des Friedens im Rahmen des INF-Abkommens wieder zu bereinigen. Es ist doch absurd, jetzt der gleichen Bundesregierung zu unterstellen, sie wolle diese Leistung,
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Dr. Abelein
diesen Erfolg wieder rückgängig machen. Das kann überhaupt nicht zur Debatte stehen.
Welches ist die weitere Situation? Es gibt eine Reihe von Problemen. Um eines klarzustellen: Wir wollen kein „fire break", keine Brandmauer. Da gab es gewisse Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Allianz. Unsere Interessenssituation ist klar: Keine Brandmauer.
Wir haben natürlich eine besondere Interessenssituation herrührend aus unserer Betroffenheit bei den Systemen, die noch unterhalb des INF-Abkommens da sind. Je kürzer die Reichweiten der nuklearen Waffensysteme, desto deutscher die Wirkung.
Es ist doch einleuchtend, daß wir kein Interesse daran haben, daß dieses wichtige Problem, dieser wichtige Bereich ungelöst bleibt.
Wir sind auch der Meinung, daß durch Gorbatschow einiges in Bewegung geraten ist, das Anlaß zu Erwartungen und Hoffnungen gibt. Wir stellen aber fest, daß in dem gerade angesprochenen Bereich der Waffen- und Raketensysteme mit kürzerer Reichweite, aber auch im konventionellen Bereich die Rüstung der Sowjetunion ungehindert weitergeht. Das wird von der Sowjetunion im übrigen auch eingeräumt. Wir sind dennoch optimistisch; aber wir können bislang Ankündigungen und Absichtserklärungen noch nicht mit Realitäten verwechseln.
All das muß zum Gegenstand eines gesamten Konzepts gemacht werden.
Darum geht es. Gegenwärtig arbeiten die Instanzen der NATO mit Hochdruck an der Erarbeitung dieses Gesamtkonzepts.
Es besteht die Absicht, das eventuell im kommenden Frühjahr vorzulegen. Wenn es vorliegt, ist es ein rascher Prozeß gewesen. Auch hier sind wir optimistisch. Die Außenminister haben von Reykjavik das Mandat, das sie gegenwärtig erfüllen. Damit hat sich im übrigen auch die NATO-Versammlung beschäftigt.
Ich weiß nicht, von welcher Veranstaltung Sie, liebe Kollegin, Frau Beer, reden; denn Sie waren ja auf mehreren Demonstrationsveranstaltungen,
der NATO-Versammlung und der Gegenversammlung.
Ich vermute, Sie haben die Reden Ihrer Gegendemonstration hier mit denen der NATO-Versammlung verwechselt. Angesichts der Behendigkeit, mit der Sie die verschiedenen Veranstaltungen jeweils wechseln und besuchen, habe ich dafür sogar noch ein gewisses menschliches Verständnis.
Man kann diese Dinge natürlich nicht immer auseinanderhalten.
— Da wären Sie dann sicherlich auch beteiligt.
Sie wären ständig am Hin- und Herrennen, natürlich auf Kosten des Fahrdienstes des Deutschen Bundestags.
Entscheidend kommt es jetzt darauf an, im Bereich der Rüstungskontrolle und mit vertrauensbildenden Maßnahmen von Stockholm II so schnell wie möglich zu Ergebnissen zu gelangen. Wir sind auch zuversichtlich, daß es in Wien zu Ergebnissen kommt — nicht sofort, nicht rasch.
Wir sind der Meinung, daß wir dieses Konzept im nächsten Jahr haben. Aber wir halten es für wenig nützlich, jetzt einen kleineren Teil, einen Raketenbereich aus diesem Konzept herauszubrechen und bereits jetzt zum Gegenstand von Erörterungen zu machen.
Im Gesamtkonzept hat diese Frage ihren Platz.
Das Wort hat der Abgeordnete Voigt .
Am Ende dieser Debatte ist klar: Der Außenminister redet sehr ausführlich zu Themen, die heute gar nicht zur Debatte stehen, und zu dem Thema, das heute zur Debatte steht — nukleare Kurzstreckenraketen — wirft er Nebel. Das ist seit Wochen und Monaten sein Gesamtkonzept. Denn obwohl er das Gesamtkonzept der NATO beschwört und unterstreicht, wie wichtig das sei und wie wichtig es dabei sei, auch deutsche Interessen zu vertreten, war derselbe Außenminister in der vergangenen Woche nicht in der Lage, im Auswärtigen Ausschuß die deutschen Vorstellungen zu diesem Gesamtkonzept vorzulegen, weil es nämlich nicht nur so ist, daß es noch kein Gesamtkonzept der NATO gibt, sondern es gibt auch noch kein Gesamtkonzept der Bundesregierung.
Deshalb wirft er Nebel, und er erweckt hier den Eindruck, als könnte er noch nicht endgültig ja sagen. Aber er kann auch noch nicht endgültig nein sagen. Auf jeden Fall will er jetzt überhaupt noch nichts Endgültiges sagen, aber er kann nicht ausschließen, daß im nächsten Mai etwas Endgültiges erfolgt. Dann ste-
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Voigt
hen wir da und werden mit getroffenen Entscheidungen konfrontiert, und dann wird gesagt, es sei endgültig und das Parlament könne es nicht mehr beeinflussen.
Auch die Differenzen zwischen uns und der CDU sind offensichtlich; das ist nach den Äußerungen von Herrn Rühe klar, wie es nur klar sein kann. Sie wollen neue Kurzstreckenraketen, und wir wollen keine neuen Kurzstreckenraketen. Sie fürchten eine dritte Null-Lösung, und wir drängen auf eine dritte Null-Lösung. Sie benutzten das Argument der sowjetischen Bedrohung durch Kurzstreckenraketen, um neue westliche Rüstungsprogramme zu legitimieren, und wir wollen Abrüstungsverhandlungen so bald wie möglich, um die sowjetische Bedrohung zu beseitigen.
Wir sprechen beide von Parallelität, Parallelität zu den im kommenden Jahr beginnenden Verhandlungen über konventionelle Stabilität in Europa. Sie sprechen von der Parallelität der nuklearen Modernisierung, der nuklearen Aufrüstung, wir sprechen von der Parallelität der Verhandlungen über nukleare Abrüstung bei Reichweiten unterhalb von 500 km.
Sie zitieren den Doppelbeschluß, aber Ihre jetzige Politik liegt rechts vom Doppelbeschluß; denn Sie verbinden Ihre Entscheidung bisher nicht einmal mit einem Verhandlungsangebot. Sie machen Ihre Entscheidung im Umfang und in der Substanz nicht einmal von Verhandlungsergebnissen und von sowjetischen Zugeständnissen abhängig. Und Sie lehnen von vornherein eine dritte Null-Lösung ab, obwohl Sie ansonsten die zweite doppelte Null-Lösung begrüßen. Das macht deutlich, daß Sie, die Sie im vorigen Jahr den Doppelbeschluß gelobt haben, in Wirklichkeit bereits damals seine Ergebnisse nicht wollten, auf jeden Fall seine konzeptionelle Wiederholung nicht wollten, denn Sie lehnen eine dritte Null-Lösung offensichtlich ab.
Nun zu der sowjetischen Bedrohung. Gegen die sowjetische Bedrohung durch Kurzstreckenraketen sind auch wir. Aber wir sind der Meinung, daß man sie durch Verhandlungen beseitigen sollte. Sie sagen, die Sowjetunion sei nicht zu Zugeständnissen bereit. Aber das können Sie doch gar nicht sagen, wenn Sie nicht einmal ein Verhandlungsangebot vorlegen, wenn Sie bisher nicht einmal in der Lage sind, überhaupt ein Verhandlungskonzept vorzulegen, wenn Sie nicht einmal einen Verhandlungsrahmen vorlegen.
— Sie natürlich.
Vor einigen Jahren hat der jetzige Generalsekretär der NATO, Wörner, als damaliger Verteidigungsminister noch gesagt, wegen der sowjetischen Bedrohung durch Kurzstreckenraketen müßten wir in Europa Antiraketensysteme aufstellen. Das heißt: Ich muß Ihnen
unterstellen, daß diejenigen, die sich jetzt einer dritten Null-Lösung widersetzen, erst ein westliches Nachrüstungsprogramm bei Kurzstreckenraketen wollen und, weil es sowjetische Kurzstreckenraketen gibt, danach auch noch ein Antiraketenprogramm wieder legitimieren wollen. Die technische Vorbereitung dafür treffen Sie bereits heute.
Was auch offensichtlich ist, ist, daß Ihre Haltung gegenüber der amerikanischen Sicherheitsgarantie eigentlich zweifelhaft ist. Einmal unterstellen Sie den Amerikanern, daß sie eine Brandmauer erstellen wollten, wenn sie uns zur Modernisierung bei Kurzstrekkenraketen zwingen — so Alfred Dregger; er hat dies mehrfach wiederholt — , und gleichzeitig meinen Sie heute, nur mit einer Modernisierung von nuklearen Kurzstreckenraketen könne die amerikanische Sicherheitsgarantie erfüllt werden.
In Wirklichkeit ist die konzeptionelle Unklarheit bei Ihnen der eigentliche Inhalt Ihrer Politik. Das wird auch im Sprachgebrauch deutlich; denn wenn man wie Volker Rühe von einem absoluten Minimum spricht und gleichzeitig eine Null-Lösung ablehnt, dann zeigt das die Unklarheit in der Sprache;
denn ein absolutes Minimum ist Null. Es gibt kein anderes absolutes Minimum als Null.
Wenn Sie das ablehnen, wird deutlich, daß Sie in Wirklichkeit nicht begriffen haben, was ein absolutes Minimum ist,
was Minimalabschreckung bedeutet. Sie wollen in Wirklichkeit in dieser Frage Modernisierung, die Nachrüstung legitimieren, und wir wollen Abrüstung legitimieren.
Das Wort hat der Abgeordnete Lamers.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme an, daß die Gesetze der Logik, Kollege Voigt, auch im Deutschen Bundestag ihre Geltung haben.
Ein Minimum bedeutet immer mehr als Null. Ich meine, daß sei nun wirklich eine unwiderlegbare Feststellung.
Der Versuch, der Sie offensichtlich u. a. zur Beantragung dieser Aktuellen Stunde veranlaßt hat, einen Unterschied zwischen den Koalitionsparteien hier vorzuführen, ist wie alle bisherigen Versuche gescheitert.
Es ist aber sehr viel näherliegend, einmal den Versuch zu unternehmen, herauszufinden, was Sie denn eigentlich wollen. Der Kollege Hauser hat schon ein-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8357
Lamers
mal darauf hingewiesen, und der Kollege Rühe hat zu Beginn die Äußerung vom Kollegen Ehmke zitiert —, gegen eine reine Modernisierung, auch der Lance, etwa durch Austausch unbrauchbar gewordener Teile habe die SPD jedoch nichts einzuwenden. Das ist in der Tat eine interessante Formulierung. Wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Kollege Ehmke, bedeutet das, daß Sie aber beispielsweise die Reichweite der Lance nicht vergrößern wollen.
Nun beklagen Sie aber doch mit uns immer auf der anderen Seite, daß die Struktur der atomaren Systeme der Bundesrepublik Deutschland problematisch sei.
Die Meinung teilen wir. Sie wissen sehr gut, daß eine bessere Struktur, eine bessere Zusammensetzung dieser Systeme voraussetzt — —
— Darauf komme ich gleich, aber dann müssen Sie auch gegen eine reine Modernisierung sein, Herr Kollege Ehmke, um das einmal zu sagen.
Eine bessere Zusammensetzung setzt eine größere Reichweite der Lance
oder eines Nachfolgesystems voraus. Es ist auch unbestreitbar, daß gerade das den politischen Charakter der Waffen betonen würde, während die kürzeren Reichweiten — —
— Dummes Zeug? Ich dachte bislang, das entspräche der Logik unserer gemeinsamen Überzeugungen. Aber offensichtlich ist, wie auch schon der Kollege Voigt demonstriert hat, die Logik bei Ihren politischen Wünschen außer Kraft gesetzt.
Also, das verträgt sich alles überhaupt nicht. Ich finde wirklich, daß Sie, bevor Sie versuchen, die Koalition auseinanderzudividieren, dafür sorgen, sich selber zusammenzufügen.
Herr Professor Ehmke, Sie befinden sich im Moment nicht in einem Dialog mit dem Abgeordneten Lamers. Sie sollten — bei allem Recht, einige Zwischenrufe zu machen — ihn wenigstens zu Ende reden lassen. Danke schön.
Im übrigen, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Was bedeutet denn bessere Zusammensetzung?
Bessere Zusammensetzung bedeutet einmal — das muß ein unersetzliches Kriterium sein — mehr Stabilität.
Bessere Zusammensetzung bedeutet zweitens, wie der Kollege Rühe auch öffentlich überzeugend dargelegt hat, einseitige Abrüstung, weniger nukleare Sprengköpfe.
Wer gegen eine bessere Zusammensetzung ist, ist also gegen einseitige Abrüstung.
Bessere Zusammensetzung bedeutet drittens eine Berücksichtigung der spezifischen deutschen Interessen. Ich habe gerade darauf hingewiesen. Was kann eigentlich gegen eine solche Lösung sprechen? — Herr Kollege Voigt, Sie haben das ja auch in einem gemeinsamen Pressegespräch, das wir einmal geführt haben, zugegeben.
Eine dritte Null-Lösung für die Kurzstreckensysteme bedeutet eine Null-Lösung für alle nuklearen Systeme in der Bundesrepublik; denn das, was dann noch übrigbliebe, Artillerie und Flugzeugbomben, wollen Sie nicht und wir auch nicht, um das klar zu sagen.
Mit anderen Worten: In Wahrheit geht es um die nuklearwaffenfreie Bundesrepublik Deutschland. Das, meine Damen und Herren, ist aber eine merkwürdige und problematische Mischung von sicherheitspolitischem Illusionismus und von demagogischem Nationalismus. Das ist weder mit unseren Verbündeten noch mit dieser Regierung und mit dieser Koalition zu machen.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde.
Ich rufe nunmehr Punkt 3 der Tagesordnung auf:
a) Beratung des Ersten Zwischenberichts der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 16. Oktober und vom 27. November 1987
— Drucksachen 11/533, 11/787, 11/971, 11/1351, 11/3246 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung und Technologie
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN
Erhöhung der Mitgliederzahl der EnqueteKommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre"
— Drucksache 11/3479 —
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Vizepräsident Cronenberg
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, diesen Tagesordnungspunkt in einer Stunde abzuhandeln. Erhebt sich gegen diesen Vorschlag Widerspruch? — Nein. Dann kann ich das also als beschlossen feststellen.
Als erster Redner hat der Abgeordnete Müller das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich zuerst bei dem Kollegen Schmidbauer, dem Vorsitzenden der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre", dafür bedanken, daß ich zuerst sprechen darf. Ich habe ein zeitliches Problem. Aber ich glaube, das entspricht in einer gewissen Weise dem Stil unserer Arbeit, den wir jetzt über ein Jahr praktiziert haben. Bei allen politischen Unterschieden, die zwischen uns bestehen, haben wir in der Enquete-Kommission ein Arbeitsklima gefunden, für das ich auch Ihnen danke und das dazu geführt hat, daß wir einen Bericht vorlegen können, der sich wirklich sehen lassen kann.
Ich meine auch, es war eine richtige und gute Entscheidung, eine Enquete-Kommission in der Form zu bilden; denn wir behandeln hier Themen, die über den Alltag des Parlamentarierdaseins ein wenig hinausreichen. Die Probleme, mit denen wir uns zu beschäftigen haben, reichen über eine Legislaturperiode hinaus. Wir waren auf Grund der Art und Weise, wie wir gearbeitet haben, meines Erachtens auch in der Lage, der Problematik gerecht zu werden. Dafür meinen Dank.
Meine Damen und Herren, dem Zwischenbericht kommt das Verdienst zu, daß er wirklich in aller Klarheit die durch menschliches Handeln verursachten Bedrohungen der Lufthülle aufzeigt. Wir wissen, daß durch die Zerstörung der Erdatmosphäre das Klima und damit die natürlichen Lebensbedingungen und nicht zuletzt der Mensch selbst gefährdet sind. Was im Augenblick geschieht, ist für die Menschen weitgehend zwar noch nicht greifbar, aber es ist sehr real. Wir erleben eine neue globale Dimension ökologischer Herausforderungen. Aber nicht nur das: Wir wissen, wenn wir in den nächsten Jahren nicht zu entscheidenden Kurskorrekturen kommen, können wir weitreichende Veränderungen, weitreichende klimatische Katastrophen nicht verhindern. Insofern ist es nicht nur ein Bericht von besonderer Tragweite, sondern auch ein Bericht, der besonders große Anforderungen in bezug auf das Verhalten der politisch Verantwortlichen stellt.
Es geht um zwei Bedrohungen. Die erste Bedrohung ist die schrittweise, seit 1983 zunehmend feststellbare Zerstörung der Ozonschicht. Die zweite Bedrohung besteht in einer Erwärmung der Erdatmosphäre durch einen permanenten Ausstoß von klimaschädlichen Emissionen, der in der Zwischenzeit schon zu deutlichen Anstiegen der Bemittelten Erdtemperatur geführt hat.
Meine Damen und Herren, die Klimaforscher warnen. Seit 1987 ist es bei ihnen unbestritten, daß in den nächsten 80 bis 100 Jahren eine Temperaturerhöhung auf der Erde um sechs Grad stattfinden kann. Um sich diese Größenordnung zu gegenwärtigen, muß man wissen, daß über 100 Millionen Jahre Erdgeschichte hinweg die Temperaturen nur um sechs Grad geschwankt haben. Kein Mensch kann heute sagen, welche Auswirkungen eine solche Veränderung hat. Auf der Weltklimatagung im Sommer dieses Jahres wurden die Auswirkungen nur noch mit dem Vernichtungsbrand einer Atombombe verglichen.
Wir wissen auch, daß es erhebliche menschliche Probleme gibt, die darauf zurückzuführen sind. Schon heute sind die sogenannten Umweltflüchtlinge die größte Zahl der Menschen im weltweiten Flüchtlingsstrom. Allein in diesem Jahr betrifft das durch Überschwemmungen im Sudan und in Bangladesch 25 Millionen Menschen, wobei wir davon ausgehen, daß die dortigen sintflutartigen Regenfälle auch durch die Eingriffe des Menschen in das Klima verschärft wurden.
Der Bundestag steht vor einer neuen Herausforderung in der Umweltpolitik. Es ist eine Herausforderung, der man nicht mehr nur punktuell, nicht mehr nur mit Teillösungen gerecht werden kann, sondern wir müssen hier in der Tat systemisch, mit sehr viel Weitblick und mit umfassenderen politischen Ansätzen reagieren.
Ich will nur drei knapp nennen.
Wir kommen nicht an dem Tatbestand vorbei, daß wir in den nächsten 30, 40 Jahren den Energieverbrauch in den Industrieländern um mindestens 50 senken müssen.
Auch dies müssen wir vorurteilsfrei diskutieren. Da ist die Frage des Erhalts der Natur wichtiger als manche kurzsichtigen Interessen, die wir heute allzugern vertreten.
Zweiter Punkt. Wir müssen auch mit der überzogenen Hätschelung unseres Lieblingskindes Auto aufhören. Das Auto hat nur einen Energienutzungsgrad von 17 %. Dies können wir uns nicht mehr leisten, nicht nur aus den Gründen, die bekannt sind, sondern auch aus klimapolitischen Gründen.
Ich will ein Drittes und letztes sagen. Wir müssen insbesondere zu einer anderen Chemiepolitik kommen. Es darf nicht mehr sein, daß wir erstmal Emissionen freisetzen und anschließend feststellen, wie schädlich sie sind.
Wir brauchen eine neue Verantwortungsethik. Dazu ist der Bundestag aufgerufen, und ich finde, das ist eine Aufgabe, die über alle Fraktionen jeden Kollegen hier im Haus berührt und wo ich auf einen konstruktiven, einen sehr kreativen Dialog hoffe.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Ozonabbau in der Stratosphäre und der Treibhauseffekt
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8359
Schmidbauer
sind nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu einer der bisher größten Herausforderungen für das Leben auf der Erde geworden. Vom Menschen selbst freigesetzte Spurengase führten zu einem gigantischen naturwissenschaftlichen Experiment mit noch ungewissem Ausgang. Nicht nur unsere Gesundheit, unsere Flüsse und unsere Wälder sind in Gefahr, sondern der Planet Erde insgesamt. Dies wissend, heißt unsere Aufgabe heute, die gegenwärtige Entwicklung in eine neue Richtung zu steuern, neue Wege aufzuzeigen und sie auch zu gehen. Dies ist nicht nur eine nationale Aufgabe, sondern hier sind wir als internationale Gemeinschaft gefordert.
Die Industrienationen tragen dabei eine ganz besondere Verantwortung. Wir müssen daher die gesamte bereits vorhandene Technologie selbst einsetzen und als Transfertechnologie allen anderen Staaten zur Verfügung stellen. Dies ist neu: Ost und West, Nord und Süd, alle sind betroffen, und alle wissen wir, daß es nur gemeinsam eine Lösung, gemeinsam eine Rettung geben kann.
Die Grundlagen für schnelles und gezieltes Handeln sind mit dem heute vorliegenden Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" gegeben. Dieser enthält eine umfassende Bestandsaufnahme über den naturwissenschaftlichen Kenntnisstand, die möglichen Entwicklungen und Auswirkungen des Ozonabbaus in der Stratosphäre und des Treibhauseffekts sowie ein großes Maßnahmenbündel.
Der Zwischenbericht wird von allen Mitgliedern der Kommission gemeinsam getragen. Damit wird deutlich, daß die Sache im Vordergrund der Arbeit stand.
Durch Geschlossenheit — auch in den Beratungen der Ausschüsse — muß klarwerden, wie ernst es der Politik mit der Durchsetzung notwendiger Maßnahmen ist. Die CDU/CSU-Fraktion ist dazu fest entschlossen.
Um die FCKW-Emissionen, die eine zweifache Bedrohung darstellen, zu reduzieren — sie sind nicht nur wesentliche Verursacher des Ozonabbaus in der Stratosphäre, sondern tragen auch zu einem hohen Prozentsatz zum Treibhauseffekt bei — , hat die Kommission sehr detaillierte Vorschläge gemacht.
Zur Reduzierung des Treibhauseffekts haben wir uns bereits auf generelle Strategievorschläge geeinigt, die in den nächsten Monaten noch zu konkretisieren sind. Die angestrebten FCKW-Emissionen sollen auf der Grundlage eines sehr weitgehenden Reduktionsplans auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene erreicht werden. Er sieht in der Endstufe vor, daß Produktion und Verbrauch der Fluorchlorkohlenwasserstoffe gegenüber dem Jahr 1986 um 95 % reduziert werden, und zwar national ab 1995, EG-weit ab 1997 und weltweit ab 1999.
Eine Anmerkung sei mir gestattet: Das bedeutet nicht, daß die Vereinigten Staaten, daß Japan, daß andere Industrienationen aus der Verantwortung sind und erst zum Ende des Jahrhunderts mit der Reduktion beginnen oder fertig sein sollten. Wir meinen, das
geht alle an. Wir sind in der Bundesrepublik Deutschland bereit, an uns selbst einen strengeren Maßstab anzulegen.
Auf internationaler Ebene ist dazu eine erhebliche Verschärfung des Montrealer Protokolls zum Schutz der Ozonschicht notwendig. Im nationalen Bereich können und müssen wir unmittelbar mit der Umsetzung der notwendigen Maßnahmen beginnen. Noch nie war eine Kooperation zwischen Politik, Industrie und Verbraucher zwingender geboten als in dieser Situation.
Dazu bieten sich verschiedene Instrumente an: erstens Selbstverpflichtung von Industrie und Handel, zweitens gesetzliche Regelungen, drittens ökonomische Anreize bzw. eine Kombination dieser Möglichkeiten. Industrie und Handel können die vorgegebenen Ziele über Selbstverpflichtungen erreichen. Sollte das nicht gelingen, werden die gleichen Zielsetzungen ohne Zeitverlust über gesetzliche Regelungen realisiert werden müssen.
Das bedeutet, daß beispielsweise im Aerosolbereich eine Verschärfung der bestehenden Selbstverpflichtung der Industriegemeinschaft Aerosole dahin gehend erwartet wird, daß ab 1. Januar 1990 in diesem Bereich weniger als 1 000 Tonnen FCKW pro Jahr verwendet werden.
— Ich gehe darauf noch ein. — Sollte eine entsprechende Selbstverpflichtung nicht bis zum 1. März 1989 möglich sein, ist die Bundesregierung aufgefordert, dem Deutschen Bundestag bis zum 1. September 1989 den Entwurf für eine gleichgerichtete nationale, EG-konforme Verbotsregelung zuzuleiten. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung vom März 1987 unterstrichen, daß die Bundesregierung international auf einem Verbot von gefährlichen Treibgasen bestehen und, wenn nötig, nationale Maßnahmen ergreifen wird.
Ähnliche Regelungen, wie ich sie am Beispiel des Aerosolbereiches dargelegt habe, sind für den Bereich Kühl- und Kältemittel, Schaumstoffe und Lösungs-
und Reinigungsmittel vorgesehen. Wir wollen klare, für Parlament und Öffentlichkeit nachvollziehbare Kontrollmechanismen.
Ich begrüße es nachdrücklich, daß bereits erste Reaktionen im politischen Bereich auf eine breite Zustimmung hoffen lassen. So hat die Konferenz der Umweltminister des Bundes und der Länder während ihrer Sitzung am 17./18. November 1988 in Berlin festgestellt, daß sie mit den Ergebnissen des Zwischenberichtes der Enquete-Kommission übereinstimme und sich ausdrücklich der Forderung der Kommission angeschlossen habe, daß im nationalen Rahmen eine schnellstmögliche, spätestens aber bis 1995 realisierte Verwirklichung der FCKW-Reduktion um 95 % erreicht werde.
Auch die Industrie hat sich in dieser Sache bewegt. Sie sollte die Chance nutzen und offensiv mitgehen. Presseverlautbarungen der letzten Tage bringen mich allerdings auf die Idee, daß immer noch versucht wird,
8360 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Schmidbauer
die Dinge etwas anders zu betrachten, als das die Enquete-Kommission wollte,
und daß vorwiegend immer noch teilhalogenierte Substanzen als Ersatzstoff zum Einsatz kommen sollen. Wir wollen das nicht.
Wir wollen eine bessere Technik, und wir wollen auf Dauer andere Ersatzstoffe.
Der zweite große Themenbereich des Zwischenberichtes befaßt sich mit den weltweiten Klimaänderungen und dem Treibhauseffekt. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse haben sich auch auf diesem Gebiet immer stärker verdichtet. Die Klimatologen in aller Welt erwarten im Verlauf des nächsten Jahrhunderts einen Temperaturanstieg zwischen 3° und 9 °C.
Als unmittelbare Folge dieser globalen Temperaturerhöhung wird der Meeresspiegel um bis zu 1,50 m ansteigen. Andere Einschätzungen gehen von einem höheren Anstieg aus. Das alles würde bedeuten, daß Küstenregionen überflutet und landwirtschaftliche Nutzfläche dem ansteigenden Meeresspiegel zum Opfer fielen. Durch eine Verschiebung der Klimazonen werden sich subtropische Wüsten und feuchte Westwindzonen weiter polwärts ausbreiten, während die subarktischen Breiten zunehmend Schnee- und eisfrei werden. In wenigen Jahren bereits könnten Klimaanomalien und Klimaänderungen die Welternährung in großem Maße gefährden.
Wer das Klimageschehen zur Zeit aufmerksam beobachtet, der spürt, daß es bereits Hinweise gibt. Dies sind keine Beweise, dies sind aber Hinweise, die wir ernst nehmen müssen. Demzufolge muß — auch da sind sich alle Klimatologen einig — das derzeit beschleunigt steigende Temperaturniveau auf ein bis zwei Grad begrenzt werden. Dies ist unter dem Aspekt zu sehen, daß wir bereits heute eine Zunahme von 0,6 Grad zu verzeichnen haben.
Das heißt, daß die seit Beginn der Industrialisierung zunehmenden Emissionen klimawirksamer und vom Menschen verursachter Spurengase reduziert werden müssen. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen geht es vor allem um die Spurengase Kohlendioxid — zu 50 % beteiligt —, Methan — zu 19 % beteiligt —, die FCKW — zu 17 % beteiligt — und Ozon in der Troposphäre — zu 8 % beteiligt.
Kohlendioxid entsteht vor allem bei der Verbrennung der fossilen Energieträger wie Kohle, Erdöl und Erdgas. Methan emittiert u. a. aus der Kohle-, Erdöl- und Erdgasförderung und -nutzung, dem Reisanbau sowie der Massenrinderhaltung. Die Bedeutung des Methans, die zur Zeit immer noch unterschätzt wird, zeigt sich besonders dadurch, daß es im Vergleich zu CO2, also zu Kohlendioxid, ein um den Faktor 32 größeres Treibhauspotential pro Molekül besitzt.
Eine weitere wichtige Ursache für den Treibhauseffekt ist die weltweite Vernichtung tropischer Regenwälder.
Abholzung und Brandrodungen einer Fläche von jährlich etwa der doppelten Größe der Bundesrepublik Deutschland — 560 000 qkm — tragen gegenwärtig mit 7 bis 30 % zum Anstieg des CO2-Gehalts bei.
Bundeskanzler Helmut Kohl hat dieses Thema sowohl in Toronto als auch auf dem EG-Gipfel in Hannover zur Sprache gebracht und entsprechende Möglichkeiten aufgezeigt. Wir werden in der EnqueteKommission diesen Bereich im nächsten Jahr vordringlich aufarbeiten.
Um verheerende Folgen für das Klima und damit für unsere Lebensgrundlage auf der Erde zu vermeiden, müssen wir im Energiebereich umdenken. Die energiebedingten Emissionen der Spurengase gehören zu den Hauptverursachern des Treibhauseffektes. Sie werden zu wesentlichen Anteilen durch die weltweiten Energiebereitstellungen, Energieumwandlungen und Energienutzungen freigesetzt. Ursache ist — wie ich sagte — die Verbrennung der fossilen Energieträger, die weltweit einen Anteil von etwa 88 To und in der Bundesrepublik Deutschland von etwa 86 To am kommerziellen Energieverbrauch haben. Der Energieverbrauch stagniert zwar gegenwärtig sowohl bei uns als auch in einigen anderen Industrieländern, weltweit steigt er jedoch mit etwa 2 bis 2,5 % pro Jahr an.
Herr Abgeordneter Schmidbauer, gestatten Sie eine Frage des Abgeordneten Schily?
Ich würde sie gerne zulassen, aber ich möchte gerne im Zusammenhang vortragen, Herr Kollege Schily. Bitte haben Sie Verständnis dafür.
