Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe Zusatzpunkt 12 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Die Haltung der Bundesregierung zur Unteilbarkeit der Menschenrechte
Meine Damen und Herren, die Fraktion der CDU/ CSU hat gemäß Nr. 1 e der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem genannten Thema verlangt. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Hürland.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie könnten wir, ein frei gewähltes Parlament im freien Deutschland, uns fast am Ende unserer Beratungen in dieser Legislaturperiode besser aus diesem Hohen Hause verabschieden als dadurch, daß wir uns auf das besinnen, was uns die Väter und Mütter dieses demokratischen Staates als Verpflichtung, aber auch als Mahnung für unser politisches Handeln mit auf den Weg gegeben haben, und zwar mit den beiden ersten Absätzen des Art. 1 unseres Grundgesetzes:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
Dieses, damit nie wieder in unser Land so schreckliches, entsetzliches Leid zurückkehrt, wie es während des Nationalsozialismus der Fall war.
Wir sollten uns nicht nur am Tag der Menschenrechte auf diese Verpflichtung besinnen und an die denken, deren elementarste Grundrechte verletzt und geschunden werden, sondern wir sollten uns ständig darum bemühen und daran arbeiten, daß Menschenrechte nirgendwo mißachtet werden.
Ich möchte an dieser Stelle einmal all den Organisationen danken, die sich vor Ort mit großem Engagement für die Einhaltung der Menschenrechte überall in der Welt einsetzen.
Dort, wo Menschenrechte verletzt werden, müssen wir das an den Pranger stellen, gleich, ob das in Ost oder West, in Nord oder Süd geschieht. Menschenrechte sind unteilbar. Wer die Rechte anderer Menschen unterdrückt, handelt unmenschlich, j a verbrecherisch. Das gilt für das Regime des Generals Pinochet in Chile, das Christdemokraten und Sozialisten gleichermaßen politisch verfolgt. Das gilt für die Links- und Rechtsdiktaturen in Nord- und Südkorea. Das gilt für das Regime in Äthiopien. Das gilt für Südafrika.
Das gilt auch für den anderen Teil Deutschlands, für das Regime, das immer noch die Menschen, die Mauer und Stacheldraht überwinden und in Freiheit leben wollen, mit Minen, Maschinenpistolen und scharfen Hunden daran hindert, in die Freiheit zu gelangen.
Das gilt auch für das kommunistische Regime in der Sowjetunion, das politisch Andersdenkende wie den Friedensnobelpreisträger Sacharow in die Verbannung schickt, den Regimegegner Anatolij Martschenko im Arbeitslager sterben läßt, weil er als unbequemer Kritiker dieses unmenschlichen Regimes galt. Er, nur 48 Jahre alt, saß 20 Jahre in Arbeitslagern und sollte noch fünf weitere Jahre wegen antisowjetischer Hetze und Propaganda absitzen.
Christen und Juden werden dort verfolgt, ganze Völker unterdrückt. Wer mit dem politischen System der Kommunisten in der Sowjetunion nicht einverstanden ist, wird in psychiatrische Kliniken eingesperrt. Die Sowjetunion führt einen fürchterlichen Krieg in dem wehrlosen Afghanistan, gegen kleine Kinder, hilflose Frauen und die Zivilbevölkerung, weil diese Menschen für ihr Selbstbestimmungsrecht eintreten und sich nicht unterdrücken lassen wollen. Wir alle sollten uns davor hüten, in einseitige Verurteilungen abzugleiten, je nachdem, ob uns das System paßt oder nicht, ob es unserem
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Frau Hürland
Weltbild entspricht oder nicht. Menschenrechte sind unteilbar.
Lassen Sie mich schließen mit einer Aufforderung von Karl Carstens, die uns — wie das Grundgesetz — alle verpflichten sollte:
Wir dürfen nicht mutlos werden, wir sollten uns vielmehr immer wieder zu den für das Zusammenleben der Menschen zentralen Werten Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz und Brüderlichkeit bekennen und mithelfen, daß sie mehr und mehr zu bestimmenden Faktoren auf dieser Erde werden.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Neumann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zuerst unmißverständlich sagen: Für uns ist der Kampf um die Menschenrechte kein parteipolitischer Schlagstock, der sich im Wahlkampf als Wahlkampfmittel eignet. Die Menschenrechte eignen sich nicht zum parteipolitischen Kampf. Wer aus parteipolitischem Kalkül die Menschenrechtsfrage angeht, muß wissen, daß er dieses zu Lasten der verfolgten, eingekerkerten und mißhandelten Menschen tut. Die Menschenrechte sind in gleicher Weise kein Gegenstand für einen außenpolitischen Meinungsstreit wie für einen innenpolitischen Machtkampf.
Lassen Sie mich darüber hinaus auch klar sagen: Die Behandlung der Menschenrechte als Thema im Wahlkampf gibt aber dann einen Sinn, wenn dahinter die Suche nach einem verbesserten internationalen Menschenrechtsschutz steht. Sie gibt dann einen Sinn, wenn der friedenstiftende Charakter der Einhaltung der Menschenrechte und der Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Entwicklung deutlich gemacht wird. Wir begrüßen so jede Bewußtseinsbildung der Bürger für Menschenrechte in unserem Lande.
Die sozialdemokratische Fraktion hat als einzige Fraktion eine Arbeitsgruppe Menschenrechte, die sich systematisch mit dem internationalen Menschenrechtsschutz, aber auch mit vielen Einzelfällen befaßt und engen Kontakt zu den Menschenrechtsorganisationen in der Bundesrepublik unterhält. Der Einsatz für die Verwirklichung der Menschenrechte auch innerhalb der Arbeit unserer Bundestagsfraktion ergibt sich nicht nur aus der hundertjährigen Tradition der Sozialdemokratie im Kampf für die Menschenrechte, sondern auch aus der jederzeit aktuellen Überlegung, daß ein dauerhafter Frieden nur errungen werden kann, wenn die Menschenrechte in allen Teilen der Welt gesichert sind.
Wir haben Schritt für Schritt mit größtmöglicher Kompromißbereitschaft versucht, den bestmöglichen Weg zur Verwirklichung der Menschenrechte zu finden. Kleine Schritte in der Menschenrechtspolitik, die von einer großen Mehrheit getragen sind, haben allemal mehr Erfolgschancen als eine Menschenrechtspolitik in der Konfrontation der Parteien. Gemeinsam haben wir uns mit ausländischen Freunden für das Leben des koreanischen Demokraten Kim Dae Jung eingesetzt. Wir wollen nicht aufhören, uns gemeinsam für die Freiheit von Andrej Sacharow einzusetzen.
Wir haben uns gemeinsam um die Ausreise und Freilassung politischer Häftlinge in der DDR bemüht. Wir verdanken Willy Brandt und anderen, daß sie sich bis heute für die bedrängten Menschen in der Sowjetunion verwenden.
Oft ist es nicht lautstarke Publizität, die zum Erfolg führt, sondern stille Intervention. Wir haben uns bemüht, von Fall zu Fall das richtige politische Mittel zu finden, um die Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden.
In der Interparlamentarischen Union und in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats haben sich Mitglieder aller Fraktionen gemeinsam für diskriminierte deutsche Minderheiten in der Sowjetunion eingesetzt. Die Koalitionsfraktionen haben einem Antrag der SPD zur Verbesserung der Lage der jüdischen Minderheit in der Sowjetunion zugestimmt; dafür danken wir. Seit 1979 führen wir einen gemeinsamen Kampf gegen die völkerrechtswidrige Politik der Sowjetunion in Afghanistan, die den afghanischen Behörden die Möglichkeit gibt, in unvorstellbarem Ausmaß Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Wir werden nicht aufhören, dafür zu werben, daß wir gemeinsam gegen die Rassendiskriminierung in Südafrika kämpfen.
Wir Sozialdemokraten unterstützen den Außenminister seit 1974 bei seiner Forderung nach einem Internationalen Menschenrechtsgerichtshof der Vereinten Nationen ebenso wie bei der Forderung nach einem UN-Hochkommissar für Menschenrechte. Wir werden dafür kämpfen, daß bei der UN- Folterkonvention der schändliche Vorbehalt nicht in das Ratifizierungsverfahren eingebracht wird, der die Abschiebung von Menschen in Staaten möglich macht, in denen Menschenrechtsverletzungen und Folter drohen. Wir werden nicht aufhören, dafür zu werben, daß das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert wird, die das Individualbeschwerderecht im Menschenrechtsausschuß der Vereinten Nationen ermöglicht. Wir halten es im Interesse einer glaubwürdigen Politik für unabdingbar, daß das 6. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention ratifiziert wird, das die Todesstrafe verbietet.
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Neumann
Gestern abend hat der Deutsche Bundestag in einer gemeinsamen Empfehlung der CDU/CSU, FDP und SPD die Einrichtung eines parlamentarischen Menschenrechtsausschusses empfohlen, und wir hoffen, daß der neue Deutsche Bundestag die Kraft findet, dies durchzusetzen. Wir haben außerdem gemeinsam empfohlen, daß sich die Regierung einmal im Jahr und der Deutsche Bundestag häufiger mit den Menschenrechten befassen.
Alle Fraktionen, alle Parteien haben bei der Einweihung der Jugendbildungsstätte in Auschwitz am letzten Wochenende auf die unheilvolle Vergangenheit hingewiesen. In unserem Land und von unserem Land wurden die Menschenrechte von 1933 bis 1945 in brutaler Weise mißachtet. Diese Erfahrung führte zu der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 und auch zu dem bereits von meiner Kollegin zitierten Grundgesetzartikel, den ich dennoch noch einmal wiederhole, weil man ihn, wie ich glaube, nicht oft genug wiederholen kann:
Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich die Lage der Menschenrechte in der Welt sehe und beobachte, müßten wir eigentlich jede Woche eine Aktuelle Stunde zu diesem traurigen Thema veranstalten. Aber vielleicht ist es gut, wenn wir uns heute, am Ende der Legislaturperiode, am Ende dieses Jahres und in der Weihnachtszeit, doch noch einmal besinnen, welche Verantwortung wir hier tragen. Dafür danke ich den beiden Vorrednern. Erlauben Sie mir, bereits Gesagtes nicht zu wiederholen. Ich habe bei der Aussprache zum Etat des Auswärtigen Amtes ziemlich viel zu diesem Thema gesagt.
Erlauben Sie mir, einfach drei Gedanken zu äußern, die mir gestern auf dem Rückweg von einer Wahlversammlung durch den Kopf gegangen sind: Ist es eigentlich eine besondere Leistung, sich vom sicheren Hort der Bundesrepublik für die Einhaltung der Menschenrechte einzusetzen, hier über unteilbare Menschenrechte zu reden? Verbal, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es das sicher nicht; tatsächlich aber ist es eine ungeheuer mühselige und gar nicht spektakuläre Daueraufgabe.
Wenn man immer wieder mit Amnesty-International-Gruppen einen Abend lang zusammensitzt und sich einmal erzählen läßt, was dort einzelne Bürger jahraus, jahrein an Briefen, Aktionen, Interventionen machen und wirklich überhaupt keinen Dank,
keinen Lohn und ganz selten nur einen Erfolg sehen, dann muß ich sagen: Es ist wirklich eine sehr, sehr mühselige und gar nicht spektakuläre Daueraufgabe. Es gibt z. B. die Gruppe — ich sehe gerade Herrn Duve — „Writers in prison" des PEN-Clubs, in der eine Angelika Mechtel tätig ist, die neben ihrem Schreiben dieser Aufgabe ihr Leben widmet: immer wieder zu versuchen, politisch verfolgte Schriftsteller in Gefängnissen unter unsagbaren Bedingungen zu betreuen und ihnen zu helfen. Ich meine, was dort in der Stille geleistet wird, ist etwas, wofür wir — an diesem stellvertretenden Beispiel dargestellt — allen danken wollen, die diese mühselige Arbeit leisten.
Meine Damen und Herren, Unteilbarkeit der Menschenrechte — aus eigenem Erleben —, das ist der zweite Gedanke. Was fiel mir dazu ein? Dazu fiel mir Elie Wiesel ein, der gestern in so wunderbar eindringlicher Weise eigentlich das verkörpert, das gesagt hat, der sein Leben dieser Unteilbarkeit der Menschenrechte auf Grund seiner eigenen leidvollen, schrecklichen, entsetzlichen Lebenserfahrung gewidmet hat. Mir fiel Lew Kopelew ein, der vor einigen Tagen in der hessischen Vertretung bewegend zusammengefaßt hat, wie er sich als ein Emigrant, als ein verfolgter Russe Versöhnung vorstellt, nämlich als eine wichtige Voraussetzung dafür, daß wir Verletzungen der Menschenrechte in der Welt eines Tages wirklich nicht mehr finden werden. Mir fielen auch die Frauen auf der Plaza del Mayo in Argentinien ein. Diese Frauen standen Woche für Woche — jetzt ist diese Diktatur gottlob vorbei — stumm und völlig von ihrem Leid und Unglück zerbrochen auf diesem Platz. Das war eine Demonstration für Menschenrechte, die bei mir den größten Eindruck hinterlassen hat.
Ich glaube, im Kampf um Menschenrechte werden wir am Ende nicht mit Konventionen, nicht mit Resolutionen, nicht mit Aktuellen Stunden siegen, sondern wirklich nur, wenn der Mensch aufhört, dem Menschen ein Wolf zu sein. Erst wenn der Mensch dem Menschen ein Helfer geworden sein wird, wie Kopelew das gesagt hat, werden wir in dieser wichtigen Menschheitsaufgabe erfolgreich wirken können.
Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung: Menschenrechtsverletzungen sind doch eigentlich nur die allerletzte Entartung, die Endstufe einer Entwicklung, die im Kopf der Menschen beginnt, bei der Menschenverachtung, der Mißachtung von Menschen, die eine andere Hautfarbe, die eine andere Religion haben, die elend sind, die als Flüchtlinge auch zu uns kommen, meine Damen und Herren.
Was man da manchmal an schrillen Tönen und alarmierenden Worten in diesem Jahr gehört hat, muß ich hier leider auch warnend erwähnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Im Kopf beginnt nämlich das, was dann am Schluß einer Entwick-
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Frau Dr. Hamm-Brücher
lung wirklich zu Menschenrechtsverletzungen und zur Verletzung der Menschenwürde führt.
Diese vorweihnachtliche Stunde ist eine gute Gelegenheit, uns darauf zu besinnen, was wir selber Tag für Tag zu mehr Mitmenschlichkeit bei uns und damit auch zu mehr Mitmenschlichkeit in der Welt beitragen können.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Fischer .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erst gestern abend hatten wir die schöne Situation, daß sich Ihre Fraktion im Plenum des Bundestages geweigert hat, die parlamentarische Verankerung der Menschenrechtsarbeit — möglicherweise kontrovers — zu diskutieren. Das war ein Paradebeispiel für das, was ich die Doppelbödigkeit Ihrer christlich-demokratischen Menschenrechtspolitik nenne.
Heute bemühen Sie sich mit Ihrer Aktuellen Stunde zur Unteilbarkeit der Menschenrechte Ihre spezifische Kompetenz in Sachen Menschenrechte zu beweisen.
„Unteilbarkeit der Menschenrechte", das hören wir sehr oft und dies teilen wir auch, aber aus dem Munde Ihrer Fraktion kann ich diese wahltaktische Beschwörungsformel kaum noch ertragen.
— Ich weiß das. Das mag sein.
Während Sie, meine lieben Damen und Herren von der christlichen Fraktion, um den Frieden in Südafrika Krokodilstränen vergießen, verbluten beinahe täglich schwarze Jugendliche unter den Schüssen der südafrikanischen Sicherheitskräfte auf den Straßen von Soweto.
Die deutsche — bundeseigene — Rüstungsindustrie — das wissen Sie nur allzugut — macht derweil Kasse.
Das gehört zu Ihrer Unteilbarkeit der Menschenrechte.
Während Sie die Menschenrechtssituation in Nicaragua beklagen — auch wir haben in diesem Zusammenhang kritische Fragen an die Regierung in Managua; das wissen auch Sie —, rufen Sie weltweit zur Unterstützung der Contra auf,
decken öffentlich illegale Waffenschiebereien, denunzieren Erntehelfer aus der Bundesrepublik als „Vertreter des terroristischen Umfeldes" — ich zitiere nur aus Ihren eigenen Schriften —, lassen Sie keine Gelegenheit aus, in vorauseilendem Gehorsam die US-amerikanische Mittelamerikapolitik rechts zu überholen. Dazu gehört schon einiges.
Während Sie und Ihre Interessenvertreter eifrigst bemüht sind, positive wirtschaftliche Bilanzen im Außenhandel mit der Volksrepublik Rumänien sicherzustellen, findet aus Ihren Reihen kaum jemand ein offenes Wort zur stalinistischen Despotie des Ceausescu-Clans. Das habe ich sehr selten gehört.
Während Sie sich wortreich die in der Tat menschenverachtende Politik des Pinochet-Regimes in Chile zur Brust nehmen — zumindest Herr Geißler hat dies getan —, verweigert Ihr Innenminister vom Tode bedrohten chilenischen Oppositionellen das — im guten Sinne des Wortes — politische Asyl in unserem Land, aus rechtsstaatlichen Gründen, versteht sich.
Während Sie die um ihr legitimes Selbstbestimmungsrecht kämpfenden Völker Afghanistans wortreich zu Verteidigern unserer eurozentristischen Freiheitsvorstellungen schlechthin hochstilisieren, sehen Sie zu, wie die USA ihre Unterstützung für den authentischen afghanischen Widerstand gegen den offensichtlichen Völkermord der Sowjetunion jeweils und wechselnd von politischer Opportunität abhängig machen, machen Sie es der UdSSR mit einer solchen Politik so verdammt einfach, den Kampf der Völker Afghanistans, den auch wir unterstützen, kontraproduktiv zu den Erfordernissen einer politischen Lösung des Konflikts auf das allzu simple antikommunistische Strickmuster zu reduzieren. Man muß auch einmal kontrovers miteinander diskutieren können.
Und schließlich: Während Sie die Sowjetunion und mit ihr die gesamte Gruppe der sogenannten realsozialistischen Staaten teilweise zu Recht publikumswirksam öffentlich in Sachen Menschenrechte vorführen, vertun Sie im Verbund mit Ihren Stahlhelmkämpfern, die hier ja auch sitzen, denunziatorisch und — wahlkampfbedingt — skrupellos die seit langer Zeit erste reale Chance zu wirklicher Abrüstung in Europa.
Vor diesem Hintergrund wirkt Ihr Protest gegen die fortgesetzte Psychiatrisierung von Angehörigen der demokratischen Opposition schal. Ich nehme Ihnen auch Ihren Protest gegen den skandalösen Tod des Bürgerrechtlers Anatolij Martschenko in sibirischer Verbannung nicht ab. Dieser Protest wirkt auch schal, weil Sie sich auf der anderen Seite mit den entsprechenden Leuten arrangieren, wenn es um Ihre Wirtschaftsinteressen geht.
— Nicht bei uns. Ich versuche, das zu kritisieren.
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Fischer
Ihre sogenannte Unteilbarkeit der Menschenrechte ist aus meiner Sicht verlogen, so offensichtlich von wirtschaftlichen und militärischen Vorgaben bestimmt, daß Sie — bringen wir es einmal auf den Punkt; hören sie mir einmal zu — nicht einmal die relative Geradlinigkeit eines Hans-Dietrich Genscher aushalten, dem ich — im Vergleich zu Ihrem zynischen Menschenrechtsopportunismus — meine Anerkennung bei der Lösung vieler scheinbar auswegloser Einzelfälle — gleich, wo auf dieser Welt — nicht versagen möchte.
Ihnen von der CDU/CSU ist die Funktionalisierung der Menschenrechtsproblematik allemal lieber als das offene Bekenntnis eines wirklich reichen — wir sind ein wirklich reiches Land —, demokratisch verfaßten Gemeinwesens zu seiner besonderen Verantwortung gegenüber dem Flüchtlingselend auf dieser Erde.
Ihr Möchtegern-Außenminister Strauß wird Sie gegebenenfalls ideologisch einigen, wenn Ihnen Ihr Wahlkonzept gelingt — nichts leichter als das —; Sie allerdings werden die seltene Chance zur Entwicklung eines friedens- und dialogfähigen Europas mit Ihrer Hinwendung zu der offensichtlich festzustellenden neokonservativen Konfrontationspolitik garantiert verpassen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Herr Staatsminister Möllemann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung mißt bei ihrem weltweiten Eintreten für die Achtung der Menschenrechte alle Staaten am Standard der international anerkannten Menschenrechte. Kein Staat kann sich dadurch entlasten, daß er sich bei der Verletzung von Menschenrechten auf den Vorrang seiner eigenen Staatsideologie oder auf seine besondere kulturelle Tradition beruft. Wir erwarten von jedem Staat, daß er die Würde des Menschen, die Würde eines jeden seiner Bürger, als den Maßstab anerkennt, dem sich nach innen und außen auch die Staatsräson unterzuordnen hat.
Es ist unsere feste Überzeugung: Der Staat ist für den Bürger da, nicht umgekehrt. Die praktische Bedeutung und den moralischen Anspruch dieses Grundsatzes der Unteilbarkeit der Menschenrechte hat der Bundeskanzler am 3. November in einer Rede in folgende Worte gefaßt — ich zitiere —:
Es macht keinen Unterschied, ob Menschenrechte von einem autoritären Diktator in Lateinamerika oder von einer kommunistischen Diktatur in Europa mißachtet werden. Menschenrechte sind unteilbar. Genauso unteilbar muß daher auch der Einsatz für die Menschenrechte sein.
Mich empört immer wieder die doppelte Moral, mit der Menschenrechtsverletzungen in einem Teil der Welt angeprangert, in einem anderen aber geflissentlich übersehen werden. Wer nur von Südafrika spricht und zu Nicaragua schweigt oder umgekehrt, der hat sich in meinen Augen moralisch diskreditiert.
Soweit das Zitat des Bundeskanzlers.
Es reicht natürlich nicht aus, Herr Kollege Fischer, in einem solchen Fall nur Fragen zu stellen, wie Sie es im Blick auf Nicaragua getan haben, sondern man muß hier Menschenrechtsverletzungen klar ansprechen und ihre Abstellung fordern.
Der Grundsatz der Unteilbarkeit der Menschenrechte ist Richtschnur unserer Politik in den bilateralen Beziehungen und unserer Politik vor internationalen Foren wie den Vereinten Nationen oder der KSZE. Er steht an erster Stelle in der Reihe der Grundsätze, an der die Bundesregierung ihre Menschenrechtspolitik ausrichtet und die sie in ihrer Erklärung vom 9. Dezember zum Tag der Menschenrechte erneut dargelegt hat.
Alltäglich berichten unsere Medien von Menschenrechtsverletzungen aus den verschiedensten Teilen der Welt. Diese Meldungen bewegen zu Recht unsere Bürger. Verantwortungsvolle Menschenrechtspolitik darf sich aber nicht allein an der wechselhaften Aufmerksamkeit der Medien orientieren. Deshalb bedeutet der Grundsatz der Unteilbarkeit der Menschenrechte für die Bundesregierung auch, daß sie keinen Unterschied zwischen Staaten, in denen auf Grund einer gewissen Offenheit Einzelheiten über Menschenrechtsverletzungen öffentlich bekannt werden, und solchen Staaten macht, die mit totalitären Maßnahmen Menschenrechtsverletzungen aus den Schlagzeilen heraushalten. Vielmehr sieht sie es auch als ihre Pflicht an, ihr Teil zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen beizutragen.
Aus dieser Verantwortung heraus hat sie in diesem Jahr eine unabhängige Kommission zur Anfertigung eines Berichts über den Stand der Verwirklichung der Menschenrechte im Bereich der Staaten des Warschauer Paktes unter besonderer Berücksichtigung der Lage der dort lebenden Deutschen eingesetzt.
Weil wir kompromißlos am Grundsatz der Unteilbarkeit der Menschenrechte festhalten, ist unsere Menschenrechtspolitik berechenbar und glaubwürdig.
Auf dieser Grundlage führen wir den Dialog mit allen Staaten auch in Menschenrechtsfragen. Wir wissen, der Dialog ist letztlich der allein erfolgversprechende Weg im Kampf um die weltweite Verwirklichung der Menschenrechte. Nur eine beharrliche Politik der kleinen Schritte, die unterschiedliche Mittel — öffentliche und nicht öffentliche —
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Staatsminister Möllemann
benutzen kann, wird uns diesem Ziel näherbringen.
Diejenigen, die heute Opfer von Menschenrechtsverletzungen sind, können zu Recht von uns erwarten, daß wir vor allem anderen ihnen zu Hilfe kommen. An diesem konkreten Ziel wird sich auch künftig jede Entscheidung der Bundesregierung im Rahmen ihrer Menschenrechtspolitik orientieren.
Ich unterstreiche deswegen erneut und wiederhole die Forderung der Bundesregierung nach Einsetzung eines Hochkommissars für die Menschenrechte bei den Vereinten Nationen, ich erneuere die Forderung der Bundesregierung nach Gründung eines Internationalen Menschenrechtsgerichtshofes, und ich unterstreiche erneut die Forderung der Bundesregierung nach Abschaffung der Todesstrafe. Auch wenn es, wie wir sehen, schwer ist, diese Forderungen schnell durchzusetzen: Sie sind dennoch begründet und notwendig, und ich bin froh, wenn dieses Hohe Haus, wie aus den Beiträgen jedenfalls der meisten bisherigen Redner deutlich geworden ist, die Haltung der Bundesregierung in diesem Zusammenhang unterstützt.
— Auch das ist ganz wichtig, Herr Kollege Hirsch.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf zwei Bemerkungen meiner Vorredner eingehen und damit auch schließen. Herr Kollege Ströbele, Sie haben gesagt, es stünde im Widerspruch zu den von mir hier vorgetragenen Grundsätzen, wenn wir Polizeifahrzeuge an Guatemala lieferten.
Ich kann Ihnen nur sagen: Die dort in fairen Wahlen zustande gekommene demokratische Regierung des Präsidenten Cerezo muß von uns bei ihren Bemühungen unterstützt werden, rechtsstaatlich einwandfrei Ordnung und Recht herzustellen.
Die Probleme in diesem Land bestehen ja gerade darin, daß sich nicht dafür legitimierte Kräfte berechtigt fühlen, Gewalt anzuwenden.
Wir helfen also den Menschen, wenn wir einer legitimen Regierung die Möglichkeit geben, im Sinne des Rechtsstaates auch Polizeiaufgaben wahrzunehmen.
Die zweite Bemerkung, die ich machen möchte, betrifft etwas, was ich auch in anderen Debatten schon ein paarmal gesagt habe. Mich verblüfft, mit welcher Chuzpe und Überheblichkeit Sie hier den Anspruch erheben — das war auch in Ihrem Beitrag wieder kennzeichnend —, die alleinigen Wahrer der Menschenrechte mit der alleinigen moralisch gerechtfertigten Konzeption zu sein. Das Bemühen, das die Kollegen Neumann, Frau HammBrücher und Frau Hürland bestimmt hat, hier kleinkarierte Parteipolitik zurückzustellen, um gemeinsam für die Menschenrechte zu kämpfen, hätte auch Ihnen ganz gut angestanden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wischnewski.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der heutige Tag ist in der Tat in besonderem Maße dazu geeignet, über die Menschenrechte zu sprechen. Gestern war nicht nur der Tag der Menschenrechte, sondern bei der Überreichung des Friedensnobelpreises an Wiesel sind wir noch einmal an die Überreichung des Friedenspreises an Carl von Ossietzky erinnert worden und wissen, wie schlimm die Situation in diesem Lande war, wie verbrecherisch in unserem eigenen Lande gegen die Menschenrechte verstoßen wurde. Wir tun dann etwas für die Menschenrechte, wenn wir immer wieder an diese Zeit erinnern und auch den Menschen die Chance einräumen, dies zu lernen, die das nicht erlebt haben. Auch dies ist ein besonders notwendiger Beitrag für die Menschenrechte.
Wir bekennen uns zur Unteilbarkeit der Menschenrechte, ganz gleich, um welchen Erdteil, um welches Land und um welches politische System es sich handelt. Wir sind der Auffassung, daß die Menschenrechte nicht zu parteipolitischer Agitation geeignet sind,
sondern daß es in erster Linie darauf ankommt, den Menschen zu helfen. Diejenigen, die Menschen helfen, werden dabei lernen, daß sie oft schweigen müssen. Mancher Politiker wird darauf verzichten müssen, das, was er gerne verkünden würde, zu verkünden, weil er weiß, daß er dann nicht mehr so in der Lage sein wird, anderen Menschen behilflich zu sein.
Lassen Sie mich zu dem, was Sie gesagt haben, verehrte Frau Kollegin, einige Bemerkungen machen. Sie haben Chile erwähnt. Ich bin dankbar, daß die CDU/CSU in dieser Frage einen Lernprozeß hinter sich gebracht hat. Sie werden sich daran erinnern, daß das nicht immer so gewesen ist.
Ich erinnere mich noch an die Situation, als der bayerische Ministerpräsident bei Herrn Pinochet gewesen ist. Da hat das wesentlich anders ausgesehen. Ich finde es aber in Ordnung, wie es heute ist, und ich glaube, wie können den Menschenrechten in Chile am besten dienen, wenn wir dafür Sorge tragen, daß die demokratischen politischen Parteien, die es bei uns in Europa gibt, darum bemüht sind, gemeinsam die demokratischen Kräfte in
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Wischnewski
Chile zu fördern. Von uns gibt es diese Bereitschaft, darum bemüht zu sein, einen Schritt voranzukommen.
Nicaragua ist erwähnt worden. Ich mache überhaupt kein Hehl daraus, da gibt es viel Kritik anzuwenden.
Wir haben das nie verschwiegen.
Es gibt auf der anderen Seite aber folgendes — Sie können sich die Unterlagen anschauen —: Es gibt einen grausamen und, wie wir jetzt wissen, auch mit Blutgeld aus dem Iran finanzierten Krieg. Jetzt sage ich Ihnen folgendes — daran muß ich Sie erinnern —: Der Deutsche Bundestag hat am 14. November über die Situation abgestimmt. Ihre Haltung war bei dieser Abstimmung nicht so, daß ich sagen konnte: Das war die Unteilbarkeit der Menschenrechte. Da ging es darum, daß diejenigen, die Menschenrechte verletzen, die in Nicaragua deutsche Bundesbürger ermorden, die kidnappen, hier strafverfolgt werden. Dem Deutschen Bundestag hat ein Antrag vorgelegen; Sie haben in namentlicher Abstimmung dagegengestimmt. Dies hat mit der Unteilbarkeit nichts zu tun. Ich habe die große Bitte, daß die Unteilbarkeit überall gilt. Wir haben in dem Bereich alle zusammen noch viel Arbeit.
Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hoffmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Menschenrechte haben weltweit gültige Maßstäbe. Den völkerrechtlich verpflichtenden Verträgen haben über 80 Staaten in allen Teilen der Welt zugestimmt. So haben alle Staaten in Osteuropa außer Albanien die Konventionen der Vereinten Nationen über bürgerliche, politische bzw. wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ratifiziert.
Friedliche Einwirkung auf menschenrechtsverletzende Staaten ist deshalb völkerrechtlich erlaubt. Ein solches Eintreten ist gerade für uns ein historisches Gebot unserer nationalsozialistischen Vergangenheit. Der weltweite Einsatz für die Menschenrechte ist für uns moralische Verpflichtung und grundgesetzlicher Auftrag.
Leider werden in über 100 Staaten Menschenrechte verletzt, und es gibt leider nur in einzelnen Ländern Verbesserungen. Ich erinnere daran: In den letzten Jahren konnten z. B. einige rechtsautoritäre Diktaturen überwunden werden. Denken wir etwa an Argentinien, Brasilien, Haiti und die Philippinen.
Relativ viel Aufmerksamkeit findet es bei uns, wenn einzelne aktive Oppositionelle verfolgt werden. Aber genauso intensiv muß u. a. gefragt werden nach gewerkschaftlichen Rechten, Meinungsäußerungsfreiheit, Grad an Pressefreiheit, Freiheit der Religionsausübung, Freiheit zu oppositionellen politischen Zusammenschlüssen, grundlegenden kulturellen Minderheitsrechten und internationaler Freizügigkeit. Denn unter diesen Menschenrechtsverletzungen leiden in vielen Ländern Millionen von Menschen.
Denken wir z. B. an die seelische Not gläubiger Menschen, die sich der totalitären Unterdrückung unterwerfen müssen, Menschen z. B., die aus praktischer Verantwortung für ihre Kinder den staatlichen Beschränkungen in der Religionsausübung nicht zuwiderhandeln.
Vergleichsweise starkes politisches Interesse finden wir auch für die Zustände in Diktaturen, die die Informationsfreiheit zwar stark einschränken, aber wenigstens nicht ganz unterdrücken. Denn nur aus solchen Ländern erreichen uns Informationen über Einzelschicksale, Bilder oder gar eindringliche Fernsehaufnahmen. Gott sei Dank wird uns z. B. der Kampf gegen die Unterdrückung in Südafrika täglich weltweit, durch eindrucksvolle Filmberichte gestützt, dargestellt. Kaum jemand hingegen kann z. B. das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen in Ostimor, in Albanien, in Nordkorea oder Afghanistan, aber auch die kalte, abgeschirmte, totalitäre Unterdrückung in der Sowjetunion wirklich nachfühlen.
Der andauernde sowjetische Völkermord in Afghanistan bleibt weitgehend abstraktes Zahlenwerk. Afghanistan braucht mutige Fernsehteams.
Die Herausforderung für uns Politiker ist klar. Wir müssen uns für eine umfassende Sicht der Menschenrechtslage in den verschiedenen Ländern einsetzen. Wir dürfen den Blick nicht auf einzelne Arten von Menschenrechtsverletzungen verengen. Wir müssen uns besonders nachdrücklich um Informationen aus sehr stark abgeschirmten Diktaturen bemühen. Tun wir das nicht, laufen wir große Gefahr, in unserer Politik letzten Endes ausgerechnet totalitäre Diktaturen im Verhältnis zum Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen zu begünstigen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Hennig.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte an den Anfang meiner Ausführungen ein Zitat stellen: „Frieden setzt Vertrauen voraus, und Vertrauen ist nur möglich, wenn überall die Menschenrechte gewahrt werden." Dieser Satz stammt aus dem Namensartikel unserer verehrten Frau Vizepräsidentin Annemarie Renger in der gestrigen Ausgabe der „Welt".
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Parl. Staatssekretär Dr. Hennig
Ich kann diese Aussage nur nachdrücklich unterstreichen. Denn heute wird zwar allenthalben vom Frieden geredet, vor allem aus östlicher Richtung, aber man zielt damit fast ausschließlich auf die Beseitigung von Waffen. Nun ist die Abrüstung zwar ein wahrhaft erstrebenswertes Ziel, für das sich auch die Bundesregierung und die Regierungskoalition engagiert einsetzen, aber es ist doch leider ein Irrglaube, zu meinen, daß Abrüstung von sich aus schon zum Frieden führt.
Denn nicht Waffen gefährden den Frieden, bedrohlich sind vielmehr unfriedliche Zustände. Damit meine ich nicht nur jene friedensstörenden Praktiken, die sich nach außen richten, sondern ebenso jene, die sich nach innen, gegen die eigene Bevölkerung richten. Um es ganz deutlich zu sagen: Wer die Menschenrechte im eigenen Lande verletzt und damit den inneren Frieden mißachtet, dem fehlt die Glaubwürdigkeit, sich für den äußeren Frieden einzusetzen.
Denn wer kann ihm noch glauben, daß er für die Rechte anderer eintreten wird?
Achtung der Menschenrechte und Sicherung des Friedens sind also untrennbar miteinander verknüpft. Gerade weil die Friedensdiskussion heute teilweise so fatal einseitig auf das Militärische fixiert ist, muß klargestellt werden: Der Frieden beginnt mit der Einhaltung der Menschenrechte.
Dies gilt weltweit. Dies gilt auch in Europa, und das gilt natürlich auch für die Mitte Europas, für das geteilte Deutschland.
Deswegen ist es gut, daß beide Regierungen in den beiden Staaten in Deutschland übereinstimmend erklären, von deutschem Boden dürfe nur Frieden ausgehen; das ist gut. Aber diese richtige Erkenntnis wird nicht dadurch eingelöst, daß man ständig über alle möglichen Abrüstungsvorschläge gebetsmühlenhaft daherredet, für deren Durchführung teilweise ohnehin die eigene Kompetenz fehlt. Vielmehr wird sie erst dann erfüllt, wenn man Frieden im eigenen Land durch die Einhaltung der Menschenrechte verwirklicht. Und auf deutschem Boden sollte auch nie wieder eine Diktatur Bestand haben.
Kurt Schumacher war dies sehr wohl bewußt. Ich wollte, wir alle in diesem Hause wären uns über diesen wichtigen Punkt einig.
— Gewiß, Herr Vogel; ich habe Sie auch gar nicht
gemeint. Ihre Empfindlichkeit an der Stelle ist je-
doch interessant. Ich habe andere, die vor mir sitzen, gemeint, die darauf ruhiger reagieren.
Die Beschränkung der Freizügigkeit, der Meinungsfreiheit, der Koalitionsfreiheit in der DDR widerspricht daher der Friedenspflicht ebenso wie politische Gefangene und mörderische Schießereien an der Berliner Mauer.
Ja, meine Damen und Herren, die Berliner Mauer stellt in sich selbst, aus sich selbst eine fundamentale Verletzung von Menschenrechten dar.
Ist denn, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, folgender Tatbestand nicht die Absurdität politischen Handelns schlechthin?
Ich habe hier das Gesetzblatt der DDR von 1974, in dem die Ratifizierung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte bekanntgegeben worden ist. In Art. 12 heißt es: „Jedermann steht es frei, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen." Geltendes Recht in der Deutschen — leider nicht sonderlich — Demokratischen Republik.
Es wird nicht eingehalten, es steht auf dem Papier, und das ist der entscheidende Punkt. Gerade in diesen Tagen sind wir an diese traurige Tatsache auf höchst nachdrückliche Weise erinnert worden.
In gleicher Weise bedeutet auch die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts für das deutsche Volk die ständige Verletzung eines kollektiven Menschenrechts. Das gleiche gilt für die Verweigerung von Volksgruppenrechten, z. B. für die Deutschen in vielen Teilen des sowjetischen Imperiums, auch in den deutschen Ostgebieten.
Leider gibt es auch in unserem Lande politische Kräfte, die die Mißachtung von Menschenrechten in Südafrika und in Chile zwar lautstark anprangern, aber Menschenrechtsverletzungen in kommunistischen Staaten um des lieben Friedens willen, wie sie sagen, verschweigen möchten.
Wer sich zum Frieden bekennt, muß sich eben auch zu den Menschenrechten bekennen. Und wer für den Frieden kämpft, muß auch für die Menschenrechte kämpfen und darf nicht nur Fragen stellen, wie Sie es vorhin in Richtung Nicaragua getan haben.
Denn Menschenrechte sind unteilbar,
so unteilbar wie der Frieden selbst.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986 20017
Parl. Staatssekretär Dr. Hennig Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf Huyn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mit Freude und Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung eine Kommission eingesetzt hat, um einen Bericht über die Situation der Menschenrechte der Deutschen im Bereich des Warschauer Paktes zu erstellen.
Ich habe seit 1977 hierfür namens meiner Fraktion gekämpft. Ich hoffe, daß wir nunmehr jährlich einen solchen Bericht erhalten, damit wir ihn jährlich in diesem Haus debattieren können. Das ist der erste konkrete Vorschlag.
Ich mache einen zweiten. Auf der KSZE in Wien ist von der sowjetischen Regierung eine Menschenrechtskonferenz in Moskau vorgeschlagen worden. Wir haben heute die Nachricht erhalten, daß Anatolij Martschenko in einem Lager gestorben ist. Irina Raduschinskaja hat, wie ich meine, treffend gesagt: Dies war eiskalter Mord.
