Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf zunächst Bundesminister Dr. Stoltenberg herzlich zum 60. Geburtstag gratulieren.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt.
Es besteht interfraktionell — —
— Vielleicht kann man die Lautsprecher ausschalten.
Meine Damen und Herren, es dauert etwa zehn Minuten, bis die Technik wieder in Ordnung ist. Ich unterbreche die Sitzung für zehn Minuten. Um 9.15 Uhr versuchen wir es noch einmal.
Meine Damen und Herren, die Technik funktioniert wieder. Herzlichen Dank.
Ich hatte eben schon einmal mitgeteilt, daß nach einer interfraktionellen Vereinbarung die Tagesordnung erweitert werden soll. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Rechtliche Situation von Frauen im Zusammenhang mit dem § 218 StGB
2. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Beschäftigungswirksamer Solidarbeitrag — Drucksache 11/3010 —
3. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes und zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand — Drucksache 11/2990 —
4. Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Plebiszit in Chile
zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Plebiszit in Chile
zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN: Plebiszit in Chile — Drucksachen 11/2501, 11/2244, 11/2333, 11/2983 —
5. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wittmann, Marschewski, Dr. Hüsch, Eylmann, Dr. Langner, Seesing, Geis, Hörster und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Kleinert , Funke, Irmer und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren — Drucksache 11/2991 —
Des weiteren besteht interfraktionell Einvernehmen darüber, die heutige Tagesordnung mit der zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes zu beginnen. Die Beratung der Großen Anfrage zur Auseinandersetzung um die Inbetriebnahme des Schnellen Brüters soll nach Punkt 3 der Tagesordnung aufgerufen werden. Das Haus ist damit einverstanden? — Es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, es liegt ein Geschäftsordnungsantrag des Herrn Abgeordneten Wüppesahl vor. Herr Abgeordneter Wüppesahl hat eine Umstellung der heutigen Tagesordnung beantragt. Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort zur Geschäftsordnung.
Schönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
— Ich seit halb sechs, ich bin nämlich aus Hamburg angereist.
Ich möchte zu Tagesordnungspunkt 23 sprechen: Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht. Sie alle wissen, was sich dahinter verbirgt, nämlich meine Organstreitklage zur Besserstellung von uns allen, von allen Einzelabgeordneten im Deutschen Bundestag bei der Wahrnehmung der Rechte.Bevor ich dazu spreche, eine kurze Vorbemerkung. Eben huschte durch den Plenarsaal das Gerücht, daß vielleicht ich die Zwangspause hervorgerufen haben könnte. Ich denke, die Frage müßte schnellstens geklärt werden, wer von den Geschäftsführern versucht
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Wüppesahlhat, zu verhindern, daß jetzt die Besserstellung der Einzelabgeordnetenrechte möglichst schnell auf den Weg gebracht wird,
weil vor allen Dingen die Geschäftsführer ein massives Interesse daran haben, ihre vorhandene Machtfülle nicht angeknabbert zu sehen.
Herr Kollege, Sie haben fünf Minuten Redezeit zur Geschäftsordnung. Wenn Sie bitte zur Sache sprechen würden.
Das war, wie gesagt, die Vorbemerkung.
Ich komme jetzt zur Sache, wobei die Vorbemerkung indirekt auch zur Sache gehört. Es ist ausgeführt worden, daß man zu dem laufenden Verfahren nach Möglichkeit nicht Stellung nehmen sollte; auch dies wurde eben u. a. kolportiert. Ich bin der Auffassung, daß gerade beim laufenden Verfahren in seinem jetzigen Stadium noch eine viel elegantere Lösung, und zwar die angemessene Lösung möglich wäre, nämlich die politische Behandlung des Themas und nicht die juristische. Im Grunde müßte es überflüssig sein, daß ich mit diesem Anliegen nach Karlsruhe gehen muß, wenn im Deutschen Bundestag sachgemäß entsprechend den Vorgaben unserer Verfassung die Geschäftsordnung, auf deren Grundlage wir alle arbeiten, ausgeformt werden würde.
Ich bin auch nicht der Auffassung — Sie wissen, daß ich jetzt gleich beantrage, die Debattendauer bei diesem Tagesordnungspunkt auf 60 Minuten zu verdoppeln —, daß dies im Verhältnis zu anderen Punkten unangemessen ist, mit denen wir uns hier z. B. 30 Minuten befassen. Hier geht es nämlich nicht um ein einziges Problem — da gibt es ganz, ganz viele wichtige Einzelprobleme — , sondern hier geht es um die Grundlinie unserer Politik überhaupt, um die Art und Weise, wie wir Politik machen können, wie sich Abgeordnete in das Gesetzgebungsverfahren, in den Meinungsbildungsprozeß einbringen können, der am Ende immer die Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch eine Novellierung der Gesetzeslage nach sich ziehen soll.
Aus diesen Gründen und natürlich noch vielen, vielen mehr stelle ich meinen Antrag. Sie kennen durch die Diskussion während der Geschäftsordnungsdebatten und zum Teil in der Rechtsausschußsitzung, die sich über zwei Stunden in der Tat sehr fundiert mit diesem Thema befaßt hat, inzwischen die darüber hinaus vorhandenen Argumente.
Ich beantrage also zur Geschäftsordnung, daß — erstens — Tagesordnungspunkt 23 ein vom Tagesablauf her angemessener Platz zugeordnet wird. Er ist zur Zeit als letzter Tagesordnungspunkt heute abend für 20.50 bis 21.15 Uhr angesetzt. Ich würde es begrüßen, daß wir uns damit morgen früh, also Freitagvormittag befassen können, weil dann auch die Aufmerksamkeit nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch bei uns — Sie wissen, wie das heute abend aussehen wird — besser sein wird.
Herr Abgeordneter, sie stellen also einen Antrag auf Umstellung der Tagesordnung?
Richtig. Und zweitens, Frau Präsidentin, beantrage ich aus den bereits genannten Gründen die Verdoppelung der Redezeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Bötsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als einer der angeblich mit so großer Machtfülle ausgestatteten Fraktionsgeschäftsführer — als Altbayer, Herr Kollege Wüppesahl, würde ich sagen: Wenn's bloß so war! — darf ich bitten, den Antrag abzulehnen.
Erstens. Ich glaube, angesichts der Fülle der Probleme, die wir in diesem Bundestag zu debattieren haben, und angesichts der Zeit, die für die einzelnen Punkte zur Verfügung stehen, ist die Zeit von 30 Minuten, die wir für diesen Tagesordnungspunkt vereinbart haben, durchaus angemessen.
Zweitens. Was den Zeitpunkt anlangt, zu dem wir debattieren, so muß man grundsätzlich feststellen: Alle Debattenzeitpunkte sind grundsätzlich gleichwertig, gleichgültig, ob früh um 9 Uhr oder abends um 21 Uhr. Ich gebe zu, der Redaktionsschluß ist zu einer anderen Zeit. Und das ist der eigentliche Grund.
— Die können wir auch einmal abends um 9 machen. Warum eigentlich nicht? Das macht uns überhaupt nichts aus. — Bei der Belastung, die wir alle hier haben, ist es natürlich das Interesse vieler Kollegen. Einmal sagen die Kollegen im Rechtsausschuß, einmal die im Auswärtigen Ausschuß: Uns wäre es an dieser oder jener Stelle lieber. Das kann man nicht alles berücksichtigen.
Deshalb bitte ich, so zu verfahren, wie wir interfraktionell vereinbart haben. Ich schlage vor, es bei dem vorgesehenen Ablauf der Tagesordnung zu belassen. Ich bitte deshalb, die Anträge abzulehnen.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Jahn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bitte ebenfalls, den Antrag abzulehnen. Wir dürfen nicht der Versuchung erliegen, unsere Tagesordnung nächstens so zu gewichten, daß
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6571
Jahn
zu bestimmten Zeiten das, was dort beraten wird, nichts mehr wert ist.
Denn dann könnten wir unsere Arbeit hier überhaupt nicht mehr ordentlich vollbringen. Die Tagesordnungspunkte sind gleichwertig, von der ersten bis zur letzten Stunde. Daran müssen wir festhalten, weil wir anders überhaupt nicht mehr sachlich zusammenarbeiten könnten.Was die Dauer der Debatte anbelangt, meine Damen und Herren: Man kann das, was man in der Sache notwendigerweise loswerden will, auch in einer Runde von fünf Minuten loswerden. Dabei hat der Abgeordnete Wüppesahl noch einen Vorzug. Er darf für sich allein, als einzelner, genauso lange sprechen wie große Fraktionen mit 200 Abgeordneten.
Ich finde, er hat gar keinen Grund, sich hier zu beschweren. Es gibt keinen Grund, an der verabredeten Tagesordnung etwas zu ändern.
Danke sehr, meine Damen und Herren. Ich lasse abstimmen.
— Herr Wüppesahl, noch mal? Wieso denn? Es ist zur Geschäftsordnung gesprochen worden, dafür und dagegen. Damit ist der Fall erledigt. — Danke schön. Außerdem hatte ich schon zur Abstimmung aufgerufen.
Wer dem Antrag auf Umstellung der Tagesordnung zustimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Gegen einige Stimmen der GRÜNEN ist dieser Antrag abgelehnt.
Meine Damen und Herren, wir stimmen jetzt über den Antrag auf Verdoppelung der Debattendauer ab. Wer stimmt diesem Antrag zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe jetzt den Punkt 4 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes
— Drucksache 11/2384 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 11/2974 —
Berichterstatter: Abgeordnete Regenspurger
Frau Hämmerle Richter
Frau Schmidt-Bott
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/2975 — Berichterstatter:
Abgeordnete Deres Kühbacher
Dr. Weng Kleinert (Marburg)
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wilz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der Wiedereinführung der Weiterverpflichtungsprämie wollen wir einen zusätzlichen Anreiz für unsere jungen, gut ausgebildeten Soldaten schaffen, ihr erlerntes Wissen und Können der Bundeswehr länger zu erhalten. Dies ist zugleich eine richtige und zukunftsorientierte Maßnahme im Hinblick auf die geburtenschwachen Jahrgänge in den 90er Jahren. Wir setzen damit konsequent eine Politik fort, die zum Ziel hat, den Bedarf an 206 000 Grundwehrdienstleistenden und 250 000 längerdienenden Soldaten sicherzustellen. Dies ist jedenfalls aus heutiger Sicht zwingend notwendig, um die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik zu gewährleisten.Wir, die CDU/CSU, werden uns nicht beirren lassen, alles Erforderliche zu tun, um weiterhin in Frieden und Freiheit leben zu können. Durch Beschlüsse des Deutschen Bundestages und ergänzende Entscheidungen der Bundesregierung seit 1984 soll der Friedensumfang der Streitkräfte durch ein ganzes Bündel von gezielten Maßnahmen auch für die Zukunft gesichert werden. Bei den Wehrpflichtigen nenne ich nur beispielhaft die Verbesserung der Wehrgerechtigkeit und die Verlängerung der Dauer des Grundwehrdienstes.Aber dies allein reicht nicht. Gerade auch der Personalbestand an längerdienenden Soldaten muß in dem gebotenen Umfang gehalten werden. Klagen allein nutzt nichts, wir müssen handeln. Das haben wir getan. Ich stelle hier ausdrücklich fest, daß die Weiterverpflichtungsprämie ein notwendiger Beitrag in unserem Bemühen ist, auch zukünftig funktionsfähige Streitkräfte sicherzustellen. Sie ist ein wichtiger Mosaikstein auf dem erfolgreich eingeschlagenen Weg, die Bundeswehr noch attraktiver zu gestalten.In diesem Zusammenhang bleibt es entscheidend, über einen Berufsförderungsdienst zu verfügen, der gut und wirksam arbeitet, und auch da haben wir, wie ich heute feststellen kann, mit gutem Erfolg gehandelt. Auf diesem Wege werden wir fortfahren.Gleichermaßen haben wir uns der längst überfälligen Lösung des Verwendungsstaus angenommen. Bei den Truppenoffizieren sind wir nicht zuletzt durch das Personalstrukturgesetz bereits auf einem guten Weg. Bei unseren Feldwebeln und Offizieren des militärfachlichen Dienstes bedarf es noch weiterer, also zusätzlicher, Anstrengungen. Die CDU/CSU ist dazu bereit; das beweisen auch unsere Haushaltsanträge.Ich erinnere ferner an weitere Verbesserungen im sozialen Bereich, die wir zugunsten der Soldaten und
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Wilzihrer Familien gefordert haben. Auch eine neue Dienstzeitregelung wird zu einer Besserstellung führen. Dennoch möchte ich noch einmal betonen: Die Weiterverpflichtungsprämie ist nicht als Alternative zu den vorher genannten Verbesserungsmaßnahmen zu sehen. Im Gegenteil, nur das Zusammenwirken des ganzen Maßnahmenbündels kann und wird zu dem beabsichtigten Erfolg führen.Unabhängig davon möchte ich es an dieser Stelle nicht versäumen, allen Soldaten meinen Dank auszusprechen, die ihren Dienst unter oft schwierigen Bedingungen zu versehen haben. Ausdrücklich beziehe ich ihre Familien mit in diesen Dank ein, weil sie viele Belastungen auf sich zu nehmen haben. Ihnen allen zollen wir großen Respekt, weil sie einen wichtigen Beitrag für die Sicherheit unseres Landes leisten.
Jährlich verlassen ca. 25 000 längerdienende Soldaten die Bundeswehr. Mit ihrem Ausscheiden ist ein nicht unbeträchtlicher Verlust an gut ausgebildetem Personal verbunden. Das muß sich ändern. Im Klartext: Wir werden alles daransetzen, insbesondere unsere guten Unteroffiziere für einen weiteren Dienst in der Bundeswehr zu gewinnen. Dazu soll und wird die Weiterverpflichtungsprämie beitragen. Wir halten es für angemessen, daß Unteroffiziere und Mannschaften jährlich eine Prämie von 1 500 DM erhalten, wenn sie bereits vier Jahre gedient und sich für mindestens zwei weitere Jahre verpflichtet haben.Im übrigen sei angemerkt, daß diese Regelung auch unter Kostengesichtspunkten ihre Vorzüge hat. Es ist allemal teurer, neues Personal qualifiziert auszubilden, als bewährte Soldaten auch mit Hilfe der Prämie zum Verbleib in der Bundeswehr zu gewinnen.CDU/CSU und FDP haben in den beteiligten Ausschüssen den Gesetzentwurf gegen die Stimmen der SPD-Fraktion durchgesetzt. Im Verteidigungsausschuß glänzten die GRÜNEN leider wie so oft durch Abwesenheit. Was Sie, meine Damen und Herren von der SPD, angeht, ist es bezeichnend, daß Sie sich wieder einmal der Verantwortung entzogen haben, in der auch Sie gegenüber unseren Soldaten stehen. Statt dessen lassen Sie keine Gelegenheit aus, die Streitkräfte in der Öffentlichkeit ins Gerede zu bringen. Beenden Sie Ihr Gerede von Krise und Kälte in der Bundeswehr. Hören Sie endlich auf, Soldaten und Öffentlichkeit zu verunsichern. Beteiligen Sie sich lieber an der Lösung vorhandener Probleme.Wir, die CDU/CSU, stehen zu unserer Bundeswehr. Wir werden nicht nachlassen in unserem Bemühen, gemeinsam mit unseren Soldaten den Frieden in Freiheit zu sichern.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hämmerle.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um den Personalbedarf der Streitkräfte bei einem Rückgang der Bewerberzahlen infolge der geburtenschwachen Jahrgänge zu decken, will die Bundesregierung durch diesen Gesetzentwurf erstens Zeitsoldaten, Mannschaften und Unteroffizieren eine Weiterverpflichtungsprämie von 1 500 DM pro Jahr der Weiterverpflichtung zahlen, sofern sie sich für mindestens zwei Jahre weiterverpflichten. Dies soll vorerst nur für Zeitsoldaten gelten, die sich schon für mindestens vier Jahre verpflichtet haben. Zweitens sollen gegebenenfalls bei nicht ausreichendem Bewerberaufkommen auch Erstverpflichtungsprämien an ungediente Bewerber gezahlt werden; so steht es im Entwurf.Dieser zweite Punkt ist durch eine Beschlußempfehlung des Innenausschusses vom 21. September 1988 bereits aus der Debatte genommen worden. Ich sage hier als Berichterstatterin, daß auf dem Bericht ein falsches Datum steht. Es muß geändert werden in: 21. September 1988.Meine Damen und Herren, ich erkläre hier für die SPD-Fraktion, daß wir auch der noch verbliebenen Forderung einer Weiterverpflichtungsprämie nicht zustimmen werden. Ich begründe die Ablehnung in kurzen Zügen wie folgt:Erstens. Die SPD-Fraktion weist seit Jahren darauf hin, daß die Bundesregierung mit einer Zahl von 495 000 Mann den Personalbedarf bei der Bundeswehr zu hoch ansetzt. Ich sage dies hier auch im Zusammenhang mit dem Besoldungsgesetz mit Nachdruck, weil wir glauben, daß dieser Punkt unter dem Aspekt der Abrüstung und der Rüstungskontrolle immer wieder angesprochen werden muß.Zweitens. Verpflichtungsprämien müssen in unseren Augen als untaugliches und kurzsichtiges Mittel zur Personalgewinnung angesehen werden; denn es ist doch zumindest fraglich, ob die so gewonnenen Soldaten tatsächlich diejenigen sind, die sich die Bundeswehr wünscht.Folgendes Resultat kann sich aber einstellen: Junge Männer, die nach Inkrafttreten des Gesetzes die Absicht haben, sich auf sechs bis 15 Jahre zu verpflichten, werden zunächst nur für vier Jahre unterschreiben, um danach die Prämie zu erhalten. Einmalige Zahlungen bewirken einmalige Zufriedenheit; sekundäre Motivation, sagen die Psychologen dazu. Aber es ist ohne Langzeiteffekt.
Einen Langzeiteffekt kann man mit demselben finanziellen Aufwand viel wirksamer erreichen, wenn die Mittel für eine attraktive Gestaltung des Dienstes für eine strukturelle Weiterentwicklung eingesetzt würden.An dieser Stelle möchte ich für die SPD-Fraktion den Soldaten in der Bundeswehr unseren Dank aussprechen, daß sie trotz der schlechten Arbeitsbedingungen ihren Dienst versehen.Zur strukturellen Weiterentwicklung wären in unseren Augen z. B. der Wegfall der Besoldungsgruppen A 1 und A 2 für Soldaten, die Hebung bestehender Stellen und vieles andere zu nennen, vor allem aber die Einführung einer gesetzlich geregelten Dienstzeit mit Ausgleich in Freizeit oder Geld für Überstunden.
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Frau HämmerleAls weiteren Grund für die Ablehnung möchte ich hier anführen, daß wir nicht glauben, daß 1 500 DM jährlich einen Zeitsoldaten mit 45 bis 60 Wochenstunden Dienstzeit Mitte der 90er Jahre zur Verlängerung motivieren, wenn seine Kollegen in der freien Wirtschaft unter 40 Stunden arbeiten werden.Unattraktiv wird der Dienst in der Bundeswehr unter anderem auch dadurch, daß den Soldaten der volle Umfang der Personalvertretungsrechte, nämlich die Mitbestimmung und Mitwirkung in allen Fragen, die nicht den Einsatz der Bundeswehr betreffen, versagt bleibt und daß sehr oft für die Familien gravierende Probleme durch die Bestimmung auftauchen, immer an einen neuen Dienstort nachziehen zu müssen.All diese Erschwernisse bei der Gewinnung von Personal werden durch eine Weiterverpflichtungsprämie von 1 500 DM nicht gelöst. Im Gegenteil, wenn sich junge Männer nach vier Jahren Wehrdienst für weitere sieben Jahre verpflichten, so erhalten sie insgesamt 16 500 DM — das ist viel Geld und sicher auch verlockend —; nur, wenn für diese jungen Menschen danach die Lebensplanung abbricht, weil keine Planstellen vorhanden sind, ist dies in unseren Augen auch ein Verstoß gegen die Fürsorgepflicht.Wenn die Mehrheit dieses Hauses dem Gesetzentwurf zustimmt, bedeutet das folgende Ausgaben an Weiterverpflichtungsprämien: 1988: 50 Millionen, 1989: 100 Millionen, 1990: 90 Millionen und 1991: 85 Millionen; das sind in vier Jahren 325 Millionen DM.Meine Damen und Herren, mit diesem Geld könnten viele Forderungen zur attraktiveren Gestaltung des Dienstrechts verwirklicht werden. Ich nenne nur einige wenige Beispiele: eine Neuregelung des Dienstzeitausgleichs auf der Grundlage einer gesetzlichen Dienstzeitregelung — Mehrkosten: ca. 5 Millionen DM —, den Wegfall der Besoldungsgruppen A 1 und A 2 für Soldaten — Kosten: ca. 18 Millionen DM — und die Einführung der Besoldungsgruppe A 5 für Mannschaftsdienstgrade — Kosten: etwa 7,5 Millionen DM —.Diese und andere Beispiele zeigen, daß mit einem wesentlich geringeren Kostenaufwand ein ganzer Katalog bedeutender sozialer Maßnahmen realisiert werden könnte, der weit mehr für die Attraktivität der Streitkräfte bewirken würde als die erheblich teureren Verpflichtungsprämien. Es bliebe sogar noch ein finanzieller Spielraum für weitere Verbesserungen.Zusammenfassend sage ich: Die SPD-Fraktion lehnt den Gesetzentwurf ab und fordert die Koalition auf, statt dessen durch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Sinne der Prinzipien der Inneren Führung für eine größere Attraktivität des Arbeitsplatzes Bundeswehr zu sorgen.
Das Wort hat der Abgeordnete Richter.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will gar kein Hehl daraus machen, daß — das haben ja auch die langwierigen Beratungen deutlich gemacht — der vorliegende Gesetzentwurf zur Gewährung einer Weiterverpflichtungsprämie für Soldaten auf Zeit der Dienstgradgruppen der Unteroffiziere und Mannschaften eine schwere Geburt war. Wie Sie wissen, stand bei der ersten Beratung auch die Einführung einer Erstverpflichtungsprämie für den Fall zur Diskussion, daß die Entwicklung des Bewerberaufkommens dies erforderlich machen sollte.Wir haben uns damit deshalb so schwergetan, weil hier dem zuständigen Minister vom Parlament ein Freibrief für ausgabenwirksame Leistungen in Höhe von 200 Millionen DM jährlich erteilt werden sollte, für eine Prämie übrigens, deren Wirksamkeit ausgesprochen zweifelhaft ist.Eines der wesentlichen Probleme des öffentlichen Dienstrechts in der heutigen Zeit sind gewisse zentrifugale Erscheinungen, die Ausfransungen und Sonderregelungen für alle möglichen Bereiche zur Folge haben. Diese Entwicklung läßt uns nicht unbesorgt.Was den Bereich der Bundeswehr betrifft, so ist für uns der Angehörige der Bundeswehr zunächst einmal ein ganz normaler Angehöriger des öffentlichen Dienstes. Im öffentlichen Dienst sind Einstellungsprämien — egal, in welchem Tätigkeitsbereich — nun einmal etwas Systemfremdes.Wir sehen diese Einstellungsprämien auch deshalb kritisch, weil sie nicht geeignet sind, das soziale Umfeld zu verbessern, die Attraktivität des öffentlichen Dienstes insgesamt zu steigern oder die Motivation und die Leistungsbereitschaft zu erhöhen. Notwendig sind nach unserer Auffassung vielmehr strukturelle Verbesserungen im gesamten öffentlichen Dienst.Dies ist auch der Grund, warum die FDP darauf gedrängt hat, die Gewährung der Weiterverpflichtungsprämie bis zum 31. Dezember 1991 zeitlich zu begrenzen. Frau Kollegin Hämmerle, der Effekt, den Sie befürchten, wird wegen dieser zeitlichen Begrenzung nicht eintreten.Ich meine, wir sollten diese Zeit in der Tat nutzen, um zu strukturellen Verbesserungen zu kommen. Hier sehen wir nämlich einen Hebel, einen der Schwerpunkte bei der Weiterentwicklung des öffentlichen Dienstes, um im Wettbewerb mit der freien Wirtschaft bei der Nachwuchsgewinnung zumindest Chancengleichheit herzustellen. Dem Wettlauf um Prämien jedenfalls — soviel steht fest — werden wir wegen des engen finanziellen Handlungsspielraums der öffentlichen Haushalte gar nicht standhalten können.
Uns liegen detaillierte Vorschläge, z. B. des Bundeswehrverbandes, für strukturelle Verbesserungen vor. Wir werden sie in unsere Überlegungen einbeziehen und fordern die Bundesregierung ihrerseits auf, die Zeit zu nutzen.
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Richter— Lieber Herr Bernrath, ich würde mich jetzt gerne mit Ihnen unterhalten; aber Sie wissen, wie die Redezeitverteilung gehandhabt wird.
— Ich wünschte es mir auch; wir werden es im Ausschuß sicherlich weiterhin tun können.
Wir werden unsererseits die Zeit nutzen, und wir fordern die Bundesregierung auf, die Zeit ebenfalls zu nutzen, um durch strukturelle Maßnahmen, z. B. die Neustrukturierung der Eingangsbesoldung, die Laufbahnen insgesamt attraktiver zu machen.Da das Bundeskabinett bereits im Dezember des vergangenen Jahres die Einführung der Weiterverpflichtungsprämie ab 1. Juli 1988 beschlossen hat und viele Soldaten auch aus diesem Grunde ihre Weiterverpflichtung zurückgestellt haben — Sie wissen, daß im ersten Halbjahr 1988 im Vergleich zu dem Vorjahreszeitraum über 40 % weniger Anträge auf Weiterverpflichtung gestellt worden sind —, ist es für die FDP aus Gründen des Vertrauensschutzes geboten, diese Prämie auch rückwirkend zu diesem Datum zu gewähren.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Mechtersheimer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundeswehr laufen die Leute davon. Jetzt will man versuchen, mit Hilfe einer Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes diesen Trend aufzuhalten oder sogar umzukehren.
Wie ist die Situation? Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer steigt. Es wird in diesem Jahr einen Rekord von mindestens 70 000 geben. Die Zahl der Bewerber für die Unteroffiziers- und die Offizierslaufbahn geht zurück. Die Weiterverpflichtung der Zeitsoldaten in diesem Jahr liegt unter der Hälfte — das alles trotz Massenarbeitslosigkeit.
Was sind die Gründe für diese Entwicklungen?
— Nicht nur Ramstein, aber da ist einiges sichtbar geworden. — Die Soldaten und ihre Angehörigen sind einem gewaltigen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Wenn aus dem bisherigen Feind ein Hoffnungsträger wird, ist es für die Streitkräfte verständlicherweise schwer, ihren Sinn und ihren Auftrag zu verstehen und zu erklären.
Wer fürchtet sich denn eigentlich noch vor Gorbatschow?
Die Belastungen des militärischen Betriebes, wie Tiefflug und Manöverschäden, werden unter diesen veränderten psychologischen Bedingungen immer weniger akzeptiert, nicht mehr so ertragen wie bisher. Alles das trägt dazu bei, daß sich nicht mehr wie bisher rechtfertigen läßt, zur Armee zu gehen oder noch länger in der Armee zu bleiben.
Die Bundeswehr ist auf dem Weg, eine Armee ohne Feind zu werden.
— Ich bedaure das ja nicht. — Dennoch wird — das ist das, was ja wiederum Kritik auslöst — so weitergerüstet, als würde noch der sogenannte Kalte Krieg die Voraussetzungen für das Rüstungsverhalten sein.
Viele denken ganz grundsätzlich darüber nach, warum eigentlich in diesem Umfang gerüstet wird, warum der Militärbetrieb auf so hohen Touren weiterlaufen muß. Ganz offenkundig sind es andere als bisher angegebene Gründe, die hier wesentlich sind: ökonomische Interessen, Rüstungsinteressen. Jede Tiefflugstunde bringt der Industrie Geld.
Nur, was ist die Antwort auf eine solche grundsätzliche Entwicklung im Inneren und Äußeren? Bestimmt nicht ein Handgeld von 125 DM im Monat für den Fall einer Weiterverpflichtung. Das ist Ausdruck der Ohnmacht der Regierung und der sie tragenden Mehrheit, mit diesen gesellschaftlichen Veränderungen umzugehen.
Wenn man dieses Geld im Einzelplan 14 überhaupt beläßt, dann sollte man z. B. denjenigen, die sich gar nicht wehren können, die zwangsweise weiterverpflichtet werden, nämlich durch die Verlängerung der Grundwehrdienstzeit von 15 auf 18 Monate, das Geld zugute kommen lassen und im Sinne unseres Antrages die Wehrsoldvergütung verdoppeln — ein längst überfälliger Schritt — , um diesen Zustand der Ausbeutung der Wehrpflichtigen zu beenden.
Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf, aus diesen personellen und finanziellen Veränderungen die einzig richtige Konsequenz zu ziehen, nämlich den Umfang der Streitkräfte endlich diesen veränderten Bedingungen anzupassen, das heißt Abrüstung und keine — ohnehin wirkungslosen — Anreize für eine Weiterverpflichtung!
Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Staatssekretärin Hürland-Büning.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Mechtersheimer, vor Herrn Gorbatschow fürchten sich — besonders im Westen — nicht mehr viele Leute. Aber viele Menschen, die innerhalb des Warschauer Paktes leben, haben noch keine Veränderung der Situation — weder bei der Aufrüstung noch bei den Menschenrechten — kennengelernt. Das möchte ich Ihnen eingangs sagen.Das hier zur Verabschiedung anstehende Gesetz zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes über die Wiedereinführung von Weiterverpflichtungsprämien für Zeitsoldaten ist für die Streitkräfte — als eine
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Parl. Staatssekretär Frau Hürland-Büningvon vielen Maßnahmen — von Bedeutung. Diese Maßnahme soll dazu führen, daß die Bundeswehr ihren von der Politik übertragenen Auftrag auch dann erfüllen kann, wenn die Jahrgangsstärken an wehrdienstfähigen jungen Männern infolge des Geburtenrückgangs rapide abnehmen.Ich will hier nicht den Gesamtkatalog aller notwendigen weiteren Schritte aufzählen, aber an das aus der Sicht des Bundesministers der Verteidigung und seiner militärischen Führung immer wieder vorgetragene Gesamtkonzept zur Sicherstellung des Personalumfangs erinnern, weil wir uns in diesem Hohen Hause in nächster Zeit ebenfalls damit beschäftigen müssen. Ein Teil ist bereits verabschiedet, z. B. das Soldatenversorgungsgesetz mit der Arbeitslosenbeihilfe und das Unterhaltssicherungsgesetz mit seinen wesentlichen Verbesserungen, die aber hinsichtlich der Gleichstellung besonders der Reservisten aus der freien Wirtschaft mit denen aus dem öffentlichen Dienst leider noch nicht ausreichend sind.Hinsichtlich der hier von meinen Vorrednern mehrfach angesprochenen Attraktivität der Bundeswehr haben wir in diesem Gesamtkonzept viele weitere Maßnahmen vorgesehen, zum Teil auch die von Ihnen, Frau Kollegin Hämmerle, vorgetragenen. Den Belastungsausgleich in der Dienstzeitregelung — individuell, mit Freizeit und Entgelt — werden wir hoffentlich in der nächsten Sitzungswoche auf der Tagesordnung haben. Dringend erforderlich sind die Verbesserung des Umzugskostenrechts,
die Wiederbelebung der Wohnungsfürsorge, die Verbesserung der Infrastruktur an den Standorten.
— Wir kennen, Herr Kollege Penner, all das, was wir machen müssen, aber wir müssen auch das Geld dafür haben. —
Weiter sind hier die Unterkünfte der Soldaten, die Durchführung notwendiger baulicher Maßnahmen für die Versorgung insgesamt, also auch für den zivilen Bereich, Verbesserung und Ausbau der Berufsförderung für Soldaten auf Zeit zur Wiedereingliederung in das zivile Berufsleben, vor allen Dingen Verbesserung der Führerdichte, Verbesserung der medizinischen Versorgung und manches andere mehr zu nennen.In diesem teilweise vorgetragenen Gesamtkonzept ist die Wiedereinführung der Weiterverpflichtungsprämie gleichsam nur ein Mosaiksteinchen. Ich erwarte von der Wiedereinführung der Weiterverpflichtungsprämie eine Verbesserung der augenblicklichen Situation, in der das Aufkommen an Längerdienenden nicht ausreichend ist. Natürlich ist uns vornehmlich an qualifizierten Längerdienenden gelegen. Ich betone noch einmal: Die Weiterverpflichtungsprämie ist eine Maßnahme von vielen, eine Maßnahme aus dem Gesamtkonzept, das aber nur tragen kann, wenn es auch insgesamt verwirklicht wird.Kolleginnen und Kollegen, der Primat der Politik kann sich nicht nur im Auftrag, in Forderungen seitens der Politik an Soldaten und zivile Mitarbeiter und immer wieder neuen Forderungen erschöpfen. Primat der Politik ist nach meinem Verständnis nicht nur der Auftrag, sondern bedeutet vor allen Dingen auch, die Rahmenbedingungen zu schaffen, die es letztlich ermöglichen, daß der Auftrag erfüllt werden kann. Diese Verantwortung haben alle Fraktionen, haben Koalition und Opposition gleichermaßen.Darum bitte ich Sie, meine verehrten Kollegen und Kolleginnen, dem Gesamtkonzept zur Verbesserung der Attraktivität der Bundeswehr und damit auch dieser Weiterverpflichtungsprämie zuzustimmen, die erfahrungsgemäß einen Langzeiteffekt haben wird, wie auch die Statistiken aussagen.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren! Ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung.
Ich rufe auf die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift mit den vom Ausschuß empfohlenen Änderungen und der Änderung des Datums, was Ihnen die Frau Berichterstatterin ja vorgetragen hat. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen?
— Wir haben vorhin gezählt; da hätten Sie nicht die Mehrheit gehabt.
Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen. Wir treten nunmehr in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung gegen die Stimmen der Fraktionen der SPD und DIE GRÜNEN angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Aussprache zur Tagung der 80. Interparlamentarischen Konferenz in Sofia
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Das ist dann so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Holtz.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die IPU-Konferenz in Sofia hat bewiesen, daß es gut ist, ein solches Weltparlament der Parlamente zu haben. Zu den beiden Schwerpunktthemen „Menschenrechte" und „Dekolonisierung" hat die IPU wichtige Anstöße gegeben. So werden alle Staaten in einer einmütig angenommenen Konferenzentschließung aufgefordert, im Rahmen der Vereinten
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Dr. HoltzNationen die Schaffung eines internationalen Menschenrechts-Gerichtshofs ins Auge zu fassen.Der Interparlamentarische Rat, dem je zwei Mitglieder jeder Gruppe angehören, hat sich mit Menschenrechtsverletzungen gegenüber 24 Parlamentariern aus acht Ländern befaßt, von Chile über Honduras bis hin zur Türkei, und konkrete Maßnahmen dazu beschlossen. Diese Menschenrechtsarbeit der IPU ist nicht publikumswirksam, aber sehr oft von großer Hilfe für die Betroffenen.Der IPU gehören Abgeordnete aus 109 Ländern unterschiedlichster Kulturen und Ideologien an. Um so erfreulicher ist es, daß die IPU dabei ist, sich zu einer veritablen parlamentarischen Agentur für Menschenrechte zu entwickeln.Auch auf Grund der Intervention unserer IPU-Gruppe wurde ein deutliches Zeichen gegenüber Rumänien, wo im Frühjahr 1989 die nächste KSZE-Parlamentarierkonferenz stattfinden sollte, und den Menschenrechtsverletzungen dort gesetzt.Meine Damen und Herren! Es war richtig, nicht vor den Drohungen, Pressionen und angekündigten möglichen Folgen in die Knie zu gehen und auf einer Vertagung zu bestehen.
In der Dekolonisierungs-Entschließung, ebenfalls mit den Stimmen der SPD angenommen, wird die Verwirklichung der entsprechenden UN-Beschlüsse ohne Ausnahme angemahnt. Gleichzeitig wird die Besorgnis darüber ausgedrückt, daß sich einige westliche Länder — da ist natürlich auch die Bundesrepublik gemeint — immer noch weigern, die UN-Beschlüsse über umfassende und verbindliche Sanktionen gegen Südafrika in die Praxis umzusetzen, die das einzig effektive friedliche Mittel der internationalen Staatengemeinschaft gegen Apartheid und für die Unabhängigkeit Namibias sind.
Wir bedauern, daß die Union in dieser Frage immer noch eine Verweigerungshaltung einnimmt. Ich frage Sie von der Union: Wo liegt die politische Vernunft, wenn Sie zunächst Sanktionen für unvernünftig erklären, dann aber aus politischer Opportunität eines Tages nach massivem Druck des Vorreiters USA doch für Sanktionen oder Teilsanktionen sind oder sein müssen?An die Adresse Marokkos und der Frente Polisario richtet sich der Appell, direkte Verhandlungen. zu einem Waffenstillstand aufzunehmen. Dies ist die Grundvoraussetzung für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des saharaurischen Volkes mittels eines Referendums. Wir Sozialdemokraten stimmen diesem Passus voll zu. Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit immer wieder betont, daß sie die Besetzung der Westsahara durch Marokko völkerrechtlich nicht anerkenne und daß sie gedenke, in diesem Konflikt neutral zu bleiben. Damit ist jedoch unvereinbar, daß die Bundesregierung gegenüber Marokko Ausrüstungshilfe leistet.
Die Arbeiten im Dekolonisierungs-Ausschuß, den ich in Sofia als amtierender Vorsitzender zu leiten die Ehre hatte, bewegten sich im Gegensatz zu früheren Jahren in einem Klima der Kooperation und des Aufeinanderzugehens. Das zeigte sich gerade auch in der Westsahara-Frage, in der sowohl algerische als auch marokkanische Gesichtspunkte letztlich in der Entschließung ihren Niederschlag fanden. Dennoch sah ich mich nach der Schlußabstimmung gezwungen, eine Erklärung zu dem Paragraphen über die Legitimität des bewaffneten Kampfes gegen koloniale und rassistische Beherrschung abzugeben. Darin unterstrich ich, daß in jedem Fall und in jedem Konflikt eine friedliche, eine politische Lösung Vorrang haben muß.Auf unsere Initiative hin befaßte sich der IPU-Rat auch mit Chile und dem Beitrag der IPU zur Stärkung der demokratischen Kräfte und zur Wiederherstellung der Demokratie in Chile. In der Begründung konnte ich für uns darauf hinweisen, daß es, gerade wegen der verschiedenen schweren Behinderungen, die das Militärregime in Chile — es ist eine schreckliche Tyrannei — im Vorfeld des Referendums praktiziert, darauf ankommt, von außen ein Gegengewicht zu diesen Pressionen zu schaffen und gleichzeitig mit dafür zu sorgen, daß die Chance zu einem Wechsel genutzt werden kann.Deshalb werden auch die nationalen Gruppen der IPU aufgefordert, jetzt Delegationen nach Chile zu schicken. Ich freue mich, daß der Bundestag das tut. Mit Genugtuung konnten wir feststellen, daß der von der Gruppe des Bundestages eingebrachte Resolutionsentwurf vom Interparlamentarischen Rat einstimmig angenommen worden ist.Als offizieller Vertreter der Parlamentarischen Versammlung des Europarats habe ich vor dem Plenum der IPU über die Nord-Süd-Kampagne des Europarates, zusammen mit den Nichtregierungsorganisationen, der EG und dem Europäischen Parlament veranstaltet, und über den auf einer internationalen Konferenz Anfang Juni angenommenen Madrider Appell berichtet. Darin wird unter anderem gefordert, die Nord-Süd-Beziehungen mit einem neuen Gesicht zu versehen, die Entwicklungsländer zu entschulden, die Giftmüllexporte in die Dritte Welt zu stoppen und die entwicklungspolitische Zusammenarbeit im Sinne einer sich selbst tragenden sozial und ökologisch verträglichen Entwicklung zu verbessern. Besonders Entwicklungspolitiker muß es freuen, daß in Sofia zwei hohe Vertreter der Dritten Welt in wichtige Funktionen gewählt worden sind, und zwar mit unserer Unterstützung.Der nicaraguanische Parlamentspräsident Carlos Núnez Téllez wurde in das wichtige Exekutivkomitee gewählt und der Senegalese Sow gewann die Kampfabstimmung und ist damit Präsident des Interparlamentarischen Rates und somit Nachfolger unseres Kollegen Stercken.Hans Stercken war drei Jahre IPU-Ratspräsident. Sicherlich, die bei den Wahlen zum Exekutivkomitee mit Mehrheit durchgesetzte Einzelwahl für das weibliche Mitgied, um die neu im Statut verankerte Quote zu erfüllen, fand nicht Ihre Billigung, Herr Kollege Stercken. Die von Ihnen ursprünglich angestrebte
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Dr. Holtzgroße Reform der IPU, die uns zukünftig für die Frühjahrstagung lediglich eine Ratssitzung und für den Herbst eine Mammut-Parlamentarierkonferenz beschert hätte, ist ad acta gelegt. Was bleibt, das ist Ihre verdienstvolle Tätigkeit, der IPU insgesamt mehr Gewicht gegeben und verschafft zu haben.
Unser Kollege Stercken hat Konfliktparteien zusammengeführt und damit Wegbereiterdienste wertvoller Art in den verschiedensten Regionen der Welt geleistet. Dabei kamen Ihnen, Herr Kollege Stercken, Ihre Kontaktfreude, Ihre Gewandtheit in den beiden offiziellen IPU-Sprachen, Ihr diplomatisches wie parlamentarisches Geschick und Ihre Erfahrung zugute. Sie haben in Ihrer dreijährigen Arbeit der IPU einen positiven Stempel aufgedrückt und ein Beispiel für die Nachfolger gesetzt.
In den letzten Monaten hat die UNO, als der Ort, an dem Regierungen miteinander zu tun haben, wieder an Bedeutung gewonnen. Die UNO erweist sich zunehmend als Instrument guten Willens und guter Taten. Die Interparlamentarische Union — als der Ort, an dem Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus 109 Ländern zusammentreffen — verdient es, aus dem Schattendasein — zumindest in der Bundesrepublik — herausgeführt zu werden. Deshalb heiße ich ausdrücklich die heutige Debatte, die erste über die IPU, gut.Wenn es um Frieden und internationale Sicherheit, um Abrüstung, Entkolonialisierung, wirtschaftliche und soziale Entwicklung, Umweltschutz, die Verwirklichung und Achtung von Menschenrechten geht, dann sind nicht nur die Regierungen gefordert, sondern auch die Parlamente. Zu Recht nehmen die Abgeordneten, die an den IPU-Konferenzen teilnehmen, ihre Arbeit ernst. Die bundesdeutsche IPU-Gruppe hat die verschiedenen Konferenzen, auch die Fachkonferenzen etwa zu den Themen Umwelt, Drogen, Gesundheit, nicht nur zu Gesprächen im jeweiligen Gastland genutzt; sie hat besondere Beziehungen z. B. zu Angola, zum Iran, zu den zentralamerikanischen Ländern und den Abgeordneten der ASEAN-Gruppe geknüpft und nicht zuletzt zur IPU-Gruppe der DDR. Damit haben wir häufig Schrittmacherdienste geleistet, an die es auch von unserem Hause her anzuknüpfen gilt.Frau Präsidentin, wir Sozialdemokraten wünschen, daß auch zukünftig die Bundesrepublik auf IPU-Konferenzen durch Bundestagsabgeordnete und nur durch Bundestagsabgeordnete und nicht etwa durch weisungsgebundene Bundesratsvertreter vertreten ist.
Die IPU wird im nächsten Jahr 100 Jahre alt. Lassen Sie uns vom Bundestag her mit dafür sorgen, daß dieser Anlaß genutzt wird, um die IPU, um ihre Arbeit stärker ins öffentliche Bewußtsein und zugleich in das Bewußtsein von uns Abgeordneten und der Bundesregierung zu heben!Danke schön.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt Herr Abgeordneter Dr. Stercken.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Tat, haben Sie keine Sorge, ich fange damit an. Es ist ja etwas Ungewöhnliches im parlamentarischen Umgang, daß man mit dem Dank beginnt.Das, was wir international zu leisten vermögen, und die Art, wie wir dort angenommen werden, hängen davon ab, daß jeder in einer so großen Versammlung weiß, daß derjenige, der an der Spitze steht, die Unterstützung seiner eigenen Kollegen erfährt. Diese Unterstützung habe ich vor drei Jahren erfahren, als über alle Fraktionen hinweg für meine Kandidatur geworben worden ist. Damals war mein Vertreter als Delegationsleiter Professor Uwe Holtz, dem ich für seine freundlichen Worte eben sehr herzlich danken möchte.
Diese Tradition ist durch die neue Delegationsleiterin, Frau Geiger, aufgegriffen worden, und alle Mitglieder — über alle Fraktionen hinweg — haben die Unterstützung gegeben. Das ist sichtbar geworden, denn die deutsche Gruppe zählt in diesem Gremium etwas.
Ich habe an dieser Stelle auch dafür zu danken, daß der Präsident des Deutschen Bundestags zu meiner Verabschiedung nach Sofia gekommen ist und versucht hat, meinen Beitrag dort zu würdigen.Ich glaube, wir als Parlamentarier haben in dieser Stunde Veranlassung, auch denjenigen in der Verwaltung des Deutschen Bundestags und im Auswärtigen Amt zu danken, die uns die Arbeit in diesen internationalen Gremien wesentlich erleichtert haben.
Ich glaube — das hat eben auch der Kollege Holtz vorgetragen — , die deutsche Delegation hat im internationalen Gespräch soviel Gewicht, weil sie einen Standpunkt hat, in dem sie sich auch gegenüber gewissen Opportunismen abgrenzt.Sie haben eben einige Probleme vorgetragen, bei denen wir nicht einer Meinung sind. Das wird auch in Zukunft sicherlich in vielen Bereichen so sein. Aber es geht nicht an, daß wir in die Außenpolitik, in diesen gewichtigen Rahmen, innenpolitische Konflikte hineintragen.
Wir sind um so glaubhafter, je mehr es uns gelingt, deutlich zu machen, daß wir Interessen der Bundesre-6578 Deutscher Bundestag 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988Dr. Sterckenpublik Deutschland vertreten und daß es da auch eine gewisse Solidarität der Demokraten gibt.Ich sage das insbesondere im Hinblick darauf, daß wir es ja mit einer sehr heterogenen parlamentarischen Gesellschaft zu tun haben, in der zunächst einmal durch unser Beispiel ein Demokratietransfer stattfinden muß. Ich erblicke einen ganz wesentlichen Sinn darin; denn wir alle haben uns, wenn Sie so wollen, erst von der Exekutive her in den Parlamentarismus hinein entwickelt. Viele, die aus Parlamenten kommen, welche gerade erst geboren sind, sind darauf verwiesen, daß sie in ihren Ländern noch eine starke Administration vorfinden, gegen die sie sich oft nur sehr unzulänglich durchsetzen können. Infolgedessen haben wir es auch — und das ergänzt den Bericht noch in einer gewissen Weise — für unsere Pflicht gehalten, an der Entwicklung des Parlamentarismus in andern Ländern unmittelbar mitzuwirken.
Auch der Deutsche Bundestag — und dafür möchte ich danken — hat sich jetzt schon in einer ganzen Reihe von Fällen entschließen können, Fachleute in afrikanische, in asiatische, in lateinamerikanische Länder zu entsenden, um dort an der Entwicklung der Parlamente, ihrer Organisation, ihrer Institutionen, ihrer Verfassung mitzuwirken.Wer mehr Menschenrechte, wer mehr Frieden in der Welt sichern will, der muß Sorge tragen, daß die dafür erforderlichen Institutionen in der Welt existieren. Und das sind nun einmal die Parlamente. Ohne stabile Parlamente wird es das alles nicht geben. Auch das ist eine Erfahrung, die wir in der Interparlamentarischen Union machen konnten: daß wir unmittelbarst spürten, in welcher Weise die Gewaltenteilung erforderlich ist, um solche Voraussetzungen für Menschenrechte und für Frieden zu schaffen.Meine Damen und Herren, die Parlamente leisten auf solche Weise einen Beitrag zur Außenpolitik. Wir erleiden nicht Außenpolitik in diesem Parlament. Wir sind nicht Leute, die sich informieren lassen oder die vor Ort allein wissen möchten, was nun die Absichten, die Erwartungen anderer Politiker sind, sondern wir setzen das ja in Aktionen um. Das Operative ist auch in der Interparlamentarischen Union sehr deutlich geworden — daß man an der Gestaltung von Politik mit guten Argumenten, mit einem Vorbild mitwirken kann. Ich erwähne dies ausdrücklich, weil es mich immer wieder ärgert, daß diese Versuche von außen als „Polittourismus" disqualifiziert werden. Das ist eine falsche Bewertung dessen, was dieser Bundestag nicht nur in der Interparlamentarischen Union, sondern mit seinen Ausschüssen im Ausland, mit seinen interparlamentarischen Gruppen, mit seinen Vertretern im Europarat oder in der Nordatlantischen Versammlung leistet. Das ist Mitwirkung an der Gestaltung von Politik. Ich meine, wir haben alle Veranlassung, dies jetzt einmal im Zusammenhang mit unserer Wirkung in der IPU deutlich zu machen.
— Das ist, nebenbei bemerkt, auch eine Frage des Auftretens gegenüber der Presse. In solchen Versuchen sind wir als Parlamentarier natürlich in einer ganz miserablen Situation. Wir können unsere Flugzeuge nicht mit Journalisten volladen, die nachher freundlicherweise ausführlich berichten. Ich erinnere auch, welcher Apparat den Regierungen — und das betrifft die gesamte Welt — zur Verfügung steht, um über das Gestalten von Politik zu berichten.
Ich frage Sie einmal: Was tun wir uns selber da an, daß wir uns einen solchen Apparat nicht schaffen, um stärker deutlich zu machen. daß wir mit unseren Beiträgen, mit unserem Denken unmittelbar an der Gestaltung von Politik teilnehmen?
Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß es die Gründer der Interparlamentarischen Union, zwei Friedensnobelpreisträger, Cremer aus Großbritannien und Passy aus Frankreich, waren, die mit ihrer damaligen Politik die Gründung des Völkerbundes verlangt haben, die Fortsetzung in den Vereinten Nationen, die die Genfer Konventionen in ihren Versammlungen forderten, die die Schaffung eines internationalen Gerichtshofes forderten. Meine Damen und Herren, das waren die Parlamentarier, die der Exekutive vorgeschlagen haben oder von ihr erwartet haben, daß sie solche Institutionen zur Sicherung des Friedens in der Welt entwickelte.Ich meine, die Parlamentarier — wenn diese Morgenstunde einen Sinn haben soll, dann ist es dies — müssen wieder etwas deutlicher in Betracht ziehen, daß sie auch auf dem Felde der Außenpolitik an der Gestaltung von Politik mitwirken müssen und sich nicht nur informieren und auf das Deklamieren von Resolutionen beschränken dürfen.Frieden ist nichts Abstraktes. Frieden — so habe ich immer wieder in meinen Beiträgen gesagt — ist die Organisation von Zusammenarbeit. Deshalb bin ich besonders stolz darauf, daß es uns — denn das ist immer ein Zusammenwirken der Abgeordneten aus dem Deutschen Bundestag gewesen — , jetzt gelungen ist, dem Europäischen Parlament einen festen Standort in der Interparlamentarischen Union zu sichern. Damit fördern wir die regionalen Zusammenschlüsse, die die Konflikte in der Region überwinden und dort Märkte schaffen, in denen sich Wirtschaft entwickeln kann.Ich scheide mit dem Wunsch, daß sich die Kreativität der Parlamente, ihre Originalität, ihre Flexibilität weiterentwickeln. Wir sind keine exekutive Hängematte. Ich scheide mit dem Wunsch, daß wir nicht deklamatorisch, sondern operativ denken. Ich scheide mit der Überzeugung, daß alleine der Ausbau der parlamentarischen Demokratie die Voraussetzung für Frieden und Sicherheit, für Entwicklung und Wohlstand ist.
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Ich möchte unserem Kollegen Stercken noch einmal für das ganze Haus sehr herzlich danken und für die Öffentlichkeit sagen: Dr. Stercken war von September 1985 bis September 1988 Präsident des Interparlamentarischen Rates der IPU sowie Vorsitzender des Exekutivausschusses dieser Organisation. In dieser einzigen weltweiten Parlamentarierorganisation hat sich Dr. Stercken sehr erfolgreich für die Friedensbemühungen in Konfliktregionen eingesetzt. Er hat die Zusammenarbeit der Parlamente zur Sicherung des Friedens und der Menschenrechte gefördert. Seine Arbeit und seine Erfolge genießen international hohes Ansehen und Respekt. Der Deutsche Bundestag dankt ihm sehr herzlich dafür.
Der Herr Bundespräsident hat Ihnen für Ihre Verdienste das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern verliehen. Wir gratulieren Ihnen dazu.
Das Wort hat jetzt Frau Abgeordnete Dr. Hamm-Brücher.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bitte um Nachsicht und Verständnis, daß ich ganz kurzfristig für den Kollegen Ulrich Irmer auf dem Podium stehe, der sich offenbar schon auf den Weg nach Chile gemacht hat.
Da ich leider nicht an der IPU-Konferenz teilnehmen konnte, möchte ich mir als langjährige Beobachterin dieser so wichtigen Form internationaler parlamentarischer Zusammenarbeit erlauben, für meine Fraktion nur ein paar Gedanken zu äußern. Ich darf einfach zurückkommen auf einige Dinge, die die Vorredner schon gesagt haben.
Das erste, was ich wichtig finde, ist daß wir uns im Plenum des Deutschen Bundestages zum erstenmal über Bedeutung und Arbeitsweise der IPU unterhalten und damit doch auch zum Ausdruck bringen, welche Anregungen, welche Anstöße, welche Erfahrungen unsere Kolleginnen und Kollegen in diesem Gremium machen und auch weitergeben. Persönlich möchte ich sagen: Wenn es die IPU nicht schon gäbe, müßte man sie dringend erfinden. Wir brauchen dieses Forum zur Begegnung, auch zum Näherbringen von jungen Staaten, die sich in der internationalen Gemeinschaft noch nicht sicher fühlen.
Herr Stercken, ich habe in Afrika lobend gehört, daß Sie sich besonders in bezug auf die angolanische Delegation um eine Annäherung bemüht haben. Solche Wege zu ebnen, ist eine Leistung, die gar nicht zu überschätzen ist. Ich glaube, von daher sollten wir die IPU — wo immer und wann immer wir können — aufwerten.
Herr Stercken, erlauben Sie mir, daß ich mich hier dem allgemeinen Dank und Lob anschließe und sage, daß auch unsere Vertreter in der bundesdeutschen Delegation Ihr Geschick, Ihre Toleranz und vor allem auch Ihre Geduld dankbar zu schätzen wissen.
Das möchten wir Ihnen heute noch einmal ausdrücklich sagen.
Ich möchte auch das aufgreifen, was Sie zu dem abwertenden Begriff „Polittourismus" im Zusammenhang mit der Wahrnehmung auch solcher Aufgaben, die sich ja jeder von uns zusätzlich aus seinem Terminkalender schneiden muß, gesagt haben. Sie wissen, daß ich mich sehr darum bemühe, daß wir unsere großen Leistungen, die wir erbringen müssen, einigermaßen erträglich organisieren, um dann auch den wirklich wichtigen Dingen gerecht zu werden.
Ich glaube, daß wir uns in der Tat überlegen müssen, Herr Kollege Stercken, wie es uns gelingen kann, mehr Öffentlichkeit für die Arbeit der IPU zu schaffen, und ob wir nicht auch einmal Journalisten einladen sollten, an solchen Konferenzen teilzunehmen, damit sie ihr sehr obrflächliches Urteil korrigieren, denn ein Weltparlament dieses Formats und mit einer derartigen Ansammlung von Kompetenz ist schon eine Erfahrung im friedlichen Zusammenleben der Völker, die nicht mit dem Ausdruck „Polittourismus" belegt werden sollte.
Ich möchte abschließend sagen, meine Damen und Herren: Ich wünschte mir, daß wir uns nach IPU-Versammlungen immer die Zeit nehmen würden, darüber zu berichten und zu hören, was dort gelaufen ist. Es hat mich z. B. ungemein interessiert, Herr Kollege Holtz, daß über Rumänien debattiert worden ist und daß dies gar nicht sehr einfach war und natürlich auf Widerspruch gestoßen ist. Aber wenn die desolate Situation der Minderheiten in Rumänien an solch einem Ort zur Sprache kommt, dann, glaube ich, ist das ein wichtiger Schritt, um bei unseren Anmahnungen und Forderungen nach mehr Menschenrechten in Rumänien hier nicht allein zu stehen.
In diesem Sinne herzlichen Dank an alle, die dort unsere gemeinsamen Interessen vertreten haben, und, wie gesagt, ich wünsche mir mehr Interesse und mehr Unterstützung für diese Arbeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Bindig.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein wesentliches Arbeitsfeld der IPU ist der Bereich der Menschenrechte. Ein Tagesordnungspunkt dort lautete: „Die Tätigkeit der Parlamente bei der Entwicklung der Zusammenarbeit auf dem humanitären Gebiet und zur Angleichung der nationalen Gesetzgebung an die internationalen Vorschriften, Prinzipien und Instrumente im Bereich der Menschenrechte".Die deutsche Delegation hatte sich sehr intensiv auf diesen Tagesordnungspunkt vorbereitet. Wir haben dort eine Resolution vorgelegt, welche vier Hauptpunkte enthielt, nämlich die Forderung nach einem UN-Kommissariat für Menschenrechte, nach der Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofs für Menschenrechte, nach einer generellen Abschaffung der Todesstrafe und nach dem Schutz der Minderheiten. Wir haben diese Punkte in die Diskussionen und Beratungen dort eingebracht.
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6580 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
BindigDie Beratung über die Menschenrechtsfragen umfaßt heute so viele Aspekte und Ebenen, daß man sehr bemüht sein muß, diese Diskussion nicht zu sehr in eine Unverbindlichkeit abgleiten zu lassen, weil mit Menschenrechten heute bekanntlich die zivilen und bürgerlichen Rechte, die ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte gemeint sind; aber darüber hinaus auch das Recht auf Entwicklung, das Recht auf Freizügigkeit, das Recht auf politische Selbstbestimmung bis neuerdings hin zum Recht auf eine gesunde Umwelt.So wichtig es ist, alle diese Aspekte durchaus auch unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte zu sehen, so muß unsere Bemühung doch darauf gerichtet sein, möglichst dort konkret etwas politisch umzusetzen, wo international bereits etwas erarbeitet worden ist. So sind denn auch in der letztlich einmütig verabschiedeten Resolution eine ganze Reihe von konkreten Forderungen niedergelegt, die ich hier erwähnen möchte.In der Resolution wird einmal ein Appell an all die Staaten gerichtet, die den Pakt über bürgerliche und politische Rechte und den Menschenrechtspakt über ökonomische, soziale und kulturelle Rechte und die dazugehörigen Zusatzprotokolle noch nicht unterzeichnet haben, dies zu tun. Diese Forderung richtet sich natürlich auch an uns, da das Zusatzprotokoll, welches die Individualbeschwerde von einzelnen und von Gruppen regelt, erst von ca. 40 Staaten ratifiziert worden ist und auch bei uns dies noch ansteht.Bemerkenswert ist ferner, daß diese Resolution einen dringenden Appell enthält, nunmehr die sogenannte UN-Antifolterkonvention zu zeichnen. Auch hierzu ist zu sagen, daß bis zum Jahresbeginn nur ca. 30 Staaten diese ratifiziert haben.Die Resolution der IPU enthält nun die Forderung, daß die IPU eine Liste all derjenigen Staaten veröffentlichen möge, welche die Antifolterkonvention noch nicht ratifiziert haben. Es wäre sehr wünschenswert, wenn wir in diese Liste nicht aufgenommen werden müßten. Gerade zum 40. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wäre es sicherlich wünschenswert, wenn wir bis dahin das Verfahren zur Ratifizierung im Bundestag noch in Gang gebracht hätten.
Die Hauptpunkte, die wir als deutsche Delegation unterbringen wollten, sind in die Resolution aufgenommen worden. Da ist einmal das Minoritätenproblem und zum zweiten die Frage der Abschaffung und des Banns der Todesstrafe. Hier konnten wir eine Formulierung in diese Resolution hineinbekommen, welche beinhaltet, daß ein weitergehendes Verständnis der Menschenrechte eine generelle Abschaffung und Ächtung der Todesstrafe fordert und daß die Staaten, die das noch nicht getan haben, zumindest die Zahl der Straftatbestände reduzieren sollten, für die diese Strafe ausgesprochen werden kann.Enthalten — das ist ganz besonders bemerkenswert, weil die östlichen Staaten zugestimmt haben — ist die Forderung nach einem UN-Gerichtshof für Menschenrechte. Bei der Frage eines Kommissariats für Menschenrechte haben wir in der Resolution nur einen Prüfauftrag in der Richtung, daß die Steigerung der Effektivität des UN-Centers für Menschenrechte geprüft werden soll. Aber immerhin ist das ein erster Schritt auf diesem Weg.Lassen Sie mich in bezug auf den humanitären Bereich sagen, daß in der Resolution die Forderung enthalten ist, daß sich doch alle Staaten nun beeilen mögen, die Zusatzprotokolle zum Rotkreuz-Abkommen zu unterzeichnen, welche den Schutz der Zivilopfer bei internationalen bewaffneten Konflikten und den Schutz der Zivilopfer bei nichtinternationalen bewaffneten Konflikten betreffen. Auch hier ist die Bundesrepublik Deutschland ja noch sehr zögerlich. Wir meinen, daß dieser Appell, der in der IPU einmütig gefaßt worden ist, auch ein Appell an unser Parlament ist. Vielleicht gelingt es, diesen Appell in konkretes Handeln auch im Deutschen Bundestag umzusetzen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Geiger. Liebe Frau Geiger, ich darf Ihnen herzlich zum Geburtstag gratulieren.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zuerst einmal ganz herzlichen Dank für diesen netten Geburtstagsgruß.Als Delegationsleiterin kann ich mit voller Überzeugung sagen, daß die deutsche Delegation die Arbeit in der Interparlamentarischen Union mit sehr großem Ernst und mit sehr, sehr viel Einsatz verfolgt. Es ist allerdings ein Jammer, daß dieses Engagement so gut wie unter Ausschluß der Öffentlichkeit geschieht. Aber was ist schon ein Politiker ohne Öffentlichkeit? Deshalb begrüße ich es so sehr, daß wir heute im Deutschen Bundestag eine Aussprache über eine Tagung der Interparlamentarischen Union haben.Daher sei es mir auch erlaubt, mich heute nicht nur auf die Ergebnisse der Tagung in Sofia zu beziehen — das haben ja die Kollegen schon getan, und die, die nach mir reden werden, werden es ebenfalls noch tun — , sondern mich etwas grundsätzlicher mit der IPU zu befassen.Die IPU kann im nächsten Jahr auf ihr hundertjähriges Bestehen zurückschauen. Sie ist damit die bei weitem älteste und traditionsreichste Parlamentarierkonferenz der Welt.Das Anliegen der Gründungsväter — damals waren es wirklich nur Väter — der IPU war, Streit zwischen den Völkern nicht durch Kriege, sondern durch friedliche Mittel beizulegen: statt Waffeneinsatz persönliche Kontakte zwischen den Parlamentariern, statt Blutvergießen Diskussionen und Gespräche. Die Idee dabei war, daß die Parlamentarier der einzelnen Mitgliedstaaten auf ihre jeweiligen Regierungen Einfluß ausüben sollten, damit Konflikte und Probleme auf friedlichem Wege gelöst werden könnten.Schon bei der Gründungsversammlung am 29./ 30. Juni 1889 in Paris, an der 55 Franzosen, 28 Engländer, 5 Amerikaner, ein Belgier, ein Däne, ein Spanier, ein Ungar und ein zufällig anwesender Libanese teilgenommen haben, stellte sich etwas heraus, was
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Frau Geigerbis heute unverändert geblieben ist: Die persönlichen Kontakte zwischen den Abgeordneten der verschiedenen Länder, die bei gesellschaftlichen Veranstaltungen geknüpft werden, bewegen oft mehr als alle Diskussionen in Ausschüssen und Gremien. Jeder, der einmal an einer IPU-Tagung teilgenommen hat, weiß um die vielfältigen Möglichkeiten, sich zu informieren. Man hat praktisch die ganze Welt an einem Ort versammelt, und man kann in einem Gespräch am Rande der IPU oft mehr erfahren als durch tagelange Recherchen vom Bonner Büro aus. Im persönlichen Gespräch lernt man einander besser kennen, man lernt sich besser verstehen, und man lernt, die Probleme des anderen auch aus seinem Blickwinkel zu sehen.Besonders verdient gemacht hat sich die IPU nach den beiden Weltkriegen. Als Europa noch in Schutt und Asche lag, wagten 1919 und dann auch wieder 1945 in Genf Abgeordnete aus verschiedenen Ländern einen Neubeginn und bemühten sich in langen Jahren mühevoller Arbeit, die aufgerissenen Gräben zuzuschütten. Mir persönlich scheint, daß es bis heute eine der wichtigsten Aufgaben der IPU ist, friedliche Kontakte zwischen verfeindeten Ländern zu fördern. Vieles spielt sich bei der IPU dabei im Verborgenen ab. Kriegsgegner treffen sich im Schutz der IPU, erste Begegnungen werden oft nach Jahren der Feindschaft möglich. Gerade unser jetzt aus dem Amt geschiedener Präsident, Dr. Stercken, hat in aller Stille sehr viel in die Wege geleitet. Auch ich möchte mich dem Dank anschließen. Herzlich Dank, Hans, auch dafür.
Nicht zuletzt durch diese Aktivitäten wird die Union ihrer Aufgabenstellung, die da heißt: Friedenssicherung durch Streitschlichtung und Abrüstung, gerecht. Wahr ist, daß bei weitem nicht alle der in der Interparlamentarischen Union vertretenen Parlamente unserem westlichen Demokratiestandard entsprechen. Die Bedenken wurden in unserem Land schon 1950 vor dem Wiedereintritt der Bundesrepublik in die IPU von Paul Löbe deutlich angesprochen, der sagte:Der Deutsche Bundestag ist nicht gewillt, in einer Körperschaft frei gewählter Parlamente am gleichen Tisch mit Männern Platz zu nehmen, die ihr Mandat nicht einer freien und geheimen Wahl verdanken.Diese Haltung wurde aber glücklicherweise nochmals überdacht, denn es wäre nicht zuletzt zu unserem eigenen Schaden gewesen, wenn wir die Plattform der IPU nicht genutzt hätten. Darüber hinaus macht das positive Beispiel der Vertreter der westlichen Demokratien mit ihren freien Reden, mit ihrer Spontaneität, mit ihrer Freiheit der Entscheidung Eindruck auf weniger freie Parlamentarier und kann so auch langfristig zu mehr Demokratie führen. Dies zeigt noch jungen, unsicheren Demokratien den richtigen Weg auf. Die Rückkehr eines Landes nach Jahren der Diktatur in den Schoß der IPU wird jedesmal begeistert gefeiert. Auch dies ist ein Anreiz. Erfreulich ist, daß es fast jedesmal etwas zu feiern gibt. In Sofia konnte z. B. Albanien nach mehr als 25 Jahren Abwesenheit wieder begrüßt werden.Die deutsche Delegation hat sich immer wieder für die Einhaltung der Menschenrechte in allen Mitgliedstaaten der Union eingesetzt. Dieser Einsatz kann über die Jahre hinweg als Schwerpunkt unserer Arbeit angesehen werden. Folgerichtig haben wir uns in Sofia, wie schon berichtet wurde, gegen die Menschenrechtsverletzungen in Rumänien ausgesprochen. Wir haben an die Machthaber in Bukarest appelliert, die Systematisierungskampagne zu stoppen. Wir haben innerhalb der westlichen Gruppe der 12 plus für unseren Standpunkt geworben, und er wurde akzeptiert und mitgetragen. Die für nächstes Jahr in Bukarest geplante KSZE-Konferenz wurde auf unbestimmte Zeit vertagt. Wir haben das nicht getan, um ein Land an den Pranger zu stellen oder zu isolieren. Wir haben es getan, um, nachdem alle anderen Mittel versagt haben, Druck auf das Regime auszuüben, von den menschenrechtsverachtenden Maßnahmen Abstand zu nehmen. Wir hoffen, daß dies ein Mittel sein wird, das den gewünschten Erfolg bringt, zum Wohle der betroffenen Bevölkerung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir erleben derzeit eine erfreuliche Entkrampfung des OstWest-Gegensatzes. Durch die Ratifizierung des INF-Abkommens durch die Großmächte gibt es neue Perspektiven für mehr Zusammenarbeit und Abrüstung, gibt es neue Hoffnung auf ein Überwinden der Gegensätze in der Welt durch Dialog und Interessenausgleich auf der Grundlage des gegenseitigen Respekts. Das wird ganz sicherlich nicht ohne Einfluß auf die IPU bleiben. Das ist mit Sicherheit auch eine neue Chance für die IPU.Fast alle Völker der Welt haben heute erkannt, daß kein Land, sei es noch so groß, noch so mächtig, noch so reich, für sich allein bestehen kann. Denn Abkapselung oder Isolation ist ganz gewiß kein Weg, der erfolgversprechend ist.Wir Deutsche haben längst die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis gezogen: durch unsere Mitgliedschaft in der EG, in der Atlantischen Allianz, in den Vereinten Nationen und nicht zuletzt eben auch in der Interparlamentarischen Union. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich in der Interparlamentarischen Union — unser Präsident hat es gesagt — hohes Ansehen erworben. Gerade er, Hans Stercken, unser Ratspräsident, hat der Union neue Impulse gegeben, hat sie politischer gemacht. Dafür sei ihm wirklich von uns allen ganz, ganz herzlich gedankt.Unsere Delegationen haben sich über die Jahre hinweg durch ihre aktive Mitarbeit und konstruktive und vermittelnde Rolle Sympathie, Respekt und auch Achtung verschafft. Ich möchte mir wünschen, daß dies auch bei uns zu Hause stärker erkannt und vor allem stärker genutzt wird.Danke schön.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Timm.
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6582 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich gegen Ende dieser Runde ganz kurz darüber berichten, was mich in dieser Woche ganz schön in Gang gehalten hat. Es ist bei den IPU-Konferenzen üblich, den beiden Haupttagesordnungspunkten — über die Uwe Holtz und Rudolf Bindig schon berichtet haben — einen Zusatztagesordnungspunkt mehr aktueller Art hinzuzufügen. Es lagen vier Vorschläge vor. Es wurde mit großer Mehrheit ein Vorschlag Syriens mit dem Thema „Der Volksaufstand in den von Israel besetzten arabischen Gebieten" angenommen, also ein sehr schwieriges Thema — Punktum: nicht, was man damit machen soll, sondern einfach nur so.
Ich glaube, durch die Formulierung dieses Themas wurde schon sehr deutlich, daß die Antragsteller die Absicht hatten, mit der Diskussion über dieses Thema die von israelischen Soldaten verübten und von aller Welt ohnehin verurteilten Übergriffe erneut zu zitieren und Israel zu verurteilen. Die Mehrheit insbesondere der westlichen Parlamentarier bemühte sich darum — ihnen war immer daran gelegen, so auch diesmal — , den hinter diesem Aufstand liegenden Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern überwinden zu helfen und einer friedlichen Lösung näherzubringen. Dennoch war auch deutlich, daß die nunmehr über zehn Monate währende israelische Besetzung der Westbank und des Gaza-Streifens Israel in der IPU erneut zu isolieren droht.
Unsere Delegation war sich einig, daß wir uns bemühen wollen, weitere Verschärfungen und Konflikte besonders auch im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen in Israel vermeiden zu helfen. Zusammen mit den australischen und belgischen Kollegen wurden wir im Auftrage der 12 plus gebeten — ich muß ganz kurz erklären, was das ist; das sind die Delegationen aus den EG-Ländern, aus den Ländern des Europarats und darüber hinaus aus den USA, aus Kanada, Australien und Neuseeland; wir haben sozusagen eine gewisse politische Zusammenarbeit ganz locker organisiert — , auf Grund einer Gott sei Dank vorhandenen Resolution der Sozialistischen Internationale von Madrid im Mai dieses Jahres eine eigene Resolution zu erarbeiten und vorzulegen, die der sehr, sehr scharfen und einseitigen Resolution der Syrer gegenübergestellt werden sollte.
Damit begann die eigentliche Arbeit. Zwei Tage lang haben wir in dem Drafting Committee, also in dem Redaktionsausschuß, hart miteinander gerungen. Ich meine, es ist für die Arbeit innerhalb der IPU sehr typisch, daß dann in solchen kleineren Gremien sachbezogen ganz harte politische Auseinandersetzung mit dem Ziel betrieben wird, doch zu einem Konsens, zu einem Kompromiß oder mindestens zu Annäherungen zu kommen. Ich glaube, darin liegt der eigentliche Wert der Arbeit der Parlamentarier der Welt in dieser IPU. Wir haben dieses Ziel in diesem Fall nicht ganz erreicht. In der Gruppe haben Kollegen aus Ägypten, Algerien, Polen, Jordanien, Kuba, Australien, Belgien mitgearbeitet, und wir haben unter der sehr fairen Leitung eines jugoslawischen Kollegen zwar keine einheitliche Resolution erreicht — dafür waren die Ausgangspositionen prinzipiell zu konträr — , aber wir haben erreicht, daß es zu einer wesentlich milderen als der ursprünglichen syrischen Resolution gekommen ist, die allerdings recht unausgewogen ist.
In unserem Sinne positiv wird erstmalig für die IPU das Existenzrecht Israels in sicheren Grenzen anerkannt, natürlich auch das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser, während Israel in den anderen Paragraphen in für uns nicht akzeptabler Weise einseitig verurteilt und überdies die PLO als alleinige Vertretung der Palästinenser bei einer Friedenskonferenz gefordert wird. Insgesamt glaube ich jedoch, daß die IPU künftig auf diese Resolution so zurückgreifen kann, daß sie damit auch eine konstruktive Weiterentwicklung in dieser Thematik ermöglicht. Ich hoffe auf eine solche Entwicklung. Dann wäre dieses wieder einmal ein Beispiel dafür, daß im Rahmen der IPU, deren Empfehlungen für Parlamente und Regierungen einen mehr oder weniger unverbindlichen Charakter haben, daß im Rahmen dieser parlamentarischen Plattform unter Parlamentariern viel früher und freier über ganz heikle und brisante Themen miteinander gesprochen werden kann und daß damit Parlamentarier die Möglichkeit nutzen können, Entwicklungen voranzutreiben und politische Prozesse im Sinne von friedlichen Konfliktlösungen zu fördern.
Wir haben eben von den anderen Teilnehmern an dieser Diskussion schon gehört, daß es sehr schwer ist, den eigentlichen Wert dieser Arbeit der IPU anderen und insbesondere auch der Öffentlichkeit zu vermitteln. Ich bin sehr dankbar, daß wir heute mindestens hier in unserem Parlament darüber sprechen und die Gelegenheit haben, an einzelnen Beispielen zu zeigen, was wir alle miteinander davon haben. Vielleicht sollten wir uns überlegen, ob man daraus nicht eine Regel macht und einmal im Jahr mindestens eine Stunde der Arbeit der IPU — dann vielleicht jeweils zwei Konferenzen — widmet. Insbesondere sollte das dann geschehen, wenn für unser Parlament wichtige Themen zu behandeln waren und darüber zu berichten ist.
Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Fischer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zum Ende dieser Debatte — den allgemeinen Konsens, den wir auch heute hier haben zeigen können, sollten wir in möglichst breiten Bereichen der Außenpolitik nach außen tragen — einige Punkte anführen, die bislang noch keine Erwähnung haben finden können.Wir haben seit der IPU-Konferenz, die 1978 in Bonn stattgefunden hat, an jedem dem Konferenzbeginn vorangehenden Sonntag das Treffen der weiblichen Parlamentarier. Als wir uns 1978 das erste Mal in Bonn trafen, war der Kreis der Parlamentarierinnen noch sehr klein. Ich glaube, die Frau Präsidentin wird sich an diese Zeit noch erinnern.Wir haben jetzt diese Treffen der weiblichen Parlamentarier zur regelmäßigen Einrichtung gemacht, um dort den Kolleginnen aus den verschiedenen Ländern
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6583
Frau Fischerder Welt — es ist schon interessant, wie sich dort die Vertretung jeweils darstellt — die Möglichkeit des Gedankenaustausches und des Miteinander-Diskutierens über die Frage der Arbeit in den einzelnen Parlamenten zu geben. Wir haben gemeinsam eine Übersicht über die Vertretung von Frauen in den Parlamenten der Welt erstellt.Ich finde es einfach wichtig — das zeigt auch unsere Art der Vorbereitung auf die Konferenzen — , daß wir im nächsten Jahr im Oktober eine Konferenz der Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu Frauenthemen in Madrid haben werden. Dort wird über das Thema „Bild der politischen Frauen in den Medien" oder über die Frage gesprochen werden, welche gesetzlichen oder gesellschaftlichen Veränderungen sich zur größeren Teilhabe von Frauen am politischen Leben vollziehen müssen.
— Das ist etwas anderes.Wichtig ist für alle, daß wir uns hier auf die Konferenzen generell sehr gründlich vorbereiten. Wir haben regelmäßige Sitzungen der Gesamtdelegationen aus den verschiedenen Parteien. Ich finde es wichtig, daß es gelingt, eine personelle Kontinuität zu gewährleisten, die die Konferenzarbeit erleichtert, weil man nur von Konferenz zu Konferenz die Dinge verbessern kann.Es beschwert uns immer wieder das Problem, daß wir weder in den Plenarsitzungen noch in den Ausschüssen Deutsch als Arbeitssprache haben und daß wir für uns keine Dolmetscher haben. Wir überlassen die Frage der deutschen Sprache in erster Linie, so scheint mir, der DDR. Wir sollten uns hier überlegen, ob es nicht generell möglich ist, in einzelnen Plenarsitzungen auch deutsch zu sprechen.Solange es so wie bisher weiterläuft, brauchen wir natürlich bei den Delegationen immer Leute, die sich in den Konferenzsprachen Englisch oder Französisch ausdrücken können, weil in den Ausschüssen, in den Redaktionskommissionen, überhaupt keine Möglichkeit besteht, nachzufragen oder gar Vokabeln zu wälzen.Dieses zeigt, in welch weitem Ausmaß sich die Parlamentarier auf diese Arbeit hier zu Hause vorbereiten. Ich finde es gut, daß wir gemeinsam unsere Memoranden durchsprechen und hier zu Hause diskutieren. Wenn wir uns hier zu Hause nicht auf einen gemeinsamen Text einigen können, tragen wir diese Kontroversen nicht nach außen. Ich denke, dieses ist für das Ansehen der Bundesrepublik nach außen besonders wichtig. Auf der anderen Seite macht es auch auf die Demokratien der anderen Länder einen sehr guten Eindruck, wenn wir uns dort nicht streiten, aber sehr wohl zugeben, daß wir zu verschiedenen Aspekten auch verschiedener Meinung sind. Man wartet vielfach darauf, was die Bundesrepublik Deutschland z. B. zum Thema Chile einbringt. Wir waren unterschiedlicher Meinung zur Frage der Sanktionen gegenüber Südafrika.Ein Punkt liegt mir noch am Herzen. Wir haben eben gehört: Wir nehmen den Kontakt zu den Delegationen aus den Staaten auf, die neu oder wieder aufgenommen worden sind. Das betrifft z. B. die Kontaktaufnahme mit den Parlamentariern von Vietnam oder die Kontaktaufnahme mit den Angolanern. Herr Burkhard Hirsch, Professor Dr. Holtz und auch die Mitglieder aus unserer Fraktion haben diesen Kontakten immer besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ich hoffe nur, daß wir dies auch weiter fortsetzen können und daß wir, Bezug nehmend auf die Vorschläge für eine weitere Diskussion, da wir ja jeweils nach den Sitzungen den Deutschen Bundestag in kürzester Zeit über die Konferenz unterrichten, dann auch in den kommenden Jahren wenigstens ein- bis zweimal im Jahr in gründlichen außenpolitischen Debatten versuchen, auf diese Konferenzen einzugehen.Danke schön.
Meine Damen und Herren, damit ist diese Aussprache beendet.
Wir kommen zu Punkt 2 der Tagesordnung:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Wetzel, Stratmann, Frau Teubner, Dr. Daniels und der Fraktion DIE GRÜNEN
Auseinandersetzung um die Inbetriebnahme des Schnellen Brüters
— Drucksachen 11/1581, 11/2036 —
Hierzu liegen Ihnen Entschließungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN und der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/2993 und 11/2994 vor.
Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Sind Sie damit einverstanden? — Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Daniels .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schon wieder eine Debatte über den Schnellen Brüter, muß das denn sein?
Natürlich! Seit der letzten Debatte haben Sie schon wieder 700 000 DM für dieses Monster verpulvert. Wenn es nur um Geld ginge, könnte ich noch viele andere unsinnige Ausgaben im Bundeshaushalt entdecken; das wäre also nichts Besonderes. Aber Sie glauben ja immer noch an die Zukunft des Schnellen Brüters. Obwohl sogar die Manager des Badenwerks schon begriffen haben, daß das Atomzeitalter vorbei ist, machen Sie einfach weiter. Herr Riesenhuber und Herr Töpfer standen vor ein paar Wochen vor den Kameras am Kanzleramt herum wie kleine Jungen, trotzig und zu feige, einzugestehen, daß Kalkar ein Fehler war.Verehrte Kollegen von der SPD, wenn Sie behaupten, wir würden nur zu der Debatte von letzter Woche nachtarocken, sage ich Ihnen: Von selbst stirbt der
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6584 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Dr. Daniels
Brüter nicht. Solange Sie von der Regierungskoalition dieses Höllenfeuer entfachen wollen, werden wir Ihnen damit im Nacken sitzen, wenn es sein muß, jede Woche.Meine Damen und Herren, heute gibt es keinen Befürworter dieser Anlage mehr. Viel schlimmer, selbst Sie in der Regierung und in den Fraktionen von FDP und CDU wissen, daß der Brüter energiepolitisch unbrauchbar, forschungspolitisch überflüssig, rechtlich nicht haltbar, ökonomisch unsinnig und sicherheitspolitisch nicht zu verantworten ist und daß er uns alle in einer völlig neuen Dimension gefährdet. Dies begründen wir nochmals ausführlich in unserem Entschließungsantrag.Ich will hier zu einigen Argumenten der Regierung in der Antwort auf unsere Große Anfrage Stellung nehmen. Lassen Sie mich Ihre Argumente für den Schnellen Brüter zusammenfassen:Sie behaupten erstens, ein steigender Weltenergiebedarf, insbesondere bedingt durch eine steigende Weltbevölkerung, müsse befriedigt werden, und das ist Ihrer Meinung nach nur mit der Brüter-Option möglich. Offensichtlich will diese Bundesregierung die Brüter-Technologie in alle Welt exportieren, obwohl sie die unbestreitbaren Gefahrenpotentiale genau kennt. Schon dieser Gedanke ist meiner Meinung nach kriminell.Zweitens behaupten Sie, eine Alternative mit ähnlich großem Energiepotential gebe es nicht. Wir meinen: Weltweit anerkannte Studien weisen nach, daß erneuerbare Energien und Energieeinsparung ausreichen, um den zukünftigen Weltenergiebedarf zu dekken.
Sie behaupten drittens, die Wirtschaftlichkeit sei beim Brüter erreichbar. Aber selbst die Franzosen, die uns um etwa 20 Jahre Entwicklungszeit voraus sind, und die Energieversorgungsunternehmen in Baden-Württemberg sind der Meinung, daß sich mit dem Brüter kein Geld verdienen läßt.Sie behaupten viertens, wir in der Bundesrepublik besäßen keine ausreichenden Energiereserven. Doch es ist allgemein bekannt, daß Kohle, alternative Energien sowie Energieeinsparung so große Energiereserven darstellen, daß die Bundesrepublik sogar energieautark werden könnte. Bei der Kohle spreche ich natürlich von ihrer umweltfreundlichen Nutzung.Damit sind wir auch schon am Ende Ihrer Argumentation angelangt. Bloß weil Sie nicht eingestehen wollen, daß schon 7 Milliarden in den Niederrheinauen sinnlos verbaut wurden und daß Sie jährlich 100 Millionen hinterherwerfen, müssen Sie nach an den Haaren herbeigezogenen energie- und forschungspolitischen Begründungen für die Notwendigkeit des Brüters suchen. Nachdem sogar der Erfinder des Schnellen Brüters, Häfele, von seinen Wahnsinnsideen abrückt, brauchen Sie einen neuen pseudowissenschaftlichen Fetisch, mit dem Sie eine andere Begründungsmasche für den Brüter kreieren. Wie ein Zauberwort eilt die sogenannte Transmutation durch die schon verzweifelten Koalitionsreihen.Ich will Ihnen einmal erklären, was es eigentlich bedeutet: Schnelle Neutronen im Brüter sollen anfallendes Plutonium und die Transurane spalten und ungefährlich machen. Eine Ladung ist nach 20 Jahren Aufenthalt im Brüter gespalten und nahezu ungefährlich geworden, so meinen die Befürworter. Ich lasse hier außer acht, daß dieses Verfahren irrwitzig teuer und das technische Konzept wie bei allen atomaren Anlagen ohne Kenntnis über mögliche Folgen vorangetrieben wird.Wichtiger sind mir heute aber folgende Argumente: Bei der Transmutation tritt in den ersten Jahren eine Erhöhung der Radioaktivität ein. Erste Schätzungen lassen befürchten, daß durch den Neutronenbeschuß aus Uran 238 Plutonium 239 entsteht, und zwar in einem Umfang, der auf eine positive Nettobilanz des waffenfähigen Plutoniums schließen läßt. Damit Sie verstehen, was das bedeutet: Es entsteht mehr Plutonium, als vernichtet wird.Also, Herr Kollege Göhner — wo ist er denn? — : Ihre vermeintliche Atommüllverbrennungsanlage vernichtet das Plutonium nicht, sondern veredelt es. Damit treten Sie für eine Technologie ein, die die Bundesrepublik zum Produzenten waffenfähigen Plutoniums macht.
Selbst die Bundesregierung lehnt dieses Verfahren gemäß Ihrer Antwort auf eine schriftliche Frage vom 23. Juni ab. Ganz abgesehen davon: Wenn man den Brüter so beschicken will, müßte eine weitere, zusätzliche Wiederaufarbeitungsanlage gebaut werden, um die Transurane von den restlichen Spalt- und Aktivierungsstoffen abzutrennen. Über den Unsinn der ersten Wiederaufarbeitungsanlage rede ich in der nächsten Sitzungswoche. Über das Gefahrenpotential einer zweiten Wiederaufarbeitungsanlage muß ich mich wohl nicht erst auslassen.Beschäftigen wir uns nun mit einem Vorgang im Genehmigungsverfahren. Der Bundesumweltminister verbot der nordrhein-westfälischen Landesregierung, ein Gutachten einzuholen, das die Erkenntnisse über die Katastrophe von Tschernobyl für den Schnellen Brüter auswerten sollte. Die Begründung der Reaktorsicherheitskommission, der bezahlten Hilfsvasallen des Atomministers, war
— hören Sie genau zu! — :
Ein Unfall mit vergleichbaren Folgen wie in Tschernobyl ist beim SNR 300 auszuschließen.