— Ich will gern noch etwas sagen, ja.
Selbst wenn die Nutzung der erneuerbaren Energien und der Kernenergie in den nächsten Jahrzehnten erheblich gesteigert würde, müßte bei anhaltendem Trend des Energieverbrauchs weltweit mit einer Verdoppelung der Verbrennung fossiler Energieträger bis zur Mitte des nächsten Jahrhunderts gerechnet werden. — Ich bitte diejenigen, die vorschnell Patentrezepte anbieten, dies genau zu beachten.
Daraus ergibt sich: Erstens. Energieeinsparungen und Effizienzsteigerungen in erheblichem Umfang sind unumgänglich und zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu realisieren.
Sie haben Priorität bei der Eindämmung des Treibhauseffektes.
Ich darf zur Begriffsdefinition nur aufführen: Energieeinsparung umfaßt die Minimierung des Energieeinsatzes für ein gegebenes Niveau von Energiedienstleistungen über die gesamte Prozeßkette, also einschließlich der Umwandlung von Primärenergie in Endenergie und deren Umwandlung in Nutzenergien bzw. in die eigentliche Energiedienstleistung. Dann
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8361
Schmidbauer
wird das auch verständlich, und wir bekommen hier wahrscheinlich keinen Dissens.
Zweitens. Die Industrieländer müssen den Einsatz der fossilen Energie erheblich reduzieren, sicher — so kommen Experten zum Ergebnis — um weit über 50 % in den nächsten Jahrzehnten.
Drittens. National sind große Energieeinsparungen in den Bereichen Heizung, Verkehr und bei der Erzeugung und Nutzung von elektrischem Strom möglich und nötig.
Viertens. Der Heizenergieverbrauch — etwa ein Drittel des Endenergieverbrauchs — kann durch Wärmedämmung, passive Sonnenenergienutzung, bessere Heizungstechnik, umweltbewußtes und sparsames Heizverhalten auf einen Bruchteil des heutigen Wertes gesenkt werden.
Fünftens. Der Verkehr beansprucht in der Bundesrepublik etwa 25 % des gesamten Energieverbrauchs. Der Wirkungsgrad der eingesetzten Energie liegt hier besonders niedrig, nämlich bei nur 17 %; 83 % gehen verloren. Daraus folgt, daß das gesamte Verkehrssystem im Blick auf Energieeinsparung und Verminderung des Schadstoffausstoßes modernisiert werden muß.
Sechstens. In den Industrieländern gibt es nach dem Stand der Technik sehr große Einsparpotentiale. Hier sind Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß diese — bisher gehemmten — Einsparpotentiale systematisch ausgeschöpft werden können.
Siebtens. Neben Energieerzeugung und Effizienzsteigerung ist die Substitution der fossilen Energien durch nichtfossile zu nennen. Als Möglichkeiten bieten sich dabei die Nutzung der Kernenergie
und der regenerativen Energien an.
Was wir brauchen, ist eine internationale Konvention zum Schutz der Erdatmosphäre. Nur so kann das globale Problem des Treibhauseffektes und der Klimaänderungen gelöst werden. Durch nationale Maßnahmen kann die Bundesrepublik Deutschland beispielhaft und wegweisend vorangehen.
Die internationalen Anstrengungen müssen dazu führen, daß spätestens bis 1992 ein internationales Übereinkommen in Form eines Rahmenabkommens getroffen wird. Das Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht kann als Vorbild für ein solches Rahmenabkommen dienen. Darin sind die Modalitäten für die konkrete Ausgestaltung und Umsetzung künftiger Maßnahmen zum Schutz der Erdatmosphäre in bezug auf alle treibhausrelevanten Spurengase sowie die korrespondierenden Politikfelder festzulegen. Die Industrieländer als Hauptemittenten der Spurengase müssen den Anstoß zu einem solchen Abkommen geben. In ihrem nationalen Rahmen sind weitgehende Maßnahmen zu treffen, und die Schwellen- und Entwicklungsländer sind entsprechend zu unterstützen.
Die Vorlage des Zwischenberichts ist gerade für den Vorsitzenden auch ein Anlaß, zum Abschluß noch ein
Wort des Dankes zu sagen. Bedanken möchte ich mich bei allen Kommissionsmitgliedern für deren konstruktive und intensive Mitarbeit, bei allen, die engagiert mitgearbeitet und sicherlich auch starke Belastungen mitgetragen haben.
Ich bedanke mich stellvertretend bei meiner Stellvertreterin Frau Dr. Hartenstein.
Ich bedanke mich beim Obmann der CDU/CSU, Herrn Dr. Lippold.
Ich bedanke mich beim Obmann der SPD, Herrn Müller, bei der Obfrau der FDP, Frau Dr. Segall,
und bei dem Obmann der GRÜNEN, Herrn Dr. Knabe.
Bedanken möchte ich mich aber auch bei allen Sachverständigen, die uns in Anhörungen, einer Fülle von Fachgesprächen und durch schriftliche Beiträge ihr Wissen übermittelt haben.
Mein besonderer Dank gilt abschließend dem Sekretariat der Kommission für die hervorragende Zusammenarbeit und dessen beispiellosen Einsatz während der gesamten Kommissionsarbeit; hier möchte ich vor allen Dingen Herrn Bodo Bahr nennen. Alle Mitglieder der Kommission wissen, zu welcher Belastung dies auch im Sekretariat geführt hat.
Nicht zuletzt bedanke ich mich bei der Verwaltung des Deutschen Bundestages, beim Präsidium.
Ich hoffe, daß wir auch noch zu dem Ergebnis kommen, daß der Zwischenbericht, der jetzt vorgelegt wurde und morgen auch als Buch erscheint, übersetzt werden kann. Ich bitte an dieser Stelle dringend, daß dieser Bericht in einige Sprache übersetzt wird, damit wir bei unseren Bemühungen auf internationaler Ebene unterstützt werden können.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Insbesondere bedanke ich mich bei den Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion, die Interesse an diesem Thema hatten.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Knabe .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde! Wir diskutieren heute die Ergebnisse der einjährigen Arbeit. Ich möchte persönlich feststellen, daß mir diese Arbeit in der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" große Freude gemacht hat, insbesondere dank des kooperativen Stils des Vorsitzenden und aller Kommissionsmitglieder — trotz unterschiedlicher Positionen — und der vorbildlichen Unterstützung durch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Sekretariats.
8362 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Dr. Knabe
Als Ergebnis liegt jetzt eine umfassende Analyse des Klimaproblems vor. Die Kollegen Müller und Schmidbauer haben einen Abriß der Sachinformation gegeben. Ich will noch einige offene Probleme diskutieren.
Der jetzt vorliegende Zwischenbericht hat nämlich eher den Charakter eines gelungenen Nachweises der Kompetenz der Kommission und nicht so sehr den einer Handlungsanweisung. Auf den 300 eng bedruckten Seiten drohen die Kernaussagen, vor allen Dingen die politischen Forderungen der Kommissionen unterzugehen. Deshalb will ich sie wiederholen: Bis 1995 sollen die FCKW innerhalb der Bundesrepublik um 95 % reduziert werden, innerhalb der EG soll dies bis 1997 erreicht werden, und weltweit ist bis 1999, also zwei Jahre später, eine Reduktion auf 5 % des Niveaus von 1986 vorgesehen. Obwohl uns die zeitlichen Forderungen nicht weitreichend genug erscheinen, haben die GRÜNEN sie mitgetragen. Wir meinen allerdings, daß innerhalb der Bundesrepublik ein Ausstieg schneller möglich sein muß.
Bei den Instrumenten bleibt die Kommission noch zu vage. Nach unserer Einschätzung geht es jetzt darum, die gesamte Palette von Instrumenten zu nutzen, um die FCKW-Produktion gegen Null zu bringen. Das schließt eben Sofortverbote und FCKW-Abgaben ein. Hier machen uns die Forderungen der Hoechster Unabhängigen-Betriebsräte nach Einstellung der FCKW-Produktion Mut. Darüber hinhaus brauchen wir funktionsfähige Recyclingsysteme, verschärfte Emissionsgrenzwerte und eine Kennzeichnungspflicht, damit die Verbraucher sich umweltbewußt verhalten können.
Nicht ganz zufrieden sind wir mit dem, was die Enquete-Kommission bisher zur Energiepolitik gesagt hat. Wir hätten uns hier konkretere Handlungsempfehlungen gewünscht. Denn nur, wenn sich die Maßnahmen zur Energieeinsparung und Effizienzsteigerung durchsetzen werden die Kohlendioxidemissionen deutlich zurückgehen. Das geht nicht ohne Dezentralisierung, z. B. durch Kraft-WärmeKopplung, durch dezentrale Blockheizkraftwerke und das Verbot elektrischer Raumheizungen als extremer Verschwendung hochwertiger Energie.
Diesem Ziel steht jedoch die jetzige Struktur der Energieversorgung in der Bundesrepublik diametral entgegen. Das Energiewirtschaftsgesetz von 1935, die Bundestarifordnung Elektrizität und vor allem die zentralistische Struktur der Energieversorgungsunternehmen sind die wesentlichen Hindernisse auf dem Weg hin zu einer Effizienzrevolution.
Und wie paßt es in die heutige Klimadebatte, daß die Bundesrepublik vor kurzem verlautbart hat, sie werde keine Markteinführungshilfen für regenerative Energie geben?
Wie verträgt sich die sture Ablehnung jedes Tempolimits mit der notwendigen Reduzierung des CO2 und der Stickoxide? Die Enquete-Kommission muß hier als nächstes die Barrieren gegen eine umweltverträgliche Energieversorgung deutlich machen.
Schließlich gibt es eine offene Frage: Wie sieht es mit der Atomenergie aus? Sie emitiert ja letztendlich kein Kohlendioxid. Dieses oberflächliche Argument greift die Atomlobby auf, um die Atomenergie als Ausweg aus der Klimakatastrophe anzubieten.
Die Argumente dagegen sind allerdings erdrükkend. Der Anteil der Atomenergie am Weltprimärenergiebedarf liegt unter 5 %, so daß die Atomenergie rein quantitativ keinen wesentlichen Beitrag zur jetzt notwendigen Reduzierung des CO2 leisten kann. Die Mittel, die dazu notwendig wären, um den Beitrag der Kohlekraftwerke durch Atomenergie zu ersetzen, wären gigantisch. Etwa alle 2,4 Tage müßte man ein 1 000-Megawatt-Atomkraftwerk ans Netz gehen lassen. Ein wahnsinniger Gedanke.
Ein besonders wichtiges Argument ist die Tatsache, daß Investitionen für die CO2-mindernde Energieeffizienzsteigerung sieben mal so effektiv sind wie für die Atomenergie. Jede nicht in die Energieeffizienz sondern in die Atomenergie investierte Mark trägt damit indirekt zum Treibhauseffekt bei.
Daneben bleiben alle grundsätzlichen Einwendungen gegen die Atomenergie bestehen, von der Niedrigstrahlung über den möglichen Gau bis zur ungelösten Endlagerung, dem Unterlaufen der Nonproliferation oder der Aushebelung des demokratischen Rechtsstaates durch die unausweichliche Überwachung dieser menschengefährdenden Großtechnologie.
Angesichts der skandalösen Neuigkeiten aus Hessen fragen wir: Was muß denn noch alles passieren, bis man diese wahnwitzige Nuklearoption endlich aufgibt?
Last, not least behindert und blockiert die auf expansiven Stromabsatz gerichtete Atomenergiewirtschaft die Markteinführung von alternativen Techniken zur Stromerzeugung und Energeieinsparung mit allen Mitteln.
Herr Fellner, ein markantes Beispiel: Der Umweltminister und der Wirtschaftsminister in Hannover haben den Hannoveranern verboten, ein Heizkraftwerk mit Kraft-Wärme-Kopplung zu bauen, weil sie den Atomstrom in Grohnde loswerden wollten. Das hat eben damit zu tun.
— Ja. Es ist Nichtausnutzung der Abwärme.
Fazit: Die GRÜNEN begrüßen die umfassende Analyse des Klimaproblems sowie die Vorschläge der Enquete-Kommission, vor allem dort, wo sie konkret sind. Das ist besonders bei den Fluorchlorkohlenwasserstoffen der Fall. Weitergehende Vorschläge gehören in die nächste Runde. In Zukunft wird es aber darauf ankommen, wie die Bundesregierung die Vorschläge der Kommission in reale Politik umsetzt. Die
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8363
Dr. Knabe
Kommission hat im Bereich FCKW ihre Hausaufgaben gemacht. Jetzt ist die Politik gefordert. Wir wissen — mein letzter Satz — : Eine Politik freiwilliger Vereinbarungen mit der Industrie, wie sie Herrn Töpfer offenbar vorschwebt, greift nicht bzw. zu kurz. So muß der Bundestag selber der Regierung die entsprechenden Aufträge erteilen. Hier sind alle Fraktionen gefordert.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Segall.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich möchte die Beratung des Zwischenberichts der Enquete-Kommission zum Anlaß nehmen, den Bürgern unseres Landes ein wenig von den Problemen, die von den Wissenschaftlern für unser Klima vorhergesagt werden, zu vermitteln. Daß das „Raumschiff Erde" bedroht ist, hat der Club of Rome bereits 1972 in seinem Bericht „Grenzen des Wachstums" gezeigt.
Und so war denn auch bereits 1972 die Frage nach dem qualitativen anstelle des quantitativen Wachstums ein Wahlkampfthema. Einige Jahre später lag mit „Global 2000" eine weitere umfassende Analyse vor, in der unter anderem eindringlich die weltweiten Gefahren für die gesamte Erde dargestellt werden.
Der sogenannte Brundtland-Report „Our common future" der World commission on environment and development schließt ganz unmittelbar an den Bericht „Global 2000" an. Obwohl im Brundtland-Report gegenüber „Global 2000" keine durchgreifenden Neuerungen in der Analyse feststellbar sind, gipfelt die dortige Zusammenschau in der Forderung nach einer gesicherten tragfähigen Entwicklung — sustainable development. Eindringlich wird auch auf die Problematik des Bevölkerungswachstum hingewiesen. Dieses Wachstum müsse in Einklang mit dem veränderten Produktionspotential des Öko-Systems gebracht werden, da die Umweltprobleme ohne Trendwende die Zukunft der Menschheit bedrohen.
Mag man in diesem Bericht noch zu einer insgesamt positiven Bilanz gekommen sein, so darf man jedoch nicht die warnenden Worte übersehen. Der Report nimmt zum Beispiel schon 1985 in Villach geäußerte Sorgen hinsichtlich der Klimaveränderungen auf und fragt: Wieviel Sicherheit der Beweise brauchen Regierungen, um endlich zu handeln? Bei Vorlage der Beweise ist es nämlich zu spät.
Die Berufung der Enquete-Kommission durch den Deutschen Bundestag macht deutlich, daß die Politiker der Bundesrepublik — über alle Parteigrenzen hinweg — die Gefahr erkannt haben und — nach Sammlung und Aufbereitung des gegenwärtigen Wissens — zu handeln gewillt sind.
Man kann also feststellen, daß sich seit dem Bericht des Club of Rome „Grenzen des Wachstums" das Umweltbewußtsein stetig fortentwickelt hat. Wir müssen aber heute feststellen, daß sich die Qualität der Probleme geändert hat. Die bisherigen Probleme erschienen lösbar, und zwar durch verbesserte Technik,
durch Verminderung, Vermeidung und Substitution umweltbelastender Stoffe, manchmal schneller, manchmal etwas langsamer, aber doch lösbar.
Demgegenüber können wir heute gerade bei den klimatischen Problemen eine neue Qualität der Gefahren feststellen. Schäden in der Atmosphäre sind nicht sichtbar, sind nicht fühlbar. Sie sind nur meßbar, und das noch mit vielen Unsicherheitsfaktoren.
Ihnen liegen komplizierte Zusammenhänge mit vielfältigen Wechselwirkungen zugrunde. Darum sind Voraussagen über die Entwicklung der Bedrohung nicht eindeutig. Es muß aber gesehen werden, über welche Schäden wir hier reden. Wir sprechen nicht vom Eingehen eines Biotops, vom einzelnen Zerschneiden eines Waldes durch eine Autobahn oder von irgendeinem anderen lokalen Problem, sondern wir sprechen von einer endgültigen, d. h. irreparablen Beschädigung unseres Klimas. Wenn hier absolut evidente Beweise abgewartet werden, ist es zu spät.
Mit welcher neuen Problemqualität wir es zu tun haben, möchte ich am Beispiel einiger für das Klima besonders relevanter Spurengase erläutern. Die meisten Treibhausgase — mit Ausnahme der FCKW — sind ausgesprochen schwierig zu eliminieren. Über die FCKW, die das Ozonloch verursachen, haben wir hier schon oft diskutiert: im Zusammenhang mit dem Wiener Abkommen und dem Montrealer Protokoll; auch unsere parteiübergreifende Forderung nach schnelleren und größeren Fortschritten bei der Beschränkung von Produktion und Verbrauch, so daß ich dieses Thema heute bewußt ausklammere. Ich möchte allerdings die Ankündigung der Farbwerke Hoechst begrüßen, hier im Sinne der Vorschläge der EnqueteKommission zu handeln. Sie werden sich hoffentlich bald in allen Bereichen der hallogenierten Kohlenwasserstoffe den Erkenntnissen der Wissenschaft beugen. Das hoffen wir jedenfalls.
Beim CO2 gibt es z. B. überhaupt keine technische Lösung, die Sinn machen würde. Solange fossile Brennstoffe als Energielieferant genutzt werden, bleibt die CO2-Problematik bestehen. Hier sei mir der Hinweis erlaubt, daß bloße Techniklösungen zur CO2-Umwandlung, die diskutiert werden, wenig Sinn ergeben, weil sie eine negative Energiebilanz haben. Wie kompliziert auch schon beim CO2 die Zusammenhänge sind und um welche komplexen Wechselwirkungen es sich handelt, ergibt sich auch aus den Beeinträchtigungen der CO2-Senken. Die Wälder und die Meere sorgen für eine Aufnahme des CO2. Hier ist also der direkte Zusammenhang der CO2- Problematik mit der Deforestation und der Erwärmung der Meere, die zu einer Reduktion der Aufnahmefähigkeit von CO2 führen, gegeben.
Oder nehmen Sie das CH4-Methan. Es kommt unter anderem auch im Erdgas vor und bildet bei seiner Verbrennung natürlich auch CO2. Schlimmer aber ist noch seine Treibhauswirkung, wenn es unverbrannt in die Atmosphäre entweicht, da die Reflexionswirkung des CH4 wesentlich größter ist als die des Kohlendioxids. Geht man zum Beispiel davon aus, daß beim Erdgas, ob bei der Gewinnung oder im Vertei-
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Frau Dr. Segall
lernetz oder bei der Verbrennung nur 2 % unverbrannt entweichen, ist der Vorteil des Erdgases gegenüber der Steinkohle in bezug auf den Treibhauseffekt dahin.
Methan entweicht vor allen Dingen bei der Gärung von Zellulose, also bei jedem Verwesungsprozeß. Es entsteht als Deponiegas, als Verdauungsgas des Darms bei Mensch und Tier und nicht zuletzt als Sumpfgas, zum Beispiel beim Reisanbau. Die Reduzierung dieser Emissionen ist gerade deshalb schwierig, weil es besonders in der landwirtschaftlichen Erzeugung zu Emissionen aus vielen diffusen Quellen kommt. Da dem so ist, werden wir um so mehr für die Reduktion der Spurengase aus jenen Quellen tun müssen, die erfaßbar sind, und dazu gehören in erster Linie die CO2-Emissionen als Folge der Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen. Wir werden die Energiefragen unter diesem Gesichtspunkt neu definieren müssen, um zu Strategien für nationale und internationale CO2-Reduktionen zu kommen. Dabei wird es keine Tabus geben. Es wird sicher nicht ein Weg allein sein. Sondern alle Wege, die die Verbrennung von fossilen Brennstoffen zu Energiegewinnung verringern helfen, werden zur Lösung dieses Problems beitragen müssen.
Doch noch ein Wort zu dem landwirtschaftlichen Bezug klimatischer Probleme. Dies ist eine Verklausulierung, die den wirklich bedrohlichen Konflikt, der dahinter steht, nicht in seiner Schärfe zeigt. In der Klimaforschung spricht man von diffusen Methan-Emissionen. Tatsächlich geht die Zunahme dieser Emissionen auf das Bevölkerungswachstum zurück, weil es dazu führt, daß mehr Nahrungsmittel gebraucht werden, mehr Energiebedarf entsteht, mehr Wälder gerodet werden, sei es um Acker- und Viehland zu gewinnen, sei es, um durch Holzeinschlag Energie und/oder Devisen zu beschaffen. Die Spurengasemissionen nehmen zu. Die Aufnahmefähigkeit der Biosphäre wird verschlechtert. Der Teufelskreis ist geschlossen. Ein sustainable development der Menschheit wird in Frage gestellt. Das Raumschiff Erde wird dieses Wachstum nicht mehr ohne unvorhersehbare Reaktionen des Ökosystems ertragen.
Aufgabe der Enquete-Kommission ist es, die wissenschaftlichen Aussagen hierzu zu sammeln und Vorschläge für Strategien zur Vermeidung einer Klimaveränderung zu erarbeiten. Der Zwischenbericht bringt zum letzteren allerdings nur erste Ansätze. Aber unsere Arbeit in der Enquete-Kommission geht ja noch weiter.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Frau Dr. Hartenstein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rolle der Kassandra zu spielen ist eine undankbare Sache, wenngleich es heute Gott sei Dank nicht mehr üblich ist, daß der Überbringer schlechter Nachrichten gleich umgebracht wird,
wie dies in der Antike war. Aber, Herr Carstensen, geliebt wird er auch nicht. Ich möchte ausdrücklich betonen, daß sich die Enquete-Kommission keineswegs in dieser Kassandra-Rolle gefällt und daß sie auch keinen Ehrgeiz dareinsetzt, Weltuntergangsgemälde zu entwerfen. Aber sie hat die Pflicht, ein ungeschminktes Bild dessen zu vermitteln,
was uns die Wissenschaftler — übrigens in seltener Einmütigkeit! — als gegenwärtige Situation und als anzunehmende künftige Entwicklung dargestellt haben.
Meine Damen und Herren, die drohende Klimakatastrophe ist keine Erfindung notorischer Schwarzseher, sondern eine Entwicklung, in der wir bereits mittendrin stecken. Das Risiko für die Menschheit ist enorm hoch. Das ist, denke ich, schon deutlich geworden. Was wir brauchen, ist eine tiefgreifende Bewußtseinsveränderung, und was wir brauchen, ist politischer Handlungsdruck.
Das ist unbedingt erforderlich.
Wir legen Ihnen diesen Zwischenbericht heute in der nüchternen Erkenntnis vor, daß wir keine Minute Zeit mehr zu verlieren haben. Nicht zuletzt deshalb hat die Enquete-Kommission in den letzten elf Monaten mit großem Zeit- und Kraftaufwand gearbeitet. Nicht zuletzt deshalb liegt uns viel daran, daß sich das Parlament und die Öffentlichkeit mit diesem Bericht intensiv beschäftigen. Um dies gleich hinzuzufügen: Wir möchten Sie alle — auch wenn jetzt nur wenige Kolleginnen und Kollegen vertreten sind — , die Mitglieder dieses Hauses, auch die Regierung, die Medien und die Bürger zu Verbündeten in diesem Kampf gegen die drohende Katastrophe gewinnen.
Was nottut, ist eine breite Sensibilisierungsoffensive. Sonst werden einschneidende Maßnahmen nicht durchzusetzen sein. Und die sind notwendig.
Meine Erfahrung ist übrigens, daß nirgendwo das Bewußtsein von der Gefährdung unseres Planeten stärker entwickelt ist als bei der jungen Generation. Dort herrscht die größte Aufmerksamkeit, wenn Themen wie Ozonabbau oder Klimaproblematik angesagt sind. Dort strömen die meisten Leute zusammen, z. B. in Jugendzentren, Akademietagungen, bei kirchlichen Jugendgruppen. Dort herrscht auch die größte Bereitschaft, selbst etwas zur Verhinderung irreparabler Zerstörungen beizutragen. Auch die Bereitschaft zum Verzicht.
Meine Damen und Herren, auch darüber muß geredet werden: Solange die reichen Länder auf der Nordhalbkugel der Erde in ihrer Verschwendungsmentalität verharren und solange die Menschenmassen auf der Südhalbkugel dagegen in hoffnungsloser Armut steckenbleiben, so lange wird keine globale Strategie zur Katastrophenabwehr zustandekommen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8365
Frau Dr. Hartenstein
Die Enquete-Kommission, Herr Kollege Baum, schlägt ja eine internationale Klimakonvention vor, in der sich jeder Staat zu bestimmten Reduktionsraten bei Treibhausgasen verpflichten soll. Das ist sicher ein richtiger Ansatz. Wir wollen das alle. Nur wird die entscheidende Frage sein: Wer macht den Anfang? Wer exerziert das vor, was der Zwischenbericht fordert: Anstrengungen zur drastischen Enegieeinsparung, massive Förderung regenerativer Energien, voran der Solarwasserstofftechnik, Nullemission der FCKWs, wie sie bereits in wenigen Jahren bei uns möglich wäre, weil nämlich die Ersatzstoffe größtenteils vorhanden sind, eine grundlegende Umstellung unserer Agrarpolitik unter konsequentem Verzicht auf die Massentierhaltung
und eine einschneidende Kurskorrektur in der Verkehrspolitik? Es ist ohne Frage weitaus leichter, Konsens darüber zu erreichen, daß wir eine rasche Verschärfung des Montrealer Protokolls brauchen und ein internationales Klimaabkommen, als darüber, welche Maßnahmen die Bundesrepublik in welchen Bereichen und in welchen Zeiträumen in Angriff zu nehmen hat. Und darüber müssen wir künftig reden.
„Handeln ist angesagt", das war die wichtigste Botschaft, die einer der Sachverständigen bei der letzten Expertenanhörung am 25./26. November, Dr. Ludwig Bölkow, der Seniorchef von MBB, der Enquete-Kommission überbracht hat.
Wir sollten damit möglichst morgen schon beginnen, nicht übermorgen. Das hat er uns eingeprägt.
Internationale Abkommen, wenn sie sich nicht in allgemeinen Absichtserklärungen erschöpfen sollen, sind schon deshalb schwierig und zeitraubend, weil zum einen die Interessenlage der 150 Länder sehr unterschiedlich ist und zum anderen das Bewußtsein der Gefährdung und damit des Handlungsbedarfs ebenfalls sehr, sehr unterschiedlich ist. Das gilt für die nördliche Hemisphäre und erst recht für die südliche.
In den Ländern der Dritten Welt herrscht vielfach ein tief eingewurzeltes Mißtrauen, verständlicherweise, gegenüber Umweltschutzforderungen, wie sie aus den Industrieländern kommen. Auf der Hamburger Weltklimakonferenz Anfang November hat dies ein indischer Klimaforscher deutlich formuliert, indem er sagte, nur langsam verflüchtige sich in den Entwicklungsländern der Argwohn, die Forderungen nach mehr Umweltschutz in der Dritten Welt seien ein „Trick der Industrieländer, um uns am Vorwärtskommen zu hindern". Das heißt, hier besteht eine Art Gegenbewußtsein, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Gegenbewußtsein, das nur durch Überzeugungsarbeit und noch mehr durch eine Veränderung unserer eigenen Verhaltensweisen zum Positiven beeinflußt werden kann.
Das heißt, wir müssen selbst und als erste demonstrieren, daß neue, ökologieverträgliche Wirtschaftsformen, energie- und rohstoffsparende Produktionsweisen der richtige Weg in eine lebenswerte Zukunft sind und eben keine Bremsversuche der Industrieländer, um die Entwicklungsländer an mehr Wohlstand zu hindern.
Es wäre deshalb verfehlt, zu argumentieren, daß wir in der Bundesrepublik ja nur knapp 4 % aller CO2-Emissionen produzieren, daß wir nur zu rund 10 % an der FCKW-Produktion beteiligt sind. Meine Damen und Herren, schon diese 10 % sind 10 % zuviel. Es sind immerhin 112 000 t pro Jahr. Es sind 10 % zuviel, vor allem, wenn man bedenkt, daß ein FCKW-Molekül den gleichen Treibhauseffekt bewirkt wie 15 000 CO2-Moleküle.
Unbestrittene Tatsache bleibt, daß die Industrieländer zusammen 90 % aller ozonschädigenden Gase produzieren und daß sie ca. 80 % aller fossilen Brennstoffe verbrauchen.
Die Aufforderung zum Handeln richtet sich also — um noch einmal Ludwig Bölkow zu zitieren — unmittelbar an uns selbst, an Westeuropa, an die USA, an Kanada, an Japan, an die UdSSR, weil wir die größten Energieverschwender sind und weil wir zugleich die fortgeschrittensten Technologien haben, um neue, andere, alternative Energiepfade beschreiten zu können.
Die Experten sagen, bis zum Jahre 2005 sei eine Reduktion des Energieverbrauchs um 20 % machbar, wenn — und das ist die Voraussetzung — die politischen Signale richtig gesetzt würden.
Nehmen wir das Beispiel Raumheizung: Sie allein verschlingt in der Bundesrepublik 40 % des Energieverbrauchs. Den Löwenanteil stellt das Mineralöl, einen geringeren Teil das Erdgas. Wir könnten durch Anwendung aller heute verfügbaren Mittel der Wärmeisolierung, der Verbesserung der Heiztechnik, der Nutzung passiver Solarsysteme bis zu 80 % dieser Heizenergie einsparen. In Schweden werden bereits 50 To aller Neubauten als Niedrigenergiehäuser gebaut. Wo sind, frage ich, die entsprechenden Vorschriften oder wenigstens Anreize bei uns? Sie fehlen bis heute.
— Herr Fellner, darüber sprechen wir nachher.
Die Bundesrepublik hat einen riesigen Altbaubestand von 24 Millionen Häusern. Hier liegt ein großes Energieeinsparungspotential. Hier liegt ein gewaltiger Modernisierungsbedarf. Hier liegen große Chancen für Arbeitsplätze, und zwar auf viele Jahre hinaus.
Beispiel Verkehr: 25 % der Erdenergie schluckt allein der Verkehrssektor. Wenn hier der Energieverbrauch und damit zugleich die klimawirksamen Schadstoffemissionen verringert werden sollen, gibt es nur zwei Wege, einmal die forcierte Entwicklung des treibstoffsparenden Autos — Prototypen gibt es, Stichwort „Öko-Polo" — , zum anderen aber einen gründlichen Umbau unseres energiefressenden Ver-
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Frau Dr. Hartenstein
kehrssystems. Wir müssen weg von der einseitigen Förderung des Individualverkehrs.
Wir brauchen einen besseren Ausbau des ÖPNV. Wir müssen weg vom Massengüterverkehr auf der Straße; wir müssen hin zur Verlagerung auf die Schiene.