Wenn nunmehr die Schreibtischmörder zu einer Konferenz über Menschenrechte in Moskau einladen, so geht dies, meine ich, nicht ohne gewisse Voraussetzungen. Solange sowohl in der Sowjetunion die Menschenrechte verletzt werden wie in der Tschechoslowakei Kirchenverfolgungen stattfinden, wie in Mitteldeutschland Gefangene gefoltert und auf unmenschliche Weise behandelt werden — in Brandenburg, in Hoheneck, in Cottbus —, kann der Westen einer solchen Konferenz nur dann zustimmen, wenn z. B. Andrej Sacharow teilnehmen kann, wenn sich Menschenrechtsgruppen in den Staaten des Warschauer Pakts frei bilden und ebenfalls teilnehmen können, wenn auch westliche Menschenrechtsgruppen und Journalisten frei teilnehmen können.
Ich habe über diese Fragen mit einem sehr kompetenten Mann, mit Professor Orlow, hier in diesem Hause gesprochen. Er hat dem voll zugestimmt und gesagt, dies müsse Punkt für Punkt ausgehandelt werden, bevor man einer solchen Konferenz zustimmt, und man müsse dies vorher schriftlich fixieren,
weil es sonst von der Sowjetunion gebrochen werde. Und hierzu fordere ich die Bundesregierung auf.
Der letzte Punkt ist die Frage, die der Kollege Ottfried Hennig hier zu Recht behandelt hat. Er hat auch das Selbstbestimmungsrecht erwähnt. Es ist ein entscheidender Teil der Menschenrechte.
Es ist völlig richtig, daß sehr viel über Abrüstung gesprochen wird, und wir wollen diese Abrüstung. Nur, ich erinnere an das Wort eines großen spanischen Europäers, Salvador de Madariaga, der erklärt hat: Die Nationen mißtrauen einander, nicht weil sie gerüstet sind; sie rüsten, weil sie einander mißtrauen.
Deswegen: Um eine wirkliche Abrüstung zu erreichen, die diesen Namen verdient, müssen wir dazu beitragen, die Spannungsursachen zu beseitigen. Die Spannungsursachen bestehen, wie Ottfried Hennig hier zu Recht gesagt hat, eben darin, daß die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht von Moskau nicht gewährt werden.
Ich meine — auch das ist eine konkrete Aufforderung an unsere Bundesregierung —, daß wir zu diesen Punkten bei der KSZE und den KSZE-Folgekonferenzen bisher nicht deutlich genug waren. Es gibt in der Schlußakte von Helsinki das Prinzip VIII das folgendermaßen lautet:
Die Teilnehmerstaaten werden die Gleichberechtigung der Völker und ihr Selbstbestimmungsrecht achten. Kraft des Prinzips der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker haben alle Völker jederzeit das Recht, in voller Freiheit, wann und wie sie es wünschen, ihren inneren und äußeren politischen Status ohne äußere Einmischung zu bestimmen und ihre politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung nach eigenen Wünschen zu verfolgen.
Hier, meine ich, ist die Bundesregierung aufgefordert, dies beharrlich und immer wieder auf der Nachfolgekonferenz in Wien und in allen Gremien einzufordern. Denn Bundeskanzler Kohl hat zu Recht gesagt: Gerade für das deutsche Volk müssen Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht eingefordert werden. Meine Aufforderung besonders an den Bundesminister des Auswärtigen und an das Auswärtige Amt ist, diese Worte unseres Bundeskanzlers endlich in praktische Politik umzusetzen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Fraktionssprecher Ihrer Fraktion, Herr Rühe, hat sehr bedächtig und auch sehr positiv auf diese vorgeschlagene Menschenrechtskonferenz in Moskau reagiert. Sie sollten sich untereinander einig werden, wie Sie damit umgehen.
Ich bin Frau Dr. Hamm-Brücher dankbar, daß sie hier einen Dank an all die Menschen ausgesprochen hat, die sich um Menschenrechte in unserem Land bemühen, und daß sie auch darauf hingewie-
20018 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986
Duve
sen hat, daß die Sache bei uns selber anfängt. Ich hätte mich wirklich gefreut, wenn im Sommer während der großen Antiasylkampagne, die wir gehört haben, ein bißchen mehr von den verletzten Menschenrechten und
den Leiden der Menschen, die Rede gewesen wäre, die hier bei uns an die Türen, an die mehr und mehr verschlossenen Türen geklopft haben.
Menschenrechte sind unteilbar, das ist richtig. Aber sie sind leider auch mißbrauchbar. Es gehört zu den Perversionen des atomaren Zeitalters, Herr Hennig, daß wir uns immer wieder in dieses globale Friedens- und Menschenrechtsballett hineinlocken lassen: Meinst du mein Nicaragua, meine ich dein Afghanistan. Du hast aber eben Nicaragua nicht erwähnt; du hast eben Afghanistan nicht erwähnt. Diese Art von Ausgewogenheitszwang macht Menschenrechte politisch mißbrauchbar.
Ich habe am Grab von Robert Havemann, dem kritischen, unterdrückten Autor in der DDR, den ich auch selber publiziert habe, gestanden. Ich hätte mich auch gefreut, wenn die Dinge so wären, daß mehrere meiner Kollegen ihm die letzte Ehre hätten erweisen können; das war nicht möglich.
Es ist falsch, das, was Egon Bahr, Willy Brandt und andere versucht haben, Wandel durch Annäherung sozusagen zu mißachten und Menschenrechte immer wieder wie ein Plakat hochzuheben. Es hat Veränderungen gegeben. Wir haben uns gerade um die Schriftsteller aus der DDR, die quasi wie ein Paket hier herübergeschickt worden sind, sehr gekümmert. Nein, wir müssen aufhören, diese Art von Zwangsballett zu tanzen.
— Frau Kollegin, da war im Bundestag eine Ausstellung über Südafrika. Sie haben sich nicht mit dieser schrecklichen Ausstellung befaßt, sondern Sie mußten zwanghaft diese Anti-Apartheid-Ausstellung persönlich verletzen, dadurch, daß Sie dort noch einen Hinweis auf Afghanistan an die Ausstellung anklebten.
Das sind Zwänge, die man sich selber nicht erlauben sollte.
Menschenrechte sind unteilbar, sie dürfen aber nicht zum Zweck der Propaganda mißbraucht werden.
Denn das ist eine zweite Mißhandlung der Gequälten: Wer als Instrument der Propaganda mißbraucht wird, wird zum zweitenmal mißbraucht.
Wer Sacharow sozusagen nur als Plakat benutzt, hat ihn zum zweitenmal verletzt.
Wir im Bundestag müssen selektives Vorgehen nach allen Seiten kritisieren. Liebe Kollegen von der Union, beherzigen Sie diese Grundsätze.
Ich will das am Beispiel Chile deutlich machen.
Wir sind in Chile von allen Seiten, auch von den christdemokratischen Gewerkschaftern, gebeten worden, uns dafür einzusetzen, daß die Kredite des Internationalen Währungsfonds an Chile nicht gegeben werden. Sie sind dann von der Bundesregierung mit gegeben worden. Ich hätte es begrüßt, wenn sich Herr Geißler in dieser Frage auch konkret eingesetzt hätte und nicht das tut, was Volker Rühe auf Ihrem Parteitag getan hat, wo er gesagt hat: Menschenrechte sind inzwischen für uns ein Markenzeichen der Politik der CDU im Unterschied zu den Sozialdemokraten geworden. Das ist doch ein propagandistisches werbliches Umgehen mit einem dramatischen politischen Gegenstand. Das ist das, was wir Ihnen vorwerfen müssen: Hören Sie auf, Menschenrechte als „Werbung", als „Markenzeichen" zu bezeichnen. Ich zitierte aus dem Parteitag. Sie müssen endlich lernen, daß es in der Politik um Substanz, nicht um semantische Kriege geht.
Es geht um Menschen. Beteiligen Sie sich mit uns am Engagement für Frau Dr. Brinkmann. Sie ist Kommunistin; sie sitzt im Gefängnis in Südchile. Beteiligen Sie sich mit uns an dem Bemühen, die 14 von der Todesstrafe bedrohten Chilenen freizubekommen und sie in die Bundesrepublik zu bekommen.
Das ist ein konkreter Kampf um konkrete Menschen mit Namen und Adressen. Menschrechtspolitik muß konkret sein. Sie muß einzelne Menschen wirklich meinen und ihnen helfen. Sie darf nicht zum Schlagknüppel gegen andere nach allen Seiten benutzt werden.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Czaja.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut, daß die letzte Aktuelle Stunde des Bundestages den Menschenrechten gilt. Es gibt nämlich nichts Aktuelleres als den Dialog über den Frieden durch Menschenrechte und als den Dialog über politisches Wirken dafür, ohne Umsturz und Gewalt, zäh, mit Sachkunde, unter Beachtung geschichtlicher Gegensätze, im Dienst auch an kleinen Fortschritten und, so möchte ich sagen, auch ohne verklemmte Schreibtischideologie.
Mir fällt weltweit auf, daß für Afrika und Asien einige wichtige Ursachen unerwähnt blieben, nämlich der schwierige und grausame Weg vom Stamm
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Dr. Czaja
zur Staatsnation umd zum Staat. Aber ich will vor allem über die Menschenrechte vor unseren Türen, östlich des Geltungsbereichs des Grundgesetzes, sprechen. Fernstenliebe erfordert meist weniger Anstrengung und Opfer als Nächstenliebe, ja, Nächstenliebe im weitesten Sinne des Wortes,
Menschenrechte nicht als politisches Kampfmittel gegen leninistische Diktaturen; aber auch kein Stummbleiben, kein feiges Wegschauen, weil es politisch schwierig und riskant ist! Abgeordnete und freie Verbände können manchmal auch deutlicher sprechen als Regierungen. Wir lassen uns in diesem Punkt nicht einschüchtern.
Durch kluges und zähes Verhandeln mit der DDR hat das Bundeskanzleramt bei mancher finanziellen Hilfe viel Humanitäres erreicht. Aber auch dort, in der DDR, steht noch größtenteils — Herr Hennig hat es ausgeführt — die Erfüllung der auch von der DDR eingegangenen Rechtsverpflichtungen des UN-Menschenrechtspaktes auf Freiheit der Meinung, auf Freiheit des Zusammenschlusses, auf die volle religiöse und geistige Entfaltung, auf die Freiheit vor Diskriminierung, auf die Reisefreiheit aus. Ohne Umsturz schrittweise weiterzukommen muß ein Ziel gemeinsamer Bemühungen bleiben.
Bei den „stillen" Interventionen konnte das Auswärtige Amt mit anderen Ostblockstaaten vorerst nur wenig erreichen. Die Deutschen können ihre kulturelle Eigenart nicht wahren. Ihre Kinder werden zwangsassimiliert. Wer nicht aushalten kann, darf nicht legal ausreisen. 450 000 unerledigte Ausreiseanträge, 70 000 zerrissene Familien aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße, materielle Not und geistige Isolierung; das müßte unser Volk und auch unsere Medien tief treffen.
An einem solchen Tag müssen wir an alle Eingekerkerten denken, aber auch an diese unsere Landsleute. Zu Weihnachten und Neujahr müssen wir sie besonders grüßen, damit sie sich nicht vergessen fühlen.
Auf der Wiener Folgekonferenz hat unsere Delegation sehr deutlich und präzis gesprochen. Der Bundeskanzler hat in Moskau deutlich darüber gesprochen. Reagan hat zweimal auf Wunsch des Bundeskanzlers Gorbatschow in dieser Frage angesprochen.
Ich danke auch all den Referenten der verschiedenen Ministerien, die daran mitgewirkt haben.
Aber verhärtete Leninisten werden danach so lange lächeln, wie ihnen nicht klar wird: Neue lebenswichtige finanzielle, wirtschaftliche und Devisenhilfen gibt es nur gegen Zug um Zug gewährte Menschenrechte und schrittweise Reformen der zentralistischen Planwirtschaft ohne Umsturz.
Meine Damen und Herren, die Wirtschaft ist immer auch für die Menschen da; sie ist nicht Selbstzweck.
Aber ich spreche jetzt bewußt auch die Menschenrechte der Nicht-Deutschen an. Die grauenvollen Gegensätze der Vergangenheit — sie spielten heute hier schon eine Rolle — verpflichten gerade uns, unser ganzes wirtschaftliches, diplomatisches und politisches Gewicht für ein menschenwürdigeres Leben, für weniger Unterdrückung der Polen, der Tschechen, der Slowaken, der Ungarn, der Rumänen, der Kroaten, der Slowenen, der Serben, der Litauer, der Esten und russischer Menschenrechtler einzusetzen. Bewußt spreche ich auch dies an.
Zu uns selber einen einzigen Satz: Auch in bezug auf das Recht auf Leben sollten wir gemeinsam mehr im Sinne des Rechtsbewußtseins und der Schutzpflicht für das Lebensrecht tun. Ich kann nicht anders, als in dieser Stunde auch der Schmerzen der hunderttausenden ungeborenen Kinder vor ihrem Ende zu gedenken, meine Damen und Herren!
Im Osten gilt es, Zug um Zug auch gegen westliche Hilfen mehr Menschenrechte auszuhandeln. Dann könnten vielleicht Fachleute von West und Ost — Kaufleute, Manager, Facharbeiter — auf Zeit einen gemeinsamen Aufbau versuchen. Wenn das auf Zeit gelänge, könnten zähe Verhandlungen zum Abbau der Teilung Europas und Deutschlands nun eine neue und — das bleibt das Ziel — menschenwürdige Ordnung der europäischen Staaten, Völker und Volksgruppen beginnen. Es bleibt die Frage, ob bei einer menschenwürdigen Lockerung eine Zurückstellung hegemonialer Ziele wegen der wirtschaftlichen Belastungen denkbar wäre.
Meine Damen und Herren, echter Friede, beginnend mit Menschenrechten, wird die brennendste Aufgabe der neuen Regierung ab Februar 1987 bleiben. Die Union bekennt sich zu dieser schwierigen Arbeit.
Danke.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bindig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, daß dieser Deutsche Bundestag dem Thema der Aktuellen Stunde — Unteilbarkeit der Menschenrechte — erst dann wirklich in allen Fraktionen gerecht wird, wenn es möglich ist, daß alle Redner aller Fraktionen hier oben auch wirklich alle Menschenrechtsverletzungen in gleicher Weise kritisieren. Da erleben wir jetzt schon wieder, daß in einigen Beiträgen doch zu sehr eine gewisse Einäugigkeit zum Ausdruck kommt. Ich halte es für erforderlich, daß man hier nach vorne geht und dann nicht nur etwas zur Sowjetunion, zu den Menschenrechtsverletzungen an der Mauer in Berlin, zu den Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan, sondern wirklich auch etwas zu den Menschenrechtsverletzungen in Südafrika sagt und daß man, wenn man Nicaragua nimmt, nicht nur
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Bindig
eine Seite, sondern dann auch die gravierenden Menschenrechtsverletzungen der Contras wirklich nennt.
— Sie machen einen Zwischenruf, Herr Graf Huyn von der CSU. Tun Sie dies doch bitte einmal! Sagen Sie doch etwas zu den Menschenrechtsverletzungen der Regierung in Südafrika, und zwar mit allem Nachdruck, wie Sie es in anderen Bereichen auch tun!
Eine Menschenrechtsdebatte sollte in den Mittelpunkt stellen, wie und mit welchen Mitteln wir Menschen, deren elementarste Rechte verletzt werden, auch wirklich helfen können. Dem Gefolterten, dem Verschleppten, dem Heimatvertriebenen, dem Unterdrückten, dem Hungernden ist es letztlich doch gleichgültig, wer ihn zuerst erwähnt hat. Der Verfolgte, der, dessen Freiheitsrechte eingeschränkt werden, der, dessen elementare Rechte auf Nahrung, Kleidung und Unterkunft verletzt werden, derjenige, der Folterknechten ausgesetzt ist, fragt doch nur danach: Welche Schritte sind von den Ländern, die dazu die Möglichkeit haben, wirklich unternommen worden, um unser Los zu verbessern?
Dies führt uns zu der immer wieder diskutierten Frage, welche Instrumente in der Menschenrechtspolitik eingesetzt werden sollen. Soll vornehmlich durch öffentliche Anklagen etwas zu den Verletzungen der Menschenrechte gesagt werden? Soll ein Staat an den Pranger gestellt werden? Oder sollen die stillen Wege der Diplomatie beschritten werden? Ich habe das nie als einen Gegensatz angesehen. Ich bin der Auffassung, daß alle Instrumente genutzt werden müssen.
Der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel hat doch recht, wenn er sinngemäß sagt: Es gilt, die mahnende Stimme auf jeden Fall zu erheben; denn Schweigen dient dem Folterer und nicht dem Gefolterten, Schweigen dient dem Quälenden und nicht dem Gequälten, Schweigen hilft dem Unterdrücker und nicht dem Unterdrückten.
Die Mobilisierung des Weltgewissens ist eine wichtige Aufgabe. Aber trotzdem kann es in Einzelfällen die beste Hilfe bringen, wenn auf dem Weg der stillen Diplomatie vorangegangen wird; denn manches Mal wird es nur auf diesem Wege möglich sein, jemand konkret zu helfen.
Wichtig scheint mir auch zu sein, den Blick nicht nur ins Ausland, sondern den Blick auch wieder zurück auf die Bundesrepublik Deutschland zu richten; denn jedes Land hat noch selbst einiges zu erfüllen. Wir müssen uns fragen: Wie gehen wir denn mit den Flüchtlingen um? Werden da wirklich alle Gesichtspunkte der Menschenrechtspakte beachtet? Wie gehen wir mit dem Protest Andersdenkender um? Wie steht es mit der Meinungs- und
Informationsfreiheit in diesen Punkten? Und es gehört auch zu den wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechten, nicht arbeitslos zu sein. Wie kümmern wir uns um unsere Arbeitslosen?
Auch die Bundesrepublik Deutschland hat hinsichtlich der internationalen Menschenrechtspakte noch einiges zu erledigen. Einige Pakte sind noch zu unterzeichnen und zu ratifizieren; das wird seit Jahren hingeschleppt. Wir mahnen das dringlich an.
Besonders wichtig scheint es mir zu sein, daß der Deutsche Bundestag der Menschenrechtsarbeit dadurch größere Bedeutung beimißt, daß er nun endlich darangeht, ein Menschenrechtsgremium zu etablieren.
Beim Europäischen Parlament gibt es bereits eine Institution für Menschenrechtsfragen. In einigen anderen Ländern, in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten, gibt es bereits solche Gremien. Wir meinen, daß auch der Deutsche Bundestag diese Frage in institutioneller Form angehen sollte. Es wird für die nächste Legislaturperiode ein Auftrag sein, jetzt endlich zu einer Einrichtung zu kommen, in der auf geordneter Basis die Menschenrechtsarbeit systematischer betrieben wird, als das bisher der Fall gewesen ist. Das sollten wir uns alle zu einer Aufgabe machen, wenn es darum geht, die Arbeitsgremien des Deutschen Bundestages wieder einzusetzen. Wir sollten ein solches Gremium etablieren und es auch mit einem entsprechenden Apparat versehen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Reddemann.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Wenn man sich vor Beginn dieser Aktuellen Stunde noch hätte fragen können, ob es richtig sei, eine solche Debatte über die Menschenrechte zu führen, wissen wir jetzt, nachdem sie vorbei ist, daß sie notwendig war.
Wir sollten als erste Konsequenz aus dieser Aktuellen Stunde die Überlegung in die Tat umsetzen, jedes Jahr die Frage der Menschenrechte auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages zu setzen, gleichgültig, ob das vor Weihnachten oder zu einem anderen Zeitpunkt geschieht.
Ich bedanke mich bei dem Herrn Kollegen Bindig, der eben die alte Forderung der CDU/CSU unterstützt hat, über die Verletzung der Menschenrechte in der Welt — und zwar überall in der Welt, auch in Deutschland — ein Dokument zu verbreiten, das hier zusammengestellt wird. Ich danke den Sozialdemokraten für den Lernprozeß; denn als wir das vor mehreren Jahren vorgeschlagen haben,
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Reddemann
sind wir damals bei Ihnen leider auf taube Ohren gestoßen.
Ich bedanke mich auch ausdrücklich bei Ihnen, Herr Kollege Neumann, für das, was Sie gesagt haben, und für die Zusammenarbeit im Europarat.
Ich glaube, das, was wir dort gemeinsam als deutsche Delegation gerade auf dem Gebiet der Menschenrechte leisten — das wird in diesem Hause oft gar nicht so gesehen —, hat viel dazu beigetragen, daß Bedenken, die gegenüber Deutschland wegen der Vergangenheit vorhanden waren, abgebaut wurden; denn damit haben wir dokumentiert und wollen wir weiter dokumentieren, daß wir als überzeugte Demokraten, als Anhänger des Rechtsstaates die Menschenrechte in der ganzen Welt nicht nur verbal unterstützen, sondern mit gemeinsamen Aktivitäten.
Ich bedauere allerdings, daß der Herr Kollege Duve den Einsatz für die Menschenrechte in der ganzen Welt mit einem Zwangsballett verglichen hat.
Wer einen solchen törichten Ausdruck in diese Versammlung bringt, wer einen solchen törichten Ausdruck für den Kampf um die Menschenrechte im Deutschen Bundestag sagt, der erweckt nicht den Eindruck, daß ihm die Menschenrechte so am Herzen liegen, wie sie uns eigentlich alle liegen sollten.
Wer darüber hinaus den Kampf für Andrej Sacharow abwertet, indem er behauptet, daß die Menschen diesen Mann, dieses geschundene Opfer des KGB, nur wie ein Plakat vor sich hertrügen, wer die Zehntausende, die sich für Sacharow eingesetzt haben, derartig diskriminiert, der muß sich die Frage vorlegen lassen, ob er damit nicht beabsichtigte, daß wir uns nicht weiter mit Sacharow beschäftigen. Ich versichere aber nicht nur Herrn Duve: Wir werden uns für Andrej Sacharow, wir werden uns für alle Gefolterten und Geschundenen einsetzen, gleichgültig mit welcher intellektuellen Überheblichkeit hier über uns hergefallen wird.
Aber ich meine, meine Damen, meine Herren: Wir sollten diese Stunde nicht mit gegenseitigen Auseinandersetzungen beenden
— daß ich zu Ihrem Zwischenruf, Herr Ströbele, nichts sage, versteht sich von selbst —, wir sollten uns gemeinsam überlegen, was wir tun könnten.
Hier ist der Vorschlag gemacht worden — es ist der alte Vorschlag der Bundesregierung —, es sollte ein internationaler Menschenrechtsgerichtshof geschaffen werden. Ich halte diesen Vorschlag immer noch für gut, aber wer die Realität in der Welt sieht und wer weiß, daß von den rund 160 Staaten dieser Welt allenfalls 35 bereit sind, die Menschenrechte anzuerkennen, der weiß, welche Schwierigkeiten entstehen.
Daher habe ich die herzliche Bitte zu prüfen, ob wir zumindest bis es soweit ist, bis wir realistisch an einen solchen Vorschlag herangehen, nicht alle demokratischen Staaten der Welt auffordern können, der Konvention der Menschenrechte des Europarats beizutreten,
weil diese Konvention nicht nur eine verbale Deklaration wie bei den Vereinten Nationen ist, sondern eine Erklärung, die man vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg einklagen kann. Meine herzliche Bitte ist daher, bei allem, was uns hier heute morgen auch getrennt hat, dieser Überlegung nahezutreten, damit wir nicht nur eine Diskussion zu dem Thema gehabt haben, sondern mit einem konkreten Vorschlag und mit einem Vorschlag, den man verwirklichen kann, in die Arbeit des nächsten Jahres gehen können.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 45 auf.
a) Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der SPD
Steuerpolitik der Bundesregierung
— Drucksachen 10/5653, 10/6279 —
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Apel, Dr. Spöri, Huonker, Klose, Dr. Kübler, Lennartz, Frau Matthäus-Maier, Dr. Mertens , Poß, Amling, Dr. Nöbel, Rapp (Göppingen), Schlatter, Dr. Struck, Westphal, Dr. Wieczorek, Wolfram (Recklinghausen), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Internationale Steuerflucht
— Drucksachen 10/5149, 10/5562 —
c) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einschränkung des Mißbrauchs des Gemeinnützigkeitsrechts
— Drucksache 10/4045 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 10/6083 — Berichterstatter:
Abgeordnete Jäger Dr. Spöri
20022 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986
Vizepräsident Stücklen
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu dem Antrag des Abgeordneten Vogel (München) und der Fraktion DIE GRÜNEN
Rücknahme der steuerlichen Benachteiligung ausländischer Arbeitnehmer durch das Steuersenkungsgesetz 1986/1988
— Drucksachen 10/4137, 10/4944 — Berichterstatter:
Abgeordnete Poß
Frau Will-Feld
e) Beratung des Zehnten Berichts und Empfehlung der Europa-Kommission zur einkommen- und lohnsteuerrechtlichen Behandlung nichtansässiger Arbeitnehmer
— Drucksache 10/5210 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur dritten Beratung des Entwurfs eines Steuerbereinigungsgesetzes 1986
— Drucksachen 10/4525, 10/5703 — Berichterstatter:
Abgeordnete Schlatter
Uldall
Zum Tagesordnungspunkt 45 f liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/6706 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 45a bis 45f drei Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kreile.
— Herr Kreile, ich kann Abgeordnete oder Mitglieder der Bundesregierung nur so aufrufen, wie sie gemeldet sind. Bei mir sind gemeldet: Kreile und dann Spöri. Wollen Sie eine andere Reihenfolge haben? — Das ist kein Problem. Herr Spöri, wollen Sie beginnen? — Herr Kreile ist einverstanden. Das Wort hat Herr Abgeordneter Spöri.
Schönen Dank, Herr Präsident! Welch freudige Überraschung!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Wenn ich eines an Ihnen bewundere, Herr Bundesfinanzminister — es geht ja um Ihre Politik hier heute morgen —, dann ist es Ihre Fähigkeit, wie Sie den eklatanten Widerspruch zwischen Ankündigungen und Taten in der Steuerpolitik bisher überbrückt haben, wie Sie seit Jahren diesen überdimensionalen Spagatschritt aushalten — ein Kraftakt, den Sie auch in Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage bewundernswert durchgehalten haben. Mein Kompliment, Herr Bundesfinanzminister!
Sie haben 1982 die Regierung übernommen — das ist jetzt mehr als vier Jahre her —, und seither reden Sie Tag für Tag von Steuerentlastungen, von großen und noch pompöseren Steuerreformen. Wir fragen heute mal: Was ist denn bei dem ganzen Gerede für den Normalbürger eigentlich herausgekommen? Es ist eine Steuerentlastung von nicht mal 10 Milliarden DM außerhalb des Unternehmensbereiches, und das für einen Zeitraum von sechs Jahren. Dagegenzurechnen ist dann noch die Mehrwertsteuererhöhung von 10 Milliarden DM seit 1983. Wenn man also mal genau nachrechnet, Herr Bundesfinanzminister, dann haben Sie die große Mehrheit der Steuerzahler überhaupt nicht entlastet.
Und das wollen Sie jetzt als Steuersenkung verkaufen! Kein Wunder, daß nach Umfragen 80 % aller Bürger von dieser Entlastung überhaupt nichts gemerkt haben! Das konnte auch nicht sein, das war auch per Saldo keine Entlastung, meine Damen und Herren. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war die Steuer- und Abgabenlast der Arbeitnehmer und des Durchschnittsverdieners so hoch wie heute, und sie wächst weiter.
Hierzu acht Fakten aus Ihrer Statistik, Herr Bundesfinanzminister, aus dem Steueralltag unserer Bürger:
Erstens. Die durchschnittliche Lohnsteuerbelastung der Löhne und Gehälter ist 1986 auf ein einmaliges Rekordniveau von 17,3 % gestiegen. Die Arbeitnehmer müssen in diesem Jahr allein aufgrund dieser Steigerung der Lohnsteuerquote 11 Milliarden DM mehr Lohnsteuer bezahlen. Das ist Abgabenrekord Nr. 1 der Regierung Kohl.
Zweitens. Die Lohn- und Gehaltsabzüge der Arbeitnehmer für Lohnsteuer und Sozialbeiträge liegen ja nach den eigenen Angaben Ihres Hauses 1986 bei dem Spitzenwert von 33 %. Das ist Abgabenrekord Nr. 2 der Regierung Kohl.
Drittens. Nimmt man noch die indirekten Steuern, d. h. die Verbrauchsteuern, hinzu, so muß der Durchschnittsverdiener in diesem Jahr 43 Pfennig von jeder verdienten Mark an Steuern und Abgaben zahlen. Das ist Abgabenrekord Nr. 3 der Regierung Kohl.
Die Grenzbelastung als Viertes, mit der Sie immer wieder argumentieren, hat ja inzwischen auch einen absoluten Spitzenwert erreicht: Dem durchschnittlich verdienenden Arbeitnehmer werden heute von jeder zusätzlich verdienten Mark 57 Pfennig abgezogen. Das ist Abgabenrekord Nr. 4 der Regierung Kohl.
Fünftens wollen wir mal die Entwicklung des Sozialprodukts und seine Verteilung verfolgen. Von 1982 bis 1986 stieg das Bruttoeinkommen aus Un-
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Dr. Spöri
ternehmertätigkeit und Vermögen um 164 Milliarden DM; davon blieben 154 Milliarden DM netto übrig. Im gleichen Zeitraum stiegen die Bruttoeinkommen der Arbeitnehmer um 139 Milliarden DM; netto blieben nur 53 Milliarden DM übrig. Den Arbeitnehmern wurden also 62 % ihres Zusatzverdienstes abgeknöpft. Das ist Abgabenrekord Nr. 5 der Regierung Kohl. Den Kapitaleignern und Unternehmen wurden dagegen nur 6 % abgezogen. Herr Bundesfinanzminister, daß Sie jetzt bei dieser Schieflage ausgerechnet eine weitere Senkung der Unternehmensteuern für notwendig halten, ist wirklich ein steuerpolitischer Treppenwitz.
Sechstens. Der Anteil der Lohnsteuer am gesamten Steueraufkommen liegt heute auf dem Rekordniveau von 34 %. Abgabenrekord Nr. 6 der Regierung Kohl.
Siebtens. 1982 wurden 45 % aller Berufstätigen progressiv, d. h. mit steigenden Steuerlasten, belastet, in diesem Jahr sind es 55 %, und nach den eigenen Berechnungen des Bundesfinanzministers werden es 1990 70 % sein. Abgabenrekord Nr. 7.
Achtens. Weil es weihnachtet — noch ein Abgabenrekord —: Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben die Arbeitnehmer vom Weihnachtsgeld so wenig gehabt wie in diesem Jahre.
38 % werden beim Durchschnittsverdiener vom Weihnachtsgeld abgezogen. Das ist Abgabenrekord Nr. 8 der Regierung Kohl.
Das sind nur acht Beispiele. Herr Bundesfinanzminister, kommen Sie jetzt nicht wieder mit Ihrer Dauerausrede, die eine oder die andere Quote sei statistisch nicht hinreichend aussagefähig. Sie können jede beliebige statistische Quote nehmen, Sie werden immer zu dem Ergebnis kommen, daß Ihre Regierung den Marsch in den Lohnsteuerstaat zu verantworten hat.
Sie haben mit Ihrer Steuer- und Abgabenpolitik den Arbeitnehmern das Fell über die Ohren gezogen. Die Arbeitnehmer sind heute abgabenpolitisch die Melkkühe der Nation.
Und jetzt stellt sich der Herr Bundesfinanzminister mit treuherzigem Augenaufschlag hin und beklagt, die Abgabenlast der Arbeitnehmer sei zu hoch. Herr Bundesfinanzminister, das, was Sie da beklagen, ist das Ergebnis Ihrer eigenen Politik. So sieht es aus.
Zur Struktur Ihrer Tarifkorrekturen: Die Struktur Ihrer bisher schon im Gesamtumfang mehr als bescheidenen Korrektur ist unzulänglich. Spitzeneinkommen — und das spricht sich Gott sei Dank in letzter Zeit herum — werden 50 mal höher entlastet als Durchschnittseinkommen. Bei der nächsten Stufe 1988 sollen Familien mit zwei Kindern und einem Monatseinkommen von bis zu 4 000 DM überhaupt leer ausgehen. Das bestätigen Sie ausdrücklich in Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage.
Aber es geht nicht nur um Steuergerechtigkeit, Herr Bundesfinanzminister, es geht auch um die wirtschafts- und konjunkturpolitische Effizienz der Steuerpolitik. Ihr steuerpolitisches Korrekturkonzept ist deshalb wirtschaftspolitisch verfehlt, weil es für die Stärkung der Massenkaufkraft unten und in der Mitte zuwenig bringt, weil dadurch die Binnennachfrage viel zuwenig gestärkt wird.
Ihr Konzept widerspricht aber auch dem tatsächlichen steuerpolitischen Korrekturbedarf im Tarifgefüge. Korrekturbedarf besteht nämlich gerade nicht im Bereich der hohen und höchsten Einkommen, nein, vor allen Dingen in der ersten Hälfte der Progression, d. h. in der sogenannten Facharbeiterzone, in der Aufsteigerzone. Da haben in letzter Zeit die Nominallohnerhöhungen und der progressive Tarifverlauf zu rapiden Steuersteigerungen geführt. Genau hier haben Sie mit Ihrem Konzept nichts gemacht. Bezeichnend ist j a, daß Sie an dem bei 18 000 DM Jahreseinkommen liegenden Beginn der progressiven Besteuerung festhalten.
Weil Sie mit den bisherigen Steuerversprechen die Mehrheit der Bürger enttäuscht haben, weil sich die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit auch nach den Umfragen allzu kraß auftut, wollen Sie jetzt auf Ihren Steuerbluff 1986 noch den Superbluff für die nächste Wahlperiode setzen. Jetzt werden plötzlich 45 Milliarden DM Steuernachlaß als Köder vor der Wahl ausgelegt, natürlich ohne Terminangabe. Man will j a weiter möglichst lange und möglichst kostenlos von Steuerreform reden können. Das Rezept ist im Grunde genommen immer das alte, auch bei den neuen Vorschlägen: Ein linear-progressiver Tarif, wie Sie ihn anstreben, muß nach den schlichten Gesetzen der Tarifmathematik im oberen Bereich zu ganz massiven Entlastungen in Höhe von zigtausend Mark führen, kann aber im unteren Bereich gar nichts und im Bereich mittlerer Einkommen nur wenig bewirken. Das kleine bißchen mehr Grundfreibetrag für die Normalverdiener ist im Vergleich zu den Entlastungen bei hohen Einkommen nur ein Almosen. Die nochmalige Erhöhung der Kinderfreibeträge statt des Kindergeldes, die Sie ja anstreben, würde oben wieder zweieinhalbmal stärker entlasten als unten. Wo
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Dr. Spöri
bleibt denn da die Gerechtigkeit für die Durchschnittsfamilie?
Damit nicht genug: Auch die Senkung der Spitzensteuersätze gilt bei Ihnen als unverzichtbar. Herr Solms, Sie bekommen j a schon glänzende Augen, wenn Sie das hören. Die Entlastung der Spitzeneinkommen wird dann mindestens 20 000 DM bis 30 000 DM ausmachen — als ob dies die wichtigste Sorge in unserer Steuerpolitik wäre!
Welch bezeichnende, welch entlarvende Logik: Ausgerechnet diejenigen, die aus ihren prallen Taschen in den letzten vier Jahren kein Solidaropfer für den Haushalt erbringen mußten, sollen jetzt wieder den Superschnitt bei der sogenannten Superreform machen.
Aber es kommt noch schlimmer. Sie können so, wie die Bundesfinanzen aussehen, auf die große Probleme zukommen, die 45 Milliarden DM nicht ohne Ausgleichsmaßnahmen zur Verfügung stellen. Also sollen Verbrauchsteuererhöhungen her, also sollen Subventionen abgebaut werden. Prima, hurra kann ich da nur sagen; ein löbliches Unterfangen.
Aber Sie hüten sich in der Antwort auf unsere Große Anfrage peinlichst, auch nur anzudeuten, welche Verbrauchsteuern Sie erhöhen wollen und welche Subventionen Sie abbauen wollen. Sie haben j a auch allen Grund zu verschweigen, wohin die Reise geht. Das ist ja ganz klar. Denn wer zahlt denn die Senkung der Spitzensteuersätze mit erhöhten Mehrwertsteuer- oder Verbrauchsteuerlasten? Ihre Pläne würden den Beziehern von kleinen und mittleren Einkommen nicht nur nichts bringen; diese würden sogar Nettozahler werden.
Für die Mehrheit der Bürger ist die angebliche Superreform des Dr. Stoltenberg nichts als ein großangelegter Wählerbetrug, meine Damen und Herren.
Sie wollen Subventionen abbauen. Da kann ich nur sagen: prima. Zuletzt hat die sozialliberale Regierung mit Erfolg Subventionen im Umfang von 10 Milliarden DM abgebaut. Während Ihrer Zeit wurde keine einzige Subvention gestrichen, Herr Bundesfinanzminister. Insgesamt sind in Ihrer Amtszeit die Subventionen um nicht weniger als 30 % erhöht worden, davon allein die Steuersubventionen um 50 %.
Eines dürfen Sie nicht vergessen: Sie haben in dieser Legislaturperiode auf fast allen Gebieten in der Subventionspolitik politische und rechtliche Festlegungen durchgeboxt, die für Sie einen ausgewogenen Subventionsabbau ausschließen. Schauen wir uns nur einige der Subventionsfelder einmal an, auf denen Sie so eifrig gesät haben.
Wollen Sie etwa die erhöhte Vorsteuerpauschale für die Landwirtschaft jetzt wieder einsammeln, wo
Sie ja eingeknickt sind? Das glauben Sie doch selbst nicht.
Wollen Sie den Wohnungsbauparagraphen 10e wieder abschaffen, mit dem Sie wider alle wohnungsbaupolitische Vernunft eine einkommensabhängige Begünstigung speziell für die Reichen eben erst festgeschrieben haben?
Wollen Sie die Sonderabschreibungen für die Unternehmen abbauen, die Sie eben erst wieder eingeführt haben?
Sie haben sich auf fast allen Gebieten der Subventionspolitik selbst blockiert. Was bleibt denn da noch übrig, wenn nicht die Abschaffung des Arbeitnehmerfreibetrags, des Weihnachtsfreibetrags oder die Besteuerung der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit?
Meine Damen und Herren, die Beantwortung unserer Anfrage ist in diesem Punkt besonders aufschlußreich, gerade weil Sie hier jede konkrete Antwort vermissen lassen. Danach ist zu erwarten, daß Sie die Arbeitnehmer nicht nur über die Mehrwertsteuer und die Verbrauchsteuern, sondern auch über die einseitige Beseitigung arbeitnehmerbezogener Freibeträge für die Senkung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer und bei der Körperschaftsteuer heranziehen und zahlen lassen wollen.
Die CSU hat ja der FDP eine Steuerlüge vorgeworfen — das war der Herr Streibl —, weil die FDP nicht sage, Herr Solms, welche Subventionen sie im Umfang von 25 Milliarden DM abbauen wolle. Sie haben ja gesagt, Sie wollten 25 Milliarden DM Subventionen abbauen.
Ich meine, das ist ungerecht. Der Vorwurf der Steuerlüge trifft bestimmt nicht die FDP allein, sondern die gesamte Koalition.
Dieser Vorwurf trifft Sie deshalb, weil Sie sich weigern, den Bürgern vor der Wahl steuerpolitisch reinen Wein einzuschenken. Es geht im Grunde genommen ja nicht nur um eine Steuerlüge, sondern es geht um drei Steuerlügen.
Steuerlüge Nr. 1: Die Bundesregierung verheimlicht ganz bewußt, daß sie nach der Wahl den Spitzensteuersatz für Großverdiener senken will.
Steuerlüge Nr. 2: Die Bundesregierung verheimlicht ganz bewußt, daß sie nach der Wahl die große Mehrheit unserer Bürger durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer oder anderer Verbrauchsteuern zur Kasse bitten will.
Steuerlüge Nr. 3: Die Bundesregierung spricht von allgemeinem Subventionsabbau und verheimlicht ganz bewußt, daß sie dabei in erster Linie an den Abbau von Steuervergünstigungen für Arbeitnehmer nach der Wahl denkt.
Meine Damen und Herren, die SPD hat Ihrer ungerechten und wirtschaftspolitisch verfehlten Poli-
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Dr. Spöri
tik ein Konzept gegenübergestellt, das 80 % der ledigen und 90 % der verheirateten Steuerzahler besserstellt und damit in dieser prekären konjunkturpolitischen Situation auch die Binnennachfrage wirksam stärkt.