Der Vorsitzende dieser Hilfsvasallentruppe ist Herr Birkhofer. Dieser Herr Birkhofer ist gleichzeitig Geschäftsführer der Gesellschaft für Reaktorsicherheit. Hören Sie genau zu: Noch 1982 schrieb dieses nicht gerade atomkritische Institut in einer risikoorientierten Analyse des SNR 300 sinngemäß: Ein Unfall beim Schnellen Brüter, bei der die Energiefreisetzung über der Auslegung liegt, ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Ein solcher Unfall würde ver-
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Dr. Daniels
gleichbare Unfallfolgen haben — wenn nicht sogar schlimmere — wie nach Tschernobyl. Innerhalb von sechs Jahren wird also aus „nicht ausgeschlossen" „ausgeschlossen" . Damit ist für mich der oberste Sicherheitsprophet Birkhofer nicht mehr tragbar, meine Damen und Herren.
Lassen Sie mich erklären, was das heißt. Man hat durch Tschernobyl u. a. die Erfahrung gemacht, daß ein wesentlicher Beitrag für den Unfall die niedrige Anfangsleistung, nämlich 7 %, war, sprich: ein kalter Reaktor. Beim SNR, wo genau der gleiche Störfall diskutiert wird, der sogenannte Bethe-Tait-Störfall, geht man aber in allen offiziellen Analysen von einer Anfangsleistung von 100 % aus. Eine niedrigere Anfangsleistung macht aber die Explosion um so heftiger, analog zu Tschernobyl. Genau dieser Vorgang müßte meiner Meinung nach untersucht werden. Aber er darf laut Atomminister Töpfer nicht untersucht werden.Herr Minister — leider ist er nicht da —, warum verbieten Sie die Untersuchung dieser potentiellen Katastrophe?
Warum machen Sie der Bevölkerung weis, daß alles zu ihrer Sicherheit gemacht wird, wenn Sie aber in Kalkar Tschernobyl billigend in Kauf nehmen? Dabei sind die Alternativen doch bekannt: Energieeinsparung und alternative Energien. Die Bundesregierung versagt aber auf beiden Gebieten. Da muß eine kleine Partei wie die GRÜNEN ein Energieszenario für die Bundesregierung ausarbeiten, obwohl dies originäre Aufgabe der Bundesregierung wäre. Ergebnis: Der kurzfristige Ausstieg ist möglich und notwendig. Ein Drittel der Energie kann bis zum Jahre 2010 eingespart werden, und fast 30 % des Stroms kann man
aus regenerativen, erneuerbaren Energien decken. Die CO2-Emissionen könnten erheblich gesenkt werden. Resümee dieser Studie: Nicht Atomkraftwerke und Schneller Brüter sind die Zukunft, sondern die angepaßten, sanften, umweltfreundlichen Energietechniken.Allerdings: Abgerissen werden muß der Brüter nicht. Als Technikmuseum für eine zu Ende gehende Epoche der Nuklearenergie wäre er ein prachtvolles Beispiel. Die Menschen werden aus dem schönen Niederrhein-Gebiet nicht flüchten, sondern diese Attraktion gern besuchen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich kann Ihnen mitteilen, daß die Fraktion DIE GRÜNEN bereit ist, die ihr zur Verfügung stehende Redezeit bei der nächsten Kalkar-Debatte, die ja absehbar ist, einem Kalkar-Kritiker aus Ihren Reihen zur Verfügung zu stellen, damit die stillen Kritiker auch Ihrer Fraktionen endlich einmal zu Wort kommen.Setzen Sie sich also mit unserem Parlamentarischen Geschäftsführer in Verbindung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lenzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wäre schön, wenn in dieser Debatte mal neue Argumente kämen. Ihre Ankündigungen, in den nächsten Wochen zu ein und demselben Thema immer wieder ein und dieselben Auseinandersetzungen zu führen, lassen Schlimmes befürchten.
Ihnen geht es nicht um Technik — auch Ihnen nicht, Herr Schäfer — , sondern Ihnen geht es schlicht und einfach darum, dem Schnellen Brüter, den Sie einmal hoch gelobt haben, der heute nicht mehr in Ihre Ideologie hineinpaßt, den Garaus zu machen.
Herr Daniels, ich schlage Sie als Museumswärter für das von Ihnen beantragte Museum vor.
Ich habe einen Horror vor Menschen, die alles wissen und sich hier hinstellen und anderen mit letzter Heilsgewißheit Belehrungen erteilen wollen.Etwas anderes — auch darauf möchte ich Sie in allem Ernst aufmerksam machen — : Ihre Wortwahl war unangemessen. Ich zitiere nur einige wenige von Ihnen gewählte Ausdrücke: Sie haben namhafte Wissenschaftler hier als „bezahlte Hilfsvasallen der Atomindustrie" verleumdet.
Sie haben der Bundesregierung „kriminelle Gedanken" vorgeworfen.
Sie haben mit dem Wort „Wahnsinn" und mit dem Satz, Bundesminister hätten wie „kleine trotzige Jungen hilflos vor dem Bundeskanzleramt" herumgestanden, Abqualifizierungen vorgenommen. Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Kriminell ist nicht derjenige, der in Wahrnehmung der Verantwortung seines Amtes handelt, ganz gleich, wie er die Dinge sachlich einschätzt, sondern derjenige, der gegen einfache Vorschriften des Strafgesetzes — da gibt es einen Beleidigungsparagraphen, auch wenn das nur, wie ich mir habe sagen lassen, ein Antragsdelikt ist — verstößt.
Meine Damen und Herren, ich habe mich — ich bitte um Entschuldigung — jetzt schon viel zu lange mit den Argumenten der GRÜNEN beschäftigt. Ein Wort noch an die SPD: Beschämend ist es, wie Sie sich, verehrte Damen und Herren, aus der Verantwortung
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Lenzerfür diese Anlage, die Sie ja einmal auf den Weg gebracht haben, verabschieden wollen.
— Das ist zu billig, Herr Vosen. Kein technisches Großprojekt — das wissen Sie alle — ist so genau geprüft worden: mit Gutachten, mit Enquete-Kommissionen, in stundenlangen Debatten hier und in den zuständigen Fachausschüssen. Hier geht es nicht darum, Glaubensfragen zu erörtern, sondern hier geht es um harte Fakten. Ich bitte Sie ganz inständig Lassen Sie uns zu diesen Fakten zurückkehren!
Erster Punkt: forschungspolitischer Nutzen des Schnellen Brüters. Der Betrieb des Schnellen Brüters dient der Demonstration der technischen Machbarkeit. Deswegen führt kein Weg an der Inbetriebnahme vorbei.
Das kann man nicht mit Arbeiten auf dem Papier machen, sondern diese Inbetriebnahme wird kommen.
Wir werden dies in peinlicher Respektierung vonRecht und Gesetz und Genehmigungsverfahren— wie ich hoffe: mit der nordrhein-westfälischen Landesregierung zusammen — so durchführen, wie es angekündigt worden ist.
Ich brauche mich heute nicht zu den technischen Einzelheiten zu äußern, also z. B. zu den Fragen, warum auf den Brutvorgang bewußt verzichtet wurde, warum von Anfang an von dieser Anlage keine Wirtschaftlichkeit gefordert wurde. Sie alle wissen genausogut wie ich: Es wurde deswegen keine Wirtschaftlichkeit gefordert, weil es halt um einen Prototyp geht und nicht um einen Leistungsreaktor. Es war von Anfang an die Grundlage dieses Konzepts, daß der niemals in einem Wettbewerb etwa mit einem Leichtwasserreaktor konventioneller Art stehen sollte.Ich brauche Sie auch nicht an den internationalen Kontext zu erinnern und daran, daß wir durch Verträge gebunden sind, die Ihre Vertreter — unsere gemeinsam, muß ich sagen; es war ja unsere Bundesregierung — unter Ihrer politischen Verantwortung mit Frankreich, mit Italien, mit anderen Partnern abgeschlossen haben.
— Selbstverständlich, Kollege Gerstein, vielen Dank dafür, daß Sie darauf hinweisen. — Diese Verträgegelten auch heute noch, und Sie wollen sie alle so mit einem Federstrich wegwischen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stahl?
Ich möchte in dieser kurzen Zeit — Herr Präsident, da bitte ich um Verständnis — keine Zwischenfragen zulassen. Sonst kneife ich gewiß nicht.
Herr Abgeordneter, das ist Ihr gutes Recht.
Ich bin der festen Überzeugung, daß wir wegen der Ozonproblematik und des CO2-Problems zu einer völlig neuen Bewertung der Kernenergie kommen werden. Das paßt Ihnen nicht, aber man kann es sich nicht so einfach machen, daß man hier ein Energieversorgungsszenario aufbaut, das sich von Anfang bis Ende an Wunschdenken und Illussionen orientiert und einfach schlichte physikalische Fakten negiert.
Von der Ressourcenschonung will ich überhaupt nicht sprechen, meine Damen und Herren.
— Es braucht nicht viel, um Ihre Eloquenz zu übertreffen. Deswegen bilde ich mir auch gar nichts darauf ein. Ich bin aber trotzdem für Komplimente herzlich dankbar.
— Ich orientiere mich streng an der Sache. Das möchte ich Ihnen auch empfehlen.Zweiter Punkt: Genehmigungsfähigkeit, Sicherheit. Bei uns gibt es in Fragen der Sicherheit ebenfalls keinen Rabatt. Deswegen soll auch dieses Verfahren streng nach Recht und Gesetz, auch nach unserer Auffassung ohne zeitlichen Druck, durchgeführt werden. Da sind wir uns mit den Behauptungen der nordrhein-westfälischen Landesregierung einig. Aber ich lese hier, daß Herr Farthmann, Fraktionsvorsitzender der SPD im nordrhein-westfälischen Landtag, ehemals, glaube ich, sogar Genehmigungsminister
— ja, wenn er weiß, wovon er spricht, um so besser, prima, daß Sie das sagen — , schon im August 1985 auf einem Unterbezirksparteitag — der Kollege Stahl war auch zugegen; das ist auch in diesem Ausschnitt aus der „Grenzlandpost" vom 14. August 1985 erwähnt — gesagt hat: Wenn der Prozeß bis zur letzten Instanz durch läuft — er hatte Klagen gegen die Genehmigung angekündigt —,
werden fünf bis sechs Jahre vergangen sein, und dann werde sich das Problem „Schneller Brüter" von selbst erledigt haben.
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LenzerIm weiteren Verlauf hat er dann noch angedeutet, er könne nicht ausschließen, daß die Entsorgung regelbar sei. Ausdrücklich betonte Farthmann — Zitat aus der Presse — : Gegen die Anlage bestünden keine Sicherheitsbedenken, auch wenn ein Restrisiko bleibe. Der entscheidende Grund seiner Ablehnung sei nicht die Bewertung der Entsorgung der Anlage, sondern seine Entscheidung sei politischer Natur. — Damit ist die Katze aus dem Sack gelassen worden, meine Damen und Herren: Es ist eine politische Entscheidung. Es geht Ihnen nicht um die Sache.
Es geht Ihnen darum: Sie haben in der Zwischenzeit in der Partei eine andere Beschlußlage, und jetzt muß die Wirklichkeit an die Beschlußlage der SPD angepaßt werden.
Herr Abgeordneter Lenzer, galt das generell für jedwede Zusatzfrage?
Herr Kollege, Sie haben doch auch gleich Redezeit.
Zur Finanzierung möchte ich überhaupt kein Wort verlieren. Die Finanzierung war völlig ungeordnet, als Bundesminister Riesenhuber 1982 ins Amt kam. Diese Finanzierung ging von einer achtprozentigen Beteiligung der Wirtschaft aus. Mittlerweile ist es gelungen, die Finanzierung sicherzustellen. Die Zeitpläne sind bisher eingehalten worden. Jetzt geht es nur noch um Verzögerungskosten, Wartekosten von 105 Millionen DM jährlich,
die durch politische Implikationen entstanden sind. Das sage ich hier in aller Deutlichkeit. Ich sage ebenso deutlich: Wir gehen davon aus, daß die Versorgungswirtschaft zu ihren Verpflichtungen stehen wird; denn wir bauen keine Staatsreaktoren, sondern wir bauen Reaktoren, die Anlagen erproben sollen, die später einmal auf dem Markt eine Bewährung und vor allen Dingen auch eine Nachfrage finden sollen.
Deswegen würde ich uns allen empfehlen, zur Sachlichkeit zurückzukehren.
Wir dürfen uns nicht aus dieser Technik ausklinken. Wir haben sicherlich noch oft Gelegenheit, uns damit auseinanderzusetzen. Wenn nach sechzehn Teilerrichtungsgenehmigungen immer wieder auch die nordrhein-westfälische Genehmigungsbehörde zu einem positiven Gesamturteil über die Anlage gekommen ist, dann müssen Sie entweder Ihren eigenen Parteifreunden unterstellen, daß sie bis dato alle diese Sicherheitsbedenken, die Sie jetzt bringen, wider besseres Wissen negiert haben, oder Sie müssen auch dazu beitragen — und dazu fordere ich Sie auf —, daß diese Anlage nach Recht und Gesetz
ans Netz gehen kann.
Die Entschließungsanträge lehnen wir ab.
— Alle zwei. — In der Sache Museumswärter Daniels bin ich bereit, mit mir handeln zu lassen.
Das Wort hat der Abgeordnete Vosen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was wir gerade gehört haben,
erinnert mich ein bißchen an das Motto: Durchhalten, Kameraden, vorwärts, wir müssen zurück. Das war also eine rechte Rede, die mehr glauben machen soll, daß diese Technologie noch eine Zukunft hat. Sie hat keine.Ich will nur zur folgenden Sache kommen: Die Atomindustrie, der Forschungsminister und der Umweltminister benehmen sich in dieser Angelegenheit wie die drei berühmten Affen, die Sie und wir ja alle kennen: Einer stellt sich blind, einer stellt sich taub und einer stellt sich stumm.
Die Atomindustrie hat sich seit Jahren alles angehört, was gegen die Atomenergie spricht. Sie macht immer weiter, weil sie blind geworden ist für die Veränderung der politischen Landschaft in unserem Volk. Herr Riesenhuber traut sich nicht, gegen eine Betonriege der Atomlobby in seiner Fraktion die Wahrheit zu sagen, und ist von daher für alle guten Argumente taub. Herr Töpfer sieht und hört alles, bleibt beim Kernpunkt seiner Zuständigkeit für den Brüter, bei der Genehmigungsfähigkeit, aber stumm, weil der Kanzler ihm verboten hat, die Wahrheit zu sagen.
Herr Riesenhuber stützt sich in seiner Befürwortung des Brüters auf das Motor-Columbus-Gutachten vom Herbst letzten Jahres. Er hat offenbar nicht gemerkt, daß dieses Gutachten von Leuten geschrieben worden ist, welche der Atomlobby verbunden sind. Selbst Herr Töpfer hat ihn jüngst aufgefordert, den aktuellen forschungspolitischen Nutzen, den das Gutachten nach Riesenhubers Wunsch und Meinung belegt hatte, nochmals zu verdeutlichen. Herr Töpfer hält das Gutachten wie wir für völlig unbrauchbar.
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6588 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stratmann?
Wenn das nicht auf die Zeit angerechnet wird, Herr Präsident.
Sie schmeißen nur den Zeitplan über den Haufen, aber bitte schön.
Herr Kollege, wenn Sie wie wir kritisieren, daß der Forschungsminister Riesenhuber eine Motor-Columbus-Studie in Auftrag gibt, um sich von der Atomlobby die Interessen der Atomlobby bestätigen zu lassen, wie beurteilen Sie dann, daß die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen eine Sicherheitskommission zur Überprüfung der nordrhein-westfälischen Atomanlagen einsetzt und mit der Federführung dieser Kommission die Schweizer Firma Elektrowatt beauftragt, die ebenfalls genauso Atomlobby ist und im Atomgeschäft selbst tätig ist, um sich damit die Unbedenklichkeit der NRW-Atomanlagen bestätigen zu lassen?
Herr Kollege, ich kann Ihnen den kleinen Unterschied schnell darstellen: Es kommt nicht darauf an, wer ein Gutachten schreibt, sondern wer es in Auftrag gibt und wie man das Gutachten dann bewertet.
Da ist der Unterschied zwischen der Bundesregierung und der Landesregierung Nordrhein-Westfalen groß.
Ich komme zu meinen Ausführungen zurück. Meine Damen und Herren, es ist sinnlos, daß wir mit dem Brüter jetzt in eine Technologie einsteigen, die erst nach vielen Jahrzehnten oder auch nie gebraucht werden könnte. Zu diesem Zeitpunkt wollen doch auch Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, nach Ihren eigenen Worten die Atomenergie überwunden haben.
Ich erinnere Sie an folgende Aussagen. Der Bundespräsident hat nach der Katastrophe von Tschernobyl zum Innehalten aufgerufen.
Herr Biedenkopf hat gesagt, es sollte innerhalb einer Frist von 20 bis 30 Jahren aus der Atomenergie ausgestiegen werden. Graf Lambsdorff hat gesagt: In 50 bis 70 Jahren sollte man aussteigen. Herr Genscher hat wörtlich erklärt: Das ist eine Übergangslösung, und man sollte so schnell wie möglich aussteigen. — Das sind alles Ihre Vormänner. Das hat aber bei Ihnen anscheinend noch keine Wirkung gezeigt. Wenn das ernst gemeint ist, so müssen wir daraus klare Konsequenzen ziehen. Dann hat es keinen Sinn, den Brüter in Betrieb zu nehmen.
Dann ist es unverantwortlich, Jahr für Jahr eine Viertelmilliarde in das Brüterprojekt zu stecken. Damit
muß jetzt, wie auch Herr Späth es richtig sieht, Schluß sein.
Herr Riesenhuber sagte in der Debatte der vorigen Woche, dem Motor-Columbus-Gutachten habe niemand widersprochen. Ich werde das jetzt tun. Der öffentliche Widerspruch unterblieb doch nicht, weil das Gutachten so gut war, sondern deshalb, weil es überwiegend unter allem Niveau argumentiert und wir geglaubt hatten, daß auch der Auftraggeber — das ist auch eine Antwort auf die Frage von eben — sich einer solchen Arbeit schämen würde. Da Herr Riesenhuber sich aber nur noch auf dieses Gutachten beruft, gehe ich auf die Argumente dieses Jubelgutachtens hier in aller Kürze ein.
Das wichtigste Argument gegen dieses Gutachten lautet — und das ist wirklich wahr — : Es ist unsinnig, mit einer Technologie jetzt zu beginnen, die, wenn überhaupt, erst in 40 bis 50 Jahren Wirtschaftlichkeit verspricht, wenn zu diesem Zeitpunkt alle politischen Kräfte die Kernenergie wegen ihrer Gefährlichkeit, wegen der Risiken der Weiterverbreitung und wegen der Risiken für die Sozialstruktur hinter sich gelassen haben wollen.
Ich frage mich: Was wollen wir mit dem Projekt, wenn wir es erst in 80 oder 100 Jahren brauchen? Uranvorräte gibt es doch reichlich. Wir wissen zum jetzigen Zeitpunkt doch gar nicht, ob diese Technologie dann überhaupt noch demonstriert wird. Die Demonstration eines Geräts, Herr Kollege Lenzer, von dem wir nicht wissen, ob es je ans Netz geht, von dem wir nicht wissen, ob es je einen Nachfolger hat — es wird keinen haben — , ist doch sehr fraglich. Eine Demonstration ist mir allemal lieber, wenn es um eine vernünftige Sache geht. Aber bei einem solchen Mist, wie ich in aller Form sagen möchte, ist wirklich gutes Geld einer schlechten Sache hinterhergeworfen.
Ich will einige wenige wirklich schwerwiegende Sicherheitsbedenken erwähnen, z. B. die Tatsache, daß dieses Motor-Columbus-Gutachten den Störfall von der Art einer überprompt kritischen Leistungsexkursion oberhalb des Auslegestörfalls von 370 Megawatt pro Sekunde für nicht möglich hält, obwohl die Prüfungen der Genehmigungsbehörde in diesem Zusammenhang — insbesondere nach dem Unfall von Tschernobyl — nicht abgeschlossen sind. Es werden in diesem Gutachten Sicherheitsprobleme einfach verdrängt.
Das Gutachten ergreift schamlos Partei. Das Gutachten verwirft den Einwand, daß Brüter die Weiterverbreitung von Kernwaffen fördern. Das ist eine Technik, die die Weiterverbreitung und damit Gefahren und Risiken in sich birgt. Das ist gar nicht von der Hand zu weisen.
Das Gutachten beschäftigt sich mit dem Einwand, daß die Brütertechnologie nicht sozialverträglich sei, in geradezu lächerlicher Weise. Ich glaube, diese Gutachter wollen uns auf den Arm nehmen. Jeder hat die Sicherungsmaßnahmen um Brüter, um Weiterverarbeitungsanlagen vor Augen. Jeder kennt die zuneh-
Deutscher Bundestag — 11, Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6589
Vosen
menden Überwachungsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Umgang mit Plutonium. Schauen Sie sich doch das Elend bei Wackersdorf an! Schauen Sie sich die Kernkraftwerke an!
Es sind die Burgen des Mittelalters, mit Wassergräben gesichert, mit elektronischen Zäunen, mit Überwachungsmannschaften. Das ist Polizeistaat hoch drei.
Sie müssen doch einsehen, daß diese Technologie nicht sozialverträglich ist. Ich muß Ihnen sagen: Ein Gutachter wie Motor-Columbus, der das nicht sieht, verdient den Namen Gutachter nicht, sondern höchstens den Namen Schlechtachter.
Das Gutachten geht überhaupt nicht darauf ein, daß wir in der Welt genug Uran für die nächsten 200 Jahre haben. Selbst wenn jemand für die Kernenergie ist, braucht er doch nicht für dieses Gerät zu sein. Die Kernenergiefans, die es bei Ihnen immer noch zuhauf gibt,
könnten also ruhigen Gewissens diese Technik abschalten, weil wir doch ausreichend Uran haben.
Wegen der Zeit will ich zusammenfassen: Das Gutachten zum forschungspolitischen Nutzen des Brüters ist bei ernsthafter Abwägung aller Pro- und Kontraargumente eine einseitige, unfaire und geradezu bestellt erscheinende Bestätigung des Kernenergiekurses der Bundesregierung, insbesondere des Bundesforschungsministers. Es ist zu einer objektiven Meinungsbildung ungeeignet.
Der SNR 300 ist volkswirtschaftlich, energiepolitisch, industrie- und forschungspolitisch unsinnig. Sehen Sie doch endlich ein: Er ist unsinnig. Er ist im übrigen nach meiner Auffassung nach den letzten Katastrophen und Vorfällen in Tschernobyl, Almeria, Dounreay auch nicht mehr genehmigungsfähig.
Auch das ist eine Sache, die uns den Ausstieg erleichtern könnte. Das festzustellen ist Aufgabe der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und der Bundesregierung.
— Wenn das nichts an Zeit kostet, bin ich bereit.
Herr Abgeordneter, bitte schön.
Herr Kollege Vosen, da Sie auf Grund der Almeria- und Dounreay-Vorfälle hier zu dem Ergebnis kommen, daß schon deshalb die Sicherheitsbedenken durchgriffen: Wie beurteilen Sie das Verhalten der Landesregierung, die offensichtlich dieser Ihrer Auffassung nicht ist, denn sonst müßte sie bereits jetzt die anstehende Teilgenehmigung ablehnen? Warum prüft die Landesregierung erst noch die Fragen, auf die Sie uns hier schon eine Antwort präsentieren?
Eine Landesregierung hat natürlich als Behörde mehr Verantwortung als ein frei sprechender Abgeordneter im Deutschen Bundestag.
Ich muß Ihnen sagen — ich beschäftige mich seit acht Jahren mit dieser Problematik, Herr Kollege, und ich habe auch an Ihren Fragen festgestellt, daß Sie Sorgen haben, daß Sie sich ernsthaft mit der Angelegenheit befassen — : Wenn gesagt wird, daß maximal ein Steuerstab brechen könnte, es aber in Dounreay in England 40 Steuerstäbe waren,
womit niemand rechnen konnte, zeigt das auch, daß dort Risiken sind, die mir an dieser Stelle das Urteil erlauben: Diese Technologie ist nicht mehr genehmigungsfähig. Das bringe ich hier vor der deutschen Öffentlichkeit zum Ausdruck.
Die „Zeit" schreibt — und das sollte Ihnen zu denken geben —, daß der Brüter nicht länger die Mittel fressen solle, 250 Millionen DM jedes Jahr, derer wir für alternative Energieforschung dringend bedürfen. Die „Süddeutsche Zeitung" schreibt, daß wir an einer Technik feilen, die keine Zukunft mehr hat. Die Journalisten haben es längst erkannt. Viele, viele Kollegen im Deutschen Bundestag haben es längst erkannt. Töpfer hat es längst erkannt. Viele in der FDP haben es längst erkannt. Nur die Betonköpfe in Ihrer Fraktion, die immer noch bedingungslos für die Atomenergie fighten, kommen mit dieser Problematik nicht zurecht.
Der letzte Satz: Geben wir endlich dem Staatsreaktor sein Staatsbegräbnis!
Herzlichen Dank.
Herr Abgeordneter Vosen, ich hoffe, daß Sie mit mir übereinstimmen, wenn ich feststelle, daß die Verantwortung des Abgeordneten nicht geringer ist als die Verantwortung der Verwaltung,
auch wenn er ein frei sprechender Abgeordneter ist.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Laermann.
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6590 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich nach diesen temperamentvollen Ausbrüchen meines Vorredners versuchen, wieder mehr auf die Sache zurückzukommen und etwas mehr Sachlichkeit in diese Debatte zu bringen.
Ich möchte zunächst kurz einige Fakten zur Klarstellung nennen. Die FDP hatte ein Gutachten zur forschungspolitischen Bewertung des SNR 300 in Kalkar verlangt. Sie hat das in Koalitionsverhandlungen auch durchgesetzt. Das Gutachten ist erstellt worden. Wir haben uns intensiv mit diesem Gutachten auseinandergesetzt, auch hinsichtlich dessen, worauf die Kritik zielt. Sie wissen wahrscheinlich um die Diskussion im zuständigen Ausschuß.
Aber, Herr Kollege Vosen, wenn Sie sagen, es kommt darauf an, wer einen Auftrag vergibt — nach dem Motto: wer den Spielmann bezahlt, bestimmt die Musik — ,
dann ist das eine Desavouierung aller derjenigen, die wir um wissenschaftliche Begutachtung bitten, auch derjenigen, die Sie, Ihre Fraktion und Ihre Regierung gebeten hat.
Die hat nämlich die Firma Motor-Columbus in Sachen Brüter auch um die Erstellung eines Gutachtens gebeten. Das wollen wir doch noch einmal klarstellen.
Wir haben ausdrücklich kein Gutachten zur Wirtschaftlichkeit verlangt. Wir haben kein Gutachten zur sicherheitstechnischen Bewertung verlangt. Wir haben auch kein Gutachten zum Ablauf des Genehmigungsverfahrens verlangt. Deswegen können wir von diesem Gutachten auch nicht mehr erwarten, als wir nach unserer Vorstellung gewünscht haben.
Herr Abgeordneter Laermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stratmann?
Im Augenblick noch nicht. Danke schön.Ich möchte auch noch einmal klarstellen — das möchte ich ausdrücklich betonen —, daß wir es bei dem SNR 300 mit einem Forschungsprojekt zu tun haben. Von diesem Forschungsprojekt kann man füglicherweise im voraus wohl auch nicht Wirtschaftlichkeit verlangen. Wenn man gleichzeitig auch eine Entscheidung über die kommerzielle Nutzung ablehnt, kann man das erst recht nicht. Es wird ja nachgerade hinterhältig, wenn man dann mit dem Argument gegen den SNR 300 kommt, daß er nie wirtschaftlich Strom erzeugen werde. Diese Argumentation finde ich nun weiß Gott nicht logisch.Aber ich stelle in dem Zusammenhang auch Fragen; das ist unsere Aufgabe, die wir als Parlament haben. Ich möchte nach diesen langen Diskussionen endlich wissen — über das Gutachten vom Motor-Columbus für den Endzustand hinaus — , welche aus der Sicht der Forschung wichtigen und wertvollen Erkenntnisse in einzelnen Phasen bis hin zum aktiven Zustand des Brüters erwartet werden können. Wir empfehlen eine diesbezügliche Analyse und eine Darstellung einschließlich der Risikobewertung der einzelnen Phasen; denn wir müssen hier — ich wiederhole das, was ich in der vergangenen Woche gesagt habe — unverzüglich zu einer Entscheidung kommen. Unverzüglich heißt ohne schuldhaftes Versäumen.
Das geht so nicht mehr weiter. Ich wiederhole auch dies: Ein Sterben auf Raten können wir weder politisch noch aus finanziellen noch aus vertraglichen Gründen weiter verantworten. Deswegen müssen die Karten definitiv auf den Tisch.
Aber so, verehrte Kollegen von der SPD — Sie sagen sehr richtig; warten Sie ab —, wie Sie das mit Ihrem Antrag wollen, geht es mit Sicherheit nicht. Sie können sich nicht aus Ihrer Verantwortung für die ganze geschichtliche Entwicklung dieser Angelegenheit herausstehlen. Das geht so nicht.
Da billige ich der Fraktion der GRÜNEN mehr konsequentes Verhalten zu; denn sie waren nicht mit in dem Boot.
— Frau Kollegin Traupe, aber Sie müssen sich an Ihre Rolle erinnern. Erstaunlicherweise genau bis zum 17. Oktober 1982 0.30 Uhr — das ist belegbar — waren Sie nämlich für den Brüter.
Aber wenige Stunden später — da gab es noch kein Tschernobyl; reden Sie sich damit nicht heraus — waren Sie auf einem anderen Dampfer.
Sie müssen begründen, warum Sie aus politischen Gründen dagegen sind.
Wenn nämlich der Kollege Vosen sagt, das ist alles Mist, dann haben Sie zehn Jahre Mist zu verantworten. Sie haben uns dann das hinterlassen, worüber wir jetzt diskutieren. Ich erinnere an die Bundestagsdebatte vom 14. Dezember 1978. Mit der Mehrheit der SPD- und FDP-Stimmen wurde in namentlicher Abstimmung für die Fertigstellung des Brüters gestimmt,
meine Kollegen von der CDU/CSU, gegen Ihre Stimmen.
Sie haben in namentlicher Abstimmung dagegen gestimmt. Lassen Sie uns die Fakten hier doch einmal auf den Tisch legen. Im übrigen muß ich dazu sagen, daß der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt ja gedroht hat, die Vertrauensfrage zu stellen — ich will
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6591
Dr.-Ing. Laermanndas hier auch erwähnen — , wenn der Antrag nicht durchgehe.
Herr Abgeordneter Laermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte zum Ende kommen, Entschuldigung.
— Das trifft doch zu; es ist doch belegbar. Sie haben das doch schwarz auf weiß. Wollen Sie die Debatte nachlesen? Soll ich sie hier zitieren?
Am 10. Dezember 1981 fand hier wieder eine Debatte zu diesem Thema statt. Wenn Sie gestatten, Herr Präsident, darf ich den Herrn Kollegen Reuschenbach zitieren:Er— der Bundesforschungsminister —hat aus der Vergangenheit gelernt. Ich hoffe, daß es dabei bleibt. Er wird aber auch die Rechnung aufmachen müssen, was Stillegung an Folgekosten bedeutet. Wenn auch nur annähernd die Höhe der restlichen Baukosten erreicht würde, dann wäre eine Bauruine ein Schildbürgerstreich.Ich will das hier nur einmal anmerken. Es gibt vieles dazu zu sagen.Ich darf dann auf die Bundestagsdebatte vom 3. Dezember 1982 verweisen. Da waren die Lager plötzlich umgekehrt. Mit diesen Fakten und mit diesen Entwicklungen müssen wir uns nun wirklich einmal intensiv auseinandersetzen. Es waren damals nämlich die jeweiligen Bundeskanzler und Forschungsminister — egal welche — , die das Projekt verteidigt haben, weil sie natürlich auch in internationale Verträge eingebunden waren und weil sie natürlich um die Regreßpflichtigkeit wußten. Das haben wir über Jahre hinweg diskutiert. Wir haben — Herr Kollege Schäfer, Sie werden sich daran erinnern — noch Ende der 70er Jahre versucht, unsere Ressourcen zugunsten der Entwicklung des Hochtemperaturreaktors zu konzentrieren, und wir haben gesagt: Franzosen, ihr macht den Brüter. Wer hat das denn abgeschmettert? Unsere eigene Regierung, die damalige SPD/FDPRegierung. Das will ich hier doch einmal klar sagen.
Und nun kommen Sie hier mit einem solchen Antrag. Ich meine, verehrte Kollegen von der SPD-Fraktion, es wäre richtiger, wenn sich hier nun wirklich alle beteiligten Kräfte einmal zusammensetzen würden, statt sich hier gegenseitig die Argumente für und wider — „Mist" und was sonst noch alles gesagt worden ist; das ist doch absolut unsachlich — um die Ohren zu hauen. Auch Sie müssen Ihre Vergangenheit in dem Punkt aufarbeiten. Wir sollten uns jetzt hier in sachlicher — nur in sachlicher, nicht in opportunistischer — Haltung mit diesen Dingen auseinandersetzen.
Dabei müssen Sie schon mithelfen, denn Sie haben diese Sache mitzuverantworten. Die Respektierung der internationalen Vertragslage ist sicherlich wichtig. Sie müssen sich Gedanken darüber machen, wie wir da herauskommen sollen, und zwar nicht in Form eines solchen Antrages.
Aber ich sage hier auch ganz deutlich: So wichtig die internationale Vertragslage auch ist, sie allein kann nach unserer Auffassung nicht ausschlaggebend sein. Ich betone hier noch einmal ausdrücklich: Ausschlaggebend kann allein der Bewertungsfaktor Sicherheit sein. Da gibt es kein Vertun.
Aber, meine Damen und Herren, das gilt natürlich nur dann, wenn es naturgesetzliche und physikalisch plausible Bedenken und Fragen gibt; Herr Daniels, einverstanden. Da gibt es gar kein Vertun. Aber ich betone noch einmal: Es müssen physikalisch plausible, nicht aus dem luftleeren Raum gegriffene Bedenken sein. Das kann nicht sein.Ich sage hier auch ganz deutlich: Je länger das Genehmigungsverfahren dauert und je mehr Auflagen gemacht und Veränderungen vorgenommen werden, desto mehr müssen wir darauf achten, daß die Schlüssigkeit der gesamten Konfiguration noch gewährleistet ist.
Es wird nicht leichter, wenn wir es verzögern und wenn es noch Jahre dauern sollte. Auch daran müssen Sie bei Ihren Überlegungen denken. Auch das ist ein Stück Verantwortung für das Ganze.
Ich will noch dazusagen, daß die Genehmigungsanträge nach geltendem Recht gestellt sind. Nach der geltenden Rechtslage — das Atomgesetz wurde zuletzt 1975 novelliert; Sie können darüber nachdenken — , die wir geschaffen haben, haben die Antragsteller nun einen Rechtsanspruch darauf, daß ihre Anträge beschieden werden, mit Ja oder mit Nein, aber nicht mit Hinhaltetaktik. Dann sind auch Auflagen zu akzeptieren und zu erfüllen, aber sie müssen klar sein, und die Antragsteller müssen einen in der Sache begründeten Bescheid erhalten. Wir können jetzt allenfalls noch etwas daran ändern, wenn wir die Rechtslage verändern. Nur muß ich die Frage stellen: Ist es denn rechtspolitisch noch vertretbar, wenn wir solche Veränderungen der Rechtslage mit einer 15jährigen Rückwirkung machen? Ich glaube, dies geht nicht.Nun hat die SPD pfiffigerweise in ihrem Antrag formuliert, die Antragsteller sollten ihre Anträge zurückziehen. Das ist pfiffig. Das ist nämlich der einzige Weg, wie Sie da herauskommen, wenn Sie nicht Rechtsbruch begehen wollen und einem Rechtsbruch das Wort reden wollen. Das ist ein Grund — vom
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6592 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Dr.-Ing. LaermannMuseum will ich nicht reden; Sie werden das sicherlich nicht ernstgemeint haben —,
warum wir diese beiden Anträge ablehnen müssen.Ich betone dabei, daß es notwendig ist, daß Sie Ihre Schularbeiten machen, daß Sie sich auf Ihren Anteil an der Entwicklung in der Vergangenheit besinnen, daß Sie bereit sind, sich mit allen Beteiligten einschließlich uns zusammenzusetzen,
damit wir hier wirklich zu einer vernünftigen und vertretbaren endgültigen Stellungnahme und Position kommen. Das geht nicht anders. Da lassen wir Sie nicht aus der Verantwortung.Schade, das rote Licht blinkt. Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Probst.
— Also, gut. Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium für Forschung und Technologie, Dr. Probst.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte natürlich gerne auch diesen Bereich abdekken, wenn das in zehn Minuten möglich wäre; aber das wird es nicht sein.Ich möchte mein Bedauern darüber ausdrücken, daß sich diese Debatte über den Schnellen Brüter mehr und mehr von der Wirklichkeit wegwendet und daß dieses Thema immer wieder polemische Debatten auslöst, die von der Sache weit wegführen.Herr Kollege Daniels, bei Ihnen und den GRÜNEN ist man das gewöhnt. Sie betreiben eine Gutachterbeschimpfung, eine Regierungsbeschimpfung, eine Wissenschaftlerbeschimpfung und eine Beschimpfung der Sicherheitsbehörden; Sie betreiben auch eine unverhohlene Unternehmerhetze im Untergrund.
Sie leben von einer Kampfsprache. Sie stellen sich auf ein hohes moralisches Niveau und erklären die anderen alle für unmoralisch. Bei Ihnen ist das nicht verwunderlich; denn der alte Karl Marx schaut bei Ihnen aus allen Ritzen, und Sie möchten die neue Verelendungstheorie unter die Leute bringen.
Das ist bei Ihnen nicht weiter problematisch, weil man es weiß.Aber es wird schon sehr bedenklich, wenn sich der Herr Kollege Vosen der gleichen Methoden bedient, obwohl er vor gar nicht langer Zeit noch total anders sprach.
Wie kommen Sie eigentlich dazu, in bezug auf die Menschen, die diese Frage ernst nehmen, von „Betonköpfen" zu reden?
Meine Damen und Herren, die Energiefrage ist weltweit eine der wichtigsten Fragen. Wir müssen gerade als westliche Industrienationen, die besondere Verantwortung für den verantwortlichen Umgang mit den begrenzten Energieressourcen hat, alle Energienutzungsoptionen offenhalten.
Dazu gehört auch die Option Schneller Brüter.
Aus diesem Grunde ist es wert, diese Sache wirklich unpolemisch und ernst zu diskutieren.
— Ich lasse keine Zwischenfragen zu.Meine Damen und Herren, das unabhängige „Gutachten zum forschungspolitischen Nutzen des Schneller-Brüter-Prototyp-Kernkraftwerks SNR 300 in der Bundesrepublik Deutschland" vom September 1987 bestätigte die bisherige Stellungnahme der Bundesregierung zur forschungspolitischen Begründung des Prototypreaktors in Kalkar. Brutreaktoren erschließen ein Energiepotential, das größer ist als das aller fossilen Energievorräte.
Keine technische Alternative mit vergleichbarem Energiepotential, z. B. die Fusion, ist annähernd weit entwickelt wie der Brutreaktor.
— Ich habe Ihnen sehr zugehört, denn zuhören muß man allen, auch wenn man meint, daß es Blödsinn sei.
Für ein Industrieland wie die Bundesrepublik Deutschland ohne ausreichende eigene langfristige Energievorkommen wäre es unklug, sich aus der gemeinsamen europäischen Entwicklung auszukoppeln; der Zugang zu der Entwicklung und die Möglichkeiten, eigene Beiträge einzubringen, z. B. zur Sicherheitstechnik, wäre nämlich dann vertan.Ein großer Teil der in der Großen Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN angesprochenen Themen wurde
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Parl. Staatssekretär Dr. Probstvor einer Woche in der Aktuellen Stunde hier bereits besprochen. Ich möchte diese Teile nicht wiederholen. Ich möchte aber einige Aspekte herausgreifen. Wenn das forschungspolitische Gutachen hier als Gutachten der Atomlobby, als Gefälligkeitsgutachten und als bestelltes Gutachten — so nicht die GRÜNEN, sondern die SPD; ich nenne den Herrn Abgeordneten Vahlberg —
bezeichnet wird, aber seit der Vorstellung des Gutachtens im September 1987 keine Gegenargumente in der Sache vorgetragen werden, zeigt dies, daß es den Kritikern hier nicht um die Sache geht, sondern auf Ideologie ankommt.
Ideologie wird auch in vielen anderen Darlegungen der Debatte deutlich, wenn technische Pannen z. B. beim französischen Super-Phénix, mit denen man bei komplexen Entwicklungen in dieser Größenordnung immer rechnen muß, als Scheitern der ganzen Entwicklung apostrophiert werden.Ideologie bestimmt auch die Interpretation von Anpassungsprozessen in den verschiedenen nationalen Brüterprogrammen, Herr Schäfer. Es wird verschwiegen, daß trotz Reduzierungen von Fördermitteln und Umstrukturierungen auch weiterhin große BrüterForschungs- und -Entwicklungsprogramme durchgeführt werden, so z. B. in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Aufgabe des Clinch-River-Projekts, mit dessen Errichtung noch gar nicht begonnen war, ist kein Ausstieg gewesen, wie Sie immer wieder behaupten. Der große Versuchsreaktor Fast Flux Test Feasility ist in Betrieb.
Das US-Schnellbrüter-Forschungs- und -Entwicklungsprogramm ist wesentlich größer — hören Sie gut zu, Herr Vosen — als das deutsche oder das französische Programm. Auch die jüngste Entscheidung der Regierung Großbritanniens ist kein Ausstieg. Die Prototypanlage in Dounreay wird nach 20 Jahren Betrieb stillgelegt, aber 20 Jahre ist diese Versuchsanlage gelaufen.
Die britische Regierung wird aber im Rahmen der europäischen Zusammenarbeit ein Kernprogramm weiter fördern.Japan hat im Jahre 1984 mit dem Bau seines Prototypbrüters MONJU begonnen, der das gleiche Anlagenkonzept wie der SNR 300 hat. Die UdSSR verfolgt ein konsequentes und sehr großes Brüterprogramm: Nach dem BN 350 wurde 1980 der BN 600 in Betrieb genommen, zur Zeit ist der BN 800 mit 800 Megawatt elektrische Leistung im Bau.Die Brütertechnologie stirbt also keineswegs, Herr Vosen. Vielmehr wird sie international weitergetrieben.
Auch haben sich die westeuropäischen EVUs und Hersteller in einer Initiative zusammengeschlossen, um ein europäisches Schnellbrutreaktorkonzept zur Baureife zu entwickeln. Es wird erwartet, daß die Wirtschaftlichkeit dieses Reaktors in die Nähe der Wirtschaftlichkeit des Leichtwasserreaktors gelangen wird.
Die besten verfügbaren Sicherheitsstrategien sollen dabei zusammengeführt werden. Aber um dieses Ziel zu erreichen, müssen die nächsten Jahrzehnte genutzt werden, nämlich durch Inbetriebnahme und Betrieb des SNR 300, Weiterentwicklung der Brutreaktortechnik, Planung und Errichtung des europäischen Schnellbrutreaktors EFR, Erfahrungsaustausch auch mit anderen Ländern.Wenn die Ansicht vertreten wird, man könne auf die Inbetriebnahme des SNR 300 verzichten, weil die Schnellbrutreaktoren in den nächsten Jahrzehnten nicht gebraucht werden, dann frage ich mich, warum hier ungleiche Maßstäbe in der Bewertung angewandt werden. Der Fusionsreaktor ist z. B. im Vergleich zum Schnellbrutreaktor in einem wesentlich früheren Entwicklungsstadium. Allein in der Bundesrepublik Deutschland werden hierfür 280 Millionen DM ausgegeben, und zwar zwei Drittel vom Bund und ein Drittel von Euratom. Es ist noch nicht einmal klar, ob diese Fusionsreaktoren jemals wirtschaftlich nutzbar sein werden. Aber hier regt man sich nicht auf, weil das die Ideologie nicht stört.Meine Damen und Herren, auch die Ausgaben für diesen Bereich müssen ins Verhältnis zu den Ausgaben für Energie in Deutschland gesetzt werden. Wenn wir im Jahr 100 Milliarden DM für Strom zahlen, wenn die Gesamtenergiekosten in der Bundesrepublik Deutschland 314 Milliarden DM pro Jahr — so im Jahre 1985 — betragen, ist doch klar, daß hier auch für Forschung einiges ausgegeben werden muß.Der SNR 300 ist errichtet und läuft seit 1985 im vornuklearen Warmbetrieb. Mehr als 95 % der nichtnuklearen Inbetriebnahmearbeiten sind erledigt. Es ist von der Bundesregierung nie in Zweifel gezogen worden, daß die gründliche Klärung sicherheitstechnischer Fragen Vorrang vor allen anderen Überlegungen hat. So bestand stets Einvernehmen mit Nordrhein-Westfalen, daß das atomrechtliche Genehmigungsverfahren streng nach Recht und Gesetz — was soll im Rechtsstaat auch anderes möglich sein? —, d. h. auch zügig, so zügig wie möglich und ohne politische Beeinflussung durchgeführt wird. Dennoch war es im April dieses Jahres notwendig, eine bundesaufsichtliche verfahrensleitende Weisung zu erlassen, der die Genehmigungsbehörde in Nordrhein-Westfalen, wie wir hier vor einer Woche gehört haben, nicht zuwiderhandeln will. Die zur Vorbereitung der jetzt anstehenden Teilerrichtungsgenehmigung 7/6 vom Antragsteller geforderten Unterlagen liegen vollständig vor. Es ist jetzt an der Genehmigungsbehörde von Nordrhein-Westfalen, die weiteren Prüfungen so zügig wie möglich durchzuführen, die restlichen Gutachten in einem klaren, nachvollziehbaren Verfahren zu vergeben und anschließend zügig abzunehmen.
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6594 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Parl. Staatssekretär Dr. ProbstGrundsätzliche sicherheitstechnische Probleme, welche eine Inbetriebnahme des Reaktors ausschließen würden, sind nicht bekannt. Ich bitte Sie inständig, dieser Frage den nötigen Ernst und auch die nötige Sachlichkeit zukommen zu lassen. Es ist nicht sinnvoll, über eine so wichtige Frage wie die Frage der Lösung unserer Energieprobleme in einer derart polemischen Art und Weise im Deutschen Bundestag zu diskutieren.Vielen herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Entschließungsanträgen der Fraktion der GRÜNEN und der Fraktion der SPD. Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion der GRÜNEN auf Drucksache 11/2993 zu überweisen: zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Forschung und Technologie und zur Mitberatung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Ich lasse abstimmen. Wer für die Überweisungsvorschläge ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung ist dieser Antrag mit großer Mehrheit abgelehnt. Die Überweisung ist also abgelehnt.
Dann lasse ich noch über den Antrag selbst abstimmen. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei zwei Enthaltungen ist dieser Antrag mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2994 ab. Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung ist dieser Antrag mit Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Hensel, Kleinert , Brauer, Dr. Daniels (Regensburg), Frau Flinner, Frau Garbe, Dr. Knabe, Kreuzeder, Frau Wollny und der Fraktion DIE GRÜNEN
Obligatorische Einführung des Mehrwegsystems für kohlensäurehaltige Erfrischungsgetränke
— Drucksache 11/2949 —
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hartenstein, Adler, Bachmaier, Blunck, Conrad, Conradi, Daubertshäuser, Fischer , Dr. Hauchler, Dr. Hauff, Jansen, Kiehm, Koltzsch, Kretkowski, Leidinger, Lennartz, Dr. Martiny, Menzel, Müller (Düsseldorf), Müller (Pleisweiler), Reimann, Reuter, Schäfer (Offenburg), Schanz, Dr. Schöfberger, Schütz, Stahl (Kempen), Waltemathe, Weiermann, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Novellierung des Abfallgesetzes — Drucksache 11/2188 —
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist eine gemeinsame Beratung der beiden Punkte vorgesehen worden, und zwar mit Beiträgen von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Hensel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 9. Juni dieses Jahres wurde im Plenum des Deutschen Bundestages ein Antrag meiner Fraktion debattiert, in dem wir das Verbot der PET-Einwegflasche gefordert haben. Diese Forderung wurde von den Rednern der Koalition als zu weitgehend zurückgewiesen. Kollege Baum begründete seine Ablehnung u. a. damit, daß die Bundesregierung auf die Europäische Gemeinschaft Rücksicht zu nehmen habe. Es müsse zur Kenntnis genommen werden, daß wir auf einen europäischen Binnenmarkt hinsteuern und wir national nicht das tun können, was wir tun wollen. Eine ähnliche Position vertrat auch der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Herr Grüner.Am vergangenen Dienstag hat nun der Europäische Gerichtshof in einem Verfahren der EG-Kommission gegen das Land Dänemark festgestellt, daß die dortige Regelung, nämlich ein generelles Verbot von Einweggetränkeverpackungen für Bier und Erfrischungsgetränke, mit europäischem Recht durchaus vereinbar ist. Der Europäische Gerichtshof hat dabei hervorgehoben, daß der Umweltschutz als eines der wesentlichen Ziele der Europäischen Gemeinschaft anzusehen ist und daß daher Einschränkungen für den Grundsatz des freien Warenverkehrs gerechtfertigt sein können. Der Umweltschutz, so der Europäische Gerichtshof, stelle mithin ein zwingendes Erfordernis dar, das die Anwendung des Art. 30 des EWG-Vertrages beschränken könne.Diese Entscheidung, meine Damen und Herren, ist eine deutliche Niederlage der bisherigen Umweltpolitik dieser Bundesregierung. Während Umweltminister Töpfer landauf, landab verkündet, die Bundesrepublik Deutschland spiele eine Vorreiterrolle im Umweltbereich für Europa, hat das kleine Dänemark ohne große Worte bereits 1981 das obligatorische Mehrwegsystem eingeführt und ein Verbot von Einweggetränkeverpackungen ausgesprochen. Das Ziel war einzig und allein die Einführung des Mehrwegsystems. Dies hat mit einer Vorreiterrolle in Europa weit mehr zu tun als die verbalen Luftsprünge dieser Bundesregierung.
Denn wie Sie hoffentlich alle wissen, sind Maßnahmen zur Stützung des Mehrwegverpackungssystems nur dann erfolgreich, wenn sie rechtzeitig erfolgen, d. h. das Mehrwegsystem muß noch ausreichend auf dem Markt vorhanden sein.Das Umweltbundesamt stellt in einer Untersuchung fest, daß die Strukturdaten der Bundesrepublik Deutschland mit jenen in Dänemark durchaus vergleichbar sind, und kommt deshalb zu dem Ergebnis: Ein Verbot von Einwegverpackungen für Bier und Erfrischungsgetränke habe in der Bundesrepublik die
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6595
Frau Henselgleiche Wirkung wie in Dänemark, nämlich einen Mehrweganteil von 100 % bei diesen Getränken. Das Verbot als staatliche Maßnahme gegen Einweggetränkeverpackungen wurde also schon seit langem als die einzig drastische Möglichkeit — sogar von den Fachbehörden dieser Regierung — angesehen.Seit dem 20. September 1988 werden durch das Gerichtsurteil des Europäischen Gerichtshofs nun der Bundesregierung auch die letzten Scheinargumente aus der Hand genommen, mit denen sie immer versucht hat, ihr Nicht-Handeln auf nationaler und auf internationaler Ebene zu legitimieren.Meine Damen und Herren, angesichts der bevorstehenden Europawahlen und angesichts des angestrebten gemeinsamen Binnenmarktes 1992 kann das Urteil des Europäischen Gerichtshofs von großer Bedeutung sein, weil hier der Umwelt eine zentrale Bedeutung zuerkannt wird und der Umweltschutz nicht mehr nur als verbale Proklamation geduldet werden soll.Die Fraktion der GRÜNEN — das dürfte in diesem Hause bekannt sein — steht dem für 1992 geplanten gemeinsamen Binnenmarkt eher skeptisch und ablehnend gegenüber.
Unsere Befürchtung, daß der gemeinsame EG-Binnenmarkt in erster Linie dazu dient, die Wirtschaftsinteressen großer europäischer Konzerne zu fördern, und unsere Befürchtung, daß der Umweltschutz im Zuge eines gemeinsamen Marktes auf der Strecke bleiben wird, haben konkrete Hintergründe: Betrachten Sie sich bitte einmal die EG-Richtlinien und Verordnungen im Umweltbereich, auch Entwürfe aus allerjüngster Zeit, z. B. zur Problematik der Müllverbrennung. Dann wird Ihnen sehr schnell deutlich, daß die Anforderungen an den Umweltschutz auf dem kleinsten Nenner festgeschrieben werden sollen. Eine solche Politik liegt nicht in unserem Interesse und darf auch nicht im Interesse der Bundesrepublik Deutschland liegen.Mit dieser Einschätzung stehen wir GRÜNEN übrigens nicht alleine da. So stellte die „Münchener Abendzeitung" vorgestern fest, daß es um den deutschen Umweltschutz zappenduster aussieht, wenn die Gesetze aller Länder zu einem dünnen Europa-Einheitsbrei verrührt werden.Denn wir stehen doch vor der Frage, ob mit der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes ein Europa der Subventionen für Großkonzerne oder ein Europa, das den Umweltgedanken in den Mittelpunkt seiner Politik stellt, entstehen soll. Ich denke, wenn ein gemeinsamer Markt überhaupt Zukunft haben soll, dann gelingt das nur, wenn der letzteren Prämisse deutlich und konsequent Rechnung getragen wird.Politiker aller Parteien — ich bedaure, daß das Umweltministerium im Moment in andere Gespräche verwickelt ist — gehen mittlerweile mit dem Trendbegriff ,,ökologische Marktwirtschaft" sehr eifrig um. Obwohl dieser Begriff vielschichtig besetzt ist, würde es sich durchaus lohnen, darüber nachzudenken, was eine ökologische Marktwirtschaft auf der Ebene derEG bedeuten könnte bzw. welche nationalen Konsequenzen daraus gezogen werden müssen.Ich darf daran erinnern, daß die Begrifflichkeit der ökologischen Marktwirtschaft entstand, als deutlich wurde, daß die Mechanismen des sogenannten freien Spiels der Kräfte gegenüber unübersehbaren Umweltzerstörungen versagt haben, ja, sie sogar bedingt haben. Nun müssen Regelungsmechanismen gefunden werden, wenn wir die ökologische Krise in der Bundesrepublik und in Europa überwinden wollen. Alle politischen Anstrengungen müssen sich darauf konzentrieren, daß unsere Wirtschafts- und Finanzkraft wie auch unsere Kreativität in der Einsetzbarkeit vorhandener Mittel genutzt werden, um europaweit einen präventiven Umweltschutz zu sichern. Ich sage Ihnen: Europa wird im beginnenden dritten Jahrtausend weltweit daran gemessen werden, wie es seine Umweltprobleme löst.In diesem Zusammenhang ist das jetzt vorliegende Urteil des Europäischen Gerichtshofes zu sehen. Es bietet die Chance für eine künftige Weichenstellung und schafft Handlungsspielräume für ökologische Notwendigkeiten, national und in Europa. Als Konsequenz hat die Fraktion DIE GRÜNEN jetzt die obligatorische Einführung von Mehrweg-Getränkeverpakkungen gefordert.Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich Schluß mit PR-Arbeit und mit schönen Reden zu machen. Machen Sie bitte jetzt deutlich, daß Sie das Urteil und damit die Bedeutung des Umweltschutzes ernst nehmen. Fangen Sie endlich an, in der Abfallpolitik die ersten Pflöcke im Bereich der Verpackungsabfälle zu setzen.Der heute ebenfalls zu behandelnde Antrag der SPD vom April dieses Jahres bleibt weit hinter den Möglichkeiten zurück, die das Urteil des europäischen Gerichtshofes jetzt bietet.
Denn es kann jetzt nicht mehr darum gehen, neben Einwegbehältnissen auch wiederbefüllbare Mehrwegflaschen im Einzelhandel anzubieten oder eine Einwegabgabe für die Behältnisse zu erheben. Aus diesem Grunde bitte ich die SPD um Zustimmung zu unserem Antrag, und ich bitte Sie, Ihren Antrag dahin gehend zu modifizieren, daß das Urteil des Europäischen Gerichtshofes Berücksichtigung findet.
Wir können natürlich nach dem Abfallgesetz — das hat uns der Deutsche Bundestag an die Hand gegeben — eine Einwegverpackung untersagen; wir könnten eine Wiederbefüllbarkeit vorschreiben.Hiermit fordern DIE GRÜNEN die Bundesregierung auf, gemäß den Ausführungen des Herrn Staatssekretärs zu verfahren. So steht auch einer Zustimmung der Koalitionsfraktionen zu unserem Antrag nichts mehr im Wege.Zum Abschluß bitte ich Sie und fordere Sie auf, gemeinsam mit uns dafür Sorge zu tragen, daß die
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Frau HenselBundesrepublik Deutschland Maßstäbe in Europa setzt, in einem Europa, in dem Umweltschutz hoffentlich den ersten Platz einnehmen wird.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dörflinger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Politik gibt es Signale, die über den Tag und über den engeren Kern eines Problems hinaus Wirkung erzielen. Die Einführung des Pfandes für Kunststoffflaschen ist ein solches Signal. Ich wundere mich darüber, daß die Kollegin von den GRÜNEN darüber heute kein Wort verloren hat.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt uneingeschränkt die Entscheidung von Bundesminister Töpfer und anerkennt auch, daß er den Mut gehabt hat, uneinsichtigen Teilen der Wirtschaft einmal die Zähne zu zeigen.
Sie sieht sich zugleich in ihrer Politik bestätigt, einer Politik, die im Abfallbereich nach wie vor die Prioritätenfolge „vermeiden, verringern und verwerten" hat; denn in der Tat darf das Müllvolumen nicht mehr im seither registrierten Umfang steigen. Nach Berechnungen des Umweltbundesamtes besteht der gesamte Hausmüll dem Gewicht nach zu 30 % und dem Volumen nach zur Hälfte aus Verpackungen aller Art, und davon wiederum besteht die Hälfte aus Getränkeverpackungen. Es wäre nicht auszudenken, was es bedeuten würde, wenn in Zukunft zusätzlich Milliarden leerer Plastikbehälter in die Abfallmenge gerieten, denn schon jetzt liegen wir weltweit an der Spitze der Abfallproduzenten.Die Abfallbeseitigung in modernen Entsorgungsanlagen kostet zwischen 80 und 100 DM je Tonne, das Verbringen auf die Deponie nur 8 DM. Schon aus diesem Grunde können wir es uns nicht leisten, unser ohnehin beschränktes Deponievolumen mit leeren Plastikflaschen zu füllen. Die Kapazitäten vieler Mülldeponien sind erschöpft. Genehmigungen für neue Deponien sind immer schwerer zu erreichen. Das gleiche gilt für die Akzeptanz neuer Standorte für dringend notwendige Müllverbrennungsanlagen.Um so wichtiger ist es, das Mehrwegsystem in unserem Lande nicht zu schwächen, sondern zu stärken. Käme die PET-Flasche beispielsweise ohne Pfand auf den Markt, könnte das zum Zusammenbruch des nach wie vor gut funktionierenden Mehrwegsystems in der Bundesrepublik Deutschland führen.
Den Herstellern und Verteilern von Getränken stünde es — lassen Sie mich das hinzufügen — gut an, zu erkennen, daß praktiziertes Umweltbewußtsein angesichts einer hohen Sensibilität der Bevölkerung für Umweltfragen sogar wirtschaftlich vorteilhaft sein kann. In der Schweiz z. B. vollzieht sich zur Zeit eine interessante verkaufspsychologische Entwicklung: Einer der größten Warenhauskonzerne stellt seinen Getränkevertrieb in möglichst vielen Bereichen von Aludosen auf 0,33-Liter-Mehrwegflaschen um. Der Konzern räumt zwar ein, daß ein solcher Schritt höhere Kosten als bisher bringen werde und daß man umweltfreundliche Produkte bewußt durch andere Warengruppen subventionieren müsse, meint aber, daß die Bildung eines umweltbewußten Images für die gesamte Geschäftsentwicklung nur förderlich sein könne. So weit sind wir in der Bundesrepublik leider noch nicht. Vielleicht fehlt es an Information, vielleicht auch am Bewußtsein der Verbraucher für die Möglichkeit, durch umweltbewußtes Verhalten und entsprechende Kaufgewohnheiten in einem marktwirtschaftlich organisierten System ohne Zwang große Wirkungen zu erzielen.Meine Damen und Herren, daß der Europäische Gerichtshof der Bundesregierung jetzt Rückendekkung für das geplante Pfand auf Kunststoffflaschen gegeben hat, ist erfreulich. Das Gerichtsurteil über eine Klage der Kommission gegen das dänische Flaschenpfandsystem, das wir allerdings an Hand einer autorisierten Übersetzung noch genau zu prüfen haben werden, unterstreicht eindrucksvoll die Bedeutung des Umweltschutzes. Deutlicher denn je heben die europäischen Richter hervor, daß der Umweltschutz als eines der wesentlichen Ziele der Gemeinschaft anzusehen sei und gewisse Einschränkungen des Grundsatzes des freien Warenverkehrs rechtfertigen kann. Meine Fraktion begrüßt dieses Urteil nachdrücklich; es festigt unsere Position.
Gleichzeitig ist aber vor Schnellschüssen zu warnen, denn das Urteil ist kein Freibrief. Es zieht relativ enge Grenzen, eben auch im Hinblick auf die Notwendigkeit eines prinzipiell freien Warenverkehrs innerhalb der Europäischen Gemeinschaft.Meine Damen und Herren, das einzusetzende Mittel kann also nicht die Brechstange sein, sondern ein klug dosiertes Instrumentarium, das sich an dem von der Bundesregierung praktizierten Grundsatz orientiert. Dieser Grundsatz hat gelautet und lautet: Soviel Kooperation wie möglich, aber auch die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Konfrontation, wo sie tatsächlich notwendig ist. Die Fähigkeit dazu hat die Bundesregierung ja gerade in diesen Tagen bewiesen. Dieser Grundsatz entspricht auch einer freiheitlichen Ordnung, wo man zunächst einmal auf die Vernunft und die Bereitschaft zur Disziplin der Beteiligten setzt. Er entspricht auch der Tatsache, daß der Bundesumweltminister mit seinen Bemühungen um Kooperation auf anderen Gebieten ja nicht erfolglos geblieben ist, beispielsweise bei Batterien, bei Staniol usw.
Diejenigen, die gegen eine Phase dieser Kooperation vor Zwangsmaßnahmen sind, frage ich, ob der Nachweis für die Bereitschaft zur Kooperation letztlich nicht auch die Voraussetzung dafür ist, zu schärferen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6597
DörflingerMitteln zu greifen, und zwar sowohl national als auch international.Meine Damen und Herren, diese sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes ergebenden internationalen Perspektiven der Umweltpolitik sind aber auch das Ergebnis des Bemühens der Bundesregierung, Umweltschutz zu einem zentralen Thema der Europäischen Gemeinschaft und der internationalen Politik überhaupt zu machen. Es führt ein direkter Weg vom Stuttgarter EG-Gipfel, bei dem Umweltschutz auf deutsches Betreiben erstmals ein zentrales Thema war, bis zu der Rede des Bundeskanzlers anläßlich der Eröffnung der Jahresversammlung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank vor wenigen Tagen in Berlin — und ich füge hinzu —, auch zur gestrigen Rede unseres Außenministers vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen, wo das Thema Umweltschutz wieder einmal in dringlicher Form dem Weltparlament vorgeführt worden ist.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen halten in ihrer Umweltpolitik konsequent Kurs. Sie unterliegen nicht der Illusion, aufgeregter Aktionismus könne irgend etwas bewirken. Insofern halten wir auch die Forderung nach einer sofortigen Novellierung des Abfallgesetzes für überholt, weil wir glauben, daß es zunächst einmal darauf ankommt, tatsächlich vorhandene Vollzugsdefizite abzubauen.
— Das geht sehr wohl.Ich frage mich ferner, ob es für uns als Umweltpolitiker des Bundes nicht auch angezeigt wäre, aus unserer Gesamtverantwortung heraus uns der sicher nicht immer ganz einfachen Aufgabe zu widmen, bei der Bevölkerung für die Akzeptanz notwendiger Entsorgungseinrichtungen zu werben. Es geht nicht, hier die apokalyptische Katastrophe zu beschreiben, um dann anschließend im Wahlkreis gegen Entsorgungseinrichtungen zu demonstrieren, wie es z. B. der Kollege Schäfer in bezug auf die geplante Sondermüllverbrennungsanlage in Kehl getan hat. Das geht nicht! Da wird Umweltschutz zum Vehikel politischer Auseinandersetzung, aber nicht zu einem echten sachlichen Anliegen.
— Keineswegs, aber wir können auf Entsorgungseinrichtungen nicht verzichten. Umweltpolitiker können nie zufrieden sein.Meine Damen und Herren, damit kein falscher Eindruck entsteht: Unsere Fraktion hat aus Anlaß der Verabschiedung der Verordnung konkrete weitere Schritte gefordert, so eine Verordnung zur Kennzeichnung von Ein- und Mehrwegverpackungen im Getränkebereich, Zielvorgaben zur Vermeidung und Verwertung von Abfällen für den Bereich der Getränkeverpackungen gemäß § 14 Abfallgesetz. Wir haben eine TA Sonderabfall gefordert, die in einer ersten Stufe die chemisch-physikalische Behandlung und Verbrennung und in der zweiten Stufe die Ablagerung von Sonderabfällen umfaßt.Wir knüpfen damit an unseren Antrag 11/1429 an, wo wir unsere Grundsätze zur Abfallpolitik formuliert haben. An diesen Grundsätzen halten wir fest. Wir lehnen deshalb den Entschließungsantrag der GRÜNEN ab und erklären uns ausdrücklich bereit, über den Antrag der SPD, der an die Ausschüsse überwiesen werden soll, vertiefend zu diskutieren.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Hartenstein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Abfallpolitik hat scheinbar nicht die Dramatik wie die Auseinandersetzung um den Schnellen Brüter — aber nur scheinbar! Nichtsdestotrotz bin ich der Auffassung, daß das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 20. September geradezu epochemachend ist. Zum ersten Mal haben nämlich die Luxemburger Richter eindeutig pro Umwelt entschieden. Dänemark darf vorschreiben, daß Bier und Erfrischungsgetränke ausschließlich in wiederverwendbaren Verpackungen, also nicht in Einwegflaschen oder -dosen, auf den Markt zu bringen sind. Nur bei der Mengenbeschränkung für Importe wurde das Land zurückgepfiffen.Mag der konkrete Anlaß auch klein oder sogar nebensächlich erscheinen, die Folgen dieses Urteilsspruches sind enorm; enorm auch im Hinblick auf den europäischen Binnenmarkt 1992. Denn der Gerichtshof stellt lapidar fest, der Umweltschutz sei als eines der wesentlichen Ziele der Gemeinschaft anzusehen und könne somit gewisse Einschränkungen des freien Warenverkehrs rechtfertigen. Das ist ein gewichtiger Schritt.
Hier zeigt übrigens die Einheitliche Europäische Akte einmal mehr positive Auswirkungen.
Denn hätte sich der Gerichtshof lediglich auf die Römischen Verträge stützen können, wäre dieses Ergebnis nicht möglich gewesen. In den EG-Verträgen von 1957 kommt der Umweltschutz überhaupt noch nicht vor.Das Urteil kommt also zur rechten Zeit, gerade auch angesichts der gefährlich anschwellenden Abfalllawine. Erste Konsequenz: Die kaum zwei Wochen alte Verordnung, Herr Minister, zur Rücknahme- und Pfandpflicht für PET-Flaschen wird EG-rechtlich mit Sicherheit Bestand haben. Das freut uns. Es bleibt abzuwarten, ob sie ihre Bewährungsprobe auch in der Praxis besteht.
Zweite Konsequenz — und die ist viel wichtiger, Herr Kollege Schmidbauer — : Künftig kann sich keiner mehr hinter den scheinbar so hohen Barrieren des EG-Rechts verstecken, wenn es darum geht, im Inter-
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Frau Dr. Hartensteinesse des Umweltschutzes strengere nationale Regelungen zu erlassen.
Also, nur Mut, Herr Minister Töpfer und liebe Kollegen von den Regierungsfraktionen!
Jetzt sind keine Ausflüchte mehr am Platze. Einschränkungen bis hin zu Verboten sind möglich, wenn zwingende Umwelterfordernisse gegeben sind.
— Ich bitte, zuzuhören. —
Allerdings ist man schlecht dran — das gebe ich zu —, wenn man durch dieses EG-Urteil zwar größere nationale Handlungsspielräume erhält, sich aber gleichzeitig durch eine rückständige nationale Gesetzgebung selbst in einen engen Käfig gesperrt hat.
Der ausbruchsicherste Teil des Käfigs, Herr Kollege Schmidbauer, im Abfallgesetz ist § 14 Abs. 2,
der besagt, daß die Bundesregierung, bevor sie überhaupt etwas zur Reduzierung der Abfallmengen unternehmen kann, mit den Verpackungsherstellern „zu erreichende Ziele" auszuhandeln hat. Das Exempel PET-Flasche hat gezeigt, daß der Mißerfolg hier vorprogrammiert ist.Ob die Bundesregierung jetzt wohl eine Lehre daraus zieht? Wir fordern sie jedenfalls dazu auf und haben in unserem Antrag zur Novellierung des Abfallgesetzes konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt. Im übrigen ist unser Antrag, liebe Frau Kollegin Hensel, viel umfassender und viel weitergehend als der Ihrige. Ich bitte um konstruktive Mitberatung.Es ist notwendig, den Stolperstein aus § 14 Abs. 2 umgehend zu entfernen, sprich: die Sätze 1 und 2 ersatzlos zu streichen. Es ist ferner notwendig, klare Kennzeichnungspflichten einzuführen, damit der Käufer weiß, woran er ist. Die Kennzeichnung muß Angaben über das verwendete Material, über eventuelle Schadstoffgehalte und insbesondere auch ein deutliches Symbol für Einweg- oder Mehrwegbehälter enthalten.
Neu aufzunehmen ist auch die vom Bundesrat gewünschte und vieldiskutierte Lex Aldi.Schließlich ist für Einwegbehälter eine Abgabe oder Steuer vorzusehen, deren Höhe nach der Umweltverträglichkeit der verwendeten Materialien zu staffeln ist. Langsam dürfte es sich doch herumgesprochen haben, daß der Preis ein sehr wirksamer Hebel ist, den man gerade dann betätigen sollte, wenn es darum geht, umweltschädliche Produkte zu verteuern und umweltfreundliche zu begünstigen.Wir mahnen zum wiederholten Male, Herr Kollege Dörflinger, die TA Abfall an, auf die die Kommunen seit zwei Jahren warten. Eigentlich ein Skandal, daß sie bis jetzt noch nicht da ist.
Mittlerweile sind die Sonderabfälle auf 10 Millionen Jahrestonnen angestiegen. Es ist also auch ein Konzept zur Sondermüllentsorgung überfällig. Der Giftmülltourismus treibt makabre Blüten. Es ist wahrlich kein Ruhmesblatt für uns, daß wir als hochentwikkeltes Industrieland versuchen, unseren gefährlichen Dreck in der Türkei oder in den Ländern Schwarzafrikas abzukippen, und zwar in Ländern, die aus nackter Armut nach den dafür gebotenen Devisen greifen.
Beim Sondermüll gilt das gleiche Prinzip wie beim Verpackungsmüll: Oberste Priorität muß die Abfallvermeidung haben. Der Abfall ist immer noch der beste, der gar nicht erst entsteht. Nur: Solange das Abkippen auf Sondermülldeponien, das Verklappen oder Verbrennen auf hoher See nicht nur erlaubt ist, sondern auch noch billiger ist als Vermeidungs- und Recyclingstechniken, wird sich nichts ändern. Deshalb müssen die Entsorgungskosten für Sonderabfälle so bemessen sein, daß sie die tatsächlichen Beseitigungskosten einschließlich der Risiken für die Umwelt abdecken. Sie müssen auf jeden Fall so bemessen sein, daß die Suche nach Innovationen, insbesondere nach Möglichkeiten für Produktionsumstellungen zur Vermeidung und zur Rückführung von gefährlichen Abfällen, auch betriebswirtschaftlich interessant wird.Auf dem Feld der Sondermüllentsorgung sind wir bereits heute in einen Engpaß geraten. Es ist für jeden Einsichtigen klar, daß wir nicht warten können, bis für alle gefährlichen Stoffe Wiederverwertungsmöglichkeiten gefunden sind. Deshalb kann es keine Ausschließlichkeit geben, kein Entweder-Oder, meine Damen und Herren. Wir brauchen auch Hochtemperaturverbrennungsanlagen für Sonderabfälle.
Der Bau solcher Anlagen darf aber nicht dazu führen, daß die Recyclinganstrengungen künftig unterbleiben.
Im übrigen, meine Damen und Herren, wird nur dann, wenn sich die Unternehmen glaubhaft bemühen, den Anfall von Sondermüll auf das unvermeidbare Maß zu reduzieren, auch die Akzeptanz in der Bevölkerung für die Müllverbrennung wachsen. Das ist meine Überzeugung.
Häufig wird immer noch behauptet, man könne diese oder jene giftigen Abfälle nicht vermeiden oder — wenn sie nun schon da sind — nicht wiederverwerten. In vielen Fällen lautet die Antwort: Man kann!
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Frau Dr. Hartenstein— Herr Kollege Schmidbauer, es gibt Beispiele zu Dutzenden. Ich würde sie auch gern vortragen, aber aus Zeitgründen geht das nicht.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidbauer?
Bitte schön.
Frau Kollegin, ich finde bemerkenswert und richtig, was Sie zu Sondermüllverbrennungsanlagen und zu Müllverbrennungsanlagen gesagt haben. Wären Sie bereit, dies auch vor Ort, dort, wo Standortdiskussionen stattfinden, so grundsätzlich auszuführen?
Aber sicher, Herr Kollege Schmidbauer. Es muß aber bei jedem Standort geprüft werden, welche Vorbelastung vorhanden ist und ob er tatsächlich dafür geeignet ist, daß dort eine weitere Entsorgungsanlage gebaut wird. Darüber sind wir uns wohl einig.
Es gibt also zu Dutzenden Beispiele für Recycling von Sonderabfällen. Ich will nur eines davon nennen. Es wäre etwa auf die berüchtigte Dünnsäure zu verweisen, ich will aber das Beispiel „Rauchgasgips" nehmen. In den Entschwefelungsanlagen der Kohlekraftwerke fallen derzeit mehr als eine Million Tonnen Gips an. Er wird nur zum Teil wiederverwendet, zum anderen Teil wird er abgelagert. Warum? — Weil er im Vergleich zum Naturgips teurer ist. Wenn die Preisrelation stimmte, könnte ein Abfallstoff unmittelbar zum Rohstoff werden, und die Naturressourcen würden damit gleichzeitig geschont.
Fazit ist also: Wenn man erreichen will, daß die Produktion von Sondermüll schnell und nachhaltig verringert wird, muß man die Umweltkosten, gerade auch bei der Deponierung, auf den Preis für jede Tonne draufschlagen,
und umgekehrt müssen die durch Recycling vermiedenen ökologischen Kosten dem Verwertungsprodukt bzw. dem Verwertungsverfahren oder Vermeidungsverfahren gutgeschrieben werden. Nur so kann man erreichen, daß künftig nicht mehr, sondern weniger Giftmüll anfällt. Das Übel muß an der Quelle, nicht erst bei der Entsorgung bekämpft werden.
Wir müssen die bestehenden Altlasten endlich sanieren. Das kostet viele Milliarden, und hier kann sich auch der Bund nicht davonschleichen, Herr Minister. Wir müssen aber auch verhindern, daß heute die Altlasten von morgen geschaffen werden.
Auch dafür sind durch die von der SPD-Fraktion beantragte Gesetzesnovellierung die Weichen zu stellen. Wir hoffen daher auf Ihre Zustimmung.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Segall.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Angesichts des überall in der Bundesrepublik sichtbar — oder sollte man vielleicht auch schon „ruchbar" sagen? — vorhandenen Müllnotstands stellt sich doch die Frage an uns alle, die wir in der Politik tätig sind — sei es in der Kommune, sei es in den Ländern oder hier in Bonn — : Was haben wir falsch gemacht? Haben wir eine falsche Wirtschaftspolitik?
— Das wußte ich, daß ich hier von Ihnen Zuspruch bekommen würde. — Fördert der Wettbewerb die Produktion von Müllbergen? Aber ist es nicht der mündige Konsument, der Herr seiner Entscheidung ist? Wenn er nicht bereit ist, bei seinen Kaufentscheidungen umweltbewußt zu handeln, sollte er bei der Beseitigung des Mülls zur Kasse gebeten werden.
Oder gäbe es Möglichkeiten, das Verursacherprinzip auch auf die Umweltverschmutzung durch Müll anzuwenden? Warum landen die Rohstoffe, die in jeder Art von Müll enthalten sind, bei uns immer noch auf der Müllhalde?
Ist unser Wohlstand so groß, daß die Rückgewinnung uninteressant ist? In anderen Staaten — ich denke hier an das Beispiel Kairo — zahlt der Müllsammler noch für den Müll, weil er so wertvoll ist.
Das gibt doch ganz neue Perspektiven. Oder ist unsere Wirtschaft bei allem versammelten Ingenieurverstand nicht in der Lage, eine sinnvolle, gewinnbringende Müllbeseitigung durch Recycling auf die Beine zu stellen?Aber auch für ein vernünftiges Recycling sowie für die Verbrennung der nicht recycelbaren Reste, Klärschlämme und auch Filterstäube — und je sauberer unsere Luft und unser Wasser werden, desto mehr gefährliche Rückstände müssen beseitigt werden — sowie für die Deponierung brauchen wir Standorte. Wir müssen uns schon vor Ort hinstellen, Frau Hartenstein, und für die sinnvollste Lösung eintreten.
Die Sankt-Florians-Haltung der Bürger darf nicht zum Maßstab unseres Handelns werden. Es war vielleicht ein Fehler, die Gemeinden von der Entsorgung ihres Mülls zu entlasten, denn nur so wurden sie in die Lage versetzt, voll dem Sankt-Florians-Prinzip zu huldigen. Aber in Anbetracht der Entwicklung der Erkenntnisse und der Technik läßt sich dieses Rad leider nicht mehr zurückdrehen. Eine Verbrennungsanlage, eine geordnete Deponie kann eben nicht im Miniformat am Rande jeder Gemeinde errichtet werden. Sollte jedoch das Müllchaos ausbrechen, weil sinnvolle Lösungen nicht durchsetzbar sind, wird es vielleicht doch darauf
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6600 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Frau Dr. Segallhinauslaufen, daß jeder sehen muß, wo er mit seinem „Dreck" bleibt.Die Opposition hat hier offensichtlich das Patentrezept. Sie ruft mal wieder nach einem neuen Gesetz. Dieses neue Gesetz haben wir, nämlich das Abfallgesetz von 1986,
das der Bundesregierung neue und weitreichende Möglichkeiten — auch rechtlicher Art — gibt.
Dieses Gesetz legt klare Prioritäten im Abfallbereich fest. vom Vermeiden übers Verwerten bis hin zur ordnungsgemäßen Entsorgung. Der SPD-Antrag ist kein Beitrag zur Lösung der schwierigen Abfallprobleme.
Die neuen Instrumente, die das Gesetz zur Verfügung stellt, reichen aus. Sie müssen nur angewandt werden.
Eine erneute Gesetzgebung zum jetzigen Zeitpunkt verursacht neue Unsicherheit. Statt hier auf Bundesebene den Gesetzgeber zu bemühen, sollte die SPD lieber mit dafür sorgen, daß in den Bundesländern, insbesondere auch in den von ihr regierten Ländern, im Abfallrecht die Vorgaben des Bundesgesetzgebers erst einmal umgesetzt werden und daß die SPD-Länder die Bundesregierung bei Erarbeitung und Inkraftsetzung der einschlägigen Bundesregelungen mitunterstützen.Einen originelleren Beitrag hätte ich schließlich auch von der Fraktion DIE GRÜNEN erwartet.
Sie befaßt sich nämlich mit einem Pflichtpfand für kohlensäurehaltige Getränke, also gerade einem Bereich, in dem das Mehrwegsystem ohnehin und am besten funktioniert. Zudem hat die Bundesregierung gerade zu den Kunststoffflaschen die Pfanderhebung beschlossen.Von der Bundesregierung erwarten wir, daß sie das neue Instrumentarium, das wir mit dem Abfallgesetz geschaffen haben, konsequent anwendet und zügig umsetzt. Es gibt Erfolge, wie die Beispiele Altöl, die Reduzierung von FCKW in Spraydosen und die Verpflichtung der Batterieindustrie zur Quecksilberreduzierung und zur umweltgerechten Entsorgung von Altbatterien zeigen. Weitere Maßnahmen sind notwendig. Dazu gehört insbesondere die Technische Anleitung Abfall. Wir brauchen dringend ein Regelwerk mit bundeseinheitlichen Kriterien für Müllverbrennung und Deponierung. Die Gebietskörperschaften
— da stimme ich Ihnen zu, Frau Garbe — müssen eindeutige Entscheidungskriterien an die Hand bekommen.Wir erwarten von der Bundesregierung die rasche Ausfüllung der Rechtsverordnungen nach § 14 Abfallgesetz überall da, wo es zu vernünftigen Vereinbarungen mit der Wirtschaft oder akzeptablen Zusagen der Wirtschaft nicht kommt. Rechtsverordnungen sind dann unverzichtbar, wenn keine Aussicht darauf besteht, daß die begonnenen Verhandlungen in absehbarer Zeit erfolgreich beendet werden. Für viele Bereiche brauchen wir neue Abfallwirtschaftsziele, denn schließlich stammt das Abfallwirtschaftsprogramm aus dem Jahre 1975. Hier gibt es eine Unmenge zu tun. Ich nenne beispielhaft nur Behältnisse für Pflanzenbehandlungsmittel und Schädlingsbekämpfungsmittel, quecksilberhaltige Thermometer usw.Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie zügig auf der gesicherten Grundlage des § 14 Abfallgesetz handelt. Von den Bundesländern erwarten wir, daß sie ihr Abfallrecht an die Vorgaben des Bundes anpassen. Insbesondere sollten sie auch die notwendigen Schritte zur Schaffung der erforderlichen Abfallentsorgungsanlagen unverzüglich in Angriff nehmen. Müll darf nicht nach dem St.-Florians-Prinzip von einem Bundesland in das andere oder gar ins Ausland gefahren werden.
Die Länder sollten die Aufstellung von Plänen zur Sonderabfallentsorgung nach § 6 Abs. 1 des Abfallgesetzes durchführen und schon aufgestellte Planungen aktualisieren; denn mit steigenden Erkenntnissen und mit wachsenden Erfolgen im Umweltschutz werden auch die Mengen an Sonderabfällen weiter steigen.Wer die Nordsee sanieren will, muß auch die Abfallentsorgungsanlagen schaffen, damit Verbrennung und Verklappung beendet werden können.Von den beteiligten Wirtschaftskreisen erwarten wir, daß sie entsorgungsfreundliche Produktionsprozesse und Produkte entwickeln; auch die Einführung der Umwelthaftung dürfte diesen Prozeß beschleunigen. Je mehr das diesbezügliche Eigeninteresse der Wirtschaft gestärkt wird, desto schneller und stärker wird sich das positiv für die Umwelt auswirken.Schließlich ist der Verbraucher aufgerufen, sich noch umweltbewußter zu verhalten
und verstärkt umwelt- und entsorgungsfreundlichen Produkten den Vorrang zu geben. Die Entwicklung in vielen Bereichen wie etwa bei bleifreiem Benzin und phosphatfreien Waschmitteln zeigt deutlich, daß bei der Kaufentscheidung des Verbrauchers die Umweltrelevanz immer stärker in den Vordergrund rückt. Aber auch hier ist stets darauf zu achten, daß die Substitution nicht zu möglicherweise noch schlimmeren Umweltproblemen führt. Umweltschutz beginnt im eigenen Haushalt; noch so strenge Umweltgesetze des Bundes helfen nicht weiter, wenn sie vom Bürger nicht befolgt werden. Deshalb ist es gerade im Umweltschutz besonders wichtig, daß auf der Grundlage des Kooperationsprinzips alle Beteiligten das Ziel der Umweltverbesserung gemeinsam verfolgen.Wie sieht nun dieses Ziel der Umweltverbesserung im Bereich der Verpackung aus? Das Abfallgesetz
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Frau Dr. Segallgibt hier eine klare Vorgabe, wenn als Ziel zuerst die Vermeidung von Abfall, dann die Verringerung von Abfall und erst zum Schluß die Entsorgung von Abfällen vorgegeben wird. Grundsätzlich halte ich diese Abstufung für richtig. Dennoch muß die Frage erlaubt sein, ob durch ein ausnahmsloses Festhalten an dieser Abstufung immer eine ökologisch positive Gesamtbilanz zu erreichen ist.Bei allen Entscheidungen, die zu einer Vermeidung von Abfall beitragen sollen, müssen wir uns schon die Mühe machen, eine ökologische Gesamtbilanz auf zustellen. Wie schwierig so etwas sein kann, zeigen die neuesten Untersuchungen des Bundesumweltamts. Wir sind doch sicher alle der Meinung — ich war es jedenfalls — , daß die Papiertüte umweltfreundlicher ist als die Einwegtragetasche aus Kunststoff. Das Umweltbundesamt hat aber in einer ökologischen Gesamtbilanz nachgewiesen, daß dies nicht zutrifft.
Für die Herstellung von Papiertüten muß nämlich bis zu 50 % mehr Energie aufgewendet werden als für die Taschen aus Kunststoff.
— Auf meinem Schreibtisch liegt die neueste Analyse vom Umweltbundesamt.