Der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung, die Abwärmeverwertung, die Nutzung regenerativer Energiequellen vom kleinen Laufwasserkraftwerk bis zur systematischen Förderung der Solarwasserstofftechnologie, dies alles hat heute noch längst nicht den Stellenwert, der ihm zukommt, auch nicht bei dieser Bundesregierung. Ich möchte das gerne überbringen.
Nach dem Motto „Global denken — lokal handeln", meine Damen und Herren, können allerdings auch wir alle als Verbraucher einiges tun: im Haushalt, im Betrieb, in der Kommune. Hier werden täglich hunderte von Entscheidungen getroffen, pro oder auch kontra Umwelt. Jeder unterlassene Griff nach der — heute noch billigeren! — FCKW-haltigen Spraydose ist eine Entscheidung für die Rettung der Ozonschicht, ebenso jeder Verzicht auf Wegwerfgeschirr aus geschäumtem Kunststoff, obwohl es für die Gartenparty vielleicht bequemer wäre.
Das Organisieren einer gesonderten Entsorgung von ausrangierten Kühlschränken, damit die FCKWs in einem geschlossenen Recycling abgesaugt werden können, ist ebenso hilfreich wie das Ausmustern alter, stromfressender Haushaltsgeräte und der Ersatz durch neue, energiesparende und ebenso der Entschluß — ich nehme ein ganz pragmatisches Beispiel — , für kurze Entfernungen das Fahrrad anstelle des Autos zu verwenden; denn das Fahrrad produziert keine Schadstoffemissionen.
Aber diese praktischen Beispiele dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß vieles nicht in der Hand der Verbraucher liegt.
Daß das umweltschädliche Produkt immer noch billiger ist als das umweltfreundliche — siehe Spraydose — , hat seine Ursache in einer falschen Besteuerung. Daß viele Kleinkraftwerke brachliegen, hat seine Ursache dann, daß wir ein veraltetes Energiewirtschaftsgesetz haben, das den Mehrverbrauch immer noch begünstigt und den Minderverbrauch bestraft und das es dem Kleinerzeuger äußerst schwer macht, sich gegen die großen EVUs zu behaupten, wenn er seinen Strom einspeisen will.
Was ich damit sagen will, ist folgendes: Der Appell an unsere Bürger, meine Damen und Herren, vor Ort alles zu tun, um sich klimafreundlich zu verhalten, entbindet die Politik nicht von ihrer Verpflichtung, die Weichen neu und in die richtige Richtung zu stellen. Deshalb die erneute Bitte an Minister Riesenhuber —
überbringen Sie sie ihm bitte, Herr Minister Töpfer —, endlich die Solarenergie stärker zu fördern und dafür den übervollen Topf, der für die Kernenergie in seinem Haus immer noch bereitsteht, mutig anzuzapfen.
Eine einzige in die Energieeinsparung investierte Mark hat einen siebenmal höheren positiven Klimaeffekt, als wenn diese Mark in den Kernenergieausbau investiert würde. Das müßte sich doch auch bis zu ihm durchgesprochen haben.
Meine Damen und Herren, wenn es um den Treibhauseffekt geht, kann die Klage über den wahnsinnigen Raubbau an den tropischen Regenwäldern nicht fehlen — zu Recht. Allein in Brasilien wurden im letzten Jahr rund 200 000 km2 Waldfläche brandgerodet; das ist eine Fläche fast so groß wie die der Bundesrepublik.
Gewiß gibt es in den Tropenländern viele interne Probleme zu lösen, wenn diesem gigantischen Zerstörungswerk Einhalt geboten werden soll, z. B. die Durchführung einer Landreform. Aber nicht nur Kleinsiedler dringen in den Regenwald ein, um dort für ein paar Jahre ihren Mais und ihre schwarzen Bohnen anbauen zu können. Hunderttausende von Hektar werden für riesige Rinderfarmen genutzt, deren Fleisch in die McDonald's-Läden in den USA, in Japan und in der EG wandert.
Allein in der Bundesrepublik haben im letzten Jahr die Holzhändler übrigens eine Million Festmeter tropischer Edelhölzer eingeführt, wie vorgestern der Verband der Deutschen Holzwirtschaft vor dem Deutschen Komitee der UNEP in einem Hearing mitgeteilt hat — eine Million Festmeter! Ist hier nicht eine gründliche Korrektur nötig, und zwar schnellstens?
Müssen denn unsere Sitzungssäle und Kellerbars unbedingt mit besten tropischen Hölzern ausgestattet sein?
Muß es denn sein — meine Frage an den Herrn Bundesbauminister der nicht hier ist —, daß die Rahmen für die 500 Fenster im Regierungsgästehaus Petersberg aus bestem tropischem Edelholz gefertigt werden? Es muß wirklich nicht sein. Es muß auch nicht sein, daß die Weltbank und der IWF immer noch Kredite für eindeutig zerstörerische Großprojekte in den Primärwaldgebieten bereitstellen.
Meine Damen und Herren, die Enquete-Kommission hat erst den kleineren Teil ihrer Arbeit hinter sich. Wir hoffen aber, daß schon die jetzt vorgelegten Ergebnisse die Einsicht fördern, daß die Erde eine Einheit ist. „Die Mietsache ist schonend zu behandeln" steht auf einer sehr bekannten Postkarte des Grafikers Klaus Staeck.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8367
Frau Dr. Hartenstein
Die Lektüre des Zwischenberichts sei der interessierten Öffentlichkeit, insbesondere aber der Bundesregierung eindringlich empfohlen.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippold.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf an das anschließen, was die Kollegin Hartenstein zum Schluß gesagt hat und mich an die Bundesregierung wenden und mich dabei für die ausgesprochen kooperative Zusammenarbeit herzlich bedanken, und auch Ihr Engagement, Herr Minister Töpfer, ist hier besonders hervorzuheben. Das bringt uns in der Sache wunderbar weiter. Es ist nicht so, daß wir sagen müßten, daß die Enquete-Kommission in freiem Raum arbeitet; vielmehr ist die Zuarbeit durch die Bundesregierung ganz exzellent.
— Sie hätten den Zwischenbericht doch gar nicht lesen können, wenn diese Zusammenarbeit nicht so positiv gewesen wäre. Erkennen Sie das doch einfach mal neidlos an!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es sind in der Tat gravierende Änderungen der Erdatmosphäre und des Klimas, denen wir uns gegenübersehen und die ganz erhebliche Veränderungen der menschlichen Lebensbedingungen nach sich ziehen können.
Die Prozesse, mit denen wir uns auseinanderzusetzen haben, sind weitgehend irreversibel, nicht umkehrbar, und machen daher deutlich, daß hier ein ganz anderer Handlungsbedarf besteht, als das sonst der Fall wäre. Die Situation, so wie sie ist, alleine wird dafür sorgen, daß wir noch eine weitere Verschärftung des Prozesses zu erwarten haben, selbst wenn wir ab heute sämtliche Emissionen stoppen könnten. Der Prozeß läuft ganz allein. Das allein — ich sage es noch einmal — unterstreicht die Dringlichkeit dessen, was zu tun ist. Das muß unser Verhalten ganz deutlich bestimmen, denn Analysieren, Entscheiden und Handeln muß schnell geschehen. Wir können nicht beliebig zuwarten. Der wissenschaftliche Rat, den wir brauchen, muß deshalb begleitend einbezogen werden, bereits während die Weichen für nationales, europäisches und weltweites Verhalten gestellt werden. Denn wir können nicht jede Analyse zu jeder Einzelheit zu den Hunderten, zu den Tausenden von Fragestellungen, die wir haben, erst vorliegen haben und dann noch darauf warten, daß andere Wissenschaftler Vernetzungen herstellen. Wir dürfen auch nicht mit dem Hinweis darauf, daß das eine oder andere Klimamodell noch nicht ausreichend funktioniert und dreidimensionale Modelle noch nicht arbeiten, sagen: Deshalb kann jetzt nicht gehandelt, deshalb kann jetzt nicht entschieden werden.
Ich glaube, hier ist das Problem so, daß wir sofort an die Sache herangehen müssen.
Das Problem, das wir in seiner ganzen Globalität vor uns haben, erfordert eine Neuorientierung der Energienutzung und -versorgung. Dies ist besonders eine Frage der CO2-Problematik. Dieses Problem läßt sich nur global lösen. Das muß man ganz deutlich sehen. Ich verstehe, Herr Kollege Knabe, daß Sie hier gerne schon weitere Empfehlungen gehabt hätten, aber Sie sind doch mit mir einer Meinung, daß die Belastung, der die Kommission ausgesetzt war, ein schnelleres Arbeiten einfach nicht mehr zuließ, allein von der physischen Komponente her. Wir alle hätten uns gewünscht, daß wir im Verfahren bereits weiter wären, daß wir hier ebenso konkrete Handlungsempfehlungen vorlegen könnten. Aber es geht doch darum, daß man auch hier sehen muß, daß wir Substanz überbringen wollen, daß wir nicht an der Oberfläche bleiben wollen, sondern daß wir einen echten Beitrag zur Lösung des Problems leisten wollen und nicht nur reden wollen, ohne daß das Ganze auch einen ausreichenden Hintergrund hat.
Wir müssen in diesem Zusammenhang natürlich auch eines deutlich machen: daß wir hier bei der Lösung vor ganz entscheidenden Fragestellungen stehen, was die Mitwirkung übernationaler Gremien angeht. Wir haben erste Gespräche mit der EG geführt. Ich kann ganz deutlich sagen: Der Bewußtseinsstand, den wir erreicht haben, ist nicht der Bewußtseinsstand, der dort gegeben ist. Wir sind dort sehr weit voraus.
Wir werden uns über das Energieproblem hinaus auseinandersetzen müssen z. B. mit der Frage des tropischen Regenwaldes. Auch das setzt Veränderungen des Bewußtseins voraus. Übrigens, nicht nur Anregungen von außen werden dort zuträglich sein, sondern die Einschätzung in den Ländern selbst wird sich ändern müssen. Solange dort Prozesse noch darauf angelegt sind, die Zerstörung des Urwalds über steuerliche Subventionierung zu fördern, und zwar in Zangenbewegung mit der mangelnden Landreform, werden wir nicht weiterkommen können.
Es ist ein weiterer Punkt: Wir werden das Gespräch mit den Religionen suchen müssen, mit den großen Weltreligionen.
Die Frage nach der Bevölkerungsexplosion ist angesprochen, die Frage: Was tue ich in der Familienplanung?
Was mache ich, um dieser Bevölkerungsexplosion zu begegnen? Das macht deutlich, daß die Gespräche weit über den Rahmen bisheriger politischer Gespräche hinausgehen müssen, daß sie wesentlich mehr mit einbeziehen müssen, als das in der Vergangenheit der Fall war.
8368 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Dr. Lippold
— Die Problematik der Weltbank ist eine andere. Ich würde sie im Vergleich zu dieser Frage sogar noch für geringer halten, weil wir dort schneller und eher Einfluß nehmen können, als es möglich ist, über Jahrtausende verfestigte Vorstellungen anzugehen und verändern zu wollen.
Das macht deutlich — ich sage es noch einmal —, daß die Arbeit der Kommission darauf abzielen muß, daß wir die ökologischen, die sozialen Konsequenzen, auch die moralischen, die ethischen Aspekte wesentlich schneller miteinander koppeln und binden müssen, zu Ergebnissen kommen müssen, daß wir politisches Handeln ändern müssen, aber auch daß wir politisches Bewußtsein ändern müssen, weil wir ansonsten mit dem Handeln nicht weiterkommen.
Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den ersten Zwischenbericht der Enquete-Komission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das scheint so zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 11/3479. Es geht um die Erhöhung der Mitgliedszahl der Enquete-Kommission. Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dies einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Garbe, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN
Ausstieg aus der Produktion und Verwendung von PVC
— Drucksache 11/3059 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Im Ältestenrat, meine Damen und Herren, ist für die Beratung ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Auch da sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Garbe.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Der Bundespräsident hat sich am 1. Dezember 1988 im Norden der Bundesrepublik über zwei Umweltprobleme informieren lassen, die in der breiten Öffentlichkeit seit geraumer Zeit intensiv und kontrovers diskutiert werden.
Er informierte sich zum einen bei dem ICI-Werk Wilhelmshaven über den Massenkunststoff Polyvinylchlorid, zum andern auf Langeoog über den Zustand der Nordsee und das Robbensterben. Nach der Information des Geschäftsführers der ICI-Wilhelmshaven kam der Bundespräsident zu einer bemerkenswerten Beurteilung. Zum einen richtete er einen Appell an die Verbraucher und Verbraucherinnen, im Interesse der Erhaltung der Umwelt Abschied von liebgewordenen Gewohnheiten einer Wegwerfgesellschaft zu nehmen, zum anderen an die Industrie die Aufforderung, nicht nur Anstrengungen für eine umweltschonende Produktion zu unternehmen, sondern auch Überlegungen zu umweltschonenden Produkten anzustellen.
Umweltschonende Produkte kaufen zu können
— da stimme ich Frau Kollegin Hartenstein völlig zu — ist für mich auch allerdings erst einmal die unabdingbare Voraussetzung für den Appell an die Verbraucher und Verbraucherinnen, meine Damen und Herren, denn ohne Alternativen auf dem Markt ist der Appell nicht oder nur schwer zu befolgen.
Umweltgerechte Produktionsweisen und Produkte
— das exakt ist unser Anliegen, ist unsere Forderung seit vielen vielen Jahren. Und das exakt ist die Intention dieses PVC-Ausstiegsprogramms — nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Wir verteufeln die Kunststoffe nicht generell. Vielmehr wollen wir durch unser Konzept erreichen, daß der umwelt- und gesundheitsfeindliche Primitivkunststoff aus unserer Landschaft, aus den Haushalten, aus dem Abfall und aus den Müllverbrennungsanlagen sowie den Deponien verschwindet und endlich der Weg frei wird für intelligente Kunststoffe und naturbelassene Stoffe, also für Produkte mit besseren Eigenschaften wie z. B. hitzefeste, korrosionsfreie Kunststoffe, die besser sind als Glas, Metall und Keramik.
Wenn es denn richtig ist, meine Herren und Damen, daß die Bundesrepublik ein modernes, hochqualifiziertes High-tech-Land ist, wie an anderer Stelle immer wieder betont wird, dann ist es doch mehr als unlogisch, daß in der Bundesrepublik 1,4 Millionen t PVC pro Jahr produziert werden und wir hier mit einem Pro-Kopf-Verbrauch von 18 kg weltweit einen Spitzenplatz einnehmen,
obwohl das Unbehagen bzw. die Ablehnung von PVC-Produkten weitverbreitet ist. So haben inzwischen acht Kommunen mit Erfolg ein PVC-Anwendungsverbot bzw. PVC-Einschränkungen in öffentlichen Hochbauten erwirken können; 32 Kommunen haben einen dementsprechenden Antrag gestellt.
Es hat sich inzwischen auch herumgesprochen, welchen ungeheuren Gefahren z. B. auch beim Brand von PVC-beschichteten Baustoffen die Feuerwehrleute ausgesetzt sind. Denken Sie an den Großbrand von Herford, meine Herren und Damen. Wenn PVC brennt, wird Salzsäure frei. Die Salzsäure ist in der Lage, die Atemschutzgeräte der Feuerwehrleute zu zersetzen bzw. zu zerfressen, so daß die Atemgifte ungehindert in die Augen und auf die Schleimhäute gelangen können. Der Leitende Branddirektor der Stadt Frankfurt, Professor Achilles, macht sich aus diesem Grund bei jedem Brand große Sorgen um seine
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8369
Frau Garbe
Feuerwehrleute, zumal es bis zum heutigen Tage noch nicht einmal eine Rauchgasklassifizierung gibt. Eingehende wissenschaftliche Untersuchungen in Verbindung mit praxisnahen Brandversuchen sind auch wegen der Möglichkeit, daß nach dem Abbrand von PVC auch Dioxine entstehen können, dringendst notwendig. Das ist eine alte Forderung des Branddirektors, der wir uns anschließen.
Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Warum zieht dieser Slogan nicht bei dem Teufelszeug PVC? Ich kann es Ihnen sagen: Es steht wie bei vielen ungelösten Umweltproblemen auch hier eine allgewaltige Lobby dahinter, die sich unter Anwendung raffinierter Tricks und unlauterer Mittel geradezu an PVC klammert unter Inkaufnahme der seit langem bekannten Gefahren und der daraus entstehenden Krankheiten und Umweltschäden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe dieses PVC-Ausstiegsprogramm Ende Juni der kunststoffproduzierenden Industrie vorgestellt. Daran schloß sich eine harte, aber dennoch faire Diskussion an; das möchte ich hier ausdrücklich betonen.
Nach einer Pressekonferenz, bei der wir dieses Ausstiegsszenario mit entsprechenden Info-Materialien der Presse vorstellten, begann „der Bär zu tanzen". Die PVC-Lobby ging zum Gegenangriff über.
Zuerst wurde am 1. August 1988 der Verein „PVC und Umwelt e. V. " — abgekürzt AgPU genannt — gegründet. Diese Pro-PVC-Umweltinitiative soll endlich das Negativimage von PVC abbauen. Die AgPU wird überwiegend von PVC-Herstellern und -Verarbeitern finanziert. Hoechst, Solvay & Co sind mit 100 000 DM pro Jahr dabei.
Dieses Vorgehen der PVC-Produzenten und -Verarbeiter handle ich noch als raffinierte Trickserei ab. Das andere Beispiel hat ernsteren Charakter. Als das Robbensterben begann, hat mein ehemaliger Mitarbeiter, Chemiker seines Zeichens, in einem bekannten Wochenmagazin mit gut begründeten Argumenten den Lesern und Leserinnen empfohlen, auf den Kauf von PVC-Produkten zu verzichten, weil damit eine Verringerung der CKW-Belastung in allen Umweltmedien einhergehen würde. Daraufhin bekam er einen Brief von der Firma Colgate-Palmolive mit dem Hinweis, die Firma wolle für ihre Produkte keine PVC-haltigen Verpackungsmaterialien mehr verwenden. Die PVC-Lobby reagierte prompt. Sie forderte ihre mehr als hundert Mitgliedsfirmen auf, mit ihren Arbeitern angesichts des PVC-Ausstiegs durch Colgate-Palmolive den Kaufboykott der Colgate-Palmolive-Produkte zu erwägen.
Meine Herren und Damen, hier sollen Verbraucher massiv vor Konzerninteressen gespannt werden. Das ist nicht nur unlauterer Wettbewerb, das ist umweltkrimineller Machtmißbrauch.
Zum Glück, kann ich nur sagen, werden neben Colgate-Palmolive auch Henkel und Unilever sowie eine nicht unerhebliche Zahl kleinerer und mittlerer Firmen in Zukunft auf PVC verzichten, weil sie die mit PVC verbundenen Umwelt- und Gesundheitsrisiken anerkennen und weil die Einschränkung der PVC-
Anwendung auch in anderen Ländern, so z. B. in der Schweiz und in Österreich, erklärtes Ziel geworden ist.
Dennoch hat die Bezirksregierung Weser-Ems am 18. März 1988 den Antrag der Firma ICI-Wilhelmshaven auf Erhöhung der Jahresproduktion an PVC von 115 000 auf 180 000 Tonnen pro Jahr genehmigt, und das, obwohl, wie gesagt, die Gefahren durch PVC seit langem bekannt sind und die Gefährdungen vor allem in der krebserzeugenden Wirkung des Grundbausteins Vinylchlorid sowie in der Verwendung umwelt- und gesundheitsgefährdender PVC-typischer Additive, wie Cadmium, Blei und Weichmacher, liegen. Auf diese Weise wurden seit 1973 in der Bundesrepublik 3 000 Tonnen Cadmium in PVC eingearbeitet und Jahr für Jahr 10 000 Tonnen Blei.
85 % des Weichmachers DEHP gehen in die PVC-Produkte ein. DEHP ist inzwischen einer der vorrangigsten Umweltverschmutzer geworden.
Ob Produktion, ob Einsatz, ob als Abfall: PVC ist zwar langlebig, produziert aber noch viel langlebigere Umweltprobleme. Deshalb haben wir diesen Antrag zum Ausstieg aus dem Primitivkunststoff PVC eingebracht. Der Aussteig aus der PVC-Produktion und -Anwendung ist kurzfristig bzw. mittelfristig möglich. 70 % der PVC-Produkte sind technisch und unter Verringerung der Umweltbelastungen durch andere Materialien substituierbar. 5 % der verwendeten PVC-Produkte sind derzeit technisch noch nicht substituierbar bzw. es ist von einer kurzfristigen Substitution abzuraten, weil die bessere Umweltverträglichkeit vorhandener Ersatzstoffe nicht gegeben bzw. nicht abgesichert ist. 25 % der PVC-Produkte gehen in Verpackung und Verkehr. Hierfür haben wir die Möglichkeit der Substituierbarkeit nicht untersucht, weil der Einsatz von PVC zum einen durch Verzicht auf Verpackungen — deshalb braucht man reife Tomaten dennoch nicht in der Hosentasche nach Hause zu tragen —,
zum anderen durch die Bevorzugung von umweltfreundlicheren Mehrwegsystemen und viele andere Möglichkeiten mehr ersetzt werden kann.
Wir brauchen umweltfreundliche Produkte, sagte der Bundespräsident in Wilhelmshaven. Ich hoffe, meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, Sie nehmen diese Forderung ernst. Wir werden Sie dabei intensiv unterstützen. Wie diese Forderung umgesetzt werden kann, haben wir Ihnen kurz aufgezeigt, mehr in den Ausschüssen. Dabei muß ich noch sagen, daß wir den Termin für das von der Bundesregierung zu erstellende Ausstiegsprogramm zeitgemäß um ein halbes Jahr hinausschieben. Übrigens freue ich mich auf die Diskussion in den Ausschüssen mit Ihnen.
Herzlichen Dank.
8370 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Lippold.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Garbe, Ihre Beiträge wären immer dann viel wirkungsvoller, wenn Sie nicht überall und grundsätzlich dramatisieren würden,
weil Sie unbeschadet der real einzuschätzenden Gefährlichkeit der Stoffe bei jedem die maximale Gefährlichkeit, Toxizität unterstellen, und das wertet Ihre Argumentation insgesamt ab.
Wir haben in der Bundesrepublik eine Produktion von ca. 1,3 Millionen Tonnen PVC, Frau Garbe, und nach dem Abzug des Exports, ca. 300 000 Tonnen, bleiben ca. 1 Million Tonnen in der Bundesrepublik. Die wichtigsten Einsatzbereiche sind vor allem der Bau- und Verpackungssektor. 60 % der PVC-Produkte entfallen auf den Baubereich: Rohre, Fensterrahmen, Fußbodenbeläge, Dachrinnen aus PVC sind jedem ein Begriff. Gerade die lange Lebensdauer von PVC-Produkten macht diesen Kunststoff interessant und anwendbar. Wie gesagt, 15 % der PVC-Menge — ich habe es noch nicht ergänzt — entfallen auf den Verpackungsbereich.
Ich darf noch einmal rekapitulieren, daß noch vor kurzer Zeit die Bundesregierung — ich nehme an, die Koalitionsfraktionen teilen diesen Standpunkt — nach dem heutigen Stand der Kenntnisse keinen Anlaß sieht, die Verwendung von PVC-Bauprodukten in öffentlichen und privaten Gebäuden einzuschränken.
PVC-Produkte wie Dachbahnen, Bodenbeläge, Rohre oder Fensterprofile werden seit Jahrzehnten in vielen Bereichen eingesetzt. Das Sachverständigengremium „Gesundes Bauen und Wohnen", das den Bundesminister in Fragen der gesundheitlichen Auswirkungen von Baustoffen berät, hat sich auf Grund der jüngst bekanntgewordenen Vorgänge in einigen Städten intensiv mit der PVC-Verwendung befaßt. Es hat dabei festgestellt, daß PVC-Bauprodukte, die den Qualitätsanforderungen deutscher Hersteller entsprechen, bei üblicher Nutzung in Wohnungen und sonstigen Aufenthaltsräumen unbedenklich seien.
— Auch bei den Weichmachern sind die Zahlen, die Sie verwenden, nicht exakt. Erstens übertreiben Sie bei den Stoffanteilen, und zweitens ist die Frage der Untersuchung, die Sie vorgelegt haben, noch einmal kritisch zu überprüfen: ob die Entgasung so ist, wie Sie es dargestellt haben.
Im Hinblick auf die Entsorgung können wir festhalten, daß in den Deponien nach heutigem Kenntnisstand keine signifikanten Belastungen des Sickerwassers oder der Deponiegase gegeben sind,
was sich ja z. B. darin ausdrückt, daß PVC-Folien auch für Deponieabdichtungen genutzt werden. Ich sage das nur einmal. Im übrigen werden — wohl nicht zuletzt deshalb — PVC-Erzeugnisse auch im neuesten LAGA-Entwurf zur TA Abfall nicht als Sondermüll ausgewiesen.
Zur Frage HC1-Entstehung bei der Verbrennung, Korrosionsschäden: Hier müssen wir festhalten, daß HC1 auch bei Verbrennung anderer Stoffe entsteht. Insofern muß die Anlage eh auf Korrosionsbeständigkeit angelegt werden. Insofern sind die Grundvoraussetzungen dafür da.
Ein zweiter Punkt, den wir sehen müssen: Die von Ihnen angesprochene Entstehung von Dioxinen im Abgas von Müllverbrennungsanlagen ist bei neuerer Technik — Hochtemperaturverbrennung, gleichbleibende Verbrennungstemperaturen in der Kammer von über 1 100 °C — nicht mehr gegeben.
Das führte z. B. dazu, verehrte Frau Kollegin Garbe, daß der frühere hessische Umweltminister, der die Anlage in meiner Heimatgemeinde beanstandete, diesen Vorwurf Stück für Stück zurücknehmen mußte, bis er sich hinterher darauf versteifte zu sagen, es seien doch Dioxine im Abgas, allerdings unter der Nachweisgrenze. Jetzt mache mir einmal jemand klar, was das bedeutet: Dioxine im Abgas, aber unter der Nachweisgrenze. Auf gut deutsch: Er hat im Abgas keine Dioxine gefunden und nicht finden können.
Auch die Untersuchungen in der Umgebung, Frau Garbe, haben deutlich gemacht, daß die Dramatisierungen, mit denen Sie zu spielen belieben, nur der Panikmache dienen, aber vom Grunde her nicht gerechtfertigt sind.
— Wissen Sie, Frau Garbe, Sie machen zuwenig Kommunalpolitik. Da kommt man an die praktischen Probleme der Leute heran. Wenn man immer nur in nächtlichen Zirkeln abstrakt diskutiert, kommt man natürlich nicht weiter.
Es ist übrigens das gleiche bei der Deponierung: Cadmium z. B. wie auch Blei werden in der PVC-Matrix eingebunden, und deshalb ist eine Auswaschung nicht gegeben. Wir könnten das im ganzen durchaus noch verlängern.
Wenn ich an den PVC-Einsatz in der Wohnung, an PVC am Arbeitsplatz denke: Ich glaube, es gibt kein Land in der Welt, das ein so dichtes Regelwerk geschaffen hat wie wir, sei es im Bereich der Erstellung von Anlagen, sei es im Bereich der Verwendung oder auch im Bereich der Verpackung. Dieses Regelwerk umfaßt Richtlinien, die insbesondere im Hinblick auf Verpackungsmaterialien für Lebensmittel deutlich
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8371
Dr. Lippold
machen, daß keine Gefährdung auftreten kann, auch nicht auf Grund des Migrationsverhaltens von Stoffen in PVC.
Ich stelle noch einmal fest: Die Genehmigung für Anlagen kann nur erteilt werden, wenn sichergestellt ist, daß durch die Anlage keine schädlichen Umwelteinwirkungen hervorgerufen werden können und ausreichende Vorsorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen getroffen ist.
Einschätzungen in der Gefahrstoffverordnung — MAK/TRK-Werte — sorgen dafür, daß z. B. auch am Arbeitsplatz alle Vorsorge getroffen wird, um den Arbeitnehmer zu schützen.
Das geht übrigens auch darauf zurück, daß z. B. die Verwendung der Stoffe innerhalb PVC selbst ganz drastisch reduziert worden ist. Das ist etwas, was Sie übrigens in der Studie auch aufgeführt haben, die Ihrem Antrag zugrunde liegt. Aber die Aspekte, die in der Studie zitiert werden und die positiv sind, lassen Sie in Ihrem Antrag natürlich völlig weg. Das wird dort bloß ganz dezent angedeutet. Wenn man Ihren Antrag intensiv liest — das pflege ich immer zu tun, bevor ich mich mit Ihnen auseinandersetze —,
kommt man zu dem Ergebnis, daß dort eine ganze Menge offengelassen ist. Ich sage das noch einmal so.
Übrigens, weil Sie den Spruch „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt" gebracht haben: Genau mit diesem Spruch hat ein Vertreter des Umweltbundesamtes auf der ENVITEC 1980 gesagt: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt; für Vinylchlorid kann das heute gesagt werden.
— Nicht nur. — Ich gehe einmal auf einige Positionen ein, die Sie angesprochen haben, und mache deutlich, daß das auch anders dargestellt werden kann, bei aller Problematik, die ich sehe.
Jetzt will ich noch etwas sagen: Sie haben in Ihrer Studie z. B. die Umweltverträglichkeit der Substitutionsprodukte nicht untersucht.
Ich kann die ganze Palette aller Anwendungsbereiche durchsehen — Bausektor, Rohrleitungsbau, Elektrobereich, Verpackungssektor, Transport, Verkehrswesen, Konsumartikel, Möbelsektor — : Nirgends haben Sie die Frage Rohstoff- und Energieverbrauch, nirgends haben Sie die Frage Recycling, nirgends haben Sie die Frage Umweltauswirkung, Verfügbarkeit der Rohstoffe behandelt.
Wenn ich mit Ihnen diskutiere, erspare ich mir immer den Hinweis auf die Diskussion der Alternativkosten, weil das für Sie ja ohnehin kein Problem ist. Aber es muß ja einmal deutlich gesagt werden.
Das heißt, im entscheidenden Bereich, dort, wo es ansetzt, wo man wirklich beurteilen könnte,
ob die Substitutionsstoffe wirklich besser sind als das, was Sie substituieren wollen, haben Sie überhaupt keinen Ansatzpunkt. Aber ohne diese Ansatzpunkte zu haben, ziehen Sie natürlich die Konsequenzen wie bei jedem anderen Stoff auch, ganz einfach, weil bei Ihnen ohne jegliche Analyse das Ergebnis der Analyse schon im vorhinein feststeht.