Weil Sie genau wissen, daß nach unserem Konzept die überwältigende Mehrheit der Steuerzahler ab 1988 besser abschneidet als nach Ihrem Konzept, weichen Sie, Herr Bundesfinanzminister, in Ihren Hintergrundgesprächen einem seriösen Vergleich der Alternativen für das Jahr 1988 aus. Sie greifen zu dem billigen Trick, unseren Vorstellungen für 1988 Ihre Versprechungen für die Zeit nach 1990 gegenüberzustellen. Dies ist plumpe Roßtäuscherei.
Sie wollen damit die Öffentlichkeit täuschen, denn Sie unterschlagen bewußt, daß die SPD für die Zeit nach 1988 eine weitergehende Steuerreform plant. Die gerechte und wirtschaftspolitisch wirksame Ausgestaltung der Steuersenkung 1988 ist für uns nur ein erster Schritt, um den Marsch in den Lohnsteuerstaat zu stoppen.
Wir werden darüber hinaus Ihre Ungerechtigkeiten der letzten vier Jahre im Bereich der Lohnsteuer korrigieren und die heimlichen Steuererhöhungen zurückgeben. Wir wollen die Leistungseinkommen der arbeitenden Menschen, der Arbeitnehmer und der Selbständigen, entlasten. Wir verwechseln nicht absichtlich Leistung und Reichtum, wie Sie es mit Ihrem verfälschenden Leistungsbegriff ständig tun.
Arbeit muß sich steuerpolitisch wieder lohnen und nicht Reichtum — wie bei Ihrer Politik, meine Damen und Herren. Das ist unsere Devise.
Unser Steuerrecht muß aber vor allen Dingen auch wirtschaftspolitisch vernünftiger werden. Große Finanzanlagen dürfen nicht weiterhin steuerlich besser behandelt werden als Anlagen in Produktivkapital, d. h. in die Modernisierung und die Erweiterung von Arbeitsplätzen.
Tun Sie bei diesem Thema, bei dieser Diskussion jetzt nicht so, als ob es Ihnen in diesem Zusammenhang um den Klein- und Normalsparer ginge, um die Oma mit dem Sparbuch! Da kommen mir wirklich die Tränen. Die schützen wir mit der Verzehnfachung der Sparerfreibeträge viel besser, und da können Sie zustimmen, meine Damen und Herren!
Ihnen geht es um etwas ganz anderes: Ihnen geht
es um den Schutz Ihrer Klientel, um den Schutz der
großen Kapitaleigner, die jährlich leistungslose Zinseinkommen am Finanzamt vorbeischleusen.
Sie stört es j a überhaupt nicht, daß die Arbeitnehmer jede Mark mit gläsernen Taschen im Lohnbüro versteuern müssen.
Zu einer spezifisch mittelstandsbezogenen Steuerpolitik gehört unsere Forderung nach Einführung einer steuerfreien Investitionsrücklage. Um diese Rücklage veranstalten Sie hier im Bundestag in letzter Zeit j a einen lächerlichen Eiertanz, weil auch Ihre Mittelstandsvertreter und sogar die CSU mit Herrn Fellner die Vorzüge dieses Instruments inzwischen entdeckt haben.
Die Ablehnung unseres Antrages auf Einführung einer steuerfreien Investitionsrücklage zeigt deutlich,
daß die Lobby der Großindustrie in den Koalitionsfraktionen viel stärker ist als die Interessenvertretung der mittelständischen Firmen.
Meine Damen und Herren, es ist zu begrüßen, daß die aktuelle steuerpolitische Diskussion in letzter Zeit auch Reformimpulse von außen, außerhalb der Bundesrepublik, aufnimmt. Die amerikanische Steuerreform wird von den Regierungsfraktionen und von vielen — nicht von allen — Meinungsträgern in Ihrem Lager mit großem Enthusiasmus als beispielhaft gefeiert. Sicherlich ist diese Reform auch für mich beeindruckend. Wir haben uns diese Steuerreform näher angesehen und können Ihnen nur raten, sie sehr genau zu studieren.
Wenn Sie wirklich den Amerikanern folgen wollen, dann müssen Sie das Schließen von Steuerschlupflöchern, die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, das wirksame Erfassen aller Einkommen tatsächlich als wichtigste Ziele Ihrer Steuerpolitik anerkennen. Sie müßten, wenn Sie den Amerikanern folgen wollten, das Entlastungsschwergewicht in Ihren Plänen auf die unteren und mittleren Einkommen verlagern. Sie müßten die arbeitsintensiven mittelständischen Unternehmen entlasten und die Großindustrie belasten, wie es die Amerikaner j a getan haben.
Sie müßten bei Spitzeneinkommen sogar eine Tendenz zu Mehrbelastung in Kauf nehmen, wie sie nach der US-Reform eintreten wird, und dies trotz der formellen Senkung der Spitzentarife. Sie müßten niedrigere Einkommen überhaupt von der Steuer freistellen. Oder was halten Sie etwa vom Abschmelzen persönlicher Freibeträge bei höheren Einkommen, wie es die Amerikaner beschlossen haben? Mein Freund Senator Gobrecht aus Hamburg hat dies vor kurzem ebenfalls ins Gespräch gebracht. Dieser Vorschlag galt bei Ihnen sofort als besonders abgefeimte Variante der Neidsteuer. Und
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Dr. Spöri
was halten Sie eigentlich von Mindeststeuersätzen, wie sie die Amerikaner eingeführt haben, Herr Solms, von einer Einschränkung der Verlustverrechnung, von einer Beschränkung der Anerkennung von Bewirtungsspesen, von Luxus- und Geschäftsreisen? Wenn wir als SPD-Fraktion das hier beantragten, würden Sie sagen: Das sind doch alles Folterinstrumente aus der Gruselkammer des Sozialismus. So sieht es doch aus, meine Damen und Herren.
All dies, was die amerikanische Steuerreform konkret ausmacht, haben Sie hier in diesem Hause abgelehnt. So mancher bei Ihnen, der jetzt immer noch auf dem falschen Bein über die US-Reform jubelt, würde schnell aufhören zu jubeln, wenn er sich einmal konkret in diese Materie hineinkniete.
Meine Damen und Herren, ein Fazit: Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, daß diese Koalition Steuerpolitik einseitig für Großunternehmen und Bezieher hoher und höchster Einkommen betreibt. Die anderen müssen bisher diese Politik der Umverteilung von unten nach oben mit immer höheren Steuern und immer höheren Abgaben bezahlen.
Wie weit die Interessenverflechtung zwischen Großindustrie und dieser Koalition inzwischen geht, wurde in der letzten Sitzung des Finanzausschusses in der vergangenen Woche auf peinliche Weise deutlich. Während die Bundesregierung noch in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage zur internationalen Steuerflucht, die heute hier ebenfalls debattiert wird, bestätigt hat, daß es im internationalen Bereich zu enormen Steuerverkürzungen kommt und daß u. a. eine Verbesserung der internationalen Rechts- und Amtshilfe erforderlich sei, lehnen die Koalitionsfraktionen unter dem massiven Druck der Lobby der Großindustrie alle derartigen Maßnahmen ab. Sie haben Bundesfinanzminister Stoltenberg im Finanzausschuß über eine Resolution sogar untersagt, der von seinem eigenen Haus mit ausgehandelten OECD-Konvention gegen die internationale Steuerhinterziehung zuzustimmen.
Die Bundesrepublik Deutschland wird damit unter den westlichen Industrieländern zum Oberbremser einer wirksamen Eindämmung der internationalen Steuerhinterziehung.
Meine Damen und Herren, es ist leider wahr: Diese Koalition schützt planmäßig die großen Steuerhinterzieher und verzichtet damit auf Mittel für eine gerechte Steuersenkung zugunsten der Arbeitnehmer und auch der kleinen und mittleren Unternehmen, die steuerehrlich sind und damit Wettbewerbsverzerrungen hinnehmen müssen. Für diesen steuerpolitischen Kurs darf es im nächsten Deutschen Bundestag keine Mehrheit geben.
Am 25. Januar geht es insbesondere auch steuerpolitisch um die zentrale Weichenstellung: Gerechtigkeit statt Egoismus, Gerechtigkeit statt Privilegien.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister der Finanzen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt die Gelegenheit, anläßlich der Großen Anfragen der SPD Fragen der Steuerpolitik zu diskutieren — sicher in einer Bilanz, vor allem aber im Ausblick auf die Aufgaben, die vor uns liegen. Dies gibt ja die Möglichkeit, die Grundpositionen und Alternativen der politischen Parteien deutlich aufzuzeigen. Ich gebe die Hoffnung noch nicht auf, Herr Spöri, daß nach Ihrer Rede, zu der ich an anderer Stelle mehr sagen werde, auch noch ein Kollege der SPD die Alternative der Sozialdemokraten hier entwickelt. Ich habe davon bisher eigentlich nichts vernommen.
Für uns jedenfalls ist eine weiterführende Steuerreform von zentraler Bedeutung, um in der kommenden Gesetzgebungsperiode die Dynamik des Wachstums zu stärken, die Beschäftigungsentwicklung weiter zu verbessern und die Steuerlast für die arbeitenden Menschen zu verringern. Es ist heute ja in der ernsthaften Diskussion unbestritten, daß wir international in einem Wettbewerb der Steuersysteme stehen. Herr Kollege Spöri hat mit seinen Rundumschlägen diesen Sachverhalt vollkommen übersehen,
den andere Sozialdemokraten viel besser erkennen.
Sie beeinflussen die Standortentscheidungen für arbeitsplatzsichernde und -schaffende Investitionen über Staatsgrenzen hinweg in immer stärkerem Umfang. Es sind doch nicht nur die viel zitierten Großkonzerne; es sind mittlere Industrieunternehmen, Personengesellschaften mit 1 000, 1 200 Mitarbeitern, die heute bei der Frage einer Investition, die für Arbeitsplätze wichtig ist, nicht nur Standorte in der Bundesrepublik, sondern in ganz Westeuropa und manchmal auch in Amerika untersuchen. Diesen Sachverhalt müssen Sie ernster nehmen, als das in der eben gehörten Rede der Fall war.
— Es war eben bei Herrn Spöri nur eine kleine Schar. Versuchen Sie doch nicht, die mangelnde Präsenz bei Ihrem eigenen Redner durch Lautstärke bei mir zu kompensieren!
Meine Damen und Herren, in dieser Wahlperiode ging es zunächst darum, die Neuverschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden erheblich abzusenken. Das hat natürlich den Spielraum für Steuer-
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Bundesminister Dr. Stoltenberg
politik eingeschränkt. Aber wir haben ihn, nachdem er allmählich entstand, genutzt, um erste Steuerentlastungen durchzuführen. Die vom Bundestag bereits beschlossene Tarifsenkung tritt bekanntlich zum 1. Januar 1988 in Kraft. Seit 1984 führen wir, Herr Kollege Spöri, aus ganz anderen Motiven, als Sie sie hier unterstellt haben, eine öffentliche Diskussion über die Schwerpunkte einer weiterreichenden Steuerreform. Dabei sind natürlich auch innerhalb der Koalition noch viele Einzelpunkte offen. Aber man kann feststellen, daß sich zwischen den Koalitionsparteien ein bemerkenswertes Einvernehmen über Prioritäten und Grundstrukturen eines solchen Reformkonzepts ergibt.
Ich begrüße das ganz außerordentlich. Das ist eine Chance für die Wähler, daß die Steuerreform auch in der kommenden Wahlperiode realisiert wird.
Die beiden Großen Anfragen der SPD, meine Damen und Herren, machen j a deutlich, daß die Opposition eine Gegenposition bezieht. Wir sind für eine Steuerreform, die zu einer dauerhaften Entlastung für die berufstätigen Menschen und die Betriebe führt. Das ist nur durch Verringerung der Steuerquote möglich.
Die SPD hat sich in ihrem Wahlprogramm und im entsprechenden Beschluß ihres Bundesparteitages in Nürnberg Ende August gegen eine Verringerung der Steuerquote ausgesprochen.
Übrigens hat Ihr Kanzlerkandidat Herr Rau das gerade heute morgen noch einmal in einem Interview bekräftigt. Meine Damen und Herren, wie Sie das Kunststück fertigbringen wollen, bei einer gleichbleibenden Steuerquote 80 % der Ledigen und 90% der Verheirateten entlasten zu wollen, das müssen Sie der deutschen Öffentlichkeit doch einmal vorführen. Das glaubt Ihnen kein Mensch.
Ich will zu Ihren Ausführungen, Herr Spöri, nur sagen: Nachdem Ihre Partei die jetzige Steuerquote festgeschrieben hat,
sind alle diese Klagen über die zu hohe Belastung der arbeitenden Menschen in den Konsequenzen — ich will mich hier am letzten Tag noch einmal ganz höflich ausdrücken — nicht sehr überzeugend.
— Nein, ich komme gleich, Herr Spöri, auf die Steuerquote zu sprechen. Aber gut, eine Zwischenfrage gerne, doch dann bitte ich um Verständnis, daß ich im Zusammenhang vortragen möchte.
Bitte, Herr Spöri.
Herr Bundesfinanzminister, ist Ihnen nicht klar, daß Sie in Ihrer ganzen Amtszeit, von 1982 bis 1986, nichts anderes getan haben, als die Steuerlastquote dadurch zu erhöhen, daß Sie die heimlichen Steuererhöhungen nicht zurückgegeben haben?
Also, die entscheidende Veränderung liegt darin, daß wir durch den großen Erfolg bei der Brechung der Inflation, durch die Wiederherstellung von Preisstabilität die heimlichen Steuererhöhungen weitgehend eliminiert haben, Herr Kollege Spöri.
— Ich bin ja noch gar nicht fertig. Richten Sie sich doch langsam einmal auf die Weihnachtszeit ein und seien Sie bei der Erörterung ernster Fragen ein bißchen gelassener! — Ich habe, da ich mit dieser Frage gerechnet habe, die letzte amtliche Statistik über die Entwicklung der Steuer- und Abgabenquote noch einmal zur Hand genommen; denn die Frage wird ja zu Recht gestellt. In der kassenmäßigen Abgrenzung — und sie ist die aussagekräftige — hatten wir 1982 eine Steuerquote von 23,7 %. Sie beträgt 1986 23,1 % und wird für 1987 — diese Prognose ist etwas unsicher — auf 23% geschätzt. Die Abgabenquote betrug 1982 40,2%, 1986 39,1 %.
Sie müssen also Ihre Zahlen noch einmal überprüfen. Ich sage das nur für weitere Diskussionen, ohne näher darauf einzugehen. Aber, Herr Kollege Spöri, entschuldigen Sie: Der Marsch in den Lohnsteuerstaat, den Sie hier beklagt haben,
hat in den 70er Jahren mit erschreckend hohen Inflationsraten begonnen;
nur, damit wir uns darüber einig sind.
Ohne daß ich hier jetzt von „Steuerlügen" und Ihren ähnlichen Sprüchen rede — das wird Ihnen im Wahlkampf alles nichts mehr helfen —, möchte ich doch noch einmal auf fundamentale Unklarheiten in Ihrer eigenen Position hinweisen. Ich habe heute morgen ein lesenswertes Interview des Kollegen Hans Apel in der „Frankfurter Neuen Presse" mit großem Interesse kurz zur Kenntnis nehmen können. Das ist aus allgemeinpolitischen Gründen sehr interessant, und das, was da zur Steuerpolitik steht, ist doch erstaunlich. Herr Kollege Apel sagt in diesem Interview — ich zitiere das —: „Wir lehnen Verbrauchssteuer- und Mehrwertsteuererhöhungen zur Finanzierung von Lohn- und Einkommensteuersenkungen ab ..." Dann kommt die Fra-
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Bundesminister Dr. Stoltenberg
ge: „... auch die Mineralölsteuer?" Darauf antwortet Herr Kollege Apel: „Auch die Mineralölsteuer."
Etwas weiter entwickelt er dann die Initiative der SPD und sagt — ich zitiere das korrekt —: „Drittens haben wir das Programm Arbeit und Umwelt. Das kostet zweieinhalb Pfennig auf jeden Liter Sprit ... ''
Der Interviewer: „... also doch Mineralölsteuer?" Herr Kollege Apel antwortet: „Nun gut."
Also, meine Damen und Herren, Sie haben noch einen gewissen Klärungsbedarf hinsichtlich eigener elementarer Vorstellungen, um das hier nur zu sagen.
Aber ich komme jetzt wieder zur Sache: Nein, Herr Kollege Spöri, der wirklich entscheidende Punkt für die ernsthafte Auseinandersetzung ist folgender. Wenn Sie an dieser Position „keine Verringerung der Steuerquote" festhalten — und das tun Sie nach Herrn Rau —, dann versperren Sie sich den Zugang zu einer Neuordnung, die wirklich reformerisch ist und alle Berufstätigen dauerhaft entlastet. Das ist der, glaube ich, wichtigste Sachverhalt. Sie haben heute ja wieder jede Steuersenkung für Unternehmen abgelehnt. Sie wollen die bereits beschlossenen Maßnahmen im Bereich der Unternehmensbesteuerung rückgängig machen und die Betriebe sogar mit einem Zuschlag zur Einkommen- und Körperschaftsteuer stärker belasten. Ich muß Ihnen sagen, auch unter dem Eindruck Ihrer Rede hier: Sie haben den Zusammenhang zwischen steuerlichen Rahmenbedingungen, privaten Investitionsentscheidungen und Arbeitsmarktentwicklung bis heute nicht zur Kenntnis genommen, und das ist wirklich beklagenswert.
Damit stellen Sie sich, Herr Spöri — in Wendungen, die ich hier gar nicht näher qualifiziere; was soll's, das hilft Ihnen in den letzten fünf Wochen auch nichts mehr —, auch in einen Gegensatz zu den Entscheidungen und Programmen anderer sozialistischer Parteien von Schweden bis Österreich. Ich habe hier in der Haushaltsdebatte die Aussagen des österreichischen sozialistischen Bundeskanzlers Franz Vranitzky zur Körperschaftsteuer zitiert; ich brauche sie nicht zu wiederholen.
Ich habe das vorgetragen, was er für die Sozialistische Partei Österreichs vor der Wahl hinsichtlich einer drastischen Verringerung der Körperschaftsteuer angekündigt hat. Die Begründung ist sehr interessant. Ich empfehle Ihnen, einmal die Reden zum Thema Unternehmenssteuern eines anderen von mir hoch respektierten sozialdemokratischen
Politikers zu lesen, meines schwedischen Kollegen Kjell-Olof Feldt, mit dem ich darüber mehrmals einen Meinungsaustausch hatte. Diese sozialdemokratischen, sozialistischen Politiker erkennen diesen Zusammenhang, von dem ich gesprochen habe. Für sie gibt es kein Tabu in ihrer wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Strategie, Unternehmenssteuern zu senken. Solange Sie den Zusammenhang nicht erkennen, sind Sie völlig unfähig, die Bundesrepublik Deutschland zu regieren.
— Gern, Herr Kollege Apel, weil ich Sie zitiert habe. Bitte sehr.
Darauf komme ich nicht zurück. Man kann immer aus dem Zusammenhang Gerissenes zitieren. Ich habe eine andere Frage, Herr Kollege.
— Sicher! Natürlich! Lesen Sie doch das Interview durch; dann werden Sie sehen, wie man das so macht. Im übrigen machen Sie das doch auch, und auch ich, wenn ich da vorn stehe. Was soll denn das?
Kommen wir zum Thema zurück. Herr Kollege Stoltenberg, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Sozialdemokraten daran interessiert sind, daß Unternehmen Gewinne machen, daß Unternehmen deswegen auch investieren können und deshalb auch neue Arbeitsplätze schaffen können? Aber sind Sie auch bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß eine solche Steuerpolitik nur dann funktioniert, wenn Sie gleichzeitig für den Absatz der Produkte sorgen, d. h. die Massenkaufkraft stärken? Und sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das Ihre Steuerpolitik allerdings nicht leistet?
Das ist eine ganz andere Fragestellung; aber eine wichtige. Ich glaube durchaus, daß die Wirtschafts-, die Finanz- und auch die Steuerpolitik beide Seiten sehen muß: die Stärkung der Angebotsseite und die Beachtung einer angemessenen positiven Nachfrageentwicklung. Beides gehört zusammen. Karl Schiller, den wir j a beide auch aus der Zeit seiner Regierungsverantwortung sehr gut kennen, Herr Apel, hat immer von „policy mix" gesprochen. Hier geht es doch nicht um Schwarz oder Weiß, sondern um eine Kombination einer angebotsorientierten Politik unter Beachtung des Nachfragesektors. Aber gerade in diesem Jahr haben wir ja nicht nur durch externe Umstände, die uns geholfen haben, sondern auch gefördert durch unsere Politik eine gesteigerte private Nachfrage der Arbeitnehmer und der Rentner, die außerordentlich erfreulich ist und die wir begrüßen.
Insofern haben wir hier nicht den Gegensatz wie in der Frage der Steuerreform bei den Unternehmenssteuern.
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Bundesminister Dr. Stoltenberg
Herr Kollege Spöri, mit der Großen Anfrage zur internationalen Steuerflucht und vor allem durch Ihre Ausführungen dazu wird ein Sachverhalt dramatisiert, der zweifellos unsere Aufmerksamkeit erfordert, der aber auch mit Augenmaß behandelt werden muß. Sie verkennen die Tatsache, daß gerade die Bundesrepublik Deutschland auch in diesem Bereich international auf Offenheit und Vertrauen angewiesen ist. In der Kontinuität der Regierung — hier hat sich j a gegenüber Ihrer Amtszeit nichts Grundlegendes geändert — sind wir dabei, mit einer wachsenden Zahl von Staaten Doppelbesteuerungsabkommen abzuschließen. Die Zahl nimmt zu. Wir haben jetzt über 80. Es gibt in einigen Fällen auch die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung und Korrektur. Diese Doppelbesteuerungsabkommen haben die erforderlichen Regelungen gewährleistet, die gegen Steuerkriminalität oder rechtswidrige Steuerflucht notwendig sind.
Vor diesem Hintergrund nehme ich das Votum der Mehrheit des Finanzausschusses ernst, daß es bei der ausgehandelten OECD-Konvention einige Bedenken gibt, die wir noch einmal sorgfältig prüfen wollen. Es kann überhaupt keine Rede davon sein, daß mir irgend etwas untersagt ist. Wenn ich davon überzeugt wäre, daß sie in der jetzigen Form ausgereift ist, hätte ich natürlich die Verantwortung für eine Unterzeichnung übernommen. Nur, die Argumente haben mich beeindruckt. Es kann doch gar nicht davon die Rede sein, daß hier etwas verboten worden ist.
Um zur Sache zurückzukommen. Für die Bundesregierung ist das Kernstück der Reform eine nachhaltige Tarifsenkung bei der Lohn- und Einkommensteuer. Wir wollen den Staatsanteil und die Steuerquote weiter zurückführen.
Sie kündigen zwar Steuersenkungen für kleine Einkommen an, aber bei genauer Prüfung Ihrer Beschlüsse stößt man in erster Linie auf Steuer- und Abgabenerhöhungen — Herr Spöri, das haben Sie heute nicht erwähnt —: Ergänzungsabgabe für die sogenannten Besserverdienenden, Revitalisierung der Gewerbesteuer, Wertschöpfungssteuer, Einschränkung des Ehegattensplittings, Abschaffung der Kinderfreibeträge, Energieabgaben; darauf bezog sich ja wohl die Bemerkung des Herrn Kollegen Apel.
Das haben Sie heute hier unterschlagen, weil das nicht ein sehr attraktives Programm ist, vor allem nicht für die Arbeitnehmer.
Herr Rau hat angekündigt, er wolle die ab Anfang 1988 vorgesehene Abflachung der Steuerprogression rückgängig machen; das ist angeblich sozial.
Dabei wird zunächst einmal völlig unterschlagen, daß beide Stufen des Steuersenkungsgesetzes
1986/88 eine in sich abgestimmte Einheit bilden und
daß mit dem ersten Teil dieses Gesetzes vor allem die Bezieher niedriger Einkommen und Familien mit Kindern schon zu Anfang dieses Jahres entlastet wurden. Sie wollen also die sogenannten Besserverdienenden stärker belasten. In Wahrheit bedeutet aber die vorgesehene Zusatzbelastung für Besserverdienende, daß bereits die Facharbeitereinkommen nach Ihren Plänen höher besteuert werden als nach dem von uns verabschiedeten Steuersenkungsgesetz.
Daß Sie sich, meine Damen und Herren von der SPD, von kurzfristigen Umverteilungsargumenten leiten lassen, ist nichts Neues. Das eigentlich Bestürzende ist die Kurzsichtigkeit dieser Betrachtung; denn Ihre Pläne bedeuten eine weitere Verschärfung der Steuerprogression. Wer sagt: Wir wollen die Progression unten abbauen und oben verschärfen, der bekommt eine steile Kurve, die bereits die Facharbeiter in einer unerträglichen Weise belastet. Wir haben deshalb vor zwei Wochen einmal die Berechnungen vorgelegt. Es ist interessant, daß Sie zu diesen Berechnungen überhaupt nicht Stellung genommen haben, weil Sie sie nicht bezweifeln können. Der jetzige Tarif ist zu steil, und Sie wollen ihn weiter verschärfen. Bereits bei Facharbeitern, Angestellten, Beamten und Selbständigen in vergleichbaren Einkommensgruppen wird heute jede zusätzlich verdiente Mark mit 40, 50 oder gar 60% an Steuern und Abgaben belastet, es ist wahr — in der Analyse sind wir uns ja einig, wenn ich mich auf einige Ihrer Sätze beziehen kann —, daß weite Teile der Berufstätigen mittlerweile in einer Form progressiv besteuert werden, an die bei der Einführung eines solchen Progressionssystems niemand gedacht hat. Bei einer solchen Entwicklung darf man sich auch nicht wundern, wenn bei vielen Menschen mehr und mehr die Frage nach der Anerkennung von Mehrleistung, beruflichem Engagement, Risikobereitschaft oder auch nach dem Ertrag aus Tarifverträgen gestellt wird.
Sie vergessen, meine Damen und Herren von der SPD, daß die von Ihnen geforderte Ergänzungsabgabe durch die inflationären Belastungen vor allem der 70er Jahre und das damit verbundene weitere Hineinwachsen auch der mittleren Einkommen in die Progressionszone praktisch schon verwirklicht ist. Die mittleren Einkommen zahlen heute gemessen an der Kaufkraft des Jahres 1960 bis zu 25 % mehr Steuern, als Sie nach den damaligen Verhältnissen hätten zahlen müssen. Insofern ist die Behauptung, wir beabsichtigten eine Umverteilung von unten nach oben, ein wahltaktisches Märchen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie weitere Zwischenfragen?
Ja, gerne. Noch eine.
Bitte sehr, Herr Spöri.
Herr Bundesfinanzminister, Sie sprechen im Zusammenhang mit der geplanten Ergänzungsabgabe von mittleren Einkommen. Darf
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Dr. Spöri
ich Sie daran erinnern, daß eine derartige Ergänzungsabgabe von Ihrer eigenen Partei, vom Herrn Bundeskanzler im letzten Wahlkampf angekündigt worden ist? Darf ich Sie darauf hinweisen, daß diese Ergänzungsabgabe nur 4 % der Steuerpflichtigen trifft, genau die Spitzeneinkommensbezieher, die bisher kein Solidaropfer geleistet haben im Gegensatz zur Mehrheit der Arbeitnehmer, der Rentner und der Behinderten sowie der Schüler und Studenten, die 60 Milliarden DM Solidaropfer für Ihren Haushalt bringen mußten?
Also die Zahl bestreite ich. Aber ich will mich jetzt mit Ihnen nicht über Zahlen, sondern über den Kern Ihrer Frage auseinandersetzen. Es ging mir darum, an dieser Stelle deutlich zu machen, daß wir in Wahrheit durch die Progressionswirkung eine vom Gesetzgeber niemals beabsichtigte Belastung der mittleren und gehobenen Einkommen haben. Das ist eine analytische Feststellung, die man ernsthaft nicht bestreiten kann. Deshalb ist diese Behandlung der Steuerpolitik und der Steuerreform in dem etwas primitiven Klischee „Die da unten und die da oben" — so lautet der Buchtitel eines von mir nicht besonders geschätzten Schriftstellers — einfach nicht sachgerecht. Sie wird den arbeitenden Menschen nicht gerecht. Deshalb, Herr Kollege Spöri, kann ich Ihren Wertungen überhaupt nicht zustimmen.
Meine Damen und Herren, Umverteilung von unten nach oben: Das Wort von der „neuen Armut" haben Sie im Wahlkampf bereits aus dem Verkehr gezogen, auch Herr Rau heute nach Herrn Schöfberger. Das Wort von der Umverteilung von unten nach oben sollten Sie ebenfalls aus dem Verkehr ziehen, wenn Sie bis zum 25. Januar noch etwas Profil gewinnen wollen.
Ein lediger Chemiearbeiter mit einem Durchschnittsverdienst von 50 632 DM müßte nach Ihren Forderungen 1988 jährlich 193 DM, ein Automobilarbeiter mit einem Durchschnittseinkommen von 52 273 DM 282 DM mehr Steuern entrichten als nach unserem Gesetzesbeschluß. Aber selbst da, wo es nach Ihren Vorstellungen anfänglich zu einer gewissen Entlastung kommt, würde sie durch den wesentlich steileren Tarifanstieg in kurzer Zeit wieder zunichte gemacht. Wir haben einmal durchgerechnet: Ein durchschnittlich verdienender lediger Bergarbeiter mit einem Einkommen von 47 052 DM würde zwar bei einer unterstellten Lohnsteigerung von jährlich knapp 4% 1988 gegenüber dem geltenden Recht um jährlich 6 DM entlastet. Aber zwei Jahre später hätte er bei dieser unterstellten Lohnentwicklung bereits 190 DM mehr an Lohnsteuern zu zahlen.
Wir müssen die Wirkung von Steuerentscheidungen nicht nur aus der aktuellen Momentaufnahme im Entstehungsjahr betrachten, sondern in der längerfristigen Perspektive einer dynamischen Einkommensentwicklung. Das haben Sie in Ihren ganzen Betrachtungen bis heute nicht erkannt.
Wir wollen die arbeitenden Menschen so entlasten, daß sie im Gegensatz zu Ihren Plänen nicht nur heute, sondern auch morgen und übermorgen mehr von ihrem Bruttoeinkommen haben. Deswegen muß vor allem der Progressionsanstieg weiter zurückgenommen werden. Dieses Ziel wird durch einen Einkommensteuertarif mit einer sanft und gleichmäßig ansteigenden Progressionsentwicklung am besten erreicht.
Die Tarifreform soll mit einer weiteren Aufstokkung des Grundfreibetrages verbunden werden, der vor allem den Beziehern niedriger Einkommen in der unteren Proportionalzone zugute kommt. Außerdem wollen wir die Kinderfreibeträge weiter erhöhen, weil es ein Gebot der Gerechtigkeit ist, daß Eltern mit Kindern steuerlich weniger belastet sind als Ledige oder Ehepaare ohne Kinder.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem sehr lesenswerten Urteil vom 3. November 1982 ausgeführt, aus dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ergebe sich, daß die wirtschaftliche Belastung durch Kinder auch steuerlich zu berücksichtigen sei.
Trotzdem verlangen Sie die Streichung des steuerlichen Kinderfreibetrages. Sie gehen sogar so weit, daß einige von Ihnen außerhalb dieses Hauses Kinderfreibeträge als unsozial, unchristlich und ungerecht bezeichnen. Ich finde das eine ziemlich schlimme Entgleisung.
— Wenn Sie da klatschen, Herr Kollege, will ich Sie einmal daran erinnern, daß Sie in Ihrem vorletzten Regierungsjahr mit der damaligen Mehrheit eine Klarstellung oder Erweiterung im Steuergesetz veranlaßt haben, wonach auch bestimmte Aufwendungen für den Traberrennsport steuerlich abzugsfähig sind. Darüber will ich mich gar nicht inhaltlich unterhalten. Daß Sie der steuerlichen Förderungsfähigkeit bei bestimmten Spenden beim Traberrennsport zugestimmt haben, aber sagen, beim Kindergeld sei es nicht vertretbar oder sogar unchristlich, nach der Bemessungsgrundlage Freibeträge einzuräumen, diese Logik können Sie nicht einmal Ihren eigenen Stammanhängern länger erklären.
— Herr Kollege Apel, darf ich im Interesse der Kollegen, die noch reden wollen, fortfahren? Ich bitte um Entschuldigung.
In der Kombination von steuerlichen Kinderfreibeträgen und einem nach Einkommen abgestuften Kindergeld erzielen wir familienfreundlichere Wirkungen als die SPD mit ihren Vorschlägen. Bei einer weiteren Anhebung der Kinderfreibeträge wird der Kindergeldzuschlag parallel für die untersten Einkommensgruppen zu erhöhen sein. Das ist selbstverständlich und liegt in der Logik des Systems.
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Bundesminister Dr. Stoltenberg
Wenn man sich für eine progressiv ausgestaltete Einkommensteuer entschieden hat, muß man auch bereit sein, die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu tragen: Zunehmende Leistungsfähigkeit heißt zunehmende Besteuerung. Umgekehrt heißt abnehmende Leistungsfähigkeit auch abnehmende Besteuerung. Das ist die Logik des ganzen Progressionssystems, die sich in Freibeträgen niederschlägt.
Das Einkommensteuerrecht kennt darüber hinaus noch zahlreiche andere Abzugsmöglichkeiten, die von der steuerlichen Bemessungsgrundlage ausgehen. Sie sind von der SPD während ihrer Regierungszeit auch niemals in Frage gestellt worden.
Die neue Dynamik bei den Unternehmensinvestitionen und die Zunahme der Beschäftigtenzahlen haben bestätigt, daß erste von uns beschlossene Steuerentlastungen zur Stärkung der Eigenkapitalbasis und Investitionsfähigkeit der Unternehmen in den zurückliegenden Jahren richtig waren. Wenn wir zu einer Stabilisierung in der Bauwirtschaft gekommen sind, wenn die Zahlen dort zum erstenmal seit 1979 wieder nach oben weisen, wenn der Abbau der Beschäftigung dort Gott sei Dank gestoppt werden konnte, hat auch die von uns gegen Ihren Widerstand durchgesetzte Verbesserung der Abschreibungsbedingungen für Wirtschaftsgebäude einen erheblichen Anteil daran.
Das ist, wie ich glaube, ein eindrucksvolles Beispiel, das unsere Entscheidung begründet.
Meine Damen und Herren, in der Bundesrepublik Deutschland haben neun von zehn Unternehmen die Rechtsform von Einzelunternehmen oder Personengesellschaften. Die Einkommensteuer ist daher nach der Zahl der betroffenen Selbständigen die mit Abstand wichtigste Unternehmenssteuer. Die Einführung des sanft ansteigenden linear-progressiven Tarifs wird deswegen insbesondere die mittelständischen Betriebe spürbar entlasten und ihre Eigenkapitalausstattung stärken. Ziel ist ferner eine zusätzliche Mittelstandskomponente zugunsten der kleinen Betriebe.
Bei den sogenannten spezifischen Unternehmenssteuern wird es um die Absenkung des Körperschaftsteuersatzes für einbehaltene Gewinne sowie die Abschaffung der Gesellschafts- und Börsenumsatzsteuer gehen. Wir prüfen weitere Verbesserungen bei der steuerlichen Behandlung des Betriebsvermögens.
Eine wirtschaftlich vernünftige Steuerbelastung der unternehmerischen Tätigkeit sollte unmittelbar durch niedrigere Steuersätze erreicht werden. Sicher werden Abschreibungsvergünstigungen, Investitionsprämien, Investitionsrücklagen oder ähnliche Mittel zur gezielten Investitionsförderung im Einzelfall auch in Zukunft sinnvoll sein, aber das Überhandnehmen derartiger Sondertatbestände — das zeigt eine kritische Analyse unseres heutigen Steuerrechts — kann auch zu schwerwiegenden Verwerfungen führen und steuerbedingte Fehlinvestitionen hervorrufen. Im übrigen haben solche steuerlichen Sondervergünstigungen natürlich eine weitere Komplizierung des Steuerrechts und damit neue bürokratische Erschwernisse bewirkt.
Wir sollten deshalb den auch ordnungspolitisch einwandfreien Weg einer allgemeinen Senkung der Steuertarife und einer Erweiterung der Bemessungsgrundlage als Leitlinie wählen. Die Struktur der Bemessungsgrundlagen hat für ein einfaches und gerechteres Steuersystem eine zentrale Bedeutung; einer der wenigen Sätze, bei denen ich auch in Übereinstimmung mit der Rede von Herrn Spöri bin. Ihre grundlegende Bereinigung und Verbreiterung ist deswegen ein wichtiges eigenständiges Ziel der Steuerpolitik. So können wir zugleich den Entlastungsrahmen bei den Tarifen erweitern, ohne die Neuverschuldung in unvertretbarer Weise ansteigen zu lassen.
Die Komplizierung unseres Steuerrechts, die ursprünglich ein Ausdruck des Bemühens um mehr Gerechtigkeit war, ruft inzwischen ganz offensichtlich neue und schwerwiegende Ungerechtigkeiten hervor. Hier, nicht in vielen anderen Punkten, Herr Spöri, ist sicher eine Parallele im Ansatz unserer Konzeption zu der von Ihnen erwähnten amerikanischen Steuerreform gegeben. Es gibt im Detail zu viele Unterschiede. Ein ganz entscheidender Unterschied ist, daß die Steuerquote in Amerika ungleich niedriger ist als bei uns.
Es geht also darum, unserem Steuersystem ein wirklich neues Profil zu geben. Je erfolgreicher unsere Bemühungen sind, nicht mehr begründbare steuerliche Sonderregelungen zu beseitigen, um so weiter kommen wir nicht nur auf unserem Weg zu niedrigeren Steuersätzen, sondern auch auf dem Weg zur Steuervereinfachung voran.
Herr Spöri, in meinem Denken ist also eine Konzeption vorstellbar, nach der wir einen Entlastungsrahmen von rund 40 Milliarden DM erreichen.
— Wenn ich sage: rund 40 Milliarden DM, dann schließe ich nicht aus, daß er etwas höher ist. Sie können mich da schon verschiedentlich in dieser Stellungnahme zitieren.
— Gut, das ist eine Variante, über die man natürlich reden muß. Ich sage: rund 40 Milliarden DM; das schließt einen etwas höheren Rahmen nicht aus.
Die tatsächliche Entlastung muß deutlich oberhalb der 20 Milliarden DM liegen, die wir in dieser Wahlperiode erzielen konnten. Aber die endgültige Feinabstimmung ist nicht nur ein Thema der Koalitionsparteien und der Bundesregierung, sie ist ein Thema der Länder. Wir leben in einem Bundesstaat. Wir müssen hier den Abstimmungsvorgang so vornehmen, daß wir eine Mehrheit im Bundesrat haben. Bei den SPD-Ländern werden wir sie nicht finden.
20032 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986
Bundesminister Dr. Stoltenberg
Wir werden mit den unionsgeführten Ländern — die Länder, in denen wir Koalitionen haben, will ich nicht unerwähnt lassen, Herr Kollege Solms — reden müssen.
Es ist möglich, mit einem entscheidenden Schritt eine Erweiterung der Bemessungsgrundlagen und den Abbau von Steuersubventionen herbeizuführen, denn wenn wir diesen Tarif verwirklichen, gibt es Steuersubventionen, die nicht mehr begründbar sind, die allenfalls begründbar waren bei dem jetzigen, wesentlich schlechteren Tarifverlauf. Auf dieser Grundlage ist es möglich — das will ich nur zu Ihren Unterstellungen sagen —, ein Konzept ohne Mehrwertsteuererhöhung zu entwickeln. Allerdings muß man dann auch konsequent den anderen Weg gehen. Das ist klar. Es ist meine Vorstellung, diesen anderen Weg zu gehen.