— Ich gehe davon aus, daß die amtliche Stelle des Bundesgesundheitsamts sine ira et studio geprüft hat. Ich gehe grundsätzlich davon aus, daß ich an diese Aussagen glauben kann. Es ist interessant, daß man zu einem negativen Ergebnis für die Papiertüte im Vergleich mit der Plastiktragetasche kommt. Darüber will ich hier jetzt keine weiteren Ausführungen machen. Es sollte nur ein Anstoß zum Denken sein.Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich möchte durch dieses Beispiel nicht dazu beitragen, von der vorgestellten Abstufung im Abfallgesetz abzugehen. Ich möchte aber anregen, die ökologische Gesamtbilanz mehr als bisher ins Auge zu fassen. Wie diese Gesamtbilanz für die PET-Flasche im Vergleich zur Glasflasche wirklich aussieht, halte ich für eine noch offene Frage. Zur Zeit sind die Nachteile der PET-Flasche wohl noch so groß, daß wir an dem geplanten Pflichtpfand nicht vorbeikommen. Aber der Illusion unendlicher Rückläufe von Getränkebehältnissen sollte man sich nicht hingeben. Ich gehe einmal von der Annahme aus, daß — Pfand oder kein Pfand — nicht alle Flaschen zurückgebracht werden. Dabei kann man über den Prozentsatz streiten. Die Anzahl nicht zurückgebrachter Flaschen wird mit steigendem Wohlstand weiter steigen, leider. — Leider zeigt mir hier das rote Licht, daß ich am Ende meiner Redezeit bin.Man müßte auch im Falle PET-Flasche im Verhältnis zur Glasflasche eine ökologische Gesamtbilanz aufstellen. Ich hoffe, daß wir in der Ausschußberatung der beiden Vorschläge von SPD und GRÜNEN ausreichend Zeit haben werden, um diese ökologische Gesamtbilanz zu überlegen.Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit das Wort. Bitte sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wieder einmal ist Gelegenheit, in diesem Hohen Hause die Fragen der Abfallpolitik zu erörtern. Dies ist gut und dies ist richtig; denn Kommunen, aber auch die Wirtschaft und unsere Bürger sind daran interessiert, die Perspektiven genau kennenzulernen. Es ist deswegen sicher auch richtig, eine Unterscheidung in den Teilbereich der Sonderabfälle und in den Teilbereich des Hausmülls vorzunehmen, auch wenn diese Unterscheidung angesichts des ansteigenden Sonderabfallanteils im Hausmüll immer willkürlicher wird.Wenn wir diese Unterscheidung aber noch einmal aufgreifen, sollten wir vielleicht daran denken, daß wir im Teilbereich Sonderabfall vor fast genau einer Woche in Hannover zusammengekommen sind und eine konzertierte Aktion zum Sonderabfall durchgeführt haben, an der neben den Gewerkschaften— diese konzertierte Aktion war eine Initiative von Hermann Rappe, dem Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik — , neben allen Vorsitzenden der bedeutsamen Gewerkschaften, die Vertreter der Umweltminister der Bundesländer, die Arbeitgeber, die kommunalen Spitzenverbände und auch die SPD-Bundestagsfraktion teilgenommen haben. Diese hat sehr konstruktiv mitgearbeitet. Am Ende ist dort ein Papier verabschiedet worden.
— Entschuldigen Sie bitte. Ich komme auf Sie, Frau Garbe, wie Sie sich vorstellen können, noch sehr gerne zurück.Wir haben dort etwas verabschiedet, was die Zustimmung aller, bis auf zwei, gefunden hat. Die zwei, die nicht mitgemacht haben, waren die Fraktion DIE GRÜNEN im Deutschen Bundestag und der BUND. Ich will mich jetzt jeglicher Wertung enthalten. Aber ich halte es für nicht gerade überzeugend, wenn man erst in einer Diskussion mitwirkt und nach der Diskussion die bereits vorbereitete Presseerklärung dagegen verteilt. Ich hätte es für ehrlicher gehalten, von vornherein diese Position der Presseerklärung auch bekanntzumachen, Frau Abgeordnete Garbe.
— Dieses haben Sie leider nicht getan.Von daher gesehen, möchte ich doch festhalten, Frau Abgeordnete Hartenstein, daß es über alle anderen hinweg eine Einstimmigkeit hinsichtlich der Bearbeitung von Sonderabfall gegeben hat.
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6602 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Herr Bundesminister — —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn ich nur den Satz zu Ende bringen darf, Herr Präsident?
Ich möchte also festhalten, daß es unter anderen und in besonderer Weise der Kollege Matthiesen aus Nordrhein-Westfalen gewesen ist, der in voller Übereinstimmung mit dem Bundesumweltminister zumindest darauf aufmerksam gemacht hat — und ich zitiere aus der Erklärung — , daß es gerade auf Grund aktiven Umweltschutzes demnächst zusätzliche Mengen von Sonderabfall geben wird — zusätzliche Mengen. Das Land Nordrhein-Westfalen war dringlich daran interessiert, die Abfallmengen, die wir zunächst mit 5 Millionen Tonnen angegeben hatten, auf 10 Millionen zu erhöhen. Matthiesen hat völlig zu Recht gesagt: Gerade weil wir aktive Umweltpolitik machen, werden wir in absehbarer Zeit mehr Sonderabfall und nicht weniger bekommen.
Ich wäre herzlich dankbar, Frau Abgeordnete Hartenstein, wenn es richtig wäre, daß wir gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland 1 Million Tonnen REA-Gips hätten.
Wissen Sie, wieviel wir haben? Wir sind etwa bei 5 Millionen Tonnen. Wir haben von den 5 Millionen Tonnen unter Anstrengung aller Kräfte 2,5 Millionen Tonnen in die Wiederverwertung hineinbekommen. Wenn Sie hierherkommen und sagen, daß die zu teuer sind: Den REA-Gips kriegen Sie zum Nulltarif weg. Jeder, der REA-Gips hat, ist herzlich dankbar, wenn er nicht etwas zuzahlen muß, wenn er ihm abgenommen wird, denn sonst ist das doch in die Deponie zu bringen. Fragen Sie bei Ihrer Fraktion nach, und jeder wird es Ihnen sagen. Das ist doch aber kein vermeidbarer Abfall. Ganz im Gegenteil: Wenn wir ihn vermeiden, haben wir SO2 in der Luft. Das wollen Sie doch nicht. Mit etwas Nachdenken kommen Sie zu dem Ergebnis, daß das nicht richtig ist.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Sellin.
Herr Töpfer, ich möchte Sie fragen: Sehen Sie es als Vorteil an, daß die Chemieindustrie der Bundesrepublik Deutschland ihre Produktion im Jahr 1988 um zirka 6 % steigern konnte und von daher das Sondermüllvolumen kräftigst zunehmen wird? Da die Politik keinen Beitrag dazu leistet, den Sondermüll der Chemieindustrie zu reduzieren, ist das Bündnis zwischen Herrn Rappe und Ihnen also durchaus verständlich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zunächst einmal, Herr Abgeordneter, darf ich darauf hinweisen, daß ich schon wegen schlimmerer Dinge gerügt worden bin als dafür, daß ich in einer Koalition mit Hermann Rappe Umweltpolitik in der Bundesrepublik Deutschland betreibe. Zum zweiten darf ich Ihnen sagen, daß es im Eigeninteresse — darauf komme ich zurück — jeder Industrie und deswegen auch der chemischen Industrie liegt, Abfälle zu vermeiden; denn es ist extrem teuer, Abfälle zu beseitigen. Daher ist der Anstieg des Produktionsvolumens um 6 % keineswegs automatisch mit einem Anstieg der Sondermüllmenge verbunden. Das Gegenteil kann sogar der Fall sein.
Lassen Sie mich auf die nächste Frage zurückkommen. Frau Abgeordnete Hartenstein, wir alle sind der Überzeugung, daß es richtig ist, eine Technische Anleitung Luft in Kraft zu setzen. Diese Technische Anleitung Luft ist ein Sonderabfallproduzent.
— Und ein großer. — Der Kollege Matthiesen hat uns gesagt, alleine in Nordrhein-Westfalen werden davon 4 000 Unternehmen betroffen. und zwar positiv im Hinblick auf den Umweltschutz, weil nämlich diese Stoffe bisher durch den Kamin in die Umwelt gelangt sind. Jetzt werden durch hochleistungsfähige Filter Filterstäube erzeugt — die Sie als Giftmüll bezeichnen — , die wir dann hinterher nirgends mehr deponieren können, weil wir die Probleme alleine durch diese emotionale Vorbelastung haben.
Lassen Sie uns doch bitte — wenn die Fraktion der GRÜNEN das nicht mitträgt, werden wir das auch mit Anstand hinzunehmen haben — auf der Basis dessen, was wir in Hannover als eine konzertierte Aktion zum Sondermüll gemeinsam festgelegt haben, auch gemeinsam nach draußen durchstehen; denn nur auf diese Art und Weise werden wir auch Akzeptanzen für die Industriegesellschaft bekommen. Ich bitte noch einmal darum: Mir geht es darum, diesen Geist der konzertierten Aktion von Hannover auch in dieses Plenum zu bringen.
Ich habe ja Verständnis dafür, daß Sie Ihren Antrag, den Sie im April geschrieben haben, in der letzten Woche nicht mehr aktualisiert haben. Aber es kann doch nicht sein, daß wir auf Bitte der SPD-Bundestagsfraktion in Hannover ein ganz neues Kapitel hinten in den Bericht aufnehmen — exakt das, was auch Sie in Ihrem Antrag fordern —, und dann bringen Sie diesen Antrag trotzdem ein. Es wäre doch wirklich hilfreich gewesen — das hätte auch der Respekt vor den dort Anwesenden geboten — zu sagen: Das können wir mit Blick auf diesen Beschluß der konzertierten Aktion akzeptieren. Das zum Sondermüll.
Deswegen lassen Sie mich bitte sagen: Der Industriestandort Bundesrepublik Deutschland wird umweltverträglich nur erhalten werden können, wenn wir den Mut haben, bei aller Bemühung um Vermeidung und Verwertung auch umweltverträgliche Abfallbeseitigungsanlagen bei uns zu errichten.
Es geht nicht an, daß wird uns dazu in konzertierten Aktionen einvernehmlich erklären und diese Basis dann in der nächsten Diskussion im Hohen Haus wieder verlassen.
Sie gestatten eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Hartenstein? — Bitte.
Stimmen Sie mir zu, Herr Minister, wenn ich feststelle, daß meine Ausführungen und übrigens auch der Wortlaut unseres Antrags — falls Sie ihn gelesen haben — in keiner Weise
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Frau Dr. Hartensteinim Widerspruch zu den Ergebnissen der konzertierten Aktion von Hannover stehen, sondern daß ich lediglich darauf abgehoben habe, daß zusätzlich zu dem Bau der Müllverbrennungsanlagen notwendigerweise auch die Entwicklung von Recycling- und Vermeidungstechnologien für Sondermüll konzentriert gefördert werden muß? Das war der Tenor meiner Ausführungen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, ich habe mich mit zwei Zahlen, die Sie genannt haben, beschäftigt. Ich habe zweitens darauf aufmerksam gemacht, daß Sie in Ihrem Antrag Vermeidungsquoten angegeben haben, die im Widerspruch zu dem stehen, was uns in Hannover von Ihren Parteifreunden, die in den Ländern Verantwortung tragen, gesagt worden ist.
Ich muß an dieser Stelle auch noch einmal betonen, daß die Menge des Sonderabfalls ansteigen und nicht abnehmen wird. Das, meine ich, war aus Ihren Ausführungen nicht herauszuhören. Wenn das der Fall sein sollte, bin ich sehr zufrieden.
Lassen Sie mich zum zweiten Teil kommen, zur Frage der Hausmüllmengen. Ich möchte mit Blick auf den Antrag der SPD doch folgendes festhalten. Ein Blick ins Gesetz klärt manchmal viele Zweifelsfragen. Wenn in dem Antrag gefordert wird, wir sollten die Vermeidung an die erste Stelle setzen, dann verweise ich auf § 1 a des geltenden Abfallbeseitigungsgesetzes, in dem das exakt so steht und in dem auch der Hinweis auf § 5 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes enthalten ist, wonach bei der Genehmigung bereits eine entsprechende Minderung vorzunehmen ist. Es gibt also eine entsprechende Regelung. Ich kann das, was Frau Abgeordnete Segall gesagt hat, nur unterstreichen. Der einzige Punkt — hier hätte ich sehr gerne noch einmal eine Bestätigung von der SPD — , den wir bei der konzertierten Aktion mit Blick auf eine Novelle zum Abfallgesetz wiederum auf Antrag des Landes mit Unterstützung des Bundes aufgenommen haben, war der, daß wir das Abfallbeseitigungsgesetz daraufhin zu überprüfen haben, ob wir bei Genehmigungsverfahren für solche Anlagen Erleichterungen ermöglich können. Das steht darin. Ich würde mich sehr freuen, wenn auch das die Zustimmung dieses Hohen Hauses finden könnte, denn dabei geht es wirklich ans Eingemachte. Im Gesetz sind diese Prioritäten formuliert.
Es ist gesagt worden, alles sei gescheitert. Frau Abgeordnete Hensel, ich habe eine Statistik über den Anteil von PET-Flaschen in Europa mitgebracht, weil Sie gesagt haben, wir würden immer nur so sagen, wir seien an der Spitze. Diese Statistik bezieht sich auf das Jahr 1981. Prozentanteil Verkauf CO2-haltiger Getränke in Europa, PET-Flaschen: Belgien weist 1981 einen Anteil von 8,2 % und jetzt von 36,7% auf; Frankreich 1981: 0,6 %, jetzt 30,7 %; Italien 1981: 0,8 %, jetzt 45,6 %; Bundesrepublik Deutschland 1981: 0 %, 1986 0%. Das ist Ergebnis der freiwilligen Absprache mit der Industrie, bei Getränken keine Kunststoffverpackungen zu verwenden. Das ist das
Faktum. In dem Moment, Frau Abgeordnete, in dem die Industrie das aufgekündigt hat, haben wir eine Verordnung vorgelegt. Nun sage ich Ihnen wirklich: Wenn man diese Fakten einmal zur Kenntnis nimmt, dann kann man doch beim besten Willen nicht der Meinung sein, dies alles sei gescheitert. Ganz im Gegenteil, es hat gewirkt. Wenn Sie einmal ins Ausland fahren, dann wissen Sie, welchen Siegeszug Kunststoffflaschen dort schon angetreten haben. Dies ist aufgrund freiwilliger Vereinbarung mit der Wirtschaft bis 1987 nicht der Fall gewesen. In dem Moment, in dem sich die Industrie davon entfernt hat, haben wir eine entsprechende Verordnung vorgelegt, und zwar bevor der Europäische Gerichtshof gesagt hat, hier sei eine entsprechende Maßnahme möglich. Wir haben also nicht gewartet, sondern wir haben gehandelt, als es erforderlich und notwendig war. Dies sollte man doch — darum bitte ich ganz herzlich — zur Kenntnis nehmen.
Lassen Sie mich — auch im Blick auf die mir noch zur Verfügung stehende knappe Redezeit — nur eines zu Ihrem Antrag sagen: Meine Damen und Herren, was eigentlich berechtigt uns zu sagen, daß ein Mehrwegsystem immer ein System ist, das auf der Basis von Glasflaschen arbeitet?
Wenn wir einen Kunststoff haben, der leichter und auch mehrwegfähig ist und erhalten werden kann, dann muß ich doch gerade aus ökologischen Gründen heraus sagen, daß wir Transportkosten, Energie und möglicherweise sogar andere Wertstoffe und Rohstoffe sparen. Was berechtigt uns also zu sagen: Weil wir einmal ein Mehrwegsystem auf der Grundlage von Glasflaschen gehabt haben, werden wir auf Dauer immer nur Mehrwegsysteme auf der Grundlage von Glasflaschen haben müssen? Ich will das Mehrwegsystem, und zwar mit Verpackungen, die umweltverträglich sind, und nichts anderes. Wenn mir jemand unter Hinweis auf den technischen Fortschritt sagt: Es gibt auch einen umweltverträglichen Kunststoff, der Mehrwegsysteme ermöglicht, dann soll er das in Gottes Namen machen. Er muß mir nur nachweisen, daß es auch wirklich umweltverträglich ist. Wir können doch gar keine andere Position einnehmen.
Ihre selbstgesetzte Redezeit ist zu Ende. Sie können aber, wenn Sie es wünschen, noch eine Zwischenfrage zulassen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Ich würde die Zwischenfrage sehr, sehr gerne zulassen und sie natürlich auch sehr gerne beantworten, nur, ich weiß aufgrund meiner noch nicht so langen Erfahrung in diesem Hohen Hause nicht, welche Konsequenzen das für die weitere Diskussion hat.
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Bundesminister Dr. TöpferWenn das ohne weitere Konsequenzen bleibt, bin ich gerne bereit, das zu tun.
Es hat Konsequenzen, Herr Minister,
denn wenn Sie ihre Redezeit überschreiten, hat die Fraktion natürlich auch einen Anspruch darauf, daß die ihr insgesamt zugedachte Redezeit entsprechend verlängert wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich lasse die Zwischenfrage gerne zu. Hätte ich es gleich gemacht, dann wären wir schon fertig.
Herr Minister, haben Sie meine Ausführungen von vorhin möglicherweise falsch verstanden? Ich habe deutlich gemacht, daß Sie beansprucht haben, in Europa eine Vorreiterrolle im Umweltschutz einzunehmen, und ich habe ferner deutlich gemacht, daß Dänemark mit dem Verbot im Verpackungsbereich eine Vorreiterrolle eingenommen hat.
Verehrte Frau Kollegin!
Bitte, lassen Sie mich meine Frage zu Ende formulieren.
Verehrte Frau Kollegin, eine Zwischenfrage ist eine Zwischenfrage und kein Diskussionsbeitrag.
Herr Bundesminister, im Hinblick auf die Ökonomie der Zeiteinteilung darf ich bitten, sich in der Beantwortung kurz zu halten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, ich will das sehr, sehr kurz machen. Ich will nur folgendes sagen: Ich kann beim besten Willen, Frau Abgeordnete Hensel, eine PET-Flasche in der Bundesrepublik Deutschland so lange nicht verbieten, wie sie überhaupt nicht da ist. Deswegen konnten wir nicht so handeln, wie Dänemark gehandelt hat. Es gab sie nicht, weil wir durch ein freiwilliges Abkommen genau dies erreicht haben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend festhalten: Der Antrag ist sicherlich richtigerweise im Umweltausschuß. Von daher gesehen werden wir Gelegenheit haben, auch über zehn Minuten hinaus diese wichtigen Fragen tiefer zu behandeln.
Recht herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, damit ist die Aussprache beendet.Wir kommen nun zur Abstimmung. Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2188 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Meine Damen und Herren, es ist beantragt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2949 an dieselben Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus auch damit einverstanden? — Ich höre und sehe auch da keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Wir haben noch ein paar Minuten Zeit.
Diese möchte ich gerne nutzen, verehrte Frau Kollegin, um über Anträge abstimmen zu lassen, die auf der Tagesordnung stehen und bei denen keine Aussprache vorgesehen ist, und das alles Ihnen zuliebe.Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte ohne Aussprache auf. Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 7:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 159 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 20. Juni 1983 über die berufliche Rehabilitation und die Beschäftigung der Behinderten— Drucksache 11/1953 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 11/2706 —Berichterstatter: Abgeordneter Schemken
Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Alle haben sich erhoben. Dann ist das Gesetz einstimmig angenommen.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 82 zu Petitionen— Drucksache 11/2944 —b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 83 zu Petitionen— Drucksache 11/2945 —Wer stimmt diesen Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses zu? Ich bitte um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Es gibt keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Die Fraktion DIE GRÜNEN enthält sich. Die Beschlußempfehlungen sind angenommen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6605
Vizepräsident StücklenIch rufe die Tagesordnungspunkte 9 bis 16 auf:9. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes— Drucksache 11/2688 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung10. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 26. November 1976 zum Abkommen vom 22. November 1950 über die Einfuhr von Gegenständen erzieherischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Charakters— Drucksache 11/2277 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft FinanzausschußAusschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit11. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den IAEO-Übereinkommen vom 26. September 1986 über die frühzeitige Benachrichtigung bei nuklearen Unfällen sowie über Hilfeleistung bei nuklearen Unfällen oder radiologischen Notfällen
— Drucksache 11/2391 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Forschung und Technologie12. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze
— Drucksache 11/2386 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Finanzausschuß13. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 8 vom 19. März 1985 zur Änderung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten— Drucksache 11/2674 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Auswärtiger Ausschuß14. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1989
— Drucksache 11/2965 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft FinanzausschußAusschuß für innerdeutsche Beziehungen Haushaltsausschuß15. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNENMenschenwürdige Zimmer für Kinder und Jugendliche— Drucksache 11/2259 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit16. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Teubner, Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNENNovellierung der Baunutzungsverordnung— Drucksache 11/2648 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitZu diesen Tagesordnungspunkten 9 bis 16 schlägt der Ältestenrat vor, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge ? — Das ist nicht der Fall. Ist das Haus mit den Vorschlägen, die auf der Tagesordnung stehen, einverstanden? — Ich sehe, es ist Übereinstimmung; so beschlossen.Meine Damen und Herren, bevor wir in die Mittagspause eintreten, darf ich mitteilen, daß die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowie der Zusatztagesordnungspunkt 2 nach der Fragestunde behandelt werden.Wir treten in die Mittagspause ein und beginnen mit der Fragestunde pünktlich um 14 Uhr.
Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde— Drucksache 11/2960 —Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Schulte zur Verfügung.Ich rufe die Dringlichkeitsfrage der Abgeordneten Frau Blunck auf:Wird die Bundesregierung angesichts der immer deutlicher werdenden Probleme der Verschmutzung der Meere davon absehen, die am 30. September 1988 auslaufenden Erlaubnisse des Deutschen Hydrographischen Instituts für das Verbrennungsschiff „Vesta" zu erneuern, und wie kann sie eine etwaige Erneuerung angesichts der Tatsache rechtfertigen und begründen, daß ein konkretes Konzept zur Beendigung der Seeverbrennung immer noch nicht vorliegt?Bitte schön.
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6606 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, die Bundesregierung hat ein konkretes Konzept zur Reduzierung und Beendigung der Seeverbrennung entwickelt, das am 30. August dieses Jahres mit den betroffenen Industriezweigen der Wirtschaft und den Ländern erörtert wurde.
Die Bundesregierung verfolgt mit allem Nachdruck das Ziel, die Verbrennung von Abfällen auf See schrittweise zu reduzieren und insgesamt einzustellen, wie dies in dem Zehn-Punkte-Katalog zum Schutz von Nord- und Ostsee vorgesehen ist, den — das muß ich jetzt als Vertreter des Bundesministers für Verkehr sagen — der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit dem Umweltausschuß des Deutschen Bundestages am 22. Juni 1988 vorgelegt hat. Hierzu verweise ich auch auf die Antwort der Bundesregierung auf die betreffende Kleine Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN vom 12. August 1988; das ist die Drucksache 11/2783.
Eine sofortige Beendigung der Seeverbrennung ist im Hinblick auf die gegenwärtige Entsorgungssituation an Land nicht möglich. Das Deutsche Hydrographische Institut wird jedoch auf Grund zwingender öffentlicher Interessen zunächst nur bis zum Jahresende befristete Erlaubnisse zur Abfallverbrennung auf See erteilen, um nach dem verfassungsrechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit den beteiligten Industrie- und Wirtschaftszweigen Gelegenheit zu geben, sich auf die neue Situation einzustellen. Neue Erlaubnisse werden im übrigen auf die Firmen sowie auf die Abfallmengen und -arten beschränkt, für die im letzten Erlaubniszeitraum die Seeverbrennung zugelassen worden ist.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben davon gesprochen, daß es einen konkreten Aktionsplan bereits gebe. Ich möchte Sie fragen: Ist das der Aktionsplan des Ministeriums, oder ist dieser konkrete Aktionsplan ebenfalls mit der Industrie abgesprochen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, Sie fragen mich jetzt auf einem Gebiet, das eher in ein anderes Ressort hineinreicht. Nach meinen Unterlagen ist dies ein Aktionsprogramm der Bundesregierung; es ist auch in einer Bundestagsdrucksache — 11/2783 — abgedruckt. Es ist mit der Industrie abgesprochen, allerdings wird es in der Zukunft noch weitere Gespräche geben und geben müssen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gansel.
Herr Staatssekretär, bedeutet Ihr Hinweis auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, daß Sie die wirtschaftlichen Interessen von ein paar Industrieunternehmen an der Verbrennung von Schadstoffen auf der Nordsee für verhältnismäßig höher einschätzen als die Interessen an der Wiederherstellung eines ökologischen Gleichgewichts in der Nordsee, als das Interesse an der Bewahrung dessen, was in der zerstörten Natur noch übriggeblieben ist, als das Interesse der Anliegerstaaten, der Bevölkerung, des Fremdenverkehrs und und und?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Vermutung, die Sie in Ihrer Frage zum Ausdruck bringen, trifft für die Bundesregierung nicht zu. Es geht darum, abzuwägen, ob eine Beseitigung an Land nicht größere Schäden verursacht als eine Verbrennung auf See. Das ist die Interessensabwägung, um die es geht, die im übrigen gerichtlich nachprüfbar ist.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Opel.
Herr Staatssekretär, teilen Sie mit mir die Meinung, daß die chemische Industrie nach der erneuten Verlängerung der Erlaubnis für das Verbrennungsschiff „Vesta" erst recht keinen besonderen Eifer an den Tag legen wird, bei der Erarbeitung eines konkreten Zeitplanes zur Beendigung der Seeverbrennung mitzuwirken?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich teile diese Ansicht nicht. Übrigens weiß die chemische Industrie, was die Bundesregierung in dieser Frage will. Die Industrie weiß, daß die Regierung fest entschlossen ist, diesen Tatbestand zu beenden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kuhlwein.
Herr Staatssekretär, der Bundesumweltminister hatte bereits vor einem Jahr die deutschen Hersteller von CKW-Lösemitteln als Hauptverursacher der Seeverbrennung aufgefordert, eine Studie über Möglichkeiten zur Substitution, zur Lösemittelrückgewinnung und zur Entsorgung der lösemittelhaltigen Abfälle zu erarbeiten. Liegt diese Studie bis heute vor bzw., wenn sie nicht vorliegt, wieso ist dann, wie Sie vorhin in Ihrer Eingangsantwort sagten, für die chemische Industrie eine neue Situation entstanden, die es rechtfertige, daß sie sich noch ein Vierteljahr lang auf die neue Situation einstellen könne?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Nach meiner Kenntnis liegt die Studie vor. Im übrigen gibt es Untersuchungen des Deutschen Hydrographischen Instituts über den Meeresboden, die zu einer verschärften Analyse des Gesamttatbestands geführt haben.
Weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Garbe.
Herr Staatssekretär, meine Frage ist, ob die nun auslaufenden Genehmigungen für die Giftmüllverbrennung auf See den gesetzlichen Bestimmungen entsprochen haben, insbesondere was das BImSch anbetraf und anbetrifft, und, wenn nein, welche Kriterien werden jetzt für die eventuellen neuen Genehmigungen zugrunde gelegt?Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß Recht und Gesetz Genüge getan wurde. Allerdings müssen wir sehen, daß es neue Untersuchungen gibt, die davon ausgehen, daß der Meeresboden und das Meer tatsächlich verschmutzt werden können, daß also die Effizienz der Verbrennung nicht so ist, wie früher angenommen wurde. Deswegen werden in der Zukunft strengere Maßstäbe angelegt werden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6607
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Emmerlich.
Herr Staatssekretär, wenn es so ist, daß die Müllverbrennung auf See und die an Land mit unerträglichen Schäden für Natur und Menschen verbunden sind, sind Sie dann angesichts dieses Umstandes mit mir nicht der Meinung, daß die nachhaltige Zurückdrängung dieser schädlichen Verbrennung nur möglich ist, wenn man der Industrie konkret ankündigt, ab welchem Zeitpunkt man die Produktion derartiger Abfallstoffe verbieten wird?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich gehe davon aus, daß die Vermeidung von Abfall allemal das allerbeste ist. Wir müssen allerdings sehen, daß es bisher nicht genügend Möglichkeiten der Beseitigung an Land gibt, sonst wären wir heute in dieser Fragestunde nicht so zusammen.
Gehen Sie bitte aber darüber hinaus davon aus, daß es wesentliche Eckpunkte gibt, die der Industrie bekannt sind
— ich bin gerade beim Berichten, Herr Kollege — , um die Menge des Abfalls einzuschränken. Es geht hierbei um die Einschränkung der Phosphor- und Stickstoffeinträge aus kommunalen Kläranlagen durch eine weitere Verschärfung der Verwaltungsvorschriften nach dem Wasserhaushaltsgesetz ab 1989.
Es geht um scharfe Begrenzungen der Stickstoff- und Phosphoreinträge aus industriellen Quellen
durch zahlreiche neue Verwaltungsvorschriften ab 1989. Es geht um die Einführung einer Abwasserabgabe für Phosphor und Stickstoff nach dem Abwasserabgabengesetz. Es geht um eine vollständige Einstellung der Abfallverbrennung auf hoher See. Das ist das Ergebnis einer schrittweisen, stufenweisen Absenkung von 55 000 Tonnen im Jahre 1987 über 20 000 bis 25 000 Tonnen im Jahre 1989 auf 15 000 bis 20 000 Tonnen im Jahre 1991. Es geht um eine vollständige Beendigung der Einleitung von Dünnsäure im Laufe des Jahres 1989. Ich könnte die Aufzählung so fortsetzen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schäfer.
Vor dem Hintergrund Ihrer Antwort, daß im Zehn-Punkte-Katalog von Herrn Minister Töpfer konkrete Absichten, Aussagen, Zielvorgaben zur Reduzierung der Verbrennung von CKW-Lösungsmitteln enthalten sein sollten, frage ich Sie: An welchen Punkt dieses Zehn-Punkte-Katalogs von Herrn Minister Töpfer und an welche konkrete Maßnahme denken Sie dabei?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich mache Ihnen den Vorschlag, daß Sie zu Abfallthemen die Kollegen vom BMU befragen. Ich gehe davon aus, daß Sie im Umweltausschuß die Gelegenheit haben, im einzelnen zu konkretisieren, an was Sie hier denken. Ich glaube, irgendwo müssen wir die Ressortverantwortung noch bedenken. Ich glaube, ich bin schon sehr weit auf ein anderes Fachgebiet ausgewichen. Es ist nicht Ihre Schuld, daß der Vertreter des BMV und nicht derjenige des BMU hier steht; das wollte ich dazu noch sagen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Brauer.
Herr Staatssekretär, für die Erteilung von Erlaubnissen zur Seeverbrennung ist, wie Sie eben auch sagten, das Verkehrsministerium zuständig. Ist denn die Bundesregierung der Auffassung, daß es sich bei der Verbrennung von hochtoxischen Stoffen, insbesondere von halogenierten Kohlenwasserstoffen, um ein Transportproblem handelt, oder sollte dieses Problem nicht viel besser durch das Umweltministerium angegangen werden?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich glaube, ich kann in dieser Fragestunde keine wegweisende Aussage über die Zuständigkeit innerhalb der Bundesregierung machen. Da gibt es verschiedene Interessen, die auch die Zuständigkeiten des Deutschen Hydrographischen Instituts betreffen. Hier gibt es mehrere Zuständigkeiten, die im Endergebnis dazu geführt haben, daß dieses Institut zum BMV gehört.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hiller.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß angesichts der drastischen Verschlechterung der Wasserqualität der Nordsee die erst für 1994 geplante völlige Einstellung der Seeverbrennung nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt erfolgen müßte, und werden Sie, sofern Anträge vorliegen, weitere Genehmigungen in Ihrer Zuständigkeit erteilen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Wenn es die Möglichkeit gibt, Herr Kollege, zu einem früheren Zeitpunkt zu kommen, dann werden der BMV und die nachgeordneten Stellen diese Möglichkeit nutzen. Ich habe auch bereits vorher gesagt, welche Pläne für eine Reduzierung im Laufe der nächsten Jahre vorliegen. Wir müssen allerdings davon ausgehen, daß eine kontrollierte Entsorgung auf See immer noch besser ist als eine graue Entsorgung an Land.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Blunck.
Herr Staatssekretär, ich habe viel Mitleid mit Ihnen, weil Sie nicht der zuständige Fachminister sind. Aber ich möchte Sie folgendes fragen: Ist es richtig, daß das, was auf hoher See verbrannt wird, Abfall ist? Ist es weiter richtig, daß dieser Abfall ohne jegliche Entschwefelung verbrannt wird, und gehe ich recht in der Annahme — das sage ich vor dem Hintergrund Ihrer Antworten — , daß es keinerlei Abstimmung zwischen den Ressorts, insbesondere nicht im Hinblick auf unschädliche Abfallbeseitigung, zwischen dem Bundesminister für Verkehr und dem Bundesminister für Umweltschutz gibt?
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6608 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, was konkret verbrannt wird und übrigbleibt, müßte ich einmal nachsehen. Ich schicke Ihnen dazu gern eine abgestimmte Stellungnahme zu.
— Ich weiß, was verbrannt wird, aber ich weiß nicht, was im einzelnen übrigbleibt. Ich müßte das erst einmal nachsehen. Ich glaube, wir haben uns da richtig verstanden. Gehen Sie im übrigen bitte davon aus, daß es eine abgestimmte Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zwischen dem Bundesminister für Verkehr, den nachgeordneten Stellen und dem Bundesminister für Umwelt gibt.
Weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Hensel.
Herr Staatssekretär, wenn Sie nicht wissen, was konkret verbrannt wird, dann können Sie vielleicht doch eine etwas unkonkretere politische Antwort auf folgende Frage geben: Hält es die Bundesregierung angesichts des neuerlichen großen Fischsterbens in der Ostsee, bei dem Hunderttausende Fische durch Sauerstoffmangel und Gifteinwirkung sterben, nicht für notwendig, sofort etwas zu unternehmen und die Seeverbrennung zu verbieten?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, es geht immer um die Frage nach der Alternative. Die Alternative wäre an Land zu finden, aber sie ist noch nicht ausreichend vorhanden.
Im übrigen wird in der Ostsee nicht verbrannt — damit das klar ist.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Andres.
Herr Staatssekretär, Sie haben hier ausgeführt, Sie genehmigen und wissen ungefähr, was drin ist, und es läuft ein Abstimmungsprozeß zwischen den zuständigen Ministerien. Können Sie mir einmal sagen, wer an dem Abstimmungsprozeß beteiligt ist?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Es sind das Deutsche Hydrographische Institut, das dem BMV nachgeordnet ist, das Umweltbundesamt und das Bundesministerium für Umwelt beteiligt.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stahl.
Herr Staatssekretär, unter Berücksichtigung der sich doch dramatisch verschlechternden Wasserqualität und Lage der Nordsee und unter Berücksichtigung Ihrer Ausführungen hier, daß in einem gemeinsamen Aktionsprogramm die Bundesregierung mit der einschlägigen deutschen Wirtschaft diese Thematik in einem Programm festgelegt hat, und da davon auszugehen ist, daß die Industrie und auch Sie dem Zeitpunkt 1994 zugestimmt haben — wenn ich richtig informiert bin — , muß ich Sie fragen, ob es nicht notwendig wäre, mit der Industrie darüber zu sprechen, daß der Endpunkt nicht 1994 ist, sondern um einige Jahre vorgezogen wird, selbst unter dem Gesichtspunkt, daß dann einige tausend Tonnen gelagert und nicht in der Nordsee verkippt werden.
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe vorher auf eine andere Zusatzfrage ausgeführt, daß es das Anliegen der Bundesregierung ist, diesen Zeitraum möglichst zu verkürzen. Wir müssen auch davon ausgehen, daß neue Genehmigungen, die möglicherweise für den Beginn des nächsten Jahres ausgesprochen werden, auf anderen Grundlagen basieren, nämlich auf der Besorgnis, daß das Meer und der Meeresboden verschmutzt werden. Das haben, wie Sie wissen, neueste Untersuchungen ergeben.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Häfner, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, im Angesicht Ihrer Äußerungen, die in meinen Augen sehr allgemein gehalten waren, daß nach Recht und Gesetz verbrannt werde und daß Ihnen auch nicht im einzelnen bekannt sei, was dort an Stoffen entstehe, habe ich die Frage: Sind überhaupt Grenzwerte für die Seeverbrennung festgelegt, insbesondere für chlorierte Kohlenwasserstoffe? Wenn ja: Wo und welche?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Die Beamten vom Verkehrsministerium und vom Umweltministerium sagen übereinstimmend: ja.
Weitere Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Daniels .
Hält es die Bundesregierung angesichts der Tatsache, daß die meist krebserregenden und erbgutändernden halogenierten Kohlenwasserstoffe insbesondere als Lösungsmittel bei der Produktion, der Anwendung und danach als Abfallstoffe in jedem Stadium die Menschen und die gesamte Umwelt belasten, nicht für notwendig, diese Stoffe generell zu verbieten? Oder sind das Leben und die Gesundheit der Menschen sowie ein funktionierendes Ökosystem weniger wert als die Profite der Hersteller?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich glaube, eine Antwort auf diese Frage würde meine Kompetenz überschreiten. Ich bin gerne bereit, dies dem Kollegen aus dem zuständigen Ressort weiterzugeben. Dies hat mit Verbrennung und Verkehr wirklich nichts mehr zu tun.
Herr Abgeordneter Daniels, es geht hier darum, ob verlängert werden soll oder nicht. Das ist die Frage und nicht die Beseitigung dieser Substanzen. Ich verstehe schon, daß hier irgendwo ein Zusammenhang besteht, aber konkret ist die Frage: Verlängerung oder nicht?Damit ist dieser Geschäftsbereich abgeschlossen.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6609
Vizepräsident StücklenDie Frage 3 des Abgeordneten Dr. Schöfberger soll auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Staatsminister Schäfer zur Verfügung.Die Fragen 19 und 20 sollen auf Wunsch des Fragestellers, des Abgeordneten Lowack, schriftlich beantwortet werden, ebenso die Frage 24 des Abgeordneten Böhm , die Fragen 26 und 27 des Abgeordneten Sielaff sowie die Frage 28 des Abgeordneten Stiegler. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe Frage 21 des Herrn Abgeordneten Gansel auf:Was hat die Bundesregierung getan, um die afghanische Regierung dazu zu bewegen, die Krankenschwester Lea Hackstedt und den Arzt Benno Splieth, die bei ihrer humanitären Arbeit im Auftrag der Notärzte-Organisation Cap Anamur in Afghanistan von Regierungsstreitkräften festgenommen worden sind, wieder freizugeben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, die beiden Mitarbeiter des Komitees Cap Anamur, die Krankenschwester Lea Hackstedt und der Arzt Dr. Benno Splieth, waren in Afghanistan zur medizinischen Versorgung der Bevölkerung tätig. Ihre Tätigkeit war rein humanitär.
Die Bundesregierung hat sofort nach Bekanntwerden der Gefangennahme die deutsche Botschaft in Kabul angewiesen, beim afghanischen Außenministerium um die Möglichkeit zur umgehenden konsularischen Betreuung der beiden Deutschen nachzusuchen sowie ihre unverzügliche Freilassung zu fordern. Die Botschaft hat danach bei den afghanischen Behörden mehrfach demarchiert.
Die Bundesregierung hat ferner den Sonderberichterstatter der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, das Internationale Rote Kreuz sowie ihre Partner in der EG um Unterstützung gebeten.
Wann die von der afghanischen Seite eingeleitete Untersuchung abgeschlossen sein wird, kann noch nicht abgesehen werden.
— Herr Präsident, sind diese Unterhaltungen im Saal üblich?
Meine Damen und Herren, anscheinend stören Sie mit Ihrer Privatunterhaltung!
Herr Abgeordneter Gansel, haben Sie die Antwort voll verstanden?
Ehrlich gesagt, Herr Präsident, ich habe Schwierigkeiten gehabt. Wenn der Staatsminister die Antwort wiederholen würde, wäre ich ihm dafür dankbar.
Schäfer, Staatsminister: Die ganze Antwort? Gansel : Ja.
Schäfer, Staatsminister: Es lag aber nicht an mir! Gansel : Nein, aber an mir auch nicht.
Schäfer, Staatsminister: Ich darf wiederholen: Die beiden Mitarbeiter des Komitees Cap Anamur, die Krankenschwester Lea Hackstedt und der Arzt Dr. Benno Splieth, waren in Afghanistan zur medizinischen Versorgung der Bevölkerung tätig. Ihre Tätigkeit war rein humanitär.
Die Bundesregierung hat sofort nach Bekanntwerden der Gefangennahme die deutsche Botschaft in Kabul angewiesen, beim afghanischen Außenministerium um die Möglichkeit zur umgehenden konsularischen Betreuung der beiden Deutschen nachzusuchen sowie ihre unverzügliche Freilassung zu fordern. Die Botschaft hat daraufhin bei den afghanischen Behörden mehrfach demarchiert.
Die Bundesregierung hat ferner den Sonderberichterstatter der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, das Internationale Rote Kreuz sowie ihre Partner in der EG um Unterstützung gebeten.
Wann die von der afghanischen Seite eingeleitete Untersuchung abgeschlossen sein wird, kann noch nicht abgesehen werden.
Eine Zusatzfrage? — Bitte.
Was ist der Bundesregierung über die Gründe mitgeteilt worden, deretwegen die beiden in Afghanistan festgenommen wurden?
— Herr Präsident, darf ich meine Kollegen noch einmal bitten, ein bißchen ruhiger zu sein. Da wir über eine nicht geringfügige humanitäre Angelegenheit reden, ist es wirklich — —
Herr Abgeordneter Gansel, das dürfen Sie ruhig mir überlassen. Ich hatte nur nicht geglaubt, daß es wirklich störend ist.
Ich wollte Ihnen nur helfen, Herr Präsident.
Wenn es den Fragesteller stört, bitte ich also, die Unterhaltung nach draußen zu verlegen. Wenn Sie einen Stock tiefer gehen, können Sie sogar noch eine Tasse Kaffee dazu trinken.Bitte schön.Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die afghanischen Untersuchungsbehörden werfen Frau Hackstedt und Herrn Dr. Splieth illegalen Grenzübertritt und Zusammenarbeit mit Extremisten — womit sie den Widerstand meinen — vor. Ferner werde, so heißt es, eine mögliche Spionagetätigkeit überprüft. Dieser Verdacht ist nach unserer Auffassung absurd. Die beiden Deutschen sind allein einer humanitären Tätigkeit nachgegangen, durch die sie der afghanischen Bevölkerung die dringend benötigte medizinische Versorgung zukommen lassen wollten.
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6610 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Danke sehr. — Herr Staatsminister, welche anderen Maßnahmen neben diesen notwendigen Gesprächen und Demarchen erwägt die Bundesregierung, um den beiden deutschen Staatsbürgern wieder zur Freiheit zu verhelfen?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe darauf hingewiesen, daß wir uns mit den verschiedensten Personen und Staaten in Verbindung gesetzt haben. Unter anderem haben wir am 15. September einen Vertreter der sowjetischen Botschaft einbestellt und auch um Unterstützung in den Vereinten Nationen gebeten.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte, Herr Abgeordneter Würtz.
Herr Staatsminister, haben Sie zu den Vertretern von Afghanistan, die im Sinne der afghanischen Regierung in Europa tätig sind, irgendwelche Kontakte aufgenommen?
Schäfer, Staatsminister: Für uns ist nach wie vor maßgebend, daß die deutsche Botschaft in Afghanistan selber, in Kabul unmittelbar mit den Behörden Kontakt aufnimmt. Wir halten das für den besseren Weg, als in Europa mit Botschaften Kontakte aufzunehmen. Das ist geschehen und geschieht weiterhin, Herr Kollege.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 22 des Herrn Abgeordneten Gansel auf:
Warum ist es dem Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Afghanistan in den mehr als 14 Tagen zwischen der Festnahme der beiden deutschen Staatsbürger in Afghanistan und der Einbringung dieser Anfrage im Deutschen Bundestag nicht gelungen, die beiden deutschen Staatsbürger zu sprechen, die sich im Gewahrsam der Regierung befinden, bei der er akkreditiert ist?
— Herr Abgeordneter, Sie müssen sich ein bißchen früher melden. Vielleicht können Sie Ihre Zusatzfrage bei Frage 22 unterbringen.
Schäfer, Staatsminister: Dem deutschen Geschäftsträger in Kabul wurde 17 Tage nach der Gefangennahme Frau Hackstedts und Dr. Splieths am 25. September 1988 die Erlaubnis erteilt, die beiden deutschen Staatsangehörigen jeweils eine Stunde zu besuchen. Ihnen geht es den Umständen entsprechend gut.
Diese relativ schnelle Reaktion der afghanischen Seite ist nicht zuletzt auf die unverzügliche Intervention der Bundesregierung und die Einschaltung des Sonderberichterstatters der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, Professor Ermacora, zurückzuführen.
In vergleichbaren Fällen, nämlich der Gefangennahme des französischen Journalisten Alain Guillo und des italienischen Journalisten Fausto Biloslavo Ende 1987 ist der französischen bzw. der italienischen Botschaft in Kabul erst nach Monaten eine Besuchsmöglichkeit eingeräumt worden.
Zusatzfrage, bitte.
Wann und durch wen hat die Bundesregierung von der Festnahme der beiden deutschen Staatsbürger erfahren?
Schäfer, Staatsminister: Wann? Unmittelbar danach. Das kann ich Ihnen jetzt aber nicht ganz genau sagen. Durch wen? Durch Kanäle von Afghanistan aus und auch durch die Vertreter von Cap Anamur, soviel mir bekannt ist. Das war also Anfang September.
Weitere Zusatzfrage.
Teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß es für die beiden festgenommenen Deutschen hilfreich sein kann, wenn in Kreisen der Politik bei uns und auch der veröffentlichten Meinung ein stärkeres Engagement für das Schicksal der beiden Festgenommenen sichtbar werden könnte?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich weiß jetzt nicht genau, worauf Sie sich beziehen. Aber selbstverständlich — das kann man allgemein sagen — ist dies in solchen Fällen immer hilfreich. Ich glaube aber, daß das, was unsererseits unternommen woren ist, der afghanischen Regierung deutlich gemacht hat, daß dieser Fall möglichst schnell untersucht werden muß und daß wir darauf bestehen, mit Hilfe auch anderer Staaten innerhalb der EG und vor allen Dingen der Vereinten Nationen die möglichst baldige Freilassung beider Personen zu erreichen.
Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Andres.
Herr Staatsminister, wenn Sie antworten, daß das immer hilfreich sei, würde ich Sie gerne fragen: Was möchte die Bundesregierung denn tun, um eine stärkere öffentliche Beachtung dieser Fälle hier zu erreichen?
Schäfer, Staatsminister: Die Frage ist von Herrn Kollegen Gansel gestellt worden. Ich glaube, eine öffentliche Auseinandersetzung über diesen Fall heißt im wesentlichen, daß sich die öffentliche Meinung, die Presse und andere Medien, damit beschäftigen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Doch. Vorhin haben Sie mich ja nicht zugelassen, Herr Präsident. Dann müßte ich eigentlich zwei Zusatzfragen haben.
Herr Kollege Andres, wir sind hier ja keine Unmenschen. Aber Sie haben sich bei der ersten Frage von Herrn Gansel zu spät gemeldet. Damit war Ihre Frage erledigt. Bei dieser Frage jetzt haben Sie sich rechtzeitig gemeldet und haben natürlich das Wort bekommen. Jetzt möchten Sie noch eine Gutschrift für die Frage haben, die an und für sich schon verwirkt war. Ist sie wichtig? Außerordentlich wichtig? — Bitte schön.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6611
Ich kann es nicht ermessen. — Herr Staatsminister, wenn Sie sagen, daß sich die Öffentlichkeit damit befassen soll, dann hat die Bundesregierung ja eine Menge Instrumente, um die Öffentlichkeit sozusagen zu bedienen und zu beliefern. Deswegen noch einmal meine Frage: Was ist die Bundesregierung bereit zu tun, um eine stärkere öffentliche Diskussion dieser Fälle zu erwirken?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, Sie haben aus einer Aufforderung Ihres Kollegen Gansel den Schluß gezogen, daß ich nun daran interessiert sei, die Öffentlichkeit mit diesem Fall stärker zu beschäftigen. Das war die Frage von Herrn Gansel. Ich habe ihm geantwortet: Wahrscheinlich — das ist immer so — hilft es, wenn sich die Öffentlichkeit damit befaßt. Für mich, als Bundesregierung, aber kann ich nur sagen: Für uns ist nicht eine öffentliche Diskussion des Falles entscheidend, sondern daß es uns gelingt, aufgrund unserer diplomatischen Kanäle beide Personen möglichst schnell freizubekommen. Und es stellt sich die Frage, inwieweit die Öffentlichkeit dazu beitragen kann.
Keine weiteren Wortmeldungen. Damit ist die Frage abgeschlossen.
Ich rufe die Frage 23 des Herrn Abgeordneten Daniels auf:
Hat das Bundesministerium des Auswärtigen auf die Ankündigung der sowjetischen Behörden, daß mit dem Absturz eines Satelliten mit radioaktivem Inventar in den nächsten Wochen zu rechnen ist, mit einem offiziellen Protest reagiert, und welche Vorkehrungen zum Schutz der Bevölkerung beabsichtigt die Bundesregierung zu ergreifen?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung hat — ebenso wie die Regierungen anderer Staaten — gegenüber der Sowjetunion zum Thema „Kosmos 1900" mehrfach demarchiert, dabei ihre Besorgnis über die von dem Satelliten ausgehenden Gefahren zum Ausdruck gebracht und eine Vielzahl von Detailinformationen angefordert. Die Sowjetunion notifizierte inzwischen einen Teil der angeforderten Informationen an den Generalsekretär der Vereinten Nationen und an die IAEO.
Beim federführenden Bundesinnenministerium ist eine laufende Koordination zwischen den Bundesstellen und den Ländern sowohl über die Lageerkenntnisse als auch über die erforderlichen Maßnahmen sichergestellt. Im Bundesministerium des Innern sowie im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wurde ein Dienst eingerichtet, über den sich Bürger telefonisch über den aktuellen Stand unterrichten können.
Bund und Länder haben für den Fall, daß das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland berührt ist, die erforderlichen Vorkehrungen getroffen. Die Wahrscheinlichkeit, daß Trümmerteile des Satelliten auf die Bundesrepublik Deutschland niedergehen, ist allerdings äußerst gering.
Zusatzfrage, bitte.
Habe ich es recht verstanden, daß die Bundesregierung zwar ihre Besorgnis zum Ausdruck gebracht hat, daß sie aber, obwohl das nach Tschernobyl doch eigentlich der zweite Fall ist, daß aus der Sowjetunion möglicherweise radioaktive Stoffe in die Bundesrepublik gelangen, nicht einmal eine Protestnote formuliert hat, oder muß man davon ausgehen, daß sie den Absturz eines Atomreaktors mittlerweile zu den tagtäglichen Katastrophen zählt und sich daran schon gewöhnt hat?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich glaube, Sie verwechseln jetzt eine Reihe von Sachverhalten.
Erstens. Tatsache ist, daß ein ähnlicher Satellit in Kanada abgestürzt ist.
Zweitens habe ich darauf hingewiesen, daß es aufgrund der vorliegenden Berechnungen äußerst unwahrscheinlich ist, daß die Bundesrepublik betroffen ist.
Drittens habe ich Ihnen ausdrücklich gesagt, daß wir von der Sowjetunion verlangt haben, die Daten zu bekommen, die notwendig sind, um auch auf einen unwahrscheinlichen, aber doch möglichen Ernstfall vorbereitet zu sein.
Viertens haben die zuständigen Ministerien — das ist nicht das Bundesministerium des Auswärtigen — Vorsorge getroffen — das wurde gestern auch im Kabinett diskutiert — , so daß ich sogar weiß, daß sich eine ganze Reihe von Staaten bei uns erkundigen, welche technischen Vorbereitungen wir getroffen haben, um im eigenen Land möglicherweise ähnlich zu verfahren.
Also, von daher, glaube ich, erledigt sich Ihre Frage. Der Protest bei der Sowjetunion würde nichts daran ändern, daß wir die Sowjetunion nicht daran hindern können, Satelliten abzuschießen.
Sie wollen noch eine Zusatzfrage stellen?
Ja. Vizepräsident Stücklen: Bitte.
Aber Sie haben diesen Protest faktisch formal nicht eingelegt; das haben Sie jetzt noch einmal bestätigt. Für mich ist das kein Fall, der ein Normalfall ist. Heute morgen wurde ja bekannt, daß 25 000 Soldaten der Bundeswehr für den Fall bereitstehen. Es geht um eine Wahrscheinlichkeit .. .
Herr Abgeordneter, stellen Sie doch bitte eine Frage!
... von 0,1 % Die Realisierung einer Gefahr ist also nicht völlig abwegig.Meine Frage ist: Da eben nicht auszuschließen ist, daß dieser Satellit in der Bundesrepublik oder in Europa runterkommt, müßte die Bundesregierung doch eigentlich initiativ werden und vorschlagen, daß es — zumindest — sofort einen internationalen Krisenstab gibt, der dann — über die Ländergrenzen hinaus
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6612 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Dr. Daniels
koordinierend — tatsächlich Vorsorge treffen kann. Ist das von seiten der Bundesregierung schon in Gang gesetzt worden?Schäfer, Staatsminister: Ich habe, Herr Kollege, bei der Beantwortung Ihrer ersten Frage darauf hingewiesen, daß wir die Sowjetunion aufgefordert haben, uns Einzelheiten bekanntzugeben. Das ist im Zusammenwirken mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, mit der Internationalen Atomenergiebehörde geschehen. Insofern sind natürlich inzwischen alle Staaten informiert. Vorsorge für den unwahrscheinlichen, aber nicht völlig auszuschließenden Fall, daß die Bundesrepublik Deutschland betroffen wird, ist getroffen worden.
Weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Hensel.
Herr Staatsminister, es geht — wie eigentlich immer — um Notmaßnahmen dieser Bundesregierung. Deshalb frage ich Sie: Wie weit sind die 1983 von Bundesinnenminister Zimmermann angekündigten Bemühungen gediehen, sich für ein Verbot von Atomsatelliten einzusetzen?
Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, Sie haben eine Frage gestellt, die das Bundesinnenministerium betrifft. Ich kann sie Ihnen hier nicht beantworten. Ich kann nur sagen, daß es selbstverständlich immer unsere Zielsetzung gewesen ist, zu vermeiden, daß es zu solchen Vorfällen kommt. Unser Einfluß ist zu gering, die Sowjetunion daran zu hindern.
Weitere Zusatzfrage, Abgeordneter Brauer.
Herr Staatsminister, welche Gefahren für die Gesundheit sieht die Bundesregierung insbesondere bei der Inhalation und Ingestion von Plutonium und Uran, wenn dies in der Wolke sein sollte?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, das ist jetzt wieder eine Frage, die von der ursprünglichen Frage ganz erheblich abweicht, weil sie in Bereiche der Gesundheitspolitik geht, mit der sich das Auswärtige Amt etwas weniger befaßt. Ich kann nur über die Vorsorgemaßnahmen Auskunft geben, die vom Bundesinnenministerium in Abstimmung mit uns getroffen worden sind, Das sind sehr erhebliche Maßnahmen. Ich kann gleich dazusagen — ich wiederhole das —, daß die Wahrscheinlichkeit dafür, daß dieser Satellit „Kosmos 1900" auf die Bundesrepublik Deutschland stürzt, zwischen 1 : 1 000 und 1 : 10 000 liegt, was natürlich immer noch ein Restrisiko birgt, aber ich darf wiederholen: Es sind sehr spezielle Maßnahmen getroffen worden, um für den Fall, daß wir in irgendeiner Weise in Mitleidenschaft gezogen werden sollten, sofort entsprechend handeln zu können. Das bezieht sich auf eine ganze Reihe von Maßnahmen, über die Ihnen das Bundesinnenministerium sicherlich Auskunft geben kann.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Häfner.
Herr Staatsminister, für den Fall, daß diese Wahrscheinlichkeit Wirklichkeit wird, frage ich: Auf welchen Wegen wird die Bevölkerung informiert werden oder auf welchen Wegen kann sie sich informieren über mögliche Gefährdungslagen, über Strahlengefährdungen, die davon ausgehen, und wie ist in bezug auf die aus Panikreaktionen in der Bevölkerung möglicherweise entstehenden Risiken Vorsorge getroffen worden?
Schäfer, Staatsminister: Wenn wir uns hier verantwortungsvoll verhalten, Herr Kollege, wird eine Panikreaktion bei der Bevölkerung, so glaube ich, schon im vorhinein vermieden. Das heißt: Wir sollten diesen Fall hier nicht aufzubauschen versuchen.
Ich darf Ihnen aber auch die Telefonnummern des Bundesinnenministeriums geben, über die sich die Bevölkerung sofort über den aktuellen Stand dieser Entwicklung informieren kann. Der Absturz des Satelliten wird — so wird vermutet — um den 5. Oktober plus minus zwei Tage erfolgen. Ich wiederhole noch einmal, daß es sich hierbei um ein Ereignis handelt, das nach allen Berechnungen uns wahrscheinlich nicht in Mitleidenschaft zieht, aber trotzdem unsere Aufmerksamkeit verdient. Die Telefonnummern des Bundesinnenministeriums sind: 6 8145 40, 45 41 oder 45 42. Beim Umweltministerium ist über die Nummer 3 05 33 33 jederzeit Auskunft über den Stand der Entwicklung zu erhalten.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schäfer .
Da Sie für die Regierung antworten, frage ich, ob Sie Überlegungen bestätigen können, nach denen gegebenenfalls bis zu 25 000 Bundeswehrsoldaten eingesetzt werden müßten, um einzelnen Bruchstücken, die möglicherweise radioaktiv verseucht sind, nachzuspüren. Das hat jedenfalls — ich helfe Ihnen — der Bundesumweltminister heute vormittag erklärt.
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann nur zur Kenntnis nehmen, was der Bundesumweltminister erklärt hat. Wenn Sie mich jetzt fragen, ob das stimmt, was der Bundesumweltminister erklärt hat, kann ich Ihnen nur antworten: Ich gehe davon aus, daß das so ist. Ich vertrete ja das Außenministerium. Was mir gestern bekanntgeworden ist — das ist auch im Kabinett besprochen worden — , ist, daß in jedem Fall durch sofortige Messungen aus Hubschraubern das Strahlenrisiko festgestellt werden kann, entsprechende Teile unverzüglich gesichert und gesammelt werden. Luftdetektion erfolgt durch den Bundesgrenzschutz und durch den Bundesverteidigungsminister.
Keine weiteren Zusatzfragen.Ich rufe auf die Frage 25 des Herrn Abgeordneten Würtz:
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6613
Vizepräsident StücklenIst dem Auswärtigen Amt die völlig unzureichende personelle wie materielle Ausstattung der Visastellen bei den diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland in der Türkei — insbesondere in Ankara und Istanbul — bekannt, und wann wird sich dieser Zustand ändern?Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Zahl der Sichtvermerksanträge hat sich von 1985 bis 1987 in Ankara um 55 % , in Istanbul um 21 % und in Izmir um 75 % erhöht. Die Sichtvermerksstelle der Botschaft Ankara wurde daher 1988 um einen Sachbearbeiter und zweieinhalb Hilfsstellen, die des Generalkonsulats Istanbuls um zweieinhalb Hilfsstellen und die des Generalkonsulats Izmir um einen Sachbearbeiter und zwei Hilfskräfte sowie eine Saisonkraft für sechs Monate verstärkt. Eine weitere personelle Verstärkung der Sichtvermerksstellen wird innerhalb der Bundesregierung geprüft.Die Verstärkungen im personellen Bereich können jedoch erst dann voll wirksam werden, wenn die laufenden und geplanten Baumaßnahmen zur Verbesserung der unzureichend gewordenen räumlichen Unterbringung der Sichtvermerksstellen abgeschlossen sein werden. In Ankara wird voraussichtlich Ende Oktober die in Fertigbauweise erstellte Erweiterung der Sichtvermerksstelle bezogen werden. Die Sichtvermerksstelle Istanbul wird nach Abschluß baulicher Maßnahmen im Dezember 1988 mehr Platz erhalten. Nach Fertigstellung des Hauptdienstgebäudes steht der Sichtvermerksstelle ab 1990 das gesamte Nebengebäude und damit weiterer Platz zur Verfügung. In Izmir wird die Bundesbaudirektion Anfang Oktober 1988 die Möglichkeit einer baulichen Erweiterung des Dienstgebäudes prüfen.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, nach Ihrer so ausführlichen Antwort habe ich nur noch die Frage, ob Sie nicht der Meinung sind, daß die Heerlager, die jeden Tag vor der deutschen Vertretung in Ankara und in Istanbul stehen — sie stehen nicht vor Wien, sondern vor der deutschen Botschaft — , nicht unserem Ansehen in starkem Maße abträglich sind?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, wenn sie unserem Ansehen abträglich wären, müßte sicher der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages entsprechende Konsequenzen ziehen. Sie gehören ihm an.
Sie wissen, daß wir bei der sehr knappen Bemessung unserer Stellen und bei der immer mehr um sich greifenden konsularischen Tätigkeit auf Grund der Fülle von Visumsanträgen und Ausreiseanträgen — ich habe das gerade in Moskau vor Ort sehen können; Sie können das in Warschau und in einigen anderen Ländern sehen — , glaube ich, nur in dieser Weise helfen könnten: Wir haben das Personal erheblich verstärkt. Wir bauen zusätzliche Gebäude. Aber wenn trotz allem die von Ihnen beschriebenen Heerscharen nicht abgebaut werden können, müssen wir natürlich über weitere Maßnahmen nachdenken.
Keine weiteren Zusatzfragen. Damit ist auch dieser Geschäftsbereich abgeschlossen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Würzbach zur Verfügung.
Die Frage 50 der Abgeordneten Frau Ganseforth sowie die Fragen 55 und 56 des Abgeordneten Müller sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 51 des Herrn Abgeordneten Gerster auf:
Trifft es zu, daß sich der „routinemäßig" aus dem Amt scheidende Leiter des Planungsstabes im Bundesministerium der Verteidigung, Hans Rühle, vom früheren Bundesminister Dr. Wörner die schriftliche Zusicherung für eine berufliche Weiterverwendung bei der Regierungsagentur MAMMA in München für den Fall von Änderungswünschen des Amtsnachfolgers Scholz für die personelle Leitung der Bundeswehrplanung hat geben lassen?
Herr Kollege Gerster, so, wie Sie fragen, trifft das nicht zu.
Zussatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär Würzbach, wenn es so nicht zutrifft, frage ich Sie, ob es eine wie auch immer geartete Vereinbarung gibt, die bereits zum Amtsantritt oder vor dem Amtsantritt des neuen Verteidigungsministers für den Fall getroffen wurde, daß ein personeller Wechsel bei der wichtigen Planung der Bundeswehr gewünscht wird?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege, an einer möglichen Änderung dieser Funktion ist die Entscheidung des vorherigen Verteidigungsministers überhaupt nicht festzumachen. Er hat in einem routinemäßigen Weg entschieden, daß dieser Ministerialdirektor für die Nachbesetzung der in Frage stehenden Stelle benannt wird.
Zusatzfrage, bitte.
Darf ich weiter fragen, ob ein Artikel der „Welt" vom Juli des bekanntermaßen gut informierten Redakteurs Rüdiger Moniac, der den Hintergrund dieser Personalveränderung bereits im vorhinein beschrieben hat, nach Ihrer Auffassung also jeglicher realen Grundlage entbehrt. Ist das so?Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe hier nicht die Artikel verschiedener Journalisten, wie gut sie auch immer das Bundesverteidigungsministerium kennen, zu beurteilen.Ich stelle noch einmal fest, daß im Dezember, als nicht bekannt war, wer neuer Minister wird, und als damit nicht bekannt sein konnte, ob dieser betreffende Beamte mit dem neuen Minister besonders gut oder nicht so gut auskommt, diese Entscheidung als nationale Vorentscheidung getroffen wurde. Ich gehe davon aus, daß Sie wissen, wie lang der Weg ist, bis nach Benennung durch das Ministerium — Einschaltung des Auswärtigen Amts, des Bundeskanzleramts, internationaler Gremien, internationaler Partner — dann die Berufung dieses Mannes erfolgen kann. Das hat mit allem anderen überhaupt nichts zu tun.
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6614 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 52 des Abgeordneten Gerster auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Schlußfolgerungen eines offenbar mit viel Insider-Wissen geschriebenen, namentlich nicht gezeichneten Artikels über die Heeresstruktur 2000 in der Zeitschrift loyal 9/88, die Strukturplanung stehe auf einer völlig unsoliden Finanzierungsbasis und die Konsequenz könne nur lauten: Klarer öffentlicher Abschied von einer unerfüllbaren Sparstruktur und gänzlich neuer Planungsansatz für eine bezahlbare Struktur?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gerster, in diesem anonymen Artikel der in Rede stehenden Zeitschrift ist ein verzerrtes und damit die Wirklichkeit nicht wiedergebendes Bild gezeichnet, das mit den Realitäten überhaupt nicht übereinstimmt.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär Würzbach, schließen Sie aus, daß dieser Artikel mit Informationen aus dem Führungsstab des Heeres oder aus anderen leitenden Ebenen des Verteidigungsministeriums zumindest gespeist worden ist?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Nein.
Das schließen Sie nicht aus?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Ich schließe dies nicht aus. Das Wort „nein" war, meine ich, sehr klar.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 53 des Herrn Abgeordneten Dr. Mechtersheimer auf:
Kann die Bundesregierung bestätigen, daß zur Desinfektion von Naßräumen der Truppenunterkünfte das Mittel INCIDIN PERFEKT verwandt wird, in dem zu einem Drittel der Wirkstoff Formaldehydlösung enthalten ist?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Mechtersheimer, die verwendeten Desinfektionsmittel sind alle vom Bundesgesundheitsamt oder der Deutschen Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie geprüft und anerkannt. Richtig ist, daß sie so beschaffen sind, wie Sie in Ihrer Frage fragen.
Es ist das Bundesgesundheitsamt noch einmal mit der Frage eingeschaltet worden, ob die Daten auch heute nach möglicherweise neuen Erkenntnissen ähnlich wie damals zu einer Unbedenklichkeit führten. Darüber hinaus ist, weil neue Mittel mit ähnlichem Effekt auf dem Markt sind, die nicht mehr diese Substanz beinhalten, von uns der Auftrag gegeben worden — das ist in Arbeit —, eine neue Dienstanweisung zu schreiben, und dann auf dieses andere Mittel umzuschwenken, außer für Krankenhäuser, für Intensivstationen, für Krankenzimmer, Operationssäle usw., wo auf das alte Mittel — ähnlich wie im zivilen Bereich — zurückgegriffen werden soll.
Zusatzfrage, bitte.
Ist der Bundesregierung bekannt, Herr Staatssekretär, daß das Umweltinstitut München bei Untersuchungen nachgewiesen hat, daß selbst bei einer sachgerechten Anwendung dieses Mittels „Incidin perfekt" die Innenraumkonzentration das Zehnfache des zulässigen Wertes übersteigt?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Ich habe darauf hingewiesen, daß wir die Expertise vom Bundesgesundheitsamt und den anderen eben genannten Instituten haben und noch einmal auf eine aktuelle Überprüfung gedrungen und darum ersucht haben. Ich gehe davon aus, daß uns durch diese Institutionen mögliche neue Erkenntnisse mitgeteilt werden.
Noch eine Zusatzfrage, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, wie erklärt sich die Bundesregierung die Verwendung von Stoffen mit begründetem Verdacht auf krebserzeugende Potentiale — das ist hier der Fall —, obwohl schon 1984 ein Erlaß Ihres Hauses ergangen ist, wonach die Beschaffungsstellen der Bundeswehr angewiesen sind, verstärkt umweltfreundliche Produkte in die Kaufentscheidung einzubeziehen?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, dieses Mittel wurde uns von den beiden genannten Institutionen, deren Namen ich nicht wiederholen muß und deren Glaubwürdigkeit für uns alle, auch für Sie, glaube ich, außer Zweifel steht, als ein umweltverträgliches, nicht krebserzeugendes Mittel benannt. Obwohl dies so ist, haben wir, weil es schon längere Jahre her war, nachgefragt, ob dies heute noch so ist.
Wir werden — bis auf die Ausnahmen, die ich Ihnen eben nannte — auf ein anderes Mittel umsteigen.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 54 des Herrn Abgeordneten Mechtersheimer auf:
Kann die Bundesregierung bestätigen, daß beim Flugtag am 28. August 1988 in Nörvenich beim Start eines Hubschraubers der Bundesluftwaffe, der eine Fallschirmjägergruppe absetzen sollte, zwei Rotorblätter abgebrochen sind?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Meine Antwort ist: nein.
Haben Sie eine Zusatzfrage? — Bitte sehr.
Teilt die Bundesregierung nicht die Befürchtung, daß deswegen, weil ein Hubschrauber in Schwierigkeiten geraten ist, eine erhebliche Gefährdung für die Besucher der Flugschau in Nörvenich eingetreten ist?
Würzbach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, meine Antwort auf Ihre Frage ist: nein. Deshalb kann die Folgerung, die Sie aus Ihrer Annahme ziehen, nicht gezogen werden.
Zusatzfrage, bitte.
Ist Ihnen bekannt, daß infolge von Materialschäden bzw. Billigimporten
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6615
Dr. Mechtersheimerim Bereich von Schrauben Schwierigkeiten bei solchen Hubschraubern generell eingetreten sind?Würzbach, Parl. Staatssekretär: Nein.
Keine weiteren Zusatzfragen. Damit sind wir auch am Ende dieses Geschäftsbereichs angelangt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit auf. Die Fragen 57 und 58 des Herrn Abgeordneten Dr. Hitschler sollen auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Fragen 59 und 60 sind Fragen, die auf Grund von Nr. 2 Abs. 2 unserer Richtlinien schriftlich zu beantworten sind. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit ist dieser Geschäftsbereich abgeschlossen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Schulte zur Verfügung.
Die Fragen 61 und 62 des Abgeordneten Kiehm und 63 und 64 des Abgeordneten Kastning sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 65 des Herrn Abgeordneten Andres auf:
Welchen Standort soll der voraussichtlich im Oktober 1988 neu in Dienst zu stellende Gleisbauzug haben, und ist dort eine für die Bedienung ausgebildete Besetzung von Bundesbahnbediensteten vorhanden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, die Standortfrage des neu in Dienst zu stellenden Umbauzuges ist offen. Erst nach Auswertung des Ergebnisses aus dem Projekt des Vorstandes der Deutschen Bundesbahn „Organisation der Oberbauinstandsetzung" ist die Entscheidung über den endgültigen Betreiber, eine oder mehrere Firmen oder die Deutsche Bundesbahn, und damit auch über den Standort möglich.
Unabhängig von der Betreiber- und Standortentscheidung geht die Deutsche Bundesbahn davon aus, daß geeignete Mitarbeiter für die Bedienung des neuen Gleisumbauzuges zur Verfügung stehen, die auf Grund ihrer bisherigen Verwendung mit der Arbeitsweise von Umbauzügen grundsätzlich vertraut sind.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wie können Sie erklären, daß die Standortfrage völlig offen sei, wenn dem Hauptpersonalrat bei der Deutschen Bundesbahn durch den Bahnvorstand mitgeteilt wurde, daß es Überlegungen darüber gebe, im Zusammenhang mit der Studie OBI diesen Umbauzug zunächst einem privaten Betreiber zu überlassen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn ein privater Betreiber diesen Umbauzug bekommt, dann gibt es keinen Standort in dem von Ihnen nachgefragten Sinne.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hält es die Bundesregierung denn für richtig, daß ein privater Betreiber von der Bundesbahn ausgewählt wird?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe in meiner Antwort gesagt, daß die Bundesbahn selber überlege, welche Art die richtige, die wirtschaftlich sinnvolle sei. Dies ist eine Aufgabe, die die Deutsche Bundesbahn in eigener unternehmerischer Verantwortung zu entscheiden hat.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 66 des Herrn Abgeordneten Andres auf:
Welches Ziel wird mit der Erstellung der Studie Projekt OBI verfolgt, wenn vorher ohne diese Studien bereits Entscheidungen über Einsatz und Betrieb des Gleisbauzuges getroffen werden?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, da der Gesamtaufwand für den Oberbau der Deutschen Bundesbahn in den vergangenen Jahren stark zurückgenommen werden konnte, hat der Vorstand der Deutschen Bundesbahn am 19. Oktober 1987 beschlossen, alle Fragen der Oberbauinstandsetzung im Rahmen des Projektes „Organisation der Oberbauinstandsetzung" grundsätzlich zu untersuchen. Vom Vorstand der Deutschen Bundesbahn wurde zugesichert, daß die endgültige Entscheidung über Einsatz und Betrieb des neuen Gleisumbauzuges nicht vor Abschluß und Ergebnisauswertung dieses Projektes getroffen werden wird.
Unabhängig hiervon ist die Deutsche Bundesbahn bestrebt, in einer zeitlich begrenzten Zwischenphase einen möglichst wirtschaftlichen Einsatz des neuen Umbauzuges zu erreichen.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie sagen, wann die Ergebnisse des Projektes OBI vorliegen werden?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß das noch in diesem Jahr der Fall sein wird.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie mir erklären, wie die Projektstudie OBI überhaupt sinnvoll zum Abschluß gebracht werden kann, wenn die Bahn in der Zwischenzeit Investitionen tätigt, einen Umbauzug beschafft und diesen Umbauzug an Private ausleiht? Welche Chance soll die Bahn dann noch für eine Stationierung im eigenen Bereich haben?Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Mit möglichen Privaten, die noch zu finden sein werden, soll vertraglich ausgemacht werden, daß für den Fall einer anderen Entscheidung der Deutschen Bundesbahn die DB selber in eigener Regie diese Sache betreibt.
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6616 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Die Fragen 67 und 68 des Herrn Abgeordneten Hinsken sollen ebenfalls schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit sind wir am Ende unserer Fragestunde.
Bevor wir in die weitere Tagesordnung eintreten, möchte der Herr Abgeordnete Becker das Wort zur Geschäftsordnung haben. Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte eine Aktuelle Stunde beantragen gemäß Anlage 5 unserer Geschäftsordnung Nr. I 1 b zu der Antwort der Bundesregierung auf die Frage der Frau Kollegin Blunck nach der Verschmutzung der Meere und den sich daraus ergebenden Problemen.
Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat zu der Antwort der Bundesregierung — Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr — auf eine Dringlichkeitsfrage der Abgeordneten Frau Blunck — Drucksache 11/3003 — eine
Aktuelle Stunde
verlangt. Das entspricht Nr. 1 b der Richtlinien für die Aktuelle Stunde. Die Aussprache muß nach Nr. 2 a der Richtlinien unmittelbar nach Schluß der Fragestunde durchgeführt werden. Da sind wir jetzt angelangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Blunck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Nordsee liegt im Sterben. Ein sichtbares Zeichen sind die toten Robben, die an der Küste aufgefunden werden, sind die Fische, die zu Tausenden auf dem Meer schwimmen, ist aber auch die spürbare Angst der Menschen dort oben, die um ihren Lebensraum und ihre Erwerbsquellen fürchten.
Und was macht die Bundesregierung? Die Bundesregierung macht auf Show. Sie hat ein Umweltministerium, und sie hat auch einen Umweltminister. Der schließt auch internationale Verträge ab, Verträge wie bei der Nordseeschutz-Konferenz, die besagen, daß man 65 % der auf hoher See verbrannten Abfälle bis 1991 weghaben und daß man 1994 die Verbrennung total einstellen will. Er spricht auch viel. Er geht auch baden usw. Wirklich, er ist ein Medienstar.
Wenn es aber zur Sache geht, wenn es um Kompetenzen geht, dann hat er keine. Er kann die Industrie nicht zwingen, sich selbst Gedanken darüber zu machen, wo sie mit ihrem Müll bleiben soll. Im Gegenteil: Er redet nur mit der Industrie, und das bereits seit dem 25. Oktober 1987. Er stellt auch fest, daß die deutschen Hersteller von CKW, ChlorkohlenwasserstoffLösemittel, die Hauptverursacher der Seeverbrennung sind und einen Aktionsplan vorgelegt haben, der dem von ihnen verursachten Müllproblem überhaupt nicht Genüge tut. Im Gegenteil: Die Studie, die die Industrie vorgelegt hat, erfüllt nicht den mit ihr verbundenen Anspruch. Insbesondere enthält sie kein konkretes Konzept zur Beendigung der Seeverbrennung.
Honoriert wird das Ganze, indem, wie wir heute in der Fragestunde gehört haben, dieser Industrie die weitere Genehmigung zur Verbrennung auf hoher See erteilt wird.
Ich denke, es war sehr peinlich, was in der Fragestunde abgelaufen ist, wie der Herr Staatssekretär aus dem Verkehrsministerium geantwortet hat. Es zeigte deutlich, daß eigentlich die linke Hand nicht weiß, was die rechte in dieser Regierung macht.
Die Aufsichtsbehörde, nämlich das Verkehrsministerium, weiß nicht — und hat das hier auch deutlich ausgesprochen — , was verbrannt wird. Sie wissen auch nicht, wie giftig das, was verbrannt wird, ist. Aber die Erlaubnis wird weiter bis zum 31. Dezember 1988 erteilt.
Das Problem ist dabei, daß wir ja wissen, wie das dann weiter praktiziert wird. Wir haben das bei der Dünnsäureverklappung ja hinreichend erfahren: daß immer eine Genehmigung die andere Genehmigung nach sich zieht.
Ich bitte Sie im Interesse der Menschen an der Küste, im Interesse unserer Kinder ganz herzlich, keine neuen Erlaubnisse zu erteilen. Ich möchte, daß die Industrie ihre Schularbeiten macht. Ich möchte, daß die Verursacher endlich handeln. Ich bitte, daß Sie diesen Verursachern auf die Finger gucken.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Laufs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Nebenmeere des Nordatlantiks, Nord- und Ostsee, sind in einem Zustand, der dringend verbessert werden muß. Dazu sind die Nordseeschutz-Konferenzen abgehalten worden, deren Ergebnisse wichtige Schritte in die richtige Richtung darstellen, uns aber nicht zufriedenstellen.Die Schadstoffeinträge durch die Flüsse, die Verklappung von Abfällen sowie insbesondere auch die Verbrennung auf See müssen drastisch reduziert werden. Dies ist unser politisches Ziel. Dabei geht es vor allem um die chlorkohlenwasserstoffhaltigen Abfälle.Die Bundesregierung hat ein Konzept zur Reduzierung und Einstellung der Verbrennung von Abfällen auf der hohen See im September dieses Jahres, also vor wenigen Wochen, verabschiedet.
Darin wird festgestellt, daß die weitere Verbrennung nur möglich ist, wenn zwingende öffentliche Interessen dafür vorliegen. Erlaubnisse werden nur noch erteilt, sofern zwingende öffentliche Interessen vorübergehend eine Fortsetzung der Verbrennung auf See unumgänglich machen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6617
Dr. LaufsEs gibt nun — der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Schulte hat darauf hingewiesen — aus neueren Forschungsarbeiten Hinweise, daß durch die Abfallverbrennung Meer und Meeresboden mit Schadstoffen belastet werden können. Wir befinden uns hier aber im Bereich der Umweltvorsorge. Es geht um Maßnahmen der Vorsorgepolitik und damit auch um die erforderliche Abwägung zwischen den Interessen, wobei dem Umweltschutz natürlich ein außerordentlich hoher Stellenwert zukommt.Von der Bundesregierung wird derzeit geprüft, ob und inwieweit zwingende öffentliche Interessen für die Fortsetzung der Verbrennung auf See vorliegen.
Die Länder sind in die Prüfung eingeschaltet. Die Bundesregierung hat schon jetzt festgestellt, daß ab Oktober 1988 folgende Abfälle nicht mehr auf See verbrannt werden dürfen: Abfälle von Firmen, die bisher noch nicht die Verbrennung auf See in Anspruch genommen haben; Abfallarten, die bisher noch nicht auf See verbrannt worden sind; Abfälle, die ohne Umweltbeeinträchtigungen an Land entsorgt werden können.Die Bundesregierung strebt an, daß die im Jahre 1988 verbrannten deutschen Abfallmengen insgesamt 38 500 t nicht überschreiten, was eine Reduzierung um 30 % gegenüber. 1987 darstellt.
Meine Damen und Herren, für den Zeitraum ab 1. Januar 1989 wird neu zu entscheiden sein, ob zwingende öffentliche Interessen vorliegen. Dabei werden vor allem die im 10-Punkte-Katalog genannten Reduzierungen und die Ergebnisse des Arbeitskreises aller Beteiligten zu berücksichtigen sein. Sollten die zuständigen Behörden des Bundes und der Länder zu dem Ergebnis kommen, daß eine ordnungsgemäße Entsorgung der chlorkohlenwasserstoffhaltigen Abfälle nicht gewährleistet ist oder daß bei ihrer Entsorgung die Freisetzung schädlicher Abfälle nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand verhindert werden könnte, ist der Tatbestand des § 14 Abs. 1 des Abfallgesetzes gegeben. Der Bundesumweltminister bereitet deshalb vorsorglich eine entsprechende Rechtsverordnung vor. Ziel dieser Rechtsverordnung ist es, durch abfallwirtschaftliche Maßnahmen bereits am Entstehungsort die Voraussetzungen zur Abfallverwertung zu schaffen. Dabei steht die destillative Aufarbeitung halogenhaltiger Lösemittelabfälle zu verwertbaren Lösemittelregeneraten im Vordergrund.
— Das ist, glaube ich, immer Ihr Kommentar dazu.Ich darf folgendes feststellen: Die vorliegende Situation, die Rechtslage, in der wir uns hier befinden, die Umweltschäden, die wir alle beklagen, die fehlenden Entsorgungsgelegenheiten an Land haben wir ja auch von Ihnen, von der SPD-Bundesregierung mit übernommen. Das alles ist ja nicht neu. Das sind keine neuen Tatbestände. Die Regierung aus CDU/CSU und FDP geht nun entschlossen daran, diese Probleme zu lösen
und sie hat es gar nicht nötig, sich in dieser Weise von Ihnen kritisieren zu lassen.Frau Kollegin Blunck, Ihre abwertenden Bemerkungen in bezug auf den Bundesumweltminister und auch an die Adresse des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Schulte sind miserabler Stil und ein Umgang, den wir nicht miteinander pflegen sollten.Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Garbe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Ich schließe mich als erstes den Ausführungen meiner Kollegin Frau Blunck voll an.Ich möchte mich speziell der Sondermüllverbrennung auf See widmen. Die Sondermüllverbrennung auf See, meine Damen und Herren, ist für ein HighTech-Industrieland die unwürdigste und unmöglichste Art und Weise der Sondermüllbeseitigung, die man sich überhaupt denken kann.
Von den giftigen Ladungen von verschiedensten Firmen aus der Bundesrepublik, die zu den Seehäfen transportiert und von den Seehäfen aus per Schiff auf die See verbracht wurden, wurden Analysen gemacht, und siehe da: Wenn die Abfälle nicht zusammengeschüttet worden wären, könnte man den allergrößten Teil säubern und in Recyclingverfahren einbinden, also wieder in den Produktionskreislauf einbringen. Diese Vorgehensweise wäre sinnvoll, ökologisch und ressourcensparend. Diese sinnvolle Vorgehensweise wird aber nicht verfolgt, weil a) keine funktionierende Abfallbörse in der Bundesrepublik existiert und weil b) die reiche Bundesrepublik für billiges Geld weiterhin Ressourcen, also Rohstoffe, aus armen Ländern beziehen kann. Das ist nicht nur unverantwortlich hinsichtlich der Ausbeutung dieser Länder. Vielmehr werden diese Rohstoffe auch unter den unmöglichsten Bedingungen, unter Bedingungen schlimmster Art in den betreffenden Ländern abgebaut. Das ist der eine Punkt.Es wird das Argument vorgebracht, daß man auf die Giftmüllverbrennung auf See im Moment noch nicht verzichten könne, da es keine entsprechenden Anlagen an Land gebe.Das Umweltbundesamt, also die Bundesbehörde, die der Bundesregierung wissenschaftliche Unterlagen liefert, hat in einer Studie nachgewiesen, daß wegen der hohen Chlorierung der Giftstoffe, die auf See verbrannt werden, wobei sich große Mengen von Salzsäure bilden, jegliche Materialien von Rauchgasentschwefelungsanlagen, die natürlich in Verbrennungsanlagen an Land Vorbedingung für eine Betriebsmöglichkeit sind, zerfressen würden, so daß lediglich 5 bis 10 To der Abfallmenge, die auf See ver-
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Frau Garbebrannt oder gekrackt wird, an Land verbrannt werden könnte. Das muß die Bundesregierung schon wissen; sie muß sich also etwas anderes einfallen lassen.Es bleibt also festzustellen: Die Giftmüllverbrennung auf See ist eine einfache eingefahrene Entledigung der Exkremente der Chemieindustrie. Die Weichenstellung bleibt natürlich immer die gleiche, wenn das Deutsche Hydrographische Institut wieder einmal weitergehende Genehmigungen für die Verbrennungsschiffe erteilt.Deshalb unsere Forderung: Fordern Sie die betreffenden Industriezweige auf, keine Vermischung der Giftstoffe, die anfallen, mehr vorzunehmen, die Abfälle getrennt zu lagern, die Abfälle zu säubern, wenn dies geht, die Reststoffe zunächst in Zwischenlager zu bringen, bis wir auch dafür eine Entsorgungsmöglichkeit finden, Recyclingverfahren einzubringen und endlich die gewünschte Weichenstellung vorzunehmen. Es wird allerhöchste Zeit, meine Damen und Herren. Die Bevölkerung an der Küste nimmt nicht mehr hin, wie schludrig hier gearbeitet wird.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Segall.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wir diskutieren ja jetzt hier ein bißchen überfallartig. Andererseits geht die Diskussion, die wir heute morgen über die gesamte Abfallproblematik geführt haben, beinahe nahtlos weiter. Ich denke auch daran, daß wir uns im Ausschuß, Herr Stahl, im Augenblick über das unterhalten, was wir für die Nordsee tun können, z. B. über die Nordseeschutzkonvention. Wir sind uns doch alle darüber im klaren, daß wir etwas tun müssen. Wir haben es doch auch zugesichert.
Wir müssen im Ausschuß in aller Ruhe darüber diskutieren, ob die Vorschläge, die Frau Garbe jetzt gemacht hat, etwas nützen, ob also z. B. die einzelnen Schadstoffe, wenn sie gleich von Anfang an getrennt gesammelt werden, dann sehr viel schneller einer geordneten Beseitigung oder sogar einem Recycling zugeführt werden können. Darüber, ob das technisch tatsächlich möglich ist, werden wir uns dann im Ausschuß in aller Ruhe unterhalten müssen.
Mein Wissensstand ist bisher der, daß wir mit der Verbrennung auf der Nordsee so lange noch nicht aufhören können, wie wir es an Land nicht besser machen können. Insofern ist die Bundesregierung doch dabei, alle Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß wir es in absehbarer Zeit in einem geordneten Übergang — —
— Aber was wollen Sie denn? Mich würde auch einmal interessieren, was jemand aus Ihrer Fraktion aus dem Bereich der IG Chemie dazu sagt. Wollen Sie die Betriebe schließen, weil sie den Müll nicht mehr beseitigen können? Dies ist doch leider Gottes das Problem. Vielleicht haben wir etwas zu lange gewartet.
Wir können aber jetzt nicht alles auf die neue Regierung schieben.
— Bitte! Sie können doch nicht so tun, als ob das nun Erkenntnisse aus den letzten sechs oder acht Jahren sind.
— Ich finde es nun wirklich irgendwie lustig, daß nun mit einem Mal Probleme brandeilig werden, die es in den vorigen Jahrzehnten schon gab, obwohl die FDP weiß Gott schon damals für die Umwelt gekämpft hat, und jetzt plötzlich eine ganz andere Qualität bekommen.
Nur weil Sie im Augenblick nicht die Verantwortung für die Schließung der Betriebe haben, meinen Sie, daß plötzlich alles geht.