— Herr Lennartz, unterdrücken Sie doch das leichte Lächeln, das um Ihre Lippen spielt, weil Sie doch genau wissen, daß Sie das just for show gemacht haben. Ich meine, in diesem Fall sollte man das mit einem klein wenig mehr Ernst behandeln. Dazu ist die Situation meines Erachtens wirklich nicht angebracht.
Für uns ist die Frage ganz entscheidend: Wie können wir Recyclingsysteme verbessern? Wie können wir z. B. weitere Möglichkeiten nutzen,
Stoffeintrag zu verhindern? Wie können wir dafür sorgen, daß vorhandene Schädlichkeit reduziert wird? — Dazu gibt es hervorragende Vorschläge von Praktikern, Frau Kollegin Garbe, u. a. — ich bleibe im kommunalpolitischen Bereich — von Direktoren von Abfallverbünden, die wir in Deutschland haben. Das sind hervorragende Fachleute, deren Vorschläge wir in aller Ruhe einmal durchsprechen sollten. Wir sollten uns dann auch einmal fragen: Was gehen wir davon an? Wie kann man in dieser Form reduzieren? Aber die Globalität ihres Ansatzes schadet — wie üblich — der Sache.
Wir werden die Diskussion in den Ausschüssen führen und sicherlich dabei zu einem vernünftigen Ergebnis kommen, das allen Belangen gerecht wird.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Weiermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es führt kein Weg daran vorbei, daß in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig 1,3 Millionen t PVC erzeugt und hergestellt werden mit einem Produktionswert von rund 2 Milliarden DM. Davon werden rund 1 Million t im Inland verbraucht. Das heißt, bei einem Pro-Kopf-Verbrauch von 16,1 kg pro Jahr sind die Bundesbürger PVC-Weltmeister.
PVC ist ein Massenkunststoff, der in alle Bereiche des Lebens eingedrungen ist. Über 50 % des PVC-
8372 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Weiermann
Verbrauchs erstreckt sich auf den Bausektor. Aber PVC ist auch in Kraftfahrzeugen, im Elektrobereich, in der Verpackungsindustrie vertreten, wobei allein 16 % auf die Verpackungsindustrie entfallen.
In den letzten Jahren ist deutlicher festzustellen, daß in einer Reihe von Bereichen Substitutionen stattgefunden haben. Wir verkennen nicht, daß sich auch die Industrie und noch mehr die zuständigen Gewerkschaften um einen umweltverträglichen Einsatz oder um die Entwicklung umweltverträglicher Ersatzstoffe bemühen. Das allein reicht sicherlich nicht aus.
Der Hauptanteil des Verpackungsmaterials besteht aus sogenannten Hart-PVC. Aus entsprechenden Folien werden Formkörper hergestellt, die im täglichen Gebrauch als Becher, Schalen oder Sortiereinsätze benutzt werden können, Klarsichtverpackungen sowie Packhilfsmittel in Form von Klebebändern, Etiketten und Deckeln. Aus Hart-PVC sind auch die meisten Kunststoffflaschen.
Das sogenannte Weich-PVC wird vor allem im Frischwarenbereich als Folie für Obst, für Gemüse und für Frischfleisch, auch für Brot, Brötchen und Backwaren benutzt. Daneben sind Weich-PVCs vor allem auch als Dichtungsmasse in Verwendung.
Zusammengefaßt, meine Damen und Herren: Von den rund 1,3 Millionen Tonnen Kunststoffen, die in der Bundesrepublik zu Verpackungszwecken genutzt werden, besteht etwa ein Zehntel aus PVC. PVC ist der einzige Kunststoff, der mit schwermetallhaltigen Stabilisatoren gegen Wärme und Licht unempfindlich gemacht werden muß.
Zum Einsatz — und das muß an dieser Stelle gesagt werden — kommen insbesondere Zinn, Zink, Blei und sogar Cadmiumverbindungen; letztere sind allerdings im Lebensmittelbereich ausgeschlossen. Dennoch: Ein Drittel des in der Bundesrepublik verbrauchten Nieren- und Nervengifts Cadmium wird auch im PVC-Bereich verwendet. Hinzu kommen schwermetallhaltige Farbpigmente. Besonders reich an Zusatzstoffen ist jedoch das Weich-PVC. Um nämlich den brüchigen und spröden Kunststoff flexibel und geschmeidig zu machen, müssen ihm bis zu 60 % sogenannte Weichmacher zugesetzt werden, die insbesondere bei der Lebensmittelverpackung überaus problematisch sind, meine Damen und Herren.
Sie können nieren- und leberschädigende Auswirkungen haben. Im Einzelfall sind sogar Nervenschädigungen festgestellt worden. Sie beeinträchtigen die Gesundheit von Embryos und Genen und haben darüber hinaus im Tierversuch krebserregende Wirkung gezeigt.
Hinsichtlich dieser Einschätzung — das darf ich an dieser Stelle sagen — gibt es natürlich auch Differenzen. Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen beim Bundesministerium für Umwelt stellt in seinem Gutachten aus dem Jahre 1987 allerdings fest, daß die in Tierversuchen ermittelte krebserregende Wirkung die Annahme eines entsprechenden Risikos auch beim Menschen begründet. Darum sagen wir: Eine systematische umwelt- und gesundheitsverträgliche
Chemiepolitik muß von klaren, gesicherten Erkenntnissen ausgehen.
Und sie muß ihrem Anspruch, Gesundheit und Umwelt zu schützen, gerecht werden.
Vor allen Dingen muß sie eins, meine Damen und Herren: Sie muß endlich auch einmal in Angriff genommen werden.
In diesem Zusammenhang gibt es uns zu denken, daß bei Untersuchungen der Stiftung Warentest Weichmacher in Fleisch und Käse festgestellt wurden, die in PVC-Folie verpackt worden waren. Japanische Untersuchungen z. B. haben erbracht, daß die schädlichen Weichmacher nach dem Verzehr entsprechend verpackter Lebensmittel auch im Blut von Menschen nachweisbar sind. Das Lebensmittelgesetz verbietet zwar, Verpackungen in Verkehr zu bringen, von denen Stoffe auf Lebensmittel oder deren Oberfläche übergehen,
ausgenommen gesundheitlich, geruchlich und geschmacklich unbedenkliche Anteile, die technisch unvermeidbar sind.
Die Frage des Einsatzes von Weichmachern wird in der Rechtsverordnung jedoch nicht verbindlich geregelt.
Dazu gibt es vom Bundesgesundheitsamt lediglich Empfehlungen. Die entsprechende Kommission des BGA erklärt den Zusatz von Weichmachern aus Kunststoff für unerwünscht, soweit die Gefahr besteht, daß die Chemikalien auf die Lebensmittel übergehen. Nach diesen Empfehlungen müßten die Weich-PVC-Folien bei stark fetthaltigen Lebensmitteln untersagt werden, meine Damen und Herren.
Die PVC-Problematik beschränkt sich aber nicht auf die Verwendung von Weichmachern. Schon die Produktion dieses Massenkunststoffs ist mit Umweltproblemen verbunden. Ausgangsstoffe für die PVC-Produktion sind Ethylen und Chlor. Bei der Herstellung fallen als unerwünschte Nebenprodukte 3 bis 5 % Chlorkohlenwasserstoffe an, rund 40 000 Tonnen im Jahr, meine Damen und Herren. Chlorierte Kohlenwasserstoffe finden sich auch in Abluft und Abwasser von Produktionsanlagen und belasten — zusammen mit den ebenfalls anfallenden Chloriden und Salzsäuren — Wasser, Luft und Boden.
Von den Produktionsrückständen werden alle leichten und 50 % der schweren Chlorkohlenwasserstoffe durch Chlorolyse umgesetzt. Das Ergebnis sind hochproblematische chemische Verbindungen. Dazu gehört auch das stark krebsverdächtige Per, das vor allem wegen des Einsatzes in chemischen Reinigungen in Verruf gekommen ist. Verfolgt man den weite-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8373
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ren Weg dieser Chemikalien, so ist leicht feststellbar, daß schätzungsweise ein Drittel in die Umwelt freigesetzt wird.
Ich fasse die Hauptprobleme zusammen, die bei Produktion, Verwendung und im Stofffluß von PVC entstehen: Bei der PVC-Produktion wird das nachgewiesenermaßen krebserregende Vinylchlorid verwendet, das vor allen Dingen seltene Formen von Leberkrebs verursacht. Die Konzentrationen am Arbeitsplatz sind in den letzten Jahren zwar gesenkt worden,
es wird jedoch von verschiedenen Seiten darauf hingewiesen, daß die Arbeitsschutzbedingungen hier noch nicht ausreichend sind, meine Damen und Herren. Diese Probleme müssen in den zuständigen Fachausschüssen des Deutschen Bundestages so schnell wie möglich beraten werden.
Ich meine dabei insbesondere auch — das muß ich an dieser Stelle erwähnen — die Problematik des Plastikmaterials im Müll. Kunststoffabfälle sind zum erheblichen Teil an der wachsenden Müllawine beteiligt. Betrachtet man die Kunststoffabfälle, so belegen sie heute sage und schreibe 20 % des Platzes in der Mülltonne. In den USA nähert sich der Kunststoffanteil am städtischen Hausmüll bereits der 40 %- Marke.
10 % der Kunststoffabfälle bestehen in diesem Zusammenhang aus PVC. Diese 0,7 % des gesamten Hausmüllberges haben es jedoch in sich. Auf PVC lassen sich nämlich 50 % des Cadmium und gut 20 % des Bleigehaltes unseres Mülls zurückführen. PVC hat mit 50 bis 75 % den Hauptanteil.
Vor allen Dingen hat die Verbrennung von PVC-Müll gravierende Folgen. Aus Chlor wird Salzsäuregas, das erhebliche Korrosionsschäden z. B. auch in Verbrennungsanlagen hervorruft. Das PVC ist Basis für die Entstehung und Freisetzung hochgiftiger chlorierter Gase. Darüber hinaus, meine Damen und Herren, gibt es starke Hinweise, daß PVC einen wesentlichen Anteil an der Entstehung der bösartigen Gifte Dioxin und Furan in der Müllverbrennung hat.
Der von den GRÜNEN vorgelegte Antrag behandelt demnach Probleme, die zweifellos weiterer Beratungen in den Fachausschüssen bedürfen. Ich darf für meine Fraktion sagen, daß wir einen Teil der Punkte, die in der Drucksache enthalten sind, noch nicht für entscheidungsreif halten. Ich sage, einen Teil. Wir sind aber der Meinung, daß gerade die Chemiepolitik systematisch und langfristig angelegt sein muß.
Von einer aktiven Chemiepolitik der Bundesregierung kann allerdings in diesem Sinne nicht die Rede sein.
Die meisten Ankündigungen blieben erfolglos.
Wir behalten uns vor, meine Damen und Herren, in den Ausschußberatungen eigene Anträge vorzulegen. Sie werden die Vorstellungen präzisieren, die wir von einer vorsorgenden Chemiepolitik haben, d. h. u. a. die Substitution der als gefährlich erkannten Stoffe. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wäre natürlich interessant, einmal zu wissen, wie Herr Rappe über Ihren Beitrag, Herr Kollege Weiermann denkt.
— Ja, natürlich.
Ich habe am 1. 4. 1987 eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet und darin gefragt: Welche Umwelt- und Gesundheitsprobleme können sich nach Auffassung der Bundesregierung bei Produktion, Verwendung und Entsorgung von PVC ergeben?
Es besteht also in der Tat Anlaß, Frau Kollegin Garbe, sich mit diesem Stoff zu befassen! Ich habe die Antwort, die sehr gründlich ist — ich bedanke mich dafür noch einmal beim Herrn Minister — interessiert zur Kenntnis genommen und auch einige Schlußfolgerungen daraus gezogen. Sie befaßt sich mit der Herstellung, der Verwendung und mit der Entsorgung von PVC.
Zu dem Antrag der GRÜNEN habe ich zunächst die Frage, die wir im Ausschuß vertiefen müssen: Was gibt es denn für Ersatzstoffe, die umweltfreundlich sind?
Hier habe ich eine gewisse Skepsis, ob wir nicht im Einzelfall begeistert auf einen Ersatzstoff zulaufen, der dann seinerseits Probleme macht, Frau Kollegin Garbe. Wir müssen eine Ökobilanz aufstellen. Das wird eine wichtige Aufgabe im Ausschuß sein.
Zu dieser Gesamtökobilanz wird sicherlich auch die Untersuchung der Frage gehören, welcher Energieaufwand für die Produktion von PVC einerseits und der Substitute andererseits notwendig ist, wie das Wasser belastet wird und anderes mehr.
Im Produktionsprozeß entsteht als wichtigste Emission Vinylchlorid. Vinylchlorid ist gefährlich. Entsprechende strenge Anforderungen sind insbesondere in der TA-Luft und in der Gefahrstoffverordnung festgelegt worden. Mir hat bisher niemand nachgewiesen, daß diese Festlegungen unzureichend wären. Hier ist also durchaus etwas geschehen; das Notwendige ist bereits geschehen,
um die Gefahren einzudämmen oder überhaupt zu
beseitigen. Ich bin der Meinung, daß nach wie vor alle
Möglichkeiten genutzt werden müssen, um die Kon-
8374 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Baum
zentration von Vinylchlorid in der Luft am Arbeitsplatz zu senken.
Zur Verwendung von Cadmium als Stabilisator im PVC ist darauf hinzuweisen, daß seit 1979 bereits eine Reduzierung um 50 % vorgenommen worden ist. Das ist auch notwendig. Diese Reduzierung ist beachtlich, weil der PVC-Verbrauch gestiegen ist. Ich bin der Meinung, wir müßten einen vollständigen Ersatz von Cadmium erreichen.
Ich fordere die Industrie auf, dies so schnell wie möglich zu tun.
Quecksilberemissionen gibt es bei einer ganz bestimmten Art des Herstellungsverfahrens. Neue Anlagen, die nach diesem Verfahren arbeiten, arbeiten bereits quecksilberfrei. Ich fordere daher, die alten Anlagen so um- und nachzurüsten, daß Quecksilberemissionen nicht mehr entstehen.
Ich habe mich im vorigen Jahr intensiv an einer öffentlichen Diskussion über Weich-PVC-Folien beteiligt. Die Frage der gesundheitlich bedenklichen Anteile an Weichmachern in der Verpackung von Lebensmitteln hat gezeigt, wie wichtig es ist, den Verbraucherschutz ernst zu nehmen und dem Verbraucher Sicherheit über die gesundheitliche Unbedenklichkeit von Verpackungsmaterial zu geben.
So hat das Bundesgesundheitsministerium, Herr Kollege, in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage von mir darauf hingewiesen, daß künftig bei der Verpackung von Frischfleisch auf die Verwendung von Weich-PVC-Folie verzichtet werden kann.
Ich meine, daß darauf verzichtet werden muß. Das Ministerium sagt, es ständen nunmehr Folien aus anderen Kunststoffen zur Verfügung, die ohne Weichmacher hergestellt sind. Diese Ersatzfolien hätten die zur Verpackung von Frischfleisch erforderliche Sauerstoffdurchlässigkeit, sagt das Gesundheitsminsterium, hätten jedoch nicht den Nachteil, daß Weichmacher auf das Verpackungsgut übergehen können. Ich meine, in dieser Weise muß verfahren werden. Wir brauchen diesen Stoff in dieser Verwendungsart nicht mehr. Die Bundesregierung hat das gegenüber dem Parlament deutlich gemacht. Wenn dazu noch Rechtsvorschriften notwendig sind, werde ich sie unterstützen.
Ich meine, dem Verbraucher sollte schon durch deutlich erkennbare Kennzeichnung der Folien sichtbar gemacht werden, um welches Material es sich handelt.
Er kann es heute nämlich nicht feststellen. Der Verbraucher muß Sicherheit erhalten, daß nicht nur fast alle auf dem Markt angebotenen Frischhaltefolien, sondern wirklich alle tatsächlich angebotenen und
benutzten Folien, auch die importierten, in gesundheitlich bedenkenfreier Weise zusammengesetzt sind. Ohne entsprechende Regelungen und Kennzeichnungen kann der Verbraucher dies nicht verifizieren. Es muß sichergestellt werden, daß keine Folien verwendet werden, die gesundheitlich bedenklich sind, aus welchem Material auch immer sie hergestellt sein mögen.
Besondere Bedeutung im Zusammenhang mit PVC kommt schließlich insbesondere der ordnungsgemäßen Entsorgung zu.
Wir fordern in diesem Zusmmenhang eine Kennzeichnung von PVC und der anderen in großen Mengen anfallenden Kunststoffe. Mit eindeutiger Kennzeichnung und entsprechender separater Sammlung könnten die Recycling-Möglichkeiten wesentlich ausgebaut werden.
Auch bei Kunststoffen brauchen wir nämlich Recycling-Erfolge wie bei Papier und Glas. Die Zusage der Hersteller von langfristig eingesetzten PVC-Erzeugnissen, z. B. von Fenstern, diese zurückzunehmen, sind zu begrüßen. Hier werden wir darauf achten müssen, daß diese Zusagen eingehalten werden.
Mit der entsprechenden Kennzeichnung nicht nur von Kunststoff-Folien, Yoghurt-Bechern und anderen Wegwerfprodukten, sondern auch von langfristigen Gütern wie eben etwa von Fenster-Elementen werden wir unserem Ziel der Abfallverminderung und Abfallverwertung, meine ich, näherkommen.
Wir begrüßen die Kunststoffflaschen-Verordnung, Herr Minister, die wir hier ja schon mehrmals diskutiert haben. Weitere Maßnahmen in diese Richtung sind nötig.
Es gibt gar keinen Zweifel: Bei der Verbrennung von PVC entstehen große Probleme.
— Herr Präsident! Es ist kaum möglich, sich auf die Rede zu konzentrieren. Ich verstehe jede Bemerkung, die Sie machen, Frau Kollegin Blunck. Sie werden sogleich zur Nordsee reden. Ich sage Ihnen: Ich werde genausoviel dazwischen reden wie Sie soeben, wenn Sie mich nicht zu Wort kommen lassen.
Ich wäre dankbar, wenn man den Redner ausreden ließe.
Sie müssen einem doch die Gelegenheit geben! Ich nehme jede spontane kurze Äußerung wirklich gern auf. Aber daß Sie pausenlos Ihre Kommentare zu meiner Rede geben, stört unwahrscheinlich.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8375
Baum
Große Probleme bei PVC sehe ich weiterhin bei der Verbrennung von PVC und bei Bränden. Bei der Verbrennung von PVC bildet sich Chlorwasserstoff; darauf ist hingewiesen worden. Die Verbrennung in Hausfeuerungsanlagen ist zwar verboten, aber wer weiß schon, was er verbrennt. Deshalb müssen wir den Verbraucher hier schützen. Auch dafür ist eine Kennzeichnung notwendig. Sie ist unverzichtbar.
Probleme ergeben sich bei Brandfällen; darauf haben Sie hingewiesen, Frau Kollegin Garbe. Hier kann es zu schweren Verätzungen von Personen kommen; die Bildung von polychlorierten Dioxinen und Furanen ist möglich. Deshalb sollten weitere Möglichkeiten geprüft werden, wie diese Gefahren eingedämmt werden können, z. B. durch die Wahl anderer Stoffe in besonders brandgefährdeten Gebäuden oder durch besondere Brandvorkehrungen.
Die Probleme der Verbrennung von PVC in Müllverbrennungsanlagen sind heute durch die neuen Anforderungen der TA-Luft sehr begrenzt worden. Da aber die Rückstände der Rauchgasreinigungsanlagen zum Teil lösliche Salze enthalten, an deren Deponierung besondere Anforderungen zu stellen sind, müssen wir weiter an einem geschlossenen Chlorkreislauf arbeiten.
Hier gibt es wirklich ein ernsthaftes Problem.
Wie die bisher ergriffenen und die weiteren Maßnahmen zeigen, nehmen wir die bereits bestehenden oder auch die möglichen Umwelt- und Gesundheitsbelastungen durch PVC und andere Kunststoffe sehr ernst. Wir haben uns diesem Problem in der Vergangenheit auch hier parlamentarisch — wie ich Ihnen das dargelegt habe — und auch sonst gewidmet. Wir haben also allen Anlaß, über PVC zu sprechen, aber bitte in nüchterner und sachlicher Art. Ich hoffe, daß wir das dann im Ausschuß tun können.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN zum Ausstieg aus der Produktion und der Verwendung von PVC an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Sind Sie damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall, dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 5 auf:
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 26. März 1986 zur Änderung des Übereinkommens vom 4. Juni 1974 zur Verhütung der Meeresverschmutzung vom Lande aus
— Drucksache 11/2272 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 11/3612 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Carstensen Schütz
Frau Garbe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kiehm, Dr. Hauff, Schäfer , Bachmaier, Frau Blunck, Dr. Böhme (Unna), Frau Conrad, Conradi, Fischer (Homburg), Frau Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Heistermann, Jansen, Dr. Klejdzinski, Koltzsch, Kretkowski, Lennartz, Frau Dr. Martiny, Menzel, Müller (Düsseldorf), Reimann, Reuter, Dr. Schöfberger, Schütz, Stahl (Kempen), Waltemathe, Weiermann, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Notwendige Änderungen des Abwasserabgabengesetzes
— Drucksache 11/1771 —
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Wasserqualitätsziele für Chrom
— Drucksachen 11/883 Nr. 134, 11/1129 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dörflinger Frau Garbe
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Abgeordneten Schäfer , Blunck, Conrad, Hiller (Lübeck), Kiehm, Müller (Düsseldorf), Reimann, Reuter, Schütz, Terborg, Dr. Hauff, Dr. Hartenstein, Lennartz, Dr. Schöfberger, Stahl (Kempen), Weiermann, Bachmaier, Conradi, Fischer (Homburg), Koltzsch, Dr. Martiny, Menzel, Waltemathe, Ewen, Dr. Hauchler, Tietjen, Weyel, Fuchs (Verl), Steiner, Ibrügger, Dr. Klejdzinski, Jungmann, Kuhlwein, Gansel, Heyenn, Faße, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Maßnahmen zur Rettung der Nordsee und der Ostsee
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Laufs, Carstensen , Austermann und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Baum, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDP
Algenmassenentwicklung und Seehundsterben in Bereichen der Nord- und Ostsee
zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Garbe, Frau Wollny, Brauer, Dr. Daniels , Dr. Knabe und der Fraktion DIE GRÜNEN
8376 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Vizepräsident Westphal
Notprogramm gegen das Nordsee- und Ostseesterben
zu dem Antrag der Abgeordneten Schäfer , Blunck, Conrad, Hiller (Lübeck), Kiehm, Müller (Düsseldorf), Reimann, Reuter, Schütz, Terborg, Dr. Hauff, Dr. Hartenstein, Lennartz, Dr. Schöfberger, Stahl (Kempen), Weiermann, Bachmaier, Conradi, Fischer (Homburg), Koltzsch, Dr. Martiny, Menzel, Waltemathe, Ewen, Dr. Hauchler, Tietjen, Weyel, Fuchs (Verl), Steiner, Ibrügger, Dr. Klejdzinski, Faße, Kuhlwein, Heyenn, Gansel, Jungmann, Leidinger, Bernrath, Kretkowski, Duve, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Konzertierte Aktion zur Rettung der Nordsee und der Ostsee
— Drucksachen 11/2425, 11/2457, 11/2399, 11/2426, 11/3299 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Carstensen Frau Blunck
Frau Garbe
Zu Tagesordnungspunkt 5 d liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3666 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieses Tagesordnungspunktes zwei Stunden vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Carstensen .
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Algenmassenwachstum im Frühjahr und das andauernde und die Menschen tief bewegende Robbensterben in diesem Sommer haben drastisch und deutlich vor Augen geführt, daß die Belastungen unserer Gewässer noch dringender und nachhaltiger zurückgeführt werden müssen. Die See vor unserer Haustür, Ferien- und Erholungsgebiet, aber auch Erwerbsgebiet vieler unserer Bürger, steht an der Grenze ihrer Belastungen. Wenn der unheilvolle Tod von Robben und Fischen einen Sinn gehabt haben soll, dann nur diesen, daß wir geradezu physisch an das Ende dieser Belastbarkeit gestoßen worden sind. Der Schock, den wir alle erleben mußten, muß ein heilsamer Schock sein.
Die Bundesregierung und auch das Parlament haben konstruktiv und sachbezogen reagiert. Schon im Juni dieses Jahres hat Bundesminister Töpfer sein 10-
Punkte-Programm einer schnellen und nachhaltigen Begrenzung von Eintragen in die Nordsee vorgelegt. Die Bemühungen der CDU/CSU-Fraktion gingen in dieselbe Richtung und haben die Maßnahmen aus dem 10-Punkte-Programm noch ergänzt und erweitert. Die nationale Aufgabe Nord- und Ostsee — übrigens eine Formulierung der SPD — sollte nach unserer Auffassung auch mit nationalen Maßnahmen und nationalen Lösungen bewältigt werden.
Diese große und dringende Aufgabe war den Versuch wert, zu einer parteiübergreifenden Entschließung im Umweltausschuß zu kommen. Ein fraktionsübergreifender Beschluß hätte — das war einhellige Meinung aller im Juni im Ausschuß anwesenden Mitglieder der Koalition, der GRÜNEN und der SPD — dem Schutz der Nordsee erheblichen Rückenwind gegeben.
Es ist schon bedauerlich, daß die damals abgemachten gemeinsamen Beratungen der Berichterstatter schon bald vom Kollegen Schäfer durch unpassende Presseerklärungen gestört und torpediert worden sind.
Ich behaupte hier: Die SPD — zumindest für einige Mitglieder der Fraktion gilt das — hatte überhaupt kein Interesse an einer gemeinsamen Entschließung.
Dem Kollegen Schäfer ging es damals mehr um einen schnöden Presseerfolg als um unsere gemeinsame Arbeit für die Nordsee.
Es ist schon erstaunlich, lieber Herr Lennartz, daß Sie noch im August bei einer handverlesenen Pressekonferenz,
die Sie mit dem Kollegen Schäfer veranstaltet haben, den Katalog der Maßnahmen, den wir vorgelegt haben, vor den Journalisten — allerdings unter „C" — zusammen mit dem Kollegen Schäfer als ausgesprochen weitgehend und gut bezeichnet haben, dann aber aus dieser Gemeinsamkeit ausgestiegen sind.
Ich fordere Sie auf, lieber Herr Kollege Lennartz, Ihre damalige positive Bewertung hier und heute zu wiederholen
und nicht weiter mit zwei Zungen zu reden.
Um der Legendenbildung vorzubeugen, die SPD habe immer an der Gemeinsamkeit festhalten wollen, braucht man nur in das Protokoll der Ausschußsitzung vom 12. Oktober zu sehen. Dort wird gleich zu Beginn der Sitzung sowohl von Frau Blunck als auch von Herrn Lennartz der Wille zur Gemeinsamkeit noch ausdrücklich bestätigt.
Aber schon bei einem der folgenden Punkte gibt der Kollege Baum zu Protokoll, „daß der hier beratene Gegenstand auch Gegenstand einer Pressekonferenz der Abgeordneten Schäfer und Lennartz" ist. Dort verteilten Sie eine schon vorbereitete Mitteilung mit dem Satz: Der Versuch, zu einer gemeinsamen Kraft-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8377
Carstensen
anstrengung zur Reinhaltung unserer Gewässer zu kommen, ist gescheitert.
Sie haben der Öffentlichkeit nicht die Wahrheit gesagt.
Heute machen Sie sich lächerlich, lieber Herr Lennartz,
wenn Sie Ihren Änderungsantrag vorlegen, der von dem Antrag abgeschrieben ist, den wir vorgelegt haben.
Wie jede Kopie, lieber Herr Lennartz, ist auch diese hier wesentlich weniger wert als das Original.
Sie hätten das, lieber Herr Lennartz, wesentlich einfacher und ehrlicher haben können.
Sie haben pharisäerhaft und schäbig für das Linsengericht einer eigenen Pressemeldung die Gemeinsamkeit für den Schutz der Gewässer aufgekündigt. Sie haben der Nordsee einen Bärendienst erwiesen.
Die Beschlußempfehlung des Umweltausschusses ist eine weitgehende Ergänzung des 10-Punkte-Programms der Bundesregierung. Schwerpunkt des Beschlusses ist die Begrenzung des Nährstoffeintrags in die Gewässer und damit in die Nord- und Ostsee: des Eintrags von Phosphaten, Ammonium und Nitraten. Es scheint nötig zu sein, nochmals darauf hinzuweisen, daß der Vollzug des Abfallsrechts und insbesondere der Rahmenbedingungen des Bundes zum Gewässerschutz nach der Verfassungslage ausschließlich in der Verantwortung der Länder liegt.
Herr Abgeordneter, Sie gestatten eine Zwischenfrage?
Aber gerne, bei der Frau Kollegin Blunck immer.
Vielen Dank, Herr Carstensen. Herr Carstensen, wieviel Geld hat eigentlich die Regierung in die Hand genommen, um ihren hehren Zielen zur Reinhaltung von Nord- und Ostsee Genüge zu tun?
Liebe Frau Blunck, morgen werden wir über ein Strukturvorhaben debattieren und beschließen dann über ein Förderungsvorhaben,
ein Unterstützungsvorhaben, das in der Geschichte der Bundesrepublik bisher ohne Beispiel gewesen ist.
— Ich komme gleich noch auf das Geld zu sprechen. Dann werden Sie sich wundern, daß gerade wir in Schleswig-Holstein feststellen müssen, daß die Kassen dort, wenn es um das Strukturgeld geht, im Moment offensichtlich flüssiger und undichter sind als manches Kanalnetz.
Ich möchte an dieser Stelle die Länder nochmals auffordern, das Bundesrecht in diesen Bereichen zügiger durchzusetzen und die wohl immer noch vorhandenen Vollzugsdefizite abzubauen. Ich werde mir gestatten, demnächst danach zu fragen, wo noch Vollzugsdefizite bestehen.
Die Begrenzung der Einträge durch die Festlegung von Grenzwerten für die Kläranlagen wird bei Phosphaten zu einer Verringerung der Belastung der Gewässer von zusätzlich ca. 26 000 Tonnen führen. Das sind 75 % des gesamten Phosphats. Wir werden ähnliches bei den Anlagen machen, die zur Nitrifikation und zur Denitrifikation vorgeschrieben sind.
Weil Sie gerade mit dem Argument kamen — ich habe mich natürlich gewundert —, die Investitionen seien nicht zu bezahlen: Wenn Länder für die Investitionen, die getätigt werden müssen, für die Gemeinden, die in diesem Bereich zuständig sind, in den nächsten Jahren jährlich 2,5 Milliarden DM erhalten, dann können Sie mir bitte nicht erzählen, daß diese Investitionen nicht zu bezahlen sind.
Ich frage Sie, liebe Frau Blunck: Wo versickern eigentlich bei den Ländern, die diese Mittel nicht für Kläranlagen verwenden wollen, diese Millionen? Wo bleibt z. B. in Schleswig-Holstein das Geld?