Und mit derselben Offenheit sage ich aber auch — ich habe das zweimal, dreimal gesagt; das hat auch der eine oder andere Kollege in der Koalition, leicht distanziert, kommentiert —: Wenn in diesem Gesamtkonzept zum Schluß eine begrenzte Korrektur bei der einen oder anderen Verbrauchsteuer nötig ist — z. B. bei der Tabaksteuer, die auch Herr Kollege Apel mit mir erwähnen könnte, weil wir selbst davon betroffen wären —, ist das für mich kein Tabu. Aber je weiter wir beim Subventionsabbau kommen, desto weniger brauchen wir darüber zu reden. Das will ich nur sagen.
Herr Kollege Spöri, damit Sie uns da nicht falsch verstehen: Daß der Abbau von Steuersubventionen und Sonderregelungen soziologisch gesehen alle Gruppen umfassen muß, ist doch eine bare Selbstverständlichkeit. Halten Sie uns doch nicht für Toren. Wir sind doch nicht die Lobbyisten des Großkapitals. Wir sind eine Volkspartei, die an alle Steuerzahler denkt, wenn sie eine Steuerreform macht.
Das werden Sie in der Hamburger Wahlanalyse, in der bayerischen Wahlanalyse feststellen können. Und über Wahlanalysen nach dem 25. Januar 1987 reden wir im nächsten Jahr. Das wollen wir jetzt gar nicht vorwegnehmen.
Ich nehme nur die beiden letzten Wahlen.
Es ist doch vollkommen klar, daß wir eine Volkspartei sind,
daß wir eine Koalition sind, die versucht, alle soziologischen Gruppen unseres Volkes in dieser Diskussion fair zu vertreten.
— Nachdem Sie uns mit soviel Emphase Ihre klassenkämpferischen Parolen entgegengeschleudert
haben, muß ich das in diesem Zusammenhang ja auch noch einmal klarstellen.
Es ist fast überflüssig zu sagen, daß es dazu einer sorgfältigen und ins einzelne gehenden Vorbereitung bedarf. Eine Vielzahl steuerrechtlicher und steuerpolitischer Einzelfragen muß noch geprüft werden. Deswegen haben wir auch in den Antworten auf die Fragen der SPD nach den Einzelheiten darauf hingewiesen, daß es unrealistisch wäre, heute schon jedes Detail — auch das exakte Inkrafttreten, die genaue Aufteilung der Maßnahmen, der Entlastungen der verschiedenen Gruppen — festlegen zu wollen. Das ist nicht unser Anspruch. Aber wir wissen, welche Prioritäten zu meistern sind.
Bundesregierung und Koalition haben in zentralen Punkten auch mit der Mehrheit des Bundesrates ein Einvernehmen erzielt. Die fachliche Vorbereitung für die im nächsten Jahr zu treffenden Einzelentscheidungen erfolgt intensiv.
Die öffentliche Unterstützung für eine Steuerreform nach den hier genannten Grundsätzen ist stärker als in der Vergangenheit. Sie wird uns dahin bringen, daß wir unser Ziel erreichen.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogel .
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Weihnachtszeit und Wahlkampfzeit — welcher Zeitpunkt könnte mehr verlocken, Steuergeschenke zu versprechen? Und zu welchem Zeitpunkt ist die Unzufriedenheit, die Verärgerung der Arbeitnehmer über die Abgabenbelastung höher als in der Weihnachtszeit, wenn sie ihre Abrechnungszettel vom Weihnachtsgeld bekommen?
Beim Durchschnittsverdienst — das sind beim Arbeitnehmer in diesem Jahr 37 154 DM brutto — bleibt vom Weihnachtsgeld eines Ledigen nur die Hälfte — exakt 51 % — übrig. Das ist eine Rekordbelastung des Weihnachtsgeldes. Diese Rekordbelastung resultiert nicht allein aus der Steuerprogression des Steuertarifs, sondern ist ganz wesentlich dadurch verursacht, daß diese Bundesregierung als eine ihrer ersten Maßnahmen die Sozialversicherungspflicht des Weihnachtsgeldes eingeführt hat. Diese erhöhte Belastung des Weihnachtsgeldes hebt bei den meisten Arbeitnehmern die Steuersenkung durch das Steuersenkungsgesetz mehr als auf.
Beim Arbeitnehmer mit Durchschnittseinkommen steht einem Mehr von 56,40 DM aus der Steuersenkung ein Weniger von 500 DM bei den Sozialabgaben gegenüber. Ich hoffe, daß die Arbeitnehmer das über die Schalmeienklänge der Koalitionsfraktionen zu einer Superriesensteuerreform nicht vergessen werden.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986 20033
Vogel
Im Wahlkampf wird Steuerpolitik betrieben oder versprochen mit Blick auf die Wähler. Jede Partei verspricht, ihre Klientel am besten zu bedienen.
— Herr Spöri, seien Sie bitte ruhig.
Da wundert es nicht, daß für diejenigen, die nicht wählen dürfen, unterm Strich keine Entlastung herauskommt, sondern im Gegenteil eine höhere Belastung. Ich spreche von den ausländischen Arbeitnehmern in der Bundesrepublik.
Für sehr, sehr viele von ihnen hat sich das Steuersenkungsgesetz als Steuererhöhungsgesetz erwiesen. Seit dem 1. Januar 1986 wird ein Kinderfreibetrag nämlich nur noch für Kinder gewährt, die ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort in der Bundesrepublik haben. Die Folge: 375 000 im Ausland lebende Kinder ausländischer Arbeitnehmer werden nicht mehr auf der Steuerkarte berücksichtigt. Für 150 000 ausländische Arbeitnehmer entfällt darüber hinaus der Haushaltsfreibetrag, den sie bisher erhielten, wenn der Ehegatte und die Kinder im Ausland lebten.
Unterhaltsleistungen für im Ausland lebende Kinder können jetzt nur noch im Rahmen der außergewöhnlichen Belastungen abgesetzt werden und damit erst im Lohnsteuerjahresausgleich. Diese Möglichkeit wiegt aber den Wegfall der Freibeträge nicht auf. Ein türkischer Arbeitnehmer, dessen Frau und minderjähriges Kind in der Türkei leben, mußte in diesem Jahr trotz der Tarifänderung, die j a eine allgemeine Senkung bedeutete, über 700 DM mehr an Steuern zahlen als im letzten Jahr.
Diese Ungleichbehandlung hat jedoch noch weitere Folgen im Sozialrecht. Z. B. werden keine Kindergeldzuschläge für im Ausland lebende Kinder gezahlt. Wenn also ein ausländischer Vater, der hier arbeitet, ein geringeres Einkommen hat oder erwerbslos ist und eben keine außergewöhnlichen Belastungen steuerlich geltend gemacht werden können, dann erhält er den Kindergeldzuschlag, der einen Ausgleich darstellen soll, eben nicht. Außerdem wird er seit dem Steuersenkungsgesetz in eine niedrigere Leistungsgruppe beim Arbeitslosengeld eingestuft. Wenn er vorher ein Durchschnittseinkommen bezog, sind das immerhin 60 DM weniger Arbeitslosengeld pro Monat, die er aufgrund der „familienfreundlichen" Komponente des Steuersenkungsgesetzes bei Arbeitslosigkeit erhält. Familienfreundlichkeit gilt bei dieser Regierung offensichtlich nur für diejenigen, die auf der richtigen Seite der Grenze geboren wurden. Verschlechterungen haben sich für die ausländischen Arbeitnehmer aber auch beim Unterhaltsgeld, Kurzarbeitergeld, Schlechtwettergeld, Krankengeld, die Reihe ließe sich noch fortsetzen.
Die Europa-Kommission stellt hierzu in dem hier vorliegenden 10. Bericht zur einkommen- und lohnsteuerrechtlichen Behandlung nichtansässiger Arbeitnehmer fest, daß in der Bundesrepublik eine Benachteiligung ausländischer Arbeitnehmer vorliegt, daß diese Benachteiligung eine Diskriminierung darstellt und daß damit die Bundesrepublik Deutschland gegen Gemeinschaftsrecht verstößt. Die Europa-Kommission empfiehlt daher dem Bundestag, die Bundesregierung aufzufordern, die Benachteiligung in der Steuergesetzgebung von Bürgern der EG-Staaten, die in der Bundesrepublik arbeiten, zu beseitigen. Wir meinen: auch von anderen Bürgern, die in der Bundesrepublik arbeiten, nicht nur von Bürgern der EG-Staaten.
Mit dem Steuersenkungsgesetz ist diese Benachteiligung ausgeweitet worden. Wir fordern in unserem Antrag, wenigstens diese neue Benachteiligung rückgängig zu machen. Es wäre erfreulich, wenn zumindest auch die SPD den Antrag unterstützen würde und sich nicht weiter auf den Standpunkt stellte, weil sie Kinderfreibeträge — wie übrigens auch wir — grundsätzlich ablehnt, die Benachteiligung ausländischer Arbeitnehmer bei den Kinderfreibeträgen zu befürworten. Also, vielleicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, überlegen Sie sich, unserem Antrag zuzustimmen.
Die Bundesregierung hat jedoch nicht nur diese Maßnahmen getätigt, um die Steuerbelastung ungerechter zu machen; sie hat insgesamt das Tempo des Marsches in den Lohnsteuerstaat stark beschleunigt. Mit dem Haushaltsbegleitgesetz, dem Steuerentlastungsgesetz 1984, dem Stahlinvestitionszulagen-Änderungsgesetz, der Änderung der Umsatzsteuerpauschale für die Landwirte, dem Steuerbereinigungsgesetz 1985 und 1986 und nicht zuletzt mit der Änderung der Abschreibungsbedingungen für Wirtschaftsgebäude hat sie der Wirtschaft seit der Wende bis heute mindestens 28 Milliarden DM Entlastung gebracht. Ende 1987 werden es 40 Milliarden DM Entlastung sein, die die Wirtschaft von der Wende-Regierung geschenkt bekommen hat. Da können wir uns alle sicher sein, daß sich die Wirtschaft diese Regierung gleichfalls etwas kosten lassen wird, zumal ja ihre Spenden steuermindernd und politisch lenkend eingesetzt werden können.
Maßnahmen zur gerechten Verteilung der Steuerlasten werden aber selbst dann von den Koalitionsparteien verweigert, wenn sie vom Bundesrechnungshof angefordert und angemahnt werden. Ich spreche von der Besteuerung der Zinseinkünfte. Im Gegensatz zu Arbeitnehmereinkommen, auch im Gegensatz zu Dividenden müssen, oder besser gesagt: müßten Zinseinkommen vom Einkommensempfänger dem Finanzamt gemeldet werden. Tatsächlich liegt die Erklärungsquote aber nur bei 20%. Das heißt: Nur jede fünfte Mark wird dem Finanzamt gemeldet. Der Bundesrechnungshof sieht darin einen Verstoß gegen geltendes Steuer-
20034 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986
Vogel
recht. Die Regierung aber stellt sich auf den Standpunkt, das sei alles gar nicht so, wie der Rechnungshof dies behaupte, und der Steuerausfall sei nur gering, übrigens im merkwürdigen Kontrast zur Außerung des Staatssekretärs Häfele, der noch 1983 hier von einem Ausfall von 7 Milliarden DM gesprochen hat. Dies soll nun alles plötzlich nicht mehr wahr sein. Obwohl ein Steuerausfall plötzlich bestritten wird, steht wiederum im Bericht des Finanzministers zu lesen, daß eine steuerliche Erfassung von Zinseinkommen binnen- und außenwirtschaftliche Effekte haben und das Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigen könnte. Das möchte ich betonen: Der Verstoß gegen geltendes Recht wird hier als Mittel der Wirtschaftspolitik eingesetzt.
Im Umweltbereich kennen wir das ja schon lange, im Steuerbereich wird es jedoch selten so klar geäußert. Daß der Verstoß gegen geltendes Steuerrecht hingenommen wird, steht auch explizit in dem Bericht des Finanzausschusses zu dem Entschließungsantrag der SPD. Kontrollmitteilungen und Quellenbesteuerung werden abgelehnt, weil es Instrumente zur — Zitat — „lückenlosen Durchsetzung der Zinsbesteuerung" wären. Die Durchsetzung bestehenden Rechts wird hier ausdrücklich abgelehnt.
Da die Mehrheit dieses Hauses Kontrollmitteilungen und Quellenbesteuerungen ablehnt, stellen wir heute den Antrag, wenigstens den Bankenerlaß aufzuheben. Nach dem Bankenerlaß, einer Verwaltungsanweisung des Finanzministers, werden die Finanzbehörden daran gehindert, die Möglichkeiten zur Sachaufklärung auszuschöpfen. Beispielsweise dürfen die Finanzämter bei einer Betriebsprüfung bei Banken keine Kontrollmitteilungen über die Höhe von Zinsgutschriften anfertigen. Nach Auffassung des Bundesrechnungshofs trägt der Bankenerlaß dazu bei, daß die Einkünfte aus Kapitalvermögen nicht gesetzmäßig und gleichmäßig besteuert werden. Deshalb fordern wir, nicht als bestes Mittel, sondern nur als ersten Minimalschritt, den Bankenerlaß aufzuheben.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auf die Ergebnisse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vom Oktober hinweisen, eine Broschüre, die den Titel hat: „Die Unterschiede in den Sparquoten werden größer." Die Sparquote der Arbeitnehmerhaushalte ist in den letzten Jahren um 2,5 % auf 8 % gesunken, während sie bei den Selbständigen bei 25% liegt. In absoluten Zahlen: Arbeitnehmerhaushalte können heute jährlich 3 700 DM sparen, Selbständigenhaushalte 31 000 DM. Die Arbeitslosenhaushalte mußten dagegen — wen würde das auch wundern — massiv entsparen, also ihre Sparguthaben auflösen. Deshalb ist auch die Behauptung, Preisstabilität sei die beste Sozialpolitik, weil sie auch den Sparern ihre Zinseinkommen beläßt, zynisch, einfach auf Grund der ungleichen Verteilung der Sparvermögen. Eine unsoziale Politik, eine Politik, die massiv die Ausgrenzung, Verarmung und die Ungleichbehandlung von Einkommen betreibt, wird durch Preisstabilität nicht sozialer.
Dieser unsozialen Politik setzen wir GRÜNEN unsere radikalen sozialen Vorschläge eines Umbaus des Einkommensteuertarifs und des Familienlastenausgleichs entgegen. Wir halten es für skandalös, daß nach wie vor Einkommen unterhalb des Sozialhilfeniveaus besteuert werden. Das Existenzminimum im Steuer- und Sozialrecht muß harmonisiert werden. Wir fordern diese Harmonisierung, und zwar auf einem erhöhten Niveau des staatlich zuerkannten Existenzminimums. Unser Tarifvorschlag sieht deshalb eine Erhöhung des steuerfreien Grundfreibetrages von heute 4 536 auf 10 000 DM vor. Zusammen mit anderen Freibeträgen bedeutet dies, daß für einen Alleinstehenden ein Bruttoeinkommen bis 14 000 DM im Jahr steuerfrei wäre. Gegenüber heute würden Ledige mit geringem Einkommen um monatlich 100 DM entlastet. Zum Vergleich: Dieser Personenkreis erhält nach den Regierungsplänen keinerlei Entlastung, nach den SPD-Plänen 9 DM im Monat.
Wir schlagen weiterhin eine veränderte Ehegattenbesteuerung vor. Heute spart der Direktor bei einer nicht berufstätigen Ehefrau ohne Kinder 16 433 DM Steuern im Jahr, während der einfache Arbeiter nur 998 DM Steuern spart.
Wir schlagen dagegen vor, statt des Splittingtarifs für Ehepaare den doppelten Grundfreibetrag zu gewähren. Zusammen mit der Erhöhung des Grundfreibetrages nach unseren Vorstellungen würde dies bedeuten: Ehepaare mit einem Einkommen in Höhe des Normalverdienstes der Arbeitnehmer würden um 200 DM im Vergleich zu heute entlastet, während sich für die Spitzenverdiener der finanzielle Vorteil aus der Ehe, soweit es die Steuer betrifft, um 10 800 DM verringert.
Im Vergleich: Nach dem Regierungsplan soll es für untere Einkommen bei dem Steuervorteil durch das Splitting in Höhe von 998 DM bleiben, während für obere Einkommen der Vorteil auf 18 502 DM ausgeweitet werden soll. Die SPD will Ehepaare mit unterem Einkommen um 18 DM im Monat entlasten und für Spitzeneinkommen den Splittingvorteil gerade mal um 660 DM im Jahr reduzieren.
Unser Vorschlag zur Veränderung der Ehegattenbesteuerung setzt Mittel frei für eine wesentliche Verbesserung des Kinderlastenausgleichs. Was heute an finanzieller Unterstützung von seiten des Staates gewährt wird, ist völlig unzureichend.
Wir GRÜNEN schlagen deshalb vor, das Kindergeld so zu erhöhen, daß es den Mindestbedarf für Kinder deckt.
Konkret: Für Kinder bis zum Alter von 7 Jahren
soll das Kindergeld 210 DM im Monat, für 10jährige
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986 20035
Vogel
330 DM, für über 15jährige 450 DM im Monat betragen.
Zum Vergleich: Die Bundesregierung will es jedenfalls bis 1989 dabei belassen, daß für das erste Kind 96 DM bei armen Eltern, bei reichen Eltern auf Grund der Kinderfreibeträge 166 DM gewährt werden.
Die SPD will die finanzielle Unterstützung für das erste Kind auf 100 DM, also für untere Einkommen um 4 DM, aufstocken, für zwei Kinder um insgesamt 58 DM, wobei die SPD weiter daran festhält, daß für das erste Kind 100, für das zweite 200 und das dritte Kind 300 DM gezahlt werden sollen. Mir ist bis heute nicht klargeworden, meine Damen und Herren von der SPD: Warum wollen Sie die Kindergelder nach der Ordnungszahl staffeln? Warum soll das dritte Kind mehr wert sein als das erste? Wir meinen: Es ist sogar eher das Gegenteil der Fall. Für das erste Kind braucht man wegen der Grundausstattung eigentlich viel mehr Geld als für das Dritte, bei dem man teilweise schon auf die vorhandene Grundausstattung zurückgreifen kann.
Auch hier zeigt sich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Ein wenig Rouge mag zwar betörend sein, aber es stellt doch noch lange keine Alternative dar. Deshalb lehnen wir auch Ihren Vorschlag für einen Rau-Tarif ab — nicht deshalb, weil wir den Namen wenig verlockend finden, sondern deshalb, weil wir in einer etwas sozialeren Verteilung der Steuerentlastung keine Alternative zur Steuerpolitik der Regierung erkennen können.
Für uns GRÜNE ist es wichtig, daß die Steuerlast umverteilt wird,
zugunsten der sozial Schwachen, zugunsten der Kindererziehenden und zu Lasten der finanziell Starken. Deshalb ist unser Tarifvorschlag aufkommensneutral.
— Herr Apel, ich habe schon in der Haushaltsdebatte gezeigt, daß bereits heute Ehe, Familie und Kinder mit insgesamt 80 Milliarden DM unterstützt werden und daß das nur eine Frage der Umverteilung dieses riesigen Postens ist. Damit ist das auch leicht finanzierbar.
Einen Verzicht auf Steuermittel, insbesondere dann, wenn dadurch keine Umverteilung zugunsten der Bezieher unterer Einkommen bewirkt wird, lehnen wir ab. Wir halten es für notwendig, alle Kräfte, auch alle finanziellen Kräfte, auf die Bekämpfung der Armut, der Arbeitslosigkeit und der Umweltzerstörung zu konzentrieren.
— Das wäre ganz prima. Aber dieses Patentrezept gibt es leider noch nicht, Herr Uldall.
Für uns ist in der Steuerpolitik vor allem auch wichtig, daß ein ökologisches Element eingebaut wird. Die Steuerpolitik kann und soll dazu eingesetzt werden, die Wirtschaft so umzugestalten, daß sie umwelt- und gesundheitsverträglich wird. Ein wesentliches steuerpolitisches Mittel hierzu sind Umweltabgaben. Wir haben dazu diverse Gesetzentwürfe eingebracht. Leider wurden sie alle abgelehnt.
Ich darf Ihnen versichern, daß die GRÜNEN auch im nächsten Bundestag nicht nachlassen werden, Vorschläge einzubringen, die aufzeigen, daß eine soziale und umweltfreundliche Politik möglich wäre, wenn man sie nur wollte.
Lassen Sie mich jedoch, da ich im Gegensatz zu meiner Fraktion, die vermutlich verstärkt in den Bundestag zurückkehren wird, aus dem Bundestag ausscheide
und dementsprechend heute meine letzte Rede für längere Zeit in diesem Bundestag halte, kurz benennen, welche Erscheinung in diesem Hause mich in den letzten vier Jahren am meisten beeindruckt hat.
Ich möchte dies mit den Worten von Witold Gombrowicz, einem polnischen Schriftsteller, in seinem Roman „Ferdydurke" aus dem Jahre 1938 deutlich machen. Der Roman wurde in Argentinien geschrieben, hatte also keinen Bezug auf jetzt lebende Personen. Die beeindruckendste Erscheinung für mich war also folgende:
Doch er saß da, und sitzend saß er und saß irgendwie so sitzend, hatte sich derart in dieses sein Sitzen eingesessen, war so absolut in dem Sitzen, daß das Sitzen, obwohl vollendet dumm, zugleich dennoch überwältigend war.
Danke.
Also, Herr Kollege Vogel , wir haben ja allen gedankt, die ausscheiden; aber nach zwei Jahren kann man noch nicht über Verdienste sprechen. Insofern danken wir Ihnen für Ihre Mitarbeit.
20036 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986
Vizepräsident Westphal
Ich gebe dem nächsten Redner, Herrn Dr. Solms, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bedanke mich bei der Fraktion der Sozialdemokraten, daß sie darauf Wert gelegt hat, diese Diskussion über die Steuer- und Finanzpolitik zum Abschluß dieser Legislaturperiode zu führen.
Vom Kollegen Spöri, von dem wir wissen, daß er ein gescheiter Mann ist und sogar schon mal im Berufsleben gestanden hat, was ja bei den politischen Vertretern der Sozialdemokraten immer seltener wird,
hatte ich eigentlich erwartet, daß er uns aufzeigen würde, was die SPD in der nächsten Legislaturperiode in der Steuerpolitik würde bewirken wollen, wenn sie an die Regierung käme. Aber leider war dieses nicht der Fall, sondern wir haben nur Kritik gehört. Aus der babylonischen Sprachverwirrung bei der Sozialdemokratischen Partei bezüglich der Wirtschafts- und Finanzpolitik sehe ich kein Entrinnen. Wer spricht nun eigentlich für Sie: Herr Farthmann, Herr Roth, Herr Spöri, Herr Apel?
Von Herrn Rau hört man überhaupt nichts mehr zu diesem wichtigen Thema. Wir müssen doch, wenn Sie hier Vorwürfe erheben, die alternativen Konzepte miteinander vergleichen können, Herr Spöri. Das ist doch eine Frage der Fairneß.
Man muß wissen, was man miteinander vergleichen kann.
Wenn ich mir Ihre Beiträge — auch in der Haushaltsdebatte — ansehe,
kann ich eigentlich nur zu dem Schluß kommen — ich meine nicht Sie persönlich, sondern die Sozialdemokraten —: Von all dem Gerede ist mir so dumm, als ging mir ein Mühlstein im Kopfe herum. Klarheit war daraus nämlich nicht zu gewinnen.
Was kann man miteinander vergleichen? Man kann vergleichen, was in dieser Legislaturperiode beschlossen worden ist und was die Sozialdemokraten dazu gesagt haben. Vergleichen kann man bezüglich der nächsten Legislaturperiode, was die Parteien auf ihren Parteitagen beschlossen haben.
Daran will ich mich jetzt in diesen Ausführungen ganz strikt halten.
— Soweit es konkret ist. Die FDP hat ganz konkrete Forderungen aufgestellt. Die Sozialdemokraten haben ebenfalls relativ konkrete Forderungen erhoben. Von den GRÜNEN ist Konkretes und Realistisches nicht zu erwarten.
Sie können sich in der Steuerpolitik ja nicht allein mit dem Kindergeld oder dem Kinderfreibetrag beschäftigen; die Steuerpolitik umfaßt doch ein breiteres Gebiet.
Schließlich weiß ich von der Union, die auch keine konkreten Beschlüsse gefaßt hat, daß sie im Prinzip in derselben Richtung denkt wie wir und daß wir dann gemeinsam zu den entsprechenden Beschlüssen kommen werden.
Was hatten wir denn in dieser Legislaturperiode? Ich darf es kurz in Erinnerung rufen. Wir haben drei wichtige Steuergesetze verabschiedet, die Entlastungswirkungen hatten.
Das war erstens das Steuerentlastungsgesetz 1984. Zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft wurde der Abbau der ertragsunabhängigen Steuern — Vermögensteuer, Gewerbesteuer — vorangetrieben. Es wurden erleichterte Abschreibungsbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen, insbesondere auch bei den Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen, geschaffen. Das Entlastungsvolumen betrug 4 Milliarden DM. Die Sozialdemokraten haben dies abgelehnt.
Dann hatten wir zweitens die erste Stufe des Steuersenkungsgesetzes. Das Steuersenkungsgesetz wurde zwar insgesamt verabschiedet, aber seine Realisierung wurde leider in zwei Stufen geteilt. Die erste Stufe hat sich konzentriert auf die Entlastung der Familien und der kleinen Einkommensbezieher. Die zweite Stufe wird 1988 in Kraft treten und die Steigerungsrate des Tarifs im mittleren Bereich abflachen. Das Entlastungsvolumen beträgt 20 Milliarden DM. Die Sozialdemokraten haben das abgelehnt. Sie werden allerdings für die nächste Legislaturperiode Alternativen bringen; darauf komme ich gleich zurück.
Drittens haben wir verbesserte Abschreibungsbedingungen geschaffen, insbesondere für Wirtschaftsgebäude, und zwar zur Erleichterung des Strukturwandels in der Wirtschaft, aber auch zur Stabilisierung der Bauwirtschaft, die sich in großen Problemen befunden hat. Dieses Gesetz hat dazu beigetragen, daß sich die Bauwirtschaft stabilisiert hat und nun auf einem gefestigteren Boden wieder
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986 20037
Dr. Solms
arbeiten kann. Das ist ein ganz wichtiges Element in der Konjunkturpolitik der letzten vier Jahre.
Auch dieses haben die Sozialdemokraten abgelehnt.
Ich kann folgendes Fazit ziehen: Die SPD hat ihre Zustimmung zu den wichtigen Steuerentlastungsmaßnahmen im Volumen bis zu 30 Milliarden DM verweigert, wie Sie es auch immer rechnen: wenn Sie die Umsatzsteuer abziehen, ist es weniger, wenn Sie Ihre Alternativen für die nächste Legislaturperiode dagegenrechnen, ist es noch weniger. Sie haben jedoch diese wichtigen Maßnahmen abgelehnt, obwohl die gerade in dieser Wirtschaftssituation so dringend für die mittelständische Wirtschaft geboten waren.
Schließlich hat die SPD natürlich — das ist hier oft aufgezählt worden — eine Reihe von zusätzlichen Steuererhöhungen gefordert. Ich rufe die Ergänzungsabgabe und andere Abgaben in Erinnerung. Dazu hat der bekannte Finanzwissenschaftler Günter Schmölders zutreffend gesagt — das zitiere ich wörtlich —:
Neue Steuern werden ungern mit dem harten Wort „Steuer" bezeichnet. Man nennt sie „Notopfer", „Beitrag", „Kohlepfennig", „Berlin-Hilfe" und anderes, unter peinlicher Vermeidung des Wortes „Steuer", um sich möglichst unbemerkt in das Vertrauen des Steuerzahlers einzuschleichen, auf dessen Geld man es abgesehen hat.
— Die Idee des Wasserpfennigs kommt auch nicht von den Freien Demokraten.
Ich möchte noch einige Forderungen der SPD nennen: Ergänzungsabgabe, Verpackungsabgabe, Medienabgabe, Sondervermögen Arbeit und Umwelt, Berufsbildungsabgabe usw. usw.
Dies alles kennt keine Grenzen; es sind alles Steuern, und so muß man sie bezeichen.
Kommen wir schließlich zu den steuerpolitischen Beschlüssen für die nächste Legislaturperiode, wie die SPD sie in Nürnberg gefaßt hat und wie sie sie in Offenburg bestätigt hat. An diese Beschlüsse darf ich mich doch wohl halten.
Diese Beschlüsse werde ich nun mit den Beschlüssen der FDP — auch für die nächste Legislaturperiode —
vergleichen.
— Für die nächste Legislaturperiode!
Mit der Vorlage ihres marktwirtschaftlichen Steuerkurses hat die FDP schon Anfang letzten Jahres ihr Konzept für die nächste Legislaturperiode vorgelegt.
Mit zeitlicher Verzögerung ist die SPD dem gefolgt, weil Sie, meine Damen und Herren, gemerkt haben, daß die Steuerpolitik nun allen Bürgern, insbesondere aber der breiten Masse der Arbeitnehmerschaft, auf den Nägeln brennt, denn heute sind schon über 50 % der Arbeitnehmer in der Progressionszone, und 1988 werden es über 70% sein.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Spöri?
Bitte schön.
Herr Kollege Solms, zu Ihrem Vergleich: Darf ich Sie darauf hinweisen, daß sich ein seriöser Vergleich der alternativen Entlastungskonzepte — Rau-Tarif auf der einen Seite und Ihre Konzeption auf der anderen Seite — nur spezifisch auf das Jahr 1988 beziehen darf und daß der Versuch, Ihre weitergehenden, über das Jahr 1988 hinausgehenden, in die 90er Jahre hineinreichenden Versprechungen mit unserem Tarif 1988 zu vergleichen, plumpe Roßtäuscherei ist?
Also, Herr Kollege Spöri, an was soll man sich denn halten? Entweder Sie fassen Beschlüsse,
und dann müssen wir die mit unseren Beschlüssen vergleichen, wobei ich gar nicht gesagt habe, wann wir unsere in Kraft setzen wollen. Wir wollen sie auf jeden Fall in den 80er Jahren in Kraft setzen;
ob das nun 1988 oder 1989 ist, ist völlig unerheblich.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Nein,
ich habe auf die Frage bereits geanwortet.
Damit vergleiche ich die Konzepte auf der Grundlage von Parteitagsbeschlüssen, und die müssen j a für Parteien Gültigkeit haben.
Deshalb bitte ich Sie, sich doch einmal die Unterschiede vor Augen zu halten. Weil Zahlen so schwer vergleichbar sind, habe ich mir die Mühe gemacht, das einmal graphisch darzustellen. Ich kann Ihnen mein Erstaunen eigentlich gar nicht beschreiben,
20038 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986
Dr. Solms
als ich das Bild gesehen habe, das ich mit eigener Zeichenkunst erstellt hatte und das nach dem Urteil von Fachleuten ganz eindeutig richtig ist. Das will ich Ihnen nun vorführen.
Rot eingetragen sehen Sie hier den Vorschlag der SPD, blau den der FDP, schwarz den Steuertarif 1988.
Sie sehen hier, daß der SPD-Steuertarif auf der ganzen Breite,
von den Beziehern kleinster Einkommen bis zu den Beziehern größter Einkommen, über dem Reformtarif der FDP liegt.
Und da sagen Sie, meine Damen und Herren, Sie seien die Arbeitnehmerpartei! Was soll man denn da noch glauben?
Herr Kollege, das Präsidium sieht nicht Ihr Schaubild, sondern von hinten nur ein weißes Blatt!
Hier ist folgendes ganz eindeutig zu sehen: Erstens ist zu sehen, daß auf der ganzen Breite der SPD-Steuertarif, der Grenzsteuertarif, über dem FDP-Vorschlag liegt.
— Herr Kollege Apel, wer sich verteidigt, greift sich an; das ist eine alte Sache.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Spöri?
Bitte schön.
Herr Kollege Solms, ist Ihnen bewußt, daß Sie auf Ihrer Graphik unsere alternative Entlastungskonzeption mit Ihrem Konzept 1988 vergleichen und daß Sie nicht etwa Ihre über 1988 hinausführenden, bis in die 90er Jahre reichenden Steuersenkungspläne mit unseren weiterführenden Steuersenkungsplänen für die Zeit nach 1988 vergleichen,
und ist Ihnen bewußt, daß in unserem Regierungsprogramm steht, daß wir auch nach 1988 die heimlichen Steuererhöhungen im Umfange von 20 Milliarden DM zurückgeben werden und daß damit Ihre Graphik eine einzige Fälschung ist, ein SteuerPorno?
Herr Kollege Spöri, mit etwas weniger Emotion kommen wir der Wahrheit doch viel näher.
Das will ich Ihnen jetzt erklären.
Ich habe nicht nur den FDP-Tarif abgezeichnet, ich habe auch den 88er Tarif abgezeichnet. Jetzt will ich Ihnen entgegenkommen und will das nur einmal mit dem 88er Tarif vergleichen. Dann sehen Sie, daß der SPD-Steuertarif den 88er Tarif bereits bei einem Einkommen von 30 400 DM und einem Steuersatz in Höhe von 33 % schneidet.
— Grenzsteuerkurve.
— Grenzsteuerkurve. Es ist unbedingt wichtig, die Grenzsteuerkurve zu betrachten, weil man aus ihr ersieht, wie das zusätzliche Einkommen besteuert wird. Wenn also ein Arbeitnehmer eine Überstunde leistet, eine Prämie bekommt, eine Zulage bekommt, eine Lohnerhöhung bekommt, dann will er wissen, wie dieses zusätzliche Einkommen steuerlich behandelt wird. Deswegen ist der Grenzsteuertarif so wichtig. Nach Ihrem Grenzsteuertarif wird bereits der Hilfsarbeiter — nicht erst der Facharbeiter — bei dem zusätzlichen Einkommen zusätzlich belastet. Das ist das Frappierende dabei. Sie können doch nicht sagen, daß das eine arbeitnehmerfreundliche Politik sei. Das ist einfach nicht zu beweisen.
— Das ist keine Trixerei. Ich habe das jetzt mit dem 88er Tarif verglichen. Sie haben sich die Kurve
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986 20039
Dr. Solms
eben selbst nicht aufgezeichnet und haben selbst nicht gemerkt, was Sie beschlossen haben. Das ist ja die Katastrophe bei der ganzen Geschichte.
Jetzt will ich Ihnen einige Beispiele vorrechnen. Nach unserem Tarif würde das Existenzminimum in der Weise entlastet, daß eine Familie mit vier Köpfen — zwei Kindern — ein Einkommen von 26 321 DM im Jahr erzielen kann und keinen Pfennig Steuern zahlen müßte. Bei dem SPD-Tarif müßten, wenn man das Kindergeld gegenrechnet, weil ja 150 DM Kindergeld mehr im Monat gezahlt wird, schon 266 DM Steuern gezahlt werden. Ich will nicht in die Einzelheiten der Berechnung hineingehen, ich stelle Ihnen das gerne zur Verfügung. Das heißt, im untersten Bereich wollen wir mehr entlasten.
Jetzt kommt der zweite Bereich, der Bereich des Mittelstandsbauches oder Facharbeiterbauches, der Bereich, in dem die Progression am stärksten ist. Dort wollen wir die größte Entlastung bewirken, weil diese zusätzliche Steuerbelastung die schädlichste Wirkung hat, weil sich die Arbeitnehmer der Leistung entziehen, weil sie es nicht mehr ertragen, daß sie von der zusätzlichen Mark nur noch 35 Pfennig ausbezahlt bekommen. Das heißt, ein durchschnittlicher Chemie- oder Automobilarbeiter wird 1988 ein Bruttoeinkommen von 52 200 DM erzielen, also ein zu versteuerndes Einkommen von 46 800 DM. Von jeder zusätzlich verdienten Mark kassiert die Steuer nach dem geltenden Tarif 1988, dem bereits verabschiedeten Tarif 1988, 41 Pfennig, nach dem SPD-Tarif, den ich Ihnen eben vorgezeigt habe, 46 Pfennig, also mehr als heute schon. Nach unserem Tarif sind es nur 28 bis 29 Pfennig. Da frage ich Sie, Herr Spöri: Wer vertritt denn nun die Interessen der breiten Arbeitnehmerschaft besser? Das frage ich Sie nun wirklich.
Die Zahlen sind so eindeutig, dagegen kann man eigentlich gar kein Argument mehr finden.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter?
Nein, danke.
— Also bitte.
— Ich bin ja großzügig.
Herr Kollege Solms, ist Ihnen überhaupt der Durchschnittsverdienst eines ledigen Arbeitnehmers bekannt? Der liegt nicht bei 50 000 DM, sondern bei 40 000 DM. Sie haben ja überhaupt keinen repräsentativen Überblick über das, was die Leute wirklich verdienen.
Herr Spöri, Sie hätten ja anfangs Ihrer Rede Zeit gehabt, auf diese Zahlen hinzuweisen. Das haben Sie versäumt, indem Sie sich allein mit Polemik und Kritik befaßt haben.
Der durchschnittlich abhängig Beschäftigte — die Zahl weiß ich gut auswendig — hat im Jahre 1985 36 000 brutto verdient. Er wird im Jahre 1988, wenn die Entwicklung so weitergeht wie bisher, etwa 40 000 DM verdienen. Die Zahlen stimmen. Ich habe eben von dem durchschnittlichen Verdienst der Arbeiter in der chemischen Industrie und beim Automobilbau gesprochen. Da liegen die Einkommen höher, und da liegt der Bruttoverdienst 1988 bei 52 000 DM. Das weist die Statistik aus. Daran geht leider kein Weg vorbei; Sie müssen die Wahrheit zur Kenntnis nehmen.
Schließlich der dritte Bereich, um den es uns geht. Das ist die breite Masse der mittelständischen Unternehmen. Denn von diesen geht doch die Kreativität der Innovationskraft der Wirtschaft aus. Diese werden vom deutschen Steuerrecht am stärksten getroffen. Denn sie müssen nicht nur Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer zahlen, sie müssen Gewerbeertrag-, Gewerbekapitalsteuer, Vermögensteuer aus Betriebsvermögen und, da die große Masse der Personengesellschafter ja auch in der Kirche ist, auch Kirchensteuer bezahlen. Das heißt, sie haben auf den Gewerbeertrag eine Steuerbelastung von 75% und mehr.
Dies gilt es zu entlasten, wenn der Investitionsstandort Bundesrepublik Deutschland auch in der Zukunft attraktiv bleiben soll.
Die mittelständische Wirtschaft bringt ja die großen Leistungen für unsere Volkswirtschaft. 85% aller Ausbildungsplätze und 64% aller Arbeitsplätze werden von der mittelständischen Wirtschaft angeboten; 40% aller Investitionen, 60% aller Steuern und 58 % aller Sozialabgaben werden von der mittelständischen Wirtschaft gezahlt. Deswegen müssen wir uns darauf konzentrieren, diesen Bereich der Wirtschaft besonders zu entlasten.
Diese Entlastung ist nur machbar, wenn Sie den Steuertarif auch in dem Bereich senken, wenn Sie die Körperschaftsteuer und den Einkommensteuerspitzensatz senken.
Das fordert die FDP mit Nachdruck, denn wir sind der Meinung, daß die psychologische Bruchmarke von 50 % bei der Besteuerung nicht überschritten werden darf. Das ist keine neue Überzeugung. Diese Überzeugung hatte schon Friedrich der Große.
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Dr. Solms
Er sagte nämlich — und das zitiere ich —:
Die Hirten scheren ihre Schafe, aber sie ziehen ihnen das Fell nicht ab.
Es ist gerecht, daß jeder einzelne dazu beiträgt, die Ausgaben des Staates tragen zu helfen, aber es ist gar nicht gerecht, daß er die Hälfte seines jährlichen Einkommens mit dem Souverän teilt.
Diese Meinung teile ich auch.
Schließlich wollen wir, wie vielfach gefordert, auch eine zusätzliche Mittelstandskomponente einführen. Dabei konzentrieren wir uns allerdings nicht auf die steuerstundende, Herr Spöri, Investitionsrücklage, wie Sie vorschlagen — das wäre eine zusätzliche Subvention, und wir wollen ja gerade das Steuerrecht von Subventionen befreien —, sondern wir wollen dort helfen, wo im Moment eine Diskriminierung der Selbständigen besteht; das ist bei der steuerlichen Behandlung der Altersvorsorge.
Hier geht es darum, daß die selbständigen und freien Berufe steuerlich genauso behandelt werden wie die Arbeitnehmer. Das wollen wir einführen.