— Wenn Sie meinen, daß solche unqualifizierten Zwischenrufe das Ansehen der SPD hier im Hause und bei den jungen Leuten auf der Tribüne heben können, dann wünsche ich Ihnen dazu sehr viel Glück.
Ich kann nur sagen, die Bundesregierung wird sich beeilen. Wir stehen hinter allem was für die Nordsee getan werden muß, und wir werden uns bemühen, es so schnell wie möglich zu machen.
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Herrn Grüner.
— Herr Abgeordneter Stahl!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Tatsächlich sind die Themen, die hier unter dem Geschäftsbereich des Bundesverkehrsministers aufgerufen worden sind, ureigenes Gebiet des Bundesumweltministers. Insofern ist es durchaus konsequent, daß nun ich, wenn auch etwas überraschend, an der Stelle von Herrn Kollegen Schulte stehe.
Für die Umweltpolitiker ist das Thema, das hier zur Diskussion steht, ja nicht neu. Ich will in Erinnerung rufen, daß die Länderarbeitsgemeinschaft Abfall, die hier eine große Rolle spielt, die Beendigung der Ver-
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Parl. Staatssekretär Grünerbrennung auf See bis 1995 und eine Reduzierung um zwei Drittel bis 1. Januar 1991 gefordert hat. Bedeutend war die Entscheidung der Internationalen Nordseeschutz-Konferenz, nämlich eine Reduzierung um mindestens 65 % bis 1. Januar 1991 und die Einstellung bis 31. Dezember 1994.Im 10-Punkte-Katalog des Bundesumweltministers wird zum Thema der Beendigung der Verbrennung auf hoher See folgendes ausgeführt:Der Bundesumweltminister erwartet, daß die Sonderabfallverbrennung auf der hohen See von 55 000 Tonnen im Jahre 1987 auf 20 000 bis 25 000 Tonnen im Jahre 1989 bzw. 15 000 bis 20 000 Tonnen im Jahre 1991 vermindert und am 31. Dezember 1994 völlig eingestellt wird.Ich will ganz klarmachen, daß die von Herrn Kollegen Laufs schon dargestellte Problematik darin liegt, daß wir in vielen Fällen bis heute leider keine andere Möglichkeit als die Verbrennung auf See haben, weil uns die Verbrennungsanlagen an Land fehlen. Ich will auch daran erinnern, daß der Sachverständigenrat für Umweltfragen — weiß Gott eine unabhängige und für die Umwelt engagiert eintretende Organisation — noch im Jahre 1980 die Verbrennung auf hoher See als die unter den gegenwärtigen Umständen ökologisch vertretbarste Art der Beseitigung bezeichnet hat. Dies macht natürlich auch deutlich, wie rasch der Wandel der Meinungen erfolgt und damit für die Bundesregierung die Notwendigkeit zum Handeln gegeben ist.Der Bundesumweltminister bereitet eine Verordnung vor, die im Rahmen des Abfallgesetzes ein Verwendungsverbot von CKW mit ins Auge fassen soll. Voraussetzung dafür ist allerdings, meine Damen und Herren, daß wir anderes an diese Stelle setzen können. Für jeden Stoff, den wir in unserer Industriegesellschaft
für die Arbeitsplätze in unserem Land brauchen,
für jeden Stoff, den wir als schädlich erkennen und den wir aus dem Verkehr ziehen wollen, müssen Ersatzstoffe zur Verfügung stehen, von denen wir im vorhinein wissen sollten, daß sie nicht andere, möglicherweise größere Gefährdungen einschließen.Das ist die Situation, in der wir uns befinden. Die Bundesregierung handelt unter hohem Zeitdruck und unter Hinzuziehung des gesamten Sachverstandes der Industrie, aber mit der Entschlossenheit, die staatlichen Mittel einzusetzen, um einen rationellen Weg zur Beendigung der Verbrennung auf See zu finden. Wir werden den frühestmöglichen Termin zur Verwirklichung der Beendigung der Verbrennung auf See von seiten der Bundesrepublik Deutschland ins Auge fassen.
Meine Damen und Herren, wir wissen alle, daß damit die Umwelt nicht gerettet ist,
sondern daß wir auch hier auf internationale Kooperation angewiesen sind.
Ich habe keine weiteren Wortmeldungen zur Aktuellen Stunde vorliegen. Ich schließe die Aktuelle Stunde.
Wir fahren in der Tagesordnung fort.
Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung sowie den Zusatzpunkt 2 zur Tagesordnung auf:
6. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1988
— Drucksache 11/2742 —
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Strukturelle Weiterentwicklung des öffentlichen Dienstrechts
— Drucksache 11/1333 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP2 Beratung des Antrags der Fraktion der
SPD
Beschäftigungswirksamer Solidarbeitrag
— Drucksache 11/3010 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Haushaltsausschuß
Meine Damen und Herren, interfraktionell sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte 30 Minuten vorgesehen. Ich frage: Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister des Innern. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Spranger, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Anpassung der Bezüge der Beamten, Richter, Soldaten und Versorgungsempfänger an die allgemeine Entwicklung der wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse hat die Bundesregierung eine zeitlich gestaffelte Linearanhebung vorgeschlagen. Die stufenweise Anpassung der Bezüge wirkt erstmals für einen Zeitraum von drei Jahren. Damit wird für den öffentlichen Dienst eine Entwicklung nachvollzogen, wie sie sich auch in Bereichen der freien Wirtschaft ergeben hat.Die Anpassung berücksichtigt mit ihrem maßvollen Rahmen einerseits das berechtigte Verlangen der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes nach Teilhabe am wirtschaftlichen Wachstum, andererseits aber auch die Finanzierbarkeit der durch die Anpassung für die öffentlichen Haushalte entstehenden Mehrko-
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Parl. Staatssekretär Sprangersten. Mit der Übernahme des Tarifergebnisses für den Besoldungsbereich beweist die Bundesregierung erneut, daß sie gegenüber allen Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes ihre Verantwortung auch unter schwierigen Bedingungen wahrnimmt.Ein Vergleich der vorgesehenen Bezügeanpassung mit den bisher bekannten Tarifabschlüssen in der freien Wirtschaft, die im Durchschnitt höher liegen, macht deutlich, daß die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes über die ohnehin geltenden Sparmaßnahmen hinaus, erneut den gesamtstaatlichen Belangen in besonderer Weise Rechnung tragen. Schon aus dieser Sicht ist für Überlegungen zu einem zusätzlichen Solidarbeitrag, wie er vereinzelt gefordert wurde, kein Raum. Das Saarland hat damit auch im Bundesrat keine Unterstützung gefunden, wie überhaupt von der Länderkammer beim ersten Durchgang gegen den Gesetzentwurf keine Einwendungen erhoben worden sind.Lassen Sie mich auch einige Worte zur strukturellen Weiterentwicklung des öffentlichen Dienstrechtes sagen. Die Koalition hat sich darauf verständigt, folgende vordringliche Maßnahmen vorzusehen.Erstens. Insbesondere im Interesse der Gewinnung qualifizierten Nachwuchses soll die Absenkung der Eingangsbesoldung für die Besoldungsgruppen A 9 und A 10 ab 1. Januar 1989 und für den höheren Dienst ab 1. Januar 1990 aufgehoben werden. Die Entscheidung über die Einbeziehung der Lehrer des gehobenen Dienstes soll den Ländern überlassen bleiben, da insoweit fast ausschließlich deren Interessen berührt sind.Zweitens. Die Aufhebung der Absenkung soll von folgenden Maßnahmen begleitet werden: Einrichtung eines neuen Spitzenamtes — Besoldungsgruppe A 5 mit Amtszulage — für herausgehobene Funktionen des einfachen Dienstes für jeweils 10 % der Stellen dieser Laufbahn, Hebung des Eingangsamtes des mittleren Dienstes für beamtete Meister oder staatlich geprüfte Techniker von Besoldungsgruppe A 5 nach Besoldungsgruppe A 6, wobei vergleichbare Soldaten einbezogen werden, und schließlich Gewährung von Anwärterzuschlägen für Bereiche mit nachgewiesenem erheblichen Bewerbermangel. Es handelt sich hier zur Zeit um den gehobenen technischen Dienst, den gehobenen Flugverkehrskontrolldienst und den höheren auswärtigen Dienst.Meine Damen und Herren, diese Maßnahmen sollen insgesamt in das Besoldungsanpassungsgesetz 1988 aufgenommen werden. Im Zusammenhang hiermit wird der Bericht zur strukturellen Weiterentwicklung des öffentlichen Dienstrechts am 12. Oktober 1988 im Kabinett behandelt und dann unmittelbar dem Bundestag zugeleitet. Der Bericht wird über die bereits genannten Punkte hinaus eine Darstellung weiterer dienstrechtlicher Strukturprobleme enthalten. Damit ist der Antrag der SPD-Fraktion zur Vorlage des Berichts überflüssig geworden. Er geht ins Leere. Ich bitte deshalb, diesen Antrag abzulehnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lutz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gesetz über die Anpassung der Beamtenbesoldung und -versorgung ist leicht nachzuvollziehen. Es überträgt die Tarifvereinbarungen des öffentlichen Dienstes auf die Beamten. Meine Fraktion wird diesem Gesetz zustimmen, allerdings nicht ohne folgendes zu bemerken.Die Vorlage erreicht das Parlament sehr spät, so spät, daß praktisch schon seit Monaten die erhöhten Bezüge an die Betroffenen unter Vorbehalt ausgezahlt werden. Das ist ein unguter Zustand. Grund dafür ist, daß sich der Bund zum einen bei Vorlage seines Entwurfs der Zustimmung der Länder vergewissern will; zum anderen werden bei solcher Gelegenheit auch noch ein paar strukturelle Probleme mit bereinigt. Der Herr Staatssekretär hat davon gesprochen; ich habe es heute in der Zeitung gelesen. Es scheint Übung dieser Regierung zu sein, einen Gesetzentwurf vorzulegen und im übrigen irgendwann nachzubessern, anstatt gleich, wenn man schon so viel Zeit hatte, diesem Hause ein geschlossenes Konzept zu unterbreiten.
— Monate.
— Darauf komme ich noch.Was ist das, Herr Spranger? Flickschusterei ist das. Zwei, drei Punkte hatten Sie in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen, einige nehmen Sie jetzt noch dazu. An dem Paket struktureller Ungleichgewichtigkeiten wird im Grunde nicht sehr viel geändert. Die Gesamtbefassung mit dem Thema wird verschoben.Ich nenne einige Punkte, die Sie nicht angesprochen haben. Wir würden gern wissen, wie Regierung und Koalition zu der Forderung des Bundesrates stehen, die Beamten des Justizvollzugsdienstes bei der Gewährung von Zulagen für den Dienst zu ungünstigen Zeiten mit den Beamten im Polizeivollzug gleichzustellen. Was sagen Koalition und Regierung zur Forderung Nordrhein-Westfalens, endlich die Versorgungslücke zu schließen, die bei Polizei-, Justiz- und Feuerwehrbeamten dann eintreten kann, wenn sie die vorgezogene Altersruhegrenze in Anspruch nehmen und auf Zahlungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung, auf die sie wegen ihrer Lebensbiographie Anspruch haben, bis zum 65. Lebensjahr warten müssen? Wir wüßten gern, wie das nun letztlich mit der Eingangsbesoldung für Lehrer wird. Wir wissen es aber nicht, und Sie waren heute mit Ihren nachbessernden Bemerkungen auch nicht sehr erhellend.Das sind Unklarheiten, Ungereimtheiten, die der Klärung bedürfen. Es gibt viel mehr. Deshalb, Herr Spranger, hat der Bundestag 1985 die Bundesregierung aufgefordert, ihm bis Herbst 1986 — man beachte die Jahreszahlen — einen Bericht zur strukturellen Weiterentwicklung des öffentlichen Dienstrechts vorzulegen, damit er entscheiden kann, was zu ändern ist und wann was zu ändern ist.Es sind nun schon fast drei Jahre ins Land gezogen. Der Bericht liegt immer noch nicht vor. Heute hören wir, er soll demnächst, am 12. Oktober, vom Kabinett
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Lutzbeschlossen werden. Dabei wissen Sie sehr wohl, daß er längst formuliert war. Aber der Finanzminister hatte sich quergelegt. Was im Bericht stand, wurde in informierten Parlamentskreisen unter der Hand gehandelt, mehr aber auch nicht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Was schwierig ist, wird ausgesessen. — Das mag der Grundbefindlichkeit des Kanzlers dienen, der Forderung des Parlaments hat es nicht entsprochen.
Es ist peinlich bis skandalös, wie hier mit dem Souverän des deutschen Volkes verfahren wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn es so ist, daß der Bericht zu erwarten steht, dann können Sie heute diesen Beschluß, den wir Ihnen vorgelegt haben, auch verabschieden. Es wäre eine seltene Gelegenheit, daß die Bundesregierung ohne weiteren Verzug einer Forderung des Hohen Hauses nachkäme. Nutzen Sie diese Chance.Sie müßten also der Drucksache 11/1333 zustimmen — die allerdings auch schon zehn Monate alt ist — , in der wir erneut bitten, daß der Strukturbericht, von dem Sie glauben, ihn demnächst verabschieden zu können, nun endlich in dieses Hohe Haus eingebracht wird. Wir sind sehr gespannt, ob unsere Kolleginnen und Kollegen von der Koalition angesichts der geschilderten Gefechtslage jetzt in der Lage sind, dieses Parlamentsansinnen an die Regierung zu erneuern. Wir sind sehr neugierig. Zeigen Sie Ihren Unmut nicht mehr länger nur im Innenausschuß, sondern notifizieren Sie ihn hier und heute, bemühen Sie ausnahmsweise einmal Ihr Selbstbewußtsein; es könnte ja ausnahmsweise, vielleicht, möglicherweise, nichts schiefgehen. Deshalb verlangen wir nach wie vor, daß über diesen Antrag heute abgestimmt wird.Es liegt Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ein weiterer Antrag meiner Fraktion auf Drucksache 11/3010 vor, der heute in erster Lesung beraten werden soll und die Grundsätze einer solidarischen und beschäftigungswirksamen Tarifpolitik beschreibt.Dieser Antrag entspricht weitgehend auch den Vorstellungen der SPD-geführten Bundesländer. Es wird sehr interessant sein, zu erfahren, wie Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, dazu stehen.Ich nenne Ihnen die Kernpunkte der Vorlage; wir werden sie in den Fachausschüssen noch behandeln müssen:Erstens machen wir darauf aufmerksam, daß der zurückhaltende Tarifabschluß im öffentlichen Dienst von der Erwartung der Gewerkschaften bestimmt war, daß die dadurch gegebenen finanziellen Spielräume der öffentlichen Haushalte zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen in diesem Bereich genutzt würden. Das fordern wir ausdrücklich.Was aber geschah? Die Tinte der Unterschriften der öffentlichen Arbeitgeber unter den Verträgen für die Arbeiter und Angestellten war noch nicht trocken, da erklärte eine der Verhandlungsführerinnen auf Arbeitgeberseite, die Wirtschaftsministerin eines Bundeslandes, diese Verträge würden natürlich nicht zu Neueinstellungen in ihrem Land führen. Versuchte Bauernfängerei war das, meine Damen und Herren, ein miserables Beispiel dafür, wie man es nicht machen soll. Bei einer solchen Einstellung kann man doch wohl nicht im Ernst erwarten, daß die Gewerkschaften noch einmal zu vergleichbaren Abschlüssen zu bewegen sein würden.Der Ministerpräsident eines anderen Bundeslandes ließ wissen, die vereinbarte Arbeitszeitverkürzung werde es für die Beamten in seinem Bereich nicht geben. Das war, um ein geflügeltes Wort des Bundeskanzlers zu übernehmen, dumm, absurd und töricht. Es war dumm, weil es die Spannungen übersah, die aus einer solchen Entscheidung durch unterschiedliche Arbeitszeitregelungen im eigenen Bereich zwangsläufig entstehen müssen, absurd, weil um eines billigen Aha-Effekts willen die einheitliche Gestaltung der Arbeitsbedingungen für alle Beamten und Angestellten von einem Bundesland in Frage gestellt wurden, töricht, weil ein solcher Verstoß gegen die Grundsätze von Treu und Glauben, ohne die nun einmal Tarifpolitik nicht zu machen ist, künftige Auseinandersetzungen auf diesem Feld zu einem Catch-as-catch-can der Beteiligten ausufern lassen werden.Wir sprechen dagegen unsere Erwartung aus, daß durch die beschlossenen Arbeitszeitverkürzungen und ihre Übernahme in den Beamtenbereich Raum für mehr Beschäftigung geschaffen wird, und wir erwarten, daß Sie uns darin zumindest nicht widersprechen.
— Das Saarland hat die Arbeitszeit verkürzt! Sie müssen nur genau Zeitung lesen.Zweitens halten wir es für sinnvoll, daß die Gespräche über eine solidarische und gerechte Weiterentwicklung der Tarif- und Besoldungsstruktur weitergehen und daß dabei beschäftigungspolitische Überlegungen im Vordergrund stehen. Wir können uns eigentlich nicht ernsthaft vorstellen, daß Sie dagegen wären.Drittens präzisieren wir unsere Vorstellungen von dem alsbald vorzulegenden Strukturbericht, Herr Spranger, und fordern, daß in ihn auch Überlegungen für eine solidarische und gerechte Besoldungsentwicklung aufgenommen werden. Wenn die Regierung noch von dieser Welt sein sollte — man kann da manchmal zweifeln —, würde sie von selbst darauf kommen, aber wir sind uns da nicht so sicher.Viertens sagen wir — und damit komme ich zum Schluß —, was in Zeiten anhaltender Massenarbeitslosigkeit auch von den öffentlichen Arbeitgebern erwartet werden muß, nämlich daß Bund und Länder durch eine aufeinander abgestimmte Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik zu einer Verbesserung der Beschäftigungssituation beitragen.Inhaltlich, meine Kolleginnen und Kollegen, ist das alles nicht aufregend. Aufregend wäre es, wenn dieses ganze Haus sich unsere Überlegungen zu eigen und endlich einmal Nägel mit Köpfen machen würde.
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6622 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
LutzIch danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kappes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die regelmäßige Anpassung der Besoldungs- und Versorgungsbezüge der Beamten, Richter und Soldaten sowie der Versorgungsempfänger des Bundes, der Länder und der Gemeinden an die Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse ist nicht nur gesetzlich vorgeschrieben, sondern auch und vor allem sachlich geboten. Beamte, Richter und Soldaten haben an der Entwicklung unseres Landes keinen geringeren Anteil als die anderen Erwerbstätigen. Im Gegenteil: Ohne unseren tüchtigen öffentlichen Dienst, insbesondere aber ohne unser hochqualifiziertes Berufsbeamtentum, wäre die Bundesrepublik Deutschland nicht annähernd das, was sie ist.
Die Übernahme der Verhandlungsergebnisse der Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes bei der Neufestsetzung der Dienst- und Versorgungsbezüge ist also im Grunde eine Selbstverständlichkeit. Sie wahrt zudem den Gleichklang von Angestelltenvergütung und Beamtenbesoldung und trägt damit nicht unerheblich zur Einheit des öffentlichen Dienstes bei.
Weil dies so ist, erübrigen sich eigentlich nähere Ausführungen zur Höhe der für die Zeit bis 1990 vorgesehenen Anpassungssätze. Bei der nunmehr
— dank der hervorragenden Geldwertpolitik der Bundesregierung — seit Jahren andauernden Preisstabilität bedeuten auch diese Erhöhungen erneut einen
— wenn auch bescheidenen — Zuwachs an Realeinkommen.
Dabei ist zu berücksichtigen, daß Bund, Länder und Gemeinden durch die von den Tarifvertragsparteien gleichzeitig vereinbarten Arbeitszeitverkürzungen nicht unerheblich zusätzlich belastet werden. Den weitaus meisten Bediensteten oder Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes wäre nach meinem Eindruck freilich eine etwas größere Gehaltserhöhung bei gleichbleibender Arbeitszeit — denn die Arbeit muß so oder so getan werden — vermutlich lieber gewesen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang und bei dieser Gelegenheit — die Ausführungen des Kollegen Lutz geben dazu wohl Anlaß — auch noch sagen, daß wir uns grundsätzlich etwa gegen Kappungsgedanken in der Besoldung wenden werden. Eine Versagung oder Verkürzung der Einkommensanpassung für bestimmte Besoldungsgruppen wäre aus der Sache selbst nicht begründbar und widerspräche nach unserer Auffassung fundamental dem Leistungsprinzip, von dem auch das Besoldungsrecht geprägt ist. Kappung ist und bleibt leistungshemmend. Sie beeinträchtigt die Attraktivität des öffentlichen Dienstes gerade für herausgehobene und leitende Kräfte in Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung. Dies kann im Interesse der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes nicht hingenommen werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Penner?
Ich würde gerne im Zusammenhang sprechen.
Bitte sehr.
Überlegungen, bestimmten Gruppen von Beamten entgegen der Vorschrift des § 14 Bundesbesoldungsgesetz die Teilnahme an der wirtschaftlichen Entwicklung zu versagen, können nicht Grundlage einer verantwortungsbewußten Besoldungspolitik sein.
Sie würden auch eine Ungleichbehandlung gegenüber dem Tarifbereich des öffentlichen Dienstes bedeuten.Meine Damen und Herren, mindestens so unaufschiebbar wie diese linearen Erhöhungen, von denen bisher die Rede war, dürften allerdings in dem begonnenen Dreijahreszeitraum strukturelle Verbesserungen sein. Mit Recht wird in diesem Zusammenhang auch die Vorlage des im November 1985 von CDU/ CSU, SPD und FDP gemeinsam erbetenen Berichts der Bundesregierung zur strukturellen Weiterentwicklung des Dienstrechts angemahnt. Dem Bundesinnenminister aber ist — das wissen wir alle — nichts vorzuwerfen. Da er zudem die Vorlage des Berichts soeben für einen ganz nahen konkreten Zeitpunkt hier zusagen konnte, hat sich für unsere Fraktion der Antrag der SPD auf Drucksache 11/1333 erledigt. Wir brauchen ihm nicht zuzustimmen. Ihren mit Drucksache 11/3010 nun erweiterten Antrag werden wir — wie Sie es selber schon angesprochen haben — natürlich in die Ausschüsse überweisen.Dennoch eine kurze Bemerkung zur Begründung Ihres Antrages. Meine Damen und Herren von der SPD, Sie sollten wissen, daß es immerhin für mehrere in Ihren und auch in unseren Augen wichtige Verbesserungen der Besoldungsstruktur — Herr Staatssekretär Spranger hat sie soeben für die Bundesregierung noch einmal bekräftigt — im Grunde genommen der Ausführungen des Strukturberichts gar nicht mehr bedarf.Bereits bei der ersten Beratung des Haushalts 1989 haben wir erklärt, daß die Koalition zur Verbesserung der Situation des einfachen Dienstes, die dringend erforderlich ist, ein neues Spitzenamt schaffen will, daß wir im mittleren Dienst das Eingangsamt für beamtete Meister und für staatlich geprüfte Techniker anheben wollen und daß die Absenkung der Eingangsbesoldung im gehobenen und höheren Dienst mit Beginn des Jahres 1989 und des Jahres 1990 zurückgenommen wird.Die Frage, ob und inwieweit die Lehrer, die Sie angesprochen haben, dabei einzubeziehen sind, wird sicher unter Berücksichtigung des Votums der Länder zu entscheiden sein, weil diese ja insoweit von den finanziellen Folgen einer Zurücknahme der Absenkung allein betroffen wären.
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Dr. KappesSie können im übrigen auch davon ausgehen, daß die von Ihnen angesprochenen Themen wie die Frage des Dienstes zu ungünstigen Zeiten im Strafvollzug — das ist uns alles sehr wohl bekannt! — oder der Versorgungslücke mit der mindestens gleichen Aufgeschlossenheit behandelt werden, wie Sie das tun. Sie wissen aber auch, daß hier gerade die Länder und in besonderer Weise der Bundesrat gefordert sind.Herr Präsident, meine Damen und Herren, abschließend stelle ich fest: Der öffentliche Dienst in der Bundesrepublik Deutschland hat bei Kennern zu Recht einen guten Ruf. Das muß man bei einer solchen Gelegenheit auch einmal sagen. Er ist für die Stabilität und für die Entwicklung unseres Landes außerordentlich wichtig. Deshalb ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, ihn angemessen zu bezahlen, und ein Gebot der Vernunft, ihn strukturell weiter zu verbessern.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sellin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bundesbesoldungsanpassungsgesetz bildet den Hintergrund für die Lafontaine-Debatte um einen differenzierten Lohnausgleich im öffentlichen Dienst. Die Ergebnisse des Tarifvertrages der ÖTV mit der Tarifgemeinschaft der öffentlichen Arbeitgeber sollen auf die Beamten übertragen werden. Moderate Einkommenszuwächse wurden mit einer langsam einzuführenden 38,5-Stunden-Woche kombiniert. Erst am 1. April 1990 wird die Wochenarbeitszeit um anderthalb Stunden verkürzt sein.
Fiskalpolitisches Ergebnis dieses Tarifvertrages ist, daß die Bundesregierung 500 Millionen DM aus dem Haushalt 1988 ersatzlos streichen konnte, weil sich die Gewerkschaften zugunsten des Einstiegs in die 35Stunden-Woche mit mäßigen Einkommenszuwächsen begnügten. Die von der Bundesregierung erwarteten Lohn- und Gehaltskostensteigerungen wurden also unterschritten.
Um so mehr muß erstaunen, daß mehrere Bundesländer die erste Stufe der vereinbarten Arbeitszeitverkürzung kostenneutral, d. h. ohne beschäftigungswirksame Neueinstellungen zum 1. April 1989, durchführen wollen. Dabei ist die logische und praktische Übereinkunft zwischen Oskar Lafontaine und Lothar Späth im Rahmen der Mittagspausendiskussion eine Überraschung geworden. Im Ergebnis wollen CDU- und SPD-Regierungschefs der Länder keine Arbeitsumverteilung durch Arbeitszeitverkürzung, sondern Arbeitsintensivierung und Rationalisierung im öffentlichen Dienst. Oskar Lafontaine entdeckt die Stechuhr als Mittel der souveränen Zeitgestaltung. Gleitzeit wird ein Vehikel zur Einführung der Zeiterfassungen. Verlängerte Mittagspausen werden als Methode zur kostenneutralen Wochenarbeitszeitverkürzung entdeckt.
Die gewerkschaftspolitische Strategie der Solidarität zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten im öffentlichen Dienst wird unterlaufen.
Ich frage mich, wieso die SPD-Fraktion zur Verteidigung der Glaubwürdigkeit ihres stellvertretenden Vorsitzenden Lafontaine nicht wenigstens dessen Gesetzentwurf im Bundestag zur Debatte gebracht hat, den das Saarland im Bundesrat vertreten hat.
Reicht Oskars Gedankenwelt des differenzierten Lohnausgleichs bei Einkommenszuwächsen nur bis an die Grenzen des Saarlandes, oder hat Hans-Jochen Vogel die Einbringung des saarländischen Gesetzentwurfs wegen der deutschen Beamtenlobby des Bundes untersagt?
Der Gesetzentwurf des Saarlandes enthält auf der ersten Seite den schönen Satz: „Ein Weg aus der Krise ist die Umverteilung des gegebenen Arbeitsvolumens. " Der höhere Dienst soll keine Einkomenserhöhungen erhalten, die Initiative soll 66 000 neue Stellen schaffen.
Nimmt man diese Initiative ernst, dann muß man sich fragen, warum die jetzt vereinbarte anderthalbstündige Arbeitszeitverkürzung bei äußerst moderaten Nominallohnerhöhungen bewußt so unterlaufen wird, daß Lafontaine im Saarland keine Umverteilung des gegebenen Arbeitsvolumens vornehmen muß. Es ist festzustellen, daß auch das Saarland in seiner Finanzplanung 3 % Personalkostenzuwachs eingeplant hatte, der durch den diesjährigen Gehaltszuwachs von 2,4 To ab 1. März 1988 nicht ausgeschöpft wird.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Lafontaine betreibt Haushaltssparpolitik zu Lasten . . .
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
... des Verhandlungsergebnisses der Gewerkschaften. — Eine Zwischenfrage, ohne daß sie auf meine Redezeit angerechnet wird.
Gern. Aber wenn ich unterbreche, Herr Abgeordneter, sind Sie so freundlich und gehen Sie darauf ein. — Herr Abgeordneter Penner, bitte sehr.
Herr Kollege, darf ich Sie daran erinnern, daß wir uns hier im Deutschen Bundestag und nicht im Saarländischen Landtag befinden?
Ich kann Ihnen darauf antworten: Es ist schon eine unglaubwürdige Situation, wenn ein SPD-Parteitag diese Debatte einführt, eine Medienkampagne mit dem Thema führt, die SPD dies aber in die Bundespolitik nicht objektiv einführt und die Kon-
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Sellintroverse mit dem Beamtenapparat und der CDU nicht sucht. Das ist das Problem. —
In dieser Hinsicht stimmt er praktisch mit dem CDU-Landesfürsten Späth überein. Netterweise darf dieser Handlung gegenübergestellt werden, daß das CDU-regierte Land Berlin angeblich 950 Neueinstellungen vornehmen will. Dort steht ein Wahlkampf vor der Tür, so daß eine Brüskierung der ÖTV nicht angemessen wäre.Meine Position in dieser Debatte lautet, daß die Einkommensdifferenzen im öffentlichen Dienst durch prozentuale Lohnerhöhungen über viele Jahre hinweg so gravierend geworden sind, daß ich dem Gedanken einer differenzierten Lohnerhöhung, z. B. durch Sockelbeträge oder durch den Ausschluß von Einkommenserhöhungen für den höheren Dienst ab Besoldungsgruppe A 13, zustimme. Die Differenz zu dem von der SPD nicht eingebrachten Antrag besteht also allein in dem Einkommensniveau. Das heißt: Der saarländische Vorschlag enthält die Besoldungsgruppe A 12, die zum gehobenen Dienst zählt, und die ist zur Einkommensumverteilung nicht geeignet.Die SPD war zu feige, sich hinter den saarländischen Entwurf zu stellen. So ist die Lafontaine-Debatte um differenzierte Lohnerhöhungen zu einer rein akademischen Diskussion verkommen. Die Umverteilung von notwendiger Erwerbsarbeit und Einkommen ist die Schlüsselfrage für den Abschied vom Ziel des stetigen Wachstums der Volkswirtschaft. Die erste Runde geht an die CDU
und an die Gewerkschaften, aber nicht an die Reform im öffentlichen Dienst.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Richter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will in der — leider nur sehr kurzen — mir zur Verfügung stehenden Zeit nur in aller Kürze Resümee über das ziehen, was seit Abschluß der Tarifvereinbarung im öffentlichen Dienst so an mehr oder weniger konstruktiven Beiträgen in die Diskussion eingebracht wurde.Da schlägt der saarländische Ministerpräsident im Vorfeld des 1. Mai vor, die Beamten ab Besoldungsgruppe A 13 von der linearen Erhöhung der Bezüge auszuschließen, um mit den Einsparungen Neueinstellungen zu finanzieren. Da unternehmen einzelne Bundesländer, und zwar sowohl SPD- als auch CDUregierte Bundesländer, den Versuch, aus der Tarifvereinbarung, die mit ihrer Zustimmung zustande gekommen war, wieder auszusteigen. Da glaubt schließlich der baden-württembergische Ministerpräsident, den Stein der Weisen gefunden zu haben, und unterläuft die in den Tarifvereinbarungen vorgesehene Arbeitszeitverkürzung, indem er einfach die Mittagspause verlängern will.Meine Damen und Herren, ich glaube, daß mit allen I diesen Vorschlägen der Glaubwürdigkeit der politisch Handelnden gegenüber den betroffenen Angehörigen des öffentlichen Dienstes und dem Ansehen der Tarifpartner insgesamt kein guter Dienst erwiesen worden ist.Beim Abschluß der Tarifvereinbarungen war Kritik angebracht, weil die vereinbarte Arbeitszeitverkürzung durch die Finanzlage der öffentlichen Haushalte eben nicht zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen führen konnte. Die Tarifvereinbarung vernachlässigt außerdem die berechtigten Interessen z. B. von Versorgungsempfängern und auch von Soldaten, die sich zu Recht über eine zu hohe Dienstzeitbelastung beklagen. Aber Kritik hin, Kritik her: Ein Tarifvertrag trägt eben nicht nur eine Unterschrift, sondern zwei Unterschriften, und Verträge müssen eingehalten werden; anderenfalls hätte man sie gar nicht abzuschließen brauchen. Wer A sagt, muß auch B sagen und der Versuchung widerstehen, in die Mittagspausentrickkiste zu greifen. Meine Damen und Herren, es ist, bei aller Kritik, auch sachgerecht, da die öffentlichen Arbeitgeber aus Bund, Ländern und Kommunen zugestimmt haben, jetzt das Ergebnis auf die Beamten zu übertragen, damit sie nicht schlechtergestellt werden als ihre angestellten Kollegen.Für die FDP steht diese Besoldungsanpassung in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den notwendigen strukturellen Verbesserungen im öffentlichen Dienst, um zu einer insgesamt ausgewogenen Besoldugsstruktur zu kommen. Wir begrüßen deshalb die verbindliche Zusage des Bundesministers des Innern, nunmehr endlich den längst überfälligen Bericht zur Weiterentwicklung des öffentlichen Dienstrechts vorzulegen, den wir wiederholt angemahnt haben.
Auf der Grundlage dieses Berichts werden wir die Gelegenheit haben, die zu verwirklichenden Maßnahmen gründlich zu beraten und Prioritäten festzulegen. Vordringlich sind für die FDP u. a. die stufenweise Rücknahme der Kürzungen der Eingangsbesoldung und der Anwärterbezüge im öffentlichen Dienst und strukturelle Verbesserungen vor allem im einfachen und mittleren Dienst.Auch wenn dies nicht im eigentlichen Kontext „Strukturbericht" steht, so will ich doch keinen Zweifel daran lassen, daß wir auch bei § 55 des Beamtenversorgungsgesetzes zu weiteren Verbesserungen kommen müssen, da die von den Betroffenen als ungerecht empfundene Regelung erträglich gemacht werden muß.
Die strukturellen Verbesserungen auf der Grundlage des Strukturberichts werden auch helfen, der Nachwuchsprobleme im öffentlichen Dienst Herr zu werden. Die Schwierigkeiten bei der Nachwuchsgewinnung im öffentlichen Dienst sind Alarmsignale, die deutlich machen, wie dringend die Ursachen bekämpft werden müssen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6625
RichterDie Bundesregierung hat sich geäußert. Der Strukturbericht wird vorgelegt. Der SPD-Antrag auf Vorlage des Berichts ist somit konsumiert. Meine Damen und Herren, man ist geneigt zu sagen: Spät kommst du, doch du kommst, und besser spät als nie, aber nun auch an die Arbeit, um die erforderlichen Maßnahmen umzusetzen.Meine Zeit neigt sich dem Ende zu.
— Meine Redezeit neigt sich dem Ende zu. — Wir werden auf den Antrag der SPD-Fraktion im Ausschuß näher eingehen.
— Ich habe eben dazu gesprochen, Herr Kollege. Da hätten Sie zuhören müssen. — Den zu überweisenden Antrag werden wir einer kritischen Würdigung im Ausschuß unterziehen.
Wir sind allerdings nicht der Meinung, daß der Ansatz dieses Antrages richtig ist.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Zu Tagesordnungspunkt 6 a sowie zu dem Zusatztagesordnungspunkt 2 wird interfraktionell vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Ist das Haus mit den Vorschlägen, die ich vorgetragen habe, einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD in der Drucksache 11/1333. Wer stimmt für diesen Antrag? — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen aus der Fraktion DIE GRÜNEN ist dieser Antrag mit Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 3 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes und zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand
— Drucksache 11/2990 —
Überweisungsvorschlag :
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung 90 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Hasselfeldt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei der heutigen Beratung zum Arbeitsförderungsgesetz geht es um die zentrale Frage, wieviel wir den Beitragszahlern zur Arbeitslosenversicherung — den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern — weiterhin zumuten können. Wir meinen, daß die Grenze der Belastbarkeit durch Sozialbeiträge erreicht ist. Innerhalb des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums müssen die Beitragsgelder zielgerichtet und wirksam eingesetzt werden.Worin besteht nun die Notwendigkeit dieser Novelle? Nach den vorliegenden Berechnungen wird die Bundesanstalt für Arbeit im kommenden Jahr ein Defizit von etwa 5 Milliarden DM ausweisen. Dies ist im wesentlichen auf eine stark gestiegene Inanspruchnahme der Qualifizierungsmaßnahmen und auch auf die Verbesserungen der Leistungen für die Arbeitslosen zurückzuführen. Wir standen nun vor der Entscheidung, ob wir dieses Defizit durch Beitragserhöhungen, durch einen höheren Bundeszuschuß oder durch Leistungskürzungen bei der Bundesanstalt für Arbeit ausgleichen sollten.Die Entscheidung fiel klar gegen eine Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung aus. Eine solche Erhöhung würde nämlich die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber zusätzlich belasten und wäre in höchstem Maße sozial unverträglich. Sie würde unseren sonstigen Bemühungen, die Lohnnebenkosten zu senken, diametral entgegenstehen. Die Grundlage für die Entscheidung war, daß wir mit den Mitteln der Beitragszahler sachgerecht und verantwortungsvoll umgehen müssen. Wenn wir wegen dieser Politik gerade vom DGB
kritisiert werden, dann unterscheidet uns in der Tat einiges vom Verhalten des DGB, nämlich die Tatsache, daß der DGB eine Million Mark an Beitragsgeldern, an Geldern seiner Mitglieder für die politischen Aktionswochen gegen die Bundesregierung ausgibt, also Mitgliedsbeiträge für politische Agitation benutzt.
Im Gegensatz dazu konzentrieren wir die Beiträge der Bundesanstalt für Arbeit auf die arbeitsmarktpolitische Zielsetzung des AFG.
Meine Damen und Herren, wir sind uns auch der Verantwortung des Staates für einen ausgeglichenen Arbeitsmarkt bewußt. Wir wissen natürlich auch um die zusätzlichen Ausgaben, die durch die Integration unserer deutschen Landsleute aus dem Osten anfallen. Deshalb werden wir auch den Bundeszuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit im kommenden Jahr deutlich erhöhen, nämlich auf 3,3 Milliarden DM.Niemand kann bezweifeln, daß unsere Arbeitsmarktpolitik mit der Qualifizierungsoffensive und mit einem breiten Instrumentarium an Eingliederungs-
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6626 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Frau Hasselfeldthilfen für besonders Bedürftige, besonders problematische Personengruppen, erfolgreich war.
— Dies zeigt die Beschäftigtenentwicklung, meine sehr verehrte Frau Kollegin. Immerhin haben wir in diesem Jahr im ersten Halbjahr 120 000 zusätzliche Beschäftigte, und im Vergleich zu 1982 haben wir fast 1 Million zusätzliche Beschäftigte. Dies zeigt auch die Tatsache, daß in vielen Branchen und Regionen offene Stellen nicht besetzt werden können.
Deshalb wollen wir am Grundsatz dieser Politik auch festhalten.Nur müssen wir sehen, daß die Prioritäten richtig gesetzt werden. Wir wollen deshalb an der Fortsetzung der Qualifizierungsmaßnahmen festhalten. Wir wollen auch die notwendigen Mittel dafür bereitstellen.Aber, meine Damen und Herren, eines muß auch klar sein: Diese Mittel dienen der beschäftigungsorientierten Qualifizierung der Arbeitnehmer. Sie sind kein Garantiefonds für die Kapazitätsausstattung eines am Markt tätigen oder neu erscheinenden Bildungsträgers.Die Entwicklung der letzten Jahre gerade im Bereich Fortbildung und Umschulung hat dazu geführt, daß der Großteil der für Fortbildung und Umschulung bereitgestellten Haushaltsmittel für Maßnahmen aufgebraucht wurde, auf die ein Rechtsanspruch bestand, mit der Folge, daß für die Auftragsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit, von denen in erster Linie die Arbeitslosen und die von Arbeitslosigkeit Bedrohten betroffen sind, kein Geld mehr vorhanden war. Deshalb soll künftig der Rechtsanspruch auf Kostenerstattung in eine Ermessensleistung der Bundesanstalt umgewandelt werden, während es beim Unterhaltsgeld, der Leistung für die Arbeitnehmer, beim Rechtsanspruch bleiben wird. Das heißt im Klartext: Fortsetzung der Qualifizierungsoffensive auf hohem Niveau bei verbesserter Qualität und bei optimiertem Mitteleinsatz.
Das gleiche gilt bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, einem nach wie vor wirksamen und notwendigen Instrument der Arbeitsmarktpolitik. Aber dieses wirksame Instrument darf nicht mißbraucht werden etwa zu Stelleneinsparungen oder gar zu Sanierungen bei den kommunalen Haushalten. Es dürfen dadurch auch keine Nachteile bei der Auftragslage etwa in der mittelständischen Wirtschaft entstehen.Die vorhandenen Mittel müssen konzentriert werden auf den sonst nicht vermittelbaren Personenkreis, müssen konzentriert werden auf echte zusätzliche Aufgaben. Lassen Sie mich zu dieser Problematik auch ein offenes Wort sagen.
Frau Abgeordnete Hasselfeldt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ewen?
Nein.Viele von uns kennen Beispiele von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aus ihren Wahlkreisen, bei denen man über den Sinn oder den Unsinn unterschiedlicher Meinung sein kann. Manche von uns sind auch geneigt, alles Unbefriedigende auf die Arbeitsämter abzuschieben.Meine Damen und Herren, die Entscheidungen über die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, über die Einrichtung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen fallen in den Verwaltungsausschüssen der Arbeitsämter. Dort sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer und Vertreter der öffentlichen Hand. Deshalb appelliere ich ganz besonders an die Verwaltungsausschüsse in den Arbeitsämtern, mit großer Verantwortung, mit großer Sorgfalt ihre Entscheidungen zu treffen.Ich sprach vom zweckorientierten Einsatz der Beitragsgelder. Er steht im Mittelpunkt dieser Novelle. Deshalb wollen wir auch die Höchstförderungssätze beim Einarbeitungszuschuß und bei der Eingliederungsbeihilfe maßvoll absenken. Hier ist abzuwägen zwischen der Mindestförderung als Anreiz und der Grenze, bei der Mitnahmeeffekte auftreten. Mitnahmeeffekte können wir uns nicht leisten.Dagegen wird uns künftig etwas besser gelingen, nämlich die berufliche Eingliederung von Frauen. Wir werden die arbeitslosen Frauen beim Einarbeitungszuschuß als besondere Zielgruppe herausheben. Sie sehen also: Wir machen Ernst mit unserer Frauenpolitik. Wir verbessern die Chancen der Frauen, wenn sie nach Zeiten der Kindererziehung wieder ins Berufsleben einsteigen wollen. Hier bestand und besteht in der Tat ein großer Handlungsbedarf, weil in den Jahren der SPD-Regierung dieses Feld total vernachlässigt wurde.
Diese Novelle ist auch eine Antwort auf die geänderten Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt. Während noch vor einigen Jahren angesichts der angespannten Ausbildungsstellensituation die Berufsausbildungsbeihilfe als zusätzliche Hilfe bei niedrigen Ausbildungsvergütungen durchaus ihre Berechtigung hatte, ist dies heute weggefallen. Ich möchte sogar so weit gehen, zu sagen, daß die extrem niedrigen Ausbildungsvergütungen in einigen Branchen die Reaktion auf diese Förderung zu sein scheinen. Um die Mobilitätsbereitschaft der Jugendlichen aber nicht zu beeinträchtigen, werden wir diese Beihilfe bei auswärtiger Unterbringung beibehalten. Ansonsten aber ist es bei der grundlegend veränderten Ausbildungsstellensituation einfach nicht mehr verantwortbar, Mittel der Arbeitsförderung als letztlich verkappte und dazu noch strukturverzerrende Wirtschaftssubventionen einzusetzen.Meine Damen und Herren, die Koalition hat sich mehrheitlich für die Einführung einer Altersteilzeitregelung ab dem 58. Lebensjahr entschieden. Dabei muß man sicherlich auch die grundsätzlichen Bedenken, die von einigen Kollegen unserer Fraktion geäußert wurden, ernst nehmen. Ich verhehle nicht, daß auch ich zu dieser Gruppe gehöre. Wir werden diese Regelung angesichts der demographischen Entwicklung und der damit zusammenhängenden Überlegungen in der Rentenversicherung bis 1992 befristen. Wir
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Frau Hasselfeldtvon der CSU werden in der konkreten Ausgestaltung dieser Regelung sehr darauf achten, daß sie praktikabel ist und daß sich die Belastungen im besonderen für die mittelständische Wirtschaft in Grenzen halten.
Meine Damen und Herren, die Entscheidungen im Rahmen der neunten Novelle fallen in eine Zeit, in der es zunehmend notwendig ist, das umfangreiche und auch vielfältige arbeitsmarktpolitische Instrumentarium auf seine Effizienz zu überprüfen und dann eben auch Schwerpunkte zu setzen. Wir wollen mit den Beiträgen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber sorgsam und zielgerichtet umgehen;
denn die Wirksamkeit der Sozialpolitik und im besonderen der Arbeitsmarktpolitik ist nicht daran zu messen,
wieviel Geld man ausgibt, sondern daran, ob das vorhandene Geld auch sinnvoll eingesetzt wird.
Dafür, meine Damen und Herren, ist diese Novelle ein gutes Beispiel.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hasenfratz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Beitrag der Kollegin Hasselfeldt zeigt einmal mehr die Orientierungslosigkeit dieser Koalitionsfraktionen.
Ihre Phantasie zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit erstreckt sich allein darauf, Leistungen im Arbeitsförderungsgesetz zu kürzen.
Seit der Wende haben Bundesregierung und Koalitionsfraktionen jedes Jahr mindestens eine Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz auf den Tisch des Hauses gelegt.
Für die Arbeitslosen ist dabei nichts Positives herausgekommen, ganz im Gegenteil. Die Leistungen bei Arbeitslosigkeit wurden immer mehr abgebaut. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit um rund eine halbe Million gestiegen.Mir ist aufgefallen: Den Wortschöpfern des Bundesarbeitsministeriums ist trotz aller Bemühungen nichts mehr eingefallen, wie man diese AFG-Novelle schön hätte überschreiben können. Da steht nur schlicht „Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes". So sehr kann man in der Tat auch nicht lügen, um dieser AFG-Novelle noch irgend etwas Positives abzugewinnen. Und: Die AFG-Novellen werden nicht mehr numeriert. Die Inflationierung wird nicht mehr kenntlich gemacht.
Diese neunte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz steht in der Tradition der Wendestrategen. In den letzten Jahren wurden — um nur einige Beispiele zu nennen — das Übergangsgeld für Behinderte abgesenkt, die Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe, gekürzt, das Unterhaltsgeld bei Bildungsmaßnahmen abgesenkt, die Sperrzeitenregelung verschärft. Jetzt geht es munter weiter. Mit der achten Novelle zum AFG, Ende letzten Jahres gegen unsere Stimmen durchgedrückt, wurde mit Sonderzügen Kohle aus Nürnberg abgeholt. Der Stufenplan zur Anerkennung der Kindererziehungszeiten für Mütter, sogenannter Trümmerfrauen, mußte irgendwie finanziert werden. Deshalb wurde und wird in Nürnberg weiter abkassiert. Der Bundesfinanzminister hatte keine Lust, seinen Pflichtbeitrag zu leisten. Der Raubzug bei der Bundesanstalt für Arbeit hat das Defizit wesentlich verschärft.
Jetzt wollen Sie 1,8 Milliarden DM zu Lasten der Arbeitslosen abkassieren. Und das ist erst der Anfang. Bei der Bundesanstalt für Arbeit gibt es einen ungedeckten Rest von mehr als einer Milliarde DM.
Meine Damen und Herren der Koalitionsfraktionen, heißt das, daß Sie, während Sie uns mit dieser Krücke einer neunten AFG-Novelle beschäftigen, schon heimlich die zehnte Novelle mit noch mehr Sozialabbau vorbereiten?
Diese neunte AFG-Novelle ist ein gezielter Schlag gegen die Jugendlichen, Kranken und Langzeitarbeitslosen.
Den Jugendlichen und den jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern kürzen Sie die Leistungen. Sie bestrafen gezielt diejenigen, die trotz aller Anstrengung vergeblich einen Arbeitsplatz suchen. Sie haben auch die miese Kampagne losgetreten, Jugendliche seien faul, unbeweglich, einfach arbeitsscheue Drückeberger. Daß das nicht stimmt, wissen Sie. Sie hetzen trotzdem gegen die Jugendlichen.Tatsache ist — auch das wissen Sie — , daß Arbeitslosengeld nur der beziehen kann, der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht.
Wer während der Arbeitslosigkeit krank wird, soll jetzt die Dauer des Arbeitslosengeldanspruchs gekürzt bekommen.
Das ist eine Bestrafung für Krankheit. Aber im Rahmen Ihrer Vorstellung von Gesundheitsreform ist das auch logisch. Sie wollen die Kranken bestrafen und zur Kasse bitten frei nach dem Motto: Wer krank ist, ist selber schuld.
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6628 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
HasenfratzSie kürzen die ABM-Förderung und werfen damit die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen, die Selbsthilfegruppen und die finanzschwachen Kommunen aus dem Kreis der Trägerschaft. Allein dadurch ist zusätzlich mit rund 70 000 Arbeitslosen zu rechnen. Sinnvolle Arbeiten, die dringend erledigt werden müssen, bleiben liegen.Haben Sie die dringenden Appelle der Kirchen, endlich Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose zu erschließen, vergessen? Es kann doch nicht wahr sein, daß Sie sich an die Anhörung, die der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung am 8. Juni 1988 zu diesem Thema durchgeführt hat, nicht mehr erinnern.
Nach dem Urteil aller Fachleute war das eine herausragend gelungene Veranstaltung.Ich zitiere aus dem Protokoll dieser Anhörung Seite 220:Vors. Egert: Es geschieht im Leben eines Ausschußvorsitzenden selten, daß ihn die Fraktionen autorisieren, eine gemeinsame Erklärung zu einer Anhörung abzugeben. Die Obleute haben mich dazu autorisiert. Sie haben festgestellt, daß als Ergebnis der Anhörung festzuhalten ist, daß alle Parteien sich fest vorgenommen haben, an der Erschließung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose mitzuwirken.
Jetzt, nicht einmal vier Monate später, machen Sie das genaue Gegenteil dessen, was Sie vorgegeben haben tun zu wollen.
Ich will Ihnen ein praktisches Beispiel nennen. Vielleicht begreifen Sie dann, was Sie anrichten. In dem Projekt „Jung und alt — Mobile Altenhilfe" der Arbeiterwohlfahrt Kreisverband Solingen sind zur Zeit zehn Mitarbeiterinnen über eine hundertprozentige ABM-Förderung beschäftigt. Das Arbeitsamt zahlt hierfür 336 000 DM Personalkosten. Zehn langzeitarbeitslose Mädchen und Frauen zwischen 15 und 25 Jahren, die sonst keinerlei Chance auf dem Arbeitsmarkt hätten, werden wieder stabilisiert, motiviert und qualifiziert, bekommen also eine Perspektive vermittelt. Gleichzeitig wird durch eine tarifliche Bezahlung die Lebenssituation der Betroffenen auf einen vernünftigen Stand gebracht. Das Tätigkeitsfeld der Altenhilfe bietet dabei nicht nur kurzfristig eine Möglichkeit zur Arbeitsaufnahme, sondern ermöglicht dem Beschäftigten auch eine zukunftsgerichtete berufliche Orientierung.Da bereits ein Bedarf an qualifiziertem Personal für die Altenpflege und -hilfe besteht und dieser zukünftig noch weiter steigen wird, versucht der Träger — hier die Arbeiterwohlfahrt —, in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt die Mitarbeiterinnen der mobilen Altenhilfe im Anschluß an die einjährige ABM in Ausbildungsplätze bzw. in eine Umschulung im Bereich der Altenpflege zu vermitteln. Nach Wegfall der bisherigen ABM-Förderung ist das nicht mehr möglich, weil dafür einfach die Voraussetzungen fehlen. Nach der von Ihnen beabsichtigten Kürzung der Förderung auf 90 % — Sie wollen flächendeckend sogar auf 75 gehen — müßte der genannte Träger zusätzlich 35 000 bis 40 000 DM aufbringen. Und das bei noch 90 % Förderung. Das wäre dann das Ende des Projektes; denn Träger der genannten Art haben die Mittel nicht. Sie sind ja schon jetzt mit den geforderten Eigen- und Sachmitteln und Verwaltungskosten stark beteiligt. Das Beispiel zeigt: Durch die Beendigung eines Projekts wie der Mobilen Altenhilfe wird die Lebensqualität der alten Menschen massiv verschlechtert.
Die Isolation im Alter wird wieder zunehmen. Aufgebaute vertrauensvolle Kontakte werden abrupt unterbrochen. Ich gehe davon aus, daß nicht nur wir, sondern auch Sie Zuschriften und empörte Anrufe zur neunten AFG-Novelle erhalten. Sie müssen also die Probleme, die Sie selber produzieren, kennen. Daß Sie diese Novelle dennoch durchziehen wollen, koste es die Arbeitslosen, was es wolle, ist ein weiteres Beispiel dafür, daß Sie den Sozialabbau immer weitertreiben wollen.
Wir werden dieses Abbruchunternehmen, diese neunte Novelle zum AFG, mit allen politischen Mitteln bekämpfen.Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Thomae.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für die Exportnation Bundesrepublik Deutschland ist es gerade im Interesse der Arbeitslosen entscheidend, daß unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht beeinträchtigt, sondern gefördert wird. Zu hohe Steuern, zu hohe Sozialabgaben, sind Gift dafür. Deshalb war und ist die Entscheidung der Koalition gegen eine Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ein richtiges Signal.
Wer dies bejaht — und dies tun wir — , der muß auch bereit sein, die daraus resultierenden Konsequenzen zu ziehen.Für die Sozialpolitiker meiner Fraktion möchte ich noch einmal darauf hinweisen, daß wir vor dem eingeschlagenen Weg einer Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld und der Übertragung zusätzlicher Leistungen und Aufgaben auf die Bundesanstalt für Arbeit gewarnt haben. Sachgerechter wäre es gewesen, die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld stärker entsprechend der zuvor erbrachten Beitragsleistung zu staffeln.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6629
Herr Abgeordneter Dr. Thomae, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßler?
Bitte schön.
Herr Kollege Thomae, Sie haben soeben von einem „richtigen Signal" gesprochen. Stimmen Sie mir zu, daß die Auswirkungen dieses Gesetzentwurfs für knapp 100 000 junge Menschen unter 25 Jahren Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt signalisieren, und wie stehen Sie dazu im Zusammenhang mit dem von Ihnen verwendeten Ausdruck „richtiges Signal" ?
Herr Dreßler, wenn Sie etwas Geduld hätten, würden Sie im Anschluß genau hören, was wir wollen. Vielleicht stellen Sie anschließend noch eine Frage. Aber ich glaube, Sie werden die Antwort erhalten.
Hier ist der Bundesarbeitsminister immer noch im Wort, und ich werde nicht müde, dies anzumahnen. Eine solche Staffelung entspricht auch den Vorstellungen der Arbeitslosen.Was den vorliegenden Gesetzentwurf anbetrifft, so gliedert er sich in zwei Bereiche: zum einen in Maßnahmen zur notwendigen Konsolidierung des Haushalts und zum anderen in die Problematik des Teilvorruhestandes ab 59 Jahren.Unserer Ansicht nach gilt es, die begrenzten Mittel der Bundesanstalt für Arbeit besser auf die Problemgruppen am Arbeitsmarkt zu konzentrieren.
Ich würde sehr gerne zwischen beruflichen Bildungsmaßnahmen, die einem beruflichen Aufstieg dienen, und beruflichen Bildungsmaßmahmen, die sich auf Arbeitslose, von Arbeitslosigkeit Bedrohte, Umschüler und Aussiedler beziehen, unterscheiden. Hierauf, meine ich, sollten wir in den weiteren Beratungen besonderen Wert legen. Hierbei ist es wichtig, daß sich gerade die Bundesanstalt für Arbeit primär auf die zweite Gruppe, nämlich auf die Gruppe der Arbeitslosen, der von Arbeitslosigkeit Bedrohten, der Umschüler und Aussiedler, konzentriert, denn die Tarifpartner und die Betriebspartner haben bei dieser Aufgabe auch einen Part übernommen: Sie sollen verstärkt den Aufstieg und teilweise die Umschulung innerbetrieblich stärker fördern. Dadurch werden finanzielle Mittel für die echten Problemgruppen frei.Natürlich gilt es, auch im öffentlichen Dienst verstärkte Anstrengungen zur beruflichen Qualifizierung zu unternehmen; ich meine, ganz besonders im Bereich der Pflegeberufe. Denn gerade im Bereich der Pflegeberufe muß die öffentliche Hand Verantwortung übernehmen und darf dies nicht der Bundesanstalt für Arbeit überlassen.
Die Zustimmung zu dem vorliegenden Maßnahmenkatalog fällt sicherlich nicht leicht. Ich erwähne für uns in diesem Zusammenhang erstens die volleÜbernahme der Krankenkassenbeiträge der Kurzarbeiter durch den Arbeitgeber.Zweitens — das bekenne ich ganz freimütig gegenüber der SPD — : Mir fällt es sehr schwer, arbeitsmarktpolitische Maßnahmen in diesem Umfang durchzuziehen. Die Kürzung der Anspruchsdauer beim Arbeitslosengeld für Jugendliche soll die Mobilität der Jugendlichen fördern.
Wenn wir diese Mobilität fördern wollen, müssen wir flankierende Maßnahmen wie beispielsweise die Unterstützung des Unterhalts und der Umschulungsbeihilfen einbauen.
Vielleicht könnten wir durch diese Maßnahmen die finanziellen Mittel finden, um die echten Problemgruppen zu unterstützen.
— Für mich sind die unechten Problemgruppen oder die, die nicht so dringend notwendig Hilfe brauchen, diejenigen, die einen beruflichen Aufstieg bisher finanziert bekommen. Diese Gruppe ist für mich nicht so dominierend wie echte Arbeitslose. Darauf möchte ich mich konzentrieren.Der Präsident des BDI hat immer wieder begrüßt, daß die Beitragssätze gesenkt werden. Ich erwarte aber auch von den Arbeitgeberverbänden in der Selbstverwaltung zukünftig erhebliche Anstrengungen, damit das Management und die Konsolidierung in der Bundesanstalt für Arbeit fortschreiten.
Die FDP hat sich lange mit dem Begriff Teilrente bei Teilzeitarbeit beschäftigt. Wir wollen nicht den abrupten, sondern den differenzierten Übergang in den Ruhestand. Insofern ist dies ein sehr humaner Aspekt, der hinter der vorgeschlagenen Regelung des Teilvorruhestandes steht. Grundsätzlich begrüßen wir dies. Denn es ist in der Tat sinnvoll, daß ältere Arbeitnehmer, wenn sie dies wollen, ihre Arbeitszeit reduzieren können. Den Betrieben kommt zugute, daß bewährte Mitarbeiter nicht so früh völlig aus dem Arbeitsleben ausscheiden und betriebliches Know-how erhalten bleibt.Ob dieser Vorschlag jedoch die erhofften arbeitsmarktpolitischen Wirkungen zeigen wird, müssen wir offenlassen. Das Prinzip der Freiwilligkeit sollte sowohl bei Arbeitnehmern wie auch bei Arbeitgebern gelten. Außerdem muß diese Maßnahme befristet sein. Denn auf Dauer können wir nicht einen partiellen Ausstieg aus dem Arbeitsleben subventionieren. Notwendig ist vielmehr langfristig eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Dabei muß sichergestellt werden, daß diejenigen, die früher in Rente gehen wollen, dies auch tun können, ohne allerdings auf Dauer die Solidargemeinschaft der Rentenversicherten unangemessen zu belasten.
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6630 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Dr. ThomaeDie positiven wirtschaftlichen Rahmendaten der vergangenen Monate sollten für uns kein Anlaß sein, die notwendige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte zu unterbrechen und durch zusätzliche Wünsche und Forderungen zu belasten.
Wir müssen vielmehr deutlich machen, daß eine solide Haushalts- und Sozialpolitik, Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum, mehr Beschäftigung und soziale Sicherheit ist.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Trenz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Entwurf der neunten AFG-Novelle, den Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wie alles, was von dieser Regierung kommt, stützen werden, beweisen Sie erneut, mit welch eiskalter Berechnung Sie Jahr für Jahr über Diätenerhöhungen Ihr eigenes Einkommen zu steigern wissen, um gleichzeitig auf der anderen Seite einen Sozialabbau zu betreiben, wie ihn diese Republik noch nicht erlebt hat.
Diese Legislaturperiode steht im Zeichen der großen Reformen, doch schon deren marktschreierische Anpreisung hat der Bevölkerung vor Augen geführt, welch schamlose Umverteilungspolitik Sie betreiben. Wie wären diese großen Projekte denn auch anders zu verstehen? Die Steuerreform funktioniert nach dem Prinzip „Wer hat, dem wird gegeben", und die wird dann auch noch über Umschichtungen des Bundeshaushalts zu Lasten des Haushalts der Bundesanstalt für Arbeit finanziert, also auf Kosten der Beitragszahlerinnen und -zahler. Es ist kein Naturereignis, Frau Hasselfeldt, daß im Haushalt der Bundesanstalt so wenig Geld ist.Das ist noch längst nicht alles. Durch die Gesundheitsreform, die Sie, Herr Blüm, trotz massivster Proteste aus der ganzen Republik durchziehen werden, wird sich in der Zukunft schon am Gebiß erkennen lassen, wer noch zu den Auserwählten Ihrer Regierung zu zählen ist. Auch die Folgen der Aufhebung der Mietpreisbindung im sozialen Wohnungsbau,
die morgen anstehende Erhöhung der Verbrauchsteuern werden wiederum die Menschen auszubaden haben, die durch die Steuerreform, die Gesundheitsreform und jetzt durch die neunte AFG-Novelle von Ihnen beglückt werden, nämlich die unteren Einkommensgruppen und die Erwerbslosen.Gemeinsam ist allen diesen Gesetzesvorhaben, daß Sie, Herr Blüm, und Ihre Kollegen dies mit einer Geschwindigkeit durchs Parlament peitschen, die sogar die Abgeordneten der Koalition ins Schleudern bringt; ich erinnere nur an das Stichwort Flugbenzin. In diesen Gesamtzusammenhang paßt die AFG-Novelle nur zu gut hinein. Jetzt werden die Erwerbslosen mit 1,8 Milliarden DM zur Kasse gebeten. Davon werden trotz Ihrer frommen Sprüche hauptsächlich Frauen betroffen sein, denn sie sind in den Gruppen der Schwervermittelbaren, der Jugendlichen mit und ohne Ausbildung und in Berufsfeldern, die der deutsche Arbeitsmarkt nicht mehr braucht, überproportional vertreten. Mädchen werden es sein, die als Auszubildende mit oft sehr geringer Ausbildungsvergütung von dem Entzug der ergänzenden Berufsausbildungsbeihilfe besonders betroffen sind.
Für viele Jugendliche ist damit schon die Endstation beruflicher Qualifizierungswünsche erreicht, oder sie sind gezwungen, ihr Elternhaus zu verlassen, um in eine andere Stadt oder in ein anders Bundesland zu ziehen. Das nennen wir, Herr Blüm und Kollegen, Zwangsmobilisierung von Menschenmaterial, und das soll wohl ein besonderes Bonbon für unseren Herrn Thomae und für Ihren Herrn Späth sein.Für Jugendliche, die nach der Ausbildung erwerbslos werden, also über die sogenannte zweite Schwelle des Arbeitsmarktes stolpern, haben Sie sich, Herr Blüm, etwas ganz Besonderes überlegt. Ihnen wird bis zum 25. Lebensjahr der Anspruch auf Arbeitslosengeldleistungen auf sechs bis neun Monate gekürzt, ihre schon jetzt resignative Einstellung für die Zukunft verstärkt, und noch schneller als bisher rutschen sie in die Armutsfalle und landen beim Sozialamt. Die Kommunen — ich weiß, wovon ich rede; ich komme aus dem Saarland — , die dank Ihrer Arbeitsmarkt-, Sozial- und Steuerpolitik aus dem letzten Loch pfeifen, werden die Rechnung tragen.
— Das ist doch ein Blödsinn. Wer war denn 30 Jahre an der Regierung? Doch Ihre Parteikollegen!
Der bisherige Rechtsanspruch auf Kostenerstattung bei der Teilnahme an Maßnahmen zur beruflichen Bildung wird nun zur Ermessensleistung degradiert. Das von Ihnen gerissene Loch im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit in Milliardenhöhe wird nun gerade durch Einsparungen in der vorberuflichen und beruflichen Bildung gestopft werden müssen. Und das Ergebnis? Immer mehr Menschen werden kaum noch Chancen haben, Erwerbsarbeit zu finden, fallen nun auch noch aus den Warteschleifen heraus, und die Massenerwerbslosigkeit nimmt noch weiter zu.Gleichzeitig werden quasi durch die Hintertür die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen liquidiert. Den Trägern brummen Sie nun einen Eigenanteil an der Förderung bis zu 25 % auf. Die Projekte, die mit dazu beigetragen haben, erste kleine Schritte zur Realisierung von frauenspezifischen, ökologischen und sozialen Konzepten zu entwickeln, haben letztlich nur für den Papierkorb gearbeitet. Die Arbeitsbeschaffungs-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6631
Frau Trenzmaßnahmen waren schon von jeher ein strittiger und zudem auch kümmerlicher Beitrag zur Arbeitsmarktpolitik. Selbst diese Ansätze einer Entwicklung neuer Berufsfelder im ökologischen und sozialen Bereich werden jetzt auch noch ad acta gelegt. Die schon jetzt mehr als schwachen Chancen der Schwervermittelbaren werden durch die Herabsetzung des Einarbeitungszuschusses nun noch weiter gemindert.Mit einer Unverfrorenheit, die keine Grenzen zu kennen scheint, wird Erwerbslosen der gesetzliche Anspruch auf Arbeitslosengeldzahlung reduziert. Während auf der einen Seite zig Millionen Überstunden im Jahr die Menschen krank machen, erkranken Erwerbslose an erzwungenem Nichtstun und werden nun auch durch Leistungskürzungen bestraft. Mit der in der Gesundheitsreform geplanten Eigenbeteiligung schließt sich der zynische Kreislauf Ihrer Politik.Daß die grüne Bundestagsfraktion diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen wird, versteht sich von selbst. Ich frage mich, wie eigentlich der Idealmensch aussieht, für den Sie hier Ihre sogenannte freiheitliche marktwirtschaftliche Politik betreiben. Am besten wäre er wohl geschlechtsneutral, nicht mehr jung, aber auch nicht alt, bei Geburt schon richtig qualifiziert und auf keinen Fall krank.
Das Wort hat der Abgeordnete Schemken.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf hat zum Ziel, den hohen Stand der Arbeits- und Ausbildungsförderung zu erhalten und bestimmte Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit zu konsolidieren. Die Vorlage bemüht sich intensivst darum, die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung im nächsten Jahr zu garantieren. Herr Hasenfratz, das ist kein Abkassieren,
das ist auch keine Kürzung,
das ist eine solide Aufgabe, die dieses Parlament zu erledigen hat. Beitragszahler sind im übrigen auch die Arbeitnehmer, in starkem Maße sogar.
Das zu erwartende Defizit von 5,1 Milliarden DM — nach den Zahlen, die uns verfügbar sind — wird gedeckt mit
3,3 Milliarden DM an Bundesmitteln. Daran können Sie erkennen, daß wir den Appell der Kirchen ernst nehmen und hier einen großen Brocken Steuermittel in die Bundesanstalt für Arbeit stecken.
Herr Abgeordneter Schemken, der Abgeordnete Dreßler möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, wenn die Zeit nicht angerechnet wird.
Ich werde selbstverständlich großzügig sein und Ihnen Gelegenheit geben, die Frage zu beantworten.
Herr Abgeordneter Dreßler.
Herr Kollege Schemken, ist es schon bis zu Ihnen durchgedrungen, daß die Bundesanstalt für Arbeit ein Defizit von über 6 Milliarden DM errechnet hat, und können Sie mir sagen, wie die Koalitionsfraktionen ihre Vorschläge kreieren wollen, den Rest von 900 Millionen DM zu decken?
Wir lassen uns hier nicht auf zusätzliche und nachgeschobene Zahlen ein,
sondern wir lassen uns auf die Zahlen ein, die uns durch den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit exakt vorgelegt werden. Insofern ist es sicherlich richtig und auch in Ihrem Interesse, daß wir die Beitragszahlungen nur so weit in Anspruch nehmen — das ist auch eine Frage der Gestaltung der Finanzen —, wie hier ein Defizit notwendigerweise abzudecken ist. Alles, was euphorisch nach oben geht, trifft viel zu früh die Maßnahmen — ich sage das ganz bewußt — und das Bemühen, hier zu konsolidieren. Ich bin der Meinung, wir sind gehalten, gemeinsam daran zu arbeiten und nicht die Zahlen je nach Wunsch der Opposition nach oben zu treiben, um ein Bild zu malen, das letztlich die Leute nur verunsichern soll.
— Ja, bitte schön.
Ich habe eine Nachfrage. Darf ich, Herr Präsident?
Ja, Sie dürfen.
Herr Kollege Schemken, ist Ihnen entgangen, daß ich von einem Defizit gesprochen habe, das die Bundesanstalt für Arbeit — wozu, wie wir beiden wissen, der Herr Präsident gehört — errechnet hat: über 6 Milliarden DM? Ich bitte Sie, das nicht der SPD in die Schuhe zu schieben.
Ich habe hier gesagt, daß wir von der Grundlage der uns verfügbaren Zahlen ausgehen.
— Entschuldigen Sie einmal, ich habe die Zahl, die hier von Ihnen verkündet wird, nicht zu vertreten.
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SchemkenDas müssen Sie sich selbst beantworten.
Ich kann Ihnen hier erklären, daß wir auf der Basis der uns verfügbaren Zahlen — —
— Die Zahlen kommen sicherlich von Nürnberg.
Die SPD-Fraktion hat uns oft genug mit falschen Zahlen bedient.
Deswegen kann ich in dieser Stunde nicht auf diese Ihre Angaben eingehen.
Das hohe Niveau der beruflichen Fortbildung und auch der Umschulung — ich sage auch bewußt: der Sprachförderung; das ist ein sehr aktueller Anlaß — macht es möglich, stärker als bisher — das müssen wir uns ja wohl alle ehrlich zugestehen —,
die Ausgabenentwicklung zu steuern. Wir haben einen großen, einen breiten Verfügungsraum. Das heißt, wir können hier gezielt ansetzen. Das ist im Hinblick auf die demographische Fortrechnung auch notwendig. Wir können dies besser tun, als es bisher möglich war, weil sich die Dramatik auf dem Ausbildungsstellenmarkt abflacht.
Auch die Wirtschaft und die Tarifparteien — bitte hören Sie mal gut zu — müssen die Weiterbildung als eine wichtige Aufgabe annehmen und, wie ich meine, auch in ihre Aufgabenbereiche einbeziehen. Wer nicht erkennt — das sage ich auch einmal an den DGB ganz deutlich, auch im Hinblick auf Europa — , daß Weiterbildung, wenn überhaupt, nur über große Bildungsanstrengungen finanziert werden kann und daß die Wirtschaft hier entscheidendes leisten muß, der macht eben eine Arbeitspolitik der 60er Jahre und begeht damit wieder den gleichen Fehler.
Damit das noch einmal klar ist — hier wird gar nicht gekürzt und abkassiert — :
Auch in diesem Jahr legen wir kräftig zu. Bei der beruflichen Fortbildung waren es 1,74 Milliarden DM im vergangenen Jahr, in diesem Jahr waren es schon bis Juni 1,1 Milliarden DM, 5,6 % mehr. Die Aufwendungen für berufliche Umschulung stiegen von 471 Millionen auf 542 Millionen DM — immer bis Juni — , 15 °A) mehr. Die Leistungen in Reha-Maßnahmen stiegen von 1,5 Milliarden auf fast 1,8 Milliarden DM, 14,6 % mehr. Die Aufwendungen für Sprachförderungen stiegen von 193 Millionen auf 438 Millionen DM, 126 % mehr. Die Aufwendungen für AB-Maßnahmen stiegen von 1,8 Milliarden auf 2,1 Milliarden DM, 15,7 % mehr. Da sprechen Sie von Abkassieren!An diesen Zahlen wird doch deutlich, daß wie nie zuvor — meine Damen und Herren, beruhigen Sie sich doch — gerade auf dem Qualifizierungssektor Spitzenleistungen erreicht wurden, eine Spitzenleistung, die Ihre Leistung um das Drei- bis Vierfache übersteigt. Die Kapazitäten sind teilweise schon ausgeschöpft.
— Ich habe nur begrenzte Redezeit. Haben Sie bitte Verständnis, daß ich meine Rede zu Ende führen möchte!Die Leistungen der Bundesanstalt fur Arbeit für aktive Arbeitsmarktpolitik haben sich seit 1983 von 6,87 Milliarden DM auf über 14,4 Milliarden DM in diesem Jahr heraufgeschraubt. Dies muß man einfach sehen. 600 000 sind in Qualifizierungsmaßnahmen; das ist ja was.Die Bildungsbereitschaft ist vorhanden — das stellen wir fest —, aber nun gilt es, gezielt und vor allen Dingen regional entsprechend anzusetzen. Ich unterstelle immer wieder, daß auch die Kirchen dies meinen, wenn sie davon sprechen, daß wir den Jugendlichen helfen, dann dort, wo es not tut, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist.
— Aber sie meinen eine gerechte, gezielte Anwendung der Mittel.Kernstück dieses Gesetzes ist insbesondere der Vorruhestand, und hierzu möchte ich doch einiges bemerken.
Es hat hier in der Koalition ein Ringen um einen Kompromiß gegeben. Sie haben ihn ja eingefordert, Sie haben seit Anfang des Jahres mehrere Male angemahnt. Wir haben diesen Kompromiß sicherlich im Streit und Widerstreit gefunden; aber ich meine, es ist ein Kompromiß gefunden worden, der dem humanen Anspruch älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerecht wird und auch eine sozial flankierende Arbeitsmarktentlastung bedeutet.Der Teilruhestand wird 1989 bzw. 1990 fortgesetzt, da er in diesem Jahr ausläuft. Wir haben Wort gehalten. Wer am Arbeitsmarkt etwas bewegen will — darüber sollten wir uns vielleicht mal in den Ausschußberatungen unterhalten — , der muß nämlich flexibel reagieren, und dies tun wir mit diesem Gesetz. Es gibt viele Wege, die Arbeit entsprechend zu verteilen, insbesondere für die älteren Arbeitnehmer.Von der Regelung werden Arbeitnehmer begünstigt, die das 58. Lebensjahr vollendet haben. Das gilt für zwei Jahre bei vorangegangener Vollbeschäftigung. Die Arbeitszeit wird im Durchschnitt auf höchstens 24 Stunden wöchentlich reduziert. Diese Regelung sollte nicht nur auf Grund eines Tarifvertrages eingeführt werden, sondern wir wollen auch freiwillige einvernehmliche Verträge zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern fördern.Nach Berechnungen der Bundesanstalt für Arbeit wird die Förderung des gleitenden Übergangs in den
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6633
SchemkenRuhestand eine Entlastung des Arbeitsmarktes bringen. Das Gesetz ist ein Instrument — ich habe es eben schon gesagt — , das hier insbesondere den Arbeitsmarkt gezielt angeht, aber auch dem einzelnen in seiner persönlichen Verwirklichung, auch im Hinblick auf das Alter, im humansten Sinne einen gleitenden Übergang bietet.Zur Beschlußgrundlage bitte ich noch einige Punkte zur Kenntnis zu nehmen. Da es sich um einen Kompromiß handelt, sollten folgende Punkte in den Beratungen Berücksichtigung finden.Erstens. Der 25%ige Zuschuß auf den Nettolohn sowie die Zuzahlung in die Rentenversicherung durch den Arbeitgeber sollten steuer- und beitragsfrei sein.Zweitens. Die Bundesanstalt für Arbeit übernimmt diese Kosten, wenn die freigewordenen Stellen innerhalb von drei Monaten durch Arbeitslose ersetzt werden.Drittens. Die Inanspruchnahme der Leistungen nach dem Gesetz für Altersteilzeit setzt die Freiwilligkeit zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber voraus.Viertens. Ein Rechtsanspruch für den Arbeitnehmer entsteht dann, wenn die Tarifpartner dieses Gesetz zum Gegenstand von Tarifvereinbarungen machen.Ich halte es für wichtig, daß gerade an der Schwelle der 90er Jahre sich die Tarifparteien aufeinander zubewegen, um diese wichtige Frage zu regeln. Ich halte es für ganz wesentlich, daß sich hieran natürlich auch die Arbeitnehmerorganisationen beteiligen.Im Falle dieser tariflichen Vereinbarungen sollte die Bundesanstalt für Arbeit möglichst einen 25-%-Zuschuß auf den Nettolohn auch dann zahlen, wenn nachweislich im Zusammenwirken mit der Bundesanstalt für Arbeit die freiwerdende Stelle nicht wiederbesetzt werden kann. Dies gilt im übrigen für zwei Jahre.Die Kosten — das darf ich hier ausdrücklich feststellen — sind auf der Basis des heutigen Zeitpunkts veranschlagt worden. Wir sind gerne bereit, innerhalb der Beratungen Fortschreibungen vorzunehmen.Mit den AB-Maßnahmen müssen wir uns sicherlich noch sehr intensiv auseinandersetzen.
— Ich bin davon überzeugt, Herr Heyenn, daß die Opposition in dieser existentiellen Frage so viele Gemeinsamkeiten findet, daß es sich nicht lohnt, sich hier im Saal durch Zwischenrufe auszutauschen, sondern daß wir darüber auf einer sachlichen Basis reden können. Ich muß allerdings darauf hinweisen, daß zu Ihrer Zeit keine 30 000 in diesen Stellen waren— keine 30 000! — und daß es jetzt mittlerweile über 120 000 sind. —
Für diese Maßnahmen werden 3,4 Milliarden DMausgegeben. Das ist sicher ein Block, der in seinerHöhe nicht zu halten ist; dies müssen wir unumwunden zugestehen. Es muß deswegen auch hier gezielter und wirksamer gehandelt werden.Die Sorge der Träger der beruflichen Bildungsmaßnahmen nehmen wir ernst, gerade auch die Initiativen für Arbeitslose. Sie sind uns bekannt, und wir werden die notwendigen Voraussetzungen schaffen, daß hier arbeitsmarktgerecht gehandelt wird. Denn die 100%ige Förderung soll dort gesichert und erhalten bleiben, wo die Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich hoch ist, der einzelne in der Vermittlung keine Chance hat und der Träger nicht über entsprechende Eigenmittel verfügt. Dies wird ausdrücklich in das Gesetz geschrieben.Darüber hinaus dürfen wir feststellen, daß der Eigenanteil bei Kommunen durchaus erhöht werden kann und daß dies auch verträglich ist. Ich sage das ganz bewußt, weil sich nämlich die Städte und Gemeinden mittlerweile diesen Vorgang zu eigen gemacht haben, indem sie ganze Teile von Stellenplänen ausfüllen. Im übrigen wird dies auch von den örtlichen Gewerkschaften, insbesondere von der ÖTV, nachhaltig kritisiert, und man reklamiert, in dem Stellenplan doch entsprechende Stellen einzurichten, wenn sie notwendig sind, und dies nicht über den Solidarverbund der Arbeitslosenversicherung abzuwickeln und dort finanzieren zu lassen. Dies gehört dahin, wo in der Tat die Stelle ausgelöst wird.Wir teilen die Sorge der freien Träger, und wir werden dort, wo berufliche Qualifizierungsmaßnahmen zur Förderung der beruflichen Bildung notwendig sind, entsprechend reagieren.Abschließend möchte ich auf eine wichtige Einlassung im Gesetz hinweisen. Es ist ein Herzensanliegen — —
— Sie lachen; Sie reden zwar immer über Frauen, aber ich habe von Ihnen einen solchen Vorschlag noch nicht gehört. — Ich will Ihnen sagen, worum es geht: Es geht darum, daß die Frauen nach einer Kindererziehungszeit bei der Rückkehr in das Erwerbsleben in besonderer Weise bewertet werden. Hier findet nämlich ein gesellschaftlicher Abstieg statt, weil der Arbeitsplatz, den die Frau vor der Kindererziehungszeit verläßt, nicht mehr da ist und im technologischen Bereich aufgearbeitet werden muß. Dies möchten wir in diesem Gesetz erstmalig bewußt betonen. Wir brauchen kein Forum, wir machen das im Grunde genommen so rum — ich sage das mal so ein bißchen im Reim.
Herr Abgeordneter, dies veranlaßt die Abgeordnete Rust, Sie zu bitten, eine Zwischenfrage zu beantworten.
Ja gerne, da sie eine Frau ist, hat sie ein Recht darauf, zu erfahren, wie wir das meinen. — Bitte schön.
Ich wollte Sie gerne fragen, wie Sie die Durchsetzung dieser Maßnahme realisieren wollen, wenn Sie auf der einen Seite die Mittel, die
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6634 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Frau Rustzur Verfügung stehen, drastisch kürzen, auf der anderen Seite aber den Kreis der Berechtigten um Frauen erweitern. Mir ist bisher unklar geblieben, aus welchen Töpfen, mit welchen Mitteln diese zusätzlichen Leistungen bezahlt werden sollen.
Da ich ja die Zeit nicht angerechnet bekomme, darf ich das erklären. Wir werden in Zukunft statt 750 000 Auszubildende um die 600 000 und weniger haben. Da könnte ich mir vorstellen — und das ist unser ausdrücklicher Wille —, daß wir uns endlich einmal der Mädchen und Frauen annehmen, damit sie in die richtige berufliche Linie einmünden.
— Jawohl, von mir aus können wir das dann auch für Europa einführen.
Wir sollten modellhaft dabei helfen, daß der richtige Berufsweg gewählt wird, und wir müssen den Schwerpunkt „Frauen und Mädchen" auch im Arbeitsförderungsgesetz fortsetzen, damit eine weitere Förderung dann zum Tragen kommt, wenn es um die zweite oder dritte Schwelle der Familie — es kann dann ja die dritte sein, wenn die zweite an die berufliche Qualifikation zu legen ist — geht. Wir stellen mit Schwerpunkt die Frau in den Mittelpunkt, und damit habe ich sehr wahrscheinlich auch schon Ihre zweite Frage beantwortet.
Ja, wir haben noch eine Bitte um eine Zwischenfrage, aber es wird dann wirklich eng, auch wenn ich mit der Anrechnung großzügig bin.
Ja, Herr Präsident, es wird in der Tat eng. Frau Kollegin, haben Sie bitte Verständnis.
Dies ist für uns ein wichtiges Stück Familienpolitik, denn dr Arbeitsmarkt ist nicht nur eine Frage der Statistik, der Summe von Arbeitslosen oder von Geldern und der Frage, ob die Demographie stimmt, sondern für uns ist das Einzelschicksal entscheidend. Wissen Sie, durch die große Zahl wird das Problem immer kleiner. Wenn wir uns dem Einzelschicksal zuwenden und dies vor allem im Hinblick auf die Familie tun, die in Zukunft vieles zu leisten hat, wenn wir die Generationen bei den großen Herausforderungen des Jahres 2000 zueinander führen wollen, und zwar in der Rentengesetzgebung, in der Gesundheitsvorsorge und in den Bereichen der Solidarverbünde, die wir zu bedienen haben, dann gehört die Familie in den Mittelpunkt, und im Mittelpunkt der Familie steht die Mutter.
Ich darf mich herzlich bedanken und wünsche uns eine gute Beratung. Dazu lade ich vor allem die Opposition ein. — Schönen Dank.
Nun hat der Abgeordnete Heyenn das Wort. Ich wäre dem Hause dankbar, wenn die notwendige Ruhe hergestellt würde.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Wir stellen die Frauen im Schwerpunkt in den Mittelpunkt, und im Mittelpunkt steht die Familie", das scheint mir die Erläuterung zur neunten AFG-Novelle gewesen zu sein.
Herr Schemken, Sie haben aber auch einige verständliche Sätze gesagt, u. a. den, daß wir uns hier sachlich unterhalten wollen.
Nun bringen die Fraktionen von CDU/CSU und FDP diesen Gesetzentwurf ein, weil das Arbeitsministerium, wie es dort üblich ist, die Schularbeiten wieder einmal nicht rechtzeitig gemacht hat.
Das heißt, es ist kein Entwurf aus dem Arbeitsministerium. Ich hätte mich hier gerne mit dem Bundesarbeitsminister auseinandergesetzt und ihm geantwortet, denn das, was wir hier beraten, ist ja in seinem Hause entstanden. — Sie zucken mit den Schultern, Herr Bundesarbeitsminister, aber ich muß Ihnen sagen: Ich halte die Tatsache, daß Sie sich hier in dieser Debatte ausdrücklich als letzter gemeldet haben, für einen Ausdruck Ihrer Hilflosigkeit. Sie wollen sich hier nicht der Auseinandersetzung über diesen Gesetzentwurf stellen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich etwas zur langen Vorgeschichte der neunten Novelle des AFG sagen.
— Ich würde sagen, Sie sollten sich vernünftig melden, entweder zu einer Zwischenfrage oder als Redner in der Debatte,
aber dieses dumme Gequatsche würde ich unterlassen.
Herr Abgeordneter Heyenn, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich im Ton den Usancen des Hauses anpassen würden.
Ich will mich bemühen, Herr Präsident.Die neunte Novelle zum AFG hat eine lange Vorgeschichte. Ich meine damit den Sozialabbau seit der
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6635
Heyenn„Wende". Die kurzfristige Vorgeschichte dieser neunten Novelle ist die achte Novelle zum AFG. Der Bundesarbeitsminister hat am 12. November 1987 zu dieser achten Novelle hier gesagt: Das Gesetz entspricht unserer Sozialpolitik. Die Reaktion laut Protokoll: Lachen und Zustimmung bei der SPD. Darauf der Bundesarbeitsminister:— Ja, so ist es. Ich bekenne mich ausdrücklich dazu. Das ist eine Sozialpolitik, die nicht mit Patentrezepten arbeitet und nicht mit Leuchtkugeln ein Feuerwerk veranstaltet, sondern Schritt für Schritt Werkstück für Werkstück vorlegt.
Das war nicht nur sehr mutig, sondern — wie ich finde — tollkühn; denn es war eine Verdrehung der Realität: Statt von Werkstück hätte man von Bruch reden können, Herr Bundesarbeitsminister. Die achte Novelle war — Herr Hasenfratz hat darauf hingewiesen — ein milliardenschwerer Verschiebebahnhof zu Lasten der Solidargemeinschaft der Beitragzahler.
Der Stufenplan zur Anerkennung der Kindererziehungszeiten mußte finanziert werden. Deshalb war in Nürnberg abzukassieren. Ich erinnere daran, daß Arbeitgeber und Gewerkschaften von einem finanziellen Raubzug bei der Bundesanstalt für Arbeit gesprochen haben.Die Anhörung, die wir zur achten Novelle durchgeführt haben, war für die Bundesregierung eine Pleite auf der ganzen Linie. Damals hatte der geballte Sachverstand von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und der Bundesanstalt für Arbeit den Gesetzentwurf als völligen Unsinn abgelehnt.