— Aber entschuldigen Sie, während Ihrer 13 Jahre gab es kein Strukturhilfegesetz. Und da hatten wir ähnliche Probleme — zumindest in meiner Region —, wie wir sie jetzt haben.
Wie ist es eigentlich zu erklären, daß Sie, liebe Frau Blunck, am 31. Oktober in den „Uetersener Nachrichten" Mehrkosten für den Vier-Personen-Haushalt beklagen, allerdings in einer Höhe, bei der man diesen Wasserverschwendern in der Familie einmal auf die Finger klopfen müßte,
und am 28. Oktober von der SPD-Finanzministerin Heide Simonis in der „Bergedorfer Zeitung" berichtet wird:
„Simonis für höhere Wassergebühren", die in Investitionen fließen sollen? Der eine ist dafür, der andere ist dagegen.
8378 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Carstensen
Nicht nur bei Kläranlagen setzen wir an, auch Belastungen aus der Landwirtschaft werden angegangen.
Die Möglichkeiten, bei Schädigungen durch die Landwirtschaft einzugreifen, sind noch nie so weitgehend gewesen. Sie gehen weit über das Schutzprogramm Gewässerrandstreifen hinaus, über Änderungen des Düngemittelgesetzes und des Pflanzenschutzrechts bis hin zum Verbot des Umbruchs von Grünland und zur Gülle-Verordnung.
— Sie können z. B. einen lesen, Herr Lennartz, wenn Sie sich das einmal genau ansehen.
Ich erwarte allerdings, daß eventuell notwendige Maßnahmen im landwirtschaftlichen Bereich auch sachdienliche Maßnahmen sind. Aus den Diskussionen, die wir in letzter Zeit in diesem Bereich geführt haben, ergeben sich manchmal für mich erhebliche Zweifel.
Lassen Sie mich zum Schluß noch zwei Punkte ansprechen. Natürlich hätte ich an sich auch noch die Fische ansprechen müssen.
— Nein, sie können nicht reden.
Ich habe in diesem Zusammenhang einen guten Fürsprecher, der auch in der neuen Landesregierung in Schleswig-Holstein sitzt.
— Jan, laß mich mal zu Ende machen; ich bin gleich fertig.
Dort hält Hans Wiesen, unser neuer Landwirtschaftsminister, in einer Pressemitteilung denen, die vor dem Genuß der Fische aus beiden Meeren warnen, entgegen, sie spielten in unnötiger Weise mit dem Lebensgefühl der Menschen allgemein und mit der Existenz der Fischer sowie der fischverarbeitenden Industrie im besonderen.
Von der Existenz der Fischer weiß er nur Gutes zu sagen. „Es wird ihnen schwerfallen, ein gesünderes Lebensmittel zu finden als unseren Fisch. " Ich halte das für richtig. Lieber Hans Wiesen, ich werde Sie dabei auch unterstützen.
Lassen Sie mich aber bitte noch einen zweiten Punkt ansprechen. Ich möchte diesen als einen kritischen Punkt verstanden wissen. Herr Minister Töpfer, ich halte es für notwendig und für richtig, daß in Dreiergesprächen die Probleme des Wattenmeeres angesprochen werden. Ich war aber sehr verwundert
— und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das an dieser Stelle aufklärten — , daß das Ergebnis dieses Dreiergesprächs, der Wattenmeer-Konferenz, war, daß die Seehundjagd gestoppt werden solle. Dieses Stoppen soll seinerzeit offensichtlich am Widerstand der Jäger gescheitert sein. Lieber Herr Minister Töpfer, Sie wissen genauso wie ich, daß die Seehundjagd seit 1974 nicht mehr vollzogen wird, mit den Jägern zusammen
an der Seehundforschung gearbeitet worden ist, die Jäger in diesem Jahr die Dreckarbeit gemacht und in den letzten Jahren über ihre Jagdabgabe die Forschung finanziert haben. Ich wäre Ihnen also sehr dankbar, wenn sie hierzu ein klärendes Wort sagten.
Ich darf Sie ganz herzlich auffordern, unserer Beschlußempfehlung zuzustimmen. Es hat bei uns in der Bundesrepublik und in keinem anderen Land je ein Gesetz gegeben, das im Gewässerschutz so weitgehend ist wie dieses.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Lennartz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Schluß paßt ganz gut, Herr Carstensen. „Es gibt noch tausend Robben in Nordsee und Ostsee" — so stand es am Samstag in einer angesehenen deutschen Tageszeitung, hinter der ausschließlich kluge Köpfe stecken. Es war aber nicht genau auszumachen, wohin die Reise des Verfassers mit dem Leser gehen sollte. Gibt es noch genug Robben, oder gibt es bald keine mehr? Die kleine Notiz in dieser großen Zeitung war jedoch beispielhaft für den Stand der Nordsee-Diskussion in der Bundesrepublik. Wir scheinen uns tatsächlich daran gewöhnt zu haben, daß der schleichende Tod der Nord- und Ostsee irgendwann in nächster Zeit in einer ökologischen Katastrophe enden kann, wenn wir nichts tun, auch enden wird.
Wir verhalten uns in etwa so, wie wir es bei einem todkranken entfernten Bekannten tun würden: Nachrichten von der Verschlechterung seines Zustandes schockieren uns nicht, wir haben sie erwartet.
Wie aber werden wir reagieren, wenn uns unsere Kinder und Enkel in zehn oder fünfzehn Jahren fassungslos fragen werden, wie wir das Krepieren unserer Meere sehenden Auges zulassen konnten, Herr Minister Töpfer, ohne wirklich etwas Hilfreiches, etwas Praktisches und Sinnvolles dagegen getan zu haben? Wird meine siebenjährige Tochter, werden unsere Kinder und Enkel uns in zehn oder fünfzehn Jahren anklagen oder gar beschimpfen, weil wir ihnen unwiederbringlich eine der reichsten Biosphären der Erde vernichtet haben?
Wir Sozialdemokraten, meine Damen und Herren, haben keine Lust, uns mit solchen in einen Topf werfen zu lassen, denen es mehr bedeutet, ungeschoren den Abend des politischen Alltags zu erreichen, statt vorausschauend und verantwortungsbewußt unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten.
Wir haben nichts gemeinsam mit Herrn Töpfer, der im Überlebensanzug den Rhein durchquert und damit nichts weiter bewiesen hat, als daß er sich einige Minuten lang in einer 7,5%igen Abwasserlösung aufhalten kann. Wir haben nichts gemeinsam mit Herrn
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8379
Lennartz
Stoltenberg, der an einer Strandpromenade lächend ein Glas Nordseewasser schlürft und damit nichts weiter bewiesen hat, als daß ihm der PR-Effekt wichtiger ist als seine Gesundheit.
Was diese Bundesregierung in Sachen Nordseeschutz leistet, gleicht einem ständigen Festival der Gaukler und Fallensteller, einem Wettkampf der Nebelwerfer und Tarnkappenträger.
Die Tatsachen, meine Damen und Herren, sehen anders aus, als die Effekthascher und Handlungsabstinenzler aus der Bundesregierung uns weismachen wollen.
Die Nordsee ist Müllkippe und Kloake zugleich. Sie ist, politisch hochrangig abgesichert, ein Niemandsland des Umweltschutzes, rechtsfreier Raum, in dem Grenzwerte oder Höchstmengen nichts zu suchen haben. Die Nordsee ist deklariert, Herr Minister, als Abwasserbecken der angrenzenden Industrienationen. In sie münden die zum Abwassertransport mißbrauchten Flüsse, in sie entleert sich die sogenannte Zivilisation.
Niemand verkennt, meine Damen und Herren, daß unsere Flüsse sauberer geworden sind, weil wir Kläranlagen gebaut haben. Doch zum Leben reicht das, Herr Minister, was wir heute tun, der Nordsee nicht.
Es ist für das Ergebnis unwesentlich, ob jemand die zehnfache oder nur die fünffache Dosis tödlichen Giftes verabreicht bekommt. 100 000 verschiedene Substanzen aus Chemie und Abfällen kann man im Rhein finden. Millionen Tonnen Phosphate und Nitrate aus Haushalten und landwirtschaftlicher Intensivproduktion verschleimen unsere Flüsse und Meere. Hunderttausende Tonnen Stickstoff regnen aus der Luft in die Nordsee, die Hälfte davon stammt aus den Auspuffrohren unserer Kfz.
Immer mehr Menschen begreifen, daß mit unserem Wasser, auch mit unserem Abwasser etwas geschehen muß. Immer mehr begreifen, daß unser Lebenselixier Wasser so wichtig ist wie die Luft zum Atmen und daß ohne genießbares Wasser keine menschliche Existenz möglich ist.
Meine Damen und Herren, wer kommunalpolitisch tätig ist, spürt immer weniger den Widerstand der Bürger gegen zum Teil drastische Erhöhungen der Abwasserbeseitigungsgebühren.
Das ist eine Folge erhöhten Umweltbewußtseins, ein Trend, den Politiker aufnehmen, verstärken und als bestimmende Grundlage für das Tempo der Umweltpolitik bewerten sollten.
Was soll da das Rheinschwimmen und das Meerwasserschlürfen von Ihnen, Herr Töpfer, und von Ihrem Kollegen Stoltenberg? Sie sind nicht dazu gewählt, die Leute für dumm zu verkaufen.
Nordseewasser unterschreitet — das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen — die Grenzwerte nach der Trinkwasserverordnung. Das hat der Umweltminister uns auf dem Höhepunkt der ökologischen Krise der Nordsee in diesem Jahr mitgeteilt. Das spricht nicht für das Nordseewasser, Herr Kollege
— soll ich Ihnen die Kopie Ihres Schreibens geben? —, sondern eher gegen die Trinkwasserverordnung. Nordseewasser hat Trinkwasserqualität, so der Umweltminister. Und wer möchte nicht im Trinkwasser baden? Die Wahrheit, meine Damen und Herren, liegt anders. Der Kieler Toxikologe Professor Dr. Wassermann hat uns bestätigt, was die Grenzwerte der Trinkwasserverordnung über die ökologische Qualität des Nordseewassers aussagen. Ich darf mit Genehmigung des Präsidenten zitieren:
— Schönen Dank für die Belehrung; ich nehme das gern zur Kenntnis.
Die in der Trinkwasserverordnung vorgegebenen wenigen Schadstoffgrenzwerte sind schon für den Menschen wissenschaftlich nicht begründet, geschweige denn als ökologische Kriterien für eine ausreichende Wasserqualität geeignet.
Eine für den Menschen mit Trinkwasser zugeführte verträgliche Schadstoffmenge, zulässig nach der Trinkwasserverordnung, kann für die Meeresorganismen akut toxisch, sogar tödlich sein.
An einem praktischen Beispiel verdeutlicht Professor Wassermann, wie hanebüchen das Heranziehen der Trinkwasserverordnung als Maßstab für gutes Nordseewasser ist. Ich zitiere noch einmal:
Wenn sogar die von der Trinkwasserverordnung erlaubte, noch einmal um das Hundertfache höhere PCB-Konzentration im Meerwasser erreicht würde, wäre das Leben in der Nordsee weitgehend ausgelöscht.
Dieses PCB-Beispiel stammt aus dem Nordsee-Gutachten 1980 des Sachverständigenrates für Umweltfragen, an dem ein Herr Töpfer dem Vernehmen nach hochaktiv mitgearbeitet hat. Herr Töpfer, ist das nun volksverdummende Dreistigkeit oder Unfähigkeit oder auch beides,
wenn Sie die Ungefährlichkeit des Nordseewassers für die Gesundheit hochleben lassen?
— Ich kann das gerne wiederholen.
Aber ich wäre dankbar, wenn Sie sich dabei an parlamentarische Regeln halten, Herr Abgeordneter.
8380 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Meine Damen und Herren, Dünnsäureverklappung und Giftmüllverbrennung auf hoher See sind nur besonders augenfällige Beispiele maßloser und ungehemmter Umweltverschmutzung.
Der Löwenanteil der Meeresverschmutzung fällt weitab von Nordsee- und Ostseestränden an. 90 % aller Schadstoffe gelangen gesetzlich geregelt, legal, behördlich genehmigt und gesellschaftlich geduldet mit der Luft, in den Flüssen in die Nordsee. Wer also wirksamen Umweltschutz betreiben will, muß an Land anfangen, bei den Verbrauchern, nach dem Verursacherprinzip.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen sind nicht bereit, konkrete, bei allen Verursachern ansetzende Maßnahmen zu ergreifen. Das 10-PunkteProgramm, Herr Kollege Baum, der Koalition ist doch völlig unzureichend. Das wissen Sie doch.
— Wir sehen uns nachher einmal gemeinsam an, was Spitze ist. — Das Programm beschränkt sich doch
— Herr Kollege, Sie haben das eben formuliert — -auf Appellieren, auf Kompetenzabwälzungen auf die Gemeinden
und auf die Regelung, wann auf welcher Konferenz welche Erfolge berichtet werden sollen. Das ist der Punkt.
Es läßt die wichtigste Frage völlig offen, nämlich die der Finanzierung der zusätzlich erforderlichen Abwasserreinigungsinvestitionen.
Das heißt, Länder und Kommunen, die derzeit durch die Sanierung ihrer Nachkriegskanalisation investiv hoch belastet sind, werden zwar zu zusätzlichen Anstrengungen aufgefordert, finanziell haben Sie sie jedoch im Regen stehengelassen. Der Verweis, Herr Kollege Carstensen, auf die 240 Millionen DM des Strukturhilfefonds bringt die Gemeinden keinen Schritt weiter.
Wenn der Fonds überhaupt das Bundesverfassungsgericht überstehen sollte
und selbst wenn er nicht, wie ursprünglich vorgesehen, für Gebiete mit hoher Arbeitslosigkeit
— fragen Sie nicht uns, fragen Sie bitte Herrn Späth! — , sondern ausschließlich für Gewässerschutz eingesetzt würde, wäre er schon von der Größenordnung her völlig unzureichend.
Wir wären diesen Weg gern mit Ihnen gemeinsam gegangen.
Sie gestatten eine Zwischenfrage?
Ja, selbstverständlich, Herr Kollege Bohl.
Herr Kollege Lennartz, darf ich Sie so verstehen, daß Sie es begrüßen würden, wenn das Gesetz in Karlsruhe scheitern würde?
Nein, Herr Kollege. Manchmal ist der Spatz in der Hand ja wichtiger als die Taube auf dem Dache. Allerdings: Die 240 Millionen DM reichen doch nicht annähernd aus; das wissen Sie doch.
Herr Kollege Bohl, Sie haben doch die Öffentlichkeit getäuscht. Meine Kollegin fragte danach, wo denn Geld in die Hand genommen worden sei. Sie bringen doch nichts herüber. Mit den 240 Millionen DM wird man gerade dem gerecht, was dieser Herr Minister bei der 2. Nordseeschutz-Konferenz im November 1987 den Anrainerländern vertraglich zugestanden hat, nichts anderes. Das ist das Versprechen, was Sie hier heute einlösen, sonst nichts. Keine einzige müde Mark hat dieser Minister bei Herrn Stoltenberg für ein Nordseeprogramm des Jahres 1989 losschlagen können — nichts! Wir warten ab, was der Kollege Späth dazu sagen wird.
Meine Damen und Herren, wir wären gerne mit Ihnen einen gemeinsamen Weg gegangen. Wochenlang haben wir Ihnen im Sommer angeboten, mit Ihnen eine gemeinsame überparteiliche konzertierte Aktion zur Rettung von Nord- und Ostsee aufzulegen,
um die Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit des Parlaments zu dokumentieren, um die gesetzlichen Rahmenbedingungen für technisch mögliche Gewässerschutzmaßnahmen zu schaffen, um ein Bund-Länder-Programm zur Beteiligung an der Finanzierung der dritten Reinigungsstufe in kommunalen Kläranlagen aufzunehmen, um das Abwasserabgabengesetz zu verschärfen, um das Chemikaliengesetz, das Wasch- und Reinigungsmittelgesetz, das Pflanzenschutzgesetz, das Düngemittelgesetz, das Bundesnaturschutzgesetz und das Abfallgesetz so zu gestalten, daß sie auch den Schutz unserer Meere regeln,
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8381
Lennartz
um mit Ihnen gemeinsam Dünnsäureverklappung und Sondermüllverbrennung auf hoher See zu unterbinden,
um mit Ihnen gemeinsam den Stickoxideintrag aus der Luft in die Meere zu verringern, dies z. B. mit dem Einführen des geregelten Katalysators für Kraftfahrzeuge. Nord- und Ostseeschutz ist nun einmal eine komplexe Sache, Herr Kollege Carstensen, weil viele Faktoren die Meeresverschmutzung ausmachen.
Nord- und Ostseeschutz kann man nicht mit Appellen, Meerwasserschlürfen und Robbenkonferenzen betreiben.
Nein, man muß nur ganz schlicht handeln, weniger Dreck und Gift einleiten und das politische Regelwerk auf dieses Ziel hin abstellen.
Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung und von den Koalitionsfraktionen, waren dazu nicht in der Lage; Sie wollen auch nicht.
Sie haben den von uns angeregten Versuch einer parteiübergreifenden nationalen Kraftanstrengung zur Rettung unserer Gewässer scheitern lassen. Sie haben eine große Chance vertan, gemeinsam mit allen politischen Kräften in diesem Land und auch mit allen Bürgerinnen und Bürgern an einem Strang zu ziehen.
Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, und auch Sie, Herr Minister,
werden dafür von Ihren Kindern und Enkeln, von unseren Nachkommen zur Verantwortung gezogen werden.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgramm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir legen hier ein sehr umfassendes Nordseekonzept vor, das übrigens — wenn ich das anmerken darf — zu einem sehr entscheidenden Teil aus dem Nordseesanierungskatalog der Kollegen Baum und Wolfgramm stammt, den wir vor einiger Zeit verfaßt und der Öffentlichkeit vorgetragen haben. Ich freue mich darüber, weil er sehr wichtige Elemente zum Nordseeschutz enthält. Ich hatte gehofft, daß die SPD an der gemeinsamen Grundlinie festhalten würde, da wir ja
— wenn ich das recht sehe — einmal einen gemeinsamen Beschluß im April 1988 gefaßt haben. Dieser unterscheidet sich ja gar nicht so sehr von dem, was wir weiter und immer weiter vortragen werden,
wobei wir dann in der Zukunft auch erwarten, daß viele Teile davon verwirklicht werden. Ich frage mich dann natürlich: Wie kommen sie eigentlich dazu, dieses gemeinsame Boot, in dem wir ja doch wohl — wenn ich recht sehe — alle sitzen, zum Schaden der Nordsee zu verlassen?
— Lieber Herr Kollege Lennartz, Sie haben hier eine Fülle von Schuldzuweisungen vorgetragen. Darf ich Sie einmal fragen, wie denn eigentlich der Sachstand bei den Kläranlagen in SPD-regierten Städten und Gemeinden ist? Darf ich Sie einmal fragen: Wie steht es denn mit den Kläranlagen einiger Nordseebadeorte? Hat die SPD da keine Bürgermeister, Gemeindedirektoren, Ratsherren? Wie sieht denn das aus?
Mir scheint das wirklich eine sehr merkwürdige Art zu sein, zu diskutieren, abgesehen davon, daß Sie hier in einer maßlosen persönlichen Kritik den Bundesumweltminister einbeziehen. Ich finde es sehr mätzchenhaft, wie Sie das behandeln, wenn Sie mir diesen Ausdruck einmal erlauben.
Wie sieht es denn mit Ihrem Antrag aus? Wie sieht es denn mit diesem Änderungsantrag aus? Was steht denn da alles nicht drin, was in unserem Antrag steht? Da steht z. B. nicht drin, daß Sie den Appell an die Bundesländer aufnehmen, einen hohen Prozentsatz der Mittel nach dem Bundesstrukturhilfegesetz, das wir ja hier im Bundestag in Kürze verabschieden werden, für Gewässerschutzmaßnahmen einzusetzen.
Warum wohl nicht? Weil ein Teil der Länder von der SPD regiert wird, und Sie möchten Kosten Ihren Kollegen dort nicht zumuten, weil Sie wissen, daß die Finanzen dort nicht stimmen.
— Bitte eine Augenblick! Das möchte ich im Zusammenhang vortragen. Sie kommen gleich dazu. Einen Moment, bleiben Sie bitte stehen; Sie werden gleich Gelegenheit haben, die Frage zu stellen.
Wie sieht es denn mit dem Vollzugsdefizit der Länder in Ihren Bereichen, bei den SPD-Ländern aus? Wie sieht es dabei mit der Umsetzung des Bundesrechtes aus?
Das würde ich gerne einmal von Ihnen, Herr Lennartz, wissen. Sie versuchen hier zu sehr, Ihre wahre Natur zu verbergen.
Übrigens, Herr Kollege Lennartz, bei diesem Verbergen Ihrer wahren Natur fällt mit eine kleine An-
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Wolfgramm
merkung aus dem Büchlein von Gerhard Branstner „Das Tier ist auch nur ein Mensch" ein. Vielleicht beziehen Sie es in Ihre Frage mit ein.
Der Wolf und der Igel besuchten eine Gemäldeausstellung. Dort hing auch ein Portrait des Wolfes, das der Affe verfertigt hat.
— Es tut mir leid, Affe steht hier so im Text.
Der Wolf lobte das Bild über alle Maßen. „Wie kannst du so etwas loben", wunderte sich der Igel, „selbst die Hasen werden lachen, wenn sie dich so sehen. Deine wahre Natur ist überhaupt nicht zu erkennen. " — „Eben deshalb gefällt mir das Bild", erklärte der Wolf.
Ihre Frage, Herr Kollege!
Sie wollen eine Zwischenfrage stellen, Herr Lennartz.
Das ist jetzt möglich. Bitte schön.
Herr Kollege, ich gehe davon aus, daß Sie mit mir der Auffassung sind, daß wir zu Nord- und Ostsee reden und nicht von dem Bild von dem Fuchs und von dem Igel. — Gestatten Sie die Frage: Ist Ihnen bei unserem Programm vielleicht entgangen, Herr Kollege, daß wir ein Bund-Länder-Programm fordern, nach dem die Länder mit einem Betrag von 500 Millionen DM investiv pro Jahr beteiligt sind? Ist Ihnen das entgangen?
Herr Kollege, das ist eine sehr interessante Rechnung. Ich darf sie Ihnen vortragen. Die Koalition hat dieses Strukturhilfeprogramm beschlossen, bei dem wir ja sehen werden, ob die Opposition dem zustimmt oder nicht. Und wenn wir, wie in Niedersachsen vorgesehen, 20 % der vorgesehenen Mittel dafür einsetzen, d. h. wenn die Länder 20 % von diesen 2,4 Milliarden DM für Umweltschutzmaßnahmen zur Sicherung der Nordsee festlegen, dann haben Sie genau 480 Millionen DM aus dem Bundestopf speziell über die Länder für diesen Bereich.
Dann brauchen Sie nur noch ländereigene 500 Millionen DM dazuzutun, und schon ergibt das die in Rede stehende eine Milliarde.
Aber Sie wollen sich ja noch nicht einmal mit einem Appell an Ihre eigenen Länder beteiligen. Sie wollen ja noch nicht einmal den Appell in Ihrem Antrag vornehmen, weil Sie fürchten, daß Sie dann andere Haushaltslöcher nicht mehr stopfen können. So sieht das doch aus.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, Herr Wolfgramm?
Nein, jetzt möchte ich gerne in der Sache fortfahren, weil der Zusammenhang sonst zu sehr gestört wird.
Wissen Sie, Ihr Antrag ist auch in bezug auf eine Reihe von Forderungen etwas überholt, zumindest was den Zeitpunkt betrifft. Sie sollten darauf achten, wenn Sie ganze Passagen übernehmen. Ich will die Formulierung „abschreiben" vermeiden. Wir sollten vielleicht auch hier in den Debatten ein wenig höflicher zueinander sein. — Also wenn Sie Formulierungen übernehmen, dann können Sie nicht einfach so kurze Fristen vorsehen. Sie schreiben nämlich: Einbeziehung von Phosphor und Stickstoff in die Abgabenpflichtenparameter ab 1. Januar 1989. Das wird wohl nicht ganz gehen,
selbst wenn wir das machen würden. Dann müssen wir ja wohl erst einmal das Abwasserabgabengesetz novellieren. Das wollen wir ja auch. Aber so schnell geht es nun leider nicht.
— Das steht in Ihrem Antrag. Sehen Sie doch nach!
Das gilt auch für die Frage der Gülleverordnung. Auch das läßt sich zum 1. Januar 1989 leider nicht machen. Dazu könnten wir noch eine ganze Anzahl von Anmerkungen machen. Das scheint mir hier jetzt nicht weiter notwendig zu sein.
Aber auf einen Punkt Ihres Änderungsantrags möchte ich noch eingehen. Sie haben ja die Grenze für städtische Kläranlagen von 100 000 auf 50 000 abgesenkt. Da habe ich eine kleine Rechnung aufgemacht. Wir erreichen mit unserem Vorschlag 80,4 % aller angeschlossenen Einwohner. Ihr Vorschlag erreicht etwa rund 92 %. Unser Vorschlag kostet 2 Milliarden DM, Ihr Vorschlag kostet 4 Milliarden DM. Wir hätten danach also für eine relativ geringere Prozentzahl immerhin den gleichen Betrag zu zahlen wie für 80 %.
— Ja, Moment. Wenn wir jetzt die Phosphorreduzierung in Tonnen berechnen, dann haben wir bei uns 19 260 Tonnen, und für 3 800 Tonnen müßten wir nach Ihrem Antrag noch einmal denselben Betrag, nämlich 2 Milliarden DM, ausgeben.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8383
Wolfgramm
Das scheint mir nun wirklich eine Rechnung zu sein, bei der wir diese Dinge doch etwas anders sehen müssen.
Das andere spielt ebenfalls eine Rolle, aber das ist der Hauptpunkt, den wir dabei sehen wollen.
Noch eine Anmerkung: Den rechtsfreien Raum, von dem Sie hier gesprochen haben, gibt es nicht.
Wir haben eine Fülle von Gesetzen, wir haben eine Fülle von Verordnungen, von Novellierungen, wir haben eine Fülle von Beschlüssen durch die NordseeKonferenzen. Auch das ist keine Position, mit der Sie hier Ihre Kritik untermauern können.
Ich wiederhole: Niedersachsen hat gesagt, daß es etwa 20 % der Strukturhilfe einsetzen wird. Es hat übrigens zwei Aktionen geplant, einmal „sauberes Wasser" und einmal ein Sonderprogramm „Küste". — Ich begrüße übrigens, daß Schleswig-Holstein und auch Hamburg hier vertreten sind.
Ich bedauere, daß Niedersachsen nicht vertreten ist, daß Bremen nicht vertreten ist und daß NordrheinWestfalen, das — wenn ich recht sehe, auch mit Recht — zu diesem Bereich reden darf, nicht vertreten ist. Ich habe das von diesem Platz schon mehrfach moniert. Ich bitte den amtierenden Präsidenten des Hauses, Herrn Westphal, sehr herzlich, meine Bitte an die Bundestagspräsidentin weiterzugeben, einen Brief zu schreiben, daß wir erwarten dürfen, daß wenigstens die Mitarbeiter der betroffenen Nordseeländer an solchen Debatten teilnehmen, damit sie wissen, wie kontrovers oder wie gemeinsam hier gestritten wird und damit unser aller Bemühen um die Nordsee deutlich wird.
Sind Sie bereit, noch eine Zwischenfrage zu beantworten?
Bei einer Dame kann ich nicht widerstehen.
Sie wissen aber — das gilt für alle Kollegen — , daß ich aus Gründen dessen, was wir heute abend noch vorhaben, jetzt keine Abstoppung der Zeit mehr vorgenommen habe, bei keinem der Kollegen. Ich habe sie alle gleichbehandelt. Ich bitte um Verständnis, da wir irgendwann am Abend fertigwerden wollen.
Die Frage wird mir also auf meine Redezeit angerechnet?
Ja.
Ich lasse sie trotzdem zu, wenn Sie sie kurz stellen.
Jetzt werde ich trotzdem ein bißchen Zeit abziehen, weil ich geredet habe.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie mit mir der Meinung sind, daß auch die Länder, die die Erlaubnisse für Einleitungen ausstellen, die dann über die Flüsse in die Nordsee kommen, dringend auf dieser Bank sitzen und zuhören müßten.
Liebe Kollegin, ich stimme Ihnen da gern zu. Ich sage nur: Mindestens müßten die Länder vertreten sein, die unmittelbar mit der Nordsee zu tun haben, wobei ich auch der Meinung bin — wir haben das dabei auch diskutiert —, daß wir im Zusammenhang mit einer möglichen Nordsee-Abgabe, die wir, in welcher Form auch immer, ernsthaft prüfen und erwägen wollen, auch die Länder heranziehen, deren Flüsse in die Nordsee entwässern.
Ich möchte ein Wort zu der Frage der Zuständigkeitsverteilung im Wasserbereich sagen. Sie haben auch das kritisiert, Herr Lennartz, und gesagt, da tue der Bund nichts. Wir haben leider nicht den Zuständigkeitsbereich im Wasser; Sie wissen das. Wir haben mehrfach versucht — das ist übrigens auch in der Koalition mit Ihnen damals nicht gelungen; vielleicht können Sie das einmal nacharbeiten — , Sie davon zu überzeugen, hier eine Grundgesetzänderung vorzunehmen und dem Bund mehr Befugnisse auf dem Gebiet des Wasserrechts zu geben. Die Zersplitterung im Wasserrecht führt leider dazu, daß die Länder in der Lage sind, die Rahmengesetzgebung des Bundes in ihren Einzelverordnungen und Einzelgesetzen nicht so wirksam werden zu lassen, wie wir das mit einem Gesetz, fußend auf der Vollkompetenz, tun könnten.
Ich mahne noch einmal den Vollzug des Gewässerschutzes in der Verantwortung der Länder an, und ich mahne auch noch einmal an, daß das Bundesrecht zügig und vollständig umgesetzt werden muß und daß die Vollzugsdefizite abgebaut werden müssen. Ich frage mich z. B., warum die Bundesländer Instrumentarien, die wir ihnen an die Hand gegeben haben, wie Wasserbewirtschaftungspläne, nicht entsprechend gebrauchen oder sie in ihre Planungen einbauen. Wenn der Herr Minister Heydemann ein Wort von Schleswig-Holstein dazu sagen würde, würde mich das freuen. Mich würde auch sehr freuen, wenn er ein Wort dazu sagen würde, wie er es denn mit den Strukturmitteln zu halten gedenkt, und wenn wir hier auch die freudige Nachricht vernehmen könnten, daß Schleswig-Holstein 20 % davon für ein Programm für die Nordsee ausgeben will.