Darüber hinaus denken wir darüber nach, ob bei dem Gewerbeertragsteuerfreibetrag eine Erhöhung möglich ist, um beim Personengesellschafter den Unternehmerlohn genauso freizustellen, wie es der Geschäftsführer einer GmbH schon heute genießt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mann?
Bitte schön.
Herr Kollege Solms, in welchem Umfang, also um wieviel Milliarden, beabsichtigen Sie denn die Subventionen in Ihrem gesamten steuerpolitischen Konzept abzubauen? Sie haben ja hier einiges an Zahlen genannt.
Wir haben die Zielsetzung, einen Betrag von an die 20 Milliarden DM abzubauen. Wir haben aber ganz deutlich gesagt: Subventionsabbau und Steuersenkung insgesamt müssen dazu führen, daß alle großen Gruppen der Bevölkerung netto einen Vorteil dabei erzielen.
Das werden wir in den Koalitionsverhandlungen mit dem Partner, mit den Unionsparteien, gemeinsam beraten und durchsetzen.
Schließlich will ich zum Ende noch einmal auf die Diskussion über die Kapital- und Steuerflucht kommen. Meine Damen und Herren, unzweifelhaft ist Kapitalflucht ein ganz großes Problem, mehr natürlich in den Entwicklungsländern als in den entwickelten Ländern. Nur: Wenn man Kapitalflucht und Steuerflucht bekämpfen will, dann muß man die Ursachen bekämpfen. Gerade wenn Sie nach Südamerika gehen, wo ja die Kapitalflucht am stärksten blüht, dann kommen Sie sehr schnell zu dem Ergebnis: In erster Linie herrscht dort Kapitalflucht, weil die Besserverdienenden kein Vertrauen in das politische System haben. Das ist der wichtigste Grund. Wo kein Vertrauen in eine mittel- und langfristige Politik herrscht, entsteht automatisch Kapitalflucht, die Sie mit polizeilichen Mitteln niemals bremsen und in den Griff bekommen können.
Ich habe keinen Zweifel, daß es in der Bundesrepublik ein großes Vertrauen in die politische Führung, gerade in die gegenwärtige politische Führung gibt. Deswegen sehe ich von daher keine Gefahr der Kapitalflucht.
Das zweite Argument für Kapitalflucht ist, daß die Kapitalien, wenn ein Steuer- und Abgabensystem so viel höher und belastender ist als in benachbarten Ländern, automatisch dort hin fliehen, wo die Belastung geringer ist.
Sie werden ja noch nie erlebt oder gehört haben, daß die Kapitalflucht in der Schweiz ein Problem ist. Natürlich nicht! Denn das politische System ist seit 200 Jahren oder länger stabil, und die steuerliche Belastung ist moderat. Also gibt es das Problem einer Kapitalflucht nicht.
In der Bundesrepublik gibt es dieses Problem zwar nur in Grenzen, aber es gibt es. Warum? Weil wir hier — im Vergleich mit den anderen Industrieländern — die höchste Steuer- und Abgabenbelastung haben. Ich bin nicht der Meinung, daß wir sie auf das Niveau der USA senken müßten. Aber ich bin der Meinung, daß wir uns dem mehr annähern müssen. Dann können wir auch den Trend zur Kapitalflucht vermeiden.
Übrigens ist es gar keine neue, sondern eine uralte Erkenntnis, daß dort, wo die Belastung zu hoch ist, die Wirkung negativ ist.
Ich darf hier ein Zitat bringen, das aus dem 11. Jahrhundert stammt.
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Dr. Solms
Schon um 1100 hat der Metropolit Theophylaktos von Ohrid im byzantinischen Reich mahnend darauf hingewiesen
— hören Sie zu —, daß die Bewohner eines Dorfes im Bistum wegen des Steuerdrucks ihre Heimat verlassen, sich in den Schutz der dichten Wälder begeben hätten
und dort ein verborgenes Dasein führten. Darum beklagt er sich beim Kaiser von Byzanz, indem er ihn anruft: „Wenn deine starke Hand nicht eingreift, wird der ganze Kirchenbezirk verschwunden sein."
Meine Damen und Herren, Sie sehen, Sie können aus der Geschichte lernen. Das setzt allerdings voraus, daß Sie Geschichte zur Kenntnis nehmen.
Mein Resümee zum Abschluß meines Beitrags zu dieser Steuerdiskussion ist, daß wir mit unseren Vorschlägen sehr wohl vor den Wähler treten können. Denn wir haben die wichtigsten Probleme erkannt und vertreten insbesondere die Interessen der maßgeblichen Leistungsträger unserer Wirtschaft. Das ist die breite Masse der Arbeitnehmerschaft, der Facharbeiter,
der Ingenieure, der Angestellten, der Werksmeister, der Fernfahrer, der Monteure im Außendienst.
Das alles sind Menschen, die ein so hohes Einkommen erzielen, daß sie von dieser Grenzsteuerbelastung betroffen sind. Genauso wenden wir uns an die kleinen und mittleren Unternehmer, weil wir deren Investitionskraft, deren Bereitschaft, ins Risiko zu gehen, stärken wollen.
Damit erweisen wir uns als Steuersenkungspartei Deutschlands,
während die Sozialdemokraten das Etikett der Steuererhöhungspartei Deutschlands mit Fug und Recht erhalten.
Danke.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schlatter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben von den Sprechern der Koalitionsparteien und vom Bundesfinanzminister auch heute morgen wieder das zur Kenntnis nehmen müssen, was seit Monaten in unserem Lande geschieht, nämlich eine Übertrumpfung mit gegenseitigen Ankündigungen über die geplante Höhe der Steuerentlastungen für die 90er Jahre. Die CSU, die bisher noch nicht gesprochen hat, die sich aber in der Presse dazu geäußert hat, wartet mit einem Vorschlag auf, der 38 Milliarden DM umfaßt. Die CDU hat, jedenfalls in ihren Beschlüssen, auf 45 Milliarden DM abgestellt. Der Bundesfinanzminister hat heute schon ein paar Abstriche vorgenommen und steht bei 40 Milliarden DM. Und die FDP hat bis auf 50 Milliarden DM nachgelegt.
— Ich habe in der Berichterstattung über Ihre Pressekonferenzen die Zahl 50 Milliarden DM gelesen. Aber wenn auch Sie — wie der Bundesfinanzminister — heute schon um 5 Milliarden DM korrigieren, dann nehme ich das mit Interesse zur Kenntnis.
Jedenfalls: Ob 40, 45 oder 50 Milliarden DM, Sie hätten heute die Chance gehabt, auch in der Beantwortung der Großen Anfrage der SPD, Klarheit zu schaffen, wie dieses gigantische Entlastungsvolumen eigentlich finanziert werden soll. Herr Bundesfinanzminister, Sie haben dazu heute erschreckend wenig gesagt und jede Festlegung vermieden, genauso wie Sie in der Beantwortung der Großen Anfrage der SPD-Fraktion jede Festlegung vermieden haben.
Und diese mangelhafte Antwort auf diese wichtige Finanzierungsfrage setzt Sie doch dem Verdacht aus, daß Sie es gar nicht ernst meinen und auf wohlkalkuliertes Vergessen nach dem Wahltag setzen. Ich verspreche Ihnen: Wir werden Sie nicht entkommen lassen, sondern weiterhin bohrend fragen, wo denn die Finanzvolumina herkommen sollen.
Lassen Sie mich jenseits von milliardenschweren Wahlversprechen versuchen, mit Ihnen zusammen ein bißchen fern von der bisherigen Polemik in der Debatte eine Verständigung darüber zu erreichen, was die grundlegenden Mängel unseres Steuersystems sind und wo im Prinzip angesetzt werden muß, um zu einem gerechteren Steuersystem zu kommen. Ich füge hinzu: Wir sollten es nicht durch die Brille der Steuerexperten betrachten, sondern ich schlage vor: Lassen Sie uns einmal durch die Brille des Steuerbürgers schauen!
Aus der Sicht des Bürgers ist unser Steuerrecht ein kompliziertes und bürokratisches Regelwerk mit Hintertürchen und Schlupflöchern, die nicht da-
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Schlatter
zu bestimmt sind, dem durchschnittlichen Steuerzahler zu helfen,
sondern die sich — das wissen wir alle — als Beschäftigungsprogramm für hockbezahlte Anwälte und bemühte Steuerberater darstellen.
Deshalb ist bei unseren Bürgern zu Recht die Überzeugung weit verbreitet, daß der Geschickte und Raffinierte die Steuer vermeidet und der Unehrliche sich durch Steuerhinterziehung vor der Zahlung drücken kann.
Deshalb füge ich hinzu: Unser Steuerrecht ist schon aus dem Grund unsozial, weil es undurchschaubar geworden ist. Schon daraus ergibt sich auch für die Sozialdemokraten eine zwingende Notwendigkeit, eine grundlegend vereinfachte Steuergesetzgebung anzustreben, um den Glauben des Steuerzahlers an die wesentliche Gerechtigkeit des Steuersystems wiederherzustellen.
Weitere Zielsetzungen kommen hinzu. Ich bin sicher, daß wir uns bei den weiteren Zielsetzungen über die Parteigrenzen hinweg verständigen können. Das Steuerrecht muß sich dem Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit wieder nähern. Das heißt, Personen mit gleicher Leistungsfähigkeit sind gleich hoch zu besteuern.
Dieses Postulat ist besonders bei der Besteuerung von Einkommen und Vermögen nicht erfüllt. Je nachdem, welche Art von Einkünften jemand bezieht und welche Arten von Vermögen jemand besitzt, weicht bei gleich hohem Gesamteinkommen und bei gleich hohem Vermögen die Steuerbelastung zeitweise erheblich voneinander ab. Man kann es auch so formulieren: Leistung wird bei uns zu hoch besteuert. Einkünfte aus Vermögen, also aus Nicht-Leistung, werden geringer besteuert oder in der Praxis ganz der Besteuerung entzogen. Dieses System ist unfair und nicht leistungsgerecht.
Deshalb muß nach Auffassung der Sozialdemokraten — wenn Sie uns nach unserer steuerpolitischen Philosophie fragen — eine erste und zentrale Zielsetzung sein, mehr Steuergerechtigkeit durch eine gleichmäßige Besteuerung plus Steuervereinfachung sein.
Die zweite Zielsetzung muß die steuerliche Entlastung unternehmerischer Risiken sein. Kapitalinvestitionen im eigenen Betrieb werden häufig diskriminiert. Da stimmen wir in der Analyse überein. Eigenfinanzierung ist durch ein Bündel von Nachteilen fast 30% teurer als Fremdfinanzierung. Durch Abbau der Benachteiligung der im Unternehmen angelegten Eigenmittel ist sicherzustellen, daß wieder mehr Kapital investitions- und beschäftigungsfördernd eingesetzt wird.
Ich habe von Steuergerechtigkeit plus Steuervereinfachung gesprochen. Dabei denke ich vor allem an den Abbau steuerlicher Sonderregelungen, über die bisher in der Debatte schrecklich wenig gesagt wurde. Die in unserem Steuerrecht vielfach vorhandenen vielfältigen Schlupflöcher fußen auf einer großen Anzahl von Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz, daß das gesamte Einkommen aus jedweder Quelle von der Steuer erfaßt werden sollte. Die zahlreichen Befreiungstatbestände führen zum Verlust von Einnahmen, komplizieren das Steuerrecht und verfälschen wirtschaftliche Wahlmöglichkeiten. Finanzielle Mittel werden in Richtung weniger produktiver Zwecke fehlgelenkt.
Hinzu kommt, daß das Überhandnehmen einer großen Zahl steuerlicher Sonderregelungen zu einer hohen Tarifbelastung führen muß. Umgekehrt gilt: Die hohe Tarifbelastung gilt vielen Bürgern — das wissen wir alle — nur deshalb als erträglich, weil die effektive Steuerbelastung durch eine Fülle von Ausnahmen gemildert wird. Deshalb ist es richtig zu sagen: Bei gleich hohem Aufkommen erfordern viele Ausnahmen höhere Steuersätze, und wenige Ausnahmen erlauben natürlich eine Absenkung des Tarifs. Darum schlagen wir vor, alle Möglichkeiten des Abbaus, der Begrenzung, der Befristung, der degressiven Staffelung von Steuervergünstigungen und Subventionen auszuschöpfen. Soweit steuerliche Vergünstigungen und Subventionen unvermeidbar sind — und wir sind uns darin einig, daß es auch unvermeidbare Vergünstigungen und Subventionen gibt —, sollten sie nach unserer Meinung in Form eines progressionsunabhängigen und für alle gleichen Abzugs von der Steuerschuld vorgesehen werden.
Meine Damen und Herren, ich denke, in der Analyse der Schwachpunkte unseres Steuersystems gibt es es mehr Übereinstimmung zwischen den großen Parteien, als bisher in der Debatte zum Ausdruck gekommen ist. In den Vorschlägen zur Neuorientierung des Steuersystems sind allerdings die Wegmarkierungen sehr unterschiedlich gesetzt. So verbinden die Regierungsparteien ihre Vorschläge nach einer Verringerung der Steuern mit der Forderung nach einer Verringerung der Steuerlastquote. Der Bundesfinanzminister hat heute diesem Aspekt seine ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet.
Sie haben recht, Herr Bundesfinanzminister: Für die SPD ist die Verringerung der Steuerlastquote nicht die notwendige Voraussetzung für mehr Gerechtigkeit und für eine durchgreifende Steuerrreform; denn für uns bedeutet eine wirkliche Reform keineswegs eine Verringerung der Steuerlast, der Gesamtbelastung, sondern für uns heißt das, daß eine dauerhafte Absenkung der Steuerquote unter das Maß, das in der gesamten Nachkriegszeit bestanden hat und das in Ihrer Regierungszeit sich sogar noch erhöht hat, eine unrealistische Zielsetzung ist.
Es geht uns um eine Veränderung der Struktur der Besteuerung und nicht um eine ideologiebehaftete Debatte um Staats- und Steuerquoten, die uns nur in die Sackgasse führt.
Herr Bundesfinanzminister, Sie liegen neben den
wirklichen Problemen, wenn Sie uns Sozialdemokraten vorhalten, daß die Ablehnung einer Verrin-
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Schlatter
gerung der Steuerquote eine durchgreifende Steuerreform verhindere.
Ich weiß gar nicht, wo Sie die Belege für diese falsche Behauptung herholen wollen, jedenfalls nicht aus der Debatte um die amerikanische Steuerreform.
Wenn eines an der amerikanischen Steuerreform doch beispielhaft und nachahmenswert ist, dann die kräftige Verbreiterung der Steuerbasis
durch lückenlose Erfassung aller Einkünfte.
Nur so wird in den USA die angestrebte Umschichtung finanziert, eben nicht, wie Sie behaupten, durch Absenkung der Steuerquote, sondern aufkommensneutral und unter Beibehaltung der Steuerquote. Die USA werden keine Steueroase.
Lassen Sie mich einen zweiten Aspekt aus der amerikanischen Steuerreform in Erinnerung bringen, weil er für einen Antrag wichtig ist, den wir heute noch zu beschließen haben: die Erfassung der Zinseinkünfte. In den amerikanischen Steuerreformvorschlägen ist eine wesentliche Verschärfung der Besteuerung der Zinseinkünfte vorgesehen. Auch in Japan, wo die regierende Liberaldemokratische Partei, Herr Solms, ihr Konzept für eine umfassende Reform
des dortigen Steuersystems vorgelegt hat, ist eine generelle Quellenbesteuerung von Sparzinsen vorgesehen. Übrigens will auch die japanische Lösung, Herr Bundesminister, auf eine Absenkung der Steuerquote verzichten; dennoch strebt sie eine umfassende Steuerreform an. Wenn Sie uns ausländische Stimmen und Beispiele vorführen, dann nehmen Sie bitte auch Maß an den japanischen Vorschlägen und an den Vorschlägen der USA.
Lassen Sie mich im Zusammenhang mit der Zinsbesteuerung auf diese Pläne in den USA und Japan zurückkommen und sagen: Statt unsere SPD-Vorschläge zur besseren Erfassung von Zinseinkommen als „Sparbuchsteuer" zu diffamieren, sollten die Regierungsparteien mit uns zusammen nach einer angemessenen Lösung suchen, wie das in Japan und in den USA auch möglich war.
Dabei schlagen wir vor — und das bitten wir Sie, dann zu übernehmen —, daß wir psychologische Hindernisse durch eine großzügige Neuregelung der Sparerfreibeträge abbauen.
Dabei sind wir auf Ihrer Seite und haben Verständnis dafür, wenn Sie darauf hinweisen, daß ein günstiger Zeitpunkt für eine solche Operation aus kapitalmarktpolitischen Gründen gesucht werden muß. Da finden Sie überhaupt keinen Widerspruch. Sie finden aber Widerspruch, wenn Sie zu einer stärkeren Erfassung auch der Zinseinkünfte in unserem Steuersystem nein sagen.
Noch einmal zurück zur Staatsquote, weil sie in Ihrer Darstellung eine so große Rolle gespielt hat. Ich will unterstreichen: Es ist nicht nur illusionär, sondern auch bewußt irreführend, eine insgesamt niedrigere Belastung mit Steuern und Abgaben heute zu versprechen. Die Aufgaben, die der Staat im Bund, in den Ländern und in den Kommunen zu erfüllen hat, lassen das auf Dauer nicht zu.
Der Herr Bundesfinanzminister hat bereits zu Anfang dieser Legislaturperiode in Aussicht gestellt, daß die Steuerquote, daß die Abgaben gesenkt werden sollen. Ich will Sie heute, am Ende dieser Legislaturperiode, nur daran erinnern, daß Sie dieses zu Anfang der Legislaturperiode gegebene Versprechen gebrochen haben.
Ich will Ihnen sagen: Sie werden es auch in der Zukunft nicht halten können. Wir werden uns Wiedersprechen.
Wenn Sie sich heute bereits rühmen, die Staatsquote um drei Prozentpunkte gedrückt zu haben, sollten Sie dabei doch bitte nicht verschweigen, daß lediglich die Finanzierungsinstrumente von Ihnen gewechselt wurden: Statt Subventionen auf der Ausgabenseite des Haushaltes offen auszuweisen, haben Sie die Subventionen im Steuerrecht versteckt. Das führt natürlich rechnerisch zu einem Abbau der Staatsquote. Aber dies ist doch ein statistischer Trick. Diese Rechnung taugt nichts, Herr Bundesfinanzminister.
Sie wissen genauso gut wie ich, daß nicht weniger, sondern mehr Staat die Folge der Anhebung der Steuersubventionen um inzwischen 50 % in Ihrer Regierungszeit ist. Sie sollten sich mit diesem Sachverhalt selbstkritisch auseinandersetzen und nicht so tun, als würde die Statistik Ihre an sich dann erfolgreiche Politik des Senkens der Staatsquote belegen. Das Gegenteil ist der Fall.
Ein neues Steuerrecht ist nicht in einem Schritt zu erreichen. Ich bin diesbezüglich auf Grund der Erfahrungen bei der Arbeit im Finanzausschuß skeptisch. Viele Anpassungsschritte werden erforderlich sein. Ich meine, von dem steuerlichen Weg der USA können die Parteien im Deutschen Bundestag vor allem eines lernen — lassen Sie mich das trotz Wahlkampf als einer derjenigen sagen, die dem nächsten Deutschen Bundestag nicht mehr angehören werden —: Eine wirkliche Reform ist in unserem föderativen System um so schneller zu erreichen, wenn die Steuerreform von einem breiten Konsens zwischen den Parteien und zwischen Wirtschaft und Gewerkschaft getragen wird. Hinzu kommen die Länder — Sie haben darauf aufmerksam gemacht, Herr Bundesfinanzminister — und die Kommunen, deren Finanzinteresse nicht ohne Bedeutung für eine Neuordnung des Steuerrechts sein dürfte.
Zusammengefaßt: Euphorische Erwartungen habe ich nicht. Ich denke, sie sind auch nicht begründet. Aber da verantwortliche Politiker die wirtschaftlichen und sozialen Folgen kennen sollten, die aus steuerlicher Fehllenkung erwachsen, denke
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Schlatter
ich, müssen den vielen Versprechungen nun endlich Taten folgen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Schlatter, auch Sie verlassen uns mit Ende dieser Legislaturperiode, sicher nicht, um verfrüht aufs Altenteil zu gehen, sondern um eine andere, neue berufliche Aufgabe zu übernehmen. Dafür wünschen wir Ihnen — ich glaube, das darf ich im Namen aller sagen — guten Erfolg und danken Ihnen für Ihre Zusammenarbeit hier im Hause.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kreile.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die steuerpolitische Diskussion der letzten Zeit macht deutlich: Die SPD stellt Fragen
— im Parlament nennt man das dann Große Anfragen —, aber die Antworten hört sie und liest sie offenbar nicht. Sie sind ihr unangenehm. Also werden sie nicht zur Kenntnis genommen.
Die sogenannte SPD-Anfrage zur internationalen Steuerflucht, um auf diesen Punkt einzugehen, malt ein Zerrbild von der deutschen Wirtschaft mit Steuerbetrügern und Steuerhinterziehern. Die Bundesregierung hat aber schon seit Wochen die in der deutschen Wirtschaft tätigen Frauen und Männer — ich zitiere nochmals, was der Bundesfinanzminister in seiner Beantwortung gesagt hat — vor „Erscheinungen am Rande des normalen Wirtschaftens" abgegrenzt, also vor schwarzen Schafen in Schutz genommen. Aber die Sprecher der SPD verbleiben bei ihrer vorgefaßten Meinung. Sie werden also erneut zur Kenntnis nehmen müssen, was die Bundesregierung bereits im Mai in ihrer Antwort festgestellt hat, nämlich daß sich Steuerbürger mit Auslandsbeziehungen, sowie die deutsche Außenwirtschaft, in der Regel bemühen, ihren Verpflichtungen gegenüber der deutschen Finanzverwaltung und den anderen Finanzverwaltungen nachzukommen. Doch dies will die SPD offenbar nicht hören und auch nicht glauben. Wenn der Bundesfinanzminister, der sich sicherlich — wie jeder Finanzminister — zur Ausschöpfung jeder gesetzlich eröffneten Steuerquelle verpflichtet fühlt, vom deutschen Außensteuerrecht berichtet, daß es bestehende Lücken geschlossen habe daß es sachgerecht von der überwiegenden Mehrheit der Steuerpflichtigen beachtet werde, daß es zudem eine hohe Präventivwirkung habe, kurzum, daß das deutsche Außensteuerrecht sein Ziel, ungerechtfertigte Steuervorteile zu beseitigen, erreicht habe, dann muß man der SPD noch einmal den entscheidenden Punkt der Antwort auf diese Große Anfrage vorlesen. Der entscheidende Punkt lautet nämlich: Die Erfahrungen mit dem Außensteuergesetz sind gut.
Herr Kollege Spöri hat in seinem Diskussionsbeitrag, in seinem Rundumschlag, noch einmal auf die Zurückstellung der europäischen OECD-Konvention zur Zusammenarbeit der Finanzverwaltungen abgehoben. Ich darf noch einmal klarmachen, warum wir diese Zurückstellung gewollt haben. Wir haben sie gewollt, weil wir der Meinung sind, daß die Doppelbesteuerungsabkommen ein sehr viel besseres Instrument sind, um diesen Fragen gerecht zu werden, als eine Steuerkonvention multilateraler Art. Es gibt 68 Doppelbesteuerungsabkommen. Wir haben das beste Netz von Doppelbesteuerungsabkommen. Jeder Finanzminister hat sich bemüht — auch Sie, Herr Kollege Apel, haben das zu Ihrer Finanzministerzeit getan —, das Netz der Doppelbesteuerungsabkommen zu verbessern. Da dieses Netz sehr gut ist, ist es unnötig, zusätzlich eine solche — noch dazu von ganz anderen Gesichtspunkten geprägte — Konvention zu zeichnen. Wir meinen nämlich, daß wir kein Europa der Finanzämter, sondern ein Europa der Steuerbürger brauchen. Deswegen wollen wir bei den bewährten Instrumenten bleiben und nicht zu neuen übergehen.
Aber warum will die SPD dies alles eigentlich nicht wahrhaben? Warum verliert sie das vom Bundesfinanzminister so nachdrücklich geförderte und geforderte Augenmaß?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Spöri, bitte schön.
Bitte schön, Herr Spöri.
Herr Kollege Kreile, wenn Sie all das, was wir an Kritik vorgebracht haben, nämlich daß aus unserer Sicht vieles dafür spricht, zusätzliche Maßnahmen im gesetzlichen Bereich und im Bereich eines OECD-Abkommens zu treffen, als unerheblich einschätzen, dann darf ich Sie darauf hinweisen, daß die Bundesregierung in der Antwort auf unsere Große Anfrage zur Steuerflucht wörtlich ausführt:
Die Große Anfrage weist zutreffend darauf hin, daß die im Inland und im Ausland vorhandenen Daten und Informationen über die in ihr angesprochenen Verhältnisse außerordentlich lückenhaft sind.
Dort steht weiter:
Die Bundesregierung prüft deshalb, ob in der kommenden Legislaturperiode Vorschläge für eine Änderung des Außensteuergesetzes vorzulegen sind.
Wie vereinbart sich das mit Ihren Ausführungen?
Herr Kollege Spöri, wir beide haben aus der gleichen Anfrage zitiert, und ich habe die Grundthese der Bundesregierung aus
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Dr. Kreile
der Antwort herausgehoben. Das, worauf Sie abheben, nämlich daß in der nächsten Legislaturperiode einige Änderungen des Außensteuergesetzes vorgenommen werden, haben wir bereits intensiv im Finanzausschuß behandelt. Wir hätten dies bereits durchgeführt, wenn die Bundesregierung, d. h. hier also das Bundesfinanzministerium, nicht selbst gemeint hätte, es sei noch nicht ganz an der Zeit, es müßten noch einige Überlegungen angestellt werden. Das heißt: Das, worauf Sie abheben wollen, haben wir bereits berücksichtigt. Das Bundesfinanzministerium wird sich diese Punkte gemäß dem Votum des Finanzausschusses in der nächsten Legislaturperiode vornehmen.
— Herr Kollege Spöri, das wissen Sie doch. Sie waren doch im Finanzausschuß. Wenn ich hier in die Runde schaue, dann muß ich sagen: Heute sind auch nicht mehr Abgeordnete anwesend, als Abgeordnete im Finanzausschuß tätig sind. Daher können wir das Gespräch doch genauso führen wie im Finanzausschuß. Aber das alles will die SPD dann, wenn es ins Plenum kommt, nicht wahrhaben.
Warum alle diese doch mit einem starken Verdachtsmoment versehenen Anfragen sowohl im Bereich des Außensteuerrechts wie im Bereiche der Steuerpolitik? Warum diese Vergröberungen? Warum eigentlich dieses Klima, das weit über den Wahlkampf hinaus doch Neid und Mißgunst schüren soll? Warum geht man nicht daran — da bin ich Herrn Kollegen Schlatter besonders dankbar —, wirklich die Grundmängel unseres Steuerrechts, unseres Steuersystems herauszuarbeiten? Diese Grundmängel werden ganz deutlich, und zwar auch dann, wenn wir die Konzeptionen der SPD und der Union, der CDU und CSU, sowie der Freien Demokraten gegenüberstellen.
Unser Kernpunkt ist: Wir wollen, werden und müssen die Steuerbelastung der Bürger und der Wirtschaft in allen Bereichen senken,
Staatsanteil und Steuerquote zurückführen. Kernpunkt der SPD aber ist — das ist ja schon ganz deutlich geworden bei der Beibehaltung der Steuerquote; Beibehaltung heißt hier: progressiver Tarif — eine Verfestigung der zu hohen Steuerbelastung, wobei der Weg zu einer weiteren Erhöhung der Steuerquote ins Auge gefaßt wird.
Es ist ganz bezeichnend, daß die SPD ihre parlamentarische Steuerdiskussion mit der Anfrage zur vermeintlichen Steuerflucht begonnen hat — die Unschärfe dieses Worts hat der Bundesfinanzminister in seiner Beantwortung zu Recht zurückgewiesen — und erst dann zum Bereich der allgemeinen Steuerpolitik übergegangen ist; denn die SPD sah nie — und offenbar sieht sie es jetzt auch noch nicht so — den Zusammenhang zwischen dem Ausweichen vor zu hoher Besteuerung und dieser Besteuerung selbst. Arbeitnehmer, Handwerker, Dienstleistende flüchten sozusagen — so würde die SPD sagen — in die Schattenwirtschaft; Unternehmer suchen Länder mit geringerer Steuerbelastung.
Jetzt geht es aber doch nicht darum, an diesen Symptomen herumzudoktern, sondern es geht darum, die Ursachen zu beseitigen.
Deswegen wollen und werden wir nach den ersten Entlastungsschritten des Steuersenkungsgesetzes 1986/88, das als Ganzes gesehen werden muß, eine Neugestaltung der Besteuerung vornehmen, die durch folgende Elemente gekennzeichnet ist. Erstens. Der neu gestaltete Tarif der Einkommensteuer und Lohnsteuer, dessen Wesensmerkmal bisher die sogenannte Mittelstands- oder Facharbeiter-Progressionskurve ist — Herr Solms hat das ganz deutlich und wirklich ad oculos demonstriert —, wird zukünftig eine sanft und gleichmäßig ansteigende gerade Linie vorsehen, kurzum: einen linear-progressiven Tarif.
Zweitens. Wir wollen einen ausreichend bemessenen Grundfreibetrag, der allen zugute kommt, gerade auch den Beziehern niedriger Einkommen. Herr Kollege Spöri meint — er ist im Moment wohl nicht mehr da;
aber Sie werden es ihm ausrichten —, das, um was es hier gehe, sei nur ein Almosen. Sie können ganz sicher sein: Der Grundfreibetrag wird so ausreichend angehoben, daß das mehr als ein Almosen ist. Die Anhebung wird vielmehr unserer Zielrichtung entsprechen, nämlich für die Entlastung aller Bürger zu sorgen.
Drittens wollen wir eine weitere Erhöhung der Kinderfreibeträge, die unseren Grundsatz deutlich macht, daß jede Familie mit Kindern deutlich weniger Steuern zahlen soll als eine Familie mit gleich hohem Einkommen ohne Kinder. Daß Familie und Halbfamilie im Ergebnis gleichbehandelt werden sollen, ist ohnehin klar.
Die Erhöhung des Grundfreibetrags und der Kinderfreibeträge sowie die Neugestaltung des Tarifs dienen dazu, die zum Teil bereits aberwitzig gewordenen Folgen der in den letzten zehn bis 15 Jahren zunehmend falsch konstruierten Progression zu beseitigen.
Wenn die SPD den Marsch in den Lohnsteuerstaat beklagt — und wir beklagen das mit —, dann muß ich allerdings sagen, daß die Steuermaßnahmen zu Beginn der 70er Jahre und die allgemeine Wirtschaftspolitik, die zu der inflationären Entwicklung geführt haben, geradezu dazu geeignet waren, die Marschstiefel für diesen Marsch in den Lohnsteuerstaat anzuziehen. Wir wollen diese Grundlage der falschen Steuerpolitik, diese falsch konstruierte Steuerprogression abbauen. Deswegen kann ich nur immer wieder sagen: Der entscheidende Punkt ist der Abbau dieser Schröpfgrenzen im Steuerrecht, der Abbau der übermäßigen Grenzsteuerbelastung. Dies geht ausschließlich und allein mit dem generellen Abbau der Steuerprogression, wie wir dies vorgeschlagen haben.
Die Neugestaltung der Progression ist demgemäß auch die entscheidende Weichenstellung für eine notwendige Entlastung der Wirtschaft, für eine Verbreiterung der Eigenkapitalbasis der Wirtschaft.
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Dr. Kreile
Bei dieser Entlastung der Wirtschaft werden wir dem Umstand Rechnung tragen müssen, daß die Besteuerung immer mehr zu einem Standortproblem wird. Die deutsche Wirtschaft muß sich mit ihrem Standort steuerlich behaupten gegenüberdem Standort USA, bei dem es eine überraschend kräftige Steuersenkung sowohl im Einkommensteuer- wie im Körperschaftsteuerbereich gegeben hat, aber auch gegenüber dem Standort England, bei dem es vor etwa eineinhalb Jahren zu einer wesentlichen Reduzierung des Körperschaftsteuersatzes und der Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer gekommen ist, nunmehr auch -- Herr Kollege Schlatter hat mit Recht darauf hingewiesen — gerade in diesem Bereich gegenüber Japan, mit dem wir ja in weltwirtschaftlicher Verflechtung und Konkurrenz stehen, und sogar gegenüber Frankreich, denn der seinerzeitige — sozialistische — französische Finanzminister hat dort Besteuerungsabbaumaßnahmen im betrieblichen Bereich eingeleitet.
Wir werden also unter dem Gesichtspunkt der notwendigen Absenkung der Körperschaftsteuer, der Anpassung der Einkommensteuer und notwendiger anderer Maßnahmen hier eine Anpassung im internationalen Bereich mit Augenmaß vornehmen, welche die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft verbessert. Dabei werden wir nicht vergessen, eine besondere Mittelstandskomponente zugunsten der mittelständischen Wirtschaft und der kleineren mittelständischen Betriebe in unserem Steuerrecht zu verankern.
Daß wir eine solche Steuerreform finanziell bedienen können, beruht darauf, daß wir in den vergangenen vier Jahren durch eine strikte Haushaltspolitik Freiräume geschaffen haben. Daß uns diese Steuerreform gelingen wird, garantiert dieses Ergebnis einer maßvollen und geglückten Haushaltsund Wirtschaftspolitik.
Wenn dieser Tage in ausländischen Zeitungen darauf hingewiesen worden ist, kein anderer vergleichbarer Industriestaat der Welt könne ähnlich günstige wirtschaftliche und finanzielle Daten vorweisen wie die Bundesrepublik Deutschland, so wird dies der Ausgangspunkt und die Ausgangsbasis für eine Absenkung unserer Besteuerung sein. Bei dieser Absenkung werden wir nicht vergessen, eine Vereinfachung herbeizuführen. Nach einem Jahrzehnt der zunehmenden Komplizierung des Steuerrechts wissen wir, daß auch eine Vereinfachung des Steuerrechts ein zu beachtendes Gebot der steuerlichen Gerechtigkeit darstellt.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Rapp .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute hier und draußen im Wahlkampf steigern die Vertreter der Koalitionsfraktionen sich und andere in wahre Orgien der Steuersenkung hinein. Zwischen 20 und 45 Milliarden DM kann da jeder so richtig schön sich frei entfalten. Da möchte ich jetzt doch mal fragen, ob es noch wirklich ein rationales Unterfangen genannt werden kann, erst einmal lustig draufloszuschwadronieren, wie schön das Leben bei niedrigeren Steuern sein könnte, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verwenden, welchen Preis eine solche Politik angesichts der uns allen gestellten Aufgabe haben müßte, Vorsorge und mehr Vorsorge für die Zukunft und für eine möglichst gute Zukunft zu treffen.
Über das Maß der nachhaltig und struktruell nötigen und möglichen Steuerbelastung läßt es sich sinnvoll nur in Reflexion und Zuordnung zu einem Zukunftsentwurf reden, der Antwort auf die Frage gibt, wie wir in zehn, in 15, in 20 Jahren leben wollen und bei vernünftigem Verhalten werden leben können, und der des weiteren auch darüber Auskunft gibt, was dazu nötig ist, und was von wem — Gesellschaft und Wirtschaft oder Staat — zu leisten ist. So an die Dinge heranzugehen heißt nicht, die Zukunft verplanen zu wollen. So zu denken heißt, das eigene Tun auf Zielvorstellungen hin zu orientieren, die wir gemeinsam für wünschenswert und realistischerweise für erreichbar halten.
Gegenwärtig, meine Damen und Herren, erweist es sich, daß Reagans Finanzpolitik gescheitert ist. Die krause Logik und Dialektik des Herrn Laffer, man könne eine gigantische Rüstung sozusagen aus Steuersenkungen finanzieren, war Betrug und Selbstbetrug.
Das Beispiel, Herr Minister, zeigt, daß der in Ihrer Rede aufgezeigte Zusammenhang zwischen Steuerbelastung, Investition und Beschäftigung über die Verwendung der betreffenden Finanzmassen, über den volkswirtschaftlichen Grenznutzen vermittelt ist, daß das reine Quantenrechnen da überhaupt nichts aussagt.
Bei uns geht es hoffentlich nicht um Über-Rüstung, sondern um Zukunftssicherung in der ökologischen und sozialen Erneuerung von Wirtschaft und Gesellschaft, zu der auch der Staat — nicht nur er, er nicht mehr als nötig, sage ich — beizutragen haben wird. Sollen wir die Erfahrungen der Amerikaner partout alle nochmals machen? Die Diskreditierung, ja Diffamierung des Staates wird sich rächen, die die Neokonservativen und Wirtschaftsliberalisten durch ihr blindes Versprechen faktisch ja betreiben,
dem Staat in großem Umfang Steuereinnahmen zu entziehen ohne Rücksicht auf Verluste, ohne sich erst Rechenschaft darüber zu geben, welchen Aufgaben sich dieser Staat in Zukunft zu stellen hat.
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986 20047
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Uldall?
Herr Uldall, Entschuldigung, es ist dies meine letzte Rede im Bundestag. Ich habe mir ein bißchen viel vorgenommen, und ich möchte nicht zum Schluß durch die rote Lampe hier heruntergefegt werden. Haben Sie bitte Verständnis dafür.
Gewiß, die Zukunftsentwürfe der Parteien unterscheiden sich, keiner wird der absolut richtige sein, und doch gilt: Diese ganze abstrakte, von der Klärung ihrer Voraussetzungen völlig abgehobene Steuersenkungsdebatte ist bestenfalls oder — richtiger — schlimmstenfalls bloße Wahlkampfrhetorik. Meine Freunde haben bereits aufgezeigt, daß sich das bis in die Finanzierungsvorstellungen hinein aufweisen läßt. Subventionsabbau — wo denn? Von meiner Überzeugung, daß Sie die Mehrwertsteuererhöhung in der Schublade haben, bringen Sie mich nicht ab.
Niemand findet Steuern zahlen vergnüglich, ich auch nicht. Es kann j a sehr wohl so sein — hören Sie bitte gut zu —, daß eine der Quote nach zu hohe oder der Struktur nach schiefe Steuerbelastung dem Ziel der Zukunftssicherung tatsächlich abträglich ist. Aber dies weiß ich auch: Zu niedrige Steuereinnahmen sind mit Sicherheit zukunftsgefährdend. Also kommt es auf das richtige Maß an, und dieses kann man erst am Ende eines Zukunftsdialogs kennen —, der noch gar nicht begonnen hat.
Niemand behauptet, daß das, was wir Sozialdemokraten die soziale und ökologische Erneuerung von Wirtschaft und Gesellschaft nennen und was hoffentlich auch andere für nötig halten, daß alle sich hier stellenden Zukunftsaufgaben allein oder auch nur überwiegend vom Staat zu bewältigen und also vom Steuerzahler zu finanzieren seien. Im Gegenteil, der Staat ist hoffnungslos überfordert, wenn er nachträglich nur immer reparieren muß,
was im Selbstlauf des „weiter wie bisher" an menschlicher Gesundheit, an sozialen Gefügen, an Kreisläufen der Natur zerstört wird. Je mehr Probleme Wirtschaft und Gesellschaft in der Rahmensetzung durch demokratische Politik in sich selber verhindern und lösen, desto besser. Je mehr Umweltschutz — um es konkret zu machen — im Wege der Vermeidungsstrategie oder des Verursacherprinzips bewirkt wird, desto weniger sind es die Steuerzahler, die finanziell dafür anzutreten haben.
Kein vernünftiger Mensch wird an einem Staat Gefallen finden, der finanzwirtschaftlich einfach nur fett und vielleicht gerade deshalb untüchtig ist. Nötig ist ein finanzwirtschaftlich leistungsfähiger Staat. Nötig ist die funktionsgerechte Zuordnung der Aufgabenbewältigung auf die Bürgerinnen und Bürger, auf Gesellschaft und Staat: fernab jeder privatistischen wie auch etatistischen Ideologie.
In dieser Perspektive stimmt es dann sehr wohl, daß Wirtschaft und Gesellschaft finanziell in der
Lage sein müssen, das im „Projekt Zukunftssicherung" ihnen Zukommende zu tun, was beispielsweise ein Steuerrecht erfordert, das den Ertrag aus Produktivkapital nicht geradezu schlechterstellt als den aus Finanzanlagen.