Bei der neunten Novelle werden Sie diese Pleite wieder erleben.
Ich habe Ihnen, Herr Blüm, bei der Beratung zur achten Novelle vorgehalten — wörtlich — :Sie treiben mit dieser Novelle die Bundesanstalt für Arbeit tief ins Defizit.Genauso ist es gekommen.Jetzt wird die zweite Stufe gezündet. Erst haben Sie den Bund in Nürnberg Kasse machen lassen, und jetzt soll Nürnberg verpflichtet werden, sich dieses Geld bei den Arbeitslosen zurückzuholen. Soll das etwa ein neues Werkstück sein? Ich nenne das einen weiteren Baustein Ihrer gnadenlosen Umverteilung von unten nach oben.
Wir hatten bei der abschließenden Beratung der achten Novelle AFG den Antrag eingebracht, der Bundestag möge beschließen, daß die Zuschußpflicht des Bundes erhalten bleibt und daß die Defizite, die durch die achte Novelle entstehen, nicht durch Beitragssatzsteigerungen und nicht durch Leistungskürzungen abgedeckt werden. Dieser Antrag ist abgelehnt worden. Im nachhinein kann man nur feststellen: Es ist wohl allen Beteiligten klar, daß Sie diesen Leistungsabbau schon damals im Sinn hatten.Sie wollen bei der Bundesanstalt für Arbeit direkt und indirekt, also bei den Arbeitslosen, im nächsten Jahr 1,8 Milliarden DM abkassieren. Sie unterstellen bei der Bundesanstalt ein Defizit von 5,1 Milliarden DM — darauf ist soeben hingewiesen worden — , obwohl — Sie wissen das — dieses Defizit aus Nürnberg für das kommende Jahr auf über 6 Milliarden DM eingeschätzt wird. Die zehnte Novelle ist angekündigt.Sie spielen mit falschen Zahlen. Der Wahlspruch dieses Arbeitsministers ist offenkundig: „Solange es geht, tarnen und täuschen" und dann hier ganz am Ende hilflos reden, damit es zu keiner Kritik von der Opposition kommt.
Noch in der Aktuellen Stunde am 21. April 1988 hat der Bundesarbeitsminister erklärt:Wir diskutieren heute über ein mögliches Defizit der Bundesanstalt, von dem niemand weiß, ob es eintritt und wie hoch es eintritt. Sie— zu uns gewandt —erregen sich über dieses Defizit.Ich möchte heute darauf antworten: Wir erregen uns nicht über dieses Defizit, sondern wir engagieren uns in dieser Sache nämlich zugunsten der Arbeitslosen, denen Sie erneut, Herr Blüm, Geld und Leistungen wegnehmen.
Sie reden von einer — das nenne ich dreist — Qualifizierungsoffensive, die es überhaupt nicht gibt,
von einer ehemals kurzfristigen Offensive, die längst zur Defensive, ja zur Abqualifizierung der Arbeitslosen verkommen ist. Es ist schon ein starkes Stück, bei diesen Arbeitslosenzahlen Qualifizierungsmaßnahmen abzubauen. Ich halte das für dumm und töricht.
Die neunte Novelle, meine Damen und Herren, ist von vornherein falsch angelegt. Sie kürzen die Anspruchsdauer des Arbeitslosengeldes um die Zeiten der Krankheit, d. h. wer krank ist — das Gesundheitsreform-Gesetz läßt grüßen — wird bestraft.
Auszubildenden in betrieblicher Ausbildung soll die Berufsausbildungsbeihilfe entzogen werden, wenn sie nicht im Elternhaus wohnen. Was heißt denn das? Azubis
und vor allem Mädchen mit sehr geringer Ausbildungsvergütung — Frau Trenz, wir stimmen dort voll überein — werden an ihre eigene Familie verwiesen, auch wenn es der finanziell schlecht geht. Die Folge wird sein, daß für viele Auszubildende damit Endstation der Qualifizierungswünsche ist, oder sie müssen ihre Elternhäuser verlassen. Das ist ein erneutes Beispiel dafür, was Sie unter Familienpolitik tatsächlich verstehen
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6636 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Heyenn— den Sonntagsreden Ihrer Frau Süssmuth zum Trotz.Sie kürzen, meine Damen und Herren, den Jugendlichen weiter das Arbeitslosengeld. Die Jugendlichen werden gegenüber den älteren Jahrgängen benachteiligt. Sie sehen in den jungen Arbeitslosen Drückeberger.
Wenn Sie schon nicht auf uns hören, sollten Sie wenigstens Ihrem Parteimitglied Heinrich Franke Glauben schenken. Der weiß es besser, der sagt: Die Diskussion über echte und unechte Arbeitslosigkeit verstellt den Blick auf das wirkliche Dilemma am Arbeitsmarkt.
Es besteht ein globales Arbeitsplatzdefizit, das sich nicht wegdiskutieren läßt.
Man kann die Statistik ändern, neue Arbeitsplätze entstehen dadurch nicht. — Und wo Herr Franke recht hat, hat er recht.
Ihre Maßnahme ist eine Maßnahme auf dem Niveau des Geredes an den Stammtischen.Mit der Herabsetzung der Förderung beim Einarbeitungszuschuß und bei der Eingliederungshilfe setzen Sie die Eingliederungschancen schwer vermittelbarer Arbeitsloser herab, obwohl die besondere Zielgruppe der Arbeitsmarktpolitik, z. B. die Langzeitarbeitslosen, die ich hier meine, laufend zunimmt. Sie begrüßen — es ist vom Kollegen Hasenfratz zitiert worden — die Initiative der evangelischen Kirche zur Langzeitarbeitslosigkeit. Aber wenn sie handeln wie hier, handeln Sie konkret gegen die Interessen der Langzeitarbeitslosen. Meine Damen und Herren, wie Sie das mit Ihrem Gewissen vereinbaren, das wird Ihr Geheimnis bleiben.Die produktive Winterbauförderung wird um weitere drei Jahre ausgesetzt. Das ist eine konkrete Entlassungsförderung für den bevorstehenden Winter.Die beabsichtigte Verteuerung der Kurzarbeit heißt tendenziell ebenfalls Förderung der Arbeitslosigkeit. Meinen Glückwunsch, meine Damen und Herren!Die Kürzung des ABM-Förderbetrages auf 75 — in wenigen Fällen auf 90 %, in absoluten Ausnahmefällen auf 100 % — heißt: Sie werfen die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen, die Selbsthilfegruppen und die finanzschwachen Kommunen aus dem Kreis der Träger heraus. Die Verbände haben bereits nachgerechnet. Sie kommen allein durch diese Maßnahme im ABM-Bereich auf 70 000 zusätzliche Arbeitslose. Sie machen mit dieser Novelle hervorragende Projekte wie „Arbeiten und lernen" völlig kaputt. Bewährte Hilfe und Dienste für Behinderte, für psychisch Kranke, für AIDS-Kranke werden bald der Vergangenheit angehören. Sie treiben die Sozialhilfekosten weiter nach oben.Und Sie, Herr Blüm, Sie bestrafen ganz besonders das Land Nordrhein-Westfalen, obwohl — oder weil — Sie CDU-Landesvorsitzender in NRW sind; ich kann das nicht beantworten. Der Verwaltungsausschuß des Landesarbeitsamtes NRW hat dem Vorsitzenden des Vorstandes der Bundesanstalt für Arbeit die Auswirkungen der neunten Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen dargestellt.Die Kürzung der ABM-Förderung wird danach die Einrichtung und Durchführung von ABM-Maßnahmen im Landesarbeitsbezirk NRW ganz besonders treffen, da hier sehr viele Maßnahmen mit einem über 80 % hinausgehenden Zuschuß gefördert werden. So wurden im ersten Halbjahr 1988 knapp 62 % der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit einer 100-%-Förderung anerkannt — 62 %! In diesen 100-%-Maßnahmen sind nicht weniger als 73 % aller ABM-Arbeitnehmerinnen und -Arbeitnehmer beschäftigt. Das sind jahresdurchschnittlich gut 20 000. Dieses zahlenmäßige Bild sei nicht — so aus Düsseldorf zu hören —, wie häufig vermutet, das Ergebnis einer besonderen Großzügigkeit der Arbeitsämter, sondern vielmehr das Resultat der konzentrierten nordrhein-westfälischen Arbeitsmarktprobleme, gleichzeitig aber auch Ausdruck der damit zusammenhängenden besonderen Haushaltsprobleme der Kommunen und anderer ABM-Träger wie der eingetragenen Vereine ohne eigene Mittel und wie der gemeinnützigen Einrichtungen.In den Arbeitsamtsbezirken des Ruhrgebiets wird dies besonders deutlich. In diesen Städten ist die Arbeitslosenquote mit 15,6 % unverändert hoch. In diesen Arbeitsamtsbezirken haben wir einen Anteil der mit dem jetzigen Höchstsatz von 100 % geförderten AB-Maßnahmen, der über dem Landesarbeitsamtsdurchschnitt liegt; in Gelsenkirchen, in Oberhausen und in Recklinghausen sogar bei mehr als 90 % liegt. Auch der Anteil der in diesen AB-Maßnahmen Beschäftigten überschreitet den Durchschnittswert. Er erreicht in den genannten Arbeitsamtsbezirken knapp 100 %. Wahrlich: Ihre Maßnahmen sind ein hervorragender Auftakt für den CDU-Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen, Herr Blüm.
Der massiven Kritik an den Verschlechterungen der Arbeitsförderung hat sich im übrigen auch — ich zitiere ihn zum zweitenmal heute — der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit in seiner zurückhaltenden Art angeschlossen. Herr Franke bedauert, daß gerade bei den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen gespart werden soll. Ich sage dazu: Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat Recht: Die Kürzungen bei der Arbeitsförderung fördern die Massenarbeitslosigkeit.Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß die neunte Novelle in krassem Widerspruch zu dem Ergebnis der Anhörung steht, die wir im Juni zur notwendigen Pflichtaufgabe der Erschließung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose durchgeführt haben.
Darauf hat dann der Sozialausschuß der evangelischen Kirche Westfalen hingewiesen und gesagt: Alldieses und weitere geplante Kürzungen stehen im völ-
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Heyennligen Gegensatz zu den Vorschlägen der Studie der evangelischen Kirche Deutschlands über Langzeitarbeitslose. Danach sind dringend zusätzliche Förderungsmaßnahmen notwendig. Das ist auch das Ergebnis unserer gemeinsamen Anhörung. Wir empfinden daher einen unaufhebbaren Widerspruch zwischen Ihren verbalen Stellungnahmen in der Anhörung und der jetzt geplanten Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes.
Diese neunte Novelle ist ein Abbruchkonzept. Im Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen heißt es dagegen: Die Arbeitsmarktpolitik soll weiterhin einen maßgeblichen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit leisten. Ich bezeichne diese Formulierung im Gesetzentwurf als Hohn und Spott auf dem Rücken unserer Arbeitslosen.
Beinahe hätte ich es vergessen: Es gibt ja noch einen Vorschlag, nämlich den Vorschlag, Altersteilzeit zu organisieren.
Die Vorgaben lauten wohl: Es muß wenigstens auf den ersten Blick schön aussehen, aber es darf nichts kosten. Daß nichts daraus wird, ist nicht so wichtig; dieser Vorgabe haben Sie schon entsprochen. Die vorgeschlagene Altersteilzeit ist so mager ausgestattet, daß sie ein Muster ohne Wert bleiben wird.
Die Begünstigten werden auf das Niveau der Unterstützung bei Arbeitslosigkeit gedrückt.
— Sang- und klanglos — um auf den Vorruhestand einzugehen — lassen Sie Ihre einzige beschäftigungspolitische Initiative seit 1982, nämlich den Vorruhestand, auslaufen.
— Wir wollten noch einen besseren Vorruhestand. Das ist doch wohl unser gutes Recht in der Diskussion.
— Es trifft Sie, wenn wir über den Vorruhestand reden; man merkt es.
Diese Altersteilzeit kann den Vorruhestand aus arbeitsmarktpolitischer Sicht nicht ersetzen; sie wäre bei dieser Ausstattung nicht einmal eine vernünftige Ergänzung des Vorruhestands. Nach den Erklärungen der Tarifpartner wird es auch kaum erforderliche Tarifverträge geben. Ich glaube, das wäre verständlich, denn wer kann es einem über 58jährigen Arbeitnehmer zumuten, und welche Tarifpartner sollten dafür auch noch die Grundlage in Verträgen schaffen, halbtags zu arbeiten und dabei gegebenenfalls weniger an Lohn zu erhalten, als das Arbeitslosengeld bei Arbeitslosigkeit ausmachen würde. Wie weit, Herr Bundesarbeitsminister, muß es mit Ihnen gekommen sein, daß Sie es wagen, der Öffentlichkeit und diesem Parlament mit diesem Vorschlag Ihre absolute Hilflosigkeit zu demonstrieren?
Die Arbeiterwohlfahrt hat uns in den letzten Tagen angeschrieben, uns alle, und darauf hingewiesen, daß allein im ABM-Bereich über 70 000 zusätzliche Arbeitslose erwartet werden, daß viele Hilfen für Arbeitslose, für psychisch Kranke, für Behinderte, AIDS-Kranke, Gefährdete eingeschränkt oder eingestellt werden müssen, daß wirkungsvolle Umschulung und Fortbildung insbesondere für arbeitslose Frauen weitgehend gedrosselt werden, daß Ausbildungschancen für Tausende von Jugendlichen rapide verschlechtert werden, daß viele leistungsgeminderte und schwer vermittelbare Arbeitslose Einstellungschancen verlieren. Wir lehnen zusammen mit den Verbänden, die sich dazu geäußert haben, diese neunte Novelle ab. Die Sozialpolitik, meine Damen und Herren, nach dem Muster Blüm ist eine Zumutung für alle Arbeitnehmerinnen und für alle Arbeitnehmer.
Diese massive Verschlechterung des Arbeitsförderungsgesetzes ist der vorläufig letzte Beweis, und daß die Gewerkschaften dagegen massiv protestieren, das ist ihre Pflicht.
Der Bundeskanzler konstruiert aus dieser Pflicht der Gewerkschaften, im Interesse der Arbeitnehmer zu protestieren, Feindschaft, und er vergiftet damit, wie ich meine, den Umgang, der unter demokratischen Kräften innerhalb und außerhalb des Parlaments gepflegt werden muß.
Daß sich Ernst Breit diese Vorwürfe nicht gefallen läßt und darauf reagiert, findet unsere volle Unterstützung, meine Damen und Herren.
Was sich der Bundeskanzler hier geleistet hat, sind Angriffe, die eines Kanzlers und die unserer Demokratie unwürdig sind.
Gestatten Sie mir einen letzten Satz: Herr Kollege, ich möchte mich für den Ausfall zu Beginn meiner Rede entschuldigen.
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Danke schön. Das Wort hat nunmehr der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.
Wie bei der achten Novelle, so will ich auch diesmal sagen, in schöner Wiederholung dessen, was hier attackiert wurde: Der soziale Fortschritt kommt nur mit Schritten voran.
Es gibt keine spektakulären Patentrezepte, und deshalb freue ich mich, daß wir heute mit der Altersteilzeit wieder einen Schritt nach vorn machen.
Herr Präsident, wenn die karnevalistische Begabung der Opposition etwas zurückgenommen würde, könnte ich vielleicht in meinem Vortrag fortfahren.
Ohne, Herr Bundesminister, Ihre Bewertung zu teilen, möchte ich allerdings das Haus bitten, die notwendige Ruhe herzustellen.
Dr. Blüm, Bundesminister: Ich bedanke mich für diese Unterstützung, Herr Präsident, auch wenn Sie meine Bewertung nicht teilen. Es kommt auf das Ergebnis an.
Es ist gesagt worden, diese Altersteilzeit würde schön aussehen, nichts sei daran, Muster ohne Wert.
Meine Damen und Herren, nehmen Sie die Schallplatte aus dem Fach, dann können Sie die gleichen Worte wie bei der Einführung des Vorruhestands hören.
Sie müssen nur Vorruhestand gegen Altersteilzeit austauschen. Ausgerechnet diejenigen, die heute das Auslaufen des Vorruhestands bedauern, haben bei der Einführung des Vorruhestands von Mogelpakkung gesprochen. Seien Sie vorsichtig, daß wir Sie nicht 1992 mit den gleichen Attacken konfrontieren, wie Sie sie heute gegen die Altersteilzeit vortragen.
Es kommt ja Gott sei Dank nicht nur auf die Opposition an, sondern auf Millionen von Arbeitnehmern, an die wir uns wenden. Ich frage die Arbeitnehmer: Ist es ein Fortschritt, daß man mit 60 Jahren andere Arbeitszeiten hat als mit 20 Jahren? Haben die Menschen die gleichen Arbeitszeitbedürfnisse, wenn sie 40 Jahre gearbeitet haben, also vor dem Ruhestand, wie zu Beginn des Arbeitslebens? Ist es nicht ein Stück Humanität, daß ein 60jähriger weniger arbeiten muß als ein 20jähriger? Ich bin sogar sicher: Viele unserer älteren Kolleginnen und Kollegen würden sogar länger arbeiten, aber sie wollen weniger arbeiten. Sie würden sogar gern ihre Lebensarbeitszeit verlängern, aber nicht mit jenem Arbeitszeitkontingent, das ein junger Arbeitnehmer leisten kann.
Es geht um Arbeit nach Maß, und zwar nicht nach dem Maß der Maschinen, sondern nach dem Maß der
Menschen. Ist es nicht ein Stück Borniertheit, wie wir heute die Lebensarbeitszeitgrenzen organisiert haben? Ist es der beste Einfall, daß bis zum letzten Tag im Erwerbsleben volle Pulle gearbeitet wird und am nächsten Tag null? Menschen sind doch keine Maschinen, die man anstellt, die man abknipst.
Ich denke, ein Teil des Altersschocks, unter dem viele ältere Kolleginnen und Kollegen leiden — ich habe es an meinem eigenen Vater erlebt —, basiert darauf, daß sie, die 40 Jahre Erwerbsarbeit gewohnt waren, bei Eintritt in das Rentenalter plötzlich vor einer ganz neuen Lebenssituation stehen. auf die sie unvorbereitet sind.
Frau Hamm-Brücher möchte eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Herr Minister, Sie erwähnten Ihren Vater; daran möchte ich meine Frage anschließen. Ich möchte den zuständigen Minister fragen, weshalb man nicht jetzt schon die Möglichkeiten des Teilzeitvorruhestands, die ich sehr begrüße, auch über das 65. Lebensjahr als Teilzeitnachruhestand weiterentwickelt hat und die Weiterarbeit ermöglicht. Das wäre doch wirklich eine humane flexible Regelung, die individuell durchgeführt wird. Ich arbeite auch gern weiter, obgleich ich über 65 Jahre alt bin.
Verehrte Frau Kollegin, ich denke, daß wir im Zusammenhang mit der Rentenreform auch über solche Möglichkeiten nicht nur nachdenken, sondern sie auch anbieten müssen. Das ist ein Stück Freiheit, wenn die Menschen selber entscheiden.
— Sehen Sie, dieses Geschrei ist das Geschrei der Vormünder. Die wollen den Arbeitnehmern vorschreiben, wie sie ihr Leben einrichten.
Wenn die Arbeitnehmer es so ablehnen, wie Sie das behaupten, dann brauchen Sie doch gar keine Angst zu haben. Dann hätte das Gesetz gar keinen Erfolg. Warum wehren Sie sich denn dagegen?
Wir wollen in der Praxis ausprobieren, ob die Arbeitnehmer Ihnen oder uns recht geben, da sind wir ganz undogmatisch. Für diesen Imperialismus, der den Menschen vorschreiben will, wann sie in den Ruhestand gehen, wie sie in den Ruhestand gehen, brauchen wir keine Reichsversicherungsordnung. Die Arbeitnehmer sind alt genug. Wir wollen ihnen mehr Wahlmöglichkeiten einräumen, und wir wollen das finanziell unterstützen.
Wir wollen beispielsweise, daß die Rente durch freiwillige höhere Versicherungsbeiträge aufgestocktwird, damit aus der verkürzten Arbeitszeit keine Ren-
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Bundesminister Dr. Blümteneinbußen entstehen. Das ist doch ganz praktische Sozialpolitik. Sehen Sie, ich bevorzuge die praktische Sozialpolitik und nicht die Sozialpolitik der Parolen.
Und Sie beantworten auch die Zwischenfrage des Kollegen Andres?
Gern.
Bitte sehr, Herr Andres.
Herr Minister, wenn Sie uns auffordern, wir sollten die Arbeitnehmer das ausprobieren lassen, erklären Sie mir doch bitte, warum Sie den Vorruhestand auslaufen lassen. Das haben die Arbeitnehmer ja sehr angenommen, aber Sie lassen es einfach wegfallen.
Erstens gehört das Auslaufen des Vorruhestands nicht zu meinen Vorschlägen.
— Weil in der Demokratie Mehrheiten entscheiden. Das gibt es in Ihrer Partei, das gibt es in meiner Partei.
Ich weiß überhaupt nicht, warum die Sozialdemokratische Partei darüber lacht.
— Herr Präsident, darf ich Sie noch einmal bitten, daß Sie vielleicht für den Blutkreislauf der Opposition Beruhigungsmittel verabreichen. Meine Redeweise scheint immer ein Naturheilmittel zur Erhöhung des Blutdrucks der Opposition zu sein. Das kann ich gar nicht verantworten.
Darf ich es Ihnen noch einmal erklären. Ihre Kollegen stören mich bei dem Versuch, Ihnen zu erklären, wo der Unterschied liegt. Vorruhestand habe ich immer als eine vorübergehende Maßnahme gesehen, als eine außergewöhnliche Antwort auf außergewöhnliche Zeiten; denn ich glaube nicht, daß die Gesamtentwicklung der Arbeitszeit so gestaltet werden kann, daß die Menschen immer früher in die Rente gehen. Ich glaube, daß das den Menschen auch nicht gut tun würde.
Das Alter ist nun einmal eine dritte Lebensepoche. Und wenn die Lebensarbeitszeit immer sinkt, weiß ich nicht, ob wir den Menschen damit Gutes tun. Ich möchte Lebensarbeitszeitgrenzen mit mehr Freiheit verbinden, mit mehr Selbstentscheidung des einzelnen, und zwar nicht nur über den Zeitpunkt des Eintritts, sondern auch über das Maß. Die Kollektivisten wissen offenbar immer nur eine Alternative: entweder ganz oder gar nicht. Sie haben nie Sinn entwickelt — —
— Die Kollektivisten — auf Nachfrage will ich es wiederholen; ich kann auch sagen: die Sozialdemokraten — denken bevorzugt in der Alternative: immer oder nie, rein in die Erwerbsarbeit oder raus,
ganz rein oder ganz raus. Wir sind da etwas bescheidener. Wir arbeiten teils-teils, weil das den Bedürfnissen, den höchst unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen entspricht.
Wir bevorzugen eine Welt, in der die Individuen entscheiden und nicht die Kollektive, nicht die Kolonnen, nicht die ideologischen Vorarbeiter, die hier zuhauf sitzen,
die Oberlehrer der Nation, die den Arbeitnehmern vorschreiben, wie sie ihr Leben einrichten sollen.
— Von „Moskau" habe ich nicht gesprochen. Ich habe von der SPD gesprochen. Sie sind hier.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich bei allen Kollegen bedanken, die an diesem Modell mitgearbeitet haben. Ich sehe hier den Kollegen Rauen sitzen. Ich möchte ihm wie dem Kollegen Scharrenbroich ausdrücklich von diesem Pult meinen Dank sagen. Ich finde, er ist auch ein Beispiel: ein Mann des Mittelstands, ein Handwerker, der nicht von der grauen Theorie her Sozialpolitik macht, der weiß, daß seine Maurer mit 60 Jahren andere Arbeitszeitbedürfnisse haben als der Lehrling mit 20. Und das bringt er hier in den Bundestag ein. Das hat er nicht in einem Lehrbuch gelesen, das hat er im Leben gelernt. Und solche Abgeordnete brauchen wir hier, nicht die Theoretiker, die Praktiker.
Jetzt komme ich noch — —
— Ich komme noch zu allem. Seien Sie ganz beruhigt. Haben Sie auch Maurer bei sich beschäftigt?
Herr Bundesminister, es ist Ihre Entscheidung, ob Sie antworten wollen oder nicht.
Nein, jetzt möchte ich die neunte Novelle weiterbehandeln. Ich muß hier ja noch ein paar Sachen abräumen.
Da stellen sich die Abgeordneten der SPD hin und beklagen, daß wir kürzen. Ich frage mich jetzt schon zum wiederholten Male, woher Sie eigentlich dazu
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6640 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Bundesminister Dr. Blümden Mut nehmen. Da sagt der Kollege Heyenn, daß durch Kürzung bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, wie ihm die Arbeiterwohlfahrt geschrieben habe, 70 000 Arbeitslose entstehen würden. Herr Kollege Heyenn, ich kann Sie beruhigen: Bei Ihnen hätte das nicht passieren können. Da gab es nämlich nur 29 000 ABM-Plätze.
Bei Ihnen hätten, selbst wenn es stimmte, keine 70 000 ABM-Plätze wegfallen können, weil es nur 29 000 gab. Bei uns gibt es 130 000.
Und da stellt sich dieser Herr Heyenn hin und meint, ich hätte Gedächnisschwund, ich würde nicht daran denken, daß Sie weniger gemacht haben als wir. Die Zahlen! Immer die Zahlen!
— Wenn Sie mich reizen, kommt alles raus, da räumen wir ab.
1982 870 Millionen DM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, jetzt trotz Kürzungen weit über drei Milliarden DM. Sie kommen nicht über den Gartenzaun hinweg und wollen einem Hochspringer Vorschriften machen?
Wir machen dreimal mehr, als Sie für aktive Arbeitsmarktpolitik 1982 getan haben. Ich habe Ihnen das doch schon alles vorgetragen. Wenn Sie mich reizen, muß ich es immer wieder sagen.1983 betrugen die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik 6 Milliarden DM, heute 14 Milliarden DM. Ein Erstkläßler kann Ihnen sagen, daß wir mehr machen, auch jetzt noch, nach den Kürzungen.
Ein Erstkläßler, der bis 20 zählen kann, kann sagen, daß 14 Milliarden trotz Kürzungen mehr sind als 6 Milliarden zu Ihrer Zeit. So ist es.
Meine Damen und Herren, erleichtern Sie dem Minister seine stimmlichen Bemühungen doch wenigstens dadurch, daß Sie sich etwas zurückhalten.
Ich gehe gern in den Kammerton. Ich lasse mich nur nicht gern niederbrüllen.
— Also, dann probieren wir es mal ganz leise: In Nordrhein-Westfalen nehmen 68 % der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen 100 % Zuschuß in Anspruch. Schleswig-Holstein, ein Land, das jetzt auch sozialdemokratisch regiert wird,
strukturell auch nicht besser: Nur 14 % der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
nehmen 100 % der Förderung in Anspruch. Wir haben im Gesetz vorgesehen, durchschnittlich soll die Förderung 80 % sein. Ja, dann führen wir das auf das, was im Gesetz immer vorgesehen war, zurück.
Ich bin ein Anhänger von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
Aber jetzt frage ich noch einmal: Gibt es hier jemanden, der nicht wie ich befürchtet, daß da auch viel mitgenommen wird, daß sich Kommunen auf Kosten des Beitragszahlers in ihrem Stellenplan entlasten? Über 50 % der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden durch öffentliche Körperschaften in Anspruch genommen.
So haben wir eigentlich nicht gewettet. Dafür war das
eigentlich nicht vorgesehen. Deshalb glaube ich
— zusammen mit der ÖTV — , daß man das zurückdrängen muß, nicht gegen die Arbeitslosen, aber um keine Hängematte für die Kommunen zu schaffen, die ihren Haushalt auf Kosten der Beitragszahler entlasten.
Lassen Sie mich noch etwas zu den Novellen sagen: Da höre ich, wir hätten gekürzt. Wir haben die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verlängert. Ist das Kürzung? Wissen Sie, was uns das gekostet hat? 2,8 Milliarden DM, mehr als wir jetzt kürzen.
— Ich habe doch probiert, leise zu reden. Sie sehen, es geht nicht. Ich versuche es noch einmal.
Bevor Sie das probieren, Herr Minister: Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heyenn zu beantworten?
Können wir ein Geschäft machen? Wenn er verspricht, mich in Zukunft ruhig ausreden zu lassen, dann darf er jetzt ruhig fragen.
Bei diesem Geschäft kann ich mich aber nur als Notar betätigen.
Herr Abgeordneter Heyenn.
Ich kann dem Bundesarbeitsminister zusagen, mich zu bemühen, wenn er sich in Zukunft einen Zettel hinlegt und meinen Namen richtig ausspricht.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6641
Ich bitte um Entschuldigung.
Aber ich habe eine Frage, Herr Kollege Dr. Blüm. Sie haben von den zusätzlichen Kosten durch die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes gesprochen. Sind Sie bereit, uns mitzuteilen, um wieviel Sie dadurch den Bund bei der Arbeitslosenhilfe entlastet haben?
Ungefähr um die Hälfte des Betrags sind wir bei der Arbeitslosenhilfe entlastet worden. Aber richtig ist auch, daß zu Ihrer Zeit die Arbeitslosenhilfe durch die Bundesanstalt für Arbeit gezahlt wurde, wo sie nun wirklich nicht hingehört. Wenn Sie schon von Verschiebebahnhof sprechen, dann bitte ich, beim Rangiermeister Ihrer ehemaligen Regierung nachzusehen. Sie haben nämlich damals die Arbeitslosenhilfe, eine klassische Fürsorgeleistung, durch die Beitragszahler bezahlen lassen.
Wir bleiben auch bei der Aufgabe der Qualifizierung. Wir sind auf ein Level gekommen, wie wir uns das nie haben vorstellen können. Auch im ersten Halbjahr dieses Jahres steigen die Zahlen noch. Es wird immer von Kürzungen geredet. Die Zahlen steigen noch. Wenn wir jetzt einen Gleichstand erreichen, so ist das aus meiner Sicht unter qualitativen Gesichtspunkten auch erwünscht; denn wenn etwas so gepusht wurde, wie es geschehen ist, dann ist doch die Gefahr groß, daß nicht alles dort ankommt, wo es tatsächlich hinkommen sollte.
Wir brauchen jetzt eine Phase der qualitativen Vertiefung. Es geht doch nicht um eine reine Beschäftigungstherapie. Es geht um eine Bildung, die auch verwendbar ist.
Ich weise auch darauf hin, daß der Anteil der Arbeitslosen unter den Teilnehmern dieser Bildungsmaßnahmen zurückgeht. 1986 waren 66 % der Teilnehmer arbeitslos. Jetzt, Mitte des Jahres, sind es nur noch 58 %. Bei den freien Trägern ist die Zahl der Arbeitslosen sogar auf fast ein Drittel der Teilnehmer gesunken. Nun gönne ich auch jedem nicht Arbeitslosen Weiterbildung. Nur, dessen Weiterbildungsort ist im Betrieb. Dafür sind die Arbeitgeber und nicht die Beitragszahler zuständig.
Wir müssen also eine Entwicklung stoppen, die so aussieht, daß sich die Arbeitgeber sozusagen die Ausflucht suchen, das, was eigentlich ihre Aufgabe ist, auf Kosten der Bundesanstalt zu befördern.
In erster Linie ist diese Bildung für diejenigen gedacht, die keinen Betrieb haben.
Ich glaube, die Ausbildung, die Qualifizierung im Betrieb hat auch die Chance, praxisnäher zu sein. Ein 50jähriger setzt sich nicht mehr auf die Schulbank. Es geht doch bei der Weiterbildung nicht nur um neue Diplome oder darum, daß aus jedem Schlosser ein Ingenieur wird. Es geht auch darum, daß man im erlernten Beruf auf der Höhe der Zeit bleibt, daß ein Dreher auf eine neue, elektronisch ausgestattete Drehbank vorbereitet wird. Das ist auch Weiterbildung. Kein neuer Universitätsschein. Diese Weiterbildung kann im Betrieb doch besser bewerkstelligt werden. Ich will die Arbeitgeber ausdrücklich an diese Pflicht erinnern.
Modernisierung der Wirtschaft kann nicht nur heißen: neue Maschinen, Modernisierung der Wirtschaft muß auch heißen: Qualifizierung der Arbeitnehmer. Wir sind ein rohstoffarmes Land. Unser bester Produktionsfaktor ist die Qualifikation der Arbeitnehmer. Wir wollen sie unterstützen. Aber ich weise ausdrücklich darauf hin, daß dies auch Aufgabe der Betriebe ist und daß angesichts von 22 Millionen Beschäftigten die 15 Milliarden DM, die die deutsche Wirtschaft für Weiterbildung ausgibt, ein Betrag ist, der noch gesteigert werden muß.
Auch die Tarifpartner sind aufgefordert. Es gibt ja auch Ansätze, beispielsweise bei der IG Metall, im Tarifvertrag neue Zeiten zu gewinnen, nicht für eine Freizeit, die brachliegt, sondern für eine Freizeit, die sinnvoll genutzt wird.
Daß wir in der Bundesanstalt ins Defizit gekommen sind, hängt auch damit zusammen, daß die Zahl der Aussiedler größer ist, als wir geschätzt haben. Aber wir wollen diese unsere Mitbürger hier willkommen heißen, und wir treten für sie ein: erstens in der Solidargemeinschaft der Versicherten und zweitens in der Form, daß der Bund seinen Zuschuß erhöht hat: in diesem Jahr um 1 Milliarde DM und im nächsten Jahr um 3 Milliarden DM.
Ich will die Gelegenheit dieser Aussprache auch zu einem großen Solidaritätsaufruf für die Mitbürger nutzen, die jetzt zu uns kommen. Ich möchte die Bundesanstalt auffordern, in der Sprachförderung unkompliziert, praxisnah, lebensnah einen Dienst an diesen unseren Mitbürgern zu leisten. Wenn die Aussprache dazu Gelegenheit gegeben hat, dann bedanke ich mich dafür. Ich würde es sehr begrüßen, wenn noch ein Sprecher der Opposition nach mir reden würde, damit nicht der Eindruck entsteht, ich hätte kunstvoll den letzten Platz erobert. Ich habe schon einmal am Anfang gesprochen, und die Opposition hat gesagt, ich würde mich vordrängeln. Jetzt habe ich am Schluß gesprochen, und Sie haben gesagt, ich hätte Angst. Wie hättet Ihr es gern? Bitte, Sie haben das Wort.
Herr Bundesminister, es ist mir ein Vergnügen, Ihrem Wunsch dadurch Rechnung zu tragen, daß ich dem Abgeordneten Dreßler das Wort erteile.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir hätten es in einer solch ernstzunehmenden Stunde, in der diese Regierung beabsichtigt, die Zukunftsperspektive junger Menschen, denen diese Gesellschaft beruflich keine Perspektive geben kann, durch Streichung von Umschulungsmaßnahmen und beruflichen Fortbildungsmaßnahmen in einem Umfange von 1,8 Milliarden DM zu zerstören, begrüßt, wenn Sie den Mut gehabt hätten, sich hier damit auseinanderzusetzen. Sie haben diesen Mut nicht gehabt, Herr Blüm. Wir bedauern das
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6642 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Dreßlerund bitten Sie darum, daß Sie, wenn diese Themen in Zukunft hier auf der Tagesordnung stehen, von abgestandenen Platitüden Abstand nehmen und sich in einer solchen Debatte dann auch diesen von Ihnen verursachten ernsthaften gesellschaftlichen Problemen stellen.
Nun ist die beschlossene Redezeit abgelaufen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Zusätzlich soll die Vorlage an den Finanzausschuß — zur Mitberatung — überwiesen werden. Gibt es darüber hinaus noch Vorschläge? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Plebiszit in Chile
zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Plebiszit in Chile
zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN Plebiszit in Chile
— Drucksachen 11/2501, 11/2244, 11/2333, 11/2983 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Schreiber Duve
Irmer
Dr. Lippelt
Meine Damen und Herren, mir liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3020 vor. Diesen Änderungsantrag kann ich wegen Ziffer 1 in dieser Form nicht zulassen, meine Damen und Herren. In gedruckten Vorlagen des Bundestages sind Wertungen jeder Art und diffamierende Bewertungen ausländischer Regierungen, mit denen wir diplomatische Beziehungen unterhalten, unzulässig, auch wenn diese Systeme unseren Wertvorstellungen nicht entsprechen. Da ich aber die Debatte und den Zusatzantrag selbstverständlich nicht behindern will, schlage ich Ihnen vor, daß die Ziffer 1 wie folgt behandelt wird — ich lese vor —:
Die seit 15 Jahren herrschende Militärdiktatur in Chile hat 1980 mit einer Verfassung entsprechenden Zuschnitts einen Institutionalisierungsprozeß eingeleitet, mit dem dem Regime ein scheindemokratisches Gesicht gegeben werden soll.
Ich glaube, daß man damit dem Anliegen gerecht wird, ohne die diplomatisch verpflichtenden Höflichkeiten zu verletzen.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Debatte. Interfraktionell sind 30 Minuten vereinbart worden. Ich sehe, daß sich kein Widerspruch ergibt.
Herr Staatsminister Schäfer möchte die Debatte eröffnen. Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung sieht in einer Rückkehr Chiles zu wahren demokratischen Verhältnissen die alleinige Chance zu einer dauerhaft stabilen Entwicklung dieses Landes.Wir sind der Meinung, daß freie demokratische Wahlen, die dem Wähler alternative Wahlentscheidungen einräumen, der richtige Weg sind. Diesen Weg sieht die geltende chilenische Verfassung von 1980 nicht vor.Statt dessen steht nur ein Kandidat, d. h. der von der Militärjunta nominierte derzeitige Präsident Pinochet, in einer Volksabstimmung zur Wahl. Die in der Opposition stehenden Parteien Chiles haben sich seit Jahresbeginn auf ein solches Plebiszit eingestellt und sich auf eine Nein-Kampagne geeinigt. Wir respektieren diese Entscheidung und hoffen nun, daß der Opposition in Chile wenigstens in der letzten Phase des Wahlkampfes bessere Chancen für ihren Kampf um ein Nein eingeräumt werden und daß die Wähler ihren Willen frei, ohne Angst und Einschüchterung zum Ausdruck bringen können.Die von der chilenischen Regierung vor einem Monat durchgeführten Maßnahmen wie die Aufhebung der Ausnahmezustände, die Aufhebung des Zwangsexils und die Regelung des Zugangs der Opposition zum Fernsehen haben wir begrüßt. Gleichzeitig scheinen jedoch die oppositionelle Presse und einzelne Organisationen, die für ein Nein eintreten, weiterhin eingeschüchtert zu werden. Wir verurteilen die fortdauernde Haft von Regimegegnern und insbesondere die Verbannung wichtiger Gewerkschaftsführer gerade in dieser innenpolitisch entscheidenden Phase.Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft haben bei der chilenischen Regierung gegen diese Maßnahmen mehrfach protestiert und in den letzten Tagen erneut deren Aufhebung verlangt. Noch immer werden Personen seit Jahren ohne rechtskräftiges Urteil festgehalten.Ich wiederhole daher meinen Appell an die chilenische Regierung, alle Voraussetzungen zu schaffen, damit dieses Plebiszit frei und ungehindert durchgeführt wird. Es ist offenkundig, daß die Möglichkeiten für die Vertreter der Nein-Kampagne verglichen mit denen der Befürworter eingeschränkt sind.Die Bundesregierung und ihre europäischen Verbündeten werden insbesondere darauf achten, ob — wie es in der Ministererklärung der Zwölf vom 18. Juli 1988 heißt — im Wahlkampf und bei der Abstimmung „die freie Äußerung des Willens des Volkes in einem gewaltfreien und einschüchterungsfreien Raum gewährleistet ist".Die Bundesregierung begrüßt deshalb nachhaltig die Absicht der Fraktionen dieses Hauses und des Europaparlaments, zur intensiven Beobachtung des Wahlkampfes und zur Abstimmung Delegationen nach Chile zu entsenden. Wir haben von Anfang an bei der Organisation dieser Reisen mitgewirkt.Die deutsche Botschaft in Santiago steht in engem Kontakt mit den Vertretungen der EG-Partnerländer, um den Wahlbeobachtern vor Ort Hilfestellung für ihre Aufgaben zu leisten.
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Staatsminister SchäferDie Vereinigung ehemaliger Parlamentarier hat in enger Abstimmung mit unseren Vertretungen in Santiago bereits konkrete Vorschläge für eine zweckmäßige Aufgabenverteilung der ausländischen Wahlbeobachter erarbeitet.Die Bundesregierung hofft dringend, daß Chile, eine der letzten Militärdiktaturen in Südamerika, den Weg zu Freiheit und Demokratie geht, den andere lateinamerikanische Staaten inzwischen beschritten haben.Chile war immer mit Europa historisch eng verbunden. Es verfügt über eine respektable demokratische Tradition, die nicht nur in ihrem europäischen Erbe, sondern auch tief in der Überzeugung seiner Bürger wurzelt. Es kann uns daher nicht gleichgültig lassen, ob dort die Freiheit unterdrückt und die Menschenrechte mißachtet werden. Deutsche und Chilenen waren stets durch tiefe freundschaftliche Gefühle verbunden. Auch das erklärt unsere besondere Anteilnahme.Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir halten es für unerträglich, daß in der berüchtigten Siedlung Colonia Dignidad deutsche Landsleute und ihre Abkömmlinge nach wie vor wie in einem Zwangslager gehalten und mit Gewalt am Kontakt mit der Außenwelt gehindert werden.
Wir können nicht hinnehmen, daß in Chile Angehörige unserer amtlichen Vertretungen, die sich für diese geplagten Landsleute einsetzen, mit Prozessen überzogen und geschmäht werden.
Am 26. September 1988, d. h. vor drei Tagen, hat Bundesaußenminister Genscher am Rande der 43. Generalversammlung der Vereinten Nationen den chilenischen Außenminister mit allem Ernst darauf hingewiesen, daß die deutsch-chilenischen Beziehungen durch die Verletzung der diplomatischen Immunität und durch die Behinderungen bei der Hilfe für deutsche Staatsangehörige in der Colonia Dignidad nachhaltig beeinträchtigt sind.Wir werden auch in Zukunft unsere Stimme gegen Folter und Todesurteile erheben. Einem demokratischen Chile aber werden wir Freund und Partner sein.
Das Wort hat der Abgeordnete Waltemathe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor knapp drei Wochen existierte die Diktatur in Chile genau 15 Jahre. 15 Jahrzehnte, bis zum 11. September 1973, hatte Chile eine gute demokratische Verfassung und Tradition, eine viel längere, als wir Deutschen sie haben. 15 Jahre Diktatur für Chile hieß: 15 Jahre Ausnahmezustand und Belagerungssituation, 15 Jahre Menschenrechtsverletzungen, Folter und Ermordung politischer Gegner, 15 Jahre Unterdrückung des eigenen Volkes. Demokraten dürfen dazu nicht schweigen.
Ich will hier keine falschen Vergleiche ziehen, aber wir deutschen Demokraten können nicht einerseits 50 Jahre nach dem Münchener Abkommen den damaligen demokratischen Staaten Europas vorwerfen, sie hätten gegenüber dem Diktator Hitler eine falsche, eine Beschwichtigungspolitik betrieben, andererseits aber selbst vor den Zuständen in Chile die Augen verschließen.
Deshalb ist es grundsätzlich zu begrüßen, daß erstmalig seit dem blutigen Putsch Pinochets am 11. September 1973 der Bundestag zu einer fast gemeinsamen Entschließung findet. Die SPD-Fraktion hat bereits im Mai einen Antrag eingebracht, aus dem wesentliche Teile nun im Auswärtigen Ausschuß von den Koalitionsfraktionen mit übernommen wurden. Auch wenn weitergehende Vorstellungen der SPD nicht in die gemeinsame Entschließung Eingang fanden, so ist doch die Tatsache, einen Antrag gemeinsam gestellt zu haben, positiv zu bewerten. Chile darf nämlich auch nicht das Opfer parteipolitischer Rechthaberei bei uns werden.
Es geht in dieser Sache auch nicht um parteipolitische Präferenzen, die wir gegenüber den unterschiedlichsten Gruppierungen und Parteien in Chile empfinden und fördern mögen. Wenn es in Chile möglich war, ein breites Oppositionsbündnis gegen die Diktatur auf zugegeben mühseligem Wege zu schaffen, dann muß für uns eine gemeinsame Aktion selbstverständlich sein.
Wir wollen nichts anderes, als unseren Beitrag dazu leisten, dem chilenischen Volk bei der Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse zu helfen.Meine Damen und Herren, Pinochet und die Militärjunta haben sich die Machtapparate Chiles unterworfen und gefügig gemacht. Es gibt kaum einen Militärangehörigen, der sich nicht auch, zum Teil gezwungenermaßen, im Rahmen geheimdienstlicher Aufgaben gegen das eigene Volk die Hände hat schmutzig machen müssen. Es gibt nicht nur die systematische Verfolgung und Unterdrückung politischer, gewerkschaftlicher, kirchlicher und anderer Regimegegner und ihrer Organisationen, es gibt nicht nur Zensur und Verbot von Oppositionspresse, nicht nur Aufhebung von Versammlungsfreiheit und das Verbot sogenannter politischer Betätigung; es gab auch den perfekten Täuschungsversuch, sich eine maßgeschneiderte sogenannte Verfassung zu schaffen, die für die weiteren Geschicke in Chile bestimmend sein kann.1980 ließ sich das Regime diese Verfassung auf sehr zweifelhafte Weise bestätigen, eine Verfassung, die eine Demokratie auf lange Sicht verhindern soll, die die Rechte der Militärs zementiert und den demokratischen Kräften Chiles ein freies politisches Handeln allenfalls auf ganz kleinem Raum zubilligt, ihr aber
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6644 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Waltemathenicht zugesteht, das von der Diktatur geschaffene ökonomische und politische Unrechtssystem hin zu demokratischen Strukturen zu verändern.Eine der Spielregeln dieser Verfassung war und ist es, für dieses Jahr eine erneute sogenannte Volksabstimmung durchzuführen, um die Herrschaft der Junta für fast ein weiteres Jahrzehnt zu sichern. Nur konsequent zieht die Junta bzw. ihr Präsidentschaftskandidat alle Register, um diese Abstimmung — um eine Wahl handelt es sich nicht — zu gewinnen.Plötzlich, aber durchaus nicht unerwartet, wird aus einem General ein Zivilist. Es werden jederzeit rückgängig zu machende Maßnahmen ergriffen um die Weltöffentlichkeit freundlich zu stimmen. Der permanente Ausnahmezustand wird vorübergehend aufgehoben. Exilierte, ja, auch die Witwe Allendes, dürfen wieder ins Land. Pinochet erlaubt sich sogar, die UN-Konvention gegen Folter zu unterschreiben.Lassen wir uns nicht täuschen! Mit dem zum 5. Oktober angesetzten Plebiszit soll erreicht werden, die Diktatur für weitere acht Jahre ab 1989 festzuschreiben und die Macht der Militärführung zu sichern.Erfreulicherweise aber gibt es eine weitgehende Einigung innerhalb der gesellschaftlichen und politischen Oppositionsgruppierungen in Chile selbst. 13, jetzt sogar 16 unterschiedliche Parteilager haben sich auf folgende gemeinsame Kampagnen geeinigt: erstens die chilenische Bevölkerung aufzufordern, sich in die Wahlregister eintragen zu lassen — ungefähr 7 1/2 Millionen haben das getan — , zweitens am Plebiszit teilzunehmen und drittens mit Nein zu stimmen, d. h. gegen die Diktatur und für die Demokratie zu stimmen.Damit anerkennen sie nicht die Verfassung von 1980. Sie müssen sich allerdings den derzeitigen politischen Gegebenheiten beugen.Die Opposition in Chile hat westliche Demokratien gebeten, mit parlamentarischen Delegationen ins Land zu kommen, um erstens Betrugsmanöver zu verhindern, zweitens zur Teilnahme am Plebiszit zu ermuntern und drittens für die Wiederherstellung der Demokratie zu werben.Wir wollen uns dem nicht entziehen. Wir wollen gleichzeitig die Lage der Menschenrechte und insbesondere die Lage der politischen Gefangenen untersuchen und nach Möglichkeit einen Beitrag liefern, daß die politischen Gefangenen aus den Gefängnissen entlassen werden.
Das gilt, meine Damen und Herren, auch und insbesondere für die 15 Gefangenen, die wegen angeblicher terroristischer Taten mit Todesstrafe bedroht oder zu lebenslänglicher Haft verurteilt sind.Soweit Urteile ergangen sind, gehen wir davon aus, daß in einem rechtsstaatlichen Sinne Beweismittel nicht erbracht wurden, sondern allenfalls durch Folter erpreßte sogenannte Geständnisse. Wir kennen keinen einzigen Fall, in welchem ein Chilene, der bei uns Aufnahme gefunden hat und dem in Chile von einem Unrechtsregime Gewaltverbrechen vorgeworfen wurden, hier überhaupt straffällig, geschweige denn terroristisch straffällig geworden wäre. Diese Tatsache hat der Hamburger Verfassungsschutzpräsident Lochte, CDU, ausdrücklich schriftlich bestätigt.Meine Damen und Herren, viele Jahre haben diejenigen, die Informationen über die merkwürdige Rolle der Colonia Dignidad, einer deutschen Siedlung in Chile, begehrten, von der jeweiligen deutschen Bundesregierung hinhaltende bis nichtssagende Auskünfte erhalten. Dabei gab und gibt es handfeste Hinweise darauf, daß die Führung dieses Lagers beim Putsch und nachher mit entsprechenden Verbindungen zu Geheim- und Sicherheitsdiensten Chiles ihre Hände im Spiel hatte. Seit einem Jahr ist auch hier ein gemeinsames Interesse im Bundestag festzustellen, Sachverhalte aufzuklären und Menschenrechtsverletzungen an deutschen Staatsbürgern anzuprangern. Die skandalöse Behandlung zweier deutscher Diplomaten durch die Regierung Pinochets belastet die deutsch-chilenischen Beziehungen aufs schwerste. Wir stützen den deutschen Außenminister in seinem Protest gegen die Maßnahmen der chilenischen Regierung.
Meine Damen und Herren, tun wir also unsere demokratische Pflicht. Wir wissen nicht, was tatsächlich die politische Folge eines Sieges des Nein sein würde. Die sogenannte Verfassung von 1980 läßt nach ihrem geschriebenen Text auch dann die Herstellung demokratischer Verhältnisse nicht zu. Ein Sieg des Nein kann aber bedeuten, daß tatsächlich eine Wende zur Demokratie eingeleitet wird. Ja, selbst ein knapper Sieg des Ja würde nicht ohne Folgen in bezug auf einen Machtverlust der Diktatur bleiben. Die realen Machtverhältnisse zeigen zwar, daß die demokratischen Kräfte als David und die Diktatur als Goliath erscheinen müssen. Aber hat nicht tatsächlich schon einmal David Goliath besiegt?Wenn wir nicht resignieren wollen, müssen wir darauf setzen, daß Freiheit und Menschenrechte nicht auf Dauer unterdrückt werden können.Deshalb, meine Damen und Herren, unsere unmißverständliche Solidarität mit dem chilenischen Volk, unser Eintreten für die politischen Gefangenen und unsere Unterstützung für die überparteiliche Kampagne für die Demokratie in Chile.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schreiber.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Chile hat eine lange demokratische Tradition — der Staatsminister hat dies in seiner Rede bereits angesprochen — , und diese Tradition ist durch einen Militärputsch im September 1973 unterbrochen worden. Ich möchte nun an dieser Stelle, weil wir einen aktuellen Anlaß haben, das Plebiszit in Chile, und zumal dies eine Kurzdebatte ist, keine Vergangenheitsbewältigung betreiben. Tatsache ist, daß wir seit der Zeit feststellen müssen, daß Chile unter einer Diktatur zu leiden hat, Tatsache ist jedoch auch, daß sich Chile im Jahre 1973 in einer tiefen Depression
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6645
Schreiberbefand, in einer äußerst schwierigen wirtschaftlichen und innenpolitischen Phase.Fakt ist — ich habe das bereits gesagt —, daß die Regierungsgewalt seit dieser Zeit durch das Militär, an der Spitze General Pinochet, ausgeübt wird, die Legislative aufgelöst und durch eine Militärjunta ersetzt wurde.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist bereits angesprochen worden, die Menschenrechte in Chile werden seit dieser Zeit permanent verletzt, die Grundrechte waren 15 Jahre lang außer Kraft gesetzt, eingeschränkt bzw. aufgehoben in den verschiedenen Phasen: die Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit, andere Grundrechte. Seit dem Jahre 1973 haben in Chile keine Wahlen mehr stattgefunden. Es kam immer wieder zu willkürlichen Verhaftungen, Journalisten wurden eingeschüchtert, die allmächtige Geheimpolizei verbreitete Angst und Schrecken.Ich möchte, wie schon angedeutet, nicht so sehr die Vergangenheit beleuchten. Deshalb will ich es bei diesen wenigen Aussagen belassen und mich mit der Gegenwart beschäftigen.Am 5. Oktober 1988 — dies ist der Anlaß unseres gemeinsamen Antrages — , also in wenigen Tagen, sind die Chilenen aufgerufen, in einem Plebiszit den künftigen Kurs zu bestimmen. Wie nicht anders zu erwarten war, hat die Militärjunta einstimmig den Oberbefehlshaber der Armee, der bereits seit dem oben erwähnten Datum das Land diktatorisch regiert, zum Kandidaten bestimmt, zur Kandidatur für eine achtjährige Präsidentschaft. Trotz der relativ hohen Hürden — die Zahl ist genannt worden — haben sich rund 7,5 Millionen Chilenen in die Wahllisten eingetragen. Das ist, wenn man den Beobachtern Glauben schenken darf, die höchste Zahl an Einschreibungen, die Chile bisher bei Wahlen bzw. Abstimmungen zu verzeichnen hatte.Dieser Volksentscheid, dieses Plebiszit, bei dem die Wahlberechtigten einzig und allein über einen von der Junta vorgeschlagenen Kandidaten zu befinden haben, also ohne Alternative nur mit Ja oder Nein stimmen können, entspricht — ich möchte das ganz deutlich sagen — nicht unseren demokratischen Mindestanforderungen.
Ich möchte hier trotzdem feststellen — auch das ist, glaube ich, erlaubt —, daß dieses Plebiszit auch Chancen beinhaltet. Weil es Chancen beinhaltet, sind wir auch der Auffassung, daß es gut ist, daß sich so viele eingetragen haben und daß sich Parteien zusammengeschlossen haben, um für das „No", für das Nein also, zu werben. Ich glaube, dieses Nein wäre ein Signal für den Willen der Chilenen, ihre alte demokratische Tradition wieder aufzunehmen.Ich denke — auch darauf ist hingewiesen worden — , dies gehört einfach in den Gesamtzusammenhang hinein, daß positiv festgestellt werden muß, daß der Ausnahmezustand aufgehoben worden ist. Dennoch bleibt die kritische Feststellung, daß die in der Kampagne für das „No" zusammengeschlossene Opposition in der ohnehin nur kurzen Wahlkampfphase nicht die Möglichkeiten hatte, ihre Argumente der Bevölkerung in aller Breite darzulegen.Ich selbst war mit dem Kollegen Volker Rühe Ende August einige Tage in Santiago und Valparaiso. Wir konnten feststellen, daß diese Klagen der Opposition mit Recht vorgetragen wurden.Niemand vermag im Augenblick zu sagen, wie das Plebiszit ausgehen wird. Der Wahlgang selbst scheint nach den vorliegenden Informationen technisch einwandfrei abzulaufen. Allerdings — auch darauf muß ich hinweisen, und davon konnten wir uns überzeugen — ist es im Vorfeld zu einigen Unregelmäßigkeiten gekommen.Der Kandidat Pinochet wirft darüber hinaus viele Fragen auf: Wird Pinochet im Falle des Ja seinen Uniformrock ausziehen? Ist es überhaupt denkbar, daß eine nationale Versöhnung unter einem für acht Jahre gewählten Pinochet möglich ist? Kann ein frei gewähltes Parlament — die Parlamentswahlen sind ja vorgesehen — überhaupt mit einem Präsidenten zusammenarbeiten, der 15 Jahre das Land mit harter Hand regiert hat? Wie reagiert die Militärjunta, wenn sich das Nein durchsetzt?Meine Damen und Herren, das sind viele Fragen, die wir jetzt nicht beantworten können. Die chilenische Wirklichkeit ist vielfältig. Dieses Land mit seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten hat große Chancen. Es bedarf sicher der gemeinsamen Anstrengungen aller gesellschaftlichen Gruppen und Parteien, um diese Chancen zu wahren.Ich bin froh — lassen Sie mich das zum Abschluß sagen —, daß wir zu einer gemeinsamen Resolution gekommen sind. Wir alle sind der Meinung, daß Chile einen friedlichen Weg braucht; die Demokratie darf nicht herbeigebombt werden, Demokratie muß sich entwickeln. Ich denke, daß wir, die wir Demokraten sind, die Verpflichtung haben — deshalb ist es wichtig, daß wir einen gemeinsamen Antrag haben, trotz der verschiedenen Nuancen, die wir vielleicht bei der Beurteilung anlegen — , daß wir zusammenstehen wie die Demokraten in Chile und gemeinsam eintreten für Recht und Freiheit, für Demokratie, und zwar in der ganzen Welt.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Knabe.
DIE GRÜNEN haben in letzter Minute — ebenso wie Ihr Antrag in letzter Minute einging — einen Änderungsantrag für diese Beschlußempfehlung vorgelegt. Ich will das begründen.Auf den ersten Blick erscheint das Bündnis von mittlerweile 18 Parteien Chiles, die sich in der Kampagne für das Nein zusammengeschlossen haben, als ein großer Fortschritt. Ich selbst bin dort gewesen. Ein Fortschritt ist der Mut der Leute, auf der Straße öffentlich zu erklären, was sie wollen, daß sie Pinochet nicht weiter wollen.Aber hinter diesem gemeinsamen Nein zum Plebiszit stehen gleichzeitig eine Kampagne von Kräften des Zentrums und der Rechten sowie grundlegend ver-
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Dr. Knabeschiedene Vorstellungen innerhalb der Kampagne über den Übergang zur Demokratie. Das kann man auch aus dem Antrag der hier vertretenen Bundestagsparteien entnehmen.Wer hat das Sagen in der Kampagne für das Nein? Da sitzen im Leitungsgremium zwei Christdemokraten, ein rechter Sozialdemokrat, ein rechter Radikaler, ein Vertreter der Humanistischen Partei und — als Feigenblatt — ein Vertreter der Christlichen Linken. Aber ausgeschlossen sind die Linken, sind die Kommunisten.Hier ist ein Bruch. Hier ist dieser Acuerdo Nacionalnationale Übereinkunft --, der in der Erklärung so hochgelobt wird, in einem Punkt identisch mit dem, was die Verfassung dieser Militärdiktatur angibt. Dort sind Marxisten aus der politischen Verantwortung ausgeschlossen, dort sind auch Familienfeinde ausgeschlossen. Eine geschiedene Kollegin hätte keine Chance, dort als Abgeordnete gewählt zu werden.Der Erzbischof von Concepción, Monsignore Santos, hat mir sehr deutlich erklärt, daß auch bei einem Sieg des Nein alle Macht beim nationalen Sicherheitsrat bleiben wird, dem Pinochet auf Lebenszeit angehört und in dem die Streitkräfte immer die Mehrheit haben. Das ist die große Krux. Nach unserer Auffassung bietet diese Verfassung von 1980 keinen Ausweg zur Demokratie. Daran scheiden sich die Geister.Hinzu kommt die Frage der wirtschaftlichen Einbindung. Die internationale Wirtschaft entzieht der Volkswirtschaft Chiles in jedem Jahr 2 Milliarden Dollar, und diese Dollars fehlen natürlich für soziale Reformen. Der Acuerdo Nacional hat dagegen bisher nichts vorgebracht. Das sind die Probleme.Wir können uns nicht in die chilenischen Angelegenheiten einmischen. Wir können uns einmischen, wenn es darum geht, die Menschenrechte zu verteidigen. Wir können uns einmischen, wenn wir Initiativen unterstützen, die dort für die Erhaltung der Natur und gegen die Ausbeutung kämpfen. Dann sind wir dazu berechtigt, das zu tun. Wir dürfen aber nicht meinen, daß mit einer bloßen Anwesenheit von Abgeordneten, die den Wahlvorgang als solchen beobachten, dem Volke geholfen würde.Wir haben deshalb einen eigenen Antrag eingebracht. Ich bitte Sie, diesem Änderungsantrag zuzustimmen.Eines, was mir in Chile aufgefallen ist, muß ich noch erwähnen. Es ist der ungeheure Mut der Menschen, trotz der Bedrängung etwas zu tun. Es war mir trotz mehrerer Versuche nicht möglich, eine Gefangene, die Deutsch-Chilenin Karin Eitel, zu besuchen; es war mir nicht möglich, etwas für den jede Nacht inhaftierten Herausgeber der Zeitung „Analisis" zu tun. Man steht machtlos davor. Trotzdem schreiben diese Autoren, trotzdem schreiben sie ihre kritischen Artikel. Der Herausgeber, der jede Nacht im Gefängnis verbringen muß, steht trotzdem dafür gerade, daß die gegenüber der Regierung kritischen Artikel erscheinen. Das hat mir imponiert; das ist etwas, wovon wir uns vielleicht noch eine Scheibe abschneiden können.Ich wünsche dem chilenischen Volk, daß es den Weg zur Demokratie findet und sich gegenüber den wirtschaftlichen Interessen und der Macht des Militars, das heute noch das Sagen hat, durchsetzt.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Knabe, es ist eigentlich bedauerlich, daß Sie jetzt den Konsens, den wir im Auswärtigen Ausschuß nach sehr intensiven Diskussionen auch mit den Vertretern Ihrer Fraktion gefunden haben, hier so ein bißchen zerreden. Wir wollen ja gar nicht in Einheitsbrei machen, aber wir haben doch eine gemeinsame Grundlage gefunden, weshalb wir diese Entschließung ausformuliert und dann auch angenommen haben. Es ist einfach furchtbar schade, wenn hier wieder alles in Frage gestellt wird, was wir zusammengebracht haben.
Herr Kollege Knabe, es ist doch auch aus den Reden der Vorredner hervorgegangen, daß wir es uns nicht so leicht machen, wie Sie es hier darstellen wollen. Auch wir blicken mit großer Sorge, aber auch mit einiger Hoffnung auf dieses Plebiszit und vor allem auf sein Ergebnis.92 % aller über 18 Jahre alten Chilenen haben sich in die Wahlregister eintragen lassen. Die absolute Zahl ist ja schon genannt worden. 92 % also machen sich auf und gehen diesen mühsamen Weg, sich registrieren zu lassen. Wenn sich unsere Wähler erst registrieren lassen müßten, wüßte ich nicht, ob 92 % das wirklich täten.
Das zeigt doch das große Engagement in Chile dafür, einen ersten Schritt zur Wiederherstellung der Demokratie zu tun.Ein äußerst engagierter Wahlkampf der vereinigten Opposition ist im Gange. Ein technisch korrektes Wahlverfahren soll garantiert werden. Ich möchte hinzufügen: Noch glaubwürdiger wäre es natürlich gewesen, wenn im Vorfeld dieser Wahlvorbereitungen politische Gefangene freigelassen worden wären.Hunderte von politischen Beobachtern und Pressevertretern aus westlichen Ländern sind nach Chile und — was genauso wichtig ist — in Chile unterwegs. Es ist ein ständiges Wechselbad von Angst und Zuversicht, so überschrieb kürzlich die „Süddeutsche Zeitung" sehr zutreffend die Situation.Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren haben wir im Bundestag die Lage in Chile immer und immer wieder — oft mit sehr unterschiedlichen Akzenten — debattiert. Heute verabschieden wir — das möchte ich jetzt nach Ihrer Rede, Herr Kollege Knabe, doch noch einmal unterstreichen — erstmals einen im Auswärtigen Ausschuß von allen Fraktionen angenommenen Entschließungsantrag. Wir waren uns nämlich einig in der Hoffnung, daß mit einem „No" zum einzigen Kandidaten dieses Plebiszits nur der
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Frau Dr. Hamm-Brüchererste Schritt zur Abkehr von einer menschenverachtenden Diktatur getan wird;
denn wir wissen, daß damit noch keine Rückkehr zu einer pluralistisch- demokratischen Ordnung und leider auch keine Besserung der Menschenrechtssituation verbunden ist. Dennoch wäre ein mit einem klaren „No" abgelehntes Plebiszit ein erster Anfang hierfür.Ich möchte hier ein wenig Nachdenklichkeit verbreiten und dem widersprechen, wenn unser Engagement gegen Diktaturen und Menschenrechtsverletzungen sehr oft als eine Einmischung in innere Angelegenheiten zurückgewiesen wird. Erlauben Sie mir, an die Zeit in Deutschland vor 50 Jahren zu erinnern. Herr Kollege Waltemathe, auch Sie haben das angedeutet.Wieviel wäre uns Deutschen, wieviel wäre Europa und der Welt erspart geblieben, wenn die demokratische Opposition damals gegen Hitler stärker und einiger gewesen wäre und rechtzeitig seitens der freien Welt auch nur ein Bruchteil der Ermutigung und Hilfe für den Widerstand gegen die Hitler-Diktatur zuteil geworden wäre!
Ich glaube, das ist ein Gedanke, den man hier gemeinsam tragen kann; denn spätestens seit Hitler ist jedenfalls für mich und für viele von uns — das weiß ich — die Überwindung menschenverachtender Diktaturen nicht mehr allein eine innere Angelegenheit eines Staates. Sie bedarf zumindest der Solidarität und Unterstützung aller demokratischen Staaten, aller Parlamente und aller demokratischen Parteien. Gerade auf Grund unserer schrecklichen Erfahrungen mit einem Unrechtsstaat müssen wir Deutschen immer auf der Seite demokratischer Freiheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Beachtung der Menschenrechte stehen; dies, meine Damen und Herren, ohne Wenn und Aber.In diesem Verständnis ist auch die heutige vorliegende Entschließung zu Chile als ein unübersehbares Zeichen zu verstehen. Unsere Unterstützung und Solidarität gilt den 16 demokratischen Parteien, die sich zu einem breiten Bündnis gegen das scheindemokratische Plebiszit zusammengeschlossen haben und nach seiner erfolgreichen Ablehnung eine Verfassungsreform und einen friedlichen Übergang zu demokratischen und rechtsstaatlichen Verhältnissen durchsetzen wollen. Das ist der richtige Weg, meine Damen und Herren.Neuerlicher Gewalt und neuerlichem Blutvergießen muß eine klare Absage erteilt werden. Das ist das Gebot der Stunde; denn die Folgen wären für Chile unabsehbar. Herr Kollege Knabe, von der Anwendung von Gewalt haben sich die von Ihnen genannten Oppositionsgruppen nicht distanziert. Das muß ich einmal ganz deutlich sagen.
Die auch für den Fall eines „No" weiter gültige Verfassung bietet keinerlei Anhaltspunkte für die Einleitung eines demokratischen Prozesses. Sie eröffnet allenfalls Wahlen für Ende 1989. Deshalb möchte ich zum Abschluß, Herr Präsident — bitte erlauben Sie mir das — , zum Ausdruck bringen, daß eine Revision dieser Verfassung die unabdingbare Voraussetzung für eine Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse in Chile ist.
Dies müßte bis zu den für Ende 1989 vorgesehenen Wahlen erreicht werden.Hierzu bedarf es der Wiederaufnahme des schon einmal 1986 begonnenen Dialogs zwischen der Militärregierung und der demokratischen Opposition mit dem Ziel einer nationalen Übereinkunft. Bisher sind diese Bemühungen ja immer wieder an der unerbittlichen und starren Haltung der chilenischen MilitärJunta gescheitert. Dennoch hoffen wir Liberalen, daß dieser Dialog nach einem „No" des Plebiszits umgehend wieder aufgenommen wird.Alles in allem liegt demzufolge, selbst bei einem Nein zur Militärdiktatur Pinochets, noch ein sehr langer und steiniger Weg vor dem chilenischen Volk bis zu einem deutlichen Ja für Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte. Diesen Weg zu unterstützen, das ist das Gebot aller demokratischen Parteien. Hierdurch können sich die traditionell freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem deutschen und dem chilenischen Volk bewähren und auch vertiefen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung, und zwar zunächst einmal über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN.Die Geschäftslage ist etwas verworren. Erlauben Sie mir daher, daß ich das erkläre.Der Änderungsantrag der GRÜNEN ist relativ spät eingegangen und vor etwa einer halben Stunde hier im Hause verteilt worden. Auf Grund einer Formulierung, die ich nicht akzeptieren konnte, habe ich mir erlaubt, einige Änderungen vorzunehmen. Auf Grund dessen hat der Saaldienst den Antrag wieder eingesammelt.Der Antrag ist erneut verteilt worden. Ich lese die Änderungen jetzt vor, damit jeder weiß, worüber er abstimmt. Die Ziffer I 1 des Antrags 11/3020 ist wie folgt geändert:Die seit 15 Jahren herrschende Militärdiktatur in Chile hat 1980 mit einer Verfassung entsprechenden Zuschnitts einen Institutionalisierungsprozeß eingeleitet, mit dem dem Regime ein scheindemokratisches Gesicht gegeben werden soll.Alle übrigen Formulierungen des Antrags 11/3020 bleiben so, wie ursprünglich ausgedruckt vorgelegt.Ich lasse nunmehr über diesen geänderten Änderungsantrag auf Drucksache 11/3020 abstimmen. Wer stimmt diesem Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Antrag gegen die Stimmen
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6648 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Vizepräsident Cronenbergder GRÜNEN bei Enthaltung von Frau Unruh abgelehnt worden.Wir kommen nunmehr zu der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/2983. Hier muß ich die Fraktion DIE GRÜNEN fragen, ob sie dieser — bis jetzt ja noch gemeinsamen — Beschlußempfehlung weiterhin beitritt oder das zurückzieht.
— Sie ziehen das zurück, so daß es sich nunmehr um eine Beschlußempfehlung der übrigen Fraktionen, der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und der FDP. handelt.Ich lasse also nunmehr über diese Drucksache mit veränderten Antragstellern abstimmen. Wer stimmt für die Ziffer 1 der Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei gemischtem Stimmverhalten der GRÜNEN-Fraktion ist dies angenommen.Der Ausschuß empfiehlt unter Ziffer 2 weiter, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2333 abzulehnen. Wer stimmt für die Ziffer 2 dieser Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen der GRÜNEN-Fraktion und gegen einige Stimmen der GRÜNEN-Fraktion ist dieser Empfehlung des Ausschusses Folge geleistet worden.So, meine Damen und Herren, jetzt komme ich kurz auf den Zusatztagesordnungspunkt 3 zurück, auf den Punkt, den wir vor diesem Tagesordnungspunkt besprochen haben.Hier hat die SPD-Fraktion versäumt, einen Wunsch vorzutragen, den Wunsch nämlich, daß der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes und zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand auch an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft überwiesen wird. Bestehen im Haus Bedenken, diesem Wunsch der SPD-Fraktion nachzukommen? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist dem Begehren der SPD-Fraktion in diesem Punkt nachgegeben worden.Nunmehr rufe ich den Tagesordnungspunkt 17 auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes— Drucksache 11/2964 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung InnenausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheitb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierunga) UNESCO-Empfehlung zur internationalen Vereinheitlichung der Statistiken über dieöffentliche Finanzierung kultureller Tätigkeitenb) UNESCO-Empfehlung zum Schutz und zur Erhaltung bewegter Bilderc) UNESCO-Empfehlung über die Stellung des Künstlers— Drucksachen 9/963, 11/2379 —Berichterstatter:Abgeordnete Frau Dr. Wisniewski DuveLüderFrau Dr. VollmerHier ist eine Gesamtredezeit von 30 Minuten vereinbart worden. — Widerspruch gegen diesen Vorschlag des Ältestenrates erhebt sich nicht.Dann kann ich die Debatte eröffnen. Zunächst einmal hat der Parlamentarische Staatssekretär Höpfinger um das Wort gebeten, das ich ihm auch gebe. Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist ein entscheidender Schritt zur dauerhaften Konsolidierung der Künstlersozialversicherung. Seit Beginn der Künstlersozialversicherung vor sieben Jahren bereitet die Umsetzung immer wieder einige Schwierigkeiten; des öfteren haben wir im Hohen Haus darüber diskutiert. Aber man muß der Ehrlichkeit halber sagen: Es ist auch bereits einiges wesentlich verbessert worden.Der Gesetzentwurf, den wir heute einbringen, soll mithelfen, die noch bestehenden Schwierigkeiten zu beheb en. Am Grundgedanken der Künstlersozialversicherung wird ohne Abstriche festgehalten. Es geht um die angemessene soziale Sicherung selbständiger Künstler und Publizisten.Die wichtigsten Neuerungen:Erstens. Das Melde- und Beitragsverfahren soll neugestaltet werden. Der Versicherte soll künftig zu Beginn des Jahres sein voraussichtliches Jahreseinkommen schätzen und auf dieser Basis Beiträge entrichten. Die Schätzung kann jederzeit korrigiert und die Beitragszahlung angepaßt werden.
Zweitens. Maßnahmen gegen Beitragszahlungsverweigerung. Wer künftig trotz feststehenden Beitrags und feststehender Zahlungstermine zwei Monatsbeiträge in Rückstand ist und auch nach einer besonderen Mahnung nicht bezahlt, soll künftig die Leistungen der Krankenversicherung nicht mehr in Anspruch nehmen können. Stundungsmöglichkeiten sind gegeben.Drittens. Vergünstigungen für Berufsanfänger können im derzeitigen Umfang nicht länger aufrechterhalten werden. Bereits jetzt sind rund die Hälfte aller Versicherten Berufsanfänger, also Personen, die sich in den ersten fünf Jahren ihrer künstlerischen und publizistischen Tätigkeit befinden. Sie sind auch ver-
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Parl. Staatssekretär Höpfingersichert, wenn sie nur ein geringeres oder gar kein Einkommen aus ihrer künstlerischen oder publizistischen Tätigkeit haben. Das belastet den Bund, das belastet aber auch die Abgabepflichtigen. Der Gesetzentwurf sieht vor, die Versicherungspflicht der Berufsanfänger mit einem Verdienst unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze auf drei Jahre zu beschränken. Außerdem soll künftig ein Mindestbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung gezahlt werden, und zwar ca. 35 DM im Monat.Viertens. Die Künstlersozialabgabe soll für die Bereiche Wort, bildende Kunst, Musik und darstellende Kunst getrennt festgesetzt werden. Schon jetzt ist im Gesetz festgelegt, daß nach einer Übergangszeit die Prozentsätze der Künstlersozialabgabe für die genannten vier Bereiche getrennt festzusetzen sind. Die Berechnung ergibt Abgabesätze von 2,8 % im Bereich Wort, 11,2 % im Bereich bildende Kunst. Ein Lastenausgleichsverfahren wird hier auf alle Fälle erforderlich sein.Fünftens. Der Personenkreis der Abgabepflichtigen. Wer für Zwecke seines Unternehmens nicht nur gelegentlich Aufträge an selbständige Künstler oder Publizisten erteilt, deren Werke er für sein Unternehmen nutzt, um Einnahmen zu erzielen, soll an der Finanzierung der Künstlersozialversicherung beteiligt werden. — Soweit die Grundzüge des Gesetzentwurfs.Abschließend die Bitte um zügige Beratung: Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich weiß um die arbeitsmäßige Belastung und zeitliche Beanspruchung der Mitglieder im federführenden Ausschuß und in den mitberatenden Ausschüssen. Ich weiß auch um die Arbeitsbelastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ausschußsekretariaten. Dennoch die Bitte, den Entwurf zeitlich so zu beraten, daß er noch in diesem Jahr verabschiedet werden kann.
— Ja, den auch noch. Die Novelle muß nämlich am 1. Januar 1989 in Kraft treten, weil sonst ab diesem Zeitpunkt keine Künstlersozialabgabe mehr erhoben werden könnte.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat die berechtigte Hoffnung, daß mit der Novellierung die Voraussetzung für eine dauerhafte Konsolidierung der Künstlersozialversicherung geschaffen wird. Dies dient einem angemessenen sozialen Schutz der ihr angehörenden Künstler und Publizisten.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Weiler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sicherlich haben viele von uns noch dem Spitzweg- oder Zille-Milieu entliehene romantisch-nostalgische Vorstellungen von Künstlern als Wesen, die ihre künstlerischen und kreativen Fähigkeiten am besten in Freiheit von der bürgerlichen Welt — sprich: in Armut und in sozialer Schutzlosigkeit — entfalten können. Dies sind Vorstellungen von Bürgern, die, der Abgesichertheit des eigenen Lebens überdrüssig, persönliche und irrationale Sehnsüchte auf die Berufsgruppe der Künstler projizieren.Aus diesem Grunde, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es allgemein immer noch wenig Verständnis für eine wirksame soziale Sicherung dieser Berufsgruppe.Die von der Bundesregierung eingebrachte Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes scheint vor allem zur Verwaltungsvereinfachung geplant. Aber darüber hinaus ist sie durch Mißtrauen gegenüber den Künstlern und der Weigerung, für die Förderung der Kultur etwas tiefer in den Geldbeutel zu greifen, geprägt.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in der UNESCO-Empfehlung, die wir ja heute auch beraten, über die Stellung des Künstlers vom 27. Oktober 1980 werden die Regierungen der Länder aufgefordert, dem Anspruch jedes Künstlers auf soziale Sicherheit und Einbeziehung in die Sozialversicherung Rechnung zu tragen. Es wird auf die Notwendigkeit der Verbesserung der Sozialversicherungs-, Arbeits- und Steuerbedingungen für die Künstler im Hinblick auf ihren Beitrag zur kulturellen Entwicklung hingewiesen.Es wird die — mit Gewicht auf diesem Wort — wirksame Einbeziehung der Künstler in die Sozialversicherung empfohlen. Ich betone das, Herr Höpfinger, weil Sie von einer „angemessenen Absicherung" gesprochen haben. „Angemessen" ist nach unserer Meinung viel zu wischiwaschi. Wir meinen eine wirksame Einbeziehung.Und nicht nur das; die UNESCO fordert auch eine Fortschreibung des Maßnahmenkatalogs. Nun messen wir einmal die Neufassung des vorliegenden Gesetzentwurfs an diesen Empfehlungen. Neben dem neuen Beitragsverfahren werden verbindliche Monatsbeiträge festgesetzt. Grundlage für die Festsetzung soll das vom Künstler zu schätzende voraussichtliche Jahreseinkommen sein. Der Wegfall des nachträglichen Ausgleichs mag der Verwaltungsvereinfachung dienen, aber es ist ein möglicherweise folgenschwerer Schritt. Wegen der unsicheren Einkommenssituation
werden logischerweise die meisten Künstler ihr Einkommen sehr niedrig einschätzen und künftig massenhaft unterversichert sein.Es gibt keinen vernünftigen Grund für einen solchen Einschnitt, sondern es handelt sich um eine reine Sparmaßnahme. Wenn die Künstlersozialversicherung weitgehend zu einer 440-DM-Versicherung wird, dann spart der Bund natürlich Zuschüsse
an die Künstlersozialkasse und die Kunstvermarkter sparen an der Abgabe.
Unzureichend sind auch die Vorschläge zur besseren Erfassung der Künstlersozialabgabe und zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Die Erfahrung hat gezeigt, daß wir vom eingeschränkten Vermark-
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Frau Weilerter- zum umfassenderen Verwerterkonzept kommen müssen. Die sogenannte Generalklausel des neuen § 24 Abs. 2 wird sich vielfach als unwirksam erweisen. Das Ziel muß sein, ausnahmslos alle von den Unternehmen gezahlten Honorare zu erfassen, auch die, die steuerlich als Betriebsausgaben geltend gemacht werden.
Auch die Umgehungsmöglichkeiten über das Ausland werden mit Ihrem Entwurf nicht wirksam gestoppt. Nach der jetzigen Formulierung kann allein durch Einschaltung eines weiteren Zwischenhändlers auch in Zukunft die Künstlersozialahgahe umgangen werden.Vor allem aber fehlt die dringend erforderliche Abgabepflicht der öffentlichen Hand.Berufsanfänger sollen in Zukunft nur noch für drei anstatt bisher für fünf Jahre der Versicherungspflicht unterliegen. Das führt dazu, daß ein großer Teil der jüngeren Künstler mit geringem Einkommen den sozialen Schutz verliert. Die Berufswirklichkeit junger Künstler ist jedoch gekennzeichnet durch verschärfte Probleme bei einer Existenzgründung. Der Einstieg in künstlerische Berufe dauert oftmals länger als drei Jahre und ist mit erheblichen Einkommensschwankungen und finanziellen Nöten verbunden.Das Ziel sind — wie so oft bei dieser Regierung — Einsparungen im sozialen Bereich. Das Ergebnis wird die Reduzierung der relativ großen Zahl von versicherten Berufsanfängern sein. Dies hat — neben dem finanziellen Aspekt — auch erhebliche kulturpolitische Folgen für unser Land. In kaum einem anderen Beruf müssen Berufsanfänger in so großem Maße auf ein gesichertes, geregeltes Einkommen verzichten oder ihre Abhängigkeit von Verwandten und Partnern in Kauf nehmen. Ein Kulturstaat wie die Bundesrepublik kann, ja er darf die soziale Sicherung junger Künstler nicht von der jeweiligen Haushaltslage abhängig machen.Die SPD möchte zwei Ziele erreichen: einmal die wirksame soziale Absicherung des einzelnen Künstlers und — damit zusammenhängend — zum zweiten die Förderung der Kunst auf breiter Ebene, so daß die Bevölkerung insgesamt Zugang zur Kunst erhält. Daher fordern wir, daß die anstehende Novellierung des Gesetzes zur Verbesserung des Sicherungssystems beiträgt und das Verwaltungsverfahren in eine Form gebracht wird, die die reale Berufssituation der Künstler berücksichtigt. Wir brauchen ein Instrumentarium, das für die Künstlersozialkasse und für die Künstler praktikabel ist.Ich möchte in diesem Zusammenhang für die Ausschußberatung und die, Herr Höpfinger, dringend notwendige Anhörung trotz unseres Zeitplans im Ausschuß folgende vier Anregungen geben.Erstens. Die Krankengeldzahlung ab dem ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit muß über den Weg der grundsätzlichen Beitragsteilung — je 50 % Künstler und 50 % Vermarkter — eingeführt werden. Der Grundgedanke der Lohnfortzahlung ist auch auf die selbständigen Künstler anwendbar, wie die Definition des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf dieBeziehung zwischen Verwertern und Versicherten deutlich gemacht hat.Die Tendenz in dem Gesetzentwurf zur Gleichstellung der selbständigen Künstler mit den Freiberuflern ist nach unserer Meinung unzulässig, da es sich bei den Künstlern um eine schutzbedürftige, weitgehend arbeitnehmerähnliche Berufsgruppe handelt.Zweitens. Die Abhängigkeit der Versicherungspflicht von einer Mindestverdienstgrenze widerspricht der Berufswirklichkeit von Künstlern. Künstler haben nun einmal erhebliche Einkommensschwankungen. Lebt z. B. eine Schriftstellerin zwei Jahre von ihren Ersparnissen, während sie einen neuen Roman schreibt, wird sie aus der Künstlersozialversicherung ausgeschlossen. Daher ist zu überlegen, ob eine Regelung in Anlehnung an § 8 des 4. Buchs des Sozialgesetzes geschaffen werden sollte, die die Versicherungspflicht alternativ zur Einkommensgrenze an eine wöchentliche Mindestarbeitszeit bindet, oder ob sogenannte Freijahre nach der Art der Berufsanfängerzeit eingeführt werden sollten.Drittens. Um eine mögliche Unterversicherung zu verhindern und gleichzeitig den Verwaltungsaufwand gering zu halten, sollte die einmalige Anmeldung und jährliche Einkommensmeldung nach Abgabe der Steuererklärung eingeführt werden.Viertens. Das Ruhen der Leistungen aus der Krankenversicherung bei einem Beitragsrückstand von zwei Monaten sollte durch eine Härteklausel gemildert werden.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die Gestaltung der sozialen Sicherung von Künstlern ist eine schwierige und komplizierte Aufgabe. Dies darf jedoch nicht dazu führen, daß Verwaltungsvereinfachung auf Kosten der Versicherten betrieben wird; und es darf auch nicht dazu führen, daß das bisher Erreichte zurückgenommen wird. Im Gegenteil, wir Politikerinnen und Politiker sind aufgerufen, gemeinsam mit Phantasie und Einfühlungsvermögen nach einem Weg zu suchen, für die Berufsgruppe der Künstler einen wirksamen sozialen Schutz zu schaffen. Mit dem vorliegenden Entwurf ist dies nicht geschehen. Wir hoffen, daß Sie im Ausschußverfahren Anregungen der SPD-Fraktion und auch die Einwände der Künstlerverbände ernsthaft bedenken.Sollte es nicht zu wesentlichen Verbesserungen kommen, werden wir dem Gesetzentwurf kaum zustimmen können.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Becker .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt der Bundesregierung für die Vorlage des Gesetzentwurfs zu einer umfassenden Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes.
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Dr. Becker
Die Regierung hat Vorschläge eingebracht, mit denen endlich die Künstlersozialversicherung zu einem voll funktionsfähigen Teilstück unseres sozialen Sicherungssystems gemacht werden kann.Es hat dann immerhin sieben Jahre gedauert, bis die massiven Kinderkrankheiten des 1981 erlassenen Gesetzes ausgestanden waren. Die Künstlersozialversicherung wurde inzwischen von den Betroffenen in großem Umfang angenommen. Auch ein Großteil der Vermarkter hat sich inzwischen darauf eingestellt. Die Anbindung der Künstlersozialkasse an die Landesversicherungsanstalt Oldenburg/Bremen hat bereits bei der Überwindung der Schwierigkeiten bei der Durchführung des Gesetzes geholfen.Unsere Anregungen bei der Verabschiedung des Gesetzes zur finanziellen Sicherung der Künstlersozialversicherung im Herbst des vergangenen Jahres werden jetzt weitgehend aufgenommen. Der Katalog der nach dem Gesetz zur Abgabe Verpflichteten wurde ergänzt. Die Abgabepflicht wird auf alle Unternehmer ausgedehnt, die nicht nur gelegentlich Aufträge an selbständige Künstler und Publizisten erteilen. Hier wird auch eine Generalklausel eingefügt. Es ist Aufgabe der Verwaltung der Künstlersozialkasse, diese zu nutzen. Die Rahmenbedingungen für die Bildung von Ausgleichsvereinigungen als unbürokratische Hilfsorganisationen werden erleichtert. Das vielschichtige Problem der Berufsanfänger mit geringen Einkommen wird aufgenommen wie auch die Verbesserung der Organisation, der Verwaltung und der finanziellen Grundlagen.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat im letzten Herbst hier im Haus erklärt, daß letztmalig für 1988 der einheitliche Künstlersozialabgabesatz von 5 beibehalten werden solle. Wir begrüßen daher, daß nach der bereits 1981 gewünschten Regelung jetzt endlich eine Festsetzung von bereichsspezifischen Abgabesätzen erfolgt. Wegen der immer noch sehr stark auseinanderklaffenden Meldungen der einzelnen Bereiche wird hier eine Modifizierung empfohlen, die eine Überforderung verhindern soll. Wir erwarten aber, daß die unterschiedlich weit fortgeschrittenen Erfassungen und Überwachungen in den vier Bereichen Wort, darstellende Kunst, bildende Kunst und Musik sobald wie möglich so weit verbessert werden, daß die derzeit geschätzten Abgabesätze dann stärker realen Beitragssätzen und Werten angeglichen werden können. Es müssen daher zunächst eine Belastungsobergrenze, gestuft für die nächsten drei Jahre, und ein Lastenausgleich eingeführt werden.