Die jüngste Umweltministerkonferenz hat mich nicht sehr fröhlich gestimmt; denn auch da stellen wir fest, daß Uneinigkeit herrscht, die auf Finanzfragen zurückzuführen ist. Aber wir müssen von der Länderseite schon erwarten, daß man bei Beschlüssen zum Nord- und Ostseeschutz versucht, gemeinsame Wege zu finden. Es ist nicht egal, ob der Bundestag oder eine Umweltministerkonferenz unterschiedlich mit Mehr-
8384 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Wolfgramm
heits- und Minderheitsvoten operiert oder ob man zu einem gemeinsamen Beschluß kommt.
Herr Kollege Lennartz, die Dinge sind ja nun so, wie sie sind, d. h. Sie werden dieser Sache heute ganz augenscheinlich nicht zustimmen. Aber Sie sollten die Anstrengungen doch in die Zukunft verlagern und sich überlegen:
Wenn wir im April 1988 einen gemeinsamen Beschluß erzielen, scheint es mir nicht logisch zu sein, daß wir so etwas im Dezember nicht hinkriegen. Das ist nicht schlüssig.
Ich möchte noch erwähnen, daß wir auf der letzten NordseeschutzKonferenz — ich begrüße es, daß Minister Töpfer und das Ministerium da hart gekämpft haben — zu ernsthaften Erträgen gekommen sind: Halbierung des Eintrags gefährlicher Stoffe bis 1995, Halbierung des Nährstoffeintrags bis 1995. Das ist übrigens ein wichtiger Punkt im Nordseeschutzgutachten, und ich bitte an dieser Stelle Herrn Töpfer, es doch fortschreiben zu lassen. Wir brauchen neue Daten, wir brauchen auch die Bewertung der Parameter im Gutachten, um festzustellen: Was hat sich verbessert? Was hat sich verschlechtert? Wo müssen wir stärker ansetzen? Das Hearing hat uns schon diesen Weg gewiesen, aber eine sorgfältige und umfassende Untersuchung ist für uns alle wichtig.
Als Ergebnis der Nordseeschutz-Konferenz sind auch noch die Einschränkung der Abfallverbrennung in der Nordsee, die Verringerung und schließlich Beendigung der Abfallverbrennung zu erwähnen. Was ich nicht sehr erfreulich finde, ist, daß wir bei der Dünnsäureverklappung Ausnahmeregelungen für Großbritannien und Frankreich beschließen müßten. Das ließ sich aber leider nicht vermeiden.
Die Novellierung des Abwasserabgabengesetzes ist für uns ein ganz wichtiges politisches Vorhaben. Wir müssen wieder die Kosten-Nutzen-Relation erreichen, damit die Betriebe und auch die Kommunen nicht auf die seit 1986 festgeschriebene Schadstoffabgabe ausweichen können.
Das Schutzprogramm Gewässerrandstreifen, das mein Kollege Dr. Weng mit initiiert hat, halte ich für einen sehr positiven Beitrag. Das betrifft besonders die Überdüngungen und Schadstoffeinträge der Landwirtschaft.
Ich will die weiteren Maßnahmen der EG nicht im einzelnen aufführen. Das Sondergebiet Nordsee im Sinne des MARPOL-Abkommens brauchen wir dringend. Wir brauchen eine Elbschutzkonvention.
Ich begrüße es, daß die DDR endlich das Junktim zwischen Grenzänderung und Umweltschutz aufgelöst hat. Wir brauchen ein bilaterales Abkommen mit der DDR über die Elbe. Wir brauchen eine Elbeschutzkonvention, der auch die CSSR beitritt, und damit auch eine gemeinsame Elbschutzkommission. Wir brauchen auch mit Polen ein Umweltabkommen, für das ich mich sehr einsetzen werde, damit einer der größten Verschmutzer der Ostsee, nämlich die Volksrepublik Polen, wenistens unser Know-how nutzen kann.
Ich appelliere an uns alle, gemeinsam dafür zu sorgen, daß wir den Weg, den wir erfolgreich begonnen haben, auch fortführen können.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Garbe.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Heute nachmittag hat die „Aktionskonferenz Nordsee" den Obleuten des Petitionsausschusses 85 000 Unterschriften mit der dringenden Bitte übergeben, sich auch weiterhin intensiv mit den Problemen der Nordseeverschmutzung zu befassen;
denn wir werden heute über die verschiedenen Anträge zur Nordseeverschmutzung abstimmen, und dann wird die Diskussion hier in Bonn erst einmal zum Stocken kommen. Aber das darf nicht sein.
Wir sind hier in der Pflicht, meine Herren und Damen, unbedingt am Problem weiterzuarbeiten.
Meine sehr verehrten Herren und Damen, bei den verschiedenen Anträgen, die wir heute im Rahmen dieser großen Wasserdebatte zu beraten haben, erscheint es mir doch notwendig, noch ein paar grundsätzliche Bemerkungen vorauszuschicken: Wasser als das lebensspendende Element schlechthin hat in den vergangenen Jahrzehnten mitmachen müssen, was in früheren Jahren als Brunnenvergiftung strengstens geahndet wurde. Flüsse wurden zu Vorflutern umfunktioniert und Meere zu Giftmülleimern.
Wenn es nun nach den Sonntagsreden der verantwortlichen Politiker ginge und wenn die „Leitlinien Umweltvorsorge" der Bundesregierung ihr Papier Wert wären, dann wäre der umweltkriminelle Umgang mit dem Lebenselixier Nummer eins längst mental überwunden. Es wäre nur noch eine Frage von Jahren, bis die eingeleiteten Maßnahmen so greifen, daß wir dem Umweltminister beim erfrischenden Bade im Rhein Gesellschaft leisten könnten.
Jedoch: Die Ereignisse dieses Sommers mit Algenblüte und Robbensterben haben viele Menschen eines anderen belehrt. Umweltpolitik wird zusehends als Schwätzerei durchschaut; denn die notwendigen Maßnahmen sind bis jetzt ausgeblieben. Der Patient Wasser siecht weiter dahin, den Tod vor Augen.
Vorgestern mußten die Niederländer wieder einmal die Trinkwasserentnahme aus dem Rhein stoppen. Die BASF bestätigte inzwischen den Betriebsunfall, 200 kg Mecoprop seien tatsächlich vor zehn Tagen in den Rhein geflossen. „Wegen seiner Geringfügigkeit" sei der Unfall nicht publik gemacht worden — das habe ich heute schon einmal gehört.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8385
Frau Garbe
Es sollte uns aber doch wohl zu denken geben, daß die Wasserwerke diesseits der Grenze nicht Alarm schlugen. Warum nicht? — Weil es ihnen an den notwendigen Meßvorrichtungen mangelt, um die schleichende, die durchgängige, aber auch akute Vergiftung des Wassers zu ermitteln.
280 Pestizide sind in der Bundesrepublik zugelassen. Heute können davon 147 im Meßbereich der Trinkwasserrichtlinie analytisch erfaßt werden. Die Hälfte der Chemikalien flutscht also durch die Kontrollen. Aber selbst von den 147 theoretisch meßbaren sind zur Zeit nur 63 Wirkstoffe mit Multimethoden erfaßbar, demnach also einigermaßen kontrollierbar.
Von seiten der Bundesregierung ist uns kürzlich zu verstehen gegeben worden, daß weder eine Trendaussage noch eine Prognose über die Belastung des Grundwassers mit Pestiziden abgegeben werden könne. Gleiches gilt für die Oberflächengewässer mit Ausnahme einer verschwindend kleinen Anzahl von Parametern, die aber in keinster Weise geeignet sind, die tatsächliche Umweltbelastung und damit auch die Gesundheitsgefährdung zu charakterisieren.
Das Allerschlimmste dabei ist, daß die Bundesregierung noch nicht einmal weiß, was die Brunnenvergifter tun.
Angesichts dieser legalisierten Wasservergiftung nimmt es nicht wunder, daß — wie jetzt im Sommer in der Nordsee — ab und zu das Netz reißt und das Sterben sichtbar wird. Alle Maßnahmen, über die wir heute diskutieren, müssen sich daran messen lassen, ob sie geeignet sind, die Brunnenvergiftung tatsächlich abzustellen, oder ob sie nur Beruhigungsbonbons für aufgeschreckte Bürger sein sollen.
Meine Herren und Damen, die Hauptgiftfracht der industriellen Einleiter erreicht die Umwelt fein verteilt via Verbraucher. Die Klärschlämme sind höchstbelastet mit Dioxinen; denn die 15 000 t Polycarboxylat von BASF landen schließlich zu mehr als 95 % im Klärschlamm. Mit Sanitätsreinigern und harten Geschirrspülmitteln produzieren die Verbraucherinnen eine unendliche Zahl unspezifischer chlorierter Kohlenwasserstoffe, die dann unsere Gewässer und letztlich alles Leben verseuchen. Die Nordsee, meine sehr verehrten Herren und Damen, wird zu 90 % vom Land her verseucht; daran sollten wir öfters denken.
Wir begrüßen deshalb die Initiative der SPD, der Regierung ein paar notwendige Änderungen des Abwasserabgabengesetzes mitzuteilen; denn die am 19. Dezember 1986 verabschiedete Änderung des Abwasserabgabengesetzes tritt erst am 1. Januar 1989 in Kraft. Jeder hier im Hause weiß, daß längst eine Änderung der Änderung notwendig wäre.
Die Bundesregierung sieht das anders. Nach ihrer Auffassung würde durch die Novelle „noch stärker als bisher der Verursacher von nicht erlaubten Abwassereinleitungen mit erhöhten Abgaben belastet", wenn ich das einmal so aus den Leitlinien zur Umweltvorsorge zitieren darf. Meine Herren und Damen, aus einer solchen Sicht der Dinge wird kriminelle Praktik durch das Abwasserabgabengesetz natürlich nur sanktioniert, statt sie mit Maßnahmen des Ordnungsrechts und des Wasserhaushaltsgesetzes zu unterbinden.
Verehrte Kollegen und Kolleginnen von der SPD-Fraktion, Ihre Forderungen sind diskussionswürdig.
Die Umweltverbände haben ja bereits vor Jahren massiv eine Festlegung der Abwasserabgabe auf 120 DM pro Schadeinheit gefordert. Die jetzige Abgabehöhe ist nicht an den Reinigungskosten, geschweige denn an den Umweltkosten orientiert. Ein Beispiel: Für eine Schadeinheit Kadmium sind 48 DM zu berappen. Die Sanierung der dadurch belasteten Sedimente aber kostet 26 000 DM.
Sie sehen, dies steht in einem krassen Mißverhältnis zueinander.
Wir haben bereits in der letzten Legislaturperiode den vergeblichen Vorstoß unternommen, die Abwasserabgabe jährlich um einen Festbetrag heraufzusetzen.
Entsprechendes gilt für die alten Forderungen nach Aufnahme weiterer Schadstoffparameter.
Die Bundesregierung spricht davon, daß das Einleiten von Abwässern mit gefährlichen Stoffen in Gewässer wie auch in öffentliche Kanalisationen durch die getroffenen Maßnahmen künftig noch stärker begrenzt würde. Tatsache ist aber doch, daß gigantische Vollzugsdefizite zu verzeichnen sind, da Länder und Kommunen nicht über die nötigen Finanzmittel für die Indirekteinleitererfassung verfügen.
So hätten bis Oktober 1987 30 000 Indirekteinleiter in Rheinland-Pfalz — in Ihrem Land, Herr Töpfer — erfaßt werden müssen. Vom ehemaligen pfälzischen Umweltminister Wilhelm
war zu vernehmen, dies würde angesichts der verfügbaren Mittel und des geringen Personals acht Jahre in Anspruch nehmen.
Meine Herren und Damen, wenn wir die Belastung der Gewässer mit hochgiftigen Substanzen und anderen Schadstoffen nicht in den Griff bekommen — und das heißt, diese Einleitungen zu beenden —, dann können wir uns das Jammern über Robbensterben, Algenteppiche etc. schenken, und dann sollten ehrli-
8386 Deutscher Bundestag 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Frau Garbe
cherweise auch keine Krokodilstränen mehr vergossen werden.
Ich komme zu einem anderen Problem, der vielzitierten schwarzen Liste, meine sehr verehrten Herren und Damen, und das ist für uns GRÜNE der Knackpunkt aller Gemeinsamkeiten. Ich möchte bei der Regierung hier anmahnen, was schon 1986 von der Umweltministerkonferenz eingeklagt wurde. Für 30 Stoffe, die wegen ihrer schweren Abbaubarkeit, akkumulativer toxischer, mutagener oder kanzerogener Wirkungen und einer hohen Schädlichkeit aufgelistet wurden, sollte die Bundesregierung doch nun endlich risikobegrenzende Maßnahmen nach § 17 Chemikaliengesetz ergreifen.
Seit langem wird ein Verbot von 129 chemischen Giftstoffen zur Gewässerreinhaltung gefordert. Am 21. Oktober 1987 richtete der IAWR-Präsident den dringenden Appell an die Umweltminister der vier Rheinanliegerstaaten, der Schweiz, Frankreichs, der Bundesrepublik und der Niederlande, nun doch endlich zu handeln, die 129 Chemiegifte schleunigst auf die schwarze Liste zu setzen und der chemischen Industrie zu verbieten, diese Stoffe weiterhin zu produzieren.
Wir stimmen heute auch über die Chromrichtlinie ab. Sie ist uns nicht weitgehend genug; ein Entschließungsantrag unsererseits wurde bei der Fachberatung abgelehnt. Wir stimmen der Beschlußempfehlung des Ausschusses dennoch zu,
weil sie eine Weiterentwicklung der Richtlinie empfiehlt.
Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Übereinkommens vom 4. Juni 1974 zur Verhütung der Meeresverschmutzung vom Lande aus ist zu wünschen, daß ihm endlich praktische Schritte folgen werden. Wir werden uns bei dieser Abstimmung enthalten.
Meine Herren und Damen, nun möchte ich zu den Nordsee-Anträgen kommen: Angesichts der krisenhaften Situation der Nordsee und angesichts des berechtigten Zorns weiter Teile der Bevölkerung auf „die da oben", die nichts gegen das Robbensterben unternehmen — wobei übrigens wir GRÜNEN kaum ausgenommen werden — , hätte auch ich es begrüßt, wenn ein gemeinsames Zeichen in Sachen Nordseereinhaltung von allen vier Fraktionen aus dem Umweltausschuß des Deutschen Bundestages hätte gegeben werden können.
Es hätte ein von uns gemeinsam getragenes Programm tatkräftiger Schritte in Sachen Nordseereinhaltung geben können. Wir haben nicht erwartet, daß es eine Kongruenz der Positionen, was nun am vordringlichsten ist, geben könnte. Wir gingen davon aus, daß über den Minimalkonsens hinaus jede Fraktion weitergehende Vorstellungen hat. Es gibt ja tatsächlich einige Gemeinsamkeiten, aber leider keine
grundlegende Übereinstimmung darin, nun endlich durchzugreifen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen von der SPD-Fraktion, ich bin auch der festen Überzeugung, daß wir alle Kräfte in dieser Republik brauchen, um wenigstens national die Nordsee etwas von ihren Giften und von ihrem Dreck zu befreien. Ich meine, es wird nicht gelingen, daß sich eine Partei, daß sich eine Fraktion am Zustand der kranken, vergifteten Nordsee politisch profilieren kann.
Wir brauchen breite Bündnisse, meine Herren und Damen. Auch wir stützen uns auf Kräfte im Norden des Landes, auf Wissenschaftler und Experten, mit denen wir ja schon in der letzten Legislaturperiode einen umfangreichen Maßnahmenkatalog erarbeitet und eingebracht haben. Das von uns im Juni vorgelegte Notprogramm gibt einen Auszug dringendster Maßnahmen wieder.
Eine Forderung war, wie gesagt, die schwarze Liste, von der ich schon vorhin sprach. Diese Forderung finde ich in dem SPD-Antrag leider nicht. Die Realisierung dieser Forderung ist aber notwendig, um das Robbensterben — u. a., sage ich — einzudämmen. Man könnte jetzt sogar voll Bitterkeit sagen: Das Seehundsterben ist ja jetzt vorbei. Im November wurden an der deutschen Nordseeküste nur zwölf tote Seehunde gefunden. Aber wer weiß denn, welches Lebewesen im kommenden Winter seinen Exitus wird erleben müssen. Ich möchte nur an das Vogelsterben im Januar und Februar 1987 erinnern, als die durch PCBs und Quecksilber vergifteten und geschwächten Vögel dem Kältestreß erlagen.
Welchem Streß erlagen denn die Robben? Bevor diese Frage abschließend geklärt war, war ein Großteil der Kadaver bereits zu Tierfutter verarbeitet worden. Schleswig-Holstein unterband zwar die Verarbeitung zu Fischmehl, aber Niedersachsen ließ es zu und beschwor damit leichtfertig wieder weitere Probleme herauf.
Vor wenigen Tagen haben die Wissenschaftler der tierärztlichen Hochschule ihren Befund über das Robbensterben bekanntgemacht: Herpesviren, Staupeviren, Mykoplasmen, unendlich viele Parasiten, Magen-, Darm- und Lungenwürmer! Vielfach sind hohe Quecksilberwerte gefunden worden. Fazit der Wissenschaftler: Komplexes Krankheitsgeschehen.
Meine Herren und Damen, zu diesem komplexen Krankheitsgeschehen hat die fehlentwickelte Spezies Mensch beigetragen, die unfähig ist, das Überleben zu sichern, wie Konrad Lorenz es ausdrückt.
Durch entschiedene Maßnahmen, meine lieben Kollegen und Kolleginnen, hätten wir aber die Möglichkeit, ein bißchen Sühne zu tun. Wir sind überzeugt davon, daß in den vorliegenden Nordseeanträgen zwar gute Ansätze, aber keine durchgreifenden Maßnahmen enthalten sind, die für die Sanierung der Nordsee unabdingbar wären. Von daher halten wir
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8387
Frau Garbe
unser Notprogramm aufrecht und werden uns bei den anderen Anträgen enthalten.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Friedrich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nachdem sich der Kollege Lennartz in die Behauptung verstiegen hat, wir seien Handlungsabstinenzler — das muß man wirklich nachlesen, sonst kriegt man es nicht raus —, hätte ich fast Lust, Ihnen all das vorzulesen, was im Umweltausschuß festgelegt wurde, seit ich Mitglied bin, nämlich in den letzten beiden Jahren. Dann wäre aber die Debatte hier beendet, weil die Redezeit ausgeschöpft wäre. Ich muß mich deshalb auf drei Punkte beschränken.
Egal, Herr Kollege Lennartz, was unser Bundesumweltminister trinkt und wo er es trinkt, im Grunde genommen sind wir uns einig in der Zustandsbeschreibung von Nord- und Ostsee.
Ich halte es deshalb für wichtig, daß wir sofort in die Diskussion über Maßnahmenkataloge übergehen und dabei Wert auch darauf legen, deutlich zu machen, wo die wirklich wichtigen Ursachen von Seehundsterben und massenhafter Vermehrung bestimmter Algen liegen.
Ich muß einräumen, daß in der Debatte — das ist die positive Seite dieser zwei Stunden — bisher die Schwerpunkte richtig gesetzt wurden. Die SPD spricht, wenn sie vor die Medien tritt, meist über die Verklappung von Dünnsäure und die Abfallverbrennung auf See. Ich muß zugeben, daß die politische Wirkung da groß ist, weil die Menschen auf Grund von Fernsehberichten empört sind. Aber der Nutzen für die Natur ist relativ bescheiden.
Die Schwermetalle, die die Anrainerstaaten z. B. über die Dünnsäure in die Meere eintragen, haben an der Gesamtbelastung der Meere mit diesen Schadstoffen einen Anteil von durchschnittlich 0,85 %. Wir sollten deshalb, auch wenn wir Wahlkreisreden halten, die richtigen Schwerpunkte bilden. Wenn wir schon über Dünnsäureverklappung und die Beendigung von Abfallverbrennung auf See reden — was notwendig ist; das bestätige auch ich — , dann sollten wir fair bleiben. Wir halten es nicht für fair, daß die SPD dort, wo sie regiert, etwa in Nordrhein-Westfalen, den Bund in der Absicht bestärkt, die Debatte über die technisch notwendigen Auslauffristen durchzustehen, aber Sie uns im Bundestag wegen genau dieser Auslauffristen in die Pfanne hauen.
Zweitens. Eine explosionsartige Vermehrung von Algen findet nicht wegen irgendeiner Konzentration von Dünnsäure im Meereswasser statt
— sie schadet den Algen sogar — , sondern unter bestimmten klimatischen Bedingungen wegen der
Überfrachtung der Meere mit den Nährstoffen Phosphat und Stickstoff.
Deshalb ist es sinnvoll, Herr Kollege Lennartz, daß wir uns darüber unterhalten, innerhalb welcher Fristen und ab welcher Anlagengröße diese Nährstoffe in den Kläranlagen dem Abwasser entzogen werden müssen.
Die SPD hat uns natürlich bei den Fristen, den Grenzwerten und der Frage, welche Abgaben nach dem Abwasserabgabengesetz zusätzlich zu erheben sind, überboten. Das ist eigentlich normal und erschüttert uns nicht allzu sehr. Sie müssen ja Meßlatten bereithalten, die es Ihnen ersparen, daß Sie uns künftig einmal loben müssen; sie müssen schon in der Vordebatte immer zu hoch angesetzt werden.
Unsere Beschlußempfehlung hat den Vorteil, daß sie von den Ländern technisch und finanziell umsetzbar ist. Sie stellten schon vom zeitlichen Rahmen her sicher, daß wir die schon vor dem Seehundsterben auf internationalen Konferenzen eingegangenen Verpflichtungen einhalten können. Der Zeitrahmen ist aber gleichzeitig so flexibel, daß die für den Vollzug zuständigen Länder nicht den Eindruck haben müssen, daß sie in Bonn nur noch zum Befehlsempfang anzutreten haben.
Gegen allzu eilige Beschlüsse nur zur Beruhigung unseres Gewissens in Bonn spricht auch, daß der Bund erst am 9. November die 1. Abwasserverwaltungsvorschrift zum novellierten Wasserhaushaltsgesetz erlassen hat. Herr Minister Töpfer hat noch vor diesem Termin und lange vor dem Inkrafttreten dieser neuen Vorschriften die Fortschreibung angekündigt. Wir unterstützen Sie, Herr Minister, bei dieser Absichtserklärung. Wir müssen aber gleichzeitig feststellen, daß wir das Anliegen der SPD, immer noch schneller noch mehr zu machen, nicht berücksichtigen können, weil die Länder und vor allem die Gemeinden nicht in der Lage sind, Kläranlagen beliebig schnell nachzurüsten.
Ich komme zum letzten Satz. Wir sollten gegenüber den Ländern und vor allem den Gemeinden wenigstens so fair sein, erst den erwarteten neuen technischen Standard zu beschreiben, bevor wir über ein schärferes Abwasserabgabengesetz mit finanziellen Sanktionen nachhelfen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Blunck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Noch so eine Schreckenssaison wie die vergangene werden die deutschen Seebäder an Nord- und Ostsee wohl kaum mehr unbeschadet überstehen. Den ganzen Sommer über mußten sie mit einer Hiobsbotschaft nach der anderen fertig werden: Robbensterben, Fischsterben, Algenteppiche, bis hin zum Badeverbot vor einigen Inseln wegen Salmonellengefahr; und dies alles zusätzlich zur ohnehin bekannten alltäglichen Meeresverschmutzung.
8388 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Frau Blunck
Selbst wenn diese Ereignisse für sich betrachtet die unterschiedlichsten Ursachen haben mögen, ist aber infolge der jahrelangen Behandlung der Nordsee als Müllkippe der Nation dieses Gewässer inzwischen so überlastet, daß Umweltsünden, die bisher alleine noch keinen Alarm ausgelöst haben, nunmehr zum Eklat führen müssen. Die Faszination, die dieses einzigartige Seegebiet jahrhundertelang auf die Menschen ausgeübt hat, ist dahin, wenn nicht endlich und sofort etwas zur Rettung getan wird. Wenn sich Badegäste nur noch in Wellenbädern tummeln können, weil das Seewasser Gesundheitsschäden verursacht, dann fragt sich doch, wann der letzte, der bislang noch treu zur Ost- und Nordsee hält, nicht zu anderen Stränden abwandert oder gleich zu Hause bleibt, denn Wellenbäder kann heute fast jede Stadt mittlerer Größe bieten. Für Urlaub an einem „toten" Meer dürfte niemand zu gewinnen sein.
Was eine solche düstere Perspektive für wirtschaftliche Konsequenzen in den norddeutschen Küstenregionen haben würde, brauche ich hier nicht weiter auszumalen.
Diese Gebiete sind ohnehin ausgesprochen strukturschwach, und in manchen Orten liegt die Arbeitslosigkeit weit über dem Bundesdurchschnitt. Wenn dann auch noch der Fremdenverkehr als Einnahmequelle ausfällt, sehe ich die Existenzgrundlage der an der Küste lebenden und arbeitenden Menschen in hohem Maße bedroht.
Zu Recht wies der Nordseebäderverband anläßlich seiner Demonstration im Juli dieses Jahres darauf hin, daß für die Bewohner der norddeutschen Küstenregion eine dauerhafte Sicherung ihrer Existenzgrundlage nur dann gewährleistet wäre, wenn Wattenmeer und Nordsee ein lebendiger Lebensraum bleiben, und das gilt gleichermaßen für die Ostsee.
Die Fischerei in dieser Region hat schon die bittere Erfahrung machen müssen, daß ihre Lebensgrundlage zerstört wurde. Mit Nordseefisch ist kein Geschäft mehr zu machen, Herr Carstensen.
Ja, es ist in diesem Sommer schon so weit gekommen, daß Handelsunternehmen in ihrer Werbung herausstellten, keinen Nordseefisch zu verarbeiten.
Wir und unsere Kinder wollen aber an der Küste leben und Arbeit haben. Daher muß die Regierung endlich handeln — handeln und wirksame Maßnahmen zur Rettung von Nord- und Ostsee ergreifen.
Dazu gehört unter anderem, daß bestimmte Stoffe erst gar nicht mehr in die Abwasser gelangen können
und Nord- und Ostsee belasten. Dazu müssen bestehende Gesetze voll ausgenutzt werden. Bereits heute
haben Sie nämlich die Gelegenheit und die Möglichkeit, Stoffe und Stoffeintrag nach dem Chemikaliengesetz zu verbieten.
Frau Abgeordenete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Carstensen ?
Wenn es mir nicht angerechnet wird.
Nein, das kann ich nicht machen. Ich muß alle gleichbehandeln.
Nein, dann tue ich es nicht.
Natürlich brauchen wir auch die Verschärfung des Pflanzenschutzgesetzes, des Chemikaliengesetzes, des Düngemittelgesetzes und des Wasch- und Reinigungsmittelgesetzes. Phosphat und Stickstoff dürfen eigentlich gar nicht erst ins Abwasser kommen. Zumindest in diesen horrenden Mengen müssen sie, soweit es der Stand der Technik zuläßt, eliminiert werden. Wir brauchen Kläranlagen mit Phosphatfällung und Denitrifikation.
Unsere Agrarpolitik muß dringend geändert werden. Das bedeutet u. a. die Streichung der Landwirtschaftsklausel im Bundesnaturschutzgesetz.
Unser Antrag zum Abwasserabgabengesetz ist heute ebenfalls auf der Tagesordnung. Übrigens, er wurde lange vor dem Algenteppich und dem Seehundsterben in Nord- und Ostsee gestellt. Wir hoffen jetzt auf eine zügige Beratung im Ausschuß und auf Zustimmung.
Natürlich kostet das Geld. Ohne — und da zitierte ich den Herrn Töpfer in einer Pressemitteilung und den Bundeskanzler — richtig Geld in die Hand zu nehmen, wie Sie, Herr Minister Töpfer, und der Bundeskanzler im Sommer versprochen haben, ist der Lebensraum an der Küste nicht zu retten.
Wenn unter nationaler Aufgabe allein zu verstehen ist, daß der Bürger mit einem Notopfer zur Kasse gebeten werden soll, während die Hauptverursacher der Gewässerverschmutzung, nämlich die chemische Industrie und die Landwirtschaft, weitgehend verschont bleiben, dann kann ich nur sagen: mit uns nicht.
Wenn ich bedenke, wie rasch diese Regierung Milliarden für ein so dubioses Waffensystem wie den Jäger 90 locker macht, für eine nun wirklich nationale Aufgabe wie die Rettung von Nord- und Ostsee aber tatsächlich nichts übrighat, dann wirft das ein kennzeichnendes Licht darauf, wie ernst die existentiellen Sorgen von Millionen Menschen an der Küste genommen werden.
Frau Abgeordnete, sind Sie jetzt mit Herrn Carstensen gnädiger?
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8389
Ich habe die Zeit nicht, Herr Carstensen.
— Das haben Sie nicht gewußt. Deswegen haben Sie meine Frage zugelassen.
Nein, nein. Ich behandle alle gleich. Sie haben zwölf Minuten, Frau Kollegin.
Ja, bitte.
Frau Blunck, können Sie mir, wenn Sie bedauern, daß kein Geld da ist, bitte sagen, wieviel man für die Nordsee im Bereich der kommunalen Kläranlagen hätte machen können für das Geld, das Schleswig-Holstein im Moment für 115 neue Stellen ausgibt, die gleich eingerichtet wurden, und 1 455 für das nächste Jahr, und was sagen Sie — —
Herr Carstensen, könnten Sie die Frage bitte schneller stellen.
Ja, ist in Ordnung.
Das ist genug?
Dann sage ich Ihnen: Sie fordern immer, daß die Landesregierung all diese Maßnahmen kontrolliert. Dafür müssen Stellen ausgewiesen werden. Ich denke, es ist genau richtig, was dort gemacht worden ist.
Bei Rüstungsausgaben sind Sie mit dem Füllhorn schnell zur Stelle.
Geht es aber darum, diese Welt lebenswert zu erhalten,
dann bleibt der Geldbeutel geschlossen.
Haben Sie eigentlich schon einmal einen Gedanken darauf verschwendet, was für ein Land dieser Jäger 90 schützen soll? Ein Land, eine Region, die nicht mehr belebt ist, wo Leben keine Grundlage mehr hat,
die zerstört ist,
und tote Meere brauchen keinen Schutz und keine
Verteidigung mehr. Da will ohnehin keiner mehr hin,
selbst nicht der dümmste Aggressor. Wenn Sie schon so horrende Summen für Waffensysteme aus dem Fenster werfen wollen, dann sollten Sie erst einmal dafür sorgen, daß eine Welt vorhanden ist, in der zu leben Spaß macht und die zu schützen sich lohnt.
Die über Jahrzehnte hinweg betriebene Abfallverbrennung auf hoher See ist eine weitere schwere Versündigung an der Nordsee. Es ist wirklich unverständlich, daß diese Art der Entsorgung angesichts des bekannten Grades der Seeverschmutzung überhaupt noch weiter betrieben werden soll.