Gleichwohl wird gelten, daß große Zukunftsaufgaben anstehen, die als Gemeinschaftsaufgaben nur ein finanzkräftiger Staat bewältigen kann.
Dieser neokonservative und liberalistische Populismus macht einfach keinen Sinn, es ist gefährlich, dauernd die Aufgabe der Unternehmen, marktgerechte Produkte zu erstellen, gegen die Aufgabe des Staates auszuspielen, im Infrastrukturbereich, zum sozialen Ausgleich und auch im Ordnungsbereich gesellschaftsgerechte und zukunftssichernde Investitionen und Dienstleistungen vorzuhalten. Dieses blind-populistische Steuersenkungsgerede der Koalitionsfraktionen führt in die Sackgasse.
Laßt uns erst die Zukunftsaufgaben benennen und bewältigen und hernach die dann möglichen Steuersenkungen machen — in dieser Reihenfolge, nicht andersherum.
Deshalb reden wir Sozialdemokraten in diesem Wahlkampf die Menschen nicht in den Rausch einer pompösen Steuersenkung hinein; wir sagen ihnen: Erst tun, was von Staats wegen zur Zukunftssicherung nötig ist — hernach wird kein vernünftiger Mensch noch Steuern eintreiben wollen, die so nicht mehr zu rechtfertigen wären.
Wir Sozialdemokraten appellieren an die Vernunft der Bürgerinnen und Bürger, über allem Eigennutz das Gemeinwohl zu wahren.
Eine ganz andere Sache, meine Damen und Herren, ist es, daß wir in den 90er Jahren gewiß eine Steuerstrukturreform brauchen werden; mit dem geltenden Steuerrecht wird Zukunft nicht mehr zu gewinnen sein. Ich habe nun 14 Jahre dem Finanzausschuß angehört und weiß, was da auf diejenigen zukommt, die das im 11. Bundestag zu leisten haben werden. Auch dazu ein offenes Wort: Nicht den Leuten auf den Leim gehen, die das „Leistung muß sich wieder lohnen" gegen den Auftrag zur Steuergerechtigkeit ausspielen werden.
Wer behauptet, der Leistungswille der Bezieher hoher Einkommen lasse sich nur durch die Senkung des Spitzensteuersatzes stimulieren, der der kleinen Leute hingegen dadurch, daß man sie knapper halte, der ist ein falscher Prophet.
Steuergerechtigkeit, Sozialstaatlichkeit auch im Steuerrecht ist ein auch wirtschaftlich produktiver Beitrag zum Gemeinwohl. Und nur so läßt sich in der Hand auch der kleinen Leute Produktivvermögen bilden, auf daß sich die Klassenschichtung un-
20048 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986
Rapp
serer Gesellschaft nicht zur bestimmenden Struktur verhärte.
Meine Damen und Herren, eine nochmals andere Ebene, zu der ich sprechen möchte, betrifft das, was man die Rückgabe heimlicher Steuererhöhungen nennt. Meine Freunde haben bereits ausführlich dargelegt, was wir da früher anders gemacht haben und künftig anders machen werden als die derzeitige Mehrheit. Wir sehen hier die Chance, schrittweise mehr Steuergerechtigkeit zu realisieren. Auf unserer Tagesordnung stehen z. B. auch die Probleme der Grenzgänger und der Gastarbeiter. Ich könnte noch andere Gruppen nennen, z. B. die Alleinerziehenden, die zu spüren bekommen haben, wie man es derzeit mit den Schwächeren hält. Was die Gastarbeiter anlangt, so scheint die Regierung entschlossen zu sein, sich nicht nur über einen EG- Beschluß, sondern auch über einen Beschluß des Bundestages hinwegzusetzen.
Insbesondere aber liegt mir daran, zum Schluß noch — das war jahrelang mein Thema — zum Familienlastenausgleich etwas zu sagen. Sie wissen, daß wir Sozialdemokraten die steuerlichen Kinderfreibeträge ablehnen und wieder zum — kräftig zu erhöhenden — Kindergeld übergehen werden. Frau Ministerin Süssmuth hat neulich in einem Aufsatz geschrieben, Gesellschaft sei auf Familie und Familie sei auf das Kind hin zu orientieren. Richtig. — Als Frau Süssmuth noch nicht Ministerin war, hat sie immer gewußt, daß dies die Chancengleichheit der Kinder und also das Kindergeld und nicht eine Politik meint, die über Freibeträge dem mehr gibt, der ohnehin schon mehr hat.
Das hat Frau Süssmuth immer gewußt, als sie noch nicht Ministerin war. Eigentlich müßten wir doch, gut subsidiaristisch gedacht, kompensatorisches Kindergeld zahlen, mehr für das Kind, dessen Entfaltungschancen, jedenfalls hinsichtlich der finanziellen Möglichkeiten des Elternhauses, ohnehin schon begrenzter sind.
Wer das als Sozialneid denunziert, dem gebe ich heraus, daß er dem Kind des kleinen Mannes offensichtlich das bißchen mehr Chancengleichheit neidet, das im einheitlichen Kindergeld steckt.
Meine Damen und Herren, meine zehn Minuten sind um. Herr Präsident, bitte noch zwei Sätze zum Ende meiner Mandatszeit. Ich wünsche allen, die nach dem 25. Januar die Verantwortung des Mandats zu tragen haben, Gottes Segen, Weisheit und Beharrlichkeit, und den Steuerpolitikern unter ihnen wünsche ich es im besonderen; sie werden sehr gefordert sein.
Lieber Kollege Rapp, seit vier Legislaturperioden haben Sie im Deutschen Bundestag mitgearbeitet. Sie waren einer der gründlichsten und der fleißigsten Kollegen. Eigentlich kann man sich nicht vorstellen, daß das, was Sie nun als neuen Lebensabschnitt vor sich haben, eine Art Ruhestand sein sollte oder so bezeichnet werden könnte.
Alle guten Wünsche begleiten Sie auf diesem Weg. Wir danken für Ihre Mitarbeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. von Wartenberg.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist doch ganz gut, daß wir zum Ende der Legislaturperiode noch einmal über die Steuerreform reden, über das große Vorhaben der nächsten Legislaturperiode. Die Unterschiede werden deutlich. Unsere Kollegen Schlatter und Rapp haben uns in ihren sehr sachlich gehaltenen Abschiedsreden allen gemeinsam etwas sehr Nachdenkenswertes mit auf den Weg gegeben. Jedoch werden gerade durch die Beiträge der Kollegen Stoltenberg und Kreile auf der einen Seite und Spöri auf der anderen Seite doch die Unterschiede deutlich.
Die jetzige Regierung tritt finanzpolitisch ein für den Weg der Konsolidierung, tritt währungspolitisch ein für den Weg der Stabilität, und sie tritt steuerpolitisch ein für den Weg der bürgernahen Steuersenkung. Insgesamt ist das also eine verantwortungsvolle Zukunftsperspektive, auf die sich die Bürger langfristig einstellen können.
Die SPD dagegen fordert finanzpolitisch die Kehrtwende zur verstärkten Staatsverschuldung,
währungspolitisch damit den Weg der Gefährdung der Stabilität und steuerpolitisch den bewußten Verzicht auf einen auf die Zukunft hin orientierten, langfristig das wirtschaftliche Wachstum unterstützenden Lohn- und Einkommensteuertarif.
Ich behaupte: Die Steuerpolitik der Sozialdemokraten steht in keinem Zusammenhang mit den Notwendigkeiten der Finanzpolitik. Ihre Steuerpolitik wird wirtschaftliches Wachstum behindern, und Sie verneinen das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit.
Ihre steuerpolitischen Vorschläge, meine Damen und Herren von der SPD, sind wahlkampforientiert, sie sind opportunistisch.
Ihre Vorstellungen sind kurzfristig angelegt und deshalb kurzsichtig.
Ich verstehe, daß die Opposition dieser Darstellung widerspricht. Wenn man aber in einer so verzerrten und aus dem Zusammenhang gerissenen Darstellung die doch seriös angelegte Finanzpolitik des Bundesfinanzministers bewertet, wie das nicht nur der Kollege Spöri heute morgen, sondern auch der Kollege Apel während der Haushaltsdebatte getan hat, dann sollte man von seiten der Opposition schon die Geduld aufbringen, sich bei der Diskus-
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986 20049
Dr. von Wartenberg
sion um zwei Große Anfragen der SPD selbst kleine kritische Fragen stellen zu lassen.
Kommen wir zur ersten Fragekette. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, haben in den letzten Jahren die Haushaltspolitik der Bundesregierung mit den Schlagworten „Totsparen" und „Kaputtsparen" belegt. Die Wahrheit ist: Mit der Politik der nachhaltigen Rückführung der öffentlichen Defizite gehen ein neues beschäftigungsförderndes wirtschaftliches Wachstum und eine eindrucksvolle Reduzierung der Preissteigerungsraten einher.
Wir bekennen ganz offen, daß die Konsolidierungsaufgabe trotz erheblicher Fortschritte noch nicht gelöst ist. Vor dem Hintergrund einer rückläufigen Bevölkerungszahl bleibt es für eine verantwortungsbewußte, auf die Zukunft ausgerichtete Politik problematisch, wenn ein immer größerer Teil der Steuereinnahmen für Zinsaufwendungen gebunden ist. Es ist eine Aufgabe auch für die nächste Legislaturperiode, diese Schere in den Haushalten weiter zu schließen.
Meine Damen und Herren, diesen Zusammenhang sehen die Sozialdemokraten nicht. Wir sind deshalb skeptisch gegenüber jedem finanzpolitischen, steuerpolitischen oder ausgabeträchtigen Vorschlag von Ihrer Seite.
Ist das nicht verständlich? Noch heute übertrifft in unserem Haushalt der Zinsendienst für die von der SPD aufgetürmte Staatsverschuldung die Nettoneuverschuldung. Über die Verschuldung am Kapitalmarkt hinaus müssen heute noch Mittel aus dem regulären Bundeshaushalt abgezweigt werden, um allein die Zinsen der von der SPD verursachten Staatsverschuldung abtragen zu können.
Meine Damen und Herren, welch eine Steuerreform wäre möglich, in welch starkem Maße könnten wir die Bürger von Steuern und Abgaben entlasten, wenn wir nicht diese schwere Last noch auf unseren Schultern zu tragen hätten!
In Ihrer Regierungszeit zogen Sie die Steuerschraube durch 23 Steuererhöhungsprogramme an. In Ihrer Regierungszeit sind die Steuereinnahmen anderthalbmal so stark gewachsen wie die Summe aller volkswirtschaftlichen Güter und Dienstleistungen.
In Ihrer Regierungszeit stieg dennoch die Staatsverschuldung dreieinhalbmal so schnell wie das Bruttosozialprodukt. Was haben Sie mit dem gesamten Geld bloß gemacht?
Vor diesem Hintergrund muß ich Sie, meine Damen und Herren, fragen: Welches Recht, welche Glaubwürdigkeit haben Sie eigentlich, unsere Politik der Konsolidierung und der bürgernahen Steuersenkung zu kritisieren?
Ist es eigentlich seriös, bei der Bewertung der zweiten Stufe der Steuersenkung 1986/88 zu verschweigen, daß der durchschnittlich verdienende Arbeitnehmer mit zwei Kindern bereits 1986 eine Steuersenkung von 1 000 DM erhalten hat und daß Sie dagegengestimmt haben?
Meine Damen und Herren, sind Sie glaubwürdig,
wenn Sie verschweigen, daß die steuerliche Entlastung von Familien mit Kindern um so stärker ausfällt, je mehr Kinder vorhanden sind, und daß Sie auch dagegen gestimmt haben? Wäre es nicht fair, darauf hinzuweisen, daß die Bundesregierung trotz der angespannten Finanzlage steuerpolitisch mehr verwirklicht hat, als sie zu Beginn der Legislaturperiode angekündigt hatte?
Die zweite Fragenkette: Das verabschiedete Steuersenkungsgesetz 1986/88 ist in unseren Augen ein erster wichtiger Schritt zu einem leistungsmotivierenden, mittelstandserhaltenden und familienfreundlichen Tarif in der Lohn- und Einkommensteuer. Im Mittelpunkt unserer bürgernahen Steuersenkungspolitik steht in der nächsten Wahlperiode die Verwirklichung eines sanft ansteigenden geradlinig progressiven Tarifs bei eben dieser Lohn- und Einkommensteuer. Dieser Tarif wäre langfristig angelegt; dieser Tarif könnte ohne innere Verteilungskämpfe jeweils den wirtschaftlichen Verhältnissen angepaßt werden; dieser Tarif wäre somit eine verläßliche Grundlage für mittel- und langfristiges Planen.
Sie dagegen, meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, planen offiziell keine Steuerentlastung; Sie wollen die Steuerquote konstant halten und die Steuerlast neu verteilen — so der erste Teil Ihrer Anmerkungen.
Trauen Sie den Arbeitnehmern und den Selbständigen nicht zu,
daß sie das als Ergebnis einer Steuersenkung zusätzlich frei verfügbare Einkommen sinnvoll ausgeben können? Warum versperren Sie damit den Bundesbürgern den Weg zu einer dauerhaften und wirksamen Einkommensteuertarifreform?
Ist es nicht in Wahrheit so, daß Sie statt genereller steuerlicher Entlastungen erneut eine Ausdehnung des staatlichen Korridors planen? Rufen Ihre alten Konjukturprogramme mit dem Etikett „Sondervermögen Arbeit und Umwelt" — 10 Milliarden
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Dr. von Wartenberg
DM pro Jahr — und „Aktive Arbeitspolitik" —14 Milliarden DM pro Jahr — nicht förmlich nach neuen massiven Steuererhöhungen?
Der ehemalige kanadische Ministerpräsident William Mackenzie King hat einmal gesagt: „Die Versprechungen der Parteien von heute sind die Steuern von morgen." Er scheint Ihr Nürnberger Parteiprogramm gelesen zu haben und uns voraussagen zu wollen,
was passiert, falls der deutsche Wähler auf Ihre Versprechungen hereinfällt.
In einem Punkt lassen die Sozialdemokraten bereits die Katze aus dem Sack: Zur Finanzierung ihrer wirtschaftlichen und politischen Abenteuer planen Sie eine Ergänzungsabgabe zur Lohn- und Einkommensteuer für sogenannte Besserverdienende.
Nach Ihrer Definition beginnt dies bereits bei einem Einkommen von rund 60 000 DM pro Jahr. Auf deutsch heißt dies doch, wer zunächst ein zu versteuerndes Einkommen von knapp unter 60 000 DM hat und durch zusätzliche Leistungen über 60 000 DM gerät, zahlt einen zusätzlichen Steuersatz von 100%. Sein Nettoeinkommen verschlechtert sich also durch zusätzliche Leistungen. Könnten Sie einmal erklären, wie Sie vor diesem Hintergrund das Motto „Arbeit muß sich wieder lohnen" deuten? Wie steht das im Zusammenhang mit den von Ihnen geforderten konjunkturbelebenden Maßnahmen über die Steuerpolitik?
Meine Damen und Herren, es ist zu offensichtlich, daß dieser Vorschlag entweder an die Neidkomplexe appellieren soll
oder ein völlig falsches Bild von der Wirklichkeit unterstellt. Ihre Vorstellungen gehen immer von einer statischen Gesellschaft aus; sie sind deshalb kurzsichtig und ohne jede Perspektive.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Spöri?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, ich gestatte keine Zwischenfrage.
Die Sozialdemokraten haben zwei Große Anfragen gestellt, und der Kollege Spöri hat heute morgen eine halbe Stunde geredet und mehrere Zwischenfragen gestellt. Er sollte einmal die Ruhe aufbringen, sich kleine Gegenfragen anzuhören, damit ich mit meiner Zeit auskomme.
Meine Damen und Herren, zum dritten Komplex. Die Sozialdemokraten stellen einen Tarif zur Abstimmung, der scheinbar eine Mehrheit auf Kosten einer Minderheit besserstellt. Diese Reformvorstellungen sind durch reines vordergründiges Verteilungsdenken geprägt. Mit Blick auf die Wählerstimmen wählen Sie den Entlastungsschwerpunkt im unteren Bereich der Progressionszone mit der Konsequenz, daß der Progressionsverlauf insgesamt steiler wird. Während wir den Progressionsverlauf linearisieren wollen, bedeuten die Vorstellungen der SPD, daß die unteren Einkommen noch schneller in die schärfere Besteuerung auf Grund der Progression hineinwachsen und somit mit einem ausgesprochen leistungsfeindlichen Tarif besteuert werden. Auch bei nur geringen Einkommensteigerungen wird die Progression schärfer denn je zuschlagen. Schon jetzt läßt sich sagen, daß eine derartige Entlastungswirkung von nur sehr kurzfristiger Natur ist. Sie wird kaum über das Jahr ihrer Einführung hinaus Bestand haben.
Dieser Tarif 88 der SPD ist ein schlechtes Geschäft für die Facharbeiter. Die Grenzbelastung für die Mehrheit der progressiv belasteten Steuerzahler würde sich drastisch verschärfen; nach dem SPD-Tarif müßten 1988 knapp vier Millionen Steuerzahler und 1992 bereits über sieben Millionen Steuerzahler im Vergleich zum heute gültigen Tarif absolut mehr Steuern zahlen.
Die Beispiele, die der Finanzminister mit dem Bergarbeiter gebracht hat, der bereits nach zwei Jahren erheblich mehr Steuern zahlen muß, mit dem durchschnittlichen Verdienst eines Chemiearbeiters oder auch Automobilarbeiters, der nach Ihrem Tarif bereits mehr zahlen muß als nach geltendem Recht, beweisen die Kurzfristigkeit dieser Anlage. Wenn die Verheirateten mit Kindern noch bedenken, daß die SPD-Steuerpläne die Kappung des Ehegattensplitting und die Streichung des Kinderfreibetrages vorsehen, dann ist offensichtlich, daß in der Steuerpolitik der SPD die normale Familie, wo vielleicht nur der Vater arbeitet, überhaupt keinen Platz hat oder zumindest ungewöhnlich zu sein scheint.
Anhand dieser Beispiele wird deutlich, wie kurzatmig und eng die programmatischen Überlegungen der SPD sind.
Meine Damen und Herren, statt uns auf kurzfristige Effekthascherei einzulassen, sollten wir beachten, wohin die aus einem Guß gemachte Finanz-, Währungs- und Wirtschaftspolitik geführt hat.
Meine Damen und Herren, das Jahr 1986 ist das Jahr mit der niedrigsten Steuerquote seit 1972. Das
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986 20051
Dr. von Wartenberg
Jahr 1986 ist das Jahr mit der stärksten Preisstabilität seit 1953. Das Jahr 1986 ist das Jahr mit den niedrigsten Zinsen seit 1978. Das Jahr 1986 ist das Jahr mit der höchsten realen Einkommenssteigerung seit 1971. Das Jahr 1986 ist das Jahr mit dem prozentual geringsten Zuwachs an Staatsverschuldung seit dem Jahre 1969. Das Jahr 1986 ist das Jahr mit der höchsten Rentensteigerung seit 1978. Das Jahr 1986 ist das Jahr mit den höchsten Ausgaben für eine aktive Arbeitsmarktpolitik seit je. Das Jahr 1986 ist das Jahr mit dem höchsten Zuwachs beim realen Verbrauch seit 1977. Es gibt keinen Grund, diese Bundesregierung nicht wiederzuwählen.
Das Wort hat der Abgeordnete Struck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist sehr bedauerlich, daß der Herr Bundesfinanzminister nicht mehr da ist. Er kommt zurück; ich sehe dem mit Spannung entgegen.
Er hat 38 Minuten geredet. Davon waren 35 Minuten wenig konkret. Drei Minuten waren sehr gut — das muß ich sagen —, nämlich in den Punkten, wo er mit uns übereingestimmt hat, meine Damen und Herren.
Herr Minister Stoltenberg — Sie, Herr Kollege Häfele, werden das jetzt freundlicherweise entgegennehmen, was ich an den Bundesfinanzminister zu richten habe —, Sie arbeiten in verschiedenen Bereichen unseriös. Ich werde Ihnen das jetzt klarmachen.
Der erste Punkt: Sie reden von einer Lohnsteuerquote, und Sie reden auch von Tarifen, z. B. bei einem ledigen Chemiefacharbeiter mit 50 000 oder wieviel DM Bruttoeinkommen im Jahr. Nun frage ich Sie erst einmal: Ist das eigentlich der Normalfall?
Das können Sie doch keinem erzählen, der draußen über seine Lohnsteuerbelastung nachdenkt. Das werden auch Sie nicht glauben, Herr Kollege Häfele, und auch diejenigen, die es Herrn Stoltenberg aufgeschrieben haben, glauben eigentlich nicht, daß das der Normalfall ist.
Herr Stoltenberg legt bewußt nur Beispiele lediger Arbeitnehmer vor. Verheiratete Arbeitnehmer mit Einkommen in dieser Größenordnung werden nämlich nach unserem Tarif, nach dem Rau-Tarif, erheblich weniger Steuern zahlen. Nun werde ich Ihnen das an einem Beispiel klarmachen. Ein verheirateter Chemiearbeiter mit einem Bruttoeinkommen von 50 623 DM zahlt laut Rau-Tarif 386 DM Steuern weniger.
Ein verheirateter Automobilarbeiter mit einem Bruttoeinkommen von 52 273 DM zahlt nach SPD- Tarif 430 DM weniger Steuern.
Das heißt, wenn der Herr Stoltenberg hier schon mit Einzelbeispielen arbeitet, dann muß er auch korrekt arbeiten, meine Damen und Herren, nicht mit Unkorrektheiten.
Die zweite Unseriosität bei diesem Minister, der j a eigenartigerweise einen Ruf hat, als wäre er sehr seriös — aber im Grunde ist das, was er bisher in den vier Jahren produziert hat, nichts als heiße Luft —,
wird auch an einem anderen Punkt deutlich. Sie versprechen eine Steuerreform — auch Herr von Wartenberg hat das wieder angesprochen — und machen uns den Vorwurf, wir hätten keine gemacht. Nun will ich Ihnen doch ein paar Fakten nennen; die Kollegen, die länger hier sind als ich, wissen das auch. Die SPD hat von Steuerentlastung nicht nur geredet, sondern sie hat sie gemacht: 1975, 1978, 1979 und 1981.
Die Gesamtentlastung dieser Tarifkorrekturen ergibt brutto 50,5 Milliarden DM. Da sage ich: Dann ist das, was Sie jetzt mit Ihren 10 Milliarden DM angeblich anbieten, lächerlich. Es verdient nicht den Namen einer Steuerreform.
Eine Steuererhöhungspartei gibt es in diesem Parlament in der Tat. Sie sitzt aber auf der rechten und nicht auf der linken Seite des Hauses.
So, jetzt kommen wir zur Unseriosität in den weiteren Punkten. Wer eine Steuerreform verspricht — Sie tun das ja: für Ende der 80er Jahre, für 1990 oder für wann auch immer; Größenordnung: 40, 45 Milliarden DM, immer mehr drauf; dem Herrn Kollegen Hoppe, der im Haushaltsausschuß ist, sträuben sich, glaube ich, die Haare, wenn er immer diese Zahlen hört —,
der muß sich auch Fragen gefallen lassen. Der Herr Kollege Spöri und andere von uns fragen Sie nun: Wie wird das denn eigentlich bezahlt, woher kommt das Geld, sagen wir einmal: diese 40 Milliarden DM? Sie, Herr Stoltenberg, haben nicht unsere Behauptung dementiert, daß diese Steuerreform, wenn sie kommt, durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer finanziert wird.
20052 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986
Dr. Struck
Sie haben auch nicht dementiert, daß sie durch eine Erhöhung der Verbrauchsteuern finanziert wird. Und Sie haben nicht dementiert, daß Subventionsabbau für Sie Streichung von Rechten von Arbeitnehmern heißt. Das alles haben Sie nicht dementiert. Wir werden das behaupten, solange keine klare Erklärung von Herrn Stoltenberg dazu kommt.
Ich frage Sie jetzt, Herr Kollege Stoltenberg — ich freue mich, daß Sie wieder da sind —: Beabsichtigen Sie, den Spitzensteuersatz zu senken, ja oder nein?
Herr Kollege Stoltenberg, beabsichtigen Sie, den Körperschaftsteuersatz und — daraus folgend — dann auch den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer zu senken? Herr Kollege Stoltenberg, beabsichtigen Sie, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, und, wenn ja, um wieviel Punkte? Beabsichtigen Sie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen bis zwei Punkte allein für die Tarifanpassung, um einen weiteren Punkt für die Finanzierung Europas, Herr Kollege Stoltenberg? Und beabsichtigen Sie ebenfalls — es gibt ja da immer dieses Gerede vom Ersatz der Gewerbesteuer —, etwa eine Abschaffung der Gewerbesteuer, Herr Kollege Stoltenberg, mit einer weiteren Erhöhung der Mehrwertsteuer um drei Punkte zu finanzieren? Beantworten Sie das jetzt. Sie haben hier Gelegenheit dazu. Sie haben diese Fragen nicht beantwortet.
Wir wären dann bei einer Mehrwertsteuer von etwa 19 bis 20 Punkten. Das sind 60 Milliarden DM zusätzliche Belastung. Und wir Sozialdemokraten wissen ganz genau — das hat schon Ferdinand Lassalle gesagt, und Sie sollten es eigentlich auch wissen —: Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer belastet immer und vor allen Dingen den kleinen Mann.
Im übrigen, Herr Kollege Stoltenberg, können Sie auch eine Zwischenfrage stellen. Ich bin gern bereit, Zwischenfragen zu beantworten. So können Sie, Herr Stoltenberg, gern eine Zwischenfrage in dem Sinne stellen, daß Sie mich fragen: Wollen Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich keine Erhöhung der Mehrwertsteuer beabsichtige?
Ich möchte Sie oder vielleicht den Kollegen der Unionsfraktion, der nach mir noch reden wird, um eine verbindliche Erklärung zu folgendem Punkt bitten:
Heißt, Herr Stoltenberg, Subventionsabbau für Sie Streichung der Arbeitnehmerfreibeträge? Heißt Subventionsabbau für Sie Streichung des Weihnachtsfreibetrages?
Heißt Subventionsabbau für Sie Besteuerung von Nachtarbeits-, Sonntags- und Feiertagszuschlägen? Wenn das für Sie Subventionsabbau ist, werden Sie in diesem Punkt auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen.
Ich frage Sie weiter, Herr Kollege Stoltenberg — wir haben das Thema schon einmal Mitte dieses Jahres diskutiert —: Heißt Subventionsabbau für Sie auch, daß die Arbeitnehmer, die Jahreswagen günstiger kriegen — in Wolfsburg, Stuttgart oder anderswo —, künftig damit zu rechnen haben, daß das besteuert wird? Und ich frage Sie auch, Herr Kollege Stoltenberg: Beabsichtigen Sie etwa, denjenigen Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeitern, die im Einzelhandel, bei Karstadt, Kaufhof oder anderswo über Rabatt verbilligte Einkaufsmöglichkeiten haben, dies auch noch wegzunehmen,
indem Sie das der Steuerpflicht unterwerfen?
— Ich habe das zu hören geglaubt, Herr Stoltenberg, wenn Sie sagen: eine gute Frage. Dann habe ich Sie wohl falsch verstanden. Aber dann gehen Sie hier jetzt einmal her und sagen Sie, ob Sie das wollen.
Auch dort werden Sie auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen. Mit uns Sozialdemokraten können Sie natürlich Subventionsabbau machen. Wir haben bewiesen, daß wir das können. Wir haben mit dem Subventionsabbaugesetz 10 Milliarden gestrichen. Wir haben da gar keine Probleme mit der Vergangenheit.
— Sie verstehen doch nichts davon, Herr Mann. Also ganz ruhig! — Subventionsabbau heißt für uns
— darauf komme ich gleich — nicht, daß man das bei den kleinen Leuten macht, daß man ihnen die Steuerfreiheit für Sonntagsarbeit wegschneidet und sagt: Das sind Subventionen; wir wollen Subventionsabbau. Mit uns ist das nicht zu machen. Nicht mit uns Sozialdemokraten!
— Ja, jetzt komme ich dazu.
Ich will Ihnen mal etwas zur Debatte über Subventionsabbau sagen. Herr Kollege Stoltenberg, da muß ich Ihnen sagen: In einem Punkt haben Sie Respekt verdient, nämlich in dem Punkt, daß Sie bekannt haben, daß Sie Fehler gemacht haben. Ich finde das immer gut. Politiker sind nicht allwissend. Bei Ihnen merkt man das mehr als bei uns, sage ich mal. Jedenfalls in einem Punkt haben Sie für meine Begriffe eine ehrliche Erklärung — noch drüben im alten Plenarsaal — abgegeben. Sie haben gesagt:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986 20053
Dr. Struck
Das, was Sie und Herr Kohl in der Zeit, als Sie in der Opposition waren, gefordert haben, nämlich Subventionsabbau linear um 5%, 10 %, sei nach Ihren derzeitigen Erkenntnissen in diesem Amt, in dem Sie sind, nicht machbar. Das ist eine ehrliche Erklärung. Sie sollten aber auch hier noch einmal sagen: Das Rasenmäherprinzip ist keine mögliche Methode für Subventionsabbau. Wir werden vielmehr jede einzelne Subvention überprüfen müssen, auch Steuersubventionen.
— Ach nein. Das hat damit gar nichts zu tun. Herr Mann, Sie haben wirklich keine Ahnung. Seien Sie ganz ruhig und hören Sie mal zu! In dieser Debatte können Sie was lernen.
Jetzt zu der Frage: Wo streichen wir Subventionen? Es soll ja berühmte Steinbruchlisten in Ihrem Haus geben.
— Ich weiß, die gibt's schon lange. Da gibt es die Versionen I, II, III usw. In der Republik ist jeder gespannt, den aktuellen Stand zu erfahren.
Ich verspreche Ihnen für die Sozialdemokraten und biete Ihnen das an: Wenn wir in der Regierung sind, werden wir auch Ihre Listen überprüfen, was davon sinnvoll ist. Aber ich sage noch mal: Wenn es gegen die Arbeitnehmer geht, bleiben diese Punkte als Subventionen erhalten — wenn man sie überhaupt als Subventionen bezeichnen will.
Jetzt komme ich zu unserem Tarif, dem sogenannten Rau-Tarif. Es scheint ja jetzt üblich zu sein
— der Kollege Solms ist leider nicht mehr da —, im Plenum etwas hochzuhalten. Auch ich mache das jetzt. Herr Stoltenberg, Sie haben ja auch gesagt, Sie hätten das noch nie gesehen und wüßten gar nicht, wie man das errechnet. Ich gebe Ihnen das nachher freundlich als Lektüre für Weihnachten mit.
Dies ist der Rau-Tarif. Da kann man sehen, wo die Entlastungen sind. Und das ist der Kohl-Tarif. Die Überschrift dazu ist: Wer hat, dem wird gegeben. Das stimmt. Und zum Rau-Tarif ist die Überschrift: Weniger Steuern für viele. Das ist unsere Politik.
Ich will das an einem Punkt deutlich machen.
— Nun regen Sie sich doch nicht auf! Man kann hier doch noch die Wahrheit sagen. — Die Steuersenkung für 1988 nach dem Rau-Tarif ist für 90 % der Verheirateten und für 80% der Ledigen günstiger als das, was Sie verabschiedet haben. Herr Stoltenberg, Sie werden es nachher nachprüfen können.
Zweitens. Nach dem Rau-Tarif werden 1988 Verheiratete mit einem Monatsgehalt bis zu 8 000 DM und Ledige mit einem Monatsgehalt bis 4 000 DM weniger Steuern als nach dem Tarif der Bundesregierung zahlen.
Ich sage den letzten Satz zu dem Rau-Tarif 1988. Unsere Konzeption auch zur Familienförderung mit einem Kindergeld von monatlich 100 DM für das erste, 200 DM für das zweite und 300 DM für jedes weitere Kind bei gleichzeitigem Wegfall der Kinderfreibeträge, zusammengenommen mit unseren Vorstellungen über eine Tarifkorrektur, wird dazu führen, daß nach unserem Konzept eine Familie mit zwei Kindern mit einem Monatsgehalt bis zu 2 800 DM, Herr Kollege Stoltenberg, keine Lohn- und Einkommensteuer mehr zu zahlen hat.
Dieses werden wir den Bürgern in unserem Lande klarmachen. Für uns heißt Steuerpolitik Gerechtigkeitspolitik.
Für uns ist Steuerpolitik eine Politik, die für soziale Gerechtigkeit in diesem Lande zu sorgen hat und nicht für eine Ellenbogengesellschaft. Wir sehen mit großem Vertrauen der Wahlentscheidung des Bürgers am 25. Januar entgegen, weil er nämlich weiß, daß er bei unserer Steuerpolitik gerecht behandelt wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Uldall.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Struck, Sie können gewiß sein, daß, wenn man solche Ausführungen kurz vor der Wahl macht, man seine Wahlchancen deutlich verringert. Was der Wähler will, das sind nicht Fragen, die Sie zu stellen haben, sondern der Wähler richtet seine Entscheidung nach den Antworten aus, die Sie zu den großen Herausforderungen der Zeit zu geben haben.
Man muß leider feststellen, daß die Sozialdemokraten die Chancen, die mit einer steuerpolitischen Debatte verbunden sind, nicht genutzt haben. Die Sozialdemokraten haben hier ihre Vorstellungen über das nicht verdeutlichen können, was sie in der nächsten Legislaturperiode machen werden. Herausgekommen ist nur eine bunte Vielfalt unterschiedlicher Vorstellungen alter sozialistischer Hüte, alter Versprechungen, die die Sozialdemokraten bereits damals längst hätten verwirklichen können, als sie an der Regierung waren.
Diese Chancen, die hier gegeben waren, wurden von Ihnen leider nicht genutzt.
20054 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986
Uldall
Nun möchte ich am Ende einer Legislaturperiode und in einer steuerpolitischen Debatte, die sich mit der Zukunft auseinandersetzen will, die Worte eines Staatsmannes zitieren, die er vor über 2000 Jahren seinen Zuhörern gesagt hat. Es war Marcus Tullius Cicero, der 55 v. Chr. einmal gesagt hat:
Der Staatshaushalt muß ausgeglichen sein. Die öffentlichen Schulden müssen verringert, die Arroganz der Behörden muß gemäßigt und kontrolliert werden.
Die Zahlungen an ausländische Regierungen müssen reduziert werden, wenn der Staat nicht bankrott gehen soll. Die Leute sollen wieder lernen zu arbeiten, statt auf öffentliche Rechnung zu leben.
Ich kann nur feststellen: Offensichtlich hat es damals im alten Rom keinen Stoltenberg gegeben; denn Stoltenberg hat dafür gesorgt, daß diese Dinge bei uns weitestgehend in den Griff gekommen sind.
Wir können im Jahre 1986 in der Bundesrepublik auf eine erfolgreiche Finanzpolitik der letzten vier Jahre zurückblicken, eine Entwicklung, die so erfreulich war, daß sie hier nicht noch einmal durch Zahlen belegt werden muß.
Zwei einfache Erkenntnisse haben zu diesem Erfolg geführt. Die erste Erkenntnis ist: Der Staat soll sich mit seinen wirtschaftlichen Aktivitäten möglichst zurückhalten. Je weniger er tut, desto besser. Die zweite Erkenntnis ist: Der Staat soll nicht mehr ausgeben, als er einnimmt. Dieses Grundprinzip, das für jeden Bürger gilt, gilt natürlich auch für die Regierung. Wenn sie sich daran hält, dann wird man eben auch zu einer Gesundung der Finanzen kommen. Wir haben Ihnen das ja soeben vorführen können.
Leider müssen wir aber feststellen, daß die finanzpolitischen Vorstellungen der Sozialdemokraten wieder auf eine Erhöhung der Neuverschuldung hinauslaufen werden.
— Es gibt ja keinen, Herr Spöri, der genau sagen kann, welche Programme der SPD zur Zeit eigentlich gültig sind.
Wenn wir nur einmal zwei Programme herausgreifen — die Programme „Aktive Arbeitspolitik" und „Arbeit und Umwelt" —, dann müssen wir feststellen, daß diese Programme etwa 25 Milliarden DM kosten werden.
Sie bieten zur Finanzierung eine zusätzliche Ergänzungsabgabe an, die etwa 3 bis 5 Milliarden DM bringen wird. Sie bieten Pfennige auf den Energieverbrauch an, die niemals die 20 Milliarden DM bringen würden, die zusätzlich erforderlich wären, um Ihre Ausgabenprogramme zu decken. Es wird also bei Befolgen der sozialdemokratischen Politik wiederum ein gewaltiges Defizit im Haushalt entstehen.
Die Bundesrepublik würde damit auf den verhängnisvollen Weg zurückgeführt werden, von dem wir uns in den letzten Jahren unter großen Mühen gelöst hatten. Alles, was wir seitdem an wirtschaftlicher Konsolidierung erreicht hatten, würde wieder aufs Spiel gesetzt werden. Diese finanzpolitische Rückwärtswende der SPD darf in der Bundesrepublik nicht stattfinden.
Von einer Verschuldungspolitik und den Preissteigerungen im Gefolge dieser Politik hätte kein einziger Bürger irgendwelche Vorteile zu erwarten. Im Gegenteil: Hohe Zinsen würden die Betriebe belasten und daran hindern, in neue Anlagen zu investieren und so neue Arbeitsplätze zu schaffen. Hohe Preissteigerungen würden die Realeinkommen von Arbeitnehmern, Rentnern und Sozialhilfebeziehern schmälern, denn die Erfahrung zeigt ja, daß die Einnahmen nie so schnell steigen können, wie die Inflation steigt. Hohe Staatsschulden würden den politischen Gestaltungsspielraum schmälern und müßten dann von der nachfolgenden Generation abgetragen werden.
Die Jungwähler hätten allen Grund, die politischen Parteien einmal zu befragen, wie sie es eigentlich mit den Schulden für die Zukunft halten und was sie der nachfolgenden Generation an Erblast übergeben wollen.
Verschuldung wirkt wie eine Droge: Der Genuß ist zunächst berauschend; die schrecklichen Folgen stellen sich aber dann sehr schnell ein. Wir werden verhindern, daß in der Bundesrepublik die Droge Verschuldung wieder frei geschluckt werden kann. Was wir brauchen, ist nicht eine neue Verschuldungswelle, sondern eine solide gestaltete Finanzreform. Bei dieser Finanzreform darf es aber nicht nur um Steuersenkung gehen, sondern es muß auch um eine Steuervereinfachung gehen. Beide Ziele, Steuersenkung und Steuervereinfachung, müssen gleichberechtigt nebeneinander stehen.
In dem Glauben, so mehr Gerechtigkeit zu schaffen, wurden im Laufe der Jahre immer wieder neue Ausnahmetatbestände in das Steuerrecht aufgenommen. Das Ergebnis ist ein Dschungel von Vorschriften, durch den selbst die Spezialisten heute kaum noch durchdringen. Die Lage ist doch paradox: Die Steuerberater, die ja eigentlich davon leben sollten, daß sie diesen Dschungel entwirren, beklagen sich heute darüber, daß dieses Steuerrecht viel zu kompliziert und selbst für diese Spezialisten nicht mehr zu lösen ist.
Alle steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten kann nur der geltend machen, der entweder viel Zeit oder
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986 20055
Uldall
viel Aufwand in seine steuerlichen Lösungen investiert.
Das kann nicht jeder. Durch die vielen Ausnahmetatbestände ist das Steuerrecht bei uns nicht gerechter, sondern ungerechter geworden. Steuervereinfachung heißt deswegen auch immer mehr Gerechtigkeit in der Steuerwirklichkeit.
Dies durchzusetzen, wird nicht leicht sein. Mit dem Ruf: „Das ist ja fürchterlich ungerecht" werden dann die Verbände und Interessengruppen die Vorschläge für mehr Gerechtigkeit zu verhindern suchen. Alle, die uns heute auffordern, dem amerikanischen Beispiel zu folgen, sind jetzt schon eingeladen, uns für die sich dann abzeichnenden Widerstände gegen unsere Reformpolitik die entsprechende Unterstützung zu geben. Es wird leichter sein, viele Ausnahmen als nur wenige Ausnahmen zu streichen.