Liebe Frau Kollegin Weiler, es ist Aufgabe dieses Hauses, das Ganze allmählich in Gang zu bringen. Es hat lange, sehr lange gedauert, bis das damals hauptsächlich von Ihrer Fraktion eingebrachte Gesetz in eine Form gekommen ist, in der es dann endlich wirken wird.Bei der umfassenden Novellierung des Künstlersozialversicherungsgesetzes werden Verwaltungsabläufe wesentlich vereinfacht und auch Grundsätze einer Versicherung stärker beachtet. Notwendig ist auch, daß der Versicherungscharakter wieder mehr herauskommt. Wir hoffen, damit endlich ein voll funktionsfähiges Instrument zu schaffen, das es allen Betroffenen, den Künstlern, aber auch den Kunstvermarktern, erleichtert, für Alter und Krankheit der Künstler eine gute Sicherung zu schaffen.Wir werden uns in den Beratungen auch um Ihre Anregungen bemühen.Schönen Dank fürs Zuhören.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Vollmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trotz allen Stolzes der Regierung und des Ministeriums haben die nunmehr vorliegenden Änderungen zum Künstlersozialversicherungsgesetz dasselbe nicht gerade übersichtlicher und schon gar nicht handhabbarer im Sinne der Betroffenen gemacht. Ich weiß, was Sie als Errungenschaft herausstellen, nämlich daß nun ein umfassender Versicherungsschutz bei Krankheit oder Alter für die Künstler da sei. Sie haben die Zustimmung der Vermarkter, aber eines haben Sie nicht: die Zustimmung der Betroffenenverbände. Die Vorschläge, die bei einer Expertenanhörung gemacht worden sind, die der Deutsche Kulturrat am 19. September gemacht hat, sind überhaupt nicht aufgenommen worden.
Die Eile, in der Sie dieses Gesetz nunmehr verabschieden, erstaunt mich daher sehr. — Herr Heyenn, ich komme noch darauf, wir haben in dieser Sache viel Übereinstimmung.Wir haben es sowohl in sozialpolitischer wie in kulturpolitischer Hinsicht mit komplizierten Zusammenhängen zu tun, die sich dem bürokratischen Zugriff nicht so ohne weiteres unterordnen lassen. Daher kann auch nicht allein das Argument der leeren Kassen für die Begründung des Entwurfes dienen. Es geht uns vielmehr darum, daß bei den strittigen Punkten der künstlerische Sachversand nicht nur angehört, sondern auch einbezogen wird. Das sehen wir in Ihrem Entwurf gerade nicht.Sozialpolitisch haben wir deswegen folgende Einwände und meinen, daß folgende Probleme durch Ihren Entwurf nicht gelöst sind. Die Geringfügigkeitsgrenze wurde auf monatlich 450 DM festgesetzt. Wer weniger verdient, ist ab jetzt nicht mehr versichert. Das betrifft eine ganze Menge Künstler, besonders Frauen, jedenfalls zeitweise.Die Berufsanfängerregelung wurde von fünf auf drei Jahre gesenkt, d. h. die Versicherung kommt für die Künstler gerade in der schwierigsten Zeit ihres künstlerischen Schaffens, in der Anfangsphase, nicht zum Tragen.Krankengeld wird erst ab der siebten Woche gezahlt. Anderenfalls wird die Selbstbeteiligung gefordert. Die geforderte Selbsteinschätzung des Jahreseinkommens wird tendenziell immer zur Unterversicherung führen. Auf all das haben Sie schon hingewiesen. Die Altersversicherung ist immer noch nicht, wie Sie versprechen, umfassend geregelt.
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Frau Dr. VollmerViel schwerer aber als diese Argumente wiegen für uns: Die besonderen Bedingungen der künstlerischen Produktion sind in gar keiner Weise berücksichtigt worden. Die Unterscheidung von selbständig und unselbständig, die das Beschäftigungsverhältnis als freier Mitarbeiter bezeichnet, bedeutet gerade für diesen Personenkreis, daß er aus der Versicherung herausfällt.Die bereichsspezifischen Abgabesätze haben immer noch keine genaue Berechnungsgrundlage. Sie stützen sich beispielsweise auf Monatssätze, welche nicht der Realität der sogenannten freien Einkommen entsprechen.Ferner bleibt die Besonderheit im Verhaltnis von Arbeitgeber — sprich: Vermarkter — und Arbeitnehmer in vielen Fällen unberücksichtigt, z. B. im Verhältnis Autor und Verleger. Hiervon sind besonders die mit hohem Eigenrisiko arbeitenden Bühnenverlage und Verlage moderner Literatur betroffen. Das vorgesehene spartenübergreifende Lastenausgleichsverfahren reicht hierfür nicht aus.Von dieser letzten Regelung ist unser Kulturbetrieb im ganzen betroffen, wenn beispielsweise ein Bühnenverlag die gleichen staatlichen Auflagen wie ein kommerzieller Modejournalverlag erhält. Daher lautet unsere Forderung: Das Künstlersozialversicherungsgesetz muß gleiche Leistungen gerade unter Anerkennung unterschiedlicher Produktionsbedingungen akzeptieren.Deswegen sind auch wir wie die SPD dafür, daß es unbedingt noch eine Anhörung geben muß, bei der auch die betroffenen Verbände gehört werden. Wenn das aus Zeitgründen nicht mehr möglich sein sollte, beantragen wir, das Inkrafttreten des Künstlersozialversicherungsgesetzes — vorgesehen zum 1. Januar 1989 — um drei Monate zu verschieben. Die Zeit brauchen wir noch. Wir müssen diese Anhörung durchführen. Ich bitte Sie, daß dann auch all diejenigen gehört werden, die beim Kulturrat zu diesem Gesetz gesprochen haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über die Zielsetzung des Gesetzes zur Künstlersozialversicherung, nämlich die Absicherung der Künstler bei Alter und Krankheit, besteht, so meine ich, Einigkeit. Das Gesetz und die Praxis der Künstlersozialkasse haben jedoch in der Vergangenheit erhebliche Probleme aufgeworfen. Es ist zu hoffen, daß die Künstlersozialkasse nun der von vielen Vermarktern und Künstlern geäußerten Kritik hinreichend Rechnung trägt.
Kernstück dieses Gesetzes ist nach Auffassung meiner Fraktion der bereichsspezifische Beitragssatz. Es ist in der Tat nicht einzusehen, daß einzelne, künstlerische Bereiche in einem exorbitanten Umfang andere mitfinanzieren müssen. Deshalb habe ich schon bei der letzten Beratung des Künstlersozialversicherungsgesetzes — auch unter dem Beifall der Opposition — erklärt, daß eine Verlängerung des einheitlichen Beitragssatzes nicht in Frage kommt.
Die Bundesregierung hat sich in dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf bemüht, diesem Anliegen Rechnung zu tragen. Aufgrund der erheblichen Diskrepanz bei der Beitragserbringung zwischen den einzelnen künstlerischen Bereichen — ich hoffe, das wird sich in Zukunft ändern — ist es leider nicht möglich, dieses Prinzip in Reinkultur durchzusetzen. Die jetzige Regelung — Einführung von Obergrenzen — stellt daher meiner Meinung nach nur eine mittlere Lösung dar. Dabei sollten wir aber auch weiterhin anstreben, daß langfristig jeder künstlerische Bereich die Belastungen aus eigener Kraft zu tragen hat, soweit dies wirtschaftlich auch nur irgendwie vertretbar ist.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Einführung einer Generalklausel, um weitere Abgabepflichtige zu erfassen, verständlich, obwohl meines Erachtens nicht auszuschließen ist, daß dies zu neuen, die Künstlersozialkasse belastenden Kosten führen wird.
Sinnvoll ist es auch, die Verwaltungsabläufe bei der Künstlersozialkasse zu vereinfachen. Ob dies in aller Regel gelingt, werden wir ja noch erleben. Insofern ist es auch überlegenswert, ob nicht eine klare Regelung hinsichtlich des Beginns der Versicherungspflicht geschaffen werden soll. Es ist notwendig, das Versicherungsprinzip stärker zu berücksichtigen und auch die finanziellen Grundlagen der Künstlersozialversicherung zu stabilisieren, denn es wäre ja wohl sehr problematisch, immer sofort den einfachen Weg zu gehen, nämlich den Bundeszuschuß zu erhöhen.
Dabei ist allerdings eine richtige Abgrenzung des Anteils der Selbstvermarktung notwendig. Gerade im Hinblick auf den internationalen Kunst- und Kulturmarkt sollten nicht neue Barrieren geschaffen werden, die die deutschen Künstler belasten.
Gestatten Sie mir noch ein Wort zu der geforderten Anhörung. Frau Kollegin Weiler, wir haben im letzten Jahr eine Anhörung in dieser Sache durchgeführt. Ich möchte Sie bitten, sich vielleicht noch einmal zu überlegen, ob Sie darauf bestehen wollen oder nicht,
denn in Anbetracht der sehr knappen Zeit wäre es natürlich schon eine zusätzliche Strapaze. Wir wissen in der Tat nicht, wie wir sonst die Gesetzesflut bewältigen sollen.
Danke schön.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Zu Tagesordnungspunkt 17 a schlägt der Ältestenrat vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Kein Widerspruch. So beschlossen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6653
Vizepräsident Frau RengerWir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 11/2379. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.Ich rufe Punkt 18 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit
— Drucksache 11/2972 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung FinanzausschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GONach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Kein Widerspruch. So beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Staatssekretär Höpfinger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit ist wichtig für die anstehenden Entscheidungsprozesse in der Landwirtschaft, vor allem für unsere Landwirte. Jetzt gilt es, ihnen durch neue und konkrete Hilfen unter die Arme zu greifen.Die EG hat mit tatkräftiger Unterstützung der Bundesregierung nicht erst im Frühjahr 1988 die Konsequenzen gezogen. Nicht Preissenkung, sondern umsichtiger Abbau der Überproduktion mußte dabei das vorrangige Ziel der Bundesregierung sein. Es galt, das beste Abschleppverfahren zu finden, das ein Sinken des angeschlagenen Schiffes vermied, um die Zukunftsaussichten offenzuhalten und einen Silberstreifen am Horizont sichtbar werden zu lassen. Was unsere Bauern brauchen, ist Zuversicht in eine Zukunft ohne Bangen. Sie haben im Vertrauen auf politische Vorgaben investiert und darauf ihre berufliche Existenz aufgebaut.Die jetzt notwendige Neuorientierung der gemeinsamen Agrarpolitik erfordert von uns ein behutsames Vorgehen, und zwar in dem dauernden Bewußtsein, daß es die Landwirte sind, die die Folgen verkraften müssen. Deshalb muß ihnen der Übergang geebnet und durch staatliche Maßnahmen abgefedert werden.Bauern erfüllen viele Funktionen in unserer Gesellschaft. Es geht nicht nur um die Güterproduktion, sondern auch um die Hege und Pflege der Natur. Jeder verbringt gerne seine Freizeit in einer erlebnisreichen, schön gestalteten Umwelt. Wie wenig kommt uns dabei gerade der Gedanke, daß auch hierfür einer die Verantwortung trägt und die notwendigen Leistungen erbringen muß.
Ein Rückzug der Landwirtschaft aus ländlichen Räumen wäre auch deshalb unrealistisch, weil diese eine Summe verschiedener Tätigkeiten und Dienstleistungen, ein Zusammenspiel verschiedener gesellschaftlicher Gruppen sind. Keine kann auf Dauer ohne die andere ohne Wandel und Beeinträchtigung leben. Die Wirtschaft im ländlichen Raum ist eng ineinander verflochten. Die Landwirtschaft ist hier ein Faktor unter vielen, aber ein sehr entscheidender. Sie ist zugleich Lieferant und Abnehmer. Sie ist häufig der Magnet für den notwendigen Zusammenhalt in der dörflichen Gemeinschaft.
Umstrukturierung wird sich nicht vermeiden lassen; das zeigt uns die Erfahrung. Dem Landwirt muß aber eine berufliche und soziale Alternative geboten werden.
Marktentlastung ist notwendig, kann aber nicht ein absolutes Ziel sein.Es gilt dabei auch, die fundamentalen Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt sowie die Infrastruktur zu bedenken. Auf der Grundlage der Brüsseler Beschlüsse vom Februar 1988 liegt ein Maßnahmenpaket vor, das auch die notwendigen sozialen Flankierungen enthält.Der Zug muß in Richtung Marktentlastung fahren. Er muß aber die Konsequenzen für unsere älteren Bauern berücksichtigen, die jedenfalls in strukturschwachen Betrieben vor der existentiellen Frage stehen, ob noch hohe Summen in den Betrieb gesteckt werden sollen, um die erforderliche Umorientierung zu vollziehen. Die Beantwortung dieser Frage ist in den Fällen besonders schwer, in denen ein Hofnachfolger nicht vorhanden und deshalb der Sinn weiterer Investitionen zum Durchhalten zweifelhaft ist.Gerade um Fehlinvestitionen zu vermeiden, hat die Bundesregierung eine Investition von 1,1 Milliarden DM über vier Jahre hinweg vorgesehen. Damit soll älteren Landwirten ohne Hofnachfolger die freie Entscheidung für die Gestaltung ihrer Zukunft erhalten bleiben, und zwar bei gleichzeitigem Angebot einer realistischen Alternative.Die von der Entscheidung des Unternehmers betroffenen Beschäftigten sollen — für die Bundesregierung ist dies selbstverständlich — ebenfalls sozial abgesichert werden. Es sollen für den Landwirt eine Rente in Höhe seiner erreichten Altersgeldanwartschaft sowie die soziale Absicherung für den Fall des Alters und der Krankheit gewährleistet sein. Die Entscheidung, ob er seinen Betrieb durch Stillegung der Fläche oder Abgabe an im Markt verbleibende Unternehmer einstellt, soll ihm freistehen. Er muß selbst am besten die für ihn in seiner derzeitigen Situation günstigere Lösung beurteilen können.Dies ist ein faires Angebot für alle 58jährigen und älteren landwirtschaftlichen Unternehmer ohne Zwang. Dem ländlichen Arbeitnehmer, der von dieser Entscheidung seines bisherigen Arbeitgebers unmittelbar berührt wird, sichern wir 65 % seines Bruttoarbeitsentgelts zu. Seine Rentenversicherungsbeiträge werden für die Zeit des Bezuges dieses Ausgleichsgeldes wie bei einer fortlaufenden Beschäftigung vom
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Parl. Staatssekretär HöpfingerBund weiter bezahlt. Diese Leistungen sollen auch die Arbeitnehmer und mitarbeitenden Familienangehörigen erhalten, die auf Grund einer Flächenstillegungsmaßnahme nach der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" ihren Arbeitsplatz verlieren. Ich meine, daß es sich insoweit durchaus um eine abgerundete Lösung handelt, die den Interessen aller Betroffenen Rechnung trägt.Im Grundsätzlichen gibt es erfreulicherweise offenbar weitgehende Zustimmung zu diesem Vorhaben. Bei der Kritik sollte man nicht verkennen, daß sich die vorgesehene Lösung als sozialpolitische Komponente in den großen Rahmen der Neuorientierung der gemeinsamen Agrarpolitik einordnen muß. Wir können deshalb nicht einen allgemeinen Vorruhestand für die Landwirte oder die Arbeitnehmer in der Landwirtschaft auf diesem Wege verwirklichen.Marktentlastung und Verbesserung der Struktur der im Markt verbleibenden Unternehmen können auch nicht gleichrangig für die Leistungsgewährung sein. Letzteres braucht aber nicht den Weg für Überlegungen zu versperren, wie ohne Mehrbelastung des Bundes eine Annäherung der in dieser Frage teilweise unterschiedlichen Standpunkte erzielt werden kann.Für die Abgrenzung des Personenkreises kann man sich, wenn man die Finanzierungsseite außer Betracht läßt, sicherlich eine weitere Fassung wünschen. Ich kann es aber angesichts der schwierigen Haushaltssituation und der bereits bekannten Zukunftsbelastung nicht als meine Aufgabe betrachten, hier heute unerfüllbare Erwartungen zu wecken, Wir haben durch zähes Verhandeln eine sozialversicherungsrechtlich, d. h. eine rentenrechtliche Lösung erreicht. Die betroffenen Landwirte haben damit gleichermaßen die Chance, eine Rente und somit soziale Absicherung im Alter und im Krankheitsfalle zu erhalten, wenn sie sich zur Einstellung ihrer landwirtschaftlichen Produktion entschließen.Im Interesse unserer älteren Landwirte, die vielleicht vor der schwierigsten Entscheidung ihres Lebens stehen und schneller Hilfe bedürfen, sollten wir gemeinsam alles daransetzen, die erreichten rentenrechtlichen Lösungen zu stärken. Nur mit Taten können wir den Landwirten für die Zukunft helfen.
Tun wir daher alles, was den betroffenen älteren Landwirten und ihren Angehörigen dient! Sichern wir ihnen möglichst zügig ihren Leistungsanspruch! Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, auch hier die Bitte um zügige Beratung.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wimmer.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf kann sicherlich nur im Gesamtzusammenhang der Agrarpolitik betrachtet werden. Wenn ich vor einigen Jahren die Agrarpolitik dieser Regierung mit der Echternacher Springprozession verglichen habe — drei Schritte vorwärts und zwei zurück — , so bin ich gerne bereit, meine damalige Feststellung zu korrigieren, und behaupte heute, sie bewegt sich zwei Schritte vor und drei Schritte zurück.
Im Ergebnis: In der Agrarpolitik geht es also rückwärts. Zu dieser Bewertung muß man kommen, sieht man sich die agrarpolitische Bilanz des Ministers Kiechle in der letzten Zeit an. Stillegungsprogramme, Milchrente, Gesetz zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit, über das wir heute in erster Lesung beraten, zielen vor allen Dingen auf den drastischen Abbau landwirtschaftlicher Arbeitsplätze, sind auf das Aufhören, die Einstellung landwirtschaftlicher Erwerbstätigkeit ausgerichtet.
Natürlich wissen wir alle, daß es einen langen landwirtschaftlichen Strukturwandel gegeben hat und auch in Zukunft noch gibt.
Das wissen die Landwirte und sicherlich auch ihre Kinder. Den Landwirten allerdings, die auch nach Inkrafttreten dieses Gesetzes auf ihren Höfen verbleiben, bieten Sie jedoch keine ausreichende Perspektive. Da haben Sie wenig oder nichts zu bieten. Um nachwachsende Rohstoffe, vor Jahren noch als d i e Lösung aufgebauscht, ist es still geworden; Bioethanol hat sich als eine Schnapsidee erwiesen.
— Das wird wahrscheinlich ein ähnliches Schicksal erleiden. — Beim Ausbau der direkten Einkommensübertragungen kommen Sie ebenfalls nicht voran; das zeigt der zähe Gang der Beratungen über die gerechte Verteilung des 2%igen Mehrwertsteueranteils ab 1989. Viele stimmen mit uns überein, wenn wir feststellen: Die Preispolitik als einziges Mittel zur Einkommenssicherung ist längst gescheitert. Daher können nur direkte Zahlungen möglichst viele Bauernhöfe existenzfähig halten. Und wir wollen viele Familienbetriebe aufrechterhalten.
Im Bereich der Landwirtschaft muß Einkommenssicherung u. a. auch mit sozialpolitischen Mitteln betrieben werden. Oberstes Gebot muß hier sein, daß die Gestaltung der Höhe der Beiträge und Leistungen sozial gerecht erfolgt,
auch im Vergleich zu den Regelungen in der allgemeinen Sozialversicherung. Genau hier hat die Bundesregierung bereits mehrmals versagt.1985 haben Sie beim Dritten Agrarsozialen Ergänzungsgesetz versäumt, eine wirklich gerechte und zu-
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Wimmer
kunftsfeste Reform der agrarsozialen Sicherung durchzuführen. Weniger als ein Jahr später haben Sie dann aus Angst vor der bäuerlichen Wahlenthaltung weitere Pauschalentlastungen beschlossen, angeblich, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.Immerhin — das gestehen wir zu und erkennen wir an — scheinen sich seit einiger Zeit auch im Regierungslager gewisse Erkenntnisse zu verbreiten. Auch Minister Kiechle sieht z. B. nicht mehr ein, daß der Eigentümer eines Großbetriebes für 187 DM Monatsbeitrag über 800 DM Altersgeld erhalten kann, die zu 80 % vom Staat gezahlt werden. Man sieht: Vernunft kennt keine Grenzen.
Hätten wir das gesagt, wäre es wieder als sozialistisches Teufelswerk bezeichnet worden, wie es vor Jahren bereits geschehen ist.Wir begrüßen aber, daß Sie sich jetzt grundsätzlich die Auffassung zu eigen gemacht haben, daß die Beitragsgestaltung in der agrarsozialen Sicherung stärker einkommensorientiert sein muß. Wir freuen uns, daß Sie endlich auf unsere Linie einzuschwenken scheinen, zumindest mit dem, was Sie sagen. Nur: Von der Ankündigung einer guten Ernte wird der Bauer nicht viel halten. Taten sind in diesem Bereich gefragt. Wo bleiben Sie?Zur großen Reform der Agrarsozialpolitik bisher: Fehlanzeige. Das Maydell-Gutachten vom Januar dieses Jahres bietet eine gute Diskussionsgrundlage, wie auch Minister Kiechle selbst feststellt. Trotzdem sind nicht einmal Umrisse der Agrarsozialreform erkennbar. Wenn nicht bald ein Entwurf vorgelegt wird, werden Sie den selbst gesetzten Zeitplan — bis 1990 — nicht einhalten können. Vielleicht wollen Sie es auch nicht.
Unterdessen werden Sie von der Entwicklung überrollt. Das zeigt die jüngst diskutierte dramatische Entwicklung der Finanzen der landwirtschaftlichen Alterskassen. Wird hier nichts getan, werden sich die Beiträge in wenigen Jahren verdoppeln und verdreifachen. Das zeigen die Berechnungen aus dem Hause Kiechle.Unabdingbare Kernpunkte einer Reform sind für uns: erstens die sozial gerechte Ausgestaltung der Beiträge zu allen drei Säulen der agrarsozialen Sicherung: der landwirtschaftlichen Altershilfe, der landwirtschaftlichen Krankenkasse sowie der landwirtschaftlichen Unfallversicherung. Ihr erster Versuch in dieser Richtung, das Dritte Agrarsoziale Ergänzungsgesetz, war lediglich ein winziger Schritt mit vielen Ungereimtheiten.
Auf jeden Fall muß das tatsächliche Gesamteinkommen in Zukunft mehr Berücksichtigung finden, wenn Beiträge durch Zahlung von Zuschüssen aus Bundesmitteln ermäßigt werden. Gefragt ist auch eine stärkere innerlandwirtschaftliche Solidarität.
Zweitens. Notwendig ist für uns ferner die Schaffung einer eigenständigen sozialen Sicherung derLandfrauen. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, daß die meisten landwirtschaftlichen Betriebe von den Ehegatten in gemeinsamer Arbeit bewirtschaftet werden. Der eigenständige Auszahlungsanspruch nach dem Dritten Agrarsozialen Ergänzungsgesetz kann lediglich als ein erster Schritt hierbei gelten.Drittens. Bei allen Maßnahmen müssen auch die Auswirkungen auf die landwirtschaftlichen Arbeitnehmer volle Berücksichtigung finden. Ich komme später noch einmal darauf.
Viertens. Schließlich benötigen wir verbesserte Einkommensmaßstäbe, nach denen die Beiträge zu bemessen sind. Es muß geprüft werden, ob z. B. § 13 a des Einkommensteuergesetzes noch zeitgemäß ist. Wenn alle Landwirte mindestens die sogenannte Schuhkartonbuchführung betreiben würden, wäre man bei der Beitragsgestaltung nicht mehr auf häufig ungerechte Ersatzmaßstäbe, z. B. aus der Einheitsbewertung, angewiesen.
Agrarsozialpolitik kann nicht isoliert gesehen werden. Sie muß stets in den agrarpolitischen Zusammenhang gestellt werden. Die heute in der ersten Lesung zu beratende Produktionsaufgaberente für die in der Landwirtschaft Beschäftigten ist ein Beispiel dafür. Dieses Gesetz hat eine soziale, eine marktentlastende — so hoffe ich — und eine strukturpolitische Bedeutung. Es ist notwendig, um den unvermeidbaren Strukturwandel sozial abzufedern. Es ist auch ein zwingender Bestandteil des Gesamtpakets der notwendigen Agrarreform.Nur kommt es um Jahre verspätet. Die Agrarkrise besteht nicht erst seit heute. Bereits Anfang der 80er Jahre
— ich gestehe auch das zu — war vieles erkennbar. 1982/83 waren wir uns schon einmal einig, die Landabgaberente in unveränderter Form weiterlaufen zu lassen. Diesen Konsens haben Sie verlassen; die Landabgaberente ist 1983 eingestellt worden.Später hat die EG-Kommission erste Vorschläge für eine Vorruhestandsregelung vorgelegt. Auch hier waren wir uns schnell einig, daß das eine sinnvolle Maßnahme ist. Auch die FDP hat sich hier immer wieder hervorgetan. Doch wie so oft: Sie kämpfte bis zum Umfallen. Wenn es zum Schwur kam, dann stand für die FDP die Koalitionsdisziplin höher als sachlich richtige Agrarpolitik.
Auch Minister Kiechles hoffnungsfrohes Warmlaufen in Sachen Vorruhestandsregelung wurde immer wieder von Finanzminister Stoltenb erg gebremst.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, selbstverständlich.
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Herr Kollege Wimmer, wollen Sie nach Ihren Ausführungen wenigstens zugeben, daß erstens die Abschaffung der Landabgaberente schon in der sozialliberalen Koalition beschlossen wurde und sie dann 1983 ausgelaufen ist, daß zweitens zu keiner Zeit so viele finanzielle Direktaufwendungen für die Landwirtschaft gemacht worden sind wie unter dieser Regierung und daß wir in der Zwischenzeit bei den agrarsozialen Leistungen nahezu bei 5 Milliarden DM angekommen sind?
Herr Gallus, ich kann nur wiederholen, daß wir in einer Reihe von Anträgen im Ausschuß gemeinsam der Auffassung waren, daß die Landabgaberente modifiziert fortgeführt werden sollte und daß die jetzige Koalition sie dann aber aufgegeben hat. Auch der Einwand von uns, daß die Landabgaberente in anderen EG-Ländern fortgeführt wird, hat bei Ihnen nichts bewirkt.
Das hoffnungsfrohe Warmlaufen von Minister Kiechle in Sachen Vorruhestand wurde immer wieder von Finanzminister Stoltenberg gebremst. Bereits vor zwei Jahren hätten wir einen nationalen Alleingang in dieser Frage unternehmen können. Im Vorgriff auf eine entsprechende europaweite Regelung wäre dies auf jeden Fall EG-konform gewesen. Bis in dieses Jahr hinein waren jedoch alle Ankündigungen von Minister Kiechle ungedeckte Schecks und nichts als heiße Luft. Auch jetzt, da die Bundesregierung endlich mit ihrem Entwurf vor den Bundestag tritt, sieht es so aus, als seien Herr Blüm und Herr Kiechle von Stoltenberg wieder gerupft worden. Das zeigt sich vor allem an der Heraufsetzung der Altersgrenze von 55 auf 58 Jahre.Wir begrüßen an dem Gesetzentwurf, daß es nunmehr zu einer Rentenlösung kommen soll. Jeder Anspruchsberechtigte muß auf Antrag auch Leistungen nach dem Gesetz bekommen. Es ist gut, daß das vom Finanzminister zunächst gewünschte „ Windhundverfahren " abgewendet wurde. In welcher Gedankenwelt lebt eigentlich der Herr Finanzminister, wenn auch sozial wirkende staatliche Leistungen nach dem Motto vergeben werden: Den letzten beißen die Hunde?Wie ich schon sagte, das heute eingebrachte Gesetz ist ein zwingender Bestandteil des Gesamtpaketes der Agrarreform. Das bedeutet, daß auch die von Ihnen stiefmütterlich behandelten anderen Maßnahmen des Pakets — Förderung der Extensivierung, Förderung der Erzeugungsumstellung, Neuverteilung des Mehrwertsteueranteils — nunmehr ohne Verzögerungen auch bis zum 1. Januar 1989 in Kraft treten müssen. Die Bauern haben einen Anspruch auf klare agrarpolitische Vorgaben. Alle neuen Maßnahmen müssen gleichzeitig angeboten werden, damit die bäuerlichen Familien die wichtigen Zukunftsentscheidungen in Kenntnis aller Möglichkeiten treffen können.
Die Bundesregierung schätzt, daß im kommenden Jahr nur etwa 9 800 Personen Leistungen nach diesem Gesetz beantragen werden. Diese niedrige Zahl hängt nach meiner Auffassung auch mit der in der Landwirtschaft weit verbreiteten Unsicherheit über die Agrarpolitik der Bundesregierung zusammen.In der Beantwortung meiner Anfrage hat Herr Staatssekretär Höpfinger mitgeteilt, daß die festgelegten Zahlen mit großen Schätzrisiken. natürlich auch mit großen Haushaltsrisiken verbunden sind und daß man aus den bisherigen Erfahrungen mit ähnlichen Vorgängen ableitet, daß nur für eine Anzahl von 9 800 Personen im ersten Jahr ein Anspruch eintritt.
Wir werden in den Ausschußberatungen auf eine Reihe unverbesserlicher — unverzichtbarer Nachverbesserungen — —
— Ich kann es auch anders formulieren: Wir werden einige Ihrer unverbesserlichen Fehler korrigieren müssen.Die Altersgrenze ist zu verändern. Dazu haben nur fiskalische Gründe geführt. Jahrelang ging Minister Kiechle mit der Vorruhestandsregelung ab 55 hausieren. Wohlgemerkt, es geht hier nicht darum, einer Gruppe der Bevölkerung Sondervorteile zu verschaffen. Es geht vielmehr darum, älteren Beschäftigten in der Landwirtschaft, die sich in einer unverschuldeten Zwangslage befinden, ein Angebot zu unterbreiten.Die Landwirtschaft befindet sich in einer langandauernden Strukturkrise, wie andere Bereiche der Volkswirtschaft — Stahl, Kohle, Werften — auch. Viele ältere Landwirte sind ohne Hofnachfolger; sie haben auch keinerlei Chancen auf einen anderen Arbeitsplatz. Nehmen sie das Angebot der Produktionsaufgaberente an, brauchen sie sich nicht bis zum Rentenalter oder bis zur Erwerbsunfähigkeit auf ihren häufig unzureichend ausgestatteten Höfen weiter zu quälen.Heute stellen bereits 50 % der Landwirte einen Antrag auf vorzeitiges Altersgeld, weil sie sich als erwerbsunfähig sehen. Auch deshalb muß das Zugangsalter zum Vorruhestand gesenkt werden.Die Bundesregierung verliert im übrigen völlig ihre Glaubwürdigkeit in Europa, wenn sie die von Minister Kiechle EG-weit verlangte Altersgrenze von 55 Jahren den deutschen Bauern vorenthält.
Auch die Regelung für die landwirtschaftlichen Arbeitnehmer muß dringend verbessert werden. Diese müssen auf jeden Fall einen eigenen Anspruch auf das Ausgleichsgeld nach § 9 des Entwurfes erhalten. Hier wissen wir uns einig mit den Tarifpartnern in der Landwirtschaft. Wenn der landwirtschaftliche Unternehmer frei entscheiden kann, ob er in den Vorruhe-
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stand geht oder an anderen Maßnahmen teilnimmt, muß dies auch für den landwirtschaftlichen Arbeitnehmer gelten. Er darf nicht vom Gutdünken seines Arbeitgebers abhängig sein.Wird nämlich die Entlassung eines älteren Arbeitnehmers z. B. mit Arbeitsmangel begründet, erhält er keinen Pfennig nach diesem Gesetz, auch dann nicht, wenn sein Arbeitgeber kurze Zeit später Flächen stillegt oder Produktionsaufgaberente beantragt. Ist das vielleicht in Ordnung? — Ich meine, nein.Dies ist eine klare gesellschaftspolitische Ungleichbehandlung, die verhindert werden muß. Die landwirtschaftlichen Arbeitnehmer — die Bundesregierung rechnet 1989 mit 200 Antragstellern — sind von der anhaltenden Agrarkrise genauso betroffen wie die Landwirte. Sie müssen daher die gleiche Wahlfreiheit bei der Annahme staatlicher Hilfsangebote erhalten.Des weiteren ist die vorgesehene Geltungsdauer des Gesetzes — drei Jahre — zu kurz. Oder will uns die Bundesregierung weismachen, in drei Jahren sei die Strukturkrise beendet und seien andere Probleme der Landwirtschaft gelöst?Wir werden im Ausschuß viele weitere Details zu bereden haben. Viele Regelungen sind flexibler als bisher zu gestalten. Ich nenne hier als Beispiel die Regelungen des § 3 Abs. 1 Satz 1, die Qualifikationsanforderungen an den übernehmenden Landwirt. Wir folgen hier der Empfehlung des Bundesrates, die langjährige Berufserfahrung mit formalen Berufsabschlüssen gleichzusetzen.
Dieses Gesetz — auch darüber muß in den Ausschüssen gesprochen werden — enthält auch Gefahren, wenn es regional sehr stark in Anspruch genommen wird: Es kann zur Ausdünnung ländlicher Räume kommen. Dies wollen wir alle sicher nicht. Dem ist dann durch geeignete Maßnahmen vorzubeugen.Ich hoffe, daß viele Verbesserungen, die von unserer Fraktion, vom Bundesrat, von den Verbänden und den Organisationen eingebracht und angeregt werden, bei den Beratungen in den Ausschüssen erreicht werden.Wir werden der Überweisung der Gesetzesvorlage zustimmen und versichern, daß wir uns bemühen, im Ausschuß so schnell als möglich mit dem Gesetz zu Rande zu kommen.Ich sprach am Anfang von der Echternacher Springprozession. Diese wird an jedem Pfingstdienstag — wie viele wissen — als wiederkehrendes Dankfest für das Aufhören einer Tierseuche im Mittelalter durchgeführt. Ich glaube, die Bundesregierung kann nur hoffen, daß nicht eines Tages eine bäuerliche Dankprozession für das Ende dieser Regierung durchgeführt wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Funk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Wimmer, wenn ich es mir recht überlege, haben Sie als Oppositionsredner eigentlich Lob und Tadel gleichmäßig verteilt, denn wenn man Sie länger kennt, weiß man: Der Tadel, den Sie angebracht haben, ist nicht so schwerwiegend. Sie wissen ja auch um die Problematik ganz genau. Es ist sicher auch so, daß man es nicht der Regierung anlasten kann, daß in der bäuerlichen Sozialversicherung auf einen Beitragszahler heute schon ein Altershilfeempfänger kommt. Das ist die demographische Entwicklung in der Landwirtschaft, die man auf gar keinen Fall dieser Regierung anlasten kann. Der Strukturwandel hat eben solche Lücken in die Reihen unserer Bauern gerissen.
Es sind schließlich auch für benachteiligte Gebiete Mittel eingestellt worden, und es sind für das 3. ASEG erhebliche Geldleistungen erbracht worden.
Immerhin muß man feststellen, daß sich die Bundesregierung seit Jahren innerhalb der Europäischen Gemeinschaft darum bemüht, die Überschüsse abzubauen. Das ist die wichtigste Aufgabe. Wird diese nicht wirkungsvoll gelöst, so geht selbstverständlich der Preisdruck auf den Märkten weiter, und die Bauerneinkommen sinken. Aber wir sind in diesem Kampf um die Rückführung der Agrarproduktion nicht allein, sondern haben elf andere EG-Mitgliedstaaten. Auch muß man hier feststellen: Die Einführung der Garantiemengenregelung für Milch hat bewiesen, daß mit dem Abbau der Überschüsse etwas erreicht wird.
Die Erlöse werden bei der Milch heute wieder auf den Märkten erwirtschaftet. Dies kann man feststellen. Da die Mengenziele für die gesamte EG gelten, ist das eben nicht so einfach.
— Ich bitte Sie, mich ausreden zu lassen. Ich würde bei Ihnen solche Zwischenrufe auch nicht machen.
Wir sind der Meinung, daß nur ein Bündel von Maßnahmen in der Lage ist, die agrarsoziale und überhaupt die Gesamtlage der Landwirtschaft zu verbessern.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Oostergetelo?
Wenn sie nicht angerechnet wird, sonst nicht.
Nein, sie wird nicht angerechnet.
Bitte sehr.
Herr Kollege, da Sie gerade dabei sind, die Wohltaten dieser Regierung auf zuzählen, und dabei die Milchquote genannt haben, frage ich Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß bei diesem Erfolg, daß sich die Überschüsse abbauen
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Oostergetelound daß sich der Preis gehalten hat — das ist wahr —, drei Viertel der Bauern keine Zukunftschance mehr haben und daß wir mehr bäuerliche Betriebe verloren haben als je in anderen Jahren zuvor?
Jetzt sage ich folgendes: Ohne die Milchgarantiemengenregelung wären noch mehr Betriebe zum Ausscheiden gezwungen gewesen als mit dieser Garantiemengenregelung.
Bei dieser Behauptung bleibe ich.
Nun, wir wollen hier ein Gesetz auf den Weg bringen, das mit seiner Rentenlösung als — da möchte ich dem Kollegen Wimmer ausdrücklich zustimmen — ein gutes Gesetz bezeichnet werden kann. Wir wollen damit erreichen, daß wir zu einer weiteren Marktentlastung kommen. Bei der Stillegung von Stallkapazitäten ist es möglich, daß wir auf dem Veredelungssektor Rückführungen bekommen, auch bei der Milch, und es ist, wenn die Flächen stillgelegt werden, auch möglich, daß es bei den pflanzlichen Produkten zu Rückführungen kommt.
Aber gerade im Süden der Bundesrepublik wird meiner Meinung nach der Strukturverbesserung der Vorzug gegeben werden, weil die Landwirte einfach in kleinstrukturierten Betrieben arbeiten und weil es dort mehr Menschen gibt, die Landwirte bleiben wollen. Diese Möglichkeit wollen wir in dem Gesetz ausdrücklich einräumen.Bei der Diskussion werden wir sicher auch über die soziale Absicherung der älteren Landwirte reden müssen: Wie können wir verhindern, daß die Landwirte — —
— Im Ausschuß reden wir und handeln wir! Sie müssen ein bißchen abwarten, bis ich das sage, was ich sagen will. Ein bißchen Geduld müssen Sie schon haben.Hier muß uns insbesondere die landwirtschaftliche Beratung helfen. Wir wollen nämlich auch verhindern, daß die Landwirte ihr Vermögen verbrauchen oder gar mit Schulden in die Rente gehen.Schließlich möchten wir auch eine Umweltkomponente mit verfolgen. Auf Flächen, die nicht intensiv genutzt werden, entfallen nämlich die Aufwendungen für Dünger und Pflanzenschutzmittel, und damit kommt es zu einer Entlastung der Kulturlandschaft insgesamt.Der Gesetzentwurf unterscheidet zwischen Hilfen für Stillegung und der strukturverbessernden Abgabe. Es wird im Ausschuß ein Diskussionspunkt sein, ob wir eine Annäherung hinsichtlich der Entschädigung für die Flächen und auch hinsichtlich des sozialen Ausgleichs schaffen können. Dies ist im Ausschuß meiner Meinung nach notwendig.Ansonsten ist es so: Wenn wir nur in der Bundesrepublik Flächen stillegen, dann werden die Marktanteile unserer Landwirte immer weniger.Im Laufe der Beratungen wird es notwendig sein, auch darüber nachzudenken, was kurz- und langfristig mit stillgelegten Flächen von Betrieben geschieht, insbesondere solchen ohne Hofnachfolger. Ich bin der Auffassung, daß wir immer mehr Flächen für Wasserschutzgebiete brauchen.
Dort, wo es möglich ist, könnten solche Flächen auf dem Wege des freiwilligen Landtauschs einem solchen Schutzzweck zugeführt werden — hier sind die Länder, aber auch die Kommunen gefragt —, denn die Ausweisung von Wasserschutzgebieten halte ich für sehr wichtig. Ich bin der Auffassung, dort, wo keine Hofnachfolger vorhanden sind, muß für die Flächen mittelfristig eine Verwendung gefunden werden. Hier allein Landschaftspflege zu betreiben wird meiner Meinung nach zu teuer. Der betroffene Landwirt kann die Flächen außerhalb der Schutzgebiete im Tausch erhalten, wo er dann wirtschaften kann. Dies halte ich für eine überlegenswerte Extensivierungsmaßnahme, die wir hier bei dieser Gelegenheit mit in die Diskussion einbringen sollen. Dies bedarf im Verlauf der Beratungen noch einer Klärung.So besteht auch die Forderung, die Zugangszeiten von drei Jahren auszudehnen und das Eintrittsalter zu senken. Hier sind wir offen. Das ist ein Wunsch auch des Berufsstandes; dem sollten wir uns offen zeigen. Dies ist erforderlich, um eine nachhaltige Strukturverbesserung und Marktentlastung zu erzielen.Ebenso muß der Übergang von der Teilflächenstillegung auf die Produktionsaufgaberente, sofern die erforderlichen Voraussetzungen gegeben sind, geprüft werden.Aus sozialen Gründen sollte auch geprüft werden, ob die Berufsunfähigkeit der Altersvoraussetzung gleichgestellt wird. Gerade für berufsunfähige Betriebsinhaber wäre dies eine Möglichkeit, die landwirtschaftliche Erwerbstätigkeit sozial abgesichert aufzugeben.Schließlich muß untersucht werden, wie außerlandwirtschaftliche Einkommen berücksichtigt werden, um eine gerechte Behandlung von Voll-, Zu- und Nebenerwerbslandwirten zu erreichen.Nicht zuletzt muß auch für die betroffenen Arbeitnehmer in der Landwirtschaft eine befriedigende soziale Lösung gefunden werden. Daran werden wir mitwirken. Da stimme ich Ihnen voll zu, Herr Kollege Wimmer. Es ist ganz klar: Wenn ein Betrieb aus strukturellen Gründen an dieser Aufgaberente teilnimmt, dann muß auch der verbleibende Arbeitnehmer bzw. die verbleibende Arbeitnehmerin, die ihr ganzes Leben in dem Betrieb gearbeitet haben, eine befriedigende Lösung hinsichtlich ihrer Einkommensansprüche und auch ihrer sozialen Absicherung bekommen.Ich darf zusammenfassend folgendes feststellen: Ich meine, daß wir Agrarpolitik am liebsten mit Marktgleichgewicht und mit einem guten, auskömmlichen Preis für alle Bauern machen würden. Dieser Weg ist
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Funk
mühsam und ist uns momentan verwehrt. Auf diesen Weg wollen wir zusteuern.
Der Weg ist mühsam und das Ziel nicht einfach zu erreichen.Wir werden uns auch über die Sozialpolitik unterhalten müssen. Wir müssen hier feststellen, Herr Kollege Wimmer, daß es von den Betrieben, die Sie hier vorgestellt haben, knapp 5 000 gibt. Wenn Sie die Agrarstatistik heranziehen, stellen Sie fest, daß es knapp 5 000 Landwirte im Bundesgebiet gibt, die unter solchen Verhältnissen leben, wie Sie es aus einem Betrieb vorgestellt haben. Alle anderen sind mehr oder weniger darauf angewiesen, daß sie bei dem derzeitigen Preis-Kosten-Verhältnis Beihilfen und Zuschüsse des Staates bekommen, sonst kommen sie im europäischen Wettbewerb nicht über die Runden.Schließlich wollen wir mit dieser Gelegenheit ja auch erreichen, daß die Landwirtschaft in Deutschland nicht noch stärker zurückgeführt wird, als dies ohnehin der Fall ist.
Denn wenn wir hier immer mehr Marktanteile einseifig aufgeben, werden sie von den anderen EG-Mitgliedstaaten übernommen. Das werden sie gerne tun.
Sie arbeiten ja an all diesen Dingen. Deswegen müssen wir versuchen, daß die Produktionsbeschränkungen in der ganzen EG zur Durchführung kommen. Das ist auch das Ziel der Regierung. Daran wird zäh gearbeitet. Ich wünsche einfach, daß es uns gelingen möge, das Gleichgewicht der Märkte zu erreichen, wenn diese Reduzierungsmaßnahmen konsequent in allen EG-Ländern durchgeführt werden.Ich wünsche dem Gesetzentwurf eine gute, zügige Beratung mit dem Ziel:
Möge es uns gelingen, die aufgezeigten Ansprüche so miteinander zu verbinden, daß den betroffenen Landwirten echt geholfen wird und daß die anderen Ziele, die wir mit dem Gesetz erreichen wollen, ebenso einer guten und befriedigenden Lösung zugeführt werden können.Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Kreuzeder.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! An dem Gesetzentwurf, der zur Beratung ansteht, kann man ganz wunderbar aufzeigen, wohin die Agrarpolitik dieser Regierung eigentlich geht. Ich erinnere mich da an die Sprücherl bei der Regierungserklärung unseres Herrn Bundeskanzlers, eine größtmögliche Zahl von Betrieben zu erhalten. Die Regierung will nichts anderes, als eine größtmögliche Zahl von Betrieben vernichten. Das ist das wirkliche Ziel ihrer Agrarpolitik.
Schon allein der Titel des Gesetzes — das Gesetz nennt sich „Gesetz zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit" — zeigt, was die Regierung für die Bauern und für die Bäuerinnen wirklich will.
Unser Wundermann, der Herr Gallus,
hat erst kürzlich auf einer Versammlung gesagt, man müsse froh sein, wenn 30 % der Vollerwerbslandwirte übrigbleiben, und die Verursacher sind für ihn irgendwo, sind die Bösen bei der EG und so. Dieses Gesetz zeigt, daß Sie sich wirklich alle Mühe geben, um die 30 % in allerkürzester Zeit zu erreichen; so ist es. Das ist kein Gesetz, das Bäuerinnen und Bauern für 40 Jahre schwere Arbeit belohnt, damit sie in den Vorruhestand gehen können, weil sie den Buckel krumm gemacht haben, weil sie wie die Wahnsinnigen haben arbeiten müssen, da die Regierung eine Politik macht, bei der man für eine richtige Arbeit nichts mehr kriegt.
— Herr Gallus, ich kenne Sie in- und auswendig, ich brauche von Ihnen keine Zwischenfrage. —
Es ist also kein Gesetz, das z. B. die Übergabe an Hofnachfolger erleichtert. Ganz im Gegenteil: Die Aufgabe des Betriebes ist der Sinn dieses Gesetzes. Man stelle sich das einmal vor: Bei 50 000 verlorenen Arbeitsplätzen im letzten Jahr fällt der Regierung nichts anderes ein, als das zu beschleunigen. Bei 3 Millionen Arbeitslosen werden sinnvolle, selbständige Arbeitsplätze vernichtet,
und dies wird mit dem Gesetz, das ihr da macht, auch noch beschleunigt. Nichts anderes ist das! Warum steht da z. B. drin, daß die Abgabe an Verwandte in direkter Linie oder an deren Ehegatten ausgeschlossen, verboten ist?
Warum ist das so?
Sie haben uns die entsprechende Verordnung noch gar nicht auf den Tisch gelegt, und wir sollen über ein Gesetz beraten, obwohl die Hälfte noch abgeht. Eine Rechtsverordnung bestimmt Einzelheiten, wie man die Flächen dann pflegen soll. Pflege bedeutet natürlich finanzielle Belastung für die Rentner und Rentnerinnen, die von dem Gesetz betroffen sein werden, Pflege bedeutet Arbeit. Pflege kann auch bedeuten, daß die Damen und Herren in der Landwirtschaft, die
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Kreuzederauf die Maus voll draufgehen — das Gesetz ist für mich eine Mausefalle —,
z. B. von dem Almosen, das Sie Rente nennen,
einen Teil von der Rente an die Gemeinden abführen müssen, damit die Gemeinden die Flächen pflegen, weil sie selbst gesundheitlich dazu nicht mehr in der Lage sind. Man darf die Flächen auch abgeben, mindestens neun Jahre — natürlich nur an Wachstumsbetriebe, weil Wachstumsbetriebe Überschuß erzeugen und mit Überschuß in unserem Land das meiste Geld verdient wird.
§ 3 sagt, bei Verkauf von Flächen darf der Erlös höchstens die Verschuldung abdecken. Es gibt ein paar Ausnahmen, nämlich wenn man an Grundstücksspekulanten, zum Zwecke der Flurbereinigung oder für den Straßenbau verkauft. Das ist der eigentliche Hintergrund des Gesetzes — das müßte auch die SPD einmal merken — : Die Herrschaften wollen eine Mobilisierung von Grund und Boden. Denn sie brauchen pro Tag schon 165 Hektar für Versiegelung, für Truppenübungsplätze usw.
Und die „Bürgerinis" und die Bauern, die nicht mitmachen, die sich enteignen lassen, gehen euch dann auf dem Wege um. So ist das.
Und dann darf man die Flächen auch noch für den Naturschutz abgeben. Das ist eine reine Alibiveranstaltung; das wissen wir längst. Die ganzen kompetenten Institutionen und Verbände haben gesagt: Flächenstillegung ist für den Naturschutz ein trojanisches Pferd, nichts anderes. Sie lernen halt nichts dazu, da kann man nichts machen. Was wollen Sie? Sie wollen die Kulturlandschaft in Beton-, in Nutz- und Schmutzgebiete aufteilen, nichts anderes.
Dazu wird das Gesetz gebraucht.Wir, die GRÜNEN, wollen das Gegenteil.
Wir wollen eine Vorruhestandsregelung, aber eine Vorruhestandsregelung, bei der die Erhaltung und die Übergabe des Hofes an die Nachfolger gesichert sind.
— Ruhe auf den billigen Plätzen! —
Wir wollen nicht — so wie es jetzt ist — , daß es jungen Menschen nicht mehr möglich ist, den eigenen Hof zu übernehmen.Wir haben deshalb beantragt, daß die Mittel für die Produktionsaufgaberente im Haushalt gestrichen werden. Wir wollen die für 1989 vorgesehenen Mittel, die 115 Millionen DM, für eine Betriebsübergaberente zur Förderung der Abgabe des Betriebs an den Hofnachfolger oder die Hofnachfolgerin einsetzen. Wir fordern einfach eine grundsätzlich andere Agrarpolitik als die, die Sie betreiben.
Ich gehöre natürlich nicht zu den Realos oder zu den Fundis, sondern zu den Normalos. Ich kann mit der SPD überhaupt nicht einig sein. Wenn die SPD nicht begreift, was im Lande vorgeht, dann bitte ich die lieben Zuschauerinnen und Zuschauer in dem Raum, sich dies einmal zu überlegen: In völlig sinnlosen Bereichen, bei der Rüstungsindustrie, bei der Raumfahrt, bei der Atomenergie, werden neue Arbeitsplätze geschaffen oder alte mit aller Macht erhalten. Da geht das. Dort jedoch, wo eine sinnvolle Arbeit geleistet wird, wo Lebensgrundlagen zum Schaffen für die nächsten Generationen da sind, wird stillgelegt.
Auf bayerisch — ich weiß nicht, ob Sie alle das verstehen — nennt man das eine Sauerei.
Zum Schluß, Herr Gallus, habe ich noch eine Bitte an Sie. Unser Herr Minister ist nicht da. Er hat mich das letzte Mal ein bißchen beleidigt. Sagen Sie ihm einen schönen Gruß: Wer Stillegung als Erhaltung verkauft, wer von seinem eigenen kohlschwarzen Verband ausgeladen wird statt eingeladen, der ist für mich der wirkliche Hansdampf der Agrarpolitik. So hat er mich nämlich das letzte Mal genannt.Danke schön fürs Zuhören.
Das Wort hat der Abgeordnete Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich bezweifele, daß ich den Unterhaltungswert zusammenbringe wie Sie, Herr Kollege Kreuzeder. Aber wenn man den Unterhaltungswert einmal beiseite läßt: Den Rest, den Sie gesagt haben, kann man, glaube ich, vergessen.
Wenn ich daran denke, was Sie trotz besserer Kenntnis der Tatsachen über den Nutzen und die Verbesserung des Umweltschutzes gesagt haben, muß ich sagen: Entweder haben Sie das Gesetz nicht gelesen, oder Sie wollen einfach nur herumkaspern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bereits vor drei Jahren hat meine Partei ein Gesetz gefordert, das älteren Landwirten die Möglichkeit eröffnen sollte, vorzeitiges Altersgeld zu beziehen. Für uns galt
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Heinrichschon seit langem, daß der Strukturwandel in gezielten Bahnen weitergehen muß
und daß diese Maßnahme des vorzeitigen Bezugs von Altersgeld ein ideales Instrument darstellt, um diesen Strukturwandel sozial abzufedern.Mit dem Gesetzentwurf zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit wird unseren Hauptforderungen Rechnung getragen, nämlich nach einer rentenrechtlichen Lösung. Was uns weniger gefällt — da muß ich dem Kollegen Wimmer Recht geben — , ist, daß die Altersgrenze von 55 Jahren, die von uns eigentlich immer gewünscht war, auf 58 Jahre heraufgesetzt worden ist. Mit dieser Verkümmerung dieses Gesetzes müssen wir jetzt versuchen, doch noch vernünftig über die Runden zu kommen. Ich bin aber der Meinung: Daß wir hier zugunsten einer rentenrechtlichen Lösung zurückgesteckt haben, läßt sich rechtfertigen. Das ist auch vernünftig gewesen, weil wir die rentenrechtliche Lösung bekommen haben, und das ist — das möchte ich auch sagen — mit der FDP zu verdanken.
Ich betone nochmals: Uns erscheint die Altersbegrenzung als das kleinere Übel im Vergleich zu einer finanziellen Plafondierung.Dieses Gesetz eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit, wichtige Forderungen des Natur- und Umweltschutzes zu erfüllen.
In großem Maße können nämlich Flächen verkauft werden oder langfristig verpachtet werden, damit darauf Biotope angelegt werden können. So wird dem berechtigten Anliegen eines verbesserten Umweltschutzes Rechnung getragen.
Wenn Sie von Verbesserungen der Umwelt Kenntnis haben, dann stimmen Sie mir auch zu, daß man mit auf relativ kurze Zeit angelegten Biotopverletzungen relativ wenig anfangen kann, daß man die Dinge langfristig sehen muß. Deshalb ist dieses Gesetz ausgezeichnet geeignet, hierfür die Voraussetzung zu schaffen.
— Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen, dann müssen Sie sie so stellen, daß ich sie verstehe. Ich kann sie so nur sehr undeutlich verstehen.Eine auch darüber hinausgehende Flächenstillegung, nämlich über den reinen Natur- und Umweltschutz, war für uns immer ein wichtiger Bestandteil unserer Forderungen; denn das Ziel, auch mit diesem Gesetz die Produktion zu verringern, darf man nicht aus den Augen verlieren. Eine Verbesserung derStruktur, nämlich die Möglichkeit der Flächenabgabe, d. h. Verpachtung, ist ebenfalls vorgesehen, wenn auch zu wesentlich schlechteren Konditionen als bei der Stillegung, weil im Gesetz zur Stillegung bei der Weiterverpachtung die Beiträge zur landwirtschaftlichen Alterskasse vom Landwirt selbst aufzubringen sind.Hier setzt auch meine persönliche Kritik an dem Gesetzentwurf ein. Ich persönlich bin der Meinung, daß wir beide Ziele, nämlich die Marktentlastung und die Strukturverbesserung, d. h. Weiterverpachtung, gleichwertig nebeneinander verfolgen sollten. Die vom BML unterstellte Aufteilung von 50 % Stillegung und 50 % Weiterverpachtung an andere Landwirte sollte möglichst im gesamten Bundesgebiet erreicht werden.
— Auf die EG komme ich gleich zu sprechen.Insbesondere in schlecht strukturierten Ländern, wie Bayern, Hessen, Saarland,
Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, mit vielen Kleinbetrieben führt die vorgesehene Regelung dahin, daß auf Grund der finanziellen Vorteile für die Stillegungen wohl kaum mehr Land zur Aufstockung anderer Betriebe angeboten werden wird mit der Folge, daß sich die Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Norden Deutschlands, erst recht aber gegenüber anderen europäischen Mitgliedstaaten noch verschlechtert. Dies darf auf keinen Fall eintreten.Bisher ist in Bonn kein einziges EG-Land bekannt, das sich zur Zeit um die Gesetzesvorbereitung zu einer wie auch immer gestalteten Produktionsaufgaberente für seine Landwirte bemüht.
Frau Flinner, im übrigen ist es wahrscheinlich, daß bei einer etwaigen Durchführung bei unseren Nachbarn sowieso die Strukturverbesserung im Vordergrund stände. Eine Strukturverbesserung innerhalb der deutschen Landwirtschaft ist um so wichtiger, als wir sowieso strukturbedingte Nachteile zu verzeichnen haben und mit Sicherheit davon auszugehen ist, daß uns ab 1992 ein noch schärferer Wettbewerbswind entgegenbläst.Den Betrieben, denen wir heute vernünftige Aufstockungen verwehren, müssen wir morgen mit zusätzlichen Hilfsmaßnahmen unter die Arme greifen. Die stehen dann morgen an der Schwelle, Produktionsaufgaberente beantragen zu müssen. Deshalb müssen wir heute die notwendigen strukturellen Verbesserungen hier mitaufgreifen.Ich halte dieses Gesetz gerade für einen klassischen Fall, in dem wir aufzeigen können, wie direkte Einkommenshilfen verteilt werden können — wovon Sie auch immer reden — , wie Produktion vermindert wird, wie Strukturwandel sozial abgefedert werden kann und wie im Wettbewerb weiter wirtschaftenden Betrieben eine Entwicklungschance eingeräumt wer-
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Heinrichden kann. Mit einem Gesetz bekommen wir diese vier wichtigen Positionen unter Dach und Fach. Aus diesem Grund müssen wir im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens versuchen, daß wir die Strukturkomponente attraktiver machen, ohne gleichzeitig eine Flächenstillegung zu verhindern.
Es bieten sich dazu verschiedene Möglichkeiten an. Ich möchte heute auch mit Blick auf die Uhr nur einige Stichworte in die Debatte werfen: erstens Übernahme der Beiträge zur landwirtschaftlichen Alterskasse auch bei Weiterverpachtung durch den Bund; zweitens Gewährung eines Zuschusses zum Beitrag — das ist das, was Herr Staatssekretar Höpfinger vorhin angedeutet hat, was derzeit wohl in der Überlegung ist; das habe ich hier mit sehr großer Freude festgestellt —; drittens Festlegung eines bestimmten Prozentsatzes an Fläche, die in jedem Fall stillgelegt werden muß. Wir sollten uns im Ausschuß darüber unterhalten, ob das nicht eine Möglichkeit ist, um sicherzustellen, daß Flächen auch wirklich stillgelegt werden, ohne daß wir von Grund auf die finanzielle Situation bei der Strukturkomponente verschlechtern müssen.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, das Gesetz, das vom Grundsatz her hervorragend ist, bedarf noch einiger Korrekturen. Wir werden uns im Ausschuß intensiv damit beschäftigen. Das, was Herr Kollege Wimmer hier zum Gesetz gesagt hat, möchte ich ausdrücklich unterstreichen. Ich kann wesentliche Teile seiner Aussagen übernehmen. Hier haben wir keine Probleme. Deswegen bin ich auch überzeugt, daß wir die Beratungen zügig aufnehmen können.Ich möchte uns allen zurufen: Machen wir uns ans Werk, damit dieses wichtige Gesetz zum 1. Januar 1989 wirksam werden kann; denn viele Tausende von Bauern draußen — ich sage das ganz bewußt — warten auf dieses Gesetz, um daran teilnehmen zu können — im Gegensatz zu Ihren Prophezeiungen, Herr Kreuzeder.Danke schön.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schartz.
Frau Präsident! Sehr geehrte Damen! Meine Herren! Den letzten beißen die Hunde. Ich kann nur einige wenige Sätze zu diesem Gesetzentwurf sagen.
Der Zielpunkt dieses Gesetzes, älteren Bauern und älteren landwirtschaftlichen Arbeitnehmern zu helfen, ist richtig. Der Lösungsansatz, eine lebenslange Rente zu gewähren, ist die richtige Lösung.
Dieses Gesetz hat aber auch Schwächen. Ich will sie auch als ein Abgeordneter der Regierungskoalition nicht verdecken. Es ist für mich nicht akzeptabel, daß dieses Gesetz eine so hervorragende Bevorzugung der Flächenstillegung und eine Benachteiligung der Weiterverpachtung an weiterwirtschaftende Betriebe vorsieht. Ich sage für meine Person: Ich werde einem solchen Gesetz nicht zustimmen können, wenn diese Regelung nicht anders wird. Ein Unterschied von 220 DM im Monat, die bei der Flächenstillegung der Bund übernimmt und die bei einer Verpachtung an andere Betriebe der Verpächter selbst tragen muß, ist für meine Begriffe nicht akzeptabel.
Ich möchte ein positives Wort zu diesem Gesetz sagen. Meine Kollegen, wir bemühen uns zur Zeit sehr darum, den Bundeshaushalt solide zu finanzieren. Wir wissen, daß dies auch mit Ausgabenkürzungen verbunden ist. Wenn in diesem Gesetzentwurf 1,1 Milliarden DM für die soziale Absicherung älterer Bauern vorgesehen sind, so verdient das Lob und Anerkennung nicht nur der Politik, sondern auch des landwirtschaftlichen Berufsstands.
Ich bin überzeugt davon, daß es richtig ist, ein solches Gesetz zu schaffen. Es wird eine Komponente Marktentlastung haben. Es wird die soziale Absicherung der Bauern zur Folge haben. Wir müssen jetzt dafür sorgen, daß dieses Gesetz — ich schließe mich sehr dem Kollegen Heinrich an — in seiner Beschlußfassung nicht so eng angelegt wird, daß es nur die aufgebenden Betriebe sieht. Wir müssen die Zukunftsaussichten der verbleibenden Betriebe sehen.
Ich setze darauf, daß dieses Gesetz in den Beratungen verbessert wird. Es ist in seiner Grundstruktur eine gute Gesetzesvorlage. Wir sollten daraus ein gutes Gesetz machen.
Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Bundesregierung sowie die Drucksache 11/3005 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Kein Widerspruch. So beschlossen.
Ich rufe Punkt 19 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Dienstleistungsabends
— Drucksache 11/2973 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Kein Widerspruch. So beschlossen.
Ich darf nur anmerken: Wir haben noch mindestens drei Stunden Beratungszeit.
Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Blüm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum Dienstleistungsabend: Viele kommen aus dem Auslandsurlaub zurück und schwärmen, wie schön es in Spanien, Italien, Frankreich, jetzt auch in Osterreich
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Bundesminister Dr. Blüm— auch in Schweden — ist, wo die Läden offen sind. Sie kommen heim, und bei uns? 18.30 Uhr, und die Läden sind dicht. Manche von denen, die schwärmen, wie schön es im Ausland ist, nehmen dann anschließend an Demonstrationen der Gewerkschaft HBV gegen Öffnung der Ladenschlußzeiten teil. Ich finde: Laßt uns doch aus den Erfahrungen anderer Länder lernen.Das heißt auch, ein Stück Leben in die Städte, die Gemeinden bringen, aus den alten, starren Gewohnheiten aussteigen. Ist es denn normal, daß unsere Städte Menschen anschwemmen und abschwemmen wie Ebbe und Flut, daß zu bestimmten Zeiten Straßen überfüllt, verstopft sind und in anderen Zeiten die Straßen zu Spielplätzen umgebaut werden könnten? Ist das noch normal? Könnten wir nicht durch eine neue Zeitordnung auch die Raumordnung entlasten? Wir bauen eine Infrastruktur, die immer nur für Höchstbelastungen geeignet ist und dann brachliegt. Könnten wir unser Leben nicht etwas entkrampfen? Könnte nicht der Dienstleistungsabend dazu beitragen, mehr Lebensqualität, mehr Freiheit, mehr Selbstentscheidung zu ermöglichen.Ich denke im übrigen auch an die Erwerbstätigen selber. Viele von denen, die in die Tagesarbeit eingespannt sind, haben abends kaum noch Zeit. Mit hängender Zunge rennen sie in die Geschäfte, um den letzten Einkauf zu tätigen.Wäre es nicht auch für die Familie schön, sie könnte abends flanieren, Gaststätten besuchen?
— Nur Gaststätten langt für Familien vielleicht nicht. Laßt die Leute doch selber entscheiden, wohin sie gehen. Der eine geht ins Kaufhaus, der andere geht in die Gaststätte. Und der dritte mag beides. Auch das wäre noch möglich. Dann könnten die Familien den Abend wirklich als Feierabend nehmen. Vielleicht gehört zu einem schönen Feierabend auch, einkaufen zu können.
Mein Plädoyer für den Dienstleistungsabend ist ohne jede Ideologie. Wer ihn nicht haben will, braucht ja nicht hinzugehen. Und wer sein Geschäft nicht aufmachen will, kann es ja geschlossen lassen. Wir zwingen überhaupt niemanden, den Dienstleistungsabend in Anspruch zu nehmen, und wir zwingen auch niemanden, ihn anzubieten. Wir wollen nichts anderes— was haben Sie eigentlich dagegen? — , als daß beides möglich ist.Die Gesamtarbeitszeiten werden dadurch nicht verändert. Die Gesamtöffnungszeiten werden dadurch nicht verändert. Also, es ist überhaupt nicht daran gedacht, daß die Arbeitnehmer mehr belastet werden sollen. Ihre Gesamtarbeitszeiten werden nicht verändert.Im übrigen hätte das auch Vorteile für die Geschäfte: Wenn ich einen mittelständischen Laden hätte — ich habe leider keinen — —
— Viele wünschen mir einen kleinen Bauchladen. Aber ich bleibe, vorerst jedenfalls, noch hier.Wenn ich also ein kleines, mittelständisches Unternehmen hätte, würde ich mir die Lücken aussuchen, wo die großen Kolosse unbeweglich sind.
— Ich habe das noch als Lebensziel für einen dritten Abschnitt. Ich will der Opposition nicht den Gefallen tun, diesen dritten Abschnitt so schnell in Angriff zu nehmen.Ich plädiere für Entkrampfung unserer Lebensgewohnheiten, für ein Heraustreten aus dieser Kolonnengesellschaft, aus dieser Parademarsch-Gesellschaft. Ich kehre zu meinem Begriff aus der Debatte von vor zwei Stunden zurück, daß wir eine Gesellschaft möchten, die nicht in Kolonnen organisiert ist, daß wir eine Gesellschaft möchten, in der mehr Optionen, mehr Wahlmöglichkeiten für den einzelnen vorhanden sind. Sie sehen — auch das ist vielleicht eine Überraschung — , daß die CDU eine sehr liberale Partei ist, daß wir die Menschen entscheiden lassen wollen, wie sie ihr Leben einrichten, und nicht die Bürokraten.Im übrigen: Wir beginnen das ganz vorsichtig, in der Tat um Erfahrungen zu sammeln, mit einem Tag in der Woche. Daß wir uns auf einen Tag festlegen, hat erstens etwas damit zu tun, daß wir Erfahrungen sammeln wollen, und zweitens, daß sich möglicherweise auch die ganze Infrastruktur auf diesen Abend vorbereitet.Im übrigen braucht der Dienstleistungsabend auch nicht ein Privileg der Städte zu sein. Auch auf den Dörfern kann es eine buntere Mischung für das Leben geben.Der langen Rede kurzer Sinn: Wagen Sie mehr Freiheit! Wagen Sie mehr Lebensqualität!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß die Damen und Herren der Regierungskoalition bei diesem Tagesordnungspunkt von uns begrüßt werden können. Eine Selbstverständlichkeit wird das ja in Zukunft nicht mehr sein, wenn Sie sich mit diesem Gesetzentwurf durchsetzen können. Bei Ihnen scheint offenbar ein unabwendbares, dringendes Bedürfnis vorhanden zu sein, am Donnerstagabend nach 18.30 Uhr in die Läden zu stürmen, um endlich all das einzukaufen, was Ihnen an anderen Tagen und Stunden der Woche nicht möglich war.
Oder müssen wir über diesen Gesetzentwurf heute abend diskutieren, weil der FDP-Generalsekretär schon vor 14 Tagen die schnelle Beratung dieses Gesetzentwurfs in den Ausschüssen reklamiert hat? Übrigens in völliger Verkennung der Tatsache, daß die-
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Dreßlerser Gesetzentwurf vor 14 Tagen noch nicht einmal eine Drucksachennummer hatte.
Eines ist vollkommen klar: Die Interessen der über 5 Millionen betroffenen Beschäftigten sind es nicht, die uns diesen vollkommen überflüssigen Gesetzentwurf heute in erster Lesung beraten lassen.
Und vollkommen klar ist auch, daß es nicht die Interessen Zigtausender Einzelhändler, nicht die Interessen des Mittelstandes sind.
Wir fragen uns deshalb: Welche Interessen vertritt die CDU/CSU/FDP-Regierung überhaupt noch?
Die Geschichte des Ladenschlußgesetzes sollte uns allen wohlbekannt sein. Das 1956 verabschiedete Gesetz stellt in der heutigen Fassung nach wie vor — trotz der Durchlöcherungsversuche der Regierungskoalition in den letzten Jahren — einen ausgewogenen Kompromiß dar, der die Interessen der Verbraucher, die Interessen der Beschäftigten und der Arbeitgeber berücksichtigt. Die Ladenöffnungszeiten sind nahezu unverändert geblieben. Geändert hat sich allerdings die wöchentliche Arbeitszeit.
Sie ging durchschnittlich zehn Stunden pro Woche zurück. Das bedeutet: Verbraucher haben immer mehr Zeit bekommen, um einzukaufen.
In aller Regel kommen sie mit dieser Zeit auch aus.Eine Befragung des Emnid-Instituts, in diesem Jahr im Auftrag des Instituts für angewandte Verbraucherforschung an der Universität Köln und des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Marburg durchgeführt, hat folgendes ergeben: Lediglich 17 % der Bevölkerung sind der Meinung, die Geschäfte seien nicht lange genug geöffnet. 74 % sagen, sie seien mit dem geltenden Ladenschlußgesetz zufrieden. Warum verschweigen Sie das eigentlich?Dieses Untersuchungsergebnis aus dem Jahre 1988 bestätigt die Untersuchungen, die im Auftrage des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der DAG in der Vergangenheit durchgeführt wurden, jedoch immer als parteiisch abgetan wurden.
— Herr Kollege, zuhören: Emnid-Institut, Auftrag des Instituts für angewandte Verbraucherforschung an der Universität Köln und des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Marburg — nur zum Mitschreiben — , nicht die DAG, nicht die HBV.Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben eine Änderung des Ladenschlußgesetzes ohnehin immer abgelehnt, wie wir wissen. Von einer Verlängerung der Ladenschlußzeiten haben nämlich weder die Beschäftigten noch die Selbständigen etwas.Eine Umsatzausweitung wird es deswegen nicht geben. Jede Mark kann nämlich nur einmal ausgegeben werden. Es mag sein, daß es zu Umsatzverlagerungen kommt. Das würde allerdings bedeuten: Der schon jetzt unerträgliche Konzentrationsprozeß im Einzelhandel würde verschärft.Eine Verlängerung der Ladenöffnungszeiten kommt in erster Linie Großbetrieben des Handels, insbesondere mit bestimmten Betriebsformen und Standorten, zugute.
Kleine und mittlere Unternehmen des Einzelhandels, die schon jetzt einem besonders starken Verdrängungswettbewerb ausgesetzt sind, können die aus längeren Öffnungszeiten resultierenden Kosten nicht in gleicher Weise verkraften wie finanzstarke Großbetriebe mit breiterem Sortiment und relativ geringem Personaleinsatz.Das läßt sich mit Zahlen aus Nordrhein-Westfalen belegen.
— Nun hören Sie einmal zu, gnädige Frau. — Ein Drittel des nordrhein-westfälischen Einzelhandelsumsatzes wird von weit weniger als 2 000 Unternehmen gemacht, die jeweils einen Jahresumsatz von über 10 Millionen DM haben. Die rund 75 000 Betriebe, die weniger als 1 Million DM jährlich umsetzen, erzielen dagegen nur ein Fünftel des Gesamtumsatzes in NRW. Der Betriebsbestand im Lebensmittelhandel ist von 1979 bis 1985 um 17 % gesunken.Wenn man alles das zur Kenntnis genommen hat, wenn man diese übrigens auch wirtschaftspolitischen Fakten wertet, dann kommt man nur zu einer kompetenten Antwort, die dem Mittelstand, den Einzelhändlern dient, die wettbewerbsfördernd, die marktwirtschaftlich ist, die den Beschäftigten hilft, die familienfreundlich ist, und sie heißt: Dieses Gesetz ist überflüssig.
Oder man kommt zu einem CDU/CSU/FDP-Ergebnis. Das bedeutet eine inkompetente Antwort, die preissteigernd ist, familienfeindliche Tendenzen hat. Das ist eine Antwort, die Vollbeschäftigte in Teilzeitbeschäftigung treibt, die höhere Sach- und Lohnkosten und Wettbewerbsnachteile provoziert, die Betriebsinhaber in Arbeitszeiten von über 60 Stunden je Woche treibt, die Millionen beschäftigter Frauen noch weiter benachteiligt.Die Bundesregierung vernachlässigt außerdem die Kosten des Dienstleistungsabends für Länder und Kommunen. Sie erwartet, daß die Länder gegenüber ihren Dienststellen und den Dienststellen der Gemeinden eine Empfehlung zur Spätöffnung bis 21 Uhr aussprechen. Sie geht weiter davon aus, daß die öffentlichen Nahverkehrsbetriebe ein entsprechendes Angebot bereitstellen. Die dadurch entstehenden Kosten — für die Öffnung der Dienststellen und das not-
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Dreßlerwendige Nahverkehrsangebot — läßt sie völlig unberücksichtigt. Angesichts der finanziellen Belastung der Länder und der Kommunen fordere ich die Bundesregierung auf, Herr Blüm, vor der Weiterverfolgung dieses Vorhabens eine Kostenstudie für den Dienstleistungsabend in Auftrag zu geben.Auch neue Beschäftigungsimpulse wird es bei den geänderten Ladenschlußzeiten nicht geben. Es mag sein, daß es in einzelnen Betrieben zu zusätzlichen Einstellungen kommt. Dabei wird es sich aber kaum um Arbeitsverhältnisse handeln, Herr Blüm, von denen man leben kann. Es ist zu befürchten, daß in diesen Betrieben sogenannte geringfügig Beschäftigte eingestellt werden.
Durch diese Art von Arbeitsverhältnissen wird das Problem der Arbeitslosigkeit aber nicht gelöst.
Meine Damen und Herren, es ist zynisch, wenn Sie behaupten, damit könne man Frauen helfen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Blüm?
Aber natürlich, zum Dienstleistungsabend immer, obwohl ich nicht glaube, daß das den Verkäuferinnen helfen wird. Bitte.
Verehrter Kollege Dreßler, was halten Sie von dem Lafontaine-Wort: Teilzeit ist besser als keine Arbeitszeit?
Herr Kollege Blüm, ich halte von diesem Wort genauso wenig wie von Ihrem Wort im Jahre 1985, das Sie anläßlich des sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetzes hier geprägt haben, daß diese Arbeit, die damit verbunden ist, besser sei als Arbeitslosigkeit. Um es zwischen uns klarzumachen: Ich halte beides für nicht überzeugend, ja, sogar für partiell zynisch. Damit das klar ist.
— Nein, Herr Blüm, es tut mir leid um Sie, denn Sie sind der Verantwortliche für dieses Gesetz und nicht der Ministerpräsident des Saarlandes.
Meine Damen und Herren, wie praxisfremd dieser Gesetzentwurf ist, zeigt sich an den Verhandlungen zwischen dem Gesamtverband des Berliner Einzelhandels und den Gewerkschaften HBV und DAG in Berlin. In Berlin hat der Einzelhandelsverband den Gewerkschaften ein Stillhalteabkommen angeboten, mit dem auf betrieblicher Ebene in allen Berliner Groß- und Mittelbetrieben das Arbeitszeitende im Verkauf bis Ende 1989 auf 18.30 Uhr begrenzt werden soll. Wie Sie wissen, ist das heute nachmittag unterschrieben und vereinbart worden.
Jetzt erinnern wir uns: In Berlin ist es seit fünf Jahren möglich gewesen, die Geschäfte am Freitag abend bis 21 Uhr zu öffnen. Dieser Versuch hat sich jedoch als Flop erwiesen.
Die kleinen Unternehmen konnten keine Umsatzsteigerung erreichen, hatten dafür aber höhere Personalkosten.
Die Koalitionsfraktionen sollten sich endlich der gesellschaftlichen Wirklichkeit nähern und von diesem überflüssigen Vorhaben ablassen.
Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, das Wort hat Frau Abgeordnete Folz-Steinakker.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin weder aus dem Urlaub noch vom Einkaufen gekommen. Ich wünschte mir wirklich, ich könnte abends einkaufen. In Zukunft ist es ja wohl möglich.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einführung eines Dienstleistungsabends zielt auf ein Stück mehr Freiheit für den einzelnen,ein Mehr an Liberalität und ein Weniger an Staat ab. Der Dienstleistungsabend ist ein längst überfälliger Schritt, vor allem ein Schritt zur Auflockerung der starren Ladenschlußregeln in der Bundesrepublik. Er ist ein Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung und zugleich bürgernahe Deregulierung.
Das Ladenschlußgesetz, meine Damen und Herren, von 1956, damals hauptsächlich unter Arbeitsschutzgesichtspunkten eingeführt, von vornherein sehr umstritten und mit einer denkbar knappen Mehrheit angenommen, ist heute ein Fossil, ein Hemmschuh für den Verbraucher, den Einzelhandel und den Arbeitnehmer.
Immer noch schreibt dieses Gesetz zwingend vor, wann Geschäfte geöffnet haben dürfen, wann eingekauft werden darf, wann Arbeitnehmer ihrer Arbeit nachgehen dürfen. Die Wünsche des einzelnen müssen sich nach festgelegten Ladenschlußzeiten richten und nicht umgekehrt, wie es einer liberalen Wirtschaftsordnung angemessen wäre.Ludwig Erhard hat ein sehr schönes geflügeltes Wort gesagt. Er sagte schon 1956: Der Handel ist für den Verbraucher da und nicht umgekehrt. Vielleicht sollte man sich das einmal merken.
Meine Damen und Herren, ökonomische Wahlfreiheiten werden eingeschränkt. Was herauskommt, ist
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Frau Folz-Steinackerein reglementierter, unmündiger Bürger. Nichts zeigt deutlicher die illiberale Tendenz dieses Gesetzes auf.
Starke ausländische Kritik hat sich an diesem Gesetz in der vorliegenden Form entzündet, und nicht zu Unrecht, denke ich mir.
Die Kritik, und zwar nicht nur aus den EG-Staaten, kann uns eigentlich nicht gleichgültig sein, zumal wir in Europa gegenwärtig zu einem Markt mit 320 Millionen Bürgern und Verbrauchern zusammenwachsen. Ich denke, das wird auch Ihnen bekannt sein.Die deutsche Ladenschlußregelung, mit der wir fast Schlußlicht in Europa sind, ist sicher kein guter Ausweis für diese anspruchsvolle Aufgabe, für den Standort Bundesrepublik, für ein Land, das sich anschickt, in die Dienstleistungsgesellschaft aufzubrechen. Was wir hierzu brauchen, ist vor allem eine notwendige Mobilität im Denken und eine notwendige Flexibilität im Handeln.
— Ich kann mir vorstellen, daß Sie das nicht verstehen.Die Einführung des Dienstleistungsabends stellt einen richtigen Schritt in die richtige Richtung dar. Sie ist allerdings nur, meine Damen und Herren, ein erster Schritt.Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf wird die Wachstumsbremse nur ein wenig gelockert. Angeregt wird der private Verbrauch; verbessert wird das Arbeitsplatzangebot, insbesondere für Teilzeitbeschäftigte, auch wenn Sie das in dieser Form nicht wahrhaben wollen.Diese positiven gesamtwirtschaftlichen Effekte sind allerdings begrenzt, da die Auflockerung nur für diesen einzigen Abend in der Woche vorgesehen ist. Sie geht liberalen Gegnern der Ladenschlußregelung natürlich nicht weit genug. Die Beschränkung ist von der Bundesregierung, denke ich, ganz bewußt vorgenommen worden. Hier wird mit der Einführung eines Dienstleistungsabends nur ein begrenzter Versuch zur Auflockerung des Ladenschlußgesetzes gemacht. Es handelt sich um keine Einstiegsdroge, wie von den Gewerkschaften immer behauptet wird.Betroffen sein wird leider nur ein einziger Tag in der Woche. An ihm soll es dann erlaubt sein, bis 21 Uhr geöffnet zu halten.
Die Gesamtöffnungszeit soll nicht verlängert werden. Selbstverständlich besteht wie bisher kein Öffnungszwang. Wer öffnet, tut dies freiwillig, wenn es lohnend ist; so denke ich mir.Hinzu kommt, daß sich auch andere Dienstleistungsbereiche, z. B. Behörden, Freiberufler, privateAnbieter, Banken und Sparkassen, an dem Dienstleistungsabend bei entsprechendem Bedarf beteiligen sollen. Sie sollen dies möglichst in großer Zahl, aber ebenfalls freiwillig und ohne Zwang tun können, und sie werden dies tun, worauf bereits eine Reihe von Äußerungen, so z. B. aus dem Banken- und Sparkassenbereich, schließen lassen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?
Aber ja doch.
Frau Kollegin, habe ich den Gesetzentwurf der Bundesregierung richtig verstanden, daß nun auch die vielen in der Vergangenheit geschlossenen Fahrkartenschalter am Donnerstagabend wieder geöffnet werden sollen?
Ich weiß nicht, welche Fahrkartenschalter Sie da meinen;
aber vielleicht fragen Sie den Herrn Blüm.
Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Wir haben zwar keine Fragestunde, aber bitte sehr.
Gnädige Frau, weil sie gerade so auf die Banken abheben und die Wettbewerbsfähigkeit beschworen haben: Wie beurteilen Sie denn in diesem Zusammenhang die zunehmende Ausstattung des Bankgewerbes mit Automaten?
In diesem Zusammenhang kann ich nur sagen, leider Gottes sind die Automaten meistens kaputt, verstopft oder sonst irgend etwas. Mir ist es selten geglückt, Geld herauszubekommen. Deswegen würde ich es sehr begrüßen, wenn die Banken mitziehen.
— Ich bin froh, daß Sie das so lustig finden. So ein bißchen Humor am späten Abend hebt auch bei Ihnen die Stimmung.
Meine Damen und Herren, es soll in der Tat ein allgemeiner Dienstleistungsabend werden.
— Bitte, ich habe nur zehn Minuten.Um hier insbesondere auch gewerkschaftlicher Kritik noch einmal entgegenzuwirken: Niemand wird in seinen Schutzrechten eingeschränkt werden. An der tarifvertraglich festgelegten Arbeitszeit ändert sich nichts. Aber das ist nicht neu, das haben wir schon immer gesagt. Auch an den Mitbestimmungsrechten
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Frau Folz-Steinackerdes Betriebsrates wird weiter in keiner Weise gerüttelt. Wir setzen auf die Vernunft des Betriebsrates, verzichten aber auf jede gesetzliche Einschränkung der Freiheit, über das Ende der Arbeitszeit mitzuentscheiden. Ich verstehe deshalb ganz ehrlich gestanden nicht, warum die Gewerkschaftsfunktionäre— ich kann es schon gar nicht anders sagen — so ein Feldgeschrei machen.
Auch daß eine begrenzte Arbeit in den Abendstunden— maximal geht es ja nur um zweieinhalb Stunden in der Woche — inhuman, unsozial, frauen-, familien- und gesundheitsfeindlich sein soll, ist schon angesichts so vieler vergleichbarer Arbeitsverhältnisse wie im Hotel- und Gaststättengewerbe, bei der Post, Bundesbahn, Verkehrsbetrieben und anderen Wirtschaftsbereichen
— ich will nicht noch mehr aufzählen — absurd, um nicht anderes zu sagen; ich werde mich da lieber enthalten.Die Gewerkschaften laufen Gefahr, in dieser Frage ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Die Gewerkschaft HBV und erst recht die DAG versichern neuerdings
— hören Sie mir doch zu! Es kommt alles; alles zu seiner Zeit — , sie stünden neuen Formen der Arbeitszeitgestaltung innerhalb der Werktage grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Dies ist, sicherlich auch von Ihnen, sehr zu begrüßen. Warum die Gewerkschaften aber am Donnerstag von 18.30 bis 21.00 Uhr jede Auflockerung ablehnen und mit der Mentalität eines Betonklotzes am bestehenden Zustand festhalten, kann ich nicht verstehen, können wir alle nicht verstehen. Die Gewerkschaften, auch die HBV, haben inzwischen an einem Tag pro Woche Abendsprechstunden für ihre Mitglieder eingeführt. Ist das, was für Gewerkschaftsmitglieder recht ist, für Einzelhandelskunden nicht billig?
Oder sind die Beschäftigten bei den Gewerkschaften etwa Arbeitnehmer zweiter Klasse?
Was die Gewerkschaften für sich selbst als richtig anerkannt haben, sollten sie nicht für andere zum Teufelswerk erklären.Außerdem sollte gerade angesichts der immer noch hohen Arbeitslosigkeit, denke ich, jede Chance für neue Arbeitsplätze genutzt werden, und sei dies eben auch nur für die verschmähten Teilzeitarbeitsplätze. Gegenwärtig suchen über 200 000 Arbeitnehmer in der Bundesrepublik einen Teilzeitarbeitsplatz; ich denke, das vergessen wir immer wieder. Solche Arbeitsplätze sollen und dürfen wir nicht verhindern, weil z. B. der Ladenschluß tarifvertraglich festgeschrieben, die Beteiligung am Dienstleistungsabend durch Betriebsvereinbarung blockiert oder Samstagsarbeit generell ausgeschlossen wird. Zum Beispiel gerade für Frauen mit Kindern, Herr Kollege, oder früher Erwerbstätige, die wieder in das Berufsleben eintreten möchten und die durchaus bereit wären, in den Abendstunden zu arbeiten,
könnten neue Arbeitsplätze geschaffen werden. — Sie haben immer noch nichts gelernt. — Daß mit liberalen Öffnungszeiten durchaus positive Beschäftigungseffekte verbunden sein können, hat nicht zuletzt das Beispiel Schwedens gezeigt, wo nach Abschaffung des dortigen Ladenschlußgesetzes verstärkt Oberstunden abgebaut und neue Teilzeitarbeitsplätze geschaffen wurden.