Die Bundesregierung will die Seeverbrennung erst zum 1. Januar 1995 abstellen.
Wenn Sie wirklich bereit gewesen wären, die notwendigen Konsequenzen aus den traurigen Ereignissen zu ziehen, dann hätten Sie die auslaufenden Genehmigungen zur Müllverbrennung auf hoher See nicht neu aussprechen dürfen.
Statt dessen haben Sie sich zum Komplizen der chemischen Industrie gemacht, und das, obgleich Ihnen der Verband der Chemischen Industrie bereits im vergangenen Jahr sehr deutlich die kalte Schulter gezeigt und Ihnen eine Studie zur Reduzierung der Verbrennung vorgelegt hat, die die Regierung vornehm selbst so bewertet:
Sie
— die Studie —
erfüllt jedoch nicht den mit ihr verbundenen Anspruch. Insbesondere enthält sie kein konkretes Konzept zur Beendigung der Seeverbrennung.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Lippold ?
Nein.
Inzwischen sind Sie von der chemischen Industrie vollends über den Tisch gezogen worden. Denn in der Ausschußsitzung am 12. Oktober 1988 stimmten Sie sogar gegen eine konzertierte Aktion,
also dagegen, daß sich die an der Verschmutzung Beteiligten an einen Tisch setzen, um gemeinsam einen Plan zur Reduzierung der Müllverbrennung auf hoher See zu erarbeiten.
Anstatt unter dem Eindruck der sich häufenden Krisenmeldungen von der Nordsee endlich auf den Tisch zu hauen und die chemische Industrie zu zwingen,
8390 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Frau Blunck
sich intensiver und engagierter als bisher Gedanken zu machen, in welchen Anwendungsbereichen ein Ersatz der umwelt- und wassergefährdenden Chemieabfälle bzw. deren Aufarbeitung an Land möglich ist, honorieren Sie die Hinhaltetaktik auch noch mit der Erneuerung der Erlaubnisse zur Seeverbrennung über den 30. September 1988 hinaus.
Da sich in der Zwischenzeit nichts getan hat, ist wohl davon auszugehen, daß die befristeten Erlaubnisse am Ende dieses Monats wiederum verlängert werden
— und so weiter, und so weiter — bis man sich über den 31. Dezember 1994 hinübergerettet hat. Was würde wohl die chemische Industrie sagen, wenn die norddeutschen Seebäder ihre Abfälle und ihren Müll auf dem Produktionsgelände der chemischen Fabriken abladen würden? Ein Aufschrei ginge durchs Land.
In umgekehrter Richtung aber stehen die Seebäder allein und müssen ohnmächtig mit ansehen, wie ihre Zukunftschancen zerstört werden.
Ich kann nur noch einmal sagen: Die Seeverbrennung muß verboten werden, und zwar schneller, als es die Bundesregierung vorsieht. Sollte die chemische Industrie hierbei nicht kooperativ mitwirken, muß es eben auch ohne sie gehen. Auch in den Küstenregionen lebende Menschen wollen arbeiten, auch sie haben ein Recht darauf, daß ihre Lebensgrundlagen nicht zerstört werden.
Nach der Ratssitzung der europäischen Umweltminister am 24. November hat Minister Töpfer die Einstellung der Dünnsäureverklappung zum Ende 1989 als großen Erfolg herausgestellt. Das hört sich zwar gut an, nur, zum Feiern ist gleichwohl kein Anlaß; denn Herr Töpfer hat verschwiegen, daß noch einmal zusätzlich 1,8 Millionen t Dünnsäure eingeleitet werden können, und dies, wo doch sattsam bekannt ist, daß diese Dünnsäureverklappung gerade auf den Seegebieten zwischen Helgoland und Sylt für den starken Artenschwund zahlreicher Meerestiere ursächlich ist.
Hier hat Herr Töpfer auf dem Altar eines zweifelhaften europäischen Konsenses einmal mehr die Interessen der norddeutschen Küstenregionen geopfert.
Wenn denn eine frühere definitive Beendigung der Verklappung mit unseren europäischen Nachbarn nicht erreichbar gewesen sein sollte, warum hat denn Herr Töpfer nicht im Interesse unserer Seebäder den nationalen Alleingang gewagt?
Daß dies nicht schädlich sein muß, wissen wir spätestens seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes, wo den Umweltschutzinteressen Vorrang vor dem freien Warenverkehr eingeräumt worden ist. Für das sofortige Verbot der Dünnsäureverklappung, um zumindest die Nordsee in der Deutschen Bucht zu schützen, hätte es gar nicht einer Abstimmung mit den in Sachen Umweltschutz zurückhaltendsten Staaten bedurft. Der Zustimmung der Dänen und der Niederländer hätten wir bei einem nationalen Alleingang sicher sein können. Aber auch hier zeigt sich, daß angebliche EG-Hindernisse herhalten müssen, um die eigene Untätigkeit zu bemänteln.
Abschließend muß ich leider feststellen: Die Aussage, die die Aktionskonferenz Nordsee heute auf ihrer Pressekonferenz getroffen hat, stimmt. Sie, Herr Töpfer, verkaufen in der Umweltpolitik mit großer Penetranz alte Hüte als neue Mode und vergackeiern damit die Bevölkerung.
Meine Damen und Herren, ich gebe jetzt dem Minister für Natur und Umwelt des Landes Schleswig-Holstein, Herrn Professor Heydemann, das Wort, und zwar in Übereinstimmung mit allen Kollegen, weil er ein Flugzeug benutzen muß, um zurückzukehren. Jeder, der so lange hier war wie ich, d. h. von 13 Uhr an, weiß, daß er schon seit dieser Zeit hier gesessen hat.
Bitte schön, Herr Professor.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich sehr, daß ich heute das zweite Mal bei einer Nordsee-Debatte im Bundestag dabeisein kann, diesmal unter Unterbrechung meiner Teilnahme an der Haushaltsdebatte des Landtages in Kiel, die heute weitergegangen ist und wo gerade auf Antrag der Landesregierung wesentliche Mittel für die Abwasserreinigung, für Flächenschutz, also für Randstreifenprogramme, aus dem Nachtragshaushalt in den eigentlichen Haushalt 1989 eingebracht worden sind, und zwar einige Monate nach Regierungsantritt.
— Sie rufen einen Satz nach dem anderen von mir durch Zwischenrufe ab. Ich habe es auf dem Programm, Ihnen auch noch Zahlen zu nennen: 30 Millionen DM in Schleswig-Holstein sind für das Jahr 1988 festgelegt. Da davon noch nichts verausgabt ist, wird das auf 1989 übertragen. Die Zahlen beziehen sich dann also auf 12 oder 13 Monate. Damit werden wir eine Eliminierung von 60 To aller Phosphateinträge in Nord- und Ostsee durch 80 % aller großen Kläranlagen, die es bei uns gibt, erreichen.
Wenn wir das vorgefundene Abwasserprogramm, den Generalplan Abwasser, der bisherigen Landesregierung zugrunde legen, hätten wir von etwa 17 bis 20 Jahren auszugehen. Zehn Jahre ist es her, daß das angelaufen ist. Den Teil der Vorhaben haben wir auf-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8391
Minister Dr. Heydemann
genommen. Und die Vorhaben für die restlichen zehn Jahre werden auf anderthalb Jahre konzentriert. Das ist der Beschleunigungseffekt, den wir brauchen.
Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, hier nicht so sehr mit Ausführungen zu den eigenen Tätigkeiten anzufangen und zu sagen, daß sie viel besser als anderswo seien. Aber die Debatte läuft anders. Herr Kollege Carstensen hat immer wieder Schleswig-Holstein herangezogen,
nicht unter dem Aspekt besonders guter Arbeit, sondern unter dem Aspekt falscher Geldanwendung, z. B. in Stellen. Von daher möchte ich für die anderen Kollegen, die nicht wie Herr Carstensen aus Schleswig-Holstein kommen und meinen, es sei die richtige Wiedergabe der Situation, die Aussagen ein klein wenig richtigstellen. Es sind ja auch eine ganze Menge Zuhörer da, die das Bild des nördlichsten Bundeslandes an Nord- und Ostsee hier vorgestellt haben möchten. Das ist auch deswegen so wichtig, weil Schleswig-Holstein das einzige Bundesland ist, das auch die Ostsee mit reinzuhalten hat. Es ist das einzige Bundesland, das auch noch die Helsinki-Konvention in Ausgabenprogramme umsetzen muß.
Wir haben für das kommende Jahr auch ein 4-Millionen-DM-Programm — 1 Million in 1988 — für Flächenrandstreifen vorgesehen. Das heißt, 2 000 km Gewässerrandstreifen — das sind 10 % aller von Wasser- und Bodenverbänden betreuten Gewässer in Schleswig-Holstein — werden beidseitig mit je 10 m breiten Randstreifen — das sind zusammen 20 m Breite — versehen. Das sind 4 000 ha, die total aus der Nutzung herausgenommen werden. Das bedeutet, daß wir gleichzeitig 16 % zusätzliche Vorranggebiete für Naturschutz, bezogen auf die Gesamtfläche Schleswig-Holsteins, gewinnen,
und zwar in wenigen Monaten angesetzt.
Ich sage das nicht so sehr in dem Sinne, daß ich hier eine Erfolgsvorführung der bisherigen Tätigkeit von sechs Monaten der Landesregierung Schleswig-Holstein geben wollte,
weil ich ein bißchen von dem Harmonisierungseffekt ausgehe — parteiübergreifend, länderübergreifend auf die Bundesrepublik — , da wir ihm — das haben wir mehrfach gehört — für Nord- und Ostsee ja unbedingt brauchen. Das heißt, ich möchte Sie sehr gerne mitnehmen, Kollegen von der CDU/CSU- und FDP-Fraktion. Frau Garbe hat für die GRÜNEN so viel Übereinstimmendes vorgetragen, daß ich meine, wir können uns schon relativ bald finden. Da der Kollege Töpfer mir aus der Zusammenarbeit über ganz viele Jahre bekannt ist, glaube ich sehr, daß ich ihn auch hier in
zukünftige gemeinsame Aktivitäten mit einbeziehen darf.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Knabe?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja. Vizepräsident Westphal: Bitte schön, Herr Knabe.
Herr Minister Heydemann, würden Sie mir nach Erwähnung des Gewässerrandstreifenprogramms nicht zubilligen, daß der Bund sehr viel zur Reduzierung des Eintrags von Düngemitteln auf die Flächen tun könnte, wenn er entsprechende Gelder dafür bereitstellte und dies forderte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Dr. Knabe, sind Sie damit einverstanden, daß ich das nachher im Zusammenhang mit berühre? — Danke.
Ich darf zwei, drei Einschätzungen zur Situation in Nord- und Ostsee geben. Wir haben in der Bundesrepublik dort vier Länder, davon nur zwei Flächenländer, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Zwei sind übrigens hier vertreten: Hamburg und Schleswig-Holstein.
— Niedersachsen jetzt auch noch.
Ich freue mich, daß von den vier angrenzenden Ländern immerhin drei hier sind. Das zeigt, daß auch die Umweltminister der norddeutschen Küstenländer einiges in Gemeinsamkeit dafür getan haben, auch ein Stückchen vorher. Ich will nicht den ersten Effekt dieser Nordsee-Ostsee-Konferenz mit einem 10-Punkte- Programm darstellen. Wir als Umweltminister der Küstenländer hatten am 6. Juni, d. h. sechs Tage nach dem Antritt der Landesregierung in SchleswigHolstein, den Solidarisierungseffekt über vier Küstenländer in Husum mit einem 10-Punkte-Programm erreicht.
Mir erscheint es außerordentlich wichtig, meine Damen und Herren, daß wir die Lage sehr gründlich einschätzen, nicht so, daß wir dabei gleichzeitig sagen: Wir haben auch eine politische Chance. Sie muß vielmehr echt sein, gleichgültig, wie groß die politische Chance zum Handeln noch ist. Das heißt, wir brauchen eine gute naturwissenschaftliche Analyse. Sie besagt, daß — ich schätze einmal — 10 % bis 15 % der Schäden in Nord- und Ostsee bereits irreversibel sind.
Mit anderen Worten: Diese berühmte 12-Uhr-Grenze — ich will das jetzt nicht in Minuten fassen — ist überschritten, wenn „ 12 Uhr" heißt: Danach gibt es irreversible Schäden.
Das ist die Situation.
Es kann im Wasserbereich sicher noch sehr viel mehr geheilt werden, vielleicht ein ganz großer Teil, vielleicht alles im Laufe der Zeit, nur im Bodenbereich
8392 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Minister Dr. Heydemann
nicht mehr, ich meine damit: im Bodenbereich des Meeres, weil dort eine Fülle von nicht abbaubaren Stoffen dauerhaft adhäsiv an die winzigen Körnchen gebunden bleibt.
Gehen wir einmal davon aus, daß selbst das Wasser ausgetauscht würde: Es dauert für die Nordsee zwei Jahre und für die Ostsee 40 bis 50 Jahre, bis der Wasserkörper nur einmal ausgetauscht ist, unter der Annahme, daß das Bodenwasser gleichzeitig intensiv ausgetauscht wird, was eigentlich nicht der Fall ist. Mit anderen Worten: Wir können überhaupt keine Befreiung der Nord- und Ostsee von allen Schadstoffen mehr erreichen, auch nicht der Nährstoffe; denn auch die Nährstoffe liegen im Boden.
Ich darf noch einmal folgendes betonen: In bezug auf die sogenannte Abbaubarkeit dürfen wir uns natürlich nicht übermäßigen Hoffnungen hingeben; denn es ist so, daß Stickstoff und Phosphor natürlich genauso wenig abbaubar sind wie jedes Schwermetall. Es sind Grundelemente, die drin bleiben; sie können höchstens in eine nicht Pflanzen verfügbare Form überführt werden und sind dann in diesem Ökosystem einige Zeit gewissermaßen nicht nährstoff- und damit produktionsbildend. Sie liegen dann im Boden. Wir freuen uns natürlich, daß sie festgelegt sind. Leider ist das nicht dauerhaft der Fall. Sie werden vielmehr durch den senkrechten Aufstieg von Nahrungsketten — 90 % aller Organismen leben im Boden und gehen dann wieder ins Wasser über — in die Wassersäule gewissermaßen eingespült. Wir haben also diese ganzen Effekte nicht voll in der Hand.
Was wir machen können, ist, ab sofort die Zunahme von Schäden zu verhindern, so wie es in vielen anderen Bereichen der Fall ist. Aber wir dürfen nicht davon reden, daß wir gewissermaßen die Versäumnisse von 20 Jahren irgendwie noch einmal wieder aufholen könnten. Darum müssen wir alle zusammen auch die Schuld eingestehen, daß wir 20 Jahre zu langsam gehandelt haben.
Ich will gar nicht sagen, wer noch langsamer als der andere handelte. Es haben auch die Wissenschaftler schuld. Ich habe 1980 am Nordsee-Gutachten ja nun selber mitgewirkt und den Teil Küste in diesem Bereich zum erheblichen Teil geschrieben.
Um so betroffener bin ich hinsichtlich der Beratung der Politik durch Wissenschaftler im Fall Nordsee. Das meiste, was wir hier heute sagen, ist nachlesbar. Wir wiederholen es nur noch einmal, damit es uns selbst bewußt wird. Dem Nordsee-Gutachten gingen zwei, drei Jahre Beratung voraus. Wir können also ruhig sagen: Wir haben zehn Jahre gebraucht, ehe überhaupt politische Sensibilität so zustande kam, daß wir parteiübergreifend den anderen nicht mehr als Panikmacher hinstellen. Vor zehn Jahren war das aber so.
Heute habe ich dieses Wort auch wieder gehört. Im FCKW- oder PVC-Bereich war ein bißchen davon die Rede. Ich würde es nicht für richtig halten, daß wir in dieser Form ansetzen.
Meine Damen und Herren, ich halte einmal fest, daß wir in der Beurteilung der dramatischen Stituation weitgehend übereinstimmen. Wir haben zwei Phänomene, die ich in dieser Einstimmungsrunde abschließend noch einmal nennen möchte. Zum einen stört uns eine vermehrte Häufigkeit von Organismen, d. h. die Massenvermehrung bestimmter toxischer Algen. Der Begriff Algenblüte ist nicht ganz richtig, denn wir brauchen Algen natürlich für Organismen. Die haben in der Nordsee immer geblüht, bloß das Problem ist, daß zuviel giftig ist. Zweitens: das Sterben anderer. Große Formen sterben, kleine Formen haben Massenvermehrung; das Ganze heißt Instabilität. Instabile Systeme können schwer vorhergesehen werden. Vorhersehbarkeit ist die Voraussetzung für eine Vorsorgepolitik. Das heißt, wir machen es uns durch Zulassen zusätzlicher Instabilität selber schwer, unser eigenes Erfordernis der Vorsorgepolitik einzulösen. Das ist das Problem. Also: Sogar Politik wird schwerer.
Ein weiterer Punkt. Es wird von Tag zu Tag teurer. Das heißt, die Investition im Jahr 1989 zur Rückhaltung von Phosphaten bewirkt bei der Steuerung dieser Systeme weniger als die gleichen Gelder, die im Jahre 1988 eingesetzt werden. Der Effekt wird immer geringer, die Investition immer größer. Im Grunde genommen lautet die Überlegung, daß Geld, in diesem Jahr mobilisiert und eingesetzt, im Sinne einer vernünftigen Investition viel wirksamer ist.
Lassen Sie mich ein paar Vorschläge für Lösungsansätze machen. Ich hatte ja etwas über die Vorreiterrolle Schleswig-Holsteins gesagt. Es hat mich auch etwas gekostet, das durchzusetzen. Es ist ja doch etwas Neues, daß man nicht immer nach dem Bund ruft. Ich habe nicht zuerst nach Herrn Töpfer gerufen, sondern wir haben uns beide zusammengesetzt und eine Menge Gutes besprochen. Ich sage das einmal, damit nicht alles in eine Richtung läuft.
— Kollegen, lassen Sie mich doch einmal ausreden! Sie können ja überhaupt nicht hören, was ich sage, und ich überlege mir das doch einigermaßen.
— Sie wollen gar nicht zuhören?
Okay, ich sage das einfach für die, die zuhören wollen.
— Im Gegensatz zur Kritik von Herrn Kollegen Carstensen an Schleswig-Holstein gebe ich nichts an bestimmte Personen zurück.
— Über Schleswig-Holstein nicht? Dann war es ein anderes Land, okay.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8393
Minister Dr. Heydemann
Ich möchte gern betonen, daß ich unbedingt der Meinung bin, wir müssen Herrn Töpfer im Hinblick auf das, was die Bundesregierung ihm sonst gibt, unterstützen, damit er mehr austeilen kann.
— Das müssen Sie machen. Die SPD-Fraktion kann doch nicht den Kollegen Töpfer — —
— Kann doch nicht.
Nun lassen Sie mich eine Zwischenbemerkung an Sie machen. Es ist doch eine Desavouierung der CDU/ CSU-Fraktion, wenn Sie dies offiziell praktisch nicht durchführen und gleichzeitig von der SPD erwarten, daß sie als erste Ihren Kollegen unterstützt. Aber ich mache es jetzt.
Als parteiloser mache ich das sehr gerne und unterstütze den Kollegen Töpfer hier einmal, damit er mehr Geld bekommt.
Aber es muß auf die Länder aufgeteilt werden. Wir können gern etwas vom Strukturhilfegesetz nehmen. Nur, überlegen Sie bitte eines, was im Entwurf steht. Da steht drin: wirtschaftliche Infrastruktur stärken. Haben Sie einmal etwas davon gehört, daß Klärwerke mit Phosphateliminierung für die Stärkung der wirtschaftlichen Infrastrukur entscheidend sind?
— Na gut, wir machen das ja.
— Ich kann relativ selektiv hören, so daß mich die nicht so guten Zwischenbemerkungen momentan nicht ganz so stören. Sie haben keinen großen Effekt damit. Machen Sie doch einmal eine Zwischenbemerkung alleine, sonst hört man doch nichts im allgemeinen Gemurmel, und ich habe überhaupt keinen Gewinn davon.
Meine Damen und Herren, der nächste Lösungsansatz ist, daß wir unbedingt für die Flächenstillegung im ökologischen Bereich und die Extensivierung mehr Mittel auf Bundesebene haben.
Ich gebe einmal zwei Stichworte. Das eine Stichwort ist „Gemeinschaftsaufgabe Abwasser".
Dies müssen wir unbedingt gemeinsam machen, meinetwegen als Anfang: ein nationales Notprogramm. Das zweite ist eine „Gemeinschaftsaufgabe Renaturierung, Flächenschutz, Biotopverbundkonzept, Gewässerrandstreifenprogramm".
Vor 15 Jahren hat das übrigens mal die Bundesregierung den Ländern angeboten. Damals war es eine sozialliberale Bundesregierung. Die Länder haben mehrheitlich nicht mitgemacht — ich will nicht prüfen, wer es alles war —, aber heute müssen wir dieses gemeinsam machen. Die Gemeinschaftsaufgabe gehört dahin, denn die „Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur, Küstenschutz" löst diesen ökologischen Ansatz nicht.
Herr Minister — —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
In meinen letzten Bemerkungen greife ich das noch einmal auf, was der Kollege mich gleich fragen will,
weil ich das schon ahne.
Herr Minister, es ist noch ein Wunsch nach einer Zwischenfrage vorhanden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Na gut.
Ich würde Ihnen noch gestatten, daß Sie das beantworten können, aber dann muß ich Sie bitten, zum Schluß zu kommen.
Herr Minister Heydemann, da Sie vorhin gemeint haben, die Mittel nach dem Strukturhilfegesetz könnten nach dem vorliegenden Gesetzentwurf nur für Zwecke der Wirtschaftsstruktur ausgegeben werden, darf ich Sie fragen, ob Ihnen entgangen ist, daß der im Bundesrat bereits beratene Gesetzentwurf sehr wohl auch die Verwendungsmöglichkeit dieser Mittel für den Umweltschutz ausdrücklich vorsieht?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich halte es für richtig, daß es für den Umweltschutz vorgesehen wird.
Es gibt aber sehr viele Dinge — wie Ökotechnik usw. —, die gleichzeitig einen hohen Arbeitsplatzeffekt haben. Das Wort Struktur ist ja als Wirtschaftsstruktur gemeint. Ich überlege mir natürlich sehr deutlich, daß es Umweltschutzstrukturen sind, die gleichzeitig hohe Arbeitsplatzeffekte haben. Da paßt nun einmal leider die Kläranlage nicht hinein.
Insofern erreichen sie diesen an sich positiven Effekt nicht ganz.
Ich bitte Sie darum, uns zu unterstützen — über das Strukturhilfeprogramm hinaus — , zwei Gemeinschaftsaufgaben einzurichten. Die eine heißt Abwasser, die andere heißt Flächenstillegung, Renaturierung, Verbund. Sie wirken sich auf die Nordsee aus, weil insgesamt drei Viertel der Bundesrepublik in Nord- und Ostsee entwässert. Das heißt: Alle Länder bis auf Bayern — vorhin war eine andere Länderangabe gemacht worden — entwässern in Nord- und Ostsee. Das heißt: Zehn von elf Bundesländern — nehmen wir Berlin heraus — , also neun von elf Bundesländern machen dies so.
8394 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Minister Dr. Heydemann
Meine Damen und Herren, meine Bitte zum Abschluß ist, daß Sie über ein Finanzierungsprogramm und über ein Zeitbeschleunigungsprogramm wirklich noch einmal nachdenken. Das sind die Faktoren: Probleme erkannt! Belastungsfaktoren erkannt! Situation ist drastisch! Wirtschaft und Fremdenverkehr kämpfen gegen eine andere Industriebelastung! Fischindustrie kämpft gegen Landwirtschaft! Die Ökologiepolitik hat eine Mittlerrolle zwischen zwei Wirtschaftszweigen — zwei oder vier oder acht — übernommen! Sie braucht nicht mehr um Robben und Fische zu kämpfen! Sie hat eine neu dimensionierte Aufgabe bekommen. Wir müssen da mithelfen. Die paar Leute, die heute hier sind, die wirklich ökologisch Interessierten, genügen nicht. Es ist meine Meinung, daß wir sehr, sehr schnell ganz große Mehrheiten brauchen, um dieses neue Programm anzuleiern.
Ich sage das einmal parteiübergreifend: Ich möchte Sie alle einbeziehen.
Vielen Dank für die vielen Diskussionsbeiträge von allen Seiten.
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich eine, wenn Sie so wollen: persönliche Vorbemerkung an den Anfang stellen. Meine Damen und Herren, es stimmt schon sehr nachdenklich, wenn der Herr Abgeordnete Lennartz immer mehr dazu übergeht, persönliche Diffamierungen an die Stelle von sachlicher Auseinandersetzung zu setzen.
Ich muß wirklich einmal darauf hinweisen, daß es eigentlich die Klassiker der Demokratie waren, die gesagt haben, die Stabilität der Demokratie sei davon abhängig, daß es einen Bodensatz gemeinsam akzeptierter Ziele gibt und daß dazu eines gehört, nämlich die Achtung vor der moralischen Integrität des politischen Gegners.
Dies, meine Damen und Herren, sollte man auch mal wieder ansprechen. Man sollte sich auf die politische Kultur nicht nur dann berufen, wenn so schlimme Dinge wie in Schleswig-Holstein passieren. Damals ist hier viel über politische Kultur gesprochen worden. Herr Lennartz, lesen Sie sich Ihre Reden einmal durch,
damit Sie die politische Kultur wiederfinden, die für meine Begriffe wirklich zunehmend verlorengeht.
Ich möchte das mit aller Ruhe und mit aller Nachdrücklichkeit sagen, weil ich der festen Überzeugung bin, daß es einfach nicht angeht, daß man solche Auseinandersetzungen, die hinterher vom Kollegen Heydemann auf eine überparteiliche Ebene gehoben werden, zunächst einmal aus der allein persönlichen Diffamierung heraus bestreitet. Das ist der Punkt.
Meine Damen und Herren, dies geht dann auch ein gut Stück weiter, wenn man sich der Angelegenheit selbst widmet. Es ist gar keine Frage, daß die Gewässergüte der Küstenmeere so etwas wie das Langzeitgedächtnis der Umweltsünden derer ist, die an den Rändern dieses Küstenmeeres leben. Das ist absolut richtig. Es ist unstrittig, daß hier die Bilanzbuchhaltung von Umweltsünden vorgeführt wird.
Ich will auch gerne aufgreifen, was der Herr Kollege Heydemann gesagt hat. Er bemerkte, daß wir hier die Sünden der letzten 20 und mehr Jahre wiederfinden. Mit „Sünden" meine ich das, was nicht getan wurde und was uns dann als makabere Ermahnung in Form einer massenhaften Algenentwicklung und in Form von toten Robben vor Augen steht. Dies ist, meine ich, tatsächlich ein Problem, das uns gemeinsam angeht. Diese gemeinsame Betroffenheit ist eben nicht an der laufenden, an der vergangenen oder an der kommenden Legislaturperiode abzumessen, sondern sie äußert sich wirklich — der Abgeordnete Müller wird nicht müde, hier richtigerweise immer wieder darauf aufmerksam zu machen — in der Dimension der Weiterentwicklung dieser Industriegesellschaft insgesamt. Dies ist kein Tagesauftrag.
Meine Damen und Herren, das, was die Bundesregierung zur Sanierung von Nord- und Ostsee getan hat und weiter tut, ist eine Aneinanderreihung nationaler Alleingänge. Es ist das Vorangehen, das nirgends in Europa und auch bei allen anderen Anrainerstaaten nicht übertroffen wird.
Ich möchte das zunächst — das hat auch Frau Abgeordnete Blunck in ganz besonderer Weise hier vorgetragen — an der Frage der Verklappung der Abfälle aus der Titandioxidproduktion belegen. Meine Damen und Herren, bevor ich zu der Diskussion nach Brüssel gefahren bin, um über diese Richtlinie zu diskutieren, habe ich mich vor Ort begeben. Ich bin nach Duisburg im Bundesland Nordrhein-Westfalen gefahren. In Duisburg im Bundesland Nordrhein-Westfalen ist die Firma Sachtleben ansässig, die Titandioxid erzeugt. Es ist die Firma, die mit Abstand die größte Dünnsäureproduktion aufweist und damit die größte Verklappung in die Nordsee vornimmt, nämlich etwas über 450 000 t. Ich bin dort hingefahren, um mich vor Ort zu überzeugen, wie dort gearbeitet wird, um bis zum Jahre 1989 die Dünnsäureverklappung wirklich zu beenden. Ich wollte mir darüber klarwerden, ob ich berechtigt ja dazu sagen kann, so daß man mir hinterher nicht vorwerfen kann, wir könnten nicht einhalten, was dort unterschrieben wird.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8395
Bundesminister Dr. Töpfer
Meine Damen und Herren, ich habe mir diese Firma in Duisburg nicht allein angesehen. Ich möchte doch sehr bitten, daß der Herr Abgeordnete Lennartz dies Frau Blunck mitteilt. Ich bin mit meinem Kollegen Matthiesen dort gewesen.
So interessant, notwendig und richtig es ist, daß der Kollege Heydemann hier war, so möchte ich doch auch den Kollegen Matthiesen einmal in diesem Hohen Hause sehen, wenn von mir immer wieder abverlangt wird, wir sollten mit der Dünnsäureverklappung sofort Schluß machen.
Ich möchte ihn einmal hier sehen, denn er hat neben mir am Pult gestanden und vor mir gesprochen. Er hat gesagt: Es trennt ihn von diesem Bundesumweltminister Töpfer nichts in der Frage der Titandioxidproduktion und es trennt ihn nichts von dem Vorgehen dieses Bundesumweltministers, hier nicht und in Europa nicht.
Dort haben wir es zum erstenmal erreicht, daß auch Frankreich und England in ein Vermeidungskonzept eingebunden sind und zum erstenmal tatsächlich investieren müssen. Bisher waren sie dazu nicht verpflichtet.
Der Kollege Matthiesen hat mir das mit Nachdruck so zugestanden. Ich habe überhaupt nirgends ein Hehl daraus gemacht, daß das ein vernünftiges Verfahren ist.
Nebenbei: Ich bin mir mit meinem Kollegen Remmers auf dem Gebiet ganz genau einig. Wir werden das im nächsten Jahr endgültig zu Ende gebracht haben, und wir werden die anderen gezwungen haben, ebenfalls zu investieren.
Meine Damen und Herren, die Sie wohl beide Diskussionen mitgemacht haben, binden Sie doch einmal die beiden Enden der Reden — heute Frau Abgeordnete Blunck, bei der letzten Aktuellen Stunde zu den Ergebnissen in Brüssel der Beitrag des Abgeordneten Lennartz zu Titandioxid — zusammen, und dann sagen Sie mir, was denn eigentlich von dieser Bundesregierung falsch gemacht wird! Das ist für meine Begriffe eine außerordentlich nachhaltige Angelegenheit.