Die Widerstände gegen diese Streichungen heben sich dann gegenseitig auf. Der Chor der Proteste wird weniger eindrucksvoll ausfallen. Die Beseitigung von hundert Steuervergünstigungen wird leichter als die Beseitigung von nur fünf Ausnahmen durchzusetzen sein. Das Finanzministerium sollte deswegen auch im Interesse der Durchsetzbarkeit seiner Reformen nicht halbherzig an seine Vorschläge herangehen.
Wir haben deswegen die Chance, in den kommenden vier Jahren eine große Steuerreform durchzuführen, die zu Steuersenkungen und Steuervereinfachungen führen wird. Der Finanzminister, der heute seine Vorstellungen vorgetragen hat, hat in dieser Frage die ungeteilte Unterstützung der CDU/ CSU-Fraktion.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Auhagen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will auf den Zusammenhang zwischen Steuerreform und Arbeitslosigkeit eingehen. Ich möchte in die gleiche Richtung wie der Kollege Rappe
— Rapp — argumentieren, weil dessen Argumentation in dieser Debatte zu kurz gekommen ist. Es geht um die Betrachtung der Zukunftsperspektiven.
Ich stelle fest: Wir sind für eine Steuerreform zugunsten der Bezieher unterer Einkommen, und, Herr Kollege Spöri, wir sind für eine Steuerreform, die das Steuerrecht so vereinfacht, daß die Bezieher niedriger Einkommen nicht wie bisher bei der Steuer Verluste hinnehmen müssen, weil sie sich keinen Steuerberater leisten können, während die Großverdiener heute durch die Kompliziertheit des
Steuersystems die Möglichkeit haben, Schlupflöcher auszunutzen.
Daher sind wir für eine Steuerreform. Wir sagen jedoch nein zu einer Steuerreform, die den Handlungsspielraum der öffentlichen Hand, der Gesellschaft drastisch einengt.
Die Steuerreform, die die Regierung hier vorschlägt — sie soll eine Steuerentlastung in Höhe von 40 Milliarden DM für die nächsten Jahre bewirken —, bedeutet den Verzicht auf eine aktive Politik zur Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit.
Das Prognos-Institut in Basel, ein Institut, auf das die Bundesregierung zur Erstellung von Gutachten zurückgreift, hat gesagt, daß wir selbst bei einer Wachstumsrate von 2,5 %, die selbst in diesem Jahr noch nicht feststeht, bis in die 90er Jahre mit 2,7 Millionen registrierten Arbeitslosen zu rechnen haben. Wir können uns hier im Haus über einzelne Teilstrategien zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit streiten, aber eines ist klar: Auf welche Weise auch immer man gegen die Arbeitslosigkeit vorgehen will, ob durch Arbeitszeitverkürzung oder durch die Ausweitung des öffentlichen Dienstes oder durch Investitionen für ökologische und soziale Zwecke —, der Staat muß wesentlich mehr Mittel zur Verfügung stellen, oder alles ist illusorisches Gerede ohne die entscheidende Bereitschaft, etwas gegen Arbeitslosigkeit zu tun.
Das heißt: Die Zahl der Betroffenen und der Arbeitslosen in diesem Lande, der vielen Leute in ungesicherten Existenzverhältnissen hat seit dieser Wende-Regierung drastisch zugenommen. Wir werden in zunehmendem Maße erleben, wie auf der einen Seite entlastet wird, während der Staat auf der anderen Seite immer geiziger, immer kontrollierender, selbst bei den geringsten Einkommen, bei der Sozialhilfe, immer restriktiver vorgehen wird.
Hier muß eine grundsätzliche Wende eintreten.
Lassen Sie mich noch einmal deutlich sagen: Die Regierung spart und entlastet die Bürger so wie ein Hausbesitzer, der bei der Reparatur eines defekten Daches spart. Kurzfristig scheint das eine Ersparnis zu sein, langfristig wird die Struktur des Hauses ruiniert.
Dies trifft insbesondere auf die ökologischen Herausforderungen zu, z. B. in der Gestalt von mehreren zehntausend Mülldeponien, die in diesem Lande verstreut sind,
20056 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986
Auhagen
Wenn diese Mülldeponien „durchrosten" und wenn die dort gelagerten, zum Teil sehr gefährlichen Substanzen ins Trinkwasser gelangen, kann es dazu kommen — es gibt schon verschiedene Beispiele, Bielefeld und Georgswerder in Hamburg —, daß ganze Gebiete unbewohnbar werden oder daß Gebiete, wie wir es jetzt bei der Rheinverschmutzung erlebt haben, darauf angewiesen sind, daß die Feuerwehr mit Wasserbeuteln herumfährt, um die Leute mit Wasser — zwei Liter pro Tag — zu versorgen. All diese Gefahren drohen nicht heute, nicht nächstes Jahr, aber sie kommen in den nächsten zehn, zwanzig Jahren sicher auf uns zu, wenn wir jetzt nicht bereit sind, sehr viel Geld auszugeben, um diese chemischen Zeitbomben aus dem Boden herauszuholen.
Wer heute spart und diese Maßnahmen nicht durchführt, verhält sich wie der von mir erwähnte Hausbesitzer, der auf der falschen Seite spart und letztendlich verschwendet.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen. Wir werden in den nächsten Jahren eine neue Rezession erleben. Die ersten Anzeichen werden deutlich. Das wird sich für Sie im Wahlkampf noch nicht auswirken. Ich sage Ihnen aber eines: Wenn wir eine erhöhte Massenarbeitslosigkeit in diesem Land haben, wenn wir noch weit über den Sockel von zwei Millionen Arbeitslosen hinaus kommen, dann wird bei dieser abwartenden Haltung des Staates, bei dieser Vernachlässigung der Opfer der Arbeitslosigkeit darunter auch — ich bitte, das sehr deutlich im Gedächtnis zu behalten — der innere Friede leiden.
Wir werden keine friedlichen Verhältnisse in diesem Land haben,
wenn diese Art der Gleichgültigkeit der Mehrheit gegenüber den Arbeitslosen weiter zunimmt.
Ich appelliere an Sie — gerade auch, um den inneren Frieden perspektivisch aufrechtzuerhalten —: Denken Sie nicht von heute auf morgen, seien Sie bereit, Handlungsspielraum zur Bekämpfung der ökologischen und sozialen Krise zu schaffen!
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Spilker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik dieser Bundesregierung standen in der jetzt zu Ende gehenden 10. Legislaturperiode unter einem guten Stern und waren sehr erfolgreich. Das wird von der Mehrheit unseres Volkes so gesehen, von den meisten Sachverständigen, in der Literatur und in den Medien so beurteilt. Das kam auch in den Wahlergebnissen der letzten Monate — in Bayern, Hamburg — zum Ausdruck,
die den Sozialdemokraten von ihnen nicht erwartete schlimme Niederlagen bereiteten und damit bestätigten, daß ihre Politik falsch war.
In der heutigen Steuerdebatte zeigte sich erneut — kurz vor den Bundestagswahlen für mich nicht überraschend —, daß die Opposition die Erfolge dieser Regierung nicht anerkennt, nicht sieht, nicht sehen will. Es gab zwar keine brauchbaren, für die Bürger nützlichen Alternativen, auch keine rednerischen Leckerbissen — wenn ich einmal absehe von den Beiträgen der Kollegen Schlatter und Rapp —,
dafür aber demagogische — Herr Spöri, damit meine ich ganz besonders Sie — und agitatorische Äußerungen mit Behauptungen und Prophezeiungen, die keiner Nachprüfung standhalten.
Die heutige Debatte hat erneut deutlich gemacht, daß unsere Meinungen über die Steuerpolitik dieser Bundesregierung weit auseinandergehen.
Über die Notwendigkeit einer Steuerreform gibt es zwar Konsens, nicht jedoch über ihre Ausgestaltung. Hier die SPD, die nach ihrem alten Strickmuster verfährt, die die höheren Einkommen und Leistungen benachteiligt, j a zum Teil sogar verteufelt, in Leuchtschrift auf ihre Parteifahnen heftet und immer noch nicht den 13jährigen Irrungen und Wirrungen ihrer verfehlten Fiskalpolitik abgeschworen hat. Auf der anderen Seite die CDU/CSU, die, dem notwendigen Gleichklang von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik folgend, auf dem soliden Fundament ihrer Konsolidierungspolitik seit Oktober 1982 die Steuerreform der Zukunft entwickelt.
Das Steuerprogramm der CDU/CSU zeichnet sich durch sein einfaches, gradliniges Konzept aus. Es lautet: Besser niedrige Steuersätze mit wenigen Ausnahmen als hohe Steuersätze mit vielen Ausnahmen.
Die spürbare nachhaltige Entlastung unserer Bürger durch einen leistungs- und wachstumsfreundlichen, sanft und gleichmäßig ansteigenden Einkommensteuertarif ist und bleibt unser Ziel. Die deutliche Anhebung des Grund- und des Kinderfreibetrages kommt hinzu.
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Spilker
Herr Spöri, Sie haben immer Ihre Schwierigkeiten u. a. mit der Körperschaftsteuer.
Sie wissen doch — Herr Struck, das gilt auch für Sie —, daß im internationalen Vergleich die zu hohe Besteuerung der Unternehmen durch Körperschaftsteuer, insbesondere für einbehaltene Gewinne, korrigiert werden muß.
Die Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft bei veränderten weltwirtschaftlichen Bedingungen hängt von ihrer Kostenbelastung ab, nicht nur durch Lohnkosten, nicht nur durch Sozialabgaben, sondern auch durch Steuern. Das muß man doch erkennen, wenn man den volkswirtschaftlichen Kreislauf so versteht, wie es vorhin von Herrn Schlatter hier erwähnt wurde.
— Sie sind erkältet, ich wünsche Ihnen gute Besserung.
Wenn demgegenüber von der SPD die Forderung nach einem Zuschlag zur Körperschaftsteuer in Form einer Ergänzungsabgabe erhoben wird, meine Damen und Herren von der SPD, scheint mir dies ganz besonders kurzsichtig zu sein. Es ist geradezu ein Patentrezept zur Vernichtung von Arbeitsplätzen und zur Inszenierung von Steuerflucht, zu der ich mich nicht äußern möchte, weil das der Kollege Dr. Kreile schon getan hat.
Natürlich wollen Sie von der SPD immer wieder den Eindruck erwecken, daß bei Ihnen der kleine Mann besser abschneidet.
Daß das nicht der Fall ist, weiß in der Zwischenzeit nahezu jeder; und wenn es der Bürger heute nicht weiß, dann hat er wenigstens ein Gespür dafür.
Alles das, was um die Neue Heimat passiert ist, beweist dies, was ich hier sage.
Worum geht es Ihnen eigentlich im Kern?
Es geht Ihnen darum, unter dem Vorwand von Steuergerechtigkeit als selbsternannte Umverteilungsfunktionäre Ihren erneuten Machtaufbau vorzubereiten. Um nichts anderes geht es Ihnen.
Das bekanntgewordene Steuerprogramm der SPD mit seinen erheblichen Steuerverschärfungen läßt erahnen, was auf unsere Bürger und Unternehmer zukäme, wenn Sie nach den Wahlen den Kurs zu bestimmen hätten. Es würde zu einer erneuten Attacke auf die Belastbarkeit unserer Wirtschaft
und unserer arbeitenden Bevölkerung geblasen, mit ganz fatalen Konsequenzen für uns alle.
Wohin im übrigen die Reise geht, sieht man auch, gerade in den letzten Wochen und Monaten, bei Ihren Angriffen auf die Bundesbank, die einen wesentlichen Anteil am Erfolg unserer Stabilitätspolitik hat, weil sie stetig und nachhaltig inflationäre Tendenzen bekämpft. Wir müssen uns doch fragen, wie sozial eigentlich eine Politik ist, die immer wieder Versuche unternimmt oder es zuläßt, die Inflation anzuheizen. Gerade diejenigen in der SPD, die in den 70er Jahren und Anfang der 80er Jahre mit dafür verantwortlich waren,
daß das Staatsschiff an den Klippen der Verschuldung leckschlug, ereifern sich heute,
der Bundesregierung den Marsch in den Lohnsteuer- und Abgabenstaat vorzuwerfen.
— Durch Ihre Zwischenrufe bekommen Sie auch nicht recht, Herr Spöri.
Sie haben sich heute früh schon ausgezeichnet bei Ihrem Rundumschlag.
— Ich würde Ihnen raten, sich jetzt etwas zurückzuhalten, wie wir das auch getan haben.
Herr Spöri, es ist doch gar kein Wunder, auch bei Ihrem Verhalten hier,
daß die SPD ihre Glaubwürdigkeit durch solche fragwürdigen Argumentationen immer mehr verspielt. Anstatt sich dazu zu bekennen, daß Ihnen und Ihren Genossen das Schiff aus dem Ruder gelaufen ist und Ihnen das Kapitänspatent bei den Bundestagswahlen im März 1983 aberkannt worden ist
— da hat man Sie aus der Regierung weggewählt, meine Damen und Herren —, ereifern Sie sich ununterbrochen unter Bezugnahme auf Ihre alten Rezepte, hier etwas vorzuschlagen, was Sie nie vorher realisiert haben, was Sie jetzt nicht realisieren können und was Sie in Zukunft nicht realisieren werden, weil wir und die Bürger Sie daran hindern werden.
Nun, nachdem wir das Schiff in relativ kurzer Zeit wieder flottgemacht haben, fangen Sie auch noch an, sich mit voller Brust, aus voller Kehle und manchmal auch mit rauher Stimme damit zu brüsten, daß Sie das alles schon früher und besser hät-
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Spilker
ten erledigen können. Glauben Sie das eigentlich selbst? Sie haben früher nichts getan,
Sie haben früher die Mißerfolge produziert, und wir waren diejenigen, die darunter zu leiden hatten. Aber Sie werden ja nicht satt, Sie wiederholen immer wieder Ihre Forderungen und glauben, mit den Wiederholungen würden Sie das eine oder andere verbessern.
Diese Debatte hat bestätigt: Eine gute Regierung, meine Damen und Herren von der SPD, kann man aus der Opposition heraus mit Schlagworten, Agitation, Verleumdung und Miesmacherei nicht erfolgreich bekämpfen.
Dazu gehört schon etwas mehr,
und der Weg auf die Regierungsbank da drüben, meine Damen und Herren, wird so für Sie sehr, sehr lang sein.
Diese Bundesregierung wird ihre Politik der Konsolidierung fortsetzen
und Handlungsfreiräume für ihre Politik von morgen schaffen. Insofern unterscheidet sie sich ganz wesentlich von ihrer Vorgängerin,
die nur an gestern, an heute, aber nie an morgen gedacht hat, die an ihre eigene Macht und nicht an diejenigen dachte, die die Folgen dieser Politik zu tragen hatten.
— Ich habe immer geglaubt, daß der Herr Präsident bestimmt, wann die Zeit abgelaufen ist, und nicht gedacht, daß Sie hier seine Vertretung zu übernehmen haben.
Meine Damen und Herren, zu dieser Politik der Solidität und der Konsolidierung gehört in der nächsten Legislaturperiode eine Steuerreform, die ihren Namen auch verdient,
mit fühlbaren Entlastungen für die Steuerzahler. Das wird eine Politik für alle sein.
Die Gerechtigkeit hat auch unser Steuerrecht zu beherrschen, das zudem noch vereinfacht werden muß. Hieraus folgt die Notwendigkeit, Steuern zu senken, nicht umzuschichten, und Steuerpflichtige so zu entlasten, wie sie es verdienen. Wenn ich mir Ihren Steuertarif in Erinnerung rufe mit diesem Mittelstands-und-Facharbeiter-Bauch, dann wird mir schlecht. Diese Progression entwickelt sich bei Ihnen zu einer Steilwand. Wer will denn hier noch von gerechten Steuern reden, wer will denn noch von gerechten Belastungen sprechen, wer kann hier noch Einfachheit erblicken?
Wo leben wir denn? Wollen wir etwas reformieren oder etwas schlechter machen?
Wir werden es nicht zulassen, daß der Fleiß unserer Mitbürger bestraft wird. Wir werden dafür sorgen, daß er belohnt wird, und das nachhaltig und dauerhaft, nicht kurzfristig. Wir werden dafür sorgen, daß dem Staat nur das bleibt, was er bei sparsamer und verantwortungsbewußter Haushaltsführung benötigt, um die Sicherheit, die Freiheit und die Gerechtigkeit, auch die soziale Gerechtigkeit für unsere Bürger zu gewährleisten.
Das war, ist und bleibt unsere Politik.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zu den Einzelberatungen, zuerst zur Einzelberatung und Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 45 c, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Einschränkung des Mißbrauchs des Gemeinnützigkeitsrechts auf der Drucksache 10/4045. Der Ausschuß empfiehlt auf den Drucksachen 10/6083 unter Ziffer 2, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/4045 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei einigen Enthaltungen angenommen.
Es ist noch über eine Entschließung des Ausschusses abzustimmen. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 10/6083 unter Ziffer 1 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Entschließung ist angenommen.
Wir stimmen jetzt über Tagesordnungspunkt 45d, die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 10/4944, ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/4137 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Zu Tagesordnungspunkt 45e schlägt der Ältestenrat Überweisung der Vorlage auf Drucksache 10/5210 an den Finanzausschuß vor. Gibt es andere
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Präsident Dr. Jenninger
Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nunmehr zu Tagesordnungspunkt 45f, und zwar zunächst zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf der Drucksache 10/6706. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses auf der Drucksache 10/5703 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/4525 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, meine Damen und Herren, erteile ich dem Abgeordneten Collet nach § 32 der Geschäftsordnung das Wort zu einer persönlichen Erklärung außerhalb der Tagesordnung.
Meine Damen und Herren! Nur der Ordnung halber und ohne Wertung darf ich feststellen, daß ich den mir in dem Protokoll über die 241. Sitzung auf Seite 18616, rechts unten, zugeschriebenen Zwischenruf nicht gemacht habe.
Den Zwischenruf hat mein Kollege Erwin Stahl gemacht.
Meine Damen und Herren, die Klärung ist insofern schon erfolgt, als dieses Vorbringen des Kollegen Collet im Protokoll der 245. Sitzung berücksichtigt worden ist. Aber es ist jetzt noch einmal eine Erläuterung gewesen.
Ich rufe Punkt 46 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Laufs, Schmidbauer, Fellner, Dr. Göhner, Dr. Blens, Carstensen , Herkenrath, Dr. Lippold, Michels, Rode (Wietzen), Scharrenbroich, Schneider (Idar-Oberstein), Wittmann (Tännesberg) und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Baum, Dr. Hirsch, Bredehorn, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum vorsorgenden Schutz der Bevölkerung gegen Strahlenbelastung (Strahlenschutzvorsorgegesetz — StrVG)
— Drucksache 10/6082 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 10/6639 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Blens Schäfer
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 10/6645 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Kühbacher Dr. Riedl
Dr. Weng Dr. Müller (Bremen)
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/6718 vor.
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. — Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Blens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben das Strahlenschutzvorsorgegesetz in den letzten zweieinhalb Monaten sehr intensiv und gründlich im Umweltausschuß beraten. Das Ergebnis der Beratungen läßt sich so zusammenfassen: Die Notwendigkeit des Gesetzes, die grundsätzliche Richtigkeit der Zielsetzung des Gesetzes und die grundsätzliche Richtigkeit der Konstruktion des Gesetzes sind von der Mehrheit des Bundesrates und von der weit überwiegenden Mehrheit der Sachverständigen eindeutig bestätigt worden. Es hat auf Grund der Anregungen des Bundesrates und der Sachverständigen Änderungen des ursprünglichen Entwurfs gegeben, die zu Verbesserungen geführt haben. Dafür einige Beispiele:
Wir haben eine Straffung und größere Klarheit des Gesetzestextes und des Inhalts durch die Neuformulierung des Gesetzeszwecks in § 1 erreicht. Danach ist es das Ziel des Gesetzes — neben der Überwachung der Radioaktivität —, die Strahlenexposition der Menschen und die radioaktive Kontamination der Umwelt im Falle von Ereignissen mit möglichen nicht unerheblichen radiologischen Auswirkungen unter Beachtung des Standes der Wissenschaft und unter Berücksichtigung aller Umstände durch angemessene Maßnahmen so gering wie möglich zu halten. Damit, meine Damen und Herren, ist das sogenannte Minimierungsgebot, wie wir es auch aus anderen Vorschriften, z. B. aus der Strahlenschutzverordnung kennen, unzweideutig zum entscheidenden Ziel des Gesetzes gemacht, an dem sich alle Maßnahmen, die auf Grund dieses Gesetzes ergriffen werden, zu orientieren haben.
Wir haben nicht nur Klarstellungen, sondern wir haben auch eine stärkere Beteiligung der Länder erreicht. Bei den Verordnungen nach § 6 beispielsweise bleibt es dabei, daß grundsätzlich Verordnungen zur Festlegung von Dosis- und Kontaminationswerten der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Solche Verordnungen können nur in Ausnahmefällen ohne Mitwirkung des Bundesrates erlassen werden, nämlich dann, wenn noch keine Regelungen bestehen oder bestehende Regelungen
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Dr. Blens
zum Erreichen des Gesetzeszwecks nicht angemessen sind und im Falle eines Ereignisses mit nicht unerheblichen radiologischen Auswirkungen besondere Eile geboten ist. Um aber die Ausschaltung des Bundesrates in diesen Ausnahmefällen in möglichst engen Grenzen zu halten, treten diese Eilverordnungen ausnahmslos bereits nach zwei Monaten und nicht nach sechs Monaten — wie ursprünglich vorgesehen — außer Kraft.
Eine zweite Änderung kommt hinzu. Werden in einer derartigen Eilverordnung Regelungen geändert, die vorher in einer mit Zustimmung des Bundesrates erlassenen Verordnung getroffen worden waren, dann ist die Eilverordnung unverzüglich aufzuheben, wenn es der Bundesrat mit seiner Mehrheit verlangt.
Wir haben mit dieser Regelung drei Dinge erreicht. Erstens. Der Bund ist in der Lage, in einer Situation, die schnelles Handeln erfordert, schnell das zum Schutz der Bevölkerung Notwendige zu tun.
Zweitens. Die Beteiligung der Länder wird nicht weiter eingeschränkt, als es zum Schutz der Bevölkerung unbedingt erforderlich ist.
Drittens. Es ist nun für jeden, der nicht böswillig ist, klar, daß der Normalfall, den das Gesetz vorsieht, die Verordnung nach § 6 Abs. 1 ist, die nur mit Zustimmung des Bundesrates erlassen werden kann, und daß die Eilverordnungen nur für besondere, nicht vorhersehbare Sondersituationen in Frage kommen.
Die Sachverständigen — wir haben sehr viele dazu gehört — haben weit überwiegend bestätigt, daß eine solche Regelung zum Schutz der Bevölkerung unbedingt erforderlich ist.
Lassen Sie mich ein letztes Beispiel nennen für die Verbesserung der Länderbeteiligung, nämlich § 9. In § 9 Abs. 1 ist festgelegt, daß der Bundesumweltminister Empfehlungen an die Bevölkerung grundsätzlich im Benehmen mit den zuständigen obersten Landesbehörden aussprechen soll. Damit ist auch bei den Empfehlungen des Bundesumweltministers die Zusammenarbeit zwischen Bund und Landesbehörden sichergestellt. Will ein Land selbst im sachlichen Geltungsbereich des Gesetzes Empfehlungen aussprechen, so ist es dazu nach § 9 Abs. 2 nur berechtigt, wenn es sich um ein Ereignis im Gebiet dieses Landes mit ausschließlich örtlichen Auswirkungen handelt.
Das ist eine gewisse Einschränkung der Länderzuständigkeit, aber diese Einschränkung hat sich nach Tschernobyl als notwendig erwiesen. Es geht darum, zu verhindern, daß sich die Bürger unterschiedlichen Empfehlungen von Bund und Ländern gegenübersehen, infolgedessen nicht wissen, woran sie sich orientieren sollen, und deshalb mit Recht zu der Überzeugung kommen, daß sie in einer schwierigen Situation von den staatlichen Behörden im Stich gelassen werden.
Wir wollen eine solche Lage für die Zukunft ausschließen. Wir sind überzeugt, daß eine solche Situation mit Hilfe dieses Gesetzes in der Zukunft auch tatsächlich ausgeschlossen wird.
Um so bedauerlicher ist es, meine Damen und Herren, daß die SPD das Gesetz nach wie vor ablehnt, obgleich von ihren Einwänden, die sie ursprünglich vorgebracht hat, nichts mehr übriggeblieben ist. Die SPD hat in der ersten Lesung erklärt, sie lehne das Gesetz ab, weil die Abstimmung mit den Bundesländern nicht erfolgt sei. Inzwischen hat der Bundesrat das Gesetz beraten. Wir haben viele Anregungen des Bundesrates aufgenommen. Der Einwand der SPD ist insofern erledigt.
Die SPD hat zweitens erklärt, die Grenzwerte, die Kontaminations- und Dosiswerte, dürften nicht erst in einer Verordnung, sondern müßten im Gesetz selbst festgelegt werden. Sie hat in diesem Zusammenhang von einem „Ermächtigungsgesetz" gesprochen. Wir haben die Sachverständigen ausdrücklich gefragt, was sie von diesen Vorschlägen hielten. Es war kein einziger Sachverständiger da, der diese Vorstellung der SPD getragen hätte.
— Mit Ausnahme des Herrn Geulen, Herr Schäfer. — Damit ist auch dieser Einwand, der von vornherein nicht begründet war, erledigt.
Sie haben als Drittes gesagt, das Minimierungsgebot, wie es in der Strahlenschutzverordnung festgelegt sei, sehe dieses Gesetz nicht vor. Tatsache ist, daß das Minimierungsgebot in § 1 als Ziel des Gesetzes klar formuliert und Richtlinie für alle Maßnahmen ist, die auf Grund des Gesetzes zu erfolgen haben.
Schließlich haben Sie uns — das kam gebetsmühlenartig immer wieder, Herr Schäfer — vorgeworfen, wir hätten mit zu großer Eile beraten. Dazu will ich Ihnen zweierlei sagen: Für das, was Sie zur Beratung des Gesetzes beigetragen haben, hatten Sie wahrhaftig Zeit genug, denn Sie haben in all diesen Beratungen keinen einzigen Antrag zur Sache gestellt; Sie haben nur Anträge zum Verfahren gestellt, die das Ziel hatten, das Verfahren zu verzögern.
Im übrigen, Herr Schäfer: Wenn wir Ihnen zu schnell arbeiten, sollten Sie uns das nicht vorwerfen.
Sie sollten das zum Anlaß nehmen, einmal Ihr eigenes Arbeitstempo zu überprüfen.
Nun habe ich hier noch etwas: „Sozialnachrichten", herausgegeben vom Hessischen Sozialminister, vom 13. November 1986, Überschrift: Bonner Gesetz verhindert Gesundheitsschutz; Bundesregierung will Hessen zwingen, wöchentliche Strahlenberichte einzustellen. Ich zitiere aus dem Inhalt:
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Dr. Blens
Ich befürchte, daß wir möglicherweise in einigen Tagen oder Wochen gezwungen werden, unsere Meßberichte einstellen zu müssen.
Dies schrieb Hessens Sozialminister Armin Clauss, SPD, am Donnerstag.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich dazu feststellen: Wenn der Hessische Sozialminister das Gesetz gelesen und verstanden hat — und beides muß man bei einem Minister an sich unterstellen —, dann weiß er, daß er da etwas Falsches schreibt. Nach dem Gesetz kann er auch in Zukunft seine Meßergebnisse bekanntgeben. Was er nicht mehr kann, ist die Abgabe von Empfehlungen an die Bevölkerung bei Ereignissen, deren Auswirkungen örtlich nicht auf Hessen begrenzt sind. Das ist allein Sache des Umweltministers, und das muß allein Sache des Umweltministers sein,
um Situationen wie nach Tschernobyl in Zukunft zu vermeiden.
Wenn gesagt wird, das Bonner Gesetz verhindere Gesundheitsschutz, ist das schlicht Unsinn; denn wenn der Begriff „Gesundheitsschutz" im Gesetz, z. B. in § 1 nicht vorkommt, dann deshalb, weil das Gesetz schon viel früher einsetzt, nämlich im Vorsorgebereich, wenn von einer Gesundheitsgefährdung überhaupt noch keine Rede sein kann. Deshalb das Minimierungsgebot in § 1 des Gesetzes, das weit über den Gesundheitsschutz hinausgeht. Wenn trotzdem behauptet wird, das Gesetz verhindere den Gesundheitsschutz, dann ist das billige Polemik und eine bewußte Verdrehung der Tatsachen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß sagen: Wir haben das Gesetz gründlich beraten. Wir werden das Gesetz heute verabschieden, um unserer Verantwortung für die Sicherheit der Bevölkerung gerecht zu werden. Ich würde es begrüßen, wenn die SPD ebenfalls bereit wäre, in einer so wichtigen Frage Verantwortung zu übernehmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schäfer .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Katastrophe von Tschernobyl hat die Welt verändert, auch die Bundesrepublik Deutschland. Zwar verdrängt die Serie von Störfällen und Katastrophen in der chemischen Industrie das nukleare Risiko aus den Schlagzeilen, doch niemand soll sich täuschen lassen: Auch die beste Propaganda, auch der beste Verpackungskünstler kann die neue Erfahrung von Tschernobyl nicht auf Dauer aus dem Bewußtsein der Menschen verdrängen.
Auch ein halbes Jahr nach Tschernobyl sind 80 % der Menschen bei uns für den Ausstieg aus der Kernenergie.
Nur 20 % folgen der Parole „Weiter so" der CDU/ CSU.
Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie können auch mit noch so umfangreichen Propagandaanstrengungen das Restrisiko der Atomkraftwerke, das ein tödliches ist, aus den Köpfen der Menschen nicht herausreden. Auch Kurt Biedenkopf sagt — ich zitiere — :
Aus einem bislang hypothetischen Restrisiko ist tödliche Wirklichkeit geworden.
Selbst der Herr Bundesumweltminister mußte mittlerweile zugeben, daß es ein Restrisiko gibt. Er sagte — ich zitiere wieder — :
Selbstverständlich ist eine Kernschmelze auch bei uns denkbar.
Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, Konsequenzen zu ziehen, damit es kein zweites Tschernobyl — z. B. bei uns — gibt,
Konsequenzen freilich — dies ist eine bittere Wahrheit —
auch für den Fall, daß es erneut zu einem Tschernobyl kommen sollte. Wer Gefahren mindern will, wer den eigenen Anspruch ernst nehmen will, muß die Risiken verringern. Er muß im eigenen Land damit anfangen, Energieversorgung ohne Atomenergie möglich zu machen. Dies ist die beste nationale Vorsorgepolitik.
Die Bundesregierung betreibt eine Politik des genauen Gegenteils. Sie verharmlosen die Risiken — Ihre Rede, Herr Blens, eben war wieder ein Beitrag dazu —, Sie erhöhen die Gefahr. Der Weg in die Plutoniumwirtschaft wird von Ihnen vorangetrieben, koste es, was es wolle.
Der Brüter in Kalkar und die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf stehen dafür. Diese Wahnsinnsprojekte werden von Ihnen ohne Rücksicht auf Sozialverträglichkeit, ohne Rücksicht auf Bestätigung des Rechtsempfindens der Bürger zum Teil gegen den Willen der Bevölkerung unter Aufbietung massiven Polizeieinsatzes durchgezogen.
Der vorliegende Gesetzentwurf soll nach dem erklärten Willen der Bundesregierung die Konsequenzen aus der Nuklearkatastrophe in der Ukraine ziehen. Aber, so müssen wir fragen, zieht dieser Gesetzentwurf wirklich die Konsequenzen aus
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Schäfer
dem Wirrwarr nach Tschernobyl? Nimmt der Gesetzentwurf wirklich die Sorgen der Bürger, der zahllosen Mütter und Väter auf? Schafft er tatsächlich Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates? Ist er tatsächlich geeignet, die Verunsicherung unserer Bevölkerung, die Angst vor möglichen Langzeitschäden an der Gesundheit zu beseitigen? Leider ist die Antwort zu jeder dieser Fragen ein Nein. Der Gesetzentwurf ist, wie die „Süddeutsche Zeitung" noch am 1. Oktober 1986 schreibt, „eine Hülle ohne Inhalt". Der hessische Sozialminister Clauss nannte dieses Gesetz einen Maulkorb für die Länder.
Statt als Vorsorgegesetz gegen Strahlenbelastung läßt sich das Gesetz als Vorsorgegesetz gegen mehr Strahlenschutz bezeichnen. Dies ist leider die bittere Wahrheit.
Noch deutlicher als die Bundesregierung — Sie haben es verschwiegen, Kollege Blens, und ich verstehe, daß Sie es verschwiegen haben — hat dies — und dies ist eine Bezeichnung der Herren selbst — die „Bruderschaft der Fachleute" aus der Strahlenschutzkommission bei der Anhörung zu dem Gesetzentwurf vor dem Umweltausschuß bekundet. Dieses Gesetz ist kein nukleares Vorsorgegesetz, es ist ein nukleares Notstands- und Katastrophengesetz und dient vornehmlich der Gefahrenabwehr bei Eintritt kerntechnischer Katastrophen.
Die Bundesregierung und die Mehrheitsfraktionen betreiben Augenwischerei, wenn sie von Gefahrenvorsorge sprechen. Ich will das mit einigen Beispielen belegen:
Nach dem Gesetzentwurf soll die Bundesregierung notfalls im Eilverfahren ohne Beteiligung der Bundesländer die Strahlenschutzwerte, die Werte zum Schutz der Bevölkerung, der jeweiligen Katastrophe entsprechend festsetzen können. Professor Feld, von Ihnen berufenes Mitglied der Strahlenschutzkommission, hat in dankenswerter Weise ganz offen und ehrlich die Begründung dafür geliefert. Feld sagt: „Im Falle einer sehr schweren flächendeckenden Kontamination und der Unmöglichkeit, Nahrung aus nicht kontaminierten, nicht verseuchten Gebieten, weil vielleicht nicht vorhanden," — fügt er hinzu — „heranzuschaffen, müssen, bevor die Bevölkerung verhungert und verdurstet, die Grenzwerte so gesetzt werden, daß die Strahlenschäden so weit wie möglich begrenzt werden." Man muß sich klarmachen und jeder hier muß es wissen, was Herr Feld damit meint, was die Absicht dieses Gesetzentwurfes ist.
Herr Feld sagt nämlich, man könne in das Gesetz — wir haben das beantragt, aber darauf verzichten Sie — nicht die bewährten Grundsätze unseres Strahlenrechts hineinschreiben, weil es im Katastrophenfall durchaus denkbar, ja, notwendig wäre, der
Bevölkerung Strahlenschäden zuzumuten, da sie andernfalls verhungern oder verdursten könnte.
So der von Ihnen benannte Sachverständige Feld in der Anhörung im Deutschen Bundestag. Diese schlimme Wahrheit — und Herr Feld hat recht, wenn er mögliche Folgen, Konsequenzen einer großen Nuklearkatastrophe auch für die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland beschreibt —, diese bittere Wahrheit verschweigen Sie. Sie verharmlosen nach wie vor das Risiko.
Statt dessen — und dies ist die eigentliche Absicht Ihres Gesetzentwurfes — verabreicht Umweltminister Wallmann als eine Art sanft tönender Nuklearmedizinmann mit einlullenden Beschwörungen der Bevölkerung bittere Pillen. Ihre Aufgabe wäre es, die Risiken zu nennen, die Bevölkerung aufzuklären und dann gemeinsam für Mehrheiten zu sorgen, daß mögliche Risiken ausgeschaltet werden können.
Weniger statt mehr Strahlenschutz rechtlich abzusichern, dies ist die Konsequenz dieses Gesetzentwurfs. Wir Sozialdemokraten lehnen diesen Gesetzentwurf ab, denn das vorgelegte Gesetz kann den Anspruch, der Vorsorge und dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung gegen Strahlenbelastung bei Reaktorunfällen und Reaktorkatastrophen zu dienen, nicht einlösen.
Ich sage es noch einmal: Das Gesetz bezieht als Grundlage und Ausgangspunkt nicht die anerkannten Grundsätze des Strahlenschutzes in das Gesetz ein. Es hebelt gewissermaßen das geltende strenge Strahlenschutzrecht aus.
Im übrigen, meine Damen und Herren, schafft das Gesetz einen verfassungsrechtlich problematischen Rahmen und ermächtigt den Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, im Katastrophenfall allein über Grenzwerte, Berechnungsverfahren und Empfehlungen zu entscheiden. Wir meinen, daß in einem Gesetz zur Vorsorge vor radioaktiver Strahlung verbindliche Rahmenwerte vor dem Eintritt der Katastrophe festgeschrieben sein sollten. Es gibt keinen Katastrophenschutzplan, wo der Einsatzleiter bei der Katastrophe entscheidet, welche Maßnahmen denn eigentlich notwendig sind. Genau dies sehen Sie aber in § 6 Abs. 2 Ihres Gesetzentwurfes vor.
Ich sage noch einmal: Dies ist nicht mehr, dies ist weniger Strahlenschutz. Es ist eine Blankovollmacht für den Minister für Umwelt.
Meine Damen und Herren, eine solche Notstandsregelung wie in § 6 Abs. 2 ohne Beteiligung des Bundesrates kennt nicht einmal unsere Notstandsverfassung. Nach unserer Notstandsgesetz-
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gebung ist im Falle des Notstands die Beteiligung des Bundesrates, der Bundesländer und des Parlaments im Gemeinsamen Ausschuß sichergestellt. Sie heben dann, wenn es ernst wird, dann, wenn das Zusammenwirken aller Betroffenen notwendig ist, die notwendige föderale Mitwirkung auf. Auch dies ist ein Gesichtspunkt, der gegen den Föderalstaatsgedanken spricht.
Sie haben darauf hingewiesen, Herr Kollege Blens, der Bundesrat sei doch schön beteiligt worden. Dies ist nicht zutreffend. Herr Wallmann entschuldigt sich doch am 27. November 1986 in einem Schreiben an den Präsidenten des Bundesrates, weil er von einer förmlichen Zuleitung der Stellungnahme des Bundesrates an den Deutschen Bundestag abgesehen hat.
Er räumt doch ein: „Ich bedauere, daß es zu diesem Versäumnis gekommen ist. Es ist sichergestellt, daß in einer vergleichbaren Situation eine etwaige Wiederholung ausgeschlossen ist."
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Es ist bedauerlich, wie Sie hier in einer so wichtigen Frage, die an den Lebensnerv unserer Bevölkerung geht, aus parteitaktischem Kalkül gehandelt haben, wohl vor allem, um dem Bundeskanzler den Rücken freizuhalten.
Im wesentlichen — das ist das einzige, was an dem Gesetz mitzutragen ist — wird ein flächenüberdeckendes Meßstellennetz geschaffen und werden die radioaktiven Werte einheitlich gesammelt, den Ländern zugänglich gemacht und ausgewertet. Dies ist ein Positivum dieses Gesetzes. Aber das ist das einzige und wiegt nicht die schweren Nachteile, den nachgerade gekonnten Versuch, die Bevölkerung über die wahren Risiken im unklaren zu lassen, auf.
Ich fordere Sie im Namen meiner Fraktion auf: Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf noch rechtzeitig zurück!
Legen Sie einen Gesetzentwurf in einem fairen Verfahren vor, in dem alle Bedenken einfließen können, so daß die Menschen draußen wissen, was sie wirklich bei einer neuen nicht auszuschließenden Katastrophe erwartet! Das ist unsere gemeinsame Verantwortung. Das ist auch Ihre Verantwortung, meine Damen und Herren. Werden Sie im Namen der Zukunft unserer Kinder dieser Verantwortung gerecht! Ziehen Sie den Gesetzentwurf zurück!
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schäfer, die Opposition bietet hier ein Bild der Hilflosigkeit.
Sie entziehen sich der Verantwortung, die Sie uns hier aufladen wollen. Sie selber haben ein Ausstiegsszenario von zehn Jahren, das ich nicht für realistisch halte. Sie verweigern sich hier einem Schritt der Gefahrenvorsorge, der notwendig ist und der Ihren eigenen Erklärungen und Kritiken nach Tschernobyl entspricht.
Sie, Herr Kollege Schäfer, haben den Informationswirrwarr nach Tschernobyl x-mal beklagt. Nun verweigern Sie sich dem einzig möglichen Schritt, um das in Zukunft zu vermeiden. Das ist das Bild der Hilflosigkeit, das ich hier meine.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäfer? — Bitte sehr, Herr Kollege Schäfer.
Herr Kollege Baum, was ist eigentlich der Grund dafür, daß Sie darauf verzichten, das bewährte 30-Millirem-Konzept der Strahlenschutzverordnung als Grundlage für die Rechtsverordnung ins Gesetz zu schreiben — erster Punkt —, und warum verzichten Sie darauf, den Bundesrat — zweiter Punkt — in § 6 Abs. 2 zu beteiligen?
Herr Kollege Schäfer, das will ich ja in meiner kurzen Rede alles ausführen. Bitte, haben Sie Geduld! Ich komme auf Ihre Frage zurück.
Das Gesetz ermöglicht ein bundesweites Meßsystem, eine zentrale Erfassungs- und Auswertungsstelle des Bundes wird eingerichtet, Dosis- und Kontaminationswerte werden zukünftig bundeseinheitlich festgelegt. Wir haben das Gesetz sehr sorgfältig beraten. Die Anhörung hat wichtige Erkenntnisse gebracht, und das Gesetz ist geändert worden. Es ist eben falsch, Herr Kollege Schäfer, wenn Sie in dem Zusammenhang die „Süddeutsche Zeitung" vom 1. Oktober zitieren. Da lag ein ganz anderer Gesetzentwurf vor. Der ist ja wesentlich geändert worden, gerade in den Punkten, die Sie meinen.
Also, messen Sie das Gesetz an dem, was hier jetzt vorliegt, was wir, die Parlamentarier der Koalition, Ihnen vorlegen. Ich bin enttäuscht, daß Sie die konstruktive Mitarbeit hier verweigern, und frage noch einmal: Was wollen Sie denn in einem solchen Falle, den Sie selber nicht ausschließen, tun? Es war und ist eine wichtige Konsequenz, nach Tschernobyl das zu tun, was wir getan haben. Dem werde ich mit meiner Fraktion zustimmen.
Dieser Gesetzentwurf entspricht einer Forderung, die meine Partei unmittelbar nach Tschernobyl aufgestellt hat.
Nun sagen Sie und andere, das Minimierungsgebot werde hier verlassen. Das ist nicht richtig. Das 30-Millirem-Konzept, Herr Schäfer, bezieht sich nur auf Emissionen aus dem Normalbetrieb kerntechni-
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Baum
scher Anlagen. Das Minimierungsgebot gilt sowohl für die Strahlenschutzverordnung als auch für das Strahlenschutzvorsorgegesetz.
Es ist in der Zweckbestimmung des Strahlenschutzvorsorgegesetzes eindeutig niedergelegt und an den strengen Maßstab des „Standes der Wissenschaft" geknüpft. Wir gehen also nicht von dem „Stand der Wissenschaft" ab, meine Damen und Herren, wir gehen nicht von der Gesundheitsvorsorge ab. Diese Unterstellung weise ich zurück.
Ein weiteres: Es gibt kein Monopol der Bundesregierung auf Information. Wir haben ausdrücklich gesagt, daß die Informationen, die wir gewinnen, den Ländern direkt zur Verfügung stehen. Die Länder haben also — im Gegensatz zu anderen Fällen im Umweltrecht, in denen sie uns über ihre eigenen Meßergebnisse nicht informieren — hier die faire Partnerschaft des Bundes. Sie bekommen unsere Meßergebnisse direkt und ungeschminkt.
Die Länder werden auch beteiligt. Der Bundesumweltminister wird die Verordnung nach § 6 in Kürze, also im Jahre 1987, vorlegen. Es ist auch kein Ermächtigungsgesetz, meine Damen und Herren. Sonst wären alle Umweltgesetze, denen wir hier zugestimmt haben, Ermächtigungsgesetze. Denn sie sehen in der Regel Verordnungsermächtigungen für die Bundesregierung und für die Bundesländer vor. Anders ist das j a gar nicht zu machen.
— Der Bundesrat ist hier für den Normalfall, Herr Ströbele, nach § 6 beteiligt. Wir haben gesagt, daß Eilverordnungen,
die nach § 6 Abs. 2 unter ganz engen Voraussetzungen erlassen werden können, sofort wieder außer Kraft treten,
wenn sie bereits bestehende Regelungen ändern. Der Bundesrat kann sie sofort kassieren. Ansonsten treten sie nach zwei Monaten und nicht nach sechs Monaten außer Kraft. Hier haben wir die Rolle der Länder wesentlich gestärkt. Und der Umweltminister hat zugesagt, daß er alle wichtigen Verordnungen im Jahre 1987 vorlegen wird. Der Bundesrat wird hier also nicht ausgeschaltet.
Meine Damen und Herren, dies ist eine der wichtigen Konsequenzen aus Tschernobyl. Wir haben über andere hier schon gesprochen, über die internationale Konferenz in Wien, über die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene, die in Gang gekommen ist und die sich jetzt verbessert hat.
Es müssen weitere Konsequenzen gezogen werden. Es gibt ein Arbeitsprogramm der Bundesregierung, von dem wir weitere Fortschritte erhoffen. Wir sind der Meinung, daß wir auch in den Bemühungen zur Energieeinsparung und in Sachen Energiewirtschaftsrecht weiterkommen müssen.
Wir müssen umsteuern, auch was unsere Forschungsmittel angeht. Ich habe heute noch einmal den Haushalt für das Jahr 1987 geprüft. Es gibt ein Umsteuern. Die Divergenz ist mir allerdings immer noch zu groß. Etwa 900 Millionen DM werden für die Forschung im kerntechnischen Bereich aufgewendet, viel weniger, etwa 230 Millionen DM, für alternative Forschung. Hier muß energischer umgesteuert werden.
Aber wir können Ihnen nicht zustimmen, die Sie unrealistische Ausstiegsszenarien vertreten. Im übrigen ist es, Herr Kollege Schäfer, ja so, daß Sie sich bei Ihrem Szenario wieder Hintertüren offengelassen haben. Wir wollen und wir können die Bevölkerung nicht täuschen.
Dieses Gesetz ist ein wichtiger Schritt zur Gefahrenvorsorge.
Meine Fraktion stimmt ihm zu.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hönes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Auf die sichere Rückhaltung der radioaktiven Stoffe in unseren kerntechnischen Anlagen ist es zurückzuführen, daß im Verlauf eines Vierteljahrhunderts friedlicher Nutzung der Kernenergie keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder gar Schäden am Menschen verursacht worden sind.
So lautet der Text einer Anzeige der KWU, die nicht etwa vor ein paar Jahren gedruckt wurde, Herr Laufs; nein, diese Anzeige, überschrieben mit dem Titel „Nach Tschernobyl, wozu dient die Kernkraft?", ist in der diesjährigen Novemberausgabe der Zeitschrift „Sieg-Tech" erschienen.
Zur gleichen Zeit wurden in Norwegen die Grenzwerte für Rentierfleisch von 600 auf 6 000 Bq/kg heraufgesetzt, weil die Menschen dort ohnehin schon mit 10 000 Bq/kg Radioaktivität belastet sind.
Zur gleichen Zeit starben und sterben in Tschernobyl Menschen an den Folgen der Reaktorkatastrophe im Mai dieses Jahres.
Zur gleichen Zeit erkrankten und starben Menschen, vor allem Kinder, die das Pech hatten, in der Umgebung von Sellafield oder Cap La Hague aufzuwachsen, an Leukämie.
Zur gleichen Zeit erkrankten und starben Uranbergwerksarbeiter in Afrika, Australien, den USA und der UdSSR an Lungenkrebs, weil sie bei ihrer
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Frau Hönes
Arbeit das beim Abbau von Uran freiwerdende radioaktive Gas Radon einatmen mußten.
Und zur gleichen Zeit wird von der Gesellschaft für Reaktorsicherheit eine Störfalliste veröffentlicht, nach der sich im Jahr 1985 in deutschen Kernreaktoren 239 Störfälle ereignet haben. Das sind 90 Störfälle mehr als im Vorjahr! Insgesamt waren 1985 in Bundesdeutschen AKWs 22 Schnellabschaltungen notwendig. Das sind 15 Fälle mehr als im Vorjahr! Aus der Störfalliste geht nicht hervor, in wie vielen Fällen davon der GAU durch Glück oder Zufall gerade noch verhindert werden konnte.
Aber das braucht uns nicht zu erschrecken, denn wir werden in Zukunft j a alle bestens geschützt sein. In der Begründung des Entwurfs des Strahlenschutzvorsorgegesetzes der Konsequenz dieser Regierung nach dem Tschernobyl-Trauma, heißt es:
Aufgrund der Erfahrungen mit den Folgen aus dem Reaktorunfall in Tschernobyl werden mit dem Gesetz bundeseinheitliche Regelungen für die Überwachung der Radioaktivität in der Umwelt geschaffen. Auf dieser Grundlage werden im Rahmen des Gesetzes die Voraussetzungen geregelt, um bei einem kerntechnischen Unfall oder einem anderen Ereignis mit nicht unerheblichen radiologischen Auswirkungen bundeseinheitlich die angemessenen und notwendigen Vorsorgemaßnahmen treffen zu können.
Das diese „Ereignisse mit nicht unerheblichen radiologischen Auswirkungen" auch bei uns hier jeden Tag eintreten können, wurde durch das jüngst veröffentlichte TÜV-Gutachten bestätigt. Bei einem Kernschmelzunfall, der laut Ihrer eigenen Aussage, Herr Wallmann, auch bei uns nicht auszuschließen ist, muß in Siedewasserreaktoren nach drei bis 21 Stunden mit dem Bersten des Sicherheitsbehälters gerechnet werden. Dann wird sofort erheblich mehr Radioaktivität freigesetzt, als es in Tschernobyl der Fall war. Offensichtlich kann sich jetzt nicht einmal mehr diese Regierung darauf berufen, daß die Kernkraftwerke in der Bundesrepublik so viel sicherer seien als der Reaktor in Tschernobyl,
wie Sie das kurz nach dem Super-GAU in Tschernobyl in Ihrer unerträglichen Überheblichkeit, Herr Dregger, getan haben; denn nach demselben TÜV- Gutachten sind bis jetzt für Siedewasserreaktoren noch gar keine Risikoanalysen durchgeführt worden.
Somit ist der GAU also auch in den Köpfen der Bundesregierung denkbar geworden; denn über ein Drittel der bundesdeutschen AKWs sind Siedewasserreaktoren.
Meine Damen und Herren, es ist eine Anmaßung, mit dem Anspruch, die Sorgen und Ängste der Bevölkerung ernst nehmen zu wollen, einen Gesetzentwurf zur Strahlenschutzvorsorge in zwei Monaten am Bundesrat vorbei durch die parlamentarischen Gremien zu jagen.
Mit einer öffentlichen Anhörung versuchte die Bundesregierung zu demonstrieren, daß sie nichts zu verbergen hat. Dabei wurde nicht öffentlich, daß einige der Sachverständigen es abgelehnt haben, an dieser Anhörung teilzunehmen,
weil sie sich außerstande sahen, die 44 Fragen des Fragenkatalogs innerhalb einer Frist von vier Tagen verantwortungsbewußt zu beantworten. Den anwesenden Sachverständigen — die meisten davon waren Vertreter der Atomlobby — fiel es allerdings nicht schwer, während der Anhörung die Kernaussagen des Entwurfes zu bestätigen: Eine umfassende Information der Bevölkerung zur Strahlenbelastung ist nicht notwendig und auch nicht erwünscht; die schon lange mit der Novellierung der Strahlenschutzverordnung geplanten wesentlichen Verschlechterungen des Strahlenschutzes durch Änderung der Dosisberechnungsverfahren werden mit dem Strahlenschutzvorsorgegesetz legalisiert; das Gebot, die Strahlenbelastung in jedem Fall soweit wie möglich zu minimieren, gilt nicht für Unfälle; bei Unfällen gilt: Je größer die Katastrophe, desto höher die Grenzwerte.
Dabei hat dieser Umweltminister nicht nur das Informationsmonopol, sondern auch noch das Bewertungsmonopol. Dann kann er bewerten, ab wann für die Bevölkerung Gefahr durch radioaktive Strahlung besteht. Die Länder haben sich dann an seine Grenzwerte und Empfehlungen zu halten. Andernfalls haben Sie die rechtliche Möglichkeit, Herr Minister Wallmann, den Ministern, die mehr Verantwortung zeigen als Sie, den Staatskommissar für abweichende Meinungen ins Haus zu schicken. Damit bestätigt sich: Die Praxis im Umgang mit den Folgen von Tschernobyl — unzureichende Informationen an die Bevölkerung, unzureichende Gesundheitsvorsorge durch Grenzwerte, die an ökonomischen Maßstäben orientiert waren — wird mit dem Inkrafttreten des Strahlenschutzvorsorgegesetzes nachträglich als rechtsgültig erklärt und auch für die Zukunft festgeschrieben.
Frau Ministerin Süssmuth, Herr Minister Wallmann, Sie haben in diesem Jahr bis zur Unerträglichkeit, wirklich bis zur Grenze der Unerträglichkeit betont, daß Sie die Ängste und Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen. Aber was war Ihre Konsequenz aus diesen Versprechungen? Wie haben Sie reagiert, als sich 80 % der Bevölkerung für einen Ausstieg aus der Atomenergie aussprachen? In der dann einsetzenden Ausstiegsdebatte haben Sie begonnen, die Betreiber von Atomanlagen vor der beunruhigten Bevölkerung zu schützen. Sie haben verhindert, daß Länder wie Hessen Ihre skrupellose Atompolitik mit erheblich niedrigeren Grenzwerten und besserer Informationspolitik unterlaufen.
Die Mütter und Väter mit kleinen Kindern sollen wissen, daß Sie auch in Zukunft nicht die Absicht haben, sie ausreichend und ehrlich über die momentane Strahlenbelastung zu informieren.
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Frau Hönes
Wie ernst Sie die Sorgen und Ängste der Bevölkerung zu nehmen gedenken, wurde von Herrn Professor Oberhausen, dem Vorsitzenden der Strahlenschutzkommission, in menschenverachtender Weise bestätigt. Er sagte während der Anhörung wörtlich zum Kollegen Schäfer:
Herr Vogel
— damit ist der ebenfalls als Sachverständige geladene Ministerialdirigent des bayerischen Staatsministeriums für Landesentwicklung und Umweltfragen, Herr Dr. Vogel, gemeint —
hat mehrfach gesagt, ob es wirklich notwendig sei, die Bedürfnisse im Hinblick auf den letzten Sandkasten im letzten Ort zu decken, das sähe er auch nicht so ganz.
Weiter dazu Herr Vogel, der Sachverständige:
Ich muß Ihnen, Herr Schäfer, auch ehrlich sagen: Ich sehe es überhaupt nicht.
Da Herr Professor Oberhausen als Vorsitzender der Strahlenschutzkommission zu Ihren engsten Beratern in Sachen Strahlenschutz zählt, Herr Wallmann, können wir wohl davon ausgehen, daß dies auch Ihre Meinung ist. Bedauerlich für die Kinder, die in diesem Ort im Sandkasten spielen oder spielen werden. Wir haben diesem autoritär-zentralistischen Konzept dieses Gesetzes nichts hinzuzufügen, denn auch mit Änderungsanträgen läßt sich das zugrundeliegende Konzept nicht verbessern.
Im Gegenteil: Es wird durch Ihr Taktieren, meine Damen und Herren von der SPD, noch gestützt. Nach anfänglicher Kritik an diesem Gesetz, das den Ländern den Mund verbietet, haben Sie dann doch einzelnen Paragraphen zugestimmt. Aber das ist nur konsequent, denn Sie haben gestern auch gegen die sofortige Abschaltung aller Siedewasserreaktoren gestimmt und damit Ihren Parteikollegen, den Energiesenator von Hamburg, im Regen stehen lassen.
Sie haben sich dafür ausgesprochen, daß die AKWs Krümmel, Brunsbüttel, Gundremmingen, Ohu und Würgassen weiter betrieben werden können.
So schaffen Sie sich die Schwierigkeiten, die seine Forderung nach der sofortigen Stillegung aller Siedewasserreaktoren in Ihren Reihen geschaffen hat, vom Tisch.
Unsere Antwort auf dieses Strahlenschutzermächtigungsgesetz ist ein eigener Gesetzentwurf, in dem die weitreichende Selbständigkeit der Länder berücksichtigt wird. Wir fordern die dezentrale Erfassung und Bewertung von Daten,
kein Informationsmonopol für den Bundesumweltminister, sondern das Akteneinsichtsrecht für die
Bevölkerung! Die Bürger und Bürgerinnen haben
ein Recht, eigenverantwortlich und selbstbestimmt wählen zu können, welchem Grenzwert für Milch sie eher vertrauen, Ihren 500 Becquerel oder den 20 Becquerel in Hessen.
Wir gehen allerdings davon aus — da liegt der entscheidende Unterschied —, daß die Belastung von Bevölkerung und Umwelt durch radioaktive Strahlung grundsätzlich in jedem Fall so gering wie möglich gehalten werden muß.
Wir lassen niemanden im unklaren darüber, daß jede auch noch so geringe Strahlendosis Schädigungen hervorrufen kann.
Eine zentralistische Forderung haben allerdings auch wir GRÜNEN, nämlich: Alle Atomanlagen müssen abgeschaltet werden!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Gesetzentwurf zum vorsorgenden Schutz der Bevölkerung gegen Strahlenbelastung ist am 2. Oktober 1986 eingebracht worden. Heute, nur zwei Monate später, findet die abschließende Beratung im Deutschen Bundestag statt.
Ich habe allen zu danken, die an diesen Beratungen teilgenommen haben. Das gilt für den Bundesrat, die beteiligten Ausschüsse des Bundestages — allen voran der Umweltausschuß — und für die beteiligten Sachverständigen.
Wenn der Abgeordnete Schäfer von der SPD erklärt hat, die Länder hätten nicht mitgewirkt, so ist das der Versuch zu verdummen. Lesen Sie bitte die heutige Drucksache 10/6639, Seite 15, nach. Sie finden dort — —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundesminister, gestatten Sie, daß ich unterbreche? — Meine Damen und Herren, ich bitte um mehr Ruhe.
Bitte, fahren Sie fort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, ich darf kurz zitieren:
Dem Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit des Bundestages lagen die Empfehlungen der Ausschüsse sowie des Plenums des Bundesrates rechtzeitig vor, so daß sie in die Beratungen einbezogen werden konnten.
Das ist die Wahrheit.
Die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung haben mit diesem Gesetzentwurf unter Be-
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Bundesminister Dr. Wallmann
weis gestellt, daß sie in der Lage sind, schnell und effektiv auf eine völlig unbefriedigende Situation zu reagieren. Diejenigen, die heute ein angeblich übereiltes Verfahren beklagen, wären mit Sicherheit die lautesten Kritiker, wenn das Gesetz in dieser Legislaturperiode nicht zustande gekommen wäre.
Dieser Gesetzentwurf schafft die Grundlage für ein umfassendes System zur ständigen Erfassung der Strahlenbelastung der Umwelt, und er schafft die Voraussetzungen, künftig Grenzwerte der Strahlenbelastung zum vorsorgenden Gesundheitsschutz der Bevölkerung bundeseinheitlich festzulegen. Herr Kollege Schäfer, auch das, was Sie insofern gesagt haben, ist abwegig. Sie haben dazu bereits die richtige Antwort von Herrn Kollegen Baum erhalten. Nach Inkrafttreten dieses Gesetzes wird es einen Grenzwertwirrwarr und einen Empfehlungswirrwarr in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr geben.
Der ursprüngliche Gesetzentwurf ist im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens deutlich verbessert worden. Ich bin dafür dankbar. Verbesserungsvorschläge aus dem Bundesrat, aus den Ausschußberatungen und den Anhörungen wurden in den heute zur Entscheidung anstehenden Entwurf übernommen. Dabei wurde die Grundkonzeption dieses Gesetzentwurfs in allen Beratungen bestätigt.
Auf Grund von Vorschlägen aus dem Bundesrat wurden unter anderem die volle Information der Länder über alle Meßdaten, über alle Meßergebnisse gewährleistet, die Beteiligungsrechte der Länder im Entscheidungsverfahren gestärkt und der Regelungsgehalt des Gesetzes in wesentlichen Punkten konkretisiert. Man kann feststellen: Praktisch wurden alle Vorschläge des Bundesrates in den Gesetzentwurf übernommen. Der Vorwurf, die Wünsche der Länder seien inhaltlich nicht berücksichtigt worden, ist deswegen in vollem Umfange unbegründet.
Das gilt auch im Hinblick auf die vorgesehene Regelung, daß der Bund in Zukunft im wesentlichen die Zuständigkeit hat, Empfehlungen im Falle von radiologischen Belastungen auszusprechen. Die Mehrheit der Länder hält dies wie die Koalitionsfraktionen und wie die Bundesregierung für dringlich geboten. Es ist die Konsequenz, die wir aus Tschernobyl gezogen haben.
Meine Damen und Herren, wir haben sachgerecht zu entscheiden. Es darf weder verharmlost noch dramatisiert werden. 20 Becquerel als Grenzwert für Jod 131 pro Liter Milch in einem Bundesland, in Hessen, 500 in der Bundesrepublik, 1 000 in Schweden, 2 000 nach der Weltgesundheitsorganisation, 3 700 in der Schweiz: Meine Damen und Herren, es ist doch ganz selbstverständlich, daß die Menschen dann unsicher werden, daß Angst aufkommt. Es sind Werte, die in dieser Unterschiedlichkeit von keinem Wissenschaftler zu begründen sind. In der Bundesrepublik können wir dies ändern. Wir müssen es ändern, und deswegen werden wir es mit diesem Gesetz ändern.
Meine Damen und Herren, es gibt im übrigen überhaupt keinen Gesichtspunkt — weder einen rechtlichen noch einen sachlichen —, keine einheitliche Empfehlungszuständigkeit zu begründen.
Auch durch die Empfehlungen oder die Vorschläge aus dem Umweltausschuß des Deutschen Bundestages ist der Gesetzentwurf in wesentlichen Punkten verbessert und konkretisiert worden. All dies zusammen, meine Damen und Herren, zeigt die Offenheit der Beratungen. So ist, so denke ich, unter der Beteiligung vieler ein gutes Gesetz entstanden. Wenn Sie heute dieses Gesetz beschließen und der Bundesrat ihm zustimmt, dann schaffen Sie eine Rechtsgrundlage, die uns bisher gefehlt hat.
Meine Damen und Herren, ich sage nur zu zwei Punkten etwas:
In Zukunft werden wir ein flächendeckendes integriertes Meßsystem haben. Die Strahlenbelastungen werden laufend, und zwar stündlich oder in noch kürzeren Zeitabständen, gemessen. Diese Daten werden zentral erfaßt, und sie werden unmittelbar an die Länder weitergegeben.
Zweitens, meine Damen und Herren, ist von Bedeutung, daß wir im Jahre 1987 eine Verordnung zur Vorabfestlegung von Dosis- und Kontaminationswerten erarbeiten werden. Mit dieser Verordnung soll die Grundlage für ein schnelles, effektives und nachvollziehbares Handeln der Exekutive gelegt werden. Meine Damen und Herren, ich brauche jetzt nicht im Detail darauf einzugehen, denn dazu haben die Vertreter der Koalitionsfraktionen im einzelnen Stellung genommen.
Wichtig ist mir nur, darauf hinzuweisen, daß die Länder schon an den Vorarbeiten zu dieser Verordnung beteiligt sind, die in der Kommission geleistet werden, die wir bereits berufen haben. Sie werden eingeladen, regelmäßig an den Sitzungen der Kommission teilzunehmen.
Schließlich will ich noch sagen: Derjenige, der dieses Gesetz ablehnt, verurteilt sich selbst; denn es geht bei diesem Gesetz nicht um das Ja oder Nein etwa zum nationalen Ausstieg oder Nichtausstieg oder Umstieg. Selbst wenn wir alle Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland sofort abschalten würden, benötigten wir dieses Gesetz;
denn unsere Nachbarn bauen die Kernenergie weiter aus.
Es ist für mich bezeichnend — aber ich sage ganz offen: auch bedrückend — gewesen, daß in diesem Zusammenhang nicht nur die GRÜNEN, sondern auch die Sozialdemokraten kein Wort zu den jüngsten Vorkommnissen in Tschernobyl gesagt haben.
20068 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986
Bundesminister Dr. Wallmann
Tschernobyl ist nicht überall, nicht in der Bundesrepublik Deutschland.
Wir verharmlosen überhaupt nichts. Uns braucht keiner zu ermahnen. Wir tun alles, um so viel Sicherheit wie nur möglich zu garantieren. Die Initiative des Bundeskanzlers hat dazu geführt, daß wir in Wien zu weitreichenden Konsequenzen, zu mehr Sicherheit gekommen sind. Und nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß sich vor wenigen Tagen die UNO- Vollversammlung einstimmig nicht nur für die friedliche Nutzung der Kernenergie, sondern für ihren Ausbau ausgesprochen hat.
Aus all den Gründen ist dieses Gesetz nötig. Unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger haben einen Anspruch darauf, daß wir, und zwar durch jede nur denkbare Art von Vorsorge, Schaden von ihnen abwehren und so weit wie möglich verringern. Deswegen bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Nach § 31 unserer Geschäftsordnung gebe ich dem Herrn Abgeordneten Ströbele das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich lehne dieses Strahlenschutzvorsorgegesetz ab, weil es einen § 6 enthält, der dem Bundesumweltminister die unbeschränkte Befugnis einräumt, Dosiswerte im Verordnungswege festzulegen, und zwar auch ohne Zustimmung der Bundesländer, des Bundesrates, und weil ich aus der Anhörung zu diesem Gesetz weiß, welche Verordnung geplant ist. Die Grenze von 30 Millirem — so hat das Herr Professor Kaul vom Umweltbundesamt ausgeführt —, die jetzt nach der Strahlenschutzverordnung gilt, soll erhöht werden können auf 5 000 Millirem für den Ganzkörper und auf 50 000 Millirem für die Schilddrüse.
Weil das die Vorbereitung der Gesundheitsschädigung von Millionen von Bundesbürgern ist, lehne ich dieses Gesetz ab.
Ich verweise dazu auf die Alternative, die unsere Fraktion, die Fraktion der GRÜNEN, vorgelegt hat. Sie liegt diesem Hause längst vor.
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe die §§ 1 bis 18, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich. um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein.
Meine Damen und Herren, nach Art. 87 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes bedarf das Gesetz zu seiner Annahme der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages; das sind 250 Stimmen.
Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP verlangen zur Schlußabstimmung gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung namentliche Abstimmung. Das Verfahren ist Ihnen bekannt. Ich eröffne die namentliche Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? — Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Meine Damen und Herren, da dies voraussichtlich die letzte Sitzung dieser Legislaturperiode ist, rege ich an, daß wir, bis die Stimmen ausgezählt sind, noch Platz nehmen, um einige Schlußbemerkungen zu dieser Legislaturperiode entgegenzunehmen.
Wir sind fast am Ende unserer heutigen Tagesordnung angelangt und damit auch am Ende der letzten regulären Sitzung dieser Wahlperiode. Das ist ein Anlaß für einen kurzen Rückblick und Ausblick.
Ich bitte Sie, zunächst der Kollegin und der Kollegen zu gedenken, die wir in diesen vier Jahren verloren haben.
Es sind die Abgeordneten Harm Dallmeyer, Gerhard Brosi, Dr. Alois Mertes , Dr. Werner Marx, Walter Polkehn, Franz Josef Conrad (Riegelsberg), Dr. Haimo George, Dr. Helga Wex und Peter Milz. — Ich danke Ihnen, daß Sie sich zu Ehren der Verstorbenen erhoben haben.
Meine Damen und Herren, im 10. Deutschen Bundestag gab es erstmals seit dem Ende der 3. Wahlperiode wieder mehr als drei Fraktionen. Das führte naturgemäß zu Veränderungen auf zahlreichen Feldern, brachte in der täglichen Arbeit aber auch neue Probleme mit sich. So sind die geschäftsordnungsmäßigen Möglichkeiten in sehr intensiver Weise genutzt worden. Die Zahlen sprechen für sich.
Die Gesamtzahl der Drucksachen in der 10. Wahlperiode beträgt derzeit 6 727 gegenüber 2 443 in der 9. Wahlperiode;
darunter sind 513 Gesetzentwürfe gegenüber 242. Die Gesamtzahl aller Anträge beträgt 1 579 gegenüber 239. Kleine und Große Anfragen wurden bisher insgesamt 1 161mal gestellt, gegenüber 239. Schließlich sind die Zahl der Anhörungen von 42 in der 9. Wahlperiode auf 160 in der 10. Wahlperiode und die Zahl der Aktuellen Stunden von 12 auf 117 gestiegen.
Meine Damen und Herren, diese Steigerungsquote ist immens, auch wenn man berücksichtigt, daß die 9. Wahlperiode verkürzt war.
Deutscher Bundestag 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986 20069
Präsident Dr. Jenninger
Dennoch können wir nicht mit ungetrübtem Stolz auf diese Statistiken blicken. Wir sind ja auch der „Gesetzesflut" gegenüber immer skeptischer geworden. Zunehmend, meine Damen und Herren, wird die Frage gestellt, ob wir in all der Detailarbeit das große Ganze im Auge behalten und noch genügend Zeit zum Nachdenken finden.
Meine Damen und Herren, der 10. Deutsche Bundestag hat nicht nur sein äußeres Erscheinungsbild durch den Umzug in das „Wasserwerk" verändert, er hat sich auch mehrfach und ausführlich mit seiner eigenen Arbeit befaßt. Gestern erst wurden diese Bemühungen einen Schritt weitergebracht.
Der Deutsche Bundestag wird seine Arbeitsweise auch künftig angemessen fortentwickeln und sich die dafür notwendigen Voraussetzungen schaffen müssen.
Für alles, was wir in Zukunft unternehmen werden, ist die gemeinsame Bewahrung des demokratischen Grundkonsenses eine unerläßliche Bedingung.
Uns allen kommt ein Teil des Vertrauens zu, das dem Deutschen Bundestag entgegengebracht wird, von uns aber auch immer wieder neu erworben werden muß. Darauf müssen wir unser Verhalten einrichten. Wir müssen uns vor allem gegenseitig zuhören können.
Das, meine Damen und Herren, macht entscheidend die politische Kultur unserer parlamentarischen Demokratie aus.
Unmittelbar vor uns liegen die weihnachtlichen Festtage und der Wahlkampf. Beides scheint nur schwer zusammenzupassen. Ich hoffe gleichwohl, daß wir alle über die Feiertage einige besinnliche Stunden haben werden. .
Worum ich Sie jedoch alle herzlich bitten möchte, ist, daß Sie im Wahlkampf eine Form wählen, die es uns ermöglicht, auch anschließend konstruktiv zusammenzuarbeiten.
Ich habe allen Kolleginnen und Kollegen zu danken, die mit ihrer Arbeit in der 10. Wahlperiode dazu beigetragen haben, die Aufgaben des Deutschen Bundestages zu erfüllen und sein Ansehen zu mehren.
Insbesondere danke ich den ausscheidenden Kolleginnen und Kollegen, die das Gesicht des Deutschen Bundestages in der Vergangenheit, viele einige Wahlperioden lang, mitgeprägt haben. Wir werden sie nach der Wahl zum 11. Deutschen Bundestag noch in gebührender Weise verabschieden!
Mein Dank gilt auch den anderen Verfassungsorganen, die in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bundestag um das Beste für unser Land gerungen haben.
Nicht zuletzt danke ich allen Mitarbeitern in Verwaltung, Fraktionen und Abgeordnetenbüros, ohne deren Einsatz, zum Teil unter schwierigsten Bedingungen,
unsere Arbeit nicht hätte geleistet werden können.
Ihnen allen, meine Damen und Herren, wünsche ich ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr.
Den Kolleginnen und Kollegen, die sich in der neuen Wahlperiode hier wieder einfinden werden, wünsche ich eine glückliche Hand und Gottes Segen für unser aller Zukunft.
Meine Damen und Herren, wir erwarten noch das Ergebnis der Abstimmung. Ich unterbreche die Sitzung bis zur Bekanntgabe des Ergebnisses.
Meine Damen und Herren, ich gebe das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der Schlußabstimmung über den von den Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum vorsorgenden Schutz der Bevölkerung gegen Strahlenbelastung auf Drucksache 10/6082 in der Ausschußfassung bekannt: Von den voll stimmberechtigten Mitgliedern des Hauses haben 433 ihre Stimme abgegeben. Davon ungültige Stimmen: keine. Mit Ja haben gestimmt 266, mit Nein haben gestimmt 166; Enthaltungen: eine.
20 Berliner Abgeordnete haben ihre Stimme abgegeben. Davon ungültige Stimmen: keine. Mit Ja haben gestimmt 12, mit Nein haben gestimmt 8; Enthaltungen: keine.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 430 und 20 Berliner Abgeordnete; davon
ja: 263 und 12 Berliner Abgeordnete
nein: 166 und 8 Berliner Abgeordnete
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Dr. Abelein
Frau Augustin Austermann
Bayha
Dr. Becker Berger
Dr. Berners
Biehle
Dr. Blank Dr. Blens Dr. Blüm
Böhm Dr. Bötsch
Bohl
Bohlsen Borchert Braun
Breuer
Broll
Brunner
Bühler
Dr. Bugl
Carstensen Clemens
Dr. Czaja Dr. Daniels
Daweke
Frau Dempwolf
Deres
Dörflinger
Dr. Dollinger
Doss
20070 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986
Präsident Dr. Jenninger
Dr. Dregger
Echternach
Ehrbar
Eigen
Engelsberger
Erhard
Eylmann
Dr. Faltlhauser Fellner
Frau Fischer
Fischer Francke (Hamburg)
Dr. Friedmann Funk
Ganz Frau Geiger
Dr. von Geldern Gerlach Gerstein
Gerster Glos
Dr. Göhner
Dr. Götz
Dr. Götzer
Günther
Dr. Häfele
von Hammerstein Haungs
Hauser Hauser (Krefeld) Hedrich
Freiherr Heereman
von Zuydtwyck Frau Dr. Hellwig Helmrich
Dr. Hennig
Herkenrath
Hinrichs
Hinsken
Höffkes
Höpfinger
Dr. Hoffacker
Frau Hoffmann Dr. Hornhues
Hornung
Horstmeier
Frau Hürland Dr. Hüsch
Dr. Hupka
Graf Huyn
Jäger Jagoda
Dr. Jahn Dr. Jenninger
Dr. Jobst
Jung Dr.-Ing. Kansy Frau Karwatzki Keller
Kiechle
Klein
Dr. Köhler Dr. Köhler (Wolfsburg) Dr. Kohl
Kolb
Kraus
Dr. Kreile
Krey
Kroll-Schlüter Dr. Kronenberg
Dr. Kunz Lamers
Dr. Lammert
Landré
Dr. Langner
Lattmann
Dr. Laufs
Lemmrich
Lenzer
Link Link (Frankfurt)
Linsmeier
Lintner
Dr. Lippold
Löher
Lohmann Louven
Lowack
Maaß
Frau Männle Magin
Marschewski Metz
Dr. Meyer zu Bentrup Michels
Dr. Mikat
Dr. Miltner
Dr. Möller
Müller Müller (Wadern) Müller (Wesseling)
Nelle
Frau Dr. Neumeister Niegel
Dr.-Ing. Oldenstädt
Dr. Olderog
Frau Pack
Pesch
Petersen
Pfeffermann Pfeifer
Dr. Pinger
Pöppl
Dr. Pohlmeier Dr. Probst
Rawe
Reddemann Regenspurger Repnik
Dr. Riedl
Dr. Riesenhuber Rode Frau Rönsch
Frau Roitzsch
Dr. Rose
Rossmanith Roth Rühe
Ruf
Sauer
Sauer Saurin
Sauter Sauter (Ichenhausen)
Dr. Schäuble Schartz Schemken
Scheu
Schlottmann Schmidbauer von Schmude Schneider
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer Schreiber
Dr. Schroeder Schulhoff
Dr. Schulte
Schultz (Wörrstadt) Schwarz
Dr. Schwarz-Schilling Dr. Schwörer Seehofer
Seesing
Seiters
Spilker
Spranger
Dr. Sprung
Dr. Stark
Dr. Stavenhagen
Dr. Stercken Stockhausen Dr. Stoltenberg
Stommel
Strube
Stücklen
Stutzer
Susset
Tillmann
Dr. Todenhöfer
Uldall
Dr. Unland
Frau Verhülsdonk
Vogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Dr. Waigel
Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warnke
Dr. Warrikoff
Dr. von Wartenberg Weirich
Weiß
Werner
Frau Will-Feld
Frau Dr. Wilms
Wilz
Wimmer Windelen
Frau Dr. Wisniewski Wissmann
Dr. Wittmann
Wittmann Dr. Wörner
Würzbach Dr. Wulff Zierer
Dr. Zimmermann
Zink
Berliner Abgeordnete
Frau Berger Boroffka
Buschbom Dolata
Feilcke
Kalisch
Kittelmann
Dr. h. c. Lorenz
Dr. Pfennig Schulze Straßmeir
SPD
Witek FDP
Frau Dr. AdamSchwaetzer
Baum
Beckmann
Cronenberg Eimer (Fürth) Engelhard
Dr. Feldmann
Gallus
Gattermann Grünbeck Grüner
Frau Dr. Hamm-Brücher Dr. Haussmann
Dr. Hirsch
Kleinert Kohn
Dr. Graf Lambsdorff
Mischnick Möllemann Neuhausen Paintner
Ronneburger Dr. Rumpf Schäfer
Frau Dr. Segall
Frau Seiler-Albring
Dr. Solms
Dr. Weng Wolfgramm (Göttingen)
Berliner Abgeordneter Hoppe
fraktionslos
Voigt
Nein
SPD
Amling Dr. Apel
Bachmaier
Bahr
Bamberg
Becker Bernrath
Berschkeit
Bindig
Frau Blunck
Brandt Brück Büchler
Büchner
Dr. von Bülow Catenhusen
Collet
Dr. Corterier
Frau Dr. Däubler-Gmelin Delorme
Dreßler Duve
Dr. Ehmke
Dr. Emmerlich
Dr. Enders
Esters Ewen Fiebig
Fischer Fischer (Osthofen)
Frau Fuchs
Gansel
Gerstl
Gilges Glombig
Dr. Glotz
Dr. Haack
Haase
Haehser
Hansen
Frau Dr. Hartenstein
Dr. Hauchler
Hauck
Dr. Hauff
Heistermann
Herterich
Hettling
Heyenn Dr. Holtz
Horn
Frau Huber
Huonker
Ibrügger
Immer Jahn (Marburg)
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 256. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1986 20071
Präsident Dr. Jenninger
Jansen
Dr. Jens Junghans Kastning Kirschner Kisslinger Klein
Dr. Klejdzinski
Kolbow
Dr. Kübler Kuhlwein Lambinus Lennartz Leonhart
Frau Dr. Lepsius Liedtke
Lohmann
Lutz
Frau Dr. Martiny-Glotz Frau Matthäus-Maier Meininghaus
Möhring
Müller Müller (Schweinfurt) Dr. Müller-Emmert Müntefering
Nehm
Neumann Dr. Nöbel
Frau Odendahl Oostergetelo Paterna
Pauli
Dr. Penner Porzner
Purps
Ranker
Rapp Reimann
Frau Renger
Reuter
Rohde
Roth
Sander
Schäfer Schanz
Dr. Scheer Schluckebier
Frau Schmedt
Schmidt (München) Schmitt (Wiesbaden) Dr. Schmude Schreiner
Schulte
Dr. Schwenk Frau Simonis
Dr. Soell
Dr. Sperling Dr. Spöri
Stahl Steiner
Frau Steinhauer Stiegler
Stockleben
Dr. Struck
Frau Terborg Tietjen
Frau Dr. Timm Toetemeyer Urbaniak
Vahlberg
Vogelsang
Voigt Vosen
Waltemathe Weinhofer
Weisskirchen Dr. Wernitz
Westphal
Frau Weyel Dr. Wieczorek
von der Wiesche Wimmer Wischnewski