Auf das überragende verbraucherpolitische Interesse an flexiblen Öffnungszeiten, denke ich, brauche ich hier nicht mehr hinzuweisen; das ist allgemein bekannt. So werden in erster Linie die Millionen von Verbrauchern von der Einführung eines Dienstleistungsabends profitieren, die oft die schlechteste Lobby besitzen und deren Interessen am wenigsten— ich muß sagen: leider auch in diesem Parlament — Berücksichtigung finden. Durch die Ermöglichung eines Einkaufs ohne Streß, eines familienfreundlichen Einkaufs geht es letztlich um mehr Lebensqualität— das sagte der Minister vorhin auch schon — für Millionen von Bürgern.Beim Einzelhandel könnten die negativen Trends, daß er in der Konkurrenz um die Kaufkraft immer stärker an andere, expansivere Bereiche wie z. B. den Freizeitsektor Terrain verliert — das vergessen wir leider Gottes immer — oder die Konzentration — Herr Kollege, sie erwähnten es auch —, gestoppt bzw. sogar umgekehrt werden, allerdings nicht mit einem einzigen Abend, das ist klar.
— Das ist der Anfang, richtig, Herr Kollege. So sehe ich das auch.Allerdings nicht zu verstehen ist für mich das vom Gesamtverband des Berliner Einzelhandels angebotene und heute vereinbarte Stillhalteabkommen an die HBV und die DAG, in allen Berliner Groß- und Mittelbetrieben das Arbeitszeitende im Verkauf auf 18.30 Uhr festzuschreiben. Ich denke, das ist genau ein Schritt nach hinten — leider.
Auf erhebliche Bedenken ist in der Wirtschaft, den Großhandelsverbänden, die Großhandelsregelung im Gesetzentwurf der Bundesregierung gestoßen, die vorsieht, daß auch Verkaufsstellen des Großhandels unter bestimmten Bedingungen dem Ladenschlußgesetz unterliegen, z. B. beim Verkauf an jedermann und einem Verkauf von Waren zur Deckung des betriebsfremden Eigenbedarfs über eine bestimmte Grenze hinaus, wobei — das ist das Schlimme dabei — die Beweislast das Großhandelsunternehmen trägt. Auf diese Regelung wird insbesondere noch in
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Frau Folz-Steinackerden Ausschußberatungen zurückzukommen sein. Sowohl auf ihre Auswirkungen als auch auf ihre Praktikabilität wird sie noch zu überprüfen sein.Nach der zustimmenden Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzentwurf der Bundesregierung von voriger Woche hoffe ich, daß der Gesetzentwurf der Bundesregierung jetzt in den Ausschüssen zügig beraten und wenn möglich noch vor Weihnachten verabschiedet werden und in Kraft treten kann.
Als positiv, meine Damen und Herren, sehe ich dabei durchaus auch Stimmen aus der SPD an — wie z. B. von dem eben vielgeschmähten Lafontaine, wie von Schröder, wie vom lieben Kollegen Conradi, der die Einsetzung einer entsprechenden Arbeitsgruppe plant — , die fordern, das Ladenschlußgesetz aufzulockern bzw. zu überprüfen. Ich glaube, ich habe das wohl richtig verstanden. Die Einführung eines Dienstleistungsabends bietet, meine Damen und Herren von der Opposition, bereits jetzt allen eine Chance. Ich hoffe, daß Sie nicht der Verweigerungshaltung von NRW im Bundesrat folgen.Danke.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Krieger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Gesetz zur Einführung eines Dienstleistungsabends, so heißt es in dessen Begründung, „wird es den Bürgern möglich sein, die Wahrnehmung von Freizeitangeboten am Abend mit anderweitigen Erledigungen, z. B. mit Einkäufen und Behördengängen, zu verbinden". Es mag schon sein, daß in Zukunft die Bürger abends gemütlich shoppen gehen können. Ermöglicht wird ihnen das aber in erster Linie von Bürgerinnen. Denn diese stellen mit fast drei Vierteln den größten Anteil der Beschäftigten im Einzelhandel und bei den Banken.
Die Einführung einer Spätschicht pro Woche trifft ausgerechnet diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die auch ohne Einführung des sogenannten Dienstleistungsabends schon heute weit ungünstigere Arbeitszeiten haben als beispielsweise Angestellte des öffentlichen Dienstes. Regelmäßige Sechstagewoche, 15 lange Samstage im Jahr, 10 bis 12 Stunden Abwesenheit von zu Hause pro Tag, weil die Mittagspausen unnötig lang sind: Das sind die Arbeitsbedingungen im Handel heute. Wenn andere Familien am Abendbrottisch sitzen, stehen Verkäuferinnen noch an der Bushaltestelle. Wenn Beamte — wie die meisten von Ihnen ja aus eigener Erfahrung wissen — Freitagmittag ins Wochenende starten, müssen die Frauen im Handel noch bis Samstagmittag durchhalten. Und dann heißt es erst einmal: Hausarbeit nachholen.
Doch damit nicht genug: Ein weiterer Abend des Ausruhens, der Freizeit, des familiären und sozialen Lebens soll mit dem vorliegenden Gesetz ersatzlos gestrichen werden. Freistunden am Vormittag sind nun einmal kein Ersatz für den freien Feierabend mit seinem gesellschaftlichen Angebot. Wer geht schon am Dienstagvormittag ins Kino?Familienfreundliche Politik? Dieselbe christkonservative Bundesregierung, die den Zusammenhalt der Familie am aufdringlichsten ständig beschwört, treibt mit ihrer Flexibilisierungspolitik im Interesse der Arbeitgeber die Deregulierung des gemeinsamen Alltags unbeeindruckt von allem gesellschaftlichen Widerstand voran und entzieht damit den Familien das Grundlegendste, was sie für ihre Existenz und ihre Entfaltungsmöglichkeiten überhaupt braucht, nämlich gemeinsam verfügbare Zeit.
Wer sollen denn die in der Begründung des Gesetzentwurfs erwähnten Arbeitnehmer sein, die angeblich eine „Teilzeitarbeit in den Arbeitstunden suchen"? Die tatsächlich im Handel beschäftigten weiblichen Teilzeitkräfte jedenfalls nicht. Denn die haben schon jetzt das Problem, daß kinder- und frauenfreundliche Teilzeitjobs mit festgelegten Vormittagsstunden immer mehr zugunsten kapazitätsorientierter variabler Arbeitszeiten zur Ausnahme werden.Halten wir also fest: Die Annehmlichkeiten, die für die Verbraucherinnen und Verbraucher mit der Einführung des Dienstleistungsabends verbunden sind,
werden mit weiteren Verschlechterungen bei der Arbeitszeitgestaltung für die insgesamt fast sechs Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im gesamten Dienstleistungssektor viel zu teuer bezahlt.
Doch auch wenn wir uns das unermüdlich in dieser Debatte angeführte Argument anschauen, die Lockerung der Ladenschluß- und Behördenzeiten mache endlich Schluß mit dem ständigen Einkaufsstreß, so stellt sich doch die Frage: Woran liegt es denn, wenn es namentlich wiederum erwerbstätige Frauen sind, die sich allabendlich durch lange Einkaufsschlangen stauen müssen? Zum Beispiel liegt es daran, daß im Handel allein zwischen 1980 und 1985 110 000 Vollzeitarbeitsplätze abgebaut worden sind.
Anstatt zügig bedient zu werden, müssen Kundinnen sozusagen in zweiter Schicht ihr Gemüse selbst abwiegen und sich durch das Nadelöhr völlig unterbesetzter Kassen zwängen, weil das Personal im Handel bis zur Unerträglichkeit ausgedünnt worden ist.
Wer den Streß von doppelt und dreifach belasteten Frauen abbauen möchte, der kann dies bitte schön z. B. durch die Wiedereinführung eines Hausarbeitstages tun. Damit wurde früher der Tatsache Rechnung
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Frau Kriegergetragen, daß auch Einkäufe und Behördengänge keine Freizeitbeschäftigungen, sondern notwendige Arbeiten sind. Anstatt aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1979 die Konsequenz zu ziehen und ein geschlechtsneutral formuliertes Bundesgesetz für einen Hausarbeitstag vorzulegen, erklärt die Bundesregierung allerdings einen solchen Hausarbeitstag explizit für überflüssig. So werden in der Debatte um die Einführung eines Dienstleistungsabends Frauen gegen Frauen ausgespielt: Verbraucherinnen sollen ihre bedarfsdeckenden Erledigungen in den Abendstunden tätigen, Verkäuferinnen müssen dafür länger arbeiten, aber Freizeit geht beiden verloren.Nein, in der gesamten Debatte um die Ausdehnung der Öffnungszeiten in Handel und Banken geht es weder um die Interessen von Verbraucherinnen noch um die der Beschäftigten. Das Objekt wirtschaftsliberaler Begierde ist die erwünschte Profitsteigerung durch einen ungebremsteren Umschlag von Waren und Geld. Weitdenker wie der Vertreter der US-Zentralbank, Robert Heller, freuen sich denn auch folgerichtig auf noch weitere Lockerungen bundesdeutscher Ladenschlußzeiten, die ihrer Meinung nach heute noch einer Ausweitung des Konsums und einem Importstrom in die BRD im Weg stehen.Da aber auch die Haushalte in der Bundesrepublik bekanntlich jede Mark nur einmal ausgeben können, werden sich die Gewichte durch verlängerte Betriebsnutzungszeiten innerhalb des Handels nur verschieben. Während die großen Einkaufsmärkte die Spätöffnung ohne große Mehrausgaben durch weitere Flexibilisierung der betrieblichen Arbeitszeiten realisieren können, sind die kleinen und mittleren Geschäfte die Gelackmeierten. Der seit Jahren fortschreitende Konzentrationsprozeß im Handel wird sich weiter beschleunigen, denn die kleinen Händler können hier nicht mithalten, es sei denn, um den Preis gesundheitlichen Ruins.
Hören wir dazu eine Stellungnahme aus berufenem Munde, den Kommentar eines selbständigen Lebensmittelhändlers — ich zitiere — :Was wollen wir noch anrichten, daß noch mehr selbständige Existenzen vernichtet werden, noch weniger Ausbildungs- und Arbeitsplätze im Handel vorhanden sein werden, was um zu erreichen, daß die Selbständigen im Einzelhandel noch längere Arbeitszeiten haben werden als bisher?Weiter heißt es in seiner Stellungnahme:Haben Sie dort einmal einen Einzelhändler gefragt, wie das so ist, wenn man seinen Laden von morgens um 7 bis abends um 21 Uhr geöffnet haben soll oder muß? Wissen Sie, was es bedeutet, vor und nach Ladenöffnung vor- oder nachzuarbeiten?Der Zitierte ist übrigens Karl Philippi, Mitglied der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU.
Dem ist wohl nichts mehr hinzuzufügen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Julius Louven.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dreßler, bis zu Ihrem Auftritt hier hatte ich geglaubt und gehofft, wir müßten dieses Gesetz nicht kontrovers behandeln. Geglaubt hatte ich dies auf Grund eines Presseartikels in der „FAZ" vom 25. August 1988, den ich Ihnen einmal vorlesen möchte:SPD will Ladenschluß überprüfenBonn, 24. August ... Die SPD, die bislang eine Lockerung beim Ladenschluß abgelehnt hat, denkt jetzt auch über eine Änderung der Ladenschlußzeiten nach. Nach der Sommerpause soll eine Arbeitsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion gebildet werden. Nach Angaben des SPD-Politikers Peter Conradi— der ja hier anwesend ist —sollen insbesondere die Erfahrungen skandinavischer Länder ... geprüft werden. Conradi selbst unterstützt eine Lockerung der Ladenschlußzeiten in der Bundesrepublik,
nachdem immer mehr Frauen in Teilzeitbeschäftigungen drängten.Den Rest will ich mir ersparen.
— Herr Dreßler, ich bin der Meinung, wir sollten dieses Gesetz hier einmal ruhig abzuhandeln versuchen.
Wenn ich heute zu diesem Gesetz positiv Stellung nehme, bekenne ich auch gerne, daß ich lange den Standpunkt vertreten habe, daß wir das bestehende Ladenschlußgesetz nicht ändern sollten, da es der kleinste gemeinsame Nenner ist. Wenn ich dennoch heute positiv zu diesem Gesetzentwurf rede, dann auf Grund der Tatsache, daß wir heute andere Gegebenheiten als 1956 haben: Die Kaufkraft hat erheblich zugenommen. Das durchschnittliche Warensortiment beispielsweise eines Kaufhauses betrug 1956 500 bis 700 Artikel; heute liegt diese Zahl bei knapp 6 000 Artikeln.
Insbesondere für den individuellen Bedarf werden von Käufern und Verkäufern seit langem großzügigere Öffnungszeiten gefordert. Mich hat auch beeindruckt, wie vor allem Frauenverbände und Verbraucherorganisationen immer wieder forderten, bessere Möglichkeiten zum Einkaufen zu bekommen.Schließlich kann man vor dem Hintergrund eines heraufziehenden EG-Binnenmarktes nicht darüber hinwegschauen, wie die diesbezüglichen Verhältnisse bei unseren Nachbarn sind. Herr Minister Blüm hat darauf schon hingewiesen: Die Belgier haben einen Kaufabend bis 21 Uhr, die Niederlande ebenfalls. Da ich aus dem Grenzraum komme, kann ich berich-
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Louventen, daß viele aus meinem Bereich an diesem Abend nach Holland fahren, um in Ruhe einkaufen zu können. Großbritannien kennt den Kaufabend, allerdings im Sommer und im Winter unterschiedlich lang. Selbst in Österreich, das noch strengere Ladenschlußzeiten als die Bundesrepublik kennt, wird es in Kürze einen langen Kaufabend geben; es gibt schon eine entsprechende Einigung zwischen den dortigen Sozialpartnern. Das von vielen, insbesondere von Ihnen, immer wieder gepriesene soziale Musterland Schweden kennt überhaupt keine Begrenzung der Verkaufszeiten. Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren von der SPD und der FDP, hat der Bundeskanzler Helmut Kohl recht, wenn er in seiner Regierungserklärung meinte, es gibt immer noch zu viele Vorschriften, die den Bürger einengen.Ziel des nun vorliegenden Gesetzentwurfes ist es, diese Einengung ein wenig aufzulockern. An einem Abend in der Woche, und zwar am Donnerstag, sollen und können die Geschäfte bis 21 Uhr geöffnet sein. Die Änderung des Ladenschlußgesetzes ist ein Angebot, kein Zwang. Die bisher zulässige Öffnungszeit von 64,5 bzw. 68,5 Stunden wird nicht ausgeweitet. Die Zeiten sollen innerbetrieblich ausgeglichen werden.Der Dienstleistungsabend kann nach unserer festen Überzeugung allerdings nur dann erfolgreich sein, wenn sich auch weite Bereiche außerhalb der Einzelhandelsgeschäfte, also insbesondere auch die Behörden des Bundes, der Länder und der Kommunen, an dieser Regelung beteiligen. Für die Bundesbehörden soll dies durch eine Anordnung des Arbeits- und Sozialministers sichergestellt werden. Den Landes- und Kommunalbehörden wird Entsprechendes empfohlen.Natürlich gibt dieser Gesetzentwurf, Herr Minister, auch Probleme auf: Es muß geklärt werden, wie wir den Großhandel in diese Regelung einbeziehen. Es gibt bestimmte Wünsche z. B. vom Bäckereigewerbe. Frau Präsidentin Renger meinte eben im Vorbeigehen: Künftig verlange ich von Ihnen bis 9 Uhr abends frische Brötchen. Ich darf an dieser Stelle einmal sagen, daß das deutsche Bäckerhandwerk nach dem derzeitigen Bäckereiarbeitsgesetz zwar ab 5.45 Uhr frische Backwaren ausfahren darf, sie jedoch nicht in Bäckereien verkaufen darf. Wenn das Ladenschlußgesetz schon heute den Verkauf von Zeitungen vor 7 Uhr zuläßt, um dem Informationsbedürfnis der Bürger Rechnung zu tragen, so sollte es nach meiner Meinung auch möglich sein, den Bürgern zu ermöglichen, ab 6 Uhr oder 6.30 Uhr beim Bäcker frische Brötchen einzukaufen.
Ich weiß, daß von seiten der Metzgereibetriebe ähnliche Wünsche geäußert werden. Wir sollten in Ruhe abwägen, was hier richtig ist und wie man den Wünschen der Bürger in diesem Bereich entgegenkommen kann.Ziel des Gesetzes ist es, den Dienstleistungsabend allen Einzelhändlern zu ermöglichen. Wir haben dann allerdings die Urteile des Bundesarbeitsgerichts von 1982 und des Bundesverfassungsgerichtes von 1985 zu würdigen, wonach Mitbestimmung bei der Arbeitszeit Vorrang vor der unternehmerischen Entscheidung über Öffnungszeiten hat.Meine Damen und Herren, ich sehe den Art. 1 des Gesetzes als gesetzliche Leitlinie für alle Beteiligten, also auch für die Tarifpartner und die Einigungsstellen, an. Von daher geht mein Appell an die Beteiligten, den Art. 1 so zu handhaben.Ich wünsche mir, daß wir nicht in die Lage kommen,das Betriebsverfassungsgesetz ändern zu müssen, umChancengleichheit bei den Öffnungszeiten zu erreichen. Im Interesse des sozialen Friedens müssen wirallerdings auch den Beteiligten die Möglichkeit geben Zeit für die Umstellung zu haben, um diese vernünftig realisieren zu können. Wenn ich die Kündigungsfristen vorhandener Tarifverträge sehe und auch feststelle, daß es 1 500 Vorratsbeschlüsse von Betriebsräten im Einzelhandel gegen die Spätöffnung gibt, kann ich mir in der Tat ein kurzfristiges Inkrafttreten des Gesetzes nicht vorstellen.Ich erlaube mir auch den Hinweis, daß wir im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung derzeit in einem Maße beschäftigt sind, daß die weiteren Beratungen über dieses Gesetz sicherlich nach hinten geschoben werden müssen. Dennoch sollten die Beteiligten schon jetzt die Vorbereitungen für die Umstellung treffen.
Auch ich verspreche mir von diesem Gesetz, daß es Möglichkeiten für Teilzeitbeschäftigung bietet, allerdings nicht wesentlich bei einem zusätzlichen Öffnungstag, und ich bin fest davon überzeugt, daß es für gewisse Branchen zusätzliche Umsatzchancen bringt. Vom Dienstleistungsabend verspreche ich mir auch eine erhebliche Belebung der Innenstädte. Ich finde es immer schade, daß unsere schönen Innenstädte insbesondere während der Sommermonate ab 18.30 Uhr wahren Geisterstädten ähneln.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, am 22. Juni, dem Tag der Verabschiedung des Gesetzentwurfes durch das Kabinett, sprach Elisabeth Dopheide dazu einen Kommentar im ZDF: Die Bundesregierung geht einer heiligen Kuh ans Fell; endlich, meinte sie. Einmal in der Woche in Ruhe einkaufen können ist ein Stück Lebensqualität mehr, ein Anfang, meinte Frau Dopheide. Ob aus dem langen Donnerstag irgendwann mehr würde, könnten die Verbraucher entscheiden. Ich füge an: Ob es möglicherweise einmal wieder weniger geben wird, entscheiden ebenfalls die Verbraucher. Ich hoffe, daß sie die Chance nutzen.Auf dem Weg in den gemeinsamen Binnenmarkt sehe ich im Dienstleistungsabend einen Fortschritt, einen Fortschritt sicherlich auch für viele berufstätige Frauen. Da die Arbeitnehmer im Einzelhandel künftig nicht mehr, sondern — und zwar längst nicht alle — an einem Tag anders arbeiten müssen, halte ich auch für sie die Einführung des Dienstleistungsabends für vertretbar. Wir sollten den Versuch wagen. Wir schaffen dazu die gesetzlichen Möglichkeiten.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6671
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Martiny.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Blüm, vor der heutigen Rede hatte ich zugegebenermaßen etwas Angst. Es ist ja bekannt, daß ich als Verbraucherpolitikerin zum Ladenschutzgesetz eine differenzierte Meinung habe, die sich nicht in allen Einzelaspekten mit der Meinung meiner Fraktion deckt. Mehr als die immer wieder erneuerten Verbandsmeinungen interessieren mich nämlich wirklich die Überlebenschancen der kleinen Einzelhandelsgeschäfte und der Fachgeschäfte angesichts der zunehmenden Vermachtung der Märkte und der geringen Verdienstmargen. Dienstleistung hat ihren Preis — zu Recht, finde ich — , aber dieser Preis ist auf dem Markt oft nicht zu erzielen, weil die Marktstrukturen dies nicht hergeben. Was könnten wir da tun? Ich wüßte es wirklich gern, zumal der europäische Binnenmarkt möglicherweise gerade im Handel weitere Konzentrationsbestrebungen mit sich bringt.Genauso gern wüßte ich aber, ob der Beruf der Fachverkäuferin angesichts der Billig-billig-billigMasche bei ALDI oder IKEA oder in ähnlichen Läden eine Zukunft hat.
Als Frau möchte ich gern gewährleistet sehen, daß eine 35jährige Fachverkäuferin, geschieden, zwei Kinder, die auf einen vollen Verdienst mit Altersabsicherung angewiesen ist,
auch einen Arbeitsplatz findet.
Die gegenwärtige Arbeitsmarktstruktur im Handel stimmt mich da sehr skeptisch. Deshalb würde ich gerne, statt hier solch ein Quatsch-Gesetz vorzulegen, die 440-DM-Arbeitsverträge aus dem Handel weghaben. Ich würde gerne Aus- und Weiterbildung im Handel fördern und würde auf diese Weise gerne zu mehr Gerechtigkeit zwischen den Billiganbietern ohne Vollarbeitsplätze und Auszubildende und den anderen, die Fachpersonal und Lehrverhältnisse bieten, beitragen.
Nichts gegen Teilzeit, aber gerade im Handel tötet sie die Vollzeitarbeitsplätze. Das ist frauenfeindlich.
Auch hier wüßte ich gern, wie die Härte des ungerechten Wettbewerbs etwa doch gemildert werden könnte.Vor diesem Hintergrund, Herr Louven, bin ich sehr froh, daß meine Fraktion solche Überlegungen in einer Arbeitsgruppe anstellen wird und daß ich in dieser Arbeitsgruppe mitarbeiten kann.
Aus vollem Herzen und gänzlich ohne Angst kann ich aber sagen, daß der vorliegende Gesetzentwurf über die Einrichtung eines Dienstleistungsabends nicht den geringsten Beitrag zur Verbesserung der Situation leistet. Als ich den Gesetzentwurf las, hatte ich nicht die leisesten Zweifel, hier zu erklären: Bloß weg mit dem Quatsch! Der Gesetzentwurf ist nicht einmal als Einstieg in eine für richtig gehaltene Entwicklung, die die SPD für falsch hält, tauglich.
Er ist einfach ein schlampig hingehauenes Stück liberalistischer Gesinnungstäter und Marktwirtschaftsideologen,
die — wie meistens bei ideologischen Gesinnungstätern, Herr Blüm — nicht so recht wissen, was eigentlich Sache ist. Hierfür einige Argumente.
Erstens. Was ist eigentlich daran liberal oder gar flexibel, wenn man den Gesamtrahmen der Öffnungszeiten beibehält und lediglich eine Änderung der Regulierung haben will, die genau zweieinhalb Stunden ausmacht? Die Regulierung ist hier doch genauso starr, nur ein bißchen anders. Noch dazu zäumt sie das Pferd von hinten auf: Man sagt „Dienstleistungsabend" und meint „Änderung der Ladenöffnungszeiten"Zweitens. Glaubt wirklich jemand, daß durch diese Neuregulierung die Menschen — wie in der Begründung zum Gesetz behauptet wird — sorgfältiger auswählen, mehr kaufen, mit mehr Lust kaufen oder etwa gar die Selbstbestimmung über ihre Arbeitszeit genießen? Durch die Zeitungen ging das Beispiel der Firma IKEA, die ihre Beschäftigten mit lockenden Geschenken darauf vorbereiten will, am Donnerstagabend zu arbeiten, wenn dieses Gesetz in Kraft treten sollte. Der Verkaufsleiter der Firma, Ake Carlsson, spricht zwar von Freiwilligkeit bei seinen Beschäftigten; aber er stellt ohne Schwierigkeiten klar: Wenn die Beschäftigten der Firma das Angebot nicht annehmen, dann würden eben andere eingestellt.
Drittens. Den Dienstleistungsabend als Hebel dafür zu benutzen, den Einzelhandel zu Abendöffnungszeiten am Donnerstag zu veranlassen, ist eine ziemlich hinterhältige Vorgehensweise.
Bei den Behörden reicht nämlich der Durchgriff des Bundesarbeitsministers gar nicht aus. Hier kann er nämlich — wie er in diesem Gesetzentwurf selber schreibt — nur empfehlen, anregen, appellieren,
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Frau Dr. Martiny-Glotz notfalls anweisen.
Selbstverständlich hat die ÖTV dann doch wohl ein gehöriges Wort mitzusprechen. Es wäre äußerst merkwürdig, wenn dieser Trick funktionieren würde. Zwar— um ein Beispiel zu geben — haben in den Vereinigten Staaten die großen Einkaufsläden rund um die Uhr geöffnet; wer aber jemals in den Vereinigten Staaten in einer Warteschlange vor dem Postschalter stand, weiß, daß Dienstleistung und Dienstleistung auch dort sehr unterschiedlich sein können.Bei uns nun mit der Begründung zu arbeiten, daß der Dienstleistungsabend eingeführt wird, damit— ich zitiere aus der Begründung, sie ist nämlich wirklich köstlich —die Bürger Gelegenheit bekommen, an einem Abend mehrere Dienstleistungsbetriebe und Dienststellen aufzusuchen und es auf diese Weise zu einer möglichst intensiven Belebung der Innenstädte an diesem Abend kommt,ist schlichter Unsinn,
zumal einem Artikel in der „Wirtschaftswoche" zu entnehmen war, daß beispielsweise die Banken sehr zögern, sich auf dieses Spielchen einzulassen.
Sie unterstellen zu Recht, daß Bürgerinnen und Bürger bestenfalls noch ein bißchen Geld für den Einkauf benötigen. Das bekommen sie notfalls am Geldautomaten — es sind manche etwas geschickter als Sie, Frau Folz-Steinacker — , andere Dienstleistungen würden schwerlich abgefragt.Viertens. Nun stelle ich mir das einmal praktisch vor, Herr Blüm — dabei komme ich Ihren Redemätzchen schon einigermaßen nahe — : Ich lebe auf dem Dorf, und die einzige Dienststelle, die für mich am Abend geöffnet sein könnte, wäre die Gemeindeverwaltung. Die nächstgelegene Kreisstadt ist 26 km entfernt. Ich frage mich wirklich, ob es zur Belebung der Innenstadt Freisings erheblich beiträgt, wenn ich das Finanzamt, das Einwohnermeldeamt, die Ortskrankenkasse, das Arbeitsamt, die Führerscheinstelle oder— seit neuestem — das Quellensteueramt besuche.
Gemeint sind dann also wohl eher die Großstädte, unterstelle ich mal.
— Nein, ich lache nur, weil ich es so komisch finde. — Also, wenn ich mir jetzt vorstelle, ich führe dann nach München, um dort zur Belebung der Innenstadt beizutragen, dann habe ich die Auswahl, einen Rechtsanwalt, eine Ärztin, den ADAC, die Bank, die Post oder vielleicht auch den Friseur aufzusuchen.
— Also, das kommt auf die Haartracht an.
— Nein. — Also, ich war ja auf den Gedanken bisher noch nicht gekommen —
— das mag ja mein Fehler sein — , dies unter dem Aspekt Zeitsouveränität zu betrachten. Aber das wird ja dann alles erst richtig schön, wenn ich es damit kombinieren kann, ins Kino zu gehen; das konnte ich bisher allerdings auch schon. Ich kann mir aber künftig vielleicht ein neues Kostüm kaufen oder vielleicht sogar,
wenn die Nachfrage das deckt, das alte Kostüm in die Reinigung tragen. Da bin ich mir schon nicht so sicher, ob das Reinigungsgewerbe das mitmacht.
Außerdem könnte ich mir aber im Feinkostgeschäft noch etwas Leberpastete kaufen und die Plastiktüten dann unter dem Kinositz verstauen. Da werde ich dann erst so richtig glücklich.
Allerdings frage ich mich als gute Sozialdemokratin natürlich, ob die Situation der Beschäftigten im Einzelhandel und bei den Behörden diesen Lustgewinn bei mir tatsächlich ausgleicht.
Fünftens. Besonders köstlich — und damit komme ich auch schon zum Ende — finde ich die Stellungnahme des Bundesrates, der nämlich anregt, die Art. 1 und 2, also die Empfehlung für einen Dienstleistungsabend bei Behörden und die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten, mit der Ausnahme des Gründonnerstags einzuführen,
weil nämlich wegen des bevorstehenden Osterfestes auf die religiösen Bedürfnisse der Bevölkerung Rücksicht zu nehmen sei.
Ich glaube, die Begründung sollte eher lauten, Herr Blüm, daß Bürgerinnen und Bürger am Gründonnerstag nicht die Innenstädte, sondern die Autobahnen beleben — auf dem Weg in die Osterferien, um sich von der Regulierungswut des deutschen Gesetzgebers zu erholen.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6673
Meine Damen und Herren, die beschlossene Redezeit ist abgelaufen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Drucksache 11/2973 sowie die Unterrichtung durch die Bundesregierung auf Drucksache 11/3004 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Andere Vorschläge aus der Mitte des Hauses werden nicht gemacht. Damit ist die Überweisung beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Sozialversicherungsausweises und zur Änderung anderer Sozialgesetze
— Drucksache 11/2807 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Innenausschuß
Auch hier ist im Ältestenrat eine Vereinbarung getroffen worden, daß die Gesamtredezeit 30 Minuten beträgt. — Widerspruch im Haus erhebt sich nicht. So ist das beschlossen.
Meine Damen und Herren, damit kann ich die Aussprache eröffnen. Der Parlamentarische Staatssekretär Höpfinger hat sich zu Wort gemeldet. Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat sich in dieser Legislaturperiode die Aufgabe gestellt, das Instrumentarium zur Bekämpfung von illegaler Beschäftigung, von Leistungsmißbrauch und der mißbräuchlichen Ausnutzung der Geringfügigkeitsgrenze zu verbessern. Durch je 10 000 Arbeitsplätze, die durch Schwarzarbeit nicht entstehen, sind der Sozialversicherung allein im Jahre 1987 Beitragseinnahmen von 151 Millionen DM verlorengegangen, und zwar der Rentenversicherung 75 Millionen DM, der Krankenversicherung 55 Millionen DM, der Arbeitslosenversicherung 15 Millionen DM und der Unfallversicherung 6 Millionen DM. Das macht die Notwendigkeit deutlich, gesetzgeberisch zu handeln.
Mit den Maßnahmen des vorliegenden Gesetzentwurfs geht die Bundesregierung den bisher eingeschlagenen Weg konsequent weiter. Wir wollen denjenigen, die illegale Beschäftigung und Leistungsmißbrauch aufzudecken haben, ein verbessertes Handwerkszeug an die Hand geben. Ziel aller Maßnahmen dieses Gesetzentwurfes ist es, die Kontrollmöglichkeiten der Behörden, die illegale Praktiken am Arbeitsmarkt zu bekämpfen haben, zu verbessern.
Der von uns vorgesehene Sozialversicherungsausweis ist der Schlüssel zu einer wirksameren Kontrolle beim Arbeitgeber. Aus diesem Grund legen wir Wert darauf, daß der Sozialversicherungsausweis mit der Versicherungsnummer versehen ist, unter der die Arbeitgeber die Meldungen über die Art und den Umfang einer versicherungspflichtigen Beschäftigung abgeben und die die Kontrolle ermöglicht, ob der Arbeitgeber seinen Verpflichtungen zur Sozialversicherung für alle Beschäftigten nachgekommen ist.
Die Bundesregierung ist gern bereit, die Frage einer Ausstattung des Ausweises mit Lichtbild noch einmal zu prüfen, falls sich neue Gesichtspunkte dafür ergeben, daß dies mit einem vertretbaren Verwaltungsaufwand zu annehmbaren Gesamtkosten möglich und unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten unbedenklich ist.
Bisher haben alle Beteiligten dies allerdings verneint.
Leider werden durch den mit den notwendigen Maßnahmen verbundenen Verwaltungsaufwand und die dadurch verursachten Kosten alle betroffen, insbesondere die, die bisher ihre Pflichten erfüllt haben. Deshalb soll der Sozialversicherungsausweis grundsätzlich im Zusammenhang mit der Vergabe der Versicherungsnummer bzw. eines Sozialversicherungsnachweisheftes ausgestellt werden. Aus dem gleichen Grund ist vorgesehen, die geringfügig Beschäftigten in das bestehende Meldeverfahren zur Sozialversicherung einzubeziehen. Die Belastung aller Arbeitgeber mit zusätzlichem Verwaltungsaufwand und zusätzlichen Kosten ist nur zu rechtfertigen, wenn die Maßnahmen effektiv sind.
Die Bundesregierung hat Maßnahmen vorgeschlagen, die geeignet sind, illegale Praktiken wirksam zu bekämpfen. Dies gilt sowohl für das Meldeverfahren bei den geringfügig Beschäftigten als auch für die melderechtlichen Verpflichtungen der Arbeitgeber bei einer Beschäftigungsaufnahme. Dies gilt insbesondere auch für die Mitführungspflicht des Sozialversicherungsausweises, weil dadurch den kontrollierenden Behörden der Zugang zum Lohnkonto des Arbeitgebers eröffnet wird. Dort kann festgestellt werden, ob der Arbeitgeber seinen Verpflichtungen gegenüber der Sozialversicherung nachgekommen ist.
Die Bundesregierung hat ihre Maßnahmen auch unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten sehr eingehend geprüft. Der Bundesdatenschutzbeauftragte war von Anfang an in diese Prüfungen eingeschaltet. Seine Hinweise hat die Bundesregierung bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfs beachtet.
Mit der Vorlage des Gesetzentwurfs machen wir deutlich, daß wir illegale Beschäftigung, Leistungsmißbrauch und das mißbräuchliche Ausnützen der Geringfügigkeitsgrenze nicht tatenlos hinnehmen. Die vorgeschlagenen Maßnahmen werden dazu beitragen, Arbeitgebern und Arbeitnehmern illegale Praktiken zu erschweren, weil den zuständigen Behörden durch verbesserte Kontrollmöglichkeiten die Aufdeckung und Ahndung derartiger Praktiken erleichtert wird.
Ich bedanke mich für's Zuhören.
Das Wort hat der Abgeordnete von der Wiesche.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist nicht das erste
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6674 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
von der WiescheMal, daß ich zu dem Problemkreis „illegale Beschäftigung und Mißbrauch der Arbeitnehmerüberlassung" spreche. Seit das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 4. April 1987 das Verbot der Arbeitnehmerüberlassung aufgehoben hat, ist die Leiharbeit zu einem Problembereich des Arbeitsmarktes geworden.Die unter sozialliberaler Regierung verabschiedeten Gesetze, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vom August 1972 und das Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung vom Dezember 1981, waren zwar Schritte in die richtige Richtung, jedoch ist es durch sie nicht gelungen, die Mißstände auf dem Gebiet der Arbeitnehmerüberlassung wirkungsvoll zu bekämpfen. Das ist der SPD schon lange bewußt. Alle unsere Bemühungen, die illegale Beschäftigung, den Mißbrauch der Leiharbeit und die Schwarzarbeit wirkungsvoll zu bekämpfen, haben Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, jedoch verhindert.
Sie haben keine Konsequenzen aus unserem, in der letzten Legislaturperiode vorgelegten Antrag zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung und des Mißbrauchs der Arbeitnehmerüberlassung gezogen. Sie haben im letzten Jahr vier Monate gebraucht, um unsere Große Anfrage zu beantworten. Sie waren in diesem Jahr bis jetzt noch nicht dazu bereit, den 6. Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen bei der Anwendung der Arbeitnehmerüberlassungsgesetze im Plenum zu diskutieren. Statt dessen haben Sie am 22. August den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Sozialversicherungsausweises und zur Änderung anderer Sozialgesetze vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf soll nun im Schweinsgalopp durch die Gremien des Bundestages getrieben werden. Wieder einmal bleibt nicht die Zeit einer sorgfältigen und einer umfassenden Beratung.
Wir erleben das bei anderen Gesetzen, die durch unseren Ausschuß müssen, zur Zeit auch wieder. Dies ist also nichts Neues. Dabei wäre sie gerade bei diesem Thema so wichtig. Es ist leider nur zu deutlich: Nicht die Sorge um die Menschen,
die skrupellos ausgebeutet werden, treibt Sie zu dieser Eile, es ist vielmehr die Hoffnung, daß bei einer schnellen Beratung nicht auffällt, daß der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf die Probleme nicht löst, sondern verkleistert. Wieder einmal muß man hier zur Kenntnis nehmen: Außer heißer Luft ist aus dem Hause Blüm nichts zu erwarten!Was wollen Sie mit dem Gesetzentwurf erreichen? Dem Deckblatt ist zu entnehmen:Erweiterung und Verbesserung des Instrumentariums zur Bekämpfung von illegaler Beschäftigung, Leistungsmißbrauch und mißbräuchlicher Ausnutzung der Geringfügigkeitsgrenze.
Gelöst werden soll dieses Problem durch die Einführung eines Sozialversicherungsausweises, durch dieEinbeziehung geringfügig Beschäftigter in das bestehende Meldeverfahren zur Sozialversicherung und durch die Festschreibung der Geringverdienergrenze auf dem Niveau von monatlich 600 DM.So einfach ist also dieses Problem zu lösen. Aber leider, meine Herren und Herr Blüm, stehen Sie mit dieser Meinung ziemlich allein da.
Fritz Eichbauer, der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes in Bonn, bezweifelt, daß der Sozialversicherungsausweis einen Beitrag zur Bekämpfung der Schwarzarbeit leisten könne. Der DGB stellt fest, daß durch einen solchen Ausweis die Beweislast illegaler Beschäftigung auf die Arbeitnehmer verlagert werde. Der Landesvorsitzende des Deutschen Gewerbeverbandes, Helmut Kruczek, kritisiert, daß der Reformentwurf eine beträchtliche Ausweitung der Arbeitgeberpflichten beinhaltet,
die mit einer erheblichen Mehrbelastung der Betriebe, mit Bürokratie und Kosten sowie mit einer Erhöhung des Unternehmerrisikos verbunden ist. Die zu erwartenden erheblichen Mehrbelastungen der Handwerksbetriebe stehen — so Herr Kruczek — in keinem Verhältnis zu dem voraussehbaren Nutzen dieses Gesetzes.Meine Damen und Herren, ich habe schon im letzten Jahr im Plenum ausgeführt: Wenn die Probleme von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit durch die Einführung eines Sozialversicherungsausweises wirklich gelöst werden könnten, dann hätten Sie uns voll auf Ihrer Seite, und Sie könnten mit unserer Unterstützung rechnen. Leider ist mit diesem Gesetz überhaupt nichts gewonnen. Seine Stoßrichtung geht in die falsche Richtung. Hauptziele des Gesetzes sind nämlich allein Arbeitnehmer, die illegal beschäftigt werden und die Leistungsmißbrauch betreiben. Sie übersehen dabei, daß diese Arbeitnehmer häufig aus Not zu diesem Verhalten bereit sind. Das Interesse von Auftraggebern und Arbeitgebern an der Beschäftigung billiger Arbeitskräfte bleibt als Ansatzpunkt bei dieser gesetzlichen Regelung vollkommen außer Betracht.Es fehlen auch Regelungen zur Unterbindung von Scheinwerkverträgen. Es fehlen Regelungen zur Eindämmung der immer mehr um sich greifenden Beschäftigung von Scheinselbständigen. Die bloße Meldung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse ist ein ungeeigneter Weg, sozialpolitisch unerwünschte versicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse einzudämmen. Die SPD fordert schon seit Jahren die Abschaffung der Geringfügigkeitsgrenze, damit der wirtschaftliche Anreiz geringfügiger Beschäftigung verschwindet und Wettbewerbsverzerrungen zwischen den einzelnen Arbeitgebern vermieden werden. Entgegen der Ankündigung von Ihnen, Herr Blüm, diesen Weg ebenfalls zu beschreiten, sagt der Gesetzentwurf jetzt etwas ganz anderes.Meine Damen und Herren, der Sozialversicherungsausweis ist auch nicht fälschungssicher; denn es ist nicht damit zu rechnen, wie Herr Staatssekretär Höpfinger angekündigt hat, daß er mit einem Licht-
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von der Wieschebild ausgestattet ist. Er läßt somit eine Vielzahl von Mißbrauchsmöglichkeiten offen. Ich meine, er fördert dadurch sogar die illegale Beschäftigung.Außerdem verkennt er vollkommen, daß Voraussetzung der Bekämpfung illegaler Praktiken eine verbesserte Kontrolle ist. Das bedeutet, daß die Überwachungsbehörden — und das ist in erster Linie die Bundesanstalt für Arbeit — auch das Personal für diese Überwachung haben müssen.
Wie das bei der jetzigen von der Bundesregierung mutwillig verursachten katastrophalen Finanzlage möglich sein soll, ist ihr Geheimnis.Aber die realistische Berechnung von Kosten ist Ihre Sache ja ohnehin nicht, Herr Blüm. In dem Gesetzentwurf werden die Mehraufwendungen der Rentenversicherungsträger durch die Vergabe des Sozialversicherungsausweises mit ca. 75 Millionen DM angegeben. Der AOK-Bundesverband und der Bundesverband der Innungskrankenkassen kommen zu einer ganz anderen Berechnung, nämlich auf 230 Millionen DM. Dabei sind die zusätzlichen Kosten, die in den Betrieben anfallen, noch gar nicht enthalten.
Der Deutsche Gewerbeverband schätzt diese Kosten auf weitere 460 Millionen DM.
— Das sind Ihre Kollegen, Kollege Kolb.
Wenn Sie denen bescheinigen, sie könnten nicht rechnen, dann tut mir Ihr Verband leid.Wir fordern Sie deswegen auf, Herr Blüm: Ziehen Sie diesen vollkommen untauglichen Entwurf zurück, besinnen Sie sich auf die Vorschläge, die die SPD schon seit Jahren macht: Streichen Sie die Geringfügigkeitsgrenze. Geben Sie dem Betriebsrat bei sämtlichen Fällen, in denen Arbeitnehmer von Fremdfirmen im Betrieb beschäftigt werden, ein Mitbestimmungsrecht.Verändern Sie die vollkommen schlechten Bußgeldvorschriften so, daß Verstöße gegen die gesetzlichen Bestimmungen nicht mehr aus der Westentasche bezahlt werden können.Verschärfen Sie die Haftung der Entleiher. Sie fangen bei null an. Was sind denn das für Bußgeldvorschriften! Der Entleiher muß für nicht gezahlte Lohnsteuer und für die Zahlungspflichten des Verleihers ebenso wie für die Sozialversicherungsbeiträge haften.Die Pflicht zur Abgabe der Meldung zur Sozialversicherung muß schon vor Beginn einer Beschäftigung einsetzen.Bauen Sie die Stützpunktsysteme bei der Bundesanstalt für Arbeit aus. Bilden Sie mobile Einsatzgruppen nach dem Beispiel von Nordrhein-Westfalen.Wenn Sie das alles tun, Herr Minister, brauchen Sie die Bundesrepublik Deutschland nicht mit einem völlig unnötigen bürokratischen Aufwand mit einem neuen Ausweis zu beglücken.
Das Wort hat der Abgeordnete Kolb.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Eugen von der Wiesche, ich würde ja gern das Protokoll von 1982 zitieren, das u. a. Aussagen Ihrer neuen finanzpolitischen Sprecherin enthält. Das Interessante ist: Sie würden das, was Sie eben gesagt haben, völlig in den Schatten stellen. Sie hat nämlich genau anders argumentiert.4 bis 5 Millionen Menschen befinden sich täglich in der Nebenbeschäftigung. Sie nehmen es mit der Legalität, nämlich insgesamt nur 440 DM im Monat verdienen zu dürfen, nicht so genau. Ich kann hier einen Kronzeugen zitieren, den man uns sicher nicht zurechnet. Die „taz" schrieb am 3. Dezember: „Der Ausweis soll verhindern, daß diese Geringverdiener mehrere solche Stellen gleichzeitig annehmen und durchs Netz der Sozialversicherung und Steuern rutschen, obwohl sie auf diese Weise vielleicht insgesamt 1 000 DM verdienen. " Man sagt: 1 000 DM steuerfrei hinzuzuverdienen, das ist eine vernünftige Angelegenheit. So läßt sich wohl auf Kosten anderer leben.Aber, lieber Herr Kollege von der Wiesche, das Problem ist ja, daß in der Zwischenzeit ganze Firmengruppen, übrigens schon 1981 laut Protokoll von Ihrem Kollegen Lennartz erwähnt, gibt, die sich auf die Nurnebentätigkeit spezialisiert haben, und meinen, daß das alles korrekt sei. Dies ist immer scheinbar korrekt, wenn in einem Betrieb nur 440 DM abgerechnet werden. Aber ob dieselbe Person dieses auch in anderen Betrieben tut, ob sie Leistungsbezieher der Bundesanstalt oder des Sozialamtes ist oder ob sie illegal beschäftigt ist, wird nie gefragt. Die Bundesanstalt hat durch Datenabgleich hervorragend feststellen können, daß Leistungsbezug und gleichzeitige Beschäftigung nicht mehr möglich sind. Immerhin sind im letzten Jahr dennoch 103 000 Fälle aufgetaucht.Die größte Möglichkeit der Umgehung und illegalen Beschäftigung — jetzt spreche ich aus der Praxis — war stets, daß wir den Arbeitnehmer nicht anmelden konnten, weil wir keine Papiere hatten. Mit der Sozialversicherungsnummer ist das überhaupt kein Problem. Die Anmeldung ist sofort möglich. Wer die Praxis und das, was die Bundesanstalt draußen vor Ort erlebt hat, kennt, weiß, daß wir ohne nicht mehr durchkommen.
— Nein.
— Das ist doch im Gesetz vorgesehen, um damit gerade die illegale Beschäftigung korrigieren zu können.
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6676 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
KolbIch gebe Ihnen zu, daß eines nicht geht, echte Schwarzarbeit zu bekämpfen. Aber das, was augenzwinkernd zwischen zweien geschieht, mit einem Ausweis zu bekämpfen, ist absolut nicht möglich. Deswegen kann ich Ihnen nur sagen, daß wir hier an einem entscheidenden Punkt sind.Eines erreichen wir auf jeden Fall: Wir treffen die Hechte im Karpfenteich, die fünf Personen anmelden und 20 illegal beschäftigen, dabei unter anderem sogar Aufträge der öffentlichen Hand erhalten, weil sie das phantastisch verstehen. Ich habe kein Verständnis dafür, dieses hinzunehmen.Ein weiteres, wo wir völlig d'accord sind. Es kann nicht angehen, daß wir ein Bußgeld von 0 bis 50 000 DM haben, sondern wir müssen ein Bußgeld von 5 bis 50 000 DM haben. Ich kann Ihnen aus persönlicher Erfahrung sagen: In einem der Fälle, die wir aufgedeckt haben, hat der Betroffene, Süßmeyer, das so links abgesessen. Und das Ergebnis war, daß ich anschließend, als ich dies in München vorbrachte, mit einer Klage überzogen worden bin, ich hätte einen Ehrenmann falsch bezichtigt. Soweit sind wir schon, daß man, wenn jemand illegal beschäftigt, dies nicht mehr draußen sagen darf.Ich darf hier eines sagen — das gilt vor allem für die Mittelständler — : Wir werden im Zuge der Beratung darauf drängen, daß eine Umkehr vorgenommen wird, so daß in Zukunft jemand, der vorgibt, er habe sonst keine Nebenbeschäftigung, der dem Arbeitgeber gegenüber also falsch Zeugnis gibt, derjenige sein wird, der die Strafe zu bezahlen hat — nicht der Arbeitgeber.Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch wir wünschten uns mehr Ehrlichkeit ohne einen Ausweis, aber eines kann doch nicht sein, nämlich daß die Bezieher von Leistungen aus Sozialkassen abkassieren, Studenten sich deshalb nicht exmatrikulieren lassen, weil das dann so hervorragend geht, Besucher aus Ostblockstaaten nach der 50-Tage-Regelung arbeiten und die Illegalen ohnehin kräftig plündern. Hier ist der Sozialstaat gefordert. In der Summe, lieber Herr Kollege von der Wiesche, sind es leider pro Tag 1 bis 1,5 Millionen, die das ausnutzen. Deswegen blieb uns keine andere Wahl, als zu diesem Sozialversicherungsausweis zu greifen.Ich hoffe trotzdem auf eine gute Beratung und Ihre Unterstützung im Ausschuß.Herzlichen Dank, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Schoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir zeichnen uns hier im Parlament dadurch aus, daß wir oftmals haarscharf an der Realität vorbeidiskutieren. Wir sollten aber nicht so tun, als wenn die Leute, die schwarzarbeiten, das aus Schierscheindudel tun, sondern das hat doch wohl irgendwo seine Ursachen. Wenn von „Mißbrauch" geredet wird, muß ich Ihnen sagen: Wer sich mal erzählen läßt, unter welchen Bedingungen Leute beim Sozialamt verzweifelt um die ihnen rechtlich zustehenden Ansprüche kämpfen müssen, wird zu dem Ergebnis kommen, daß wir Mißbrauch in diesem Bereich auch einmal diskutieren müssen.
Mit Einführung des Sozialversicherungsausweises soll der Schwarzarbeit der Kampf angesagt werden. Wissen Sie, Herr Blüm — weil Sie heute gerade hier sind — : Ich bin dafür, dort einzuschreiten, wo die Schwarzarbeit organisiert auftritt und wo sich Unternehmer damit eine goldene Nase verdienen, um diesen Leuten das Handwerk zu legen. Aber wir haben heute schon die Möglichkeit, da einzuschreiten; denn es sind ja oftmals ausländische Arbeitskräfte, die das machen. Wir könnten also durch Überprüfung der Arbeitserlaubnis und des Personalausweises heute schon einschreiten. Ich finde, das ist ein gangbarer Weg und eigentlich genug.Aber es gibt auch noch einen anderen Bereich. Wir haben heute zirka 2 Millionen Erwerbslose. Dazu kommen die Kurzarbeiter. Wir haben allein 3 Millionen Frauen, die ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze haben. Wenn wir uns die materiellen Nöte dieser Menschen vor Augen führen, wenn wir uns deren soziale Isolation vergegenwärtigen, muß uns doch klar sein, daß auf Grund dieses Potentials von Menschen, die in Not sind, ein System von Schwarzarbeit strukturell angelegt ist.
Da mögen Sie empört die Augen rollen. Dennoch bleibt es ein kulturelles Phänomen innerhalb einer Gesellschaft, die reich ist und gleichwohl einem Drittel ihrer Mitglieder das Recht auf Entwicklung durch die Verhinderung der Partizipation an den gesellschaftlichen Möglichkeiten versperrt. So ist das jetzt einfach.
Diese Menschen erhöhen durch Schwarzarbeit nicht nur ihren Lebensunterhalt. Sie durchbrechen dadurch ihre Isolation, weil Arbeit auch Kommunikation bedeutet. Schwarzarbeit ist von der Wurzel her eben auch ein System gegenseitiger Hilfe und perpetuiert Nachbarschaftshilfe, die uns in so vielen anderen Bereichen — ich meine z. B., daß man einmal auf die Kinder aufpaßt oder daß man einmal eine Pflege übernimmt — verlorengegangen ist.
Anstatt durch Mißbrauchsverdacht die Ärmsten zu tyrannisieren, machen Sie doch einmal einen anderen Versuch. Schaffen Sie Arbeitsplätze im ökologischen Bereich, in der Landwirtschaft und z. B. bei den Pflegeberufen. Wo ist denn die Offensive z. B. für eine tägliche Arbeitszeitverkürzung, die sicher auch dazu führen würde, daß wir mehr Arbeitsplätze haben? Statt dessen soll nun durch die Einführung des Sozialversicherungsausweises das Schattendasein der an den Rand Gedrängten gläsern werden. Immer auf die Kleinen. So ist das wohl.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6677
Frau SchoppeWer fragt denn danach, wenn Abgeordnete nebenbei noch so ein kleines Taschengeld von 2 400 DM einstecken? Das scheint es ja auch zu geben.
Schon heute besteht ein Sozialinformationssystem, das den größten und kompliziertesten Verbund von Datensammlungen über Bürger und Bürgerinnen in der Bundesrepublik darstellt. Es ist weit größer als die Datenbestände von INPOL und NADIS zusammen. Medizinische, ökonomische, soziale, psychologische und psychiatrische Daten der Bürger und Bürgerinnen werden gespeichert. Die Struktur und die Datenströme in diesem monströsen Datengebilde sind der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt.Die Versicherungsnummer ist ein multisektorales Personenkennzeichen.
Das Recht der Menschen auf informationelle Selbstbestimmung wird mißachtet. Erschließbar durch die Versichertennummer können hochsensible Persönlichkeitsprofile erstellt werden, auch durch Personen, die keinem Berufsgeheimnis unterliegen.Es fehlt in dem Gesetzentwurf eine den Anforderungen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes Rechnung tragende präzise Aufgaben- und Zweckbestimmung.
Deshalb ist die verfassungsrechtliche Zulässigkeit anzuzweifeln. Auch fehlt es uns an Normenklarheit in diesem Gesetz. Der Bürger kann doch gar nicht erkennen, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang von wem seine Sozialversicherungsnummer und seine Daten weitergegeben werden.
Wir meinen, der grundrechtliche Schutz der Persönlichkeit hat gegenüber dem Grundsatz der Zweckmäßigkeit und Effizienz der Verwaltung eindeutig Vorrang. Das verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip wird unserer Meinung nach durch dieses Gesetz verletzt.Ich danke Ihnen.
Nun hat der Abgeordnete Dr. Thomae das Wort.
Der Gesetzentwurf ist von dem Bemühen geprägt, durch verbesserte Instrumente illegale Beschäftigung, Leistungsmißbrauch und die mißbräuchliche Ausnutzung der Geringfügigkeitsgrenze wirkungsvoller zu bekämpfen. Gerade die Schichten mit niedrigen Einkommen wollen wir durch diese Maßnahme schützen.
Gegenüber dem ursprünglichen Referentenentwurf wird jetzt die Zahl bürokratischer und die Unternehmen belastender Regelungen reduziert. Im Gegensatz zu manchen Kritikern sehe ich die Belastung der Unternehmen nicht als unzumutbar an.
Dies gilt insbesondere dann, wenn, wie vom Bundesrat gefordert, das Meldeverfahren weiter vereinfacht wird.
Bei der Bekämpfung des Leistungsmißbrauchs erscheint es mir vertretbar, die vorgesehene Hinterlegung des Sozialversicherungsausweises im Sinne einer Soll-Vorschrift, wie Bundesrat und Handwerk es fordern, zu verbessern. Dies ermöglicht nämlich eine flexible Handhabung.
Wir müssen auch sorgfältig prüfen, daß möglichen Datenschutzbedenken beim Sozialversicherungsausweis ausreichend Rechnung getragen wird. Bedenken habe ich jedoch, die Ausnahmeregelungen z. B. bei den Meldevorschriften für bestimmte Bereiche noch weiter zu verlängern. Bei allem Verständnis für die Belange einzelner Bereiche halte ich dies nicht für richtig.
Ich möchte für meine Fraktion ausdrücklich erklären, daß wir am Institut der geringfügigen Beschäftigung festhalten.
Wir sind auch der Meinung, daß vorhandene Mißbräuche nicht hingenommen werden können. Die jetzt vorgesehene Meldepflicht wird, so hoffe ich, zum Abbau von Mißbräuchen beitragen. Dabei ist allerdings ganz besonders notwendig, daß unverzüglich ein Datenabgleich erfolgt.
Korrekturbedürftig sind, so sehe ich es, auch die geltenden Haftungsregelungen in den Fällen, in denen der Arbeitnehmer seinen Meldepflichten nachkommt. Wichtig ist auch, nicht nur die schlimmste Auswirkung, sondern auch die Ursachen dieser von uns allen kritisierten Handlungsweisen zu bekämpfen,
nämlich die Diskrepanz zwischen dem Netto- und dem Bruttolohn nicht noch größer werden zu lassen und insbesondere den Anstieg der Sozialabgaben auf ein vertretbares, auch vom Bürger akzeptiertes Maß zu reduzieren.
Daran und an konkreten Vorschlägen zur Verbesserung dieses Gesetzentwurfs sind wir sicherlich alle interessiert, und wir hoffen auf gute Zusammenarbeit.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, die vereinbarte Redezeit ist abgelaufen.Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einführung eines Sozialversicherungsausweises und zur Änderung anderer Sozialgesetze an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Außerdem soll die Vorlage auch an den Innenausschuß — zur Mitberatung — überwiesen werden. — Weitere Vorschläge werden nicht gemacht. Dann ist das beschlossen.
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6678 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Vizepräsident CronenbergIch rufe nunmehr Punkt 21 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Unruh, Frau Trenz und der Fraktion DIE GRÜNENAnrechnung der Rente auf die Altersentschädigung für Mitglieder des Deutschen Bundestages— Drucksache 11/1597 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
RechtsausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungHaushaltsausschußHierzu ist vereinbart worden, daß für die Beratung ein Redebeitrag von fünf Minuten je Fraktion vorgesehen ist. Erhebt sich Widerspruch im Haus? — Das ist nicht der Fall. Dann darf ich feststellen, daß das beschlossen ist.Ich eröffne die Debatte. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Unruh.
Herr Präsident! Werte Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Es ist wohl das erste Mal in der Bundesrepublik Deutschland, daß es um die jetzigen und zukünftigen Abgeordneten in diesem Hause geht. Wie Sie alle wissen, hat das Bundesverfassungsgericht schon am 2. Dezember 1987 festgestellt, daß sich die Bundestagsabgeordneten insoweit ungerechtfertigte Privilegien genehmigt haben, als sie sich einerseits eine eigene Altersentschädigung verschafft haben, sich andererseits aber nicht die zusätzliche Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung haben anrechnen lassen. In diesem Punkt verschaffen sich die hohen Herren und Damen in diesem Haus im Vergleich zu den privilegierten Beamten sogar noch höhere Privilegien, da sich nämlich die Beamten seit 1982 50 % der Rente anrechnen lassen müssen, wenn sie zusätzlich zu ihren Pensionen, zu denen sie ja nichts einzahlen, noch ihre Rente bekommen.
Aber je mehr er hat, je mehr er will. Das ist nun einmal so im Leben; das hören wir ja immer wieder. Leistung, Leistung, dann kriegst du was. Auch in diesem Hause wird hohe Leistung erbracht. Aber es wird nicht das Signal gesetzt, wenn entgegen der Verfassung gehandelt wurde, wenn jemand in diesem Hause herangeht, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in unserer Verfassung zu würdigen.
Sie wissen ja selber, daß Sie alle nach sechs Jahren ohne eigene Einzahlung eine Pension von 2 254 DM haben.
— Solange bin ich nicht in diesem Haus.
Nach 16 Jahren haben Sie eine Pension von 6 760 DM. — Es wäre vielleicht gut, wenn Sie aus diesem Haus herauskämen. Dann würde es hier vielleicht etwas anders zugehen.
Selbstverständlich bekommen auch die Abgeordneten die Pension ohne eigene Beteiligung. Denken Sie immer daran, was ich meine, nämlich die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse vor unserer Bundesverfassung.
Selbstverständlich gehört ebenso dazu, sich selber eine regelmäßige Einkommenserhöhung zu verschaffen. Das ist alles unfaßbar für den normalen Rentner und für die normale Rentnerin. Es ist ganz unfaßbar für Sozialhilfeempfänger, die 420 DM bekommen, die kleinste Staatsrente, die man sich vorstellen kann. Aber siehe da: Angerechnet wird sogar bei den Kindern, wenn es paßt.
Die Doppelrenten der Abgeordneten, Beamten, Minister und Staatssekretäre werden nicht angetastet und nicht angerechnet. Aber bei den alten Menschen geht man in die Würde; man geht ihnen, wie man so schön sagt, an die Wäsche; sie haben Angst, vor ihren Kindern das Gesicht zu verlieren. Aber Sie berührt das doch überhaupt nicht, wer in dieser Bundesrepublik Ängsten ausgesetzt ist, und dann auch noch im hohen Alter; denn Sie haben bis heute nicht dafür gesorgt, daß zumindest die jetzigen Alten, die genug Leistung über Jahrzehnte gezeigt haben, wegen der Gleichwertigkeit der Leistungen eine Mindestrente oder eine Auffangrente oder sonst etwas bekommen. Das liegt nur an Ihren steinernen Köpfen hier. Sich selbst haben Sie ja genug bedient.
Was die Renten aus der normalen Rentenversicherung angeht — auch das ist ein Traum. Denn nur 1,89 % der Rentner mit 35 und 40 Rentenjahren erhalten eine Rente von 3 500 DM; nur 2 Rentner erhalten eine Rente von über 3 500 DM; aber 48,7 % der Beamten beim Bund bekommen über 3 500 DM Pension und zwar ohne eigene Einzahlung. Das müßte Sie alle bitte zum Denken bringen, wenn Sie unsere eigene Verfassung ernst nehmen.
Bitte, Sie sind alle keine Verfassungsfeinde; also, richten Sie sich endlich einmal selbst. Fangen Sie beim Bund an, daß Gleichwertigkeit in diesem Hause einzieht. Dann werden auch die Länder folgen. Verstecken Sie sich, bitte schön, nicht hinter den Länderbeamten und nicht hinter den Länderparlamenten. Hier im Hohen Hause ist ein Nachholbedarf. Bitte schön, hier steht Ihr Gewissen in der Prüfung, und hier können Sie dem Volk draußen zeigen, daß Sie es genauso achten wie sich selbst. Stellen Sie Gleichwertigkeit her.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Bohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal sollten wir auch wegen der Zuhörer noch einmal sagen, um was es geht.Der Abgeordnete des Deutschen Bundestages erhält eine monatliche Entschädigung. Gehört er diesem Parlament 16 Jahre an und scheidet aus und hat das 55. Lebensjahr erreicht, so erhält er als monatliche Altersentschädigung 75 % der ihm als aktivem Abgeordneten gewährten Entschädigung. Gemäß § 29 des Abgeordnetengesetzes werden Beamtenpensionen und Renten aus Zusatzkassen des öffentlichen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6679
BohlDienstes in einem bestimmten Umfang auf die Altersentschädigung des Abgeordneten angerechnet. Renten aus den gesetzlichen Versicherungen werden nach geltender Regelung auf die Entschädigung des Abgeordneten nicht angerechnet, werden also ungekürzt gezahlt, bzw. die Altersentschädigung wird nicht um den Betrag abgeschmolzen, um den die Rente eigentlich gekürzt werden sollte.
— Moment! Nun hören Sie doch zu! — Nun meint also die Fraktion DIE GRÜNEN — vielleicht auch Sie —, aus einer Bemerkung in dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 30. September 1987 herauslesen zu müssen, wir müßten eine Anrechnung der Renten vornehmen, also auch die Renten abschmelzen. Ich füge für die Nichteingeweihten noch einmal hinzu: Natürlich würden die Renten ungeschmälert gezahlt und die Altersentschädigung abgesenkt.Zunächst einmal ist festzustellen, daß sich aus dieser Anmerkung keine unmittelbare Verpflichtung für den Deutschen Bundestag ergibt, eine entsprechende Novellierung vorzunehmen. Die Rechtsstellungskommission des Ältestenrats unter dem Vorsitz von Frau Vizepräsident Renger hat diese Auffassung einstimmig geteilt; es ist eine Nebenbemerkung, es ist kein tragendes Element des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts. Deshalb sind also Eile und Hektik in der Tat nicht vonnöten, ganz im Gegenteil. Aufgrund auch schlechter Erfahrungen, die wir gemacht haben, sollten wir in aller Ruhe und mit Sorgfalt prüfen, was zu tun ist. Klar ist aber, daß es keine Sonderbehandlung für Abgeordnete geben wird.
Nun warten Sie doch einmal ab, Frau Unruh! —
Eindeutig ist — das ergibt sich auch aus den Gesetzesmaterialien —, daß wir bei § 29 des Abgeordnetengesetzes von der grundsätzlichen Trennung der Lebensabschnitte mit Tätigkeiten im öffentlichen Dienst und dem Mandat ausgegangen sind. Bei der Bemessung der Altersversorgung des Abgeordneten werden keine anderen als Mandatszeiten berücksichtigt. Umgekehrt sollen die in einem anderen Lebensabschnitt vor oder nach der Mandatsausübung erworbenen Versorgungsansprüche grundsätzlich nebeneinander bestehen bleiben — so ist die Konzeption des Gesetzes — , es sei denn, im Falle der Doppelalimentation würde das Verbot greifen, beides ungeschmälert zu zahlen, so wie es auf jeden Fall der Fall ist, wenn eine Abgeordnetenentschädigung mit einer Beamtenpension zusammenkommt.Der Gesetzgeber hat also von einer Anrechnung der Renten auf die Abgeordnetenversorgung abgesehen, weil es sich bei der Rente
— Frau Unruh, vielleicht hören Sie zu — um eine Leistung auf Grund von Beitragszahlungen und nicht auf Grund von Alimentation handelt. Das war zumindest der Sinn des Gesetzgebers. Deshalb habe ich auch Zweifel, ob der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts, es handle sich bei der Rentenkasse um eine öffentliche Kasse, in diesem Zusammenhang greift.
— Das Konzept, Frau Unruh, geht nun einmal gerade von Tätigkeiten aus, die Ansprüche sowohl vor als auch nach der Mandatszeit begründen, die hinzukommen.Aus alledem ergibt sich — ich will es kurz machen —, daß hier ganz sensible und schwierige Rechts- und Statusfragen angesprochen sind, so daß auch populistischen Schnellschüssen, Frau Unruh, eigentlich kein Raum gegeben sein sollte.
Wir wollen uns nicht besserstellen als die Rentenbezieher, aber die Abgeordnetentätigkeit ist eine Tätigkeit auf Zeit und besonderer Art, die angemessene und entsprechende Lösungen in Versorgungsfragen gebietet. Deshalb haben wir ein System der Entschädigung und Altersversorgung völlig eigener Art, Herr Kollege. Das wird ja auch in Ihren Reihen nicht anders gesehen.
— Leider nicht.
— Freuen Sie sich einmal nicht zu früh!Wir Abgeordneten tun gut daran, offen über die unseren Status berührenden Fragen zu sprechen und uns auch der Öffentlichkeit zu stellen.
Wir haben in dieser Frage nichts zu verbergen, ganz im Gegenteil. Wir handeln nicht aus Eigennutz. Vielmehr hat der Abgeordnete eine in unserem Verfassungsgefüge besondere Aufgabe und Verantwortung, die dazu zwingt, auch die Entschädigung und die Altersversorgung so festzulegen, daß der Abgeordnete sein Mandat frei, unabhängig und verantwortungsvoll ausüben kann.In diesem Sinne hoffen wir auf vernünftige Beratungen in den zuständigen Ausschüssen des Bundestages.Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Becker .
Im übrigen, Herr Abgeordneter Andres: Bei FünfMinuten-Beiträgen lassen wir grundsätzlich keine Zwischenfragen zu.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Unruh, ich würde zunächst einmal eine Frage an den Anfang stellen, weil sie heute, wenn Sie so lange hierbleiben, wie die Plenarsitzung dauert, besonders berechtigt ist. Ich glaube nicht, daß Sie hier einen Arbeitstag haben, der unter 16 Stunden liegt. In irgendeiner Zeitung hat gestanden, wir arbeiteten 17,5 Stunden in der Woche. Ich muß für mich in Anspruch nehmen: Ich arbeite hier 16 Stunden am Tag. Ich möchte das als Überschrift über alles, was wir hier diskutieren, ganz gern dokumentiert haben.
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6680 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Becker
Nun fangen wir an, darüber zu reden, wie wir Abgeordnete uns in dieser Gesellschaft mit Privilegien ausstatten. Hier kann ich Ihnen eine klare Antwort geben und stimme mit Ihnen sicher völlig überein: Ich will kein Privileg, überhaupt kein Privileg.Wenn wir auf Ihren Antrag zu sprechen kommen, dann müssen wir sagen: Zur Zeit gibt es ein Privileg für Abgeordnete. Das möchte ich nicht gerne haben. Ich möchte gerne, daß wir so behandelt werden wie alle anderen auch. Durch das Beamtenversorgungsgesetz und die Beschlüsse, die zu dessen § 55 gefaßt worden sind, nämlich die teilweise Anrechnung von Renten, ist dieses Problem überhaupt erst auf gekommen. Hier haben wir uns leider nicht rechtzeitig gemeldet und haben gesagt: Wir müßten eigentlich dieselbe Regelung haben.Gleichwohl muß ich noch einmal sagen: Unsere Rechtsverhältnisse sind nicht mit denen der Beamten zu vergleichen. Wir haben ein eigenes Rechtsstellungsgesetz. Aber da, wo wir moralisch meinen, wir müßten uns vergleichen, sollten wir das auch tun.
Deswegen, meine ich, ist Ihr Antrag durchaus berechtigt. Wir müssen darüber nachdenken, ob diese Moral eigentlich noch stimmt oder ob wir uns tatsächlich Privilegien verschaffen.Ich bin deswegen sehr dafür, daß wir genau darüber nachdenken, was Sie in Ihrem Antrag zum Ausdruck bringen. Ich kann Ihnen nur sagen: Die Sozialdemokraten haben auf ihrem Parteitag in Münster bezüglich der Angleichung der Versorgungssysteme die Abgeordneten nicht ausgeschlossen, sondern sie haben gesagt: Alles, was wir hier bei der Angleichung von Versorgungssystemen beschließen, gilt auch für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, unter Berücksichtigung all dessen, was ich im vorhinein schon erklärt habe.Nun ist dies nicht die einzige Frage, die wir zu lösen haben. Sie wissen selbst, daß um Sterbegeld und Übergangsgeld, um die Frage, wie es eigentlich kommt, daß Abgeordnete ihre Bezüge selber festsetzen, in der Öffentlichkeit große Diskussionen sind.
— Ich halte das für völlig richtig. Wir sollten uns dieser Diskussion stellen. Aber wir sollten auch sagen, was uns das Verfassungsgericht aufgetragen hat, nämlich daß wir über unsere Verhältnisse und alles das, was wir hier beschließen, selber bestimmen müssen und daß das kein anderer machen kann.Nur: Wir müssen das richtige Augenmaß haben. Hier haben Sie durch Ihren Antrag sicherlich ein Beispiel geliefert, wo wir sagen: Laßt uns darüber nachdenken. Das müssen wir tun. Ich bin ganz sicher, daß wir das nicht nur aufnehmen, sondern daß wir uns tatsächlich damit beschäftigen und daß wir das auch nicht auf die lange Bank schieben, sondern möglichst bald dazu kommen, festzustellen, was wir in unseren Zuständigkeiten bei Diäten, Pauschalen, Sterbegeld und Altersversorgungssystemen als das richtige Maß ansehen.Ich kann Ihnen nur versprechen: Ich werde mich im Rahmen der SPD-Bundestagsfraktion dafür aktiv einsetzen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolf gramm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat das am 30. September übrigens sehr deutlich gesagt. Insofern ist es auch richtig, daß wir das mit einbeziehen. Es hat gesagt: Zwischen Abgeordneten und Beamten bestehen grundlegende statusrechtliche Unterschiede, und es hat das sogar zu einem Leitsatz erhoben.
Ich bedauere übrigens an dieser Stelle, daß wir uns ein bißchen auch aus Bequemlichkeit in den letzten Jahren immer wieder an beamtenrechtliche Regelungen angeschlossen haben, weil sie schon sehr sorgfältig berechnet und überlegt worden sind — z. B. im Krankenbereich —, und uns nicht eigene Regelungen gegeben haben. Aber das ist ein anderer Punkt, den wir bei Gelegenheit aufgreifen.
Es geht um eine gerechte Behandlung, aber es geht nicht um eine Nivellierung, Frau Kollegin. Es geht auch darum, daß wohlerworbene Ansprüche erhalten bleiben. Es ist ein großer Unterschied, ob sich jemand freiwillig in der Rentenversicherung versichert und die ganzen Beiträge selbst aufgebracht hat, ob er sich freiwillig hat pflichtversichern lassen und auch diese entsprechenden Beiträge aufgebracht hat oder ob er in einer Pflichtversicherung gewesen ist. Alle diese Dinge werden wir sorgfältig trennen und unterscheiden müssen. Wir werden hier nicht zu einer Nivellierung kommen nach dem Motto: Es ist populär und draußen vielleicht auch sehr eindrucksvoll, wenn wir auf eigene Versorgungsleistungen, die genauso aus Versicherungsbeiträgen hätten bestehen können, aus populistischen Gründen verzichten wollen.
Nur um den Unterschied zwischen Beamten und Abgeordneten deutlich zu machen: Ich sehe hier keinen richtigen Fürsorgeanspruch gegenüber dem Wähler auf Erneuerung unseres Mandats.
Wenn das eines Tages eingeführt wird, können wir darüber auch hinsichtlich der Angleichung an Beamte reden. Wir werden das sorgfältig behandeln und prüfen und uns dann in der weiteren Beratung hier wieder melden.
Damit sind wir am Ende der Debatte über diesen Tagesordnungspunkt. Es wird vorgeschlagen, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Werden zusätzliche Vorschläge gemacht? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6681
Vizepräsident CronenbergSammelübersicht 63 zu Petitionen— Drucksache 11/2336 —b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 70 zu Petitionen— Drucksache 11/2511 —c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 71 zu Petitionen— Drucksache 11/2512 —Hierzu liegen Ihnen Änderungsanträge von der Fraktion DIE GRÜNEN sowie der Fraktion der SPD auf folgenden Drucksachen vor: 11/2980, 11/2982, 11/2996, 11/2997 und 11/3019.Im Ältestenrat ist vereinbart worden, daß zu jeder der drei Sammelübersichten eine Beratung mit Beiträgen bis zu fünf Minuten für jede Fraktion durchgeführt wird. Ich unterstreiche: bis zu fünf Minuten. Das heißt drei Debattenrunden — damit kein Mißverständnis auftritt.Wir beginnen mit der Drucksache 11/2336. Das Wort hat der Abgeordnete Kalb. — Das ist uns so gemeldet worden. — Da das offensichtlich noch Probleme gibt, darf ich dem Abgeordneten Zumkley das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es fällt sicherlich nicht schwer, dem Anliegen der Petenten Verständnis entgegenzubringen, den Rangierbahnhof in München-Nord nicht zu bauen. Darum geht es jetzt. Die Argumente, es handle sich bei dem Bauvorhaben um einen Eingriff in die Stadtstruktur und die Beeinträchtigung eines Naturgebiets, sind nicht leicht von der Hand zu weisen. Dennoch führen Überlegungen verschiedener Art zu dem Schluß, daß der Rangierbahnhof in München-Nord jetzt gebaut werden muß.
Die grundlegenden Meinungsverschiedenheiten bezogen sich von jeher auf die Standortfrage. Als das Gelände im Jahre 1937 in das Eigentum der Deutschen Reichsbahn überging, war die Gegend nur dünn besiedelt; heute befindet sich das Gelände zwischen zwei Wohngebieten. Wie dem auch sei — —
— Ich hoffe, daß ich mit meiner Rede die Gespräche nicht störe. Ich will dann gern weitermachen.
Herr Abgeordneter Zumkley, das war eine zutreffende Bemerkung. Ich bitte in der Tat das Haus — das gilt auch für die Geschäftsführer der SPD-Fraktion — , die Unterhaltungen einzustellen. — Aber selbst mir gelingt es nicht, dieses Gespräch zu unterbrechen.
Vielen Dank, Herr Präsident! — Ich darf fortfahren.
Wie dem auch sei: Bei der Wahl des Standorts sind im Planfeststellungsverfahren und in der nachfolgenden Prüfung desselben keine rechtlichen Fehler unterlaufen, so daß die Petenten bei allen angerufenen Instanzen abgewiesen worden sind.
Nachdem der Stadtrat der Stadt München das Gelände im Jahre 1963 in den Stadtentwicklungs- und Verkehrsplan aufgenommen hatte, entschied er im Jahre 1965, daß es im Flächennutzungsplan als Eisenbahngebiet ausgewiesen werden sollte. Im Vertrauen auf diese Entscheidung begann die Deutsche Bundesbahn 1982 mit ihrer konkreten Planung. In den folgenden Jahren wurde ihr von verschiedenen Gerichten recht gegeben. Trotzdem verzögerte sich der Baubeginn immer wieder. Eine endgültige Entscheidung in dieser Angelegenheit ist jetzt geboten.
Für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Deutschen Bundesbahn auch im Hinblick auf den europäischen Binnenmarkt ist der baldige Bau des Rangierbahnhofs in München-Nord notwendig. Ebenso ist eine Modernisierung zwecks Steigerung der Leistungsfähigkeit und der Kapazität dringend vonnöten. Andere in die Prüfung einbezogene Standorte hätten noch mehr Nachteile für die dann betroffene Bevölkerung und die Natur ergeben.
Was den Schutz des Naturgebiets angeht, wäre eine Beeinträchtigung auch durch die Verwendung des Geländes als Siedlungs- bzw. Gewerbegebiet gegeben, was ja auch zur Diskussion gestanden hat.
— Natürlich, meine Freunde in München haben sich sehr wohl darüber Gedanken gemacht.
Der Deutsche Bundestag hat am 10. März 1988, also erst vor einem halben Jahr, der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr, den Antrag auf Nichterrichtung des Rangierbahnhofes München-Nord abzulehnen, zugestimmt. Der Sachverhalt ist seitdem der gleiche geblieben.
Von der Deutschen Bundesbahn wird erwartet, daß sie alle Möglichkeiten zur weitgehenden Erhaltung eines neuen Biotops unternimmt. Von der Bundesbahn wird weiter gefordert, die von einem Rangierbahnhof ausgehende Lärmbelästigung durch Einsatz moderner Technik auf diesem Gebiet auf ein Mindestmaß zu beschränken.
Die wünschenswerte Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene wird durch den Bau des Rangierbahnhofs begünstigt, so daß auch im Hinblick auf die Luftverschmutzung und den Straßenverkehr eine Verbesserung erreicht wird, was unseren Interessen grundsätzlich entspricht.
Wir stimmen deshalb dafür, die Petition als erledigt anzusehen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Weiss. Ich bedaure, daß ich übersehen habe, daß Sie der Antragsteller der Änderungsdrucksache waren, und bitte um Nachsicht.
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6682 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich mich jetzt hier im Saal umsehe, dann stelle ich mit Überraschung fest, daß ich offensichtlich der einzige Münchener Abgeordnete aller Fraktionen bin, die an dem Problem Rangierbahnhof München überhaupt noch interessiert sind bzw. die es sich hier leisten können, ehrlichen Gesichts hier hineinzugehen und hier zu sprechen. Denn ich meine, die Geschichte ist nicht so einfach; Sie haben auch mehrfach Ihre Meinungen geändert.Was hat es denn 1979 gegeben? — Die fünf Münchener CSU-Abgeordneten sind damals zu einem SPD-Verkchrsminister gelaufen und haben gesagt: Nein, er darf dort aus städtebaulichen und ökologischen Gründen nicht gebaut werden; denn das Gelände ist zu wertvoll. Sie haben eine große Initiative gestartet, und sie ist an dem SPD-Verkehrsminister gescheitert.Nach der Wende sind die Münchener SPD-Abgeordneten zum CSU-Verkehrsminister gelaufen mit dem gleichen Anliegen, nämlich: Der Rangierbahnhof darf aus ökologischer, aus städtebaulicher Sicht nicht gebaut werden. Sie sind genauso gescheitert.Da zeigt sich doch eigentlich Ihre ganze Unehrlichkeit. Denn wo sind die Münchener Abgeordneten aller Parteien?
Wieso gibt es einstimmige Entschließungen — ich sage: einstimmig, mit den Stimmen aller Fraktionen! — des Münchener Stadtrates, sich gegen dieses Vorhaben zu wenden? Wo sind Sie dann? Vor Ort gehen Sie doch hin! Ihr CSU-Stadtrat, der Herr Blettschacher, stellt sich auf den Marienplatz und redet auf Demonstrationen davon, was hier zerstört würde, was hier kaputtgemacht würde. Aber jetzt sind Sie nicht mehr da! Da zeigt sich, was Sie unter Politik eigentlich verstehen. Die Abgeordneten dürfen draußen reden, was sie wollen, aber wenn es um die eigentlich entscheidenden Fragen geht, werden sie hier in Bonn von Ihnen kalt abgebügelt. Sie nehmen die Belange der Menschen nicht mehr ernst!
In diesem Zusammenhang muß ich Ihnen einfach sagen: Es geht überhaupt nicht darum, den Rangierbahnhof zu verhindern, sondern darum, Eingriffe, die geplant sind, noch zu verhindern oder zu begrenzen. Ich kenne den Beschluß des Deutschen Bundestages vom 10. Mai, der den Antrag, daß der Rangierbahnhof nicht gebaut wird, ablehnt.Nun muß man aber sagen: Das, was wir in unserem Änderungsantrag fordern, ist ja nicht mehr dasselbe Anliegen. Vielmehr fordern wir, daß wir unverzüglich prüfen, ob wir nicht den Flächenbedarf auf ein Drittel reduzieren können, ob wir nicht das Konzept verwirklichen, das eigentlich fertig auf dem Tisch liegt, das zwar wahrscheinlich 300 Millionen DM teurer wird, aber die Interessen von Umwelt und Städteplanung berücksichtigt. Ich meine die 300 Millionen DM teurere Version mit der Rangierhalle. Da gibt es doch das fertige Konzept der Firma MBB, die sicher nicht sonderlich grünenfreundlich ist.Die Geschichte ist doch ganz einfach: Wir haben die Möglichkeit, den Eingriff auf die jetzt bereits gerodete Teilfläche zu beschränken, und haben die Möglichkeit, die Allacher Steppe und den Allacher Wald zu verschonen.
Dazu muß ich Ihnen noch eines sagen. Wenn Sie von Natur- und Landschaftsschutz reden, ist das schon eine besondere Art. Denn eigentlich dürfte dieses Gelände nach heutigen Kriterien nicht mehr bebaut werden. Seit 1. August 1986 sind alle Trockenstandorte wie die Allacher Steppe nach Art. 6 d des bayerischen Naturschutzgesetzes unter strengen Naturschutz gestellt und dürfen nicht mehr bebaut werden. In diesem Falle tritt nur die Situation ein, daß der Planfeststellungsbeschluß vor der Änderung des bayerischen Naturschutzgesetzes ergangen ist und daß daher dieser nachträgliche Schutz nicht greift. Nichtsdestotrotz ist die Schutzwürdigkeit des Gebiets doch nach wie vor gegeben.Was ich auch einfach sagen muß: In dem ganzen Zusammenhang mit den Beratungen des Petitionsverfahrens und mit der Beratung des Antrages, der hier einmal gestellt war, ist eigentlich in keinem einzigen Fall eine ernsthafte Stellungnahme seitens der Bundesbahn oder seitens des Verkehrsministeriums zu der Möglichkeit abgegeben worden, den Eingriff auf ein Drittel der Fläche zu begrenzen.
— Haben Sie irgendwo die Stellungnahme, Herr Haungs?
Ich habe sie nicht.
Sie hat jedenfalls in dem ganzen Petitionsverfahren nicht vorgelegen. Da täuschen Sie sich mit Sicherheit! Das ist bisher nie ernsthaft geprüft worden.Das, was wir mit unserem Änderungsantrag verlangen, ist, daß wir die Möglichkeiten, die wir vielleicht noch haben, den Eingriff zu begrenzen, nutzen und unverzüglich in eine ernsthafte Prüfung, ob nicht zwei Drittel der Fläche geschont werden können, eintreten. Das fordern wir in dem Änderungsantrag.
Im übrigen darf ich selbstverständlich sagen, daß Güterverkehr auf die Schiene gehört und daß wir natürlich auch der Bahn das Recht zubilligen,
die modernste Infrastruktur zu haben, um den Güterverkehr auf der Schiene ihren Bedürfnissen entsprechend abwickeln zu können.
— Mit einer entsprechenden Konzeption!
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6683
Nun hat der Abgeordnete Kalb das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann den Kollegen Weiss zumindest insofern trösten, als ich mich als Bayer, als Niederbayer, zu erkennen geben darf, der jeweils gerne in die Landeshauptstadt München einpendelt und acht Jahre lang auch gerne in München politisch tätig war.
Der Herr Kollege Zumkley hat den Sachverhalt hier schon sehr korrekt dargestellt, so daß ich eigentlich, wenn nicht Ihr Beitrag noch gekommen wäre, hätte verzichten können. Ich möchte nur in wenigen Punkten nochmals darauf eingehen.
Erstens. Die Petenten weisen ja selber darauf hin, daß man sich schon seit rund 50 Jahren darum bemüht, dort einen leistungsfähigen Rangierbahnhof zu errichten.
Zweitens. Es ist vom Kollegen Zumkley schon dargelegt worden, daß im Rahmen der Raumordnungsund der Planfeststellungsverfahren 18 Alternativstandorte untersucht worden sind, daß sich aber keiner der anderen überprüften Standorte als entsprechend geeignet erwiesen hat.
Drittens. Es sind auch die Entscheidungen und Festlegungen der Deutschen Bundesbahn von den Gerichten — Verwaltungsgerichte, Bundesverwaltungsgericht — und auch eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht überprüft worden. Die Landeshauptstadt München konnte also keinen Erfolg haben.
Es ist ebenfalls davon gesprochen worden, daß auch ein Antrag von Kollegen hier im Deutschen Bundestag auf Grund der Mehrheitsentscheidung in diesem Hause nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat, so daß wir in der Kontinuität dieser Entscheidungen eigentlich bleiben müssen und uns auch der Verantwortung stellen müssen, nicht zu weiteren Verzögerungen und Verunsicherungen beizutragen.
Hinsichtlich dessen, was Sie, Herr Kollege Weiss, dargestellt haben: Auch das von Ihnen angesprochene Alternativkonzept, das angeblich so flächensparend ist — —
— Ich habe die Patentschrift ja hier. — Ich glaube, ich darf hier keine Demonstration vornehmen.
Herr Abgeordneter Kalb, so kleinlich ist das Präsidium nicht. Wenn Sie eine solche Demonstration vornehmen, wird das selbst die Zustimmung der GRÜNEN finden.
Vielen Dank. — Ich halte es nicht für geeignet. Das System ist aus der Fertigungstechnik, wie man es andernorts einsetzt, ja im wesentlichen bekannt, nur in einem viel, viel größeren Maßstab — wenn ich es hier einmal so vereinfacht darstellen darf. Das kann man nicht so ohne weiteres übertragen.