Ein einziger Alleingang! Es ist gerade unter dem großen Beifall der SPD-Fraktion und des Abgeordneten Lennartz gesagt worden, dieser Bundesminister müsse sofort die Verbrennung auf hoher See einstellen.
Das hat Frau Abgeordnete Blunck gerade unter dem großen Beifall des Abgeordneten Lennartz hier gesagt.
Ich habe mal mitgebracht, aus welchen Bundesländern diese Abfallstoffe kommen. Nach wie vor ist der Bund keine abfallbeseitigungspflichtige Gebietskörperschaft, nach wie vor sind die Bundesländer für die Abfallbeseitigung zuständig.
Von den Abfällen, die auf hoher See verbrannt werden, kommen etwas über 20 % aus dem Bundesland Nordrhein-Westfalen. Ich habe mich wiederum mit dem Kollegen Matthiesen zusammengesetzt und gesagt: Was können wir denn tun? Er hat das gemacht, was ich als richtig empfinde. Er hat sich nämlich bereit erklärt, an Land Abfallverbrennungsanlagen zu bauen, gegen großen Widerstand und mit viel Kritik, aber auch mit der Unterstützung des Bundesumweltministers, auch vor Ort.
Alles andere, nämlich hier herzukommen und zu fordern: morgen verbietest du das Verbrennen auf hoher See, und dies dann in den Ländern nicht umzusetzen, bringt wirklich nichts. Wenn es etwas bringen soll, dann sollten wir doch die Ehrlichkeit untereinander behalten und uns klarwerden, daß es die Beendigung der Verbrennung auf hoher See erforderlich macht, daß in deutschen Bundesländern entsprechende Anlagen zur Behandlung dieser Stoffe gebaut werden. Das ist der entscheidende Punkt.
Dies ist jedenfalls der nächste nationale Alleingang.
Der dritte nationale Alleingang: Bis zur Stunde steht die Bundesrepublik Deutschland eindeutig an der Spitze der Länder, die ihre Gewässer reinhalten. Eine Anschlußquote von über 80 % bei der Biologie gibt es in Europa nicht wieder.
— Ich wollte dazu sagen: Wir wären etwas weiter, wenn es im Saarland nicht bei 50 % läge.
— Da haben sie völlig recht, das macht an dem großen Kuchen vergleichsweise wenig. Einverstanden.
— Da machen Sie im Erft-Kreis mehr. Einverstanden. Richtig. Vor Ort macht er das ja dann auch, aber hier kritisiert er das, was er vor Ort selbst macht.
Jetzt kommt der Hinweis, daß wir hier schon keinen Vergleich zu scheuen haben. Und das nennt man dann Nichthandeln der Bundesregierung, nachdem mir gerade bestätigt wird: Es gibt in Europa kein Land, das in der Gewässerreinhaltung weiter ist.
8396 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988
Bundesminister Dr. Töpfer
Aber wir bleiben nicht stehen, sondern gehen weiter und legen das fest, was die Bundesregierung festlegen kann, und zwar in Verwaltungsvorschriften nach § 7 a des Wasserhaushaltsgesetzes. Dazu ist sie verpflichtet, und das tut sie. Sie fordern doch immer von uns, daß wir Vorschriften, Verordnungen, Gesetze machen. Das haben wir getan, und die setzen wir jetzt um.
Wiederum an die leider nicht mehr anwesende Frau Abgeordnete Blunck gerichtet möchte ich festhalten
— ich mache ihr keinen Vorwurf daraus, ich stelle das nur fest — : Diese Entwicklung zur dritten Klärstufe kostet natürlich Geld. Wer will denn das bezweifeln? Aber sie kostet zwei Seiten Geld, und die Frau Abgeordnete Blunck sollte sich das endlich einmal merken. Von den insgesamt über 40 neuen Verwaltungsvorschriften, die wir machen, betrifft eine, Herr Abgeordneter Lennartz, die kommunalen Kläranlagen. Die restlichen 40 betreffen die Einleiter der Industrie.
Die Einleiter der Industrie zahlen auf Grund dessen, was wir vorlegen, etwa 18 Milliarden DM mehr für die Gewässerreinhaltung. Das ist die eindeutige Durchsetzung des Verursacherprinzips. Nicht eine Mark davon gehört in einen öffentlichen Haushalt. Vielmehr sind sie in den Budgets dieser Unternehmen zu finden.
Das ist verursacherorientierte Politik: 18 Milliarden DM! Da müssen Sie lange, lange Mark auf Mark im Haushalt legen, bis Sie diese 18 Milliarden DM haben.
Die erste, die allgemeine Verwaltungsvorschrift betrifft tatsächlich die kommunalen Kläranlagen. Diese kommunalen Kläranlagen nachzurüsten, kostet auch Geld. Im Phosphatbereich bei den Werten, die wir vorschlagen, 2 Milliarden DM. Nebenbei, Herr Abgeordneter Wolfgramm: Ich interpretiere Herrn Kollege Heydemann wohl richtig, wenn ich sage, daß das, was er bei Phosphat mit 30 Millionen DM im Jahr macht, etwa 15 % der Mittel sind, die aus dem Strukturhilfegesetz nach Schleswig-Holstein gehen.
Damit ist Ihre Frage beantwortet, Herr Abgeordneter Wolfgramm. Nach Schleswig-Holstein gehen nach dem Schlüssel, der vorliegt, 252 Millionen DM, und das sind etwa 15 %.
— Nein, pro Jahr.
— Wenn Herr Späth zustimmt.
Nebenbei, lieber Herr Abgeordneter Lennartz — vielleicht hilft Ihnen die Zahl auch etwas — : NordrheinWestfalen ist mit etwa 800 Millionen DM dabei,
damit Sie nur wissen, wieviel bei Ihnen 20 % sind, die Sie den Kommunen geben sollten, um damit auch bei den Kommunen Abwasserreinigung voranzutreiben.
Das, was Herr Kollege Heydemann hier gesagt hat, sind etwa die 15 % dieser Summe, die nach Schleswig-Holstein gehen.
Ich komme damit auf das zurück, was Sie und Frau Abgeordnete Hartenstein an anderer Stelle gesagt haben, daß es nämlich unfair sei, daß wir dazu kein Geld zur Verfügung stellen. Wissen Sie, wann es unfair wäre? Wenn ich mich nicht genauso hinstellen und sagen würde: Diese zusätzlichen Maßnahmen zur Phosphatfällung, zur Nitrifikation und Denitrifikation kosten pro Kubikmeter Abwasser je nach Ausgangslage in den Regionen zwischen 50 Pfennigen und 1 DM.
Ich füge hinzu: Ich halte es für richtiger, daß wir diese 50 Pfennige bis 1 DM pro Kubikmeter Abwasser direkt an den Bürger weitergeben — damit er sparsamer mit Wasser umzugehen lernt — , als daß wir das über die öffentlichen Haushalte wegsubventionieren. Das ist meine feste Überzeugung.
Ich gehe dort ebenfalls den verursacherbezogenen Weg.
Wenn wir uns dann einig sind, meine Damen und Herren, sollten Sie doch wenigstens einmal diese vordergründige Polemik weglassen, als hätten wir zur Finanzierung dieses Nordseeschutzprogramms nichts beigetragen.
Aber selbstverständlich! Wir haben den Weg eingeschlagen, den Sie von uns immer verlangen. Das Verursacherprinzip durchzusetzen ist ungleich schwerer, als sich über das Gemeinlastprinzip der öffentlichen Haushalte einen ruhigen Abgang zu verschaffen. Vor jedem Bürger haben wir das zu verantworten. Dies ist, glaube ich, ganz klar. Also, nationaler Alleingang auch auf diesem Gebiet.
Nationaler Alleingang, meine Damen und Herren, auch bei all den anderen Aufgabenfeldern, die wir haben. Das Abwasserabgabengesetz — ich sage das mit Blick etwa auf den Abgeordneten Baum und andere — ist und bleibt bis zur Stunde ein europäisches Unikat. Es gibt in Europa kein Abwasserabgabengesetz dieser Art. Wir gehen daran und machen dieses Abwasserabgabengesetz auch für die Aufgaben der Zukunft leistungsfähig, indem wir P und N als Abgabeparameter aufnehmen,
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Bundesminister Dr. Töpfer
indem wir die Gewichtungen der einzelnen Schadstoffe in dem Gesetz neu regeln, also die Frage: Wie hoch wollen wir CSB noch bewerten? Wie stark müssen wir es verändern? Es ist ja mehr, als nur zu sagen: Der Abgabesatz soll höher gehen. Vielmehr müssen wir das innere Paket, die Aufteilung zwischen den verschiedenen Abgabeparametern erstellen, damit die Steuerungswirkungen kommen, die wir damit reinsetzen, daß wir es eben nicht zum Stand der Technik erklären, sondern eine Anrechnung auf die nächsten zwei Jahre ermöglichen.
Alles dies, meine Damen und Herren, tun wir nicht, um hinter anderen herzulaufen, sondern wir haben auch auf diesem Gebiet des Gewässerschutzes eine Führungsrolle.
— Wenn Sie genau zugehört hätten, Herr Abgeordneter, hätten Sie bemerkt, daß ich im Zusammenhang mit dem Abwasserabgabengesetz den Abgeordneten Baum erwähnt habe.
— Wenn ich richtig informiert bin, ist das Abwasserabgabengesetz hinterher einstimmig verabschiedet worden.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schütz?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber gerne..
Bitte schön, Herr Schütz.
Herr Minister, Sie und auch Ihre Partei betonen immer, daß Sie ein Programm im Strukturhilfegesetz haben, wo Sie 240 Millionen DM zur Verfügung stellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, 2,4 Milliarden.
2,4 Milliarden in dem Zeitraum. — Aber ich frage mich und ich frage Sie, wo denn die rechtliche Verpflichtung für die Bundesländer ist, dieses Geld dafür auch auszugeben. Ich kenne wohl den § 3, in dem das steht — da stimme ich Herrn Göhner zu — , aber eine rechtlich bindende Handlungsanweisung für die Bundesländer ist nicht da.
Die zweite Frage, die dann damit zusammenhängt: Wo ist z. B. eine Bindung aus dem Strukturhilfegesetz für die Länder, die eine große Zahl von Chemiewerken haben wie z. B. Hessen und Baden-Württemberg? Wo ist die Bindung für die ganzen finanziellen Mittel, die sie haben wollen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die
Frage in bezug auf Hessen und Baden-Württemberg ist natürlich sehr berechtigt. Die können sich aus einem Topf, den sie nicht erreichen, nicht bedienen; das ist völlig richtig.
Aber es war einmal die Grundphilosophie, daß finanzschwache Länder unterstützt würden. Das hat doch im Umkehrschluß wohl die Erwartung, daß die anderen Länder diese Leistungen aus eigener Kraft erbringen können.
Zum zweiten, zu Ihrer Frage: Woher nimmst du die Gewähr, daß es dafür geht? — Zunächst einmal aus der Erkenntnis, daß die hohe Priorität des Umweltschutzes offenbar alle Parteien beflügelt und daß jede Regierung in einem Land daraus die Verpflichtung ableitet, auch tatsächlich diese Priorität zu nutzen, und zum zweiten auch und gerade daraus, daß dieser § 3 nicht an irgendeiner Stelle nur zufällig steht, sondern daß hinterher auch ein Beleg gebracht werden muß.
Lassen Sie mich ein Letztes dazu sagen — der Kollege Heydemann mußte ja nun weg — , zur Diskussion um die Gemeinschaftsaufgaben: Ich bin eine Zeitlang in einem Bundesland tätig gewesen, und ich weiß, daß es durchgehend über alle parteipolitischen Setzungen ein erklärtes Ziel der Bundesländer gewesen ist, die Finanzverflechtungen zwischen Bund und Ländern abzubauen. Deswegen ist die Krankenhausfinanzierung abgebaut worden. Das war genau der Zielpunkt aller Bundesländer, zu sagen: Gebt uns Geld, und die Prioritäten dafür, was wir mit dem Geld machen, können wir besser setzen als ihr oben in Bonn.
Es ist doch eine große Verlockung — Herr Abgeordneter, das ist doch ganz klar; stellen Sie sich das doch einmal vor — für einen Bundesminister, zu sagen: Jetzt habe ich ein Bund-Länder-Programm, und ich stehe mit auf dem Bauschild drauf, wenn die Kläranlage gebaut wird. Die Kläranlage, die jetzt in Rheinland-Pfalz oder in Nordrhein-Westfalen mit dem Geld des Strukturhilfefonds gebaut wird, hat alles, nur nicht ein Bauschild, auf dem steht: Der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit finanziert hier mit.
Wir haben den anderen Weg mit eingeschlagen, nicht weil er derjenige ist, der für die Bundesregierung am werbendsten wäre,
sondern weil wir vor der Finanzzuständigkeit und der Eigenverantwortlichkeit bei der Verausgabung von Geld durch die Bundesländer Respekt gehabt haben. Das ist der Punkt gewesen.
Es wäre mehr als traurig und mehr als schade, wenn alle, die die hohe Meinung haben, wir müssen im Umweltschutz und im Gewässerschutz vorankommen, und die Geld zur Strukturhilfe mit dieser Öffnung kriegen, dann sagen: Aber so war es nicht ge-
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meint, wir wollen das dafür nicht einsetzen. Dies wäre schon schlimm.
— Bitte?
— Ja, natürlich, die Bundesländer sind doch verpflichtet, zurückzumelden, was sie damit gemacht haben.
Also, meine Aussage: Das, was für die Nordsee gemacht wird, ist aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland eine Aneinanderreihung nationaler Alleingänge, ein Vorreiten vor anderen, die nicht so schnell vorankommen oder bei denen das Geld fehlt, es zu tun.
— Sie nehmen es direkt vorweg, Herr Abgeordneter Baum. Das geht bis zur Elbe. Auch hier wird es notwendig, daß wir einmal nachschauen, was vorher gesagt worden ist. Ich habe noch sehr genau im Ohr
— und ich habe es in der Zeitung gelesen —, wie man von uns erwartet hat, daß wir die Forderungen und die Erwartungen der DDR hinsichtlich der Elb-Grenze doch endlich einmal akzeptieren, damit wir in der Umweltpolitik bezüglich der Elbe weiterkommen.
Und wir haben immer gesagt: Die Gemeinsamkeit im Umweltschutz über die innerdeutsche Grenze hinweg muß für beide Seiten einen höheren Stellenwert haben als andere politische Verbindungen. Genau dies ist eingetreten.
Wir sind ohne jede Vorbedingung in der Lage, mit der DDR heute über Umweltpolitik zu sprechen. Wir sind ohne jede Vorbedingung natürlich dafür, daß sich diese Schwerpunkte an der Elbe niederschlagen müssen. Durch eine stabile wirtschaftliche Situation der Bundesrepublik Deutschland erarbeiten wir die wirtschaftlichen Verhältnisse, die es uns ermöglichen, auch dort finanziell zu helfen. Auch dies ein neuer Beitrag in diesem Bundeshaushalt: daß wir Pilotverfahren in der DDR entsprechend machen können.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen: Wir sind in dieser Frage in großer Gemeinsamkeit angetreten. Mein Dank war und ist nach wie vor bei allen Fraktionen dieses Hohen Hauses, wenn ich mich an das zurückerinnere, was wir in der Vorbereitung zur 2. Nordseeschutzkonferenz getan haben.
Hier haben wir die Marschroute einstimmig abgestimmt, von hier aus sind wir — gestärkt durch die Bundesländer und die einstimmige Meinung dieses Hohen Hauses — nach London gegangen. Und ich
glaube, das hat gut geholfen, ein Stück voranzukommen.
Ich glaube, wir sollten uns sehr genau überlegen, ob es nicht auch möglich wird, angesichts dieser großen Herausforderung der Rettung von Nord- und Ostsee wieder zu dieser Gemeinsamkeit zurückzukommen, auch wenn der eine oder andere etwas zugeben muß oder wenn auch der eine oder andere berechtigte Kritik einzustecken hat. Ich bin hier nicht hergekommen, weil ich besorgt wäre, ich wäre zu Unrecht kritisiert worden, sondern ich bin hier hergekommen mit der klaren Zielsetzung, einen Beitrag dazu zu leisten, daß wir — wie vor der Nordseeschutzkonferenz — in Gemeinsamkeit wieder weiter Umweltpolitik für diese bedeutsamen ökologischen Systeme betreiben.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Göhner.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Nach der politischen Rhetorik einiger Vorredner, vor allem des Kollegen Lennartz und von Frau Blunck,
muß man den Eindruck haben, als ob im Bereich des Gewässerschutzes alles streitig sei und die Opposition in allen Bereichen nun weiterreichende, schneller umzusetzende Vorstellungen habe.
Indes: Bei genauerem Hinsehen, Herr Kollege Lennartz, stellt sich heraus, daß wir in diesem Jahr eine Reihe von wichtigen Eckpunkten zum Gewässerschutz im Ausschuß, einstimmig beschlossen haben. Nicht nur vor der Nordseeschutzkonferenz — Minister Töpfer hat gerade darauf hingewiesen — , sondern auch danach haben wir — übrigens, Herr Wolfgramm war es, der darauf hingewiesen hat — im April dieses Jahres über zwei Seiten zu Fragen des Nordseeschutzes dezidiert Stellung genommen — einstimmig beschlossen — , indem wir die Ergebnisse dort begrüßt haben, das Verhalten der Bundesregierung an keiner Stelle rügen mußten, weil sich die Bundesregierung an das gehalten hat, was wir als Ausschuß vorher vorgegeben hatten.
Als Minister Töpfer im Juni in der letzten Sitzung des Umweltausschusses vor der Sommerpause sein Zehnpunkteprogramm vorgelegt hat, da war die Reaktion im Ausschuß auf allen Seiten, GRÜNE eingeschlossen: Beachtlicher Schritt, richtige Richtung. Der Kollege Kiehm, der nun wirklich etwas vom Wasserrecht versteht, Herr Kollege Lennartz, hat darauf hingewiesen, daß dies in einigen Punkten außerordentlich beachtlich sei.
Herr Kollege Lennartz, Sie haben gerade in der letzten Aktuellen Stunde davon gesprochen, der Umweltminister müsse auch einmal bereit sein, Risiken einzugehen. Wollen wir uns doch bitte einmal in Erinne-
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Dr. Göhner
rung rufen, daß Herr Töpfer in dieses Zehnpunkteprogramm Ende Juli ohne jegliche Vorabstimmung mit den Bundesländern Positionen hineingeschrieben hat, die wenige Wochen zuvor von den Bundesländern, und zwar selbstverständlich von den SPD-Bundesländern, gerade zurückgewiesen worden waren. Das ist damals im Umweltausschuß entsprechend gewürdigt worden.
Aus dieser Diskussion der positiven Stellungnahme aller Fraktionen zum Zehnpunkteprogramm in der letzten Umweltausschußsitzung vor der Sommerpause resultierte dann auch meine Anregung,
über die Sommerpause den Versuch zu machen, eine gemeinsame Resolution zu den Fragen des Gewässerschutzes zustande zu bringen. Dabei war einvernehmlich, daß das Papier Töpfer Grundlage sein sollte. Dann hat es Berichterstatterrunden gegeben — das darf ich einmal in Erinnerung rufen — und ein Papier aus dem Bundesumweltministerium ist Grundlage dafür gewesen. Dabei lagen wir in wichtigen Fragen ganz nahe zusammen. Dann ist das passiert, was der Kollege Carstensen hier gesagt hat. Ich will das nicht wiederholen, aber doch festhalten, daß wir nur durch das entschlossene und verdammt mutige, mit großem politischem Risiko behaftete Vorgehen von Herrn Töpfer mit seinem Zehnpunkteprogramm einen ganz wesentlichen Fortschritt verzeichnen konnten.
Tatsache ist doch, daß bei den Verwsaltungvorschriften zu den Vorgaben für kommunale Kläranlagen die Bundesländer, die kommunalen Spitzenverbände Anfang des Jahres noch bei uns auf der Matte standen, überall, in allen Fraktionen und bei Ihnen doch auch. Von seiten der SPD-Fraktion ist vorher zu keinem Zeitpunkt, ebenso wie von keinem SPD — geführten Bundesland das gefordert worden, was zu diesem Thema dann im Zehnpunkteprogramm Töpfer stand. Das ist die Wahrheit, und die sollten Sie auch wirklich berücksichtigen.
Nun wird von Herrn Minister Heydemann ein ganz neuer Vorschlag gemacht mit einer Gemeinschaftsaufgabe Abwasserreinigung. Ich denke, das Instrument der Gemeinschaftsaufgabe, so problematisch es im Grundsatz sein mag — Herr Töpfer hat darauf hingewiesen — , könnte für bestimmte Bereiche im Umweltschutz noch einmal fruchtbar gemacht werden, nämlich da, wo durch gemeinsame Finanzierung von Bund und Land etwas bewegt werden muß, weil keine Verursacher da sind, die man heranziehen kann. Beispielsweise könnte ich mir sehr wohl beim Thema Altlasten eine Initiative Gemeinschaftsaufgabe vorstellen, weil wir da Umweltprobleme in einem Bereich haben, wo zum Teil keine Verursacher mehr zu fassen sind.
Aber beim Abwasser, liebe Kollegen und Kolleginnen, haben wir nun wirklich einen klassischen Bereich, wo wir die Verursacher zu den Kosten der Beseitigung von Umweltbelastungen heranziehen können. Wir haben über das Gebühren- und Beitragswesen in allen Bundesländern die gesetzlichen Grundlagen, um kostendeckend über Gebühren und Beiträge das zu finanzieren, was an Investitionen zum Umweltschutz notwendig ist. Deshalb kann ich nur sagen: Wann immer von den hohen Kosten in diesem Bereich die Rede ist, wir haben alle, und zwar alle Parteien, in unseren umweltpolitischen Sonntagsreden das Verursacherprinzip im Munde und sagen: Umweltschutz kostet Geld, und die Verursacher müssen herangezogen werden! Dann muß dies zu allererst in einem Bereich gelten, in dem die Kosten ausschließlich verursacherbezogen umgelegt werden können.
Ich fand es auch sehr richtig, daß im Sommer dieses Jahres einmal überschlägig berechnet worden ist, was dies für die Verursacher, für die Industrie kostet; beispielsweise allein all das, was sich aus Phosphatfällung, Nitrifizierung und Denitrifizierung an Kosten und damit für eine Gebührenerhöhung ergeben wird und auch was es für jeden einzelnen privaten Bürger kosten würde, damit wir dies bei unseren politischen Forderungen in Erinnerung haben.
Deshalb glaube ich, daß die Forderung nach einer Gemeinschaftsaufgabe gerade in diesem Bereich eine Verletzung, ja, sozusagen eine planmäßige, übrigens nur mit einer Verfassungsänderung einzuführende Abweichung vom Verursacherprinzip wäre. Das wird es mit der CDU/CSU sicher nicht geben. Gerade für den Bereich der kommunalen Kläranlagen gilt, daß wir das, was an Investitionen notwendig ist, gebührenbezogen umlegen müssen.
Vor diesem Hintergrund erscheint mir die von uns gewollte Novellierung des Abwasserabgabengesetzes, die wir im Dezember 1986 bei der damaligen Novellierung des Abwasserabgabengesetzes für diese Wahlperiode bereits im Auge gehabt haben, geeignet, einen weiteren wirtschaftlichen Anreiz zu schaffen, um diesen Prozeß zu beschleunigen.
Aber auch gilt selbstverständlich: Auch wenn die Verwaltungsvorschriften heute für bestimmte Kläranlagen noch keine Phosphatfällung, keine Nitrifizierung und Denitrifizierung verbindlich vorschreiben, ist selbstverständlich keine Kommune, kein Land, kein Landkreis, Herr Lennartz, Herr Landrat, gehindert, in diesem Bereich etwas für den Umweltschutz zu tun. Ich meine: Wer immer sagt, das, was der Herr Töpfer zu diesem Bereich vorschlägt, ist zu wenig und zu langsam, der muß den Nachweis bringen, daß er zu Hause zu dem bereit ist, mehr zu tun, was diese Verwaltungsvorschriften selbstverständlich zulassen.
Nun haben Sie, Herr Lennartz, in Ihrem Antrag zum Abwasserabgabengesetz nicht nur zu den von allen Seiten dieses Hauses unstreitig gewünschten neuen Abgabeparametern Stickstoff und Phosphor, sondern auch zum Abgabensatz Vorschläge gemacht. Auch
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Dr. Göhner
die Koalitionsfraktionen sagen: Wir wollen eine Erhöhung; das ist das Ziel der Überprüfung.
— Wir werden den Beweis dafür antreten. Über die Höhe müssen wir sehr genau nachdenken.
Das ist nämlich nicht so einfach mit Schnellschuß zu beantworten, weil man die genaue Wirkung beurteilen muß.
— Die Streubreite? Ja, aber, Herr Lennartz, nun muß ich Ihnen einmal sagen: Ihre Streubreite ist wirklich gewaltig. Sie schreiben in Ihrem Antrag: Jedes Jahr 10 DM Erhöhung auf den Abgabensatz; jedes Jahr, ohne zeitliche Begrenzung. Im Ausschuß haben Sie dann gesagt: 5 Jahre. Fünf Jahre bedeuten eine Erhöhung der Abwasserabgabe um 120 %, und zwar nicht nur bei Phosphor und Stickstoff, sondern generell.
Ich sage Ihnen voraus, Herr Lennartz: Das wird kein SPD-Bundesland unterstützen, es sei denn, es ist zu sehen, daß Ablehnung gesichert ist. Denn in Wahrheit würde das den Kommunen und anderen, die Abwasserabgabe zu zahlen haben, wirklich die letzten Investitionsmittel rauben, die man für diesen Bereich braucht. Also das entspricht nicht Ihrem Programm „Arbeit und Umwelt" , sondern mehr Ihrem Programm „Abgaben und Umverteilung".
Wenn Sie eine so drastische Erhöhung des Abgabensatzes wollen, sage ich Ihnen: Bei der letzten Anhörung zum Abwasserabgabengesetz, die wir im Ausschuß hatten, nämlich bei der Novellierung von 1986, gab es keinen Sachverständigen, und ich kenne auch sonst keinen einzigen Sachverständigen, auch keinen der von Ihnen bestimmten und geladenen, der nicht sagen würde: Mit einer Erhöhung um 120 % haben Sie total überzogen und liegen Sie völlig neben der Sache; da sind Sie in Sachen Umweltschutz kontraproduktiv.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidbauer?
Das würde ich nie ablehnen.
Bitte schön.
Herr Kollege Göhner, wenn die SPD diese Erhöhung der Abwasserabgabe fordert, sollte man dann nicht darauf aufmerksam machen, daß das keine Rolle spielt für ein Land, das wie das von der SPD regierte Saarland, gar keine Abwasserabgabenbescheide verschickt und auf diese Abgabe verzichtet? Dann läßt sich hier natürlich sehr leicht über eine möglichst kräftige Erhöhung diskutieren.
Herr Kollege Schmidbauer, ich bin Ihnen dankbar. Aus dem Saarland könnte man zu diesem Bereich eine Menge Beispiele bringen. Auch Herr Töpfer hat darüber schon etwas berichtet.
Ich möchte abschließend nur noch drei Sätze zum Problembereich Landwirtschaft und Gewässerschutz sagen.
Neben den kommunalen Kläranlagen spielt zweifellos die Landwirtschaft eine erhebliche Rolle bei der Belastung unserer Gewässer mit Nährstoffen, vor allem bei Stickstoff und wohl auch bei Phosphor.
Herr Heydemann hat hier von seinem Uferrandstreifenprogramm berichtet. Ich stelle nur fest: Wir haben bei der Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes im Jahr 1986 ausdrücklich im Gesetz die Möglichkeit eröffnet, Schutzgebiete zum Schutz des Grundwassers auch dort auszuweisen, wo keine Trinkwassergebiete sind. Das soll neu angewendet werden. Wenn sich jetzt ein Bundesland beschwert, daß in diesem Bereich intensiver Landwirtschaft im Uferrandstreifen eine zu hohe Nährstoffbelastung besteht, stelle ich fest: Ob Schleswig-Holstein oder ein anderes Bundesland, ob Rhein, Weser oder Elbe, kein einziges Bundesland hat bisher auch nur den Versuch gemacht, diese neue gesetzliche Ermächtigung, die gerade diesen Zweck hat, in die Praxis umzusetzen.
Deshalb sage ich auch hier: Bevor wir schon wieder nach neuen Gesetzen für diesen Bereich rufen, müssen wir darauf drängen, daß diese wichtigen Fortschritte endlich in den Bundesländern angewendet werden.
Danke sehr.
Mir ist gesagt worden, daß es keine weiteren Wortmeldungen gibt. — Dann schließe ich die Aussprache kurz vor Beendigung der möglichen Redezeiten.
Wir kommen zuerst zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Protokoll vom 26. März 1986 zur Änderung des Übereinkommens vom 4. Juni 1974 zur Verhütung der Meeresverschmutzung vom Lande aus.
Ich rufe das Gesetz mit seinen Artikeln 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. Wir machen das in einer Runde. Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist dieses Gesetz angenommen worden.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der SPD — Notwendige Änderungen des Abwasserabgabengesetzes — an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Da gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu einer Vorlage der Europäischen Gemeinschaft. Es handelt sich um den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Wasserqualitätsziele für Chrom auf Drucksache 11/1129.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1988 8401
Vizepräsident Westphal
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 5 d, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3666. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist dieser Änderungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu verschiedenen Anträgen, die sich alle auf die Rettung der Nord- und der Ostsee beziehen. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/3299 unter I die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Entschließung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Entschließung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.
Der Ausschuß empfiehlt weiter auf Drucksache 11/3299 unter II, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2425 für erledigt zu erklären. Es handelt sich um Maßnahmen zur Rettung der Nordsee und der Ostsee. Wer stimmt für diese Erledigterklärung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einer Stimmenthaltung ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Der Ausschuß empfiehlt darüber hinaus auf Drucksache 11/3299 unter II den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/2457 für erledigt zu erklären. Es geht um Algenmassenentwicklung und Seehundsterben in Bereichen der Nord- und Ostsee. Wer stimmt für diese Erledigterklärung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Der Ausschuß empfiehlt des weiteren auf Drucksache 11/3299 unter II, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2399 abzulehnen. Es geht um ein Notprogramm gegen das Nordsee- und Ostseesterben. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Keine. Dann ist die Beschlußempfehlung mit der Stimmenmehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Der Ausschuß empfiehlt im übrigen auf Drucksache 11/3299 unter II, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2426 abzulehnen. Da geht es um eine konzertierte Aktion zur Rettung der Nordsee und der Ostsee. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion der GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 8. Dezember 1988, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.