Sie haben auch von den Kosten gesprochen. Es darf nicht übersehen werden — ich meine, auch Herr Kollege Zumkley hat es vorhin dargestellt — , daß die Bundesbahn dabei ist, neue Techniken zu entwickeln, um geräuschärmere und geräuschmindernde Einrichtungen zu finden, um so das Rangieren geräuschärmer abwickeln zu können. Hier sind neue Verfahren in der Vorbereitung.Ich möchte dazu aber doch noch grundsätzlich etwas sagen. Es ist schon ein Trauerspiel, wenn man über 50 Jahre hinweg nicht in der Lage ist, wichtige Infrastruktureinrichtungen zu schaffen, die notwendig sind, um auch Ihrer Forderung nachkommen zu können, mehr Verkehr auf der Schiene zu bewältigen. Ein Wirtschaftsraum, ein Zentrum der Wissenschaft, der Kultur und der Dienstleistung, wie es München ist, lebt natürlich auch davon, daß die Verkehrswege auf diese Stadt zentral zugehen, bringt aber natürlich Probleme bei der Bewältigung der überregionalen Verkehre mit sich, auch bei der Bewältigung der Ziel- und Quellverkehre, die eingefädelt werden müssen.Ich halte es für dringend notwendig, daß nicht nur a, sondern auch b gesagt wird, daß hier die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden, insbesondere auch deswegen, weil wir im süddeutschen Bereich miterleben und mitbekommen, welche Probleme sich in unseren Nachbarländern Österreich und Italien ergeben. Ein leistungsfähiger Rangierbahnhof in München ist unabdingbar dafür, daß auch dort die Probleme leichter bewältigt werden können.
Natürlich gäbe es dann auch einige andere Erscheinungen. Einige beklagen sich jetzt darüber, daß Trokkenbiotope zerstört werden. Wenn man aber weiß, daß sie dadurch entstanden sind, daß man in Erwartung darauf, daß dort eine Baumaßnahme durchgeführt wird, Kies gelagert hat — —
— Herr Kollege Weiss, warum sind Sie denn so aufgeregt? Wir werden in der nächsten Zeit Gelegenheit haben, uns weiter zu unterhalten.Ich meine nur, lieber Kollege Weiss — das darf ich zum Abschluß sagen — : Wenn man, wie in der „Süddeutschen" am 28. September zu sehen und zu lesen war, von der Jugendgruppe des Bundesnaturschutzverbandes sagt: Statt Luft zu verschmutzen Bahn benutzen.
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6684 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Kalbkann ich das nur dick unterstreichen. Aber dann auch bitte die dafür erforderlichen Einrichtungen schaffen, damit das auch in Zukunft möglich ist.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Segall.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wie schon dargelegt, fordern die Petenten, den Rangierbahnhof München-Nord nicht zu errichten. Hier kollidieren Naturschutzinteressen — denn der Ausbau würde ein Biotop vernichten — mit berechtigten Interessen der Deutschen Bundesbahn. Seit mehr als 50 Jahren — Sie haben richtig gehört — wird versucht, diesen Rangierbahnhof durchzusetzen. Es verwundert darum nicht, daß dieses Vorhaben Gegenstand verschiedener Verwaltungsstreitverfahren war. Als Mitglied des Umweltausschusses sind mir die Probleme gerade bei Bauvorhaben bekannt. Wir wissen, daß hier noch einiges im argen liegt, und die Umweltverträglichkeitsprüfung soll hier Fortschritte bringen. Sie wird insbesondere für eine medienübergreifende Prüfung der Umweltauswirkungen Sorge tragen.
Im vorliegenden Fall ist im übrigen von verschiedenen Instanzen geprüft worden, ob die Belange des Städtebaus und die Belange des Umwelt- und Landschaftsschutzes rechtmäßig aufeinander abgestimmt worden sind.
Das zeigt, daß im Baurecht de facto bereits eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt wird.
Letztinstanzlich wurde bestätigt, daß die Belange der Umwelt und des Landschaftsschutzes gegenüber den städtebaulichen Gesichtspunkten umfassend abgewogen wurden.
Der Petitionsausschuß ist Teil des Parlaments. Diese Gewalt, die Legislative, sollte nicht versuchen, Entscheidungen der Rechtsprechung abzuändern.
Verfassungsrechtlich darf der Petitionsausschuß das sogar nicht.
Aber auch inhaltlich kann ich mich für die Petition nicht einsetzen.
Neben dem geplanten Standort hat die Bundesbahn
insgesamt 18 Alternativstandorte untersucht. Auch
das Raumordnungs- und das Planfeststellungsverfahren konnten nicht zu einer Alternative führen. Eine Reaktion bei der Prüfung der alternativen Standorte möchte ich hier übrigens einmal nennen. Raten Sie mal, was die möglicherweise Betroffenen zum geplanten Rangierbahnhof jeweils sagten? Immer das gleiche: Natürlich brauchen wir einen Rangierbahnhof, aber nicht bei uns. Dieses Sankt-Florians-Prinzip ist besonders im Umweltschutz große Mode — leider nicht nur bei Bürgern, sondern auch bei Politikern,
die dem Allgemeinwohl verpflichtet sind und Entscheidungen nach übergeordneten Gesichtspunkten fällen sollten.
Bei der Stadt München kommt nun noch eine besondere Pikanterie hinzu. Der Stadt München liegt nämlich überhaupt nichts daran, das Biotop zu erhalten. Falls es nämlich nicht zu dem geplanten Rangierbahnhof kommen würde, würde sie das Gelände für Wohn- und Gewerbezwecke nutzen wollen
— eine Politik, die, um es vorsichtig auszudrücken, nicht glaubwürdig sein kann.
Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß einige Kollegen im Bundestag einen Antrag eingebracht haben, wonach die Bundesregierung aufgefordert werden soll, die Bundesbahn zu veranlassen, den in Rede stehenden Rangierbahnhof aus stadtentwicklungs- und umweltpolitischen Gründen nicht zu errichten. Der mit der Überprüfung beauftragte Fachausschuß Verkehr sprach sich für die Ablehnung des Antrages aus; zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit sei der Bahnhof unerläßlich.
Aus Sicht der FDP ist es unverständlich, wie sich die Opposition weiter gegen den Rangierbahnhof aussprechen kann,
obwohl der Bahnhof seit mehr als 50 Jahren erforderlich ist, das vorgesehene Vorhaben rechtmäßig ist, die Stadt München an der Erhaltung des Biotops in Wahrheit nicht interessiert ist,
sich der zuständige Fachausschuß für das Vorhaben ausgesprochen hat und Alternativstandorte schließlich nicht in Betracht kommen.
Vor diesem Hintergrund kann die FDP das weitere Festhalten am Widerstand gegen den geplanten Bahnhof nicht verstehen. Aus diesen Gründen schlägt die FDP vor, die Petition als erledigt anzusehen.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zu der Drucksache 11/2511.Hier hat das Wort der Abgeordnete Dr. Emmerlich.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6685
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Petent, ein Offizier der Bundeswehr, wendet sich im Kern — nur dazu will ich hier sprechen — dagegen, daß Führungsstellen der Bundeswehr angeordnet haben, der Polizei sei bei Demonstrationen durch Hubschrauber für Transport und Aufklärung, durch Bergemittel zum Räumen von Hindernissen und durch Sanitätspanzer Amtshilfe zu leisten. Der Petent sieht darin einen Verfassungsverstoß.
Die SPD-Bundestagsfraktion hält diese Auffassung des Petenten für richtig und beantragt deshalb, unter Abänderung der Beschlußvorlage die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen.
Die vom Petenten beanstandeten Befehle existieren tatsächlich.
Sie liegen bei der Petitionsakte. Wenn Sie es bezweifeln, kann ich sie Ihnen gleich zeigen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Auch die Gestellung von Luftfahrzeugen für Transport- und Aufklärungsflüge sowie von Bergungsmitteln durch die Streitkräfte auf Anforderung der Polizei ... ist ... verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig.
Nach der Verfassungsordnung unserer Republik, meine sehr geehrten Damen und Herren, darf die Bundeswehr nicht in politische Streitigkeiten hineingezogen werden. Eine Amtshilfe der Bundeswehr für die Polizei bei der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung ist unzulässig, schlicht unzulässig. Amtshilfe darf die Bundeswehr nur leisten bei einer Naturkatastrophe, bei einem besonders schweren Unglücksfall und — unter sehr engen Voraussetzungen — zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes.
Diese Voraussetzungen liegen in den Fällen, in denen durch die vom Petenten beanstandeten Befehle und durch den Erlaß des Bundesministers der Verteidigung Amtshilfe der Bundeswehr für die Polizei angeordnet wird, offensichtlich nicht vor.
Es handelt sich auch nicht um rein technische Hilfeleistung, wenn der Polizei bei Demonstrationen Hubschrauber, Bergemittel oder Sanitätspanzer — übrigens einschließlich der Soldaten, die diese Gerätschaften bedienen — zur Verfügung gestellt werden.
Die erwähnten Bundeswehrbefehle und der Erlaß des Bundesverteidigungsministers vorn 27. September 1983 verstoßen somit gegen eine tragende Säule unserer Wehrverfassung und auch unserer Notstandsverfassung, nämlich den Grundsatz, daß die Bundeswehr weder zu innerpolitischen Zwecken noch zu polizeilichen Zwecken verwandt werden darf. Wer die in unserer Verfassungsordnung gesetzten Grenzen für den Einsatz der Bundeswehr verwischt, aufweicht oder verschiebt, muß sich darüber im klaren sein, daß er den Konsens, auf dem die Wehr- und Notstandsverfassung beruhen, in Frage stellt. Deshalb fordert die sozialdemokratische Bundestagsfraktion die Bundesregierung auf, die beanstandeten verfassungswidrigen Bundeswehrbefehle und den verfassungswidrigen Erlaß des Bundesministers der Verteidigung unverzüglich aufzuheben.
Das Verbot des Einsatzes der Bundeswehr im Inneren hat höchste staatspolitische Bedeutung. Deshalb helfen keine rabulistischen Interpretationskunststückchen,
keine noch so verblüffenden Tricks aus der juristischen Zauberkiste. Gefordert ist staatspolitische Verantwortung
und Weitsicht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wehret den Anfängen!
Das Wort hat der Abgeordnete Kossendey.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Soweit Herr Kollege Emmerlich den Sachverhalt geschildert hat, der hier zugrunde liegt, können wir ihm zustimmen. Was die rechtliche Bewertung angeht, liegen wir etwas auseinander. Herr Emmerlich hat die Ausdrücke „Rabulistik" und „juristische Tricks" gebraucht. Ich meine: Wenn Sie die Akte so korrekt zitiert hätten, wie sie zusammengestellt ist, dann hätte sich ein etwas differenzierteres Bild ergeben. Wir im Petitionsausschuß — das wissen Sie — haben uns mit der Angelegenheit sehr ausführlich auseinandergesetzt. Wir haben ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes geholt, und danach bleibt eindeutig festzuhalten: Der Art. 87 a des Grundgesetzes ist nicht durch das verletzt worden, was Sie hier an Standortbefehlen oder Einsatzanordnungen für die Bundeswehr bekanntgegeben haben.
Insbesondere während der Vorgänge um Wackersdorf — das ist ja der Fall, um den es hier geht — und
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6686 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Kossendeyinsbesondere auch durch diesen inkriminiertenStandortbefehl ist nichts passiert, was gegen geltendes Recht verstößt. Eine Amtshilfe der Bundeswehr— das will ich Ihnen gerne einräumen — wäre dann ausgeschlossen, wenn es sich tatsächlich um einen aktiven Einsatz der Bundeswehr im Rahmen dieser Demonstrationen handeln würde. Nur: Das ist ja juristisch genau die Zweifelsfrage. Unter den Begriff „Einsatz" fällt nicht nur die eigentliche Verwendung der Bundeswehr, sondern jede Inanspruchnahme der Bundeswehr mit dem Ziel, hoheitliches Handeln zu verkörpern.
— Das ist sehr richtig, aber man muß deswegen auch sehr juristisch argumentieren.Im juristischen Sinne handelt es sich beim Einsatz von Sanitätsfahrzeugen der Bundeswehr nicht um einen Einsatz, wie er in Art. 87 a normiert ist. Die Bundeswehr war hier lediglich als Helfer im humanitären Bereich zur Rettung von Menschenleben engagiert und hat mit ihren Fahrzeugen Unfallverletzte transportiert. Das ist eben nicht „Einsatz". Einsatz begänne erst da, wo die Bundeswehr selber operativ tätig wäre. Das wäre allerdings eine Unterstützung der Polizei, die nicht durch das Grundgesetz gedeckt wäre.Im übrigen bleibt festzuhalten, Herr Kollege Emmerlich, daß diese Art der Hilfeleistung aus dem Jahre 1981 datiert. Überlegen Sie einmal, wer da Innenminister war. Überlegen Sie einmal, wer da Bundeskanzler war. 1981 haben der Innenminister und die Innenministerkonferenz genaue Richtlinien aufgestellt, wie die Amtshilfe zwischen Bundeswehr und Polizei geschehen soll.
— Ich sage ja: Den fanden Sie damals als Vizekanzler genau so gut wie wir heute.
Diese für die Amtshilfe getroffenen Regelungen— ich sage das noch einmal ganz deutlich — entsprechen geltendem Recht. Der Führungsstab des Heeres— jetzt komme ich auf das, was Sie meinen, Herr Emmerlich — hat 1983 in einem Fernschreiben noch einmal konkretisiert, wie diese Amtshilfe auszusehen hat.
— Das sage ich doch. Genau in diesem Fernschreiben tauchen die Hubschrauber auf. Dieses Fernschreiben, wenn sie es korrekt lesen und wenn sie es auch so auslegen, wie es offensichtlich politisch gemeint war— dazu gibt es ja verschiedene Äußerungen — , dient dazu, die Amtshilfe zwischen Bundeswehr und Polizei in den Fällen zu regeln, wo Liegenschaften der Bundeswehr z. B. von Demonstranten angegriffen werden. Das resultiert eindeutig aus der Diskussion und der Debatte über die Nachrüstung und die Demonstrationen um die Nachrüstung, wo Bundeswehrliegenschaften angegriffen waren. Da wäre es tatsächlich aberwitzig, innerhalb der Liegenschaften dieBundeswehr stehen zu haben, draußen die Polizei, die nicht Herr der Lage wäre. Wenn dann innerhalb der Liegenschaften tatsächlich ein Hubschrauber vorhanden wäre, warum soll der nicht der Polizei sagen, wo das bundeswehreigene Gelände angegriffen wird? Ich sehe eigentlich nichts dagegen. Sie sollten das sehr sorgfältig auseinanderhalten.
— Doch, wenn Sie den Erlaß lesen: Es steht ausdrücklich da, daß es nur im dienstlichen Interesse der Bundeswehr geschieht. Dienstliches Interesse der Bundeswehr — wenn Sie die ganzen Erlasse vorher undnachher vergleichen — ist in diesem Fall eindeutig einAngriff auf Liegenschaften der Bundeswehr. Ich willIhnen das auch gerne einräumen, Herr Dr. Emmerlich, weil Sie das offensichtlich verwechselt haben,und sicher nicht böswillig, was ich Ihnen nicht unterstellen mag. Ich würde aus meiner Sicht den Verteidigungsminister auffordern, das etwas deutlicher zu formulieren, damit auch denen, die das nur oberflächlichlesen, ganz klar wird, daß die Bundeswehr in diesemFalle nur zum Schutz ihrer eigenen Liegenschaftender Polizei Amtshilfe leisten kann. Das ist ganz klar.
— Herr Kollege Peter, es geht hier um den Wunsch des Petenten. Er hatte das, was der Kollege Emmerlich angetragen hat, überhaupt nicht so differenziert gesehen. Er hat grundsätzlich gesagt: Bundeswehr und Polizei dürfen bei Demonstrationen zum Abtransport von Verletzten im Wege der Amtshilfe überhaupt nicht zusammenarbeiten.Das ist eine Frage, die wir anders sehen. Deswegen können wir uns dem Petenten in diesem Fall nicht anschließen. Wie gesagt, der Verteidigungsminister ist aufgefordert, diese Erlasse so deutlich zu fassen, daß sie auch Nichtjuristen auf Anhieb eingängig sind. Was aber den Grundsatz des Petenten angeht, da können wir ihm leider nicht helfen, weil diese grundsätzliche Frage anders zu entscheiden ist.Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Daniels .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in dieser Debatte mit einer außergewöhnlichen Petition zu tun. Ein mutiger Offizier aus Regensburg wendet sich ohne Furcht vor disziplinarischen Maßnahmen oder der Zurücksetzung in seiner beruflichen Laufbahn an die Wehrgerichtsbarkeit und an die Petitionsausschüsse im Bayerischen Landtag und den Bundestag. Er fühlt sich bei seinem Wunsch, eine Dienstanweisung in einem Beschwerdeverfahren beim Truppendienstgericht prüfen zu lassen, unfair behandelt. Diese Dienstanweisung aber bezieht sich auf die Weiterleitungspflicht bei Amtshilfeersuchen der Polizei im Zusammenhang mit dem Bau der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf, vorgeblich gemäß Art. 35 des Grundgesetzes.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6687
Dr. Daniels
Ich meine, daß die Themenauffassung des Petitionsausschusses und die vorwiegende Behandlung des formellen Anliegens der Petition viel zu kurz greifen und den angesprochenen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Problemen eines Bundeswehreinsatzes in Friedenszeiten nicht gerecht werden. Ich bin erfreut, daß der Kollege von der SPD jetzt auch diesen Standpunkt einnimmt.Mir scheint es unabdingbar, gerade die bemerkenswerte Praxis der Bundeswehr, den bayerischen Polizeikräften bei Demonstrationen um die Wackersdorfer Anlage Amtshilfe zu leisten, hervorzuheben. Wir erheben dabei erhebliche Zweifel gegen die Rechtsauffassung des Bundesverteidigungsministeriums und halten die Amtshilfe der Bundeswehr genauso wie der Petent für verfassungswidrig.Die Streitkräfte sind ein geradezu klassisches Instrument zur Beendigung politischer Prozesse und Proteste durch Gewalt. Die geschichtliche Erfahrung lehrt, daß militärische Gewalt immer wieder politisch mißbraucht wurde. Als Folge davon wurden der Bundeswehr im Grundgesetz eine Vielzahl von Einschränkungen ihrer Einsatzmöglichkeiten auferlegt. Der Einsatz der Bundeswehr im Innern kommt deshalb nach Art. 87 Abs. 3 und 4 nur im äußersten Fall der Bedrohung in Betracht und auch nur dann, wenn das gesamte nichtmilitärische Potential ausgeschöpft ist.Das gleiche gilt für die Rechts- und Amtshilfeverpflichtung nach Art. 35 Abs. 2 und 3 des Grundgesetzes.Dieser Art. 35 ist — das ist bei sämtlichen Grundgesetzkommentaren nachlesbar — nach dem Willen des Gesetzgebers ausdrücklich entpolitisiert worden. Demzufolge ist unter „Einsatz" die bewaffnete Aktion zu verstehen, aber auch jede unbewaffnete Verwendung der Streitkräfte, die innenpolitisch nicht als neutral zu bezeichnen ist. Diese Beschränkung sollte dem Mißbrauch der Streitkräfte als Machtinstrument entgegenwirken.Amtshilfe darf die Bundeswehr deswegen auch nur in genau definierten Ausnahmefällen — wie eben schon zitiert: Naturkatastrophen, besonders schwere Unglücksfälle oder eine Bürgerkriegssituation — leisten.Dabei kann ja bei der WAA Wackersdorf nicht im mindesten die Rede sein.
— Hören Sie lieber zu.Was aber macht nun das Verteidigungsministerium, um die bisher geleistete Amtshilfe nachträglich zu legitimieren? — Es definiert die Amtshilfe der Streitkräfte in einen Nichteinsatz der Bundeswehr um:
Solange Bundeswehreinheiten nicht direkt eingesetzt würden, dürfe sich die Polizei der Hilfe der Bundeswehr bedienen.Das halten wir für unzulässig und für eine Aushöhlung grundgesetzlicher Regelungen nach politischen Opportunitäten.Dabei ergeben sich natürlich logische Widersprüche. Wer wird die Versorgung der Polizisten in den zur Verfügung gestellten Kasernen sicherstellen? Polizisten oder Soldaten? Wer soll denn das abgeordnete Bundeswehrgerät wie Hubschrauber und Sanitätspanzer bedienen? Polizisten oder Soldaten?Darauf hat Herr Würzbach von der Hardthöhe bereits geantwortet, in diesen Fragen solle man nicht so feinsinnig sein.Natürlich sind hier Soldaten im Einsatz, und zwar im Einsatz gegen eine Bevölkerung, die sich gegen ein nukleares Wahnsinnsprojekt zur Wehr setzt.Aber es kommt noch besser; denn das Bundesverteidigungsministerium macht sich eine Rechtslage in Machtvollkommenheit einfach selber. Nicht nur daß dieses Parlament der Hardthöhe niemals eine ordentliche Legitimation für diese WAA-Amtshilfe gegeben hat, was es wegen der Verfassungswidrigkeit auch gar nicht gekonnt hätte; nein, aus einem Beratungspapier der Ständigen Innenministerkonferenz der Länder vom April 1981 geht im Gegenteil sogar hervor, daß es keine eindeutige rechtliche Grundlage für die logistische Unterstützung der Polizei durch die Bundeswehr gebe. Diese Ansicht vertrat dabei kein Geringerer als der damalige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Uwe Barschel.Die Amtshilfe zwischen den bayerischen Stellen und dem Bundesverteidigungsministerium ist aber auch ein erschreckender Beweis dafür, daß der Bau der Wiederaufarbeitungsanlage mit allen denkbaren Mitteln durchgesetzt werden soll. Wer ein ziviles Projekt mit Hilfe der eigenen Armee gegen die eigene Bevölkerung durchsetzen will, beweist schon ein ungeheuerliches Maß an krimineller Energie.
Die Tatsache aber, daß diese Amtshilfeanweisung im Zusammenhang mit der atomaren Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf ergangen ist, läßt darauf schließen, daß man in der Bundesregierung wie auch in der Bayerischen Staatsregierung die atomare Wiederaufarbeitungsanlage als militärisches Projekt ansieht. Die wahre Motivation, durch die atomare Wiederaufarbeitungsanlage der Bundesrepublik die technische Option zum Einstieg in den Kreis der Atommächte zu eröffnen, gewinnt damit zunehmend an Kontur.Wir beantragen deshalb
die vollständige Überweisung der Petition zur Berücksichtigung an die Bundesregierung und werden schon sehr bald einen Antrag in den Bundestag einbringen, der dem Anliegen des Petenten gerecht wird
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6688 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Dr. Daniels
und die verfassungswidrige Praxis der Amtshilfe beendet.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Dr. Segall.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Meine Vorredner haben den Fall bereits erläutert. Soweit es um die verfassungsrechtlich nicht einwandfreie Behandlung der Eingabe des Bundeswehroffiziers beim Truppendienstgericht geht, weist dies auf einen Mißstand hin, der dem Bundesministerium der Verteidigung zur Kenntnis gegeben werden muß und wo Abhilfe in der Tat notwendig ist.
Politisch wichtiger ist nach Ansicht der FDP die inhaltliche Kritik des Offiziers. Er ist der Ansicht, daß eine Dienstanweisung,
die im Zusammenhang mit einem Standortbefehl gegeben wurde, verfassungswidrig ist.
In ihr wurde geregelt, wie bei der polizeilichen Anforderung von Sanitätspanzern der Bundeswehr zum Bergen Verletzter bei schwerster Gewaltkriminalität und bei Demonstrationen zu verfahren sei.
Im Grundgesetz ist festgelegt, daß die Streitkräfte außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden dürfen, soweit dieses das Grundgesetz ausdrücklich zuläßt. Diese verfassungsrechtliche Vorschrift entstammt einer historischen Erfahrung und darf und kann in ihrer Wichtigkeit gar nicht überschätzt werden. Deshalb nehme ich diese Eingabe besonders ernst.
Im Kern läuft es darauf hinaus, ob der Standortbefehl, den der Petent kritisiert, einen Einsatz von Streitkräften darstellt. Weil die genannte verfassungsrechtliche Vorschrift so wichtig ist, trete ich für eine eher extensive Auslegung des Begriffes des Einsatzes von Streitkräften ein.
Das heißt also, daß im Zweifel immer davon ausgegangen werden sollte, daß Tätigkeiten der Bundeswehr Einsätze im Sinne der genannten Verfassungsvorschrift sind,
mit der weiteren Konsequenz, daß dieser Einsatz nur dann erfolgen darf, wenn das Grundgesetz dies ausdrücklich zuläßt.
Diese Ausführungen hören sich nun recht theoretisch an. Aber ich möchte auch einmal erwähnen, daß diese Auslegung für die Bundeswehr wichtig ist. Nicht nur der zivile Bürger, sondern auch der Bürger in Uniform hat einen Anspruch darauf, daß wir diese grundgesetzliche Vorschrift wahren und so dem Bürger in Uniform zusichern, daß er nicht gegen politische Gegner im Innern außerhalb des Grundgesetzes eingesetzt wird. So richtig es also ist, dafür Sorge zu tragen, daß die Bundeswehr nicht mit hoheitlich-obrigkeitlichen Eingriffsbefugnissen gegenüber der Zivilbevölkerung vorgeht, so richtig ist es meines Erachtens auch, ihr rein technische Hilfeleistungen zu ermöglichen.
Nach Ansicht der FDP geht es bei dem kritisierten Standortbefehl genau darum. Wir meinen, daß die Bundeswehr dort eingesetzt werden sollte, wo sie der Hilfe für Menschen dient.
Und das ist gerade bei Schwerverletzten, gleich, in welchem Zusammenhang sie zu beklagen sind, der Fall.
Diesem Argument wird häufig entgegengehalten, daß ein Panzer ein Panzer bleibe und sich zum Beispiel auch ein konkreter Rettungseinsatz für Demonstranten wie ein militärischer Einsatz auswirken könne.
— Ich will dies nicht unbedingt in Abrede stellen.
Aber ist es denn zuviel verlangt, im Interesse von Schwerverletzten diese Bedenken zurückzustellen?
Darf man allen Ernstes solche Hilfe versagen, weil der als Rettungsmaßnahme gedachte Einsatz in seinen nicht beabsichtigten Auswirkungen für andere wie ein militärischer Einsatz wirken kann?
Das kann nicht richtig sein. Die Hilfe für Menschen geht vor. Und darum bleibt die FDP bei ihrem Votum, die Petition im Einzelfall als erledigt anzusehen.
Nun kommen wir zu der Drucksache 11/2512. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Nickels.
Meine Damen und Herren! Gegenstand der jetzigen Kurzdebatte ist eine Petition, die schon seit über einem Jahr anliegt und die von vielen Petenten an uns herangetragen worden ist. Es geht darum, daß 15 in Chile festsitzenden Gefangenen, die im Widerstand zu dem dort herrschenden Regime gestanden haben bzw. stehen, die Todesstrafe droht. Das Anliegen der Petenten geht dahin, daß die Bundesregierung diesen Gefangenen in der
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988 6689
Frau NickelsBundesrepublik politisches Asyl gewähren und das gegenüber dem Pinochet-Regime auch unmißverständlich deutlich machen möge.Wir haben in der Bundesrepublik und auch im Bundestag schon sehr lange darüber diskutiert. Ich will Ihnen nur einmal ganz kurz die Stationen der Beratungen vortragen, die wir hier durchgeführt haben. Herr Zimmermann ist mit diesem Anliegen seit dem Oktober 1986 befaßt. Wir hatten zu diesem Anliegen eine Aktuelle Stunde am 24. Juni 1986. Es gab eine Innenausschußsitzung im Juni 1987. Herr Blüm, Arbeitsminister dieser Regierung — —,
hat eine sehr spektakuläre Reise vom 23. bis 26. Juli 1987 nach Chile gemacht, wo er dankenswert klare Worte zur Charakterisierung dieses Regimes gefunden hat, in dem die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Er hat auch unmißverständlich deutlich gemacht, daß diesen 15 Menschen hier politisches Asyl zugestanden werden muß.Die Einschränkungen sind dann immer wieder von Regierungsseite gekommen, vor allen Dingen von Herrn Zimmermann.Es hat dann noch am 7. August 1987 eine gemeinsame Sitzung des Auswärtigen Ausschusses und des Innenausschusses gegeben, in der Herr Blüm erklärt hat, daß diese Menschen notfalls aufzunehmen doch nicht bedeuten könne: erst im letzten Augenblick.Es gab dazu eine Sitzung des Deutschen Bundestages am 8. Oktober 1987, in der die Fraktionen dieses Hauses noch einmal erklärt haben, daß sie diesen Menschen Hilfe und Asyl gewähren wollen. Es gab, wie ich schon einmal sagte, die Einschränkung von Herrn Zimmermann, die sich auf seiten der Regierung auch durchgesetzt hat: daß erstens noch weiter geprüft werden müsse und daß zweitens die Aufnahme hier bei uns nur im Notfall passieren könne; drittens sei der chilenische Rechtsweg noch nicht ausgeschöpft.Ich frage Sie nun: Was ist hier nach diesen vielen Stationen der Prüfung noch zu prüfen? Welche Informationen brauchen Sie eigentlich noch? Ist nicht unmißverständlich klar, welchen Charakter dieses Regime hat? Ich frage mich, warum man darauf abheben will, daß der chilenische Rechtsweg ausgeschöpft werden muß. Das ist ein Unrechtsregime. Ich habe noch nie gehört, daß wir angebliches Recht in Unrechtsregimen für Recht im demokratischen Sinne halten.
Von daher gesehen sind wir der Meinung, daß hier sofort die Aufnahme dieser politischen Gefangenen, die in diesem Unrechtsregime auch gefoltert werden und sich permanent in Lebensgefahr befinden, von der Regierung signalisiert werden muß und nicht an diese wirklich schlimmen Bedingungen geknüpft werden kann, die von seiten der Regierung immer wieder kommen.Nun möchte ich noch eins sagen. Die Petition ist ja im Petitionsausschuß mit Mehrheit zur Berücksichtigung überwiesen worden. Allerdings will ich noch einmal ganz deutlich darauf hinweisen, daß es uns als Petitionsausschuß nicht zukommt, Berücksichtigungsbeschlüsse zu fassen, in denen wir das Anliegen der Petenten umdrehen. Das ist hier wieder gemacht worden. Die Petenten haben klar gesagt, die Menschen sollten sofort aufgenommen werden, in dem Beschluß des Petitionsausschusses wird dagegen gesagt, erst sollten alle Informationsmöglichkeiten ausgeschöpft und Asyl erst bei Eintreten einer konkreten Gefahr gewährt werden. Das war nicht das Anliegen der Petenten. Wir sind der Meinung, hier muß dem Anliegen der Petenten, sofort die Aufnahme zu signalisieren, nachgekommen werden, weil es gerechtfertigt ist.Ich finde es persönlich beschämend, daß die Mehrheit des Bundestages offensichtlich nicht das kann, was Landesregierungen und mittlerweile elf Bürgermeister im Namen ihrer Stadtverordnetenversammlungen und Stadtparlamente getan haben, nämlich das Asylrecht, grundgesetzlich verbrieft, höher zu halten als irgendwelche herbeigezogenen Bedenken.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Grünewald.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben uns in diesem Hause mit dem Schicksal der 15 von der Todesstrafe bedrohten Chilenen — da haben Sie recht — schon zum wiederholten Male befaßt, übrigens zuletzt noch heute nachmittag. Ich beklage das ganz ausdrücklich nicht. Ich bedauere allerdings sehr nachdrücklich, daß die Kürze der Redezeit — inzwischen zu mitternächtlicher Stunde — eine diesem ebenso diffizilen wie sensiblen Thema auch nur halbwegs angemessene Behandlung ganz einfach unmöglich macht.
Um so größer, Frau Nickels, ist deshalb unsere Verantwortung für eine sehr behutsame Diskussion mit einer sehr vorsichtigen Wortwahl, damit wir am Ende die überaus mißliche Lage der politischen Gefangenen in Chile nicht noch verschlechtern, denn oft ist der Feind des Guten eben nicht das Böse, sondern das Gutgemeinte.Lassen Sie mich deshalb zunächst einmal ganz nüchtern und emotionsfrei versuchen, jene tatsächlichen und, Frau Nickels, jene rechtlichen Feststellungen zu treffen, die wir alle in diesem Hause, wie ich zuversichtlich hoffe, gemeinsam mittragen können.Erstens. Uns alle nimmt gleichermaßen das in unserer Verfassung ausgesprochene Verbot der Todesstrafe in die Pflicht, und wir alle verurteilen bedingungslos die Folter.Zweitens. Wir alle sind um eine alsbaldige Rückkehr Chiles zur Demokratie und um eine strikte Beachtung der Menschen- und Bürgerrechte für ausnahmslos alle Chilenen bemüht. Die Koalitionsfraktionen haben dies übrigens zusammen mit der SPD noch
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Dr. Grünewaldvor wenigen Stunden durch eine gemeinsam eingebrachte Entschließung erneut und ganz unmißverständlich zum Ausdruck gebracht.Drittens. Wir alle wissen sehr wohl, daß es in Chile seit dem blutigen Militärputsch 1973 keine in unserem Sinne unabhängigen Gerichte gibt. Auch können die offiziellen Tatvorwürfe für uns keine rechtlich relevanten Entscheidungsgrundlagen bieten, solange der Wert der Beweismittel nicht verläßlich beurteilt werden kann und der schwerwiegende Vorwurf durch Folter erpreßter Geständnisse nach wie vor besteht.Über diese eigentlich wichtigen Punkte, meine Damen und Herren, besteht Konsens. Diese Übereinstimmung darf bei der leider allzu hektisch und teilweise auch polemisch geführten politischen Diskussion nicht verschüttet werden. Die Auseinandersetzung in der Sache selbst reduziert sich damit im Grunde auf die Tatfrage, ob den inhaftierten Chilenen eine unmittelbare Todesgefahr droht, sowie auf die Rechtsfrage, ob in Chile die Voraussetzungen des Dekrets 504 und bei uns in der Bundesrepublik die Voraussetzungen des § 22 Ausländergesetz erfüllt sind.Zur Tatfrage ist festzustellen, daß eine akute Lebensgefahr nicht besteht. In zweiter Instanz ist noch keines der in vier Fällen erstinstanzlich ergangenen Todesurteile bestätigt worden. Das Berufungsgericht hat vielmehr in allen Fällen die verhängten Todesstrafen in lebenslängliche Freiheitsstrafen umgewandelt, ein, wie wir meinen, ermutigendes Zeichen mit präjudiziellen Wirkungen auch für die übrigen noch anhängigen elf Verfahren. Mit der Todesstrafe ist auch mit Sicht auf das bevorstehende Plebiszit über eine weitere Amtszeit Pinochets und wegen des internationalen Protests und insbesondere auch wegen der nachhaltigen Interventionen von deutscher Seite Gott sei Dank nicht zu rechnen.Nachdem die Häftlinge in Prozeßhaft überführt worden sind, gibt es erfreulicherweise keine Erkenntnisse, daß sie weiteren Mißhandlungen oder gar der Folter ausgesetzt wären. Ein dringender Entscheidungsbedarf ist also nicht gegeben.Die streitige Rechtsfrage nach der Anwendbarkeit des Dekrets 504, gemäß den freiheitsentziehenden und freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, die auf einem rechtskräftigen Urteil beruhen, in eine Verbannung umgewandelt werden können, kann zur Zeit nicht abschließend beurteilt werden. Bekannt ist zur Stunde die Rechtskraft nur eines Urteils. In diesem Falle aber sind noch weitere Verfahren anhängig, so daß eine Anwendung des Dekrets schon aus diesem Grunde ausscheidet. In den anderen drei Fällen besteht auch insoweit weiterer Aufklärungsbedarf, dem die Bundesregierung entsprechen muß und dem sie durch eine weitere sorgfältige Beobachtung der Verfahren auch entsprechen will.Abschließend, Herr Präsident, sei mir noch ein Wort zu jüngsten Presseverlautbarungen gestattet, denen zufolge die 15 Chilenen in einem offenen Brief erneut um politisches Asyl bitten und die Befürchtung aussprechen, daß Gefahr für ihr Leben selbst dann weiterbestehe, wenn die Todesstrafe nicht verhängt, sondern auf Freiheitsstrafen erkannt werde. Trotz allerBemühungen liegen mir nähere Informationen über diese neuerliche Initiative nicht vor. Dem Bundesinnenminister ist dieser Brief offiziell auch nicht bekannt. Gleichwohl nehmen wir ein solches Signal auf und unter Berücksichtigung der Unberechenbarkeit des Regimes in Chile auch sehr, sehr ernst. Wir fordern die Bundesregierung deshalb wiederholt und eindringlich auf, bei Eintreten einer konkreten unmittelbaren Gefahr für das Leben der Häftlinge unverzüglich eine Entscheidung über ihre Aufnahme herbeizuführen.
Das Wort hat der Abgeordnete Hiller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für mich ist die Zeit abgelaufen, die für eine Entscheidung notwendig ist. Wenn Sie sagen, es bestehe keine Gefahr für Leib und Leben, möchte ich daran erinnern, daß die jetzigen Machthaber immerhin schon einige Menschen auf dem Gewissen haben. Ich denke an den ehemaligen chilenischen Präsidenten Allende, der von Pinochet ermordet worden ist. Insofern finde ich es auch angesichts unserer Vergangenheit hier in der Bundesrepublik Deutschland zynisch, dieses Begehren so lange prüfen zu müssen, wobei uns allen klar ist, daß in Chile in keiner Weise von einem Rechtssystem gesprochen werden kann. Das sollten wir aufgrund unserer eigenen Vergangenheit genauestens wissen. Denn viele Oppositionelle haben in unserer Gesichte vor ähnlichen Situationen gestanden wie die Chilenen.Das zweite Argument ist: Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum sich die Bundesregierung mit dieser Entscheidung so schwertut, da ja andererseits immer gesagt wird, wie viele Asylsuchende hier in der Bundesrepublik sind. Kommt es nun wirklich darauf an, daß 15 mehr oder 15 weniger hier aufgenommen werden? Ich glaube, daß auch das ein Aspekt ist, den man durchaus würdigen sollte.Der Bundesregierung und der Bundesrepublik Deutschland entsteht wirklich in keiner Weise ein Schaden, wenn eine eindeutige Erklärung abgegeben wird, daß hier in der Bundesrepublik diesen 15 Chilenen Asyl gewährt wird.
Im Gegenteil: Es ist so, daß dies ein deutliches Signal gegen Faschismus, Terrorjustiz, Willkürherrschaft, Folter und Mord im Namen des Volkes ist, so wie sie heute noch in Chile existieren. Heute nachmittag haben wir eine Debatte erlebt, nach der wir eine gewisse Hoffnung haben. Aber auch wenn es zu einer Verbesserung in Chile kommt, dann wird die Armee in Chile jederzeit in der Lage sein, wieder zu putschen. Damit will ich sagen, daß jederzeit eine Situation entstehen kann, daß diese Häftlinge in den Kerkern dort in Gefahr kommen.Das Asylrecht entstand bei uns, als wir arm waren; jetzt soll es weg, damit wir reich bleiben. So heißt leider ein allzu wahres Graffiti, das man hier und da in der Bundesrepublik lesen kann. Ich glaube, daß für die anstehende Entscheidung, die wir hier zu treffen
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Hiller
haben, dieses Zitat zumindest ein Körnchen Wahrheit hat.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müssen verlangen, daß die Bundesregierung jetzt entscheidet, damit ausgeschlossen wird, daß irgendwann irreversible Fakten geschaffen werden könnten. Das kann man jetzt ganz einfach ausschließen, und man kann auf diese Weise eine solch furchtbare Situation vermeiden, wie sie z. B. — gerade bezogen auf den Petitionsausschuß — im Falle des Türken Kemal Altun bereits einmal eingetreten ist. Das hat mich damals sehr betroffen gemacht.So etwas kann man heute mit Leichtigkeit vermeiden. Man kann 15 Menschen helfen. Die ganze Aufklärungsarbeit kann man auch leisten, wenn die 15 Chilenen hier bei uns in der Bundesrepublik sind. Damit ist überhaupt nichts gegen Aufklärung gesagt. Wenn die Chilenen hier sind, kann man, glaube ich, durch Befragungen noch besser aufklären, als wenn man darauf wartet, bis die chilenische Unrechtsjustiz zu irgendwelchen Erkenntnissen gekommen ist.
Für mich ist es so, daß das Votum des Petitionsausschusses — jetzt komme ich noch einmal zum Petitionsausschuß; da hat die Kollegin Nickels völlig recht — die Petition umgedreht und vernebelt hat.
Deshalb möchte ich hier zum Schluß ausdrücklich davor warnen, daß so etwas passiert. Auch das hat zur Verzögerung beigetragen. Ich möchte wirklich sagen: Es steht hier an, die Petition in vollem Umfang der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen. Das ist der Antrag der SPD. Wir bitten um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag, d. h. zur Überweisung zur Berücksichtigung ohne Wenn und Aber und ohne sonstige Geschichten hierbei. — Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte über die Petition, die die 15 politischen Gefangenen in Chile betrifft, findet am Vorabend von wichtigen Entscheidungen in Chile statt. Die Petition lenkt unser Augenmerk wieder einmal auf ein unmenschliches System, das nicht nur die Todesstrafe, sondern auch die Folter zur Disziplinierung ihrer Bürger anwendet. Die vorliegende Petition gibt vor dem Referendum in Chile auch Gelegenheit, sich erneut mit dem unmenschlichen Militärregime zu beschäftigen; da sind wir völlig einer Meinung.
Wir unterstützen jedoch das Votum des Petitionsausschusses, das mit Mehrheit verabschiedet wurde und ja immerhin auch eine Berücksichtigung vorsieht.
— Nein, es vernebelt nicht und ist auch nicht halbherzig. — Wir sind der Auffassung, daß wir, bevor wir der
Petition gänzlich nähertreten, auch alle Informationsmöglichkeiten ausschöpfen müssen und daß wir auf jeden Fall bei Eintreten einer konkreten und unmittelbaren Gefahr für das Leben der Häftlinge unverzüglich, nämlich ohne schuldhaftes Zögern, eine positive Entscheidung über die Aufnahme zu treffen haben. Zur Zeit sind die 15 Häftlinge erstinstanzlich verurteilt; die Verfahren sind in der nächsten Instanz anhängig. Wir müssen, wenn wir die Vorgänge unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten betrachten, uns auch über diese Verfahren — —
— Wir müssen doch nach unseren Verfahren prüfen, Frau Kollegin Nickels. Das wissen Sie doch ganz genau. — Wir müssen auch dort die notwendigen Verfahren einhalten. Dazu sind wir bereit.
Das heißt aber nicht, daß wir uns nicht für die 15 inhaftierten Chilenen einsetzen, und dies aus zwei Gründen: einmal, wie Sie völlig richtig gesagt haben, weil wir uns gegen die Todesstrafe in der ganzen Welt einsetzen, dann jedoch auch, weil nicht auszuschließen ist, daß die sogenannten Geständnisse in Chile durch Folter erpreßt worden sind. Wir wissen, daß das Regime in Chile vor der Folter nicht zurückschreckt.
Deswegen ist es für uns ein Akt der Menschlichkeit, sich für die 15 inhaftierten Chilenen einzusetzen. Die Tatvorwürfe der chilenischen Justiz sind keine Entscheidungsgrundlage, solange der Wert der behaupteten Beweismittel nicht ermessen werden kann, und unter Folter erpreßte Geständnisse sind nach unserem Rechtsverständnis nicht verwertbar. Deswegen sind wir der Auffassung, daß sich der Bundesinnenminister für den Fall, daß für das Leben der inhaftierten Chilenen Gefahr droht, bereit erklären muß, die 15 Chilenen aufzunehmen und ihnen politisches Asyl zu gewähren.
Herr Abgeordneter Funke, entschuldigen Sie bitte. Die Abgeordnete Frau Nickels wollte eine Zwischenfrage stellen. Ich war der Auffassung, daß das bei Debatten mit Fünfminutenbeiträgen weder üblich noch zulässig ist. Nach Überprüfung des Sachverhalts bin ich von einem anderen Ergebnis überzeugt worden. Ich stehe daher nicht an, Ihnen, Frau Nickels, die Möglichkeit zu geben, Ihre Zwischenfrage zu stellen; Voraussetzung ist natürlich, daß der Abgeordnete Funke damit einverstanden ist.
Da ich beim letzten Satz meiner Ausführungen bin, möchte ich die Zwischenfrage nicht zulassen und zum Schluß kommen.Die Bundesregierung sollte dafür Sorge tragen, daß der chilenischen Regierung die Aufnahmebereitschaft übermittelt wird und so auch sichergestellt wird, daß mögliche Todesurteile nicht vollstreckt werden.
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FunkeVielen Dank.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende dieser Debatte. Wir kommen nunmehr zur Abstimmung. Wir beginnen mit Sammelübersicht 63. Wir stimmen zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der GRÜNEN ab, der Ihnen auf der Drucksache 11/2982 vorliegt. Wer diesem Änderungsantrag der GRÜNEN zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? - Mit überwiegender Mehrheit ist dieser Antrag gegen die Stimmen der GRÜNEN abgelehnt.Wer nunmehr der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/2336 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Gegen die Stimmen der Fraktion der GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen nunmehr zu der Sammelübersicht 70. Wir stimmen zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD und dann über den Änderungsantrag der Fraktion der GRÜNEN auf den Drucksachen 11/2996 und 11/3019 ab.
Ich frage das Haus aber vorher, da die beiden Anträge inhaltsgleich sind, ob es damit einverstanden ist, daß ich über beide Anträge zusammen abstimmen lasse. — Das ist offensichtlich der Fall. Wer diesen beiden Anträgen der Fraktion der GRÜNEN und der Fraktion der SPD zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen sind diese beiden Änderungsanträge abgelehnt.Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf der Drucksache 11/2511 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Mit den Stimmen der Koalition ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen nunmehr zur Sammelübersicht 71, und zwar zuerst zur Abstimmung über die Änderungsanträge der Fraktion der GRÜNEN und der Fraktion der SPD. Der Änderungsantrag der Fraktion der GRÜNEN liegt Ihnen auf der Drucksache 11/2980 vor. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dieser Änderungsantrag ist mit der Mehrheit der Stimmen von CDU/CSU, FDP und SPD abgelehnt worden.Nun folgt die Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2997. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen der FDP-Fraktion ist dieser Antrag abgelehnt worden.Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf der Drucksache 11/2512 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zu Punkt 23 der Tagesordnung:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu der dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/88— Drucksache 11/2952 —Berichterstatter: Abgeordneter HelmrichHierzu liegt mir seit kurzem ein Änderungsantrag der Fraktion der GRÜNEN vor.Meine Damen und Herren, der Abgeordnete Helmrich hat den Antrag gestellt, im Interesse der Verständlichkeit der Debatte die Anträge des Abgeordneten Wüppesahl, die Gegenstand dieser Organstreitklage sind, in das Protokoll dieser Sitzung aufzunehmen. Mir erscheint diese Anregung sinnvoll, damit jemand, der das nachliest, die ganze Angelegenheit überhaupt versteht. Da das aber nicht dem Verfahren nach unserer Geschäftsordnung entspricht, möchte ich mir dafür zunächst einmal die Zustimmung des Hauses einholen. Hat jemand Bedenken gegen dieses Verfahren? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Denn darf ich dies als beschlossen feststellen.Anträge des fraktionslosen Abgeordneten Thomas Wüppesahl im Organstreitverfahren — 2 BvE 1/88 — gegen den Deutschen Bundestag, den Präsidenten des Deutschen Bundestages, die Fraktion DIE GRÜNEN im Deutschen Bundestag, den BundesratAnträge im Hauptverfahren:Es wird beantragt festzustellen, daß1. die §§ 6 Abs. I und II , 12 (Stellenanteile der Fraktionen), 35 Abs. I und II (Rededauer), 56 Abs. II und III (Enquete-Kommission) und 57 Abs. I und II (Mitgliederzahl der Ausschüsse), 76 Abs. I (Vorlagen von Mitgliedern des Bundestages) und 85 Abs. I (Änderungsanträge zu Gesetzesentwürfen in 3. Beratung) der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in der Bekanntmachung vom 2. Juli 1980 (Bundesgesetzblatt Teil 1, S. 1237), zuletzt geändert laut Bekanntmachung vom 18. Dezember 1986 (Bundesgesetzblatt Teil 1 1987, S. 147) gegen Art. 38 Abs. I S. 2 des Grundgesetzes, den verfassungsrechtlichen garantierten Minderheitenschutz als eines wesentlichen Prinzips des Parlamentsrechts sowie dem für die Mitwirkung an der politischen Willensbildung geltenden strengen Gleichheitssatz verstoßen und daher nichtig sind;2. die Ausstattung der Bundestagsfraktionen durch finanzielle Zuschüsse aus dem Haushalt des Deutschen Bundestages und die Nichtberücksichtigung fraktionsloser Abgeordneter, und somit hier des Antragstellers, bei der Gewährung dieser Zuschüsse bzw. die Benachteiligung des Antragstellers durch die Gewährung dieser Zuschüsse an die Fraktionen ohne finanziellen Ausgleich für den Antragsteller gegen den verfassungsrechtlich garantierten Minderheitenschutz als eines wesentlichen Prinzips des Parlamentsrechts, gegen den strengen Gleichheitssatz sowie gegen das Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. II des Grundgesetzes verstoßen und daher nichtig sind;3. die gegen den Antragsteller verfügte Zuweisung eines weder mit einer Schreibmöglichkeit noch mit einem Telefonanschluß ausgestatteten Platzes in der letzten Bankreihe des Plenums des Deutschen Bundestages gegen Art. 38 Abs. I S. 2 des Grundgesetzes, gegen den verfassungsrechtlich garan-
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Vizepräsident Cronenbergtierten Minderheitenschutz als eines wesentlichen Prinzips des Parlamentsrechts und gegen den für die Mitwirkung an der politischen Willensbildung geltenden strengen Gleichheitssatz verstößt und daß dem Antragsteller daher ein mit einer Schreibmöglichkeit und einem Telefon ausgestatteter Platz innerhalb der ersten zwei Bankreihen des Plenums des Deutschen Bundestages zusteht;4, die Abberufung des Antragstellers ausa) dem Innenausschuß im Deutschen Bundestag,b) dem Gemeinsamen Ausschuß im Deutschen Bundestag,c) dem Rechtsausschuß im Deutschen Bundestag
Anträge auf Erlaß einstweiliger Anordnungen1. Der Antragsteller ist Vollmitglied im Innenausschuß des Deutschen Bundestages.2. Der Antragsteller ist Vollmitglied im Gemeinsamen Ausschuß des Deutschen Bundestages.3. Dem Antragsteller wird die Teilnahme an den Sitzungen des Ältestenrates gestattet.4. Der Antragsteller ist berechtigt, Vorlagen im Sinne des § 75 Abs. I Ziff. a und d, Abs. II und Abs. III der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages als einzelner Abgeordneter in den Bundestag einzubringen.5. Der Antragsteller ist berechtigt, Änderungsanträge im Sinne des § 85 der Geschäftsordnung als einzelner Abgeordneter in den Bundestag einzubringen.6. Dem Antragsteller ist bei der Bemessung der Redezeiten jeweils eine Mindestredezeit von fünf Minuten einzuräumen. Im übrigen ist den fraktionslosen Mitgliedern des Deutschen Bundestages insgesamt und somit dem Antragsteller als derzeit einzigem fraktionslosen Abgeordneten eine Redezeit einzuräumen, die der Redezeit der jeweils kleinsten Fraktion des Hauses entspricht.7. Dem Antragsteller ist aus dem Haushalt des Deutschen Bundestages ein monatlicher Zuschlag entsprechend dem Haushaltstitel 684 01-011c zuzüglich eines besonderen Zuschlags von 10 v. H. hierauf, mithin weiterer DM 712,30, insgesamt also DM 7 835,30, monatlich ab Februar 1988 zur Verfügung zu stellen. Dieser Betrag ist in den Nachtragshaushalt für das Jahr 1988 als Position für jeden fraktionslosen Abgeordneten einzustellen, ebenso in die zukünftigen Jahreshaushalte des Deutschen Bundestages, und zwar bis zur Entscheidung in der Hauptsache in diesem Verfahren.8. Der Antragsteller erhält im Plenum des Deutschen Bundestages einen mit einer Schreibmöglichkeit und einem Telefonanschluß ausgestatteten Platz innerhalb der ersten zwei Bankreihen des Plenums zugewiesen.Im Ältestenrat ist jeder Fraktion eine Beratungszeit von fünf Minuten zugestanden worden. Außerdem hat der Abgeordnete Wüppesahl um einen Fünf-Minuten-Beitrag gebeten.Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Helmrich.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nachdem die Anträge des Kollegen Thomas Wüppesahl, die er beim Bundesverfassungsgericht gestellt hat, zu Protokoll genommen worden sind, darf ich zunächst feststellen, daß die CDU/CSU-Fraktion den Beschluß des Rechtsausschusses, diesen Anträgen entgegenzutreten, begrüßt. Wir meinen, daß die Anträge auf Erlaß einstweiliger Anordnungen keinen Erfolg haben können. Teilweise sind schon die mit ihnen verfolgten Antragsziele unzulässig, teilweise sind die zugrunde liegenden Anträge in der Hauptsache unzulässig bzw. offensichtlich unbegründet.Darüber hinaus sind die beantragten vorläufigen Regelungen auch in keinem Falle im Sinne von § 32 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes „dringend geboten". Die beantragten einstweiligen Anordnungen der Anträge Ziffern 1, 2, 4, 5, 7 und 8 können schon deshalb nicht erlassen werden, weil sie unzulässigerweise die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen würden. Es liegen auch keine Gründe vor, die ausnahmsweise eine Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigen könnten. Außerdem müßte zum Teil etwas angeordnet werden, was nicht Inhalt der Entscheidung in der Hauptsache sein könnte.Mit den Anträgen 3 und 6 — ebenso wie mit den Anträgen 4 und 5 — greift der Abgeordnete Wüppesahl entsprechend dem Hauptsacheantrag Ziffer 1 Vorschriften der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages als „Maßnahmen" im Sinne des § 64 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes an. Gleichgültig, ob Geschäftordnungsvorschriften überhaupt als derartige Maßnahmen angesehen werden können, ist zumindest die Halbjahresfrist verstrichen, innerhalb derer sie hätten angegriffen werden können. Auch nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts kommt es nicht darauf an, ab wann den Antragsteller eine Vorschrift beschwert. Dementsprechend sind auch diese Anträge aus diesen Gründen unzulässig.Auch unabhängig von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache ergibt eine Abwägung, daß für Herrn Wüppesahl ohne Erlaß der einstweiligen Anordnung keine schwerwiegenden Nachteile bestehen. Seine Arbeits- und Mitwirkungsmöglichkeiten im Deutschen Bundestag sind derart, daß er sich an der Meinungsbildung beteiligen kann, und er kann seine Auffassung auch überall dort, wo er für seine Auffassung Mehrheiten findet, wirksam zur Geltung bringen. Wollte man jedoch durch eine einstweilige Verfügung seine Statusrechte ausweiten, wäre dies ohne einen Eingriff in die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages nicht möglich. Ein solcher Eingriff würde aber für die Antragsgegner schwerwiegende Nachteile mit sich bringen.Die Geschäftsordnung ist auf Kooperation und Ausgleich angelegt, und ihre Vorschriften sind in einem zum Teil 100jährigen Prozeß, behutsame Rechte und Pflichten aller Beteiligten abwägend, entwickelt worden. Sich selbst und seiner Verfahrensabläufe zu organisieren ist das ureigene Recht des Parlaments; hierin kommt seine Autonomie zum Ausdruck. Eingriffe in dieses Ordnungsgefüge durch einstweilige Anordnungen dürften eigentlich nicht erfolgen, weil die Geschäftsordnung des gesetzgebenden Verfassungsorgans kein Experimentierfeld sein darf. Dies gilt um so mehr, als auch in der Sache die Verfassungswidrigkeit einzelner Vorschriften der Geschäftsordnung nicht angenommen werden kann. Hier ist besonders die Sitzverteilung in den Ausschüssen hervorzuheben. In unserem parlamentarischen Regierungssystem muß sich die Mehrheit im Plenum
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Helmrichin den Ausschüssen widerspiegeln; sonst könnten diese die Beschlüsse im Plenum nicht sinnvoll vorbereiten. Bei Mehrheiten von nur wenigen Stimmen im Ausschuß dürfen die fraktionslosen Abgeordneten, die nur einen verschwindenden prozentualen Bruchteil im Parlament ausmachen, nicht plötzlich eine Überrepräsentation als Zünglein an der Waage haben.
Die Geschichte der Fraktionsbildung zeigt, daß durch sie die wirksame Parlamentsarbeit sichergestellt wird. Deshalb sind die Fraktionen im deutschen Parlamentarismus durch die Geschäftsordnung gestärkt worden. Gerade die Erfahrungen der ersten deutschen Republik zeigen, welch verheerende Wirkung die Aufsplitterung der Kräfte im Parlament haben kann. Auch im Rahmen des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes kann für den einzelnen Abgeordneten nur ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Freiheit und Bindung das verfassungsmäßige Muster für die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages darstellen.Wir bitten deshalb, dem Beschlußvorschlag des Rechtsausschusses zuzustimmen.Danke sehr.
Nach der Wortmeldung des Berichterstatters gebe ich dem Abgeordneten Wüppesahl das Wort.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen!Zum einen haben Sie es geschafft: Wir haben jetzt 22.30 Uhr; die Debatte findet zu einer sehr ungünstigen Zeit statt. Zum anderen bin ich völlig unüblicherweise der zweite Redner, während ich sonst immer als letzter Redner das Wort nehmen darf, möglichst auch zu medienungünstigen Zeiten,
was natürlich auch eine Konkretion dieser Organstreitklage in der Debatte um die Klage als solche darstellt.Ich denke, die eben gehörten Argumente zu den technischen Fragen sind unseriös, weil es natürlich keine Gefahr gibt, daß die Mehrheitsverhältnisse in den Ausschüssen gekippt werden könnten — wie Sie genau wissen, Herr Helmrich. Es ist ohne weiteres möglich, daß man — ähnlich wie im Europäischen Parlament — über das Zugriffsverfahren der Gruppe der Fraktionslosen eine entsprechend ihrer Kopfzahl zu berechnende Ausschußplatzzahl zubilligt.Selbst nach der bestehenden Logik im Deutschen Bundestag wäre es notwendig, daß bei den vorhandenen Ausschußplätzen — es gibt mehr Ausschußplätze als Abgeordnete unter uns — die Fraktionslosen — in diesem Fall zur Zeit nur einer, nämlich ich — das Zugriffsrecht in Anspruch nehmen könnten und sich von den bis zu dem Zeitpunkt verbliebenen Plätzen einen Ausschußplatz auswählen könnten.Genauso ist es in sämtlichen anderen Feldern, z. B. beim Rederecht. Während Sie, Herr Hirsch, sich zu jedem Tagesordnungspunkt selber zu Wort melden können oder über Ihre Fraktionskollegen Ihre Meinung zum Ausdruck bringen können,
kann ich das pro Sitzungswoche höchstens bei einem oder zwei Tagesordnungspunkten.
Ein weiterer Gesichtspunkt ist folgender: Sie verursachen zur Zeit durch die Beschlußvorlage aus dem Rechtsausschuß die Vermeidung der politischen Lösung dieses Problems. Die politische Lösung wäre eine angemessene Lösung, nicht aber die juristische Lösung. Sie verschieben das Problem mit Ihrer Lethargie, dieses Problem anzufassen — was verfassungsrechtlich einen großen Stellenwert hat — auf die Richter in Karlsruhe.
Das ist schon peinlich genug. Um eine solche Entscheidung drücken Sie sich herum. Ich kann mir nur wünschen, daß in Karlsruhe genau gesehen wird, wenn die CDU/CSU-Fraktion im Rechtsausschuß formuliert — wie wir es bei „heute im bundestag" nachlesen konnten —, daß sie nicht will, daß sich die Karlsruher Richter hinter einem Vergleich verstecken können, und ich einer solchen Formulierung noch eine Unterstützung gebe — natürlich mit einer ganz anderen Begründung, Herr Seiters.
Denn ich weiß ganz genau, ich sehe und erlebe es — wie heute abend — ständig, daß Sie nicht einen Deut bereit sind, etwas von Ihrer Machtfülle, gerade von der Machtfülle der Fraktionsgeschäftsführungen, abzugeben, und zwar von in verfassungsrechtlich illegitimer Weise in Anspruch genommener Machtfülle.
Ich hoffe auch, daß in Karlsruhe sehr deutlich gesehen wird, daß es hier nicht „nur" um ein Politikfeld geht, sondern auch um die Grundbedingung dessen, wie Politik im Bereich des Parlaments in der Bundesrepublik gemacht wird, und auch darum, reflektiv in sämtliche Einzelprobleme hineinzuwirken. Ich wünsche mir, daß dies genau gesehen wird, und ich bin inzwischen auch recht großer Zuversicht, daß bestimmte Teile dieser von mir gestellten Anträge auch tatsächlich durchkommen werden.
[SPD]. Gleiches Recht
für 520 Abgeordnete!)Mir geht es — das möchte ich abschließend ausdrücklich bemerken — nicht darum, den Parlamentarismus zu erschweren. Ich sehe die Notwendigkeit,
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Wüppesahldaß es effiziente Fraktionen gibt. Es besteht aber eine genauso große Notwendigkeit vom Verfassungsideal und auch von der parlamentarischen Wirklichkeit her, daß Einzelabgeordneten eine effiziente, wenngleich politisch isolierte Mitwirkungsmöglichkeit bei der Meinungsbildung und bei der Entscheidungsfindung eingeräumt wird. Und genau das verhindern Sie mit allen möglichen Mitteln und Tricks.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bohl?
Bitte schön.
Herr Abgeordneter, Sie haben die Möglichkeit dazu.
Herr Kollege Wüppesahl, könnten Sie mir bestätigen, daß Sie im Rahmen der geltenden Geschäftsordnung durchaus die Möglichkeit der Mitwirkung in bestimmten Ausschüssen bei bestimmten Tagesordnungspunkten haben? Warum leugnen Sie diesen Tatbestand hier bei Ihrer Einlassung in dieser Rede?
Ich glaube, Sie applaudieren ein wenig zu früh. — Herr Kollege Bohl, ich möchte Ihnen nur ein kurzes Beispiel skizzieren: Im März dieses Jahres wurde ein Antrag im Innenausschuß beraten — dem ich früher als Obmann der GRÜNEN angehörte — , den ich als Erstunterzeichner gezeichnet hatte. Danach hätte mir dort das Rederecht zugestanden. Ich meldete mein Rederecht an, und dieses Rederecht wurde vom Vorsitzenden ignoriert. Ich begab mich zum Vorsitzenden und versuchte, mein Rederecht einzuklagen. Dies gelang nach etwa zehn Minuten — man hatte sich dann intern mit der Materie auseinandergesetzt. Ich konnte also reden. — Es sollte dann zur Beschlußfassung kommen. Vor der Beschlußfassung schickte mich der Ausschußvorsitzende nach draußen mit der Begründung, der Innenausschuß hätte seine Sitzung jetzt als geschlossene Sitzung erklärt. Dies aber kann nur der Ausschuß als Ganzes, nicht der Ausschußvorsitzende tun. Wenn sich der Ausschuß für geschlossen erklärt, hätten die ganzen Ministerialbeamten, die an den Wänden sitzen, mit hinaus gehen müssen!
Wissen Sie eigentlich, was für eine Demütigung das für einen Abgeordneten ist?
Ich kann noch eine Reihe solcher Beispiele anführen, und ich glaube, damit ist Ihre Frage treffender beantwortet als mit einer allgemeinen Ausführung.
Herr Abgeordneter Wüppesahl, gestatten Sie auch dem Abgeordneten Lüder eine Zwischenfrage?
Wenn es von meiner Zeit ebenfalls nicht abgezogen wird.
Ich werde das von Ihrer Zeit natürlich nicht abziehen.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Lüder.
Herr Kollege, nachdem Sie diese Schilderung des Verlaufs einer Ausschußsitzung gegeben haben, frage ich Sie: Was haben Sie eigentlich gegen das Protokoll unternommen, aus dem sich dieser Sachverhalt nicht ergibt? Oder ist vielleicht das Protokoll der Sitzung zutreffend, nicht Ihre heutige Schilderung?
Herr Kollege Lüder, Sie wissen, daß ich Sie auf eine ganz bestimmte Art schätze. Diese Frage entspricht aber nicht dem Standard, gemäß dem ich meine Schätzung Ihrer Person gegenüber definieren würde.Es gibt eine umfangreiche Korrespondenz zwischen dem Ausschußvorsitzenden, dem Bundestagspräsidenten, Herrn Jenninger, und mir genau zu diesem Problemfall, und aus dieser Korrespondenz ergibt sich eindeutig das, was ich eben bei der Schilderung und juristischen Wertung des Falles gesagt habe.Abschließend möchte ich noch auf folgenden Sachverhalt hinweisen. Wir diskutieren heute über den sogenannten Mahrenholz-Vorschlag, der sich auf die Mitarbeit im Ausschuß — da nur Rede- und Antragsrecht, nicht Stimmrecht — und ein Rederecht bis zu 15 Minuten, abhängig von der Debattendauer, bei Plenarsitzungen bezieht. Dies reduziert das Gesamtproblem schon gewaltig. Selbst die acht Einzelanträge, die ich in Karlsruhe gestellt habe, reduzieren das Gesamtproblem. Die Diskussion hier müßte, wenn man Politik nicht, wie ich manchmal bei vielen Kolleginnen und Kollegen den Eindruck habe, als Verwaltung versteht, sondern als Gestaltungswillen mit Risiko und auch mit dem Mut, etwas Neues zu probieren, noch weit umfassender geführt werden, also über das hinaus, was in diesen acht Anträgen geschrieben steht. Dazu gibt es im übrigen nicht bloß von der Initiative Parlamentsreform, sondern auch aus den Reihen der GRÜNEN und der SPD sehr umfangreiche Änderungsanträge aus vergangenen Legislaturperioden und auch aus der jetzigen.Hier schließt sich der Kreis zu meiner Eingangsbemerkung: Ich finde es beschämend und traurig, daß dieses Parlament ein solches Problem, das eigentlich wirklich seine eigene Sache wäre, nach Karlsruhe delegiert und wieder einmal den Juristen überläßt, statt es selbst anzupacken.
Mein Schlußsatz: Ich bin der festen Überzeugung, daß nicht nur deshalb, weil ich ein ausgesprochen freundliches Wesen bin, sondern auch deswegen, weil die Anträge, die ich in Karlsruhe gestellt habe, politisch, verfassungsrechtlich und auch pragmatisch sehr sinnvoll sind, heute eine Beschlußfassung Ihrerseits ganz anders aussehen müßte als das, was der Rechtsausschuß empfohlen hat, und wünsche mir, daß aus Ihren Reihen — ich werde mich da natürlich zurück-
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Wüppesahlhalten — heute noch solche Änderungsvorschläge in diese Debatte eingebracht werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Wiefelspütz.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion wird der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zustimmen. Das Organstreitverfahren, das der Kollege Wüppesahl beim Bundesverfassungsgericht anhängig gemacht hat, ist im Geschäftsordnungsausschuß und im Rechtsausschuß sowie fraktionsintern intensiv — und zwar stundenlang — beraten worden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, im wesentlichen will der Kollege Wüppesahl eine Verbesserung der Rechtsstellung eines fraktionslosen Mitgliedes des Bundestages erreichen. Seine zahlreichen Anträge beim Bundesverfassungsgericht beziehen sich u. a. auf das Rederecht im Plenum, auf Mitgliedschaftsrechte im Ältestenrat und in Ausschüssen des Bundestages, auf Berücksichtigung fraktionsloser Abgeordneter bei Stellenanteilen der Fraktionen und auf finanzielle Zuwendungen aus dem Haushalt für fraktionslose Abgeordnete.Ein Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist keine Kleinigkeit. Im vorliegenden Fall ist die sehr wichtige Frage des Verhältnisses des einzelnen Abgeordneten zu den Fraktionen dieses Hohen Hauses angesprochen. Dabei gerät allerdings keineswegs nur der fraktionslose Abgeordnete ins Blickfeld, sondern auch die Rechtstellung des einzelnen Mitgliedes dieses Hohen Hauses, das Mitglied einer Fraktion ist.
Wir wissen alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß dieses Hohe Haus erst durch die Fraktionen arbeitsfähig ist. Dieser einfachen Erkenntnis trägt unsere Geschäftsordnung in zahlreichen Bestimmungen Rechnung. Dies ist in Ordnung und steht nicht in Streit, denke ich. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Rechtstellung des einzelnen Abgeordneten — völlig unabhängig davon, ob Fraktionsangehöriger oder Nichtfraktionsmitglied — durch unsere Geschäftsordnung in ausreichendem Maße abgesichert ist.
Durch Plenumsbeschluß, Frau Kollegin, sind dem Geschäftsordnungsausschuß zahlreiche Änderungsanträge zur Geschäftsordnung überwiesen, die auch die Rechtstellung des einzelnen Abgeordneten betreffen. Es wäre nicht sachgerecht, zum gegenwärtigen Zeitpunkt Mutmaßungen über den Ausgang der Beratungen anzustellen. Sie können aber davon ausgehen, daß in meiner Fraktion sehr wohl Sensibilität im Hinblick auf eine Verbesserung der Rechtstellung einzelner Mitglieder dieses Hohen Hauses besteht, ohne deswegen schon bewährte Verfahrensregeln über die Arbeit des Bundestages verwerfen zu wollen.
[SPD])Vielleicht geht ja das eine und das andere.
Vielleicht können wir die bewährte Arbeit und Rechtstellung der Fraktionen erhalten und gleichzeitig etwas dafür tun, daß der einzelne Abgeordnete wie auch der Kollege Wüppesahl in ihren Arbeitsbedingungen und ihrem Rechtsstatus eine bessere Situation erfahren.
Ich will hervorheben, daß unsere Geschäftsordnung sehr wohl Möglichkeiten eröffnet, um einem fraktionslosen Abgeordneten praktische Arbeitsmöglichkeiten im Plenum und in den Ausschüssen zu eröffnen. Ich weise darauf hin, daß dem Kollegen Wüppesahl das Recht zugebilligt wird, zu praktisch jedem von ihm gewünschten Tagesordnungspunkt im Plenum zu reden, und zwar mit einer im wesentlichen ausreichenden Redezeit ausgestattet. Insoweit ist er in einer anderen Situation als alle Mitglieder dieses Hauses, es sei denn, sie sind Minister.
Wegen der sehr wichtigen Arbeitsmöglichkeit in einem Fachausschuß haben wir auf § 69 Abs. 3 Satz 3 der Geschäftsordnung hingewiesen. Danach kann der Ausschuß auch andere Mitglieder des Bundestages zu seinen Verhandlungen mit beratender Stimme hinzuziehen oder zulassen. Es handelt sich allerdings um eine autonome Entscheidung des Fachausschusses. Ich bedaure, daß der Innenausschuß mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen entschieden hat, den Kollegen Wüppesahl nicht mit beratender Stimme hinzuzuziehen. Vielleicht ist diese Entscheidung noch einmal zu überdenken.
Ich bitte hier allerdings auch zu beachten, was es für Folgen für unsere praktische Arbeit hätte, wenn jedes Mitglied dieses Hohen Hauses — wie es der Kollege Wüppesahl offenbar will — einen Anspruch auf Mitgliedschaftsrechte mit Stimmrecht in einem Ausschuß seiner Wahl hätte. Wie sähe denn dann wohl unsere Arbeit in den Fachausschüssen aus,
wenn wir nicht nur ein fraktionsloses Mitglied hätten, sondern vielleicht zahlreiche? Es wird auch in der Zukunft immer wieder mehrere fraktionslose Mitglieder in diesem Hause geben.Weil es im Organstreitverfahren Wüppelsahl gerade nicht ausschließlich um einen einzelnen Kollegen geht — wenngleich auch um einen einzelnen Kollegen — , sondern um die zentrale Frage der Rechtstellung einzelner Abgeordneter, befürworten wir aus Anlaß des vor dem Bundesverfassungsgericht an-
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Wiefelspützhängigen Verfahrens einer einstweiligen Anordnung keine Änderung unserer geschriebenen Geschäftsordnung. Dies wäre nichts anderes als eine Lex Wüppesahl.
Wir raten aber dazu, im Rahmen der geltenden Geschäftsordnung dem Kollegen Wüppesahl soweit als möglich entgegenzukommen.
Das gebietet nicht nur die Fairneß, sondern auch die simple Erkenntnis, daß noch jeden von uns das Schicksal der Fraktionslosigkeit erwarten kann.
— Das ist doch wohl so. Wenn wir schon nicht selber überlegen eine Fraktion zu verlassen, kann doch womöglich die Fraktion der Auffassung sein, daß jeder einzelne von uns ihr nicht mehr angehören sollte.
Auf diese Weise ist ja wohl auch der Kollege Wüppesahl fraktionslos geworden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluß noch ein Wort zum Änderungsantrag der GRÜNEN. Dem kann man bei allem guten Willen bereits deshalb nicht zustimmen, weil, wie Kollege Wüppesahl selber gesagt hat, eine ganze Reihe von Anträgen gestellt worden sind. Das Mitgliedschaftsrecht mit Stimmrecht im Innenausschuß, das er begehrt, ist nur ein Teil — zwar ein wichtiger Teil, aber nur ein Teil — dieses gesamten Begehrens. Mit solch einem Änderungsantrag kann man die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses nicht aushebeln. Dieser Änderungsantrag ist im Grunde nicht sachgerecht und wohl nicht richtig überlegt worden.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir werden dem Votum des Rechtsausschusses folgen, obwohl wir, Herr Kollege Helmrich, nicht so ganz davon überzeugt sind, daß der Kollege Wüppesahl beim Bundesverfassungsgericht mit allen Anträgen unterliegen wird. Wir glauben aber, daß es sich hier um eine grundsätzliche Frage handelt. Diese grundsätzliche Frage soll vom Bundesverfassungsgericht ruhig einmal entschieden werden. Denn schließlich hat der Herr Kollege Wüppesahl nach dem Ausscheiden aus der Fraktion DIE GRÜNEN als erster fraktionsloser Kollege die Regelung unserer Geschäftsordnung grundlegend in Frage gestellt, die zweifellos von dem Vorhandensein der Fraktionen ausgeht.
Der Kollege Wüppesahl hat als erster fraktionsloser Abgeordneter versucht, seine Rechte und Pflichten durch das Bundesverfassungsgericht klären zu lassen, und auch entsprechende Anträge auf eine einstweilige Anordnung gestellt. Dies ist in unserem Rechtsstaat nicht nur legitim, sondern dient im Grunde genommen auch der Klarstellung für uns alle.
Dabei wird zu entscheiden sein, ob ein einzelner fraktionsloser Abgeordneter mehr Rechte haben kann als z. B. ein fraktionsangehöriger Kollege.
Das muß man auch klären; vielleicht muß er sogar mehr Rechte haben.
Auf der anderen Seite steht sicherlich das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages als Organ. Dies wird deutlich für den Fall, daß wir einmal mehr fraktionslose Kollegen als jetzt haben. — das hat es ja in der Vergangenheit schon gegeben, und hierauf hat ja auch der Kollege Wiefelspütz zu Recht hingewiesen. — Dann würde aber die Ausschußarbeit nicht nur erschwert, sondern fast unmöglich gemacht, wenn dann jeder fraktionslose Kollege die gleichen Rechte beansprucht, die jetzt der Kollege Wüppesahl haben will.
Ich bzw. meine Fraktion hält es überhaupt nicht für einen Schaden, daß das Bundesverfassungsgericht jetzt mit dieser Frage befaßt wird. Dazu ist das Bundesverfassungsgericht da, daß Zweifelsfragen im Zusammenhang mit der Rechtsstellung von Organen der Bundesrepublik Deutschland geklärt werden.
— Nein, so einfach ist das mit Rechtsfragen manchmal nicht, daß man das nur nachzulesen braucht, sondern da muß man eben auch auslegen. Wir haben uns sehr genau überlegt, ob wir den Vorschlägen, die von Herrn Mahrenholz gemacht worden sind, folgen sollen oder nicht. Diese Vorschläge hätten den Ruch eines faulen Kompromisses. Deswegen scheint es uns auch durchaus zweckmäßig zu sein, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten und bei der einstweiligen Anordnung auf einen entsprechenden Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zu warten.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Nickels.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe für die GRÜNEN einen Änderungsantrag einzubringen, will aber vorweg gleich etwas sagen: Dieses Organstreitverfahren hat uns neben dem, was wir ohnehin schon an Debatten und Ärger mit Thomas Wüppesahl hatten, eine Menge an Debatten gebracht, die zum Teil ärgerlich waren, aber zum Teil ganz spannend. Ich will versuchen, in den fünf Minuten so ein bißchen davon zu vermitteln.
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6698 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 97. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. September 1988
Frau Nickels— Herr Bohl, ich rede frei. Lassen Sie mich doch einmal ausreden.Grundsätzlich ist es heute so, daß wohl kein Abgeordneter mehr ohne seine Partei in den Bundestag hineinkäme. Diesen Parteien, die wir draußen haben, außerhalb der Parlamente, entsprechen eigentlich die Fraktionen hier im Bundestag im kleinen. Die Geschäftsordnung geht auf diesen Zustand ein und richtet sich danach. Ein Abgeordneter ist hier im Bundestag ein Nichts, er ist nicht existent, wenn er außerhalb der Fraktionen existiert.
Eigenartigerweise hat das Grundgesetz in Art. 38 genau da ein Stück weit herausgeholt. Dort heißt es: Sie— die Abgeordneten — sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Wenn jetzt ein Abgeordneter meint, aus der Fraktion austreten zu sollen, aus welchen Gründen auch immer, oder wenn er ausgeschlossen wird, ist er entgegen dem hohen Verfassungsrang in unserer Geschäftsordnung noch nicht einmal eines einzigen Paragraphen würdig. Fraktionslose Abgeordnete kommen in unserer Geschäftsordnung nicht vor, Frau Hamm-Brücher. Das ist doch ein Unding!
Wenn wir jetzt hier ein Verfahren haben — egal, wie wir das in Einzelpunkten bewerten —, dann kann es doch nicht angehen, so denke ich, daß wir es dem Bundesverfassungsgericht allein überlassen, darüber nachzudenken,
wie man die Existenz eines fraktionslosen Abgeordneten in der Geschäftsordnung niederlegen könnte. Das muß doch Aufgabe von uns sein.
— Herr Wiefelspütz, ich rede frei. Ich möchte darum gern weiterdenken. Ich habe auch nicht so viele Minuten Redezeit.
Es geht also darum, wie der fraktionslose Abgeordnete in der Geschäftsordnung berücksichtigt werden könnte und wie man dort seine Mitwirkungsrechte regeln könnte.
Dazu will ich folgendes sagen: In § 13 unserer Geschäftsordnung ist niedergelegt, daß die Mitglieder des Bundestages verpflichtet sind, an den Arbeiten des Bundestages teilzunehmen. Wir alle wissen, daß hier im Plenum eigentlich nur sehr wenig an Meinungsbildung passiert. Hier wird immer nur vorgetragen, was wir erarbeitet haben. Die eigentliche Arbeit des Abgeordneten findet aber in den Ausschüssenstatt. Diesbezüglich ist es aber so, daß § 69 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung
dem fraktionslosen Mitglied oder auch dem nicht dem Ausschuß angehörenden Mitglied gestattet, als Zuhörer teilzunehmen. Das ist aber auch schon alles, was er als Recht hat.
— Das ist aber eine Ausnahmeregelung, die nur gilt, wenn er selbst betroffen ist oder von der Fraktion abgestellt ist.
Es ist aber kein eindeutiger Rechtsanspruch für den fraktionslosen Abgeordneten.Wir sind der Meinung: Wenn es richtig ist, daß einmal dem einzelnen Abgeordneten unabhängig von seinem Fraktionsstatus eine so hohe Bedeutung zukommt, er zum anderen gehalten ist, an den Arbeiten teilzunehmen, dann muß unsere Geschäftsordnung ihm die Möglichkeit dazu einräumen. Wir glauben nicht, schon jetzt zu wissen, wie das gehen könnte. Herr Wiefelspütz hat schon richtigerweise gesagt: Wenn man den fraktionslosen Abgeordneten mit solchen Rechten ausstattet, die er sonst nur qua Fraktionsmeinungsbildung erreicht, wäre er in diesem Punkt bessergestellt, in anderen schlechter. Wir wissen noch nicht, was das — wenn man das durchdenkt — bedeuten könnte.Es ist ein Defizit, daß die fraktionslosen Abgeordneten nicht in unserer Geschäftsordnung vorkommen und auch sonst eigentlich nicht vorgesehen sind. Hätte sich Thomas Wüppesahl nicht so auf die Hinterbeine gestellt, säße er jetzt da hinten und könnte in Frieden seine Diäten verzehren, könnte gar nichts machen, wenn er es nicht wollte. Darum sind wir der Meinung, daß es möglich ist, ohne etwas zu präjudizieren, über unsere Geschäftsordnung, § 126, für die Zeit, in der das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden hat und wir im Bundestag noch nicht beraten haben, ihm Mitgliedschaftsrechte einzuräumen, damit er ordentlich arbeiten kann. Alle Konsequenzen, die dann mit zu bedenken und zu beraten sind, wären es wert, daß wir sie selbst in die Hand nehmen und in unseren zuständigen Ausschüssen debattieren und es nicht dem Bundesverfassungsgericht allein überlassen, sich unseren Kopf zu zerbrechen.Ich möchte jetzt den Änderungsantrag, den wir heute erst nach einer schweren Geburt für diese Zwischenzeit beschlossen haben, vortragen: Wir lehnen die Beschlußempfehlung des Ausschusses ab und schlagen statt dessen vor, bis zur abschließenden Klärung durch das Bundesverfassungsgericht in Verfahren auf Erlaß einstweiliger Anordnungen und im Organstreitverfahren Wüppesahl./. Deutscher Bundes. tag dem fraktionslosen Abgeordneten Wüppesahl Mitgliedschaftsrecht in einem Ausschuß seiner Wahl einzuräumen und insoweit gemäß § 126 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages eine Abweichung von der Geschäftsordnung zu beschließen.
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Das Wort hat nach § 31 unserer Geschäftsordnung die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte gern zu Protokoll geben nach § 31 unserer Geschäftsordnung, weshalb ich mich an der Abstimmung nicht beteiligen werde, trotz einiger hoffnungsvoller Zeichen in dieser Diskussion, vor allem von Herrn Wiefelspütz und auch von unserem Fraktionsredner Herrn Funke.
Ich möchte mich an der Abstimmung nicht beteiligen, weil ich es eigentlich und grundsätzlich sehr bedaure, wenn es uns nicht gelingt, unsere Gesetzgebung in eigener Sache nicht intra muros zu regeln. Ich halte dies für bedauerlich. Das Bundesverfassungsgericht als Oberschiedsgericht anzurufen ist eine letzte Lösung. Aber ich hätte mir gewünscht, wir hätten intern eine unseren Vorstellungen entsprechende Lösung gefunden und dies vermieden.
Der zweite Grund, weshalb ich mich an der Abstimmung nicht beteiligen kann, ist der, daß ich in der Sache — und das wissen Sie ja auch alle — hinsichtlich der Rechte des einzelnen Abgeordneten im Deutschen Bundestag tatsächlich einen Handlungsbedarf sehe. Das sehe nicht nur ich so, sondern das sehen mittlerweile über 180 Kolleginnen und Kollegen auch so.
Seit vier Jahren bemühen wir uns nämlich, die Mitwirkungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten durch zahlreiche Anträge zu stärken, und zwar nicht, verehrte Kollegen Fraktionsgeschäftsführer, auf Kosten der notwendigen Ordnung der Fraktionen — die anerkennen wir, und das ist ganz selbstverständlich — , sondern wir möchten diese Rechte stärken zugunsten der Funktionsfähigkeit und des besseren Ansehens des Deutschen Bundestages insgesamt — das ist unser Ziel, das wurde vorhin auch gesagt — und im Vollzug des Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes. Liebe Frau Kollegin Nickels, wir haben ja — es freut mich heute noch, daß das gelungen ist — im § 13 die Langfassung aufgenommen, die noch viel deutlicher und umfassender sagt, welches Gebot das Grundgesetz jedem einzelnen Abgeordneten auferlegt. Da steht: Jedes Mitglied des Bundestages folgt bei Reden, Handlungen, Abstimmungen und Wahlen seiner Überzeugung und seinem Gewissen. Diesem Ausdruck zu verleihen, haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach unserer Überzeugung nicht in ausreichendem Maße die Möglichkeit. Das haben wir uns vorgenommen, vor allem in den Bereichen des Rederechts, des Informationsrechts und des Initiativrechts.
Aus diesem Grunde erhoffen wir uns mit oder ohne Schiedsstelle Bundesverfassungsgericht — und hierfür liegen ja jetzt auch einige Hoffnungen am Horizont — eine spürbare Aufwertung der Individualrechte des Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Von daher meine ich, daß es wichtig ist, daß hier auch zum Ausdruck kommt, daß man sich bei dieser Abstimmung mit guten Gründen nicht beteiligen kann.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Abstimmung.
Zunächst lasse ich über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN — Frau Nickels nannte es das Ergebnis einer schweren Geburt — abstimmen. Ich möchte ihn noch einmal vorlesen, weil er Ihnen schriftlich nicht vorliegt. Die Beschlußempfehlung erhält folgende Fassung:
Der Bundestag wolle beschließen, bis zur abschließenden Klärung durch das Bundesverfassungsgericht im Verfahren auf Erlaß einstweiliger Anordnung und im Organstreitverfahren Wüppesahl ./. Deutscher Bundestag dem fraktionslosen Abgeordneten Wüppesahl Mitgliedschaftsrechte in einem Ausschuß seiner Wahl einzuräumen, und insoweit gemäß § 126 unserer Geschäftsordnung eine Abweichung von der Geschäftsordnung beschließen.
Dies dürfte ein Geschäftsordnungsantrag nach § 126 sein. Da ich annehme, daß Ihnen die Geschäftsordnung nicht vorliegt, darf ich auch diesen § 126 noch einmal verlesen:
Abweichungen von dieser Geschäftsordnung
Abweichungen von den Vorschriften dieser Geschäftsordnung können im einzelnen Fall mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder des Bundestags beschlossen werden, wenn die Bestimmungen des Grundgesetzes dem nicht entgegenstehen.
Die Geschäftslage ist klar: Wenn dem Antrag stattgegeben werden soll, müssen zwei Drittel der anwesenden Mitglieder des Hauses dafür stimmen.
Ich lasse nunmehr abstimmen. Wer für diesen Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung und einer Stimme der SPD mit der Fraktion DIE GRÜNEN — sonst ablehnend — ist dieser Antrag abgelehnt.
Ich lasse nunmehr über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 11/2952 abstimmen. Wer dieser Beschlußempfehlung zustimmt, den möchte ich bitten, die Hand zu erheben. — Wer stimmt gegen diese Beschlußempfehlung? — Wer enthält sich? — Bei unterschiedlichem Verhalten der Fraktionen mit eindeutiger Mehrheit angenommen.
Meine Damen und Herren, wir sind nunmehr am Ende unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 30. September 1988, 9 Uhr ein und wünsche Ihnen für die restlichen 64 Minuten des heutigen Tages eine angenehme Zeit.
Die Sitzung ist geschlossen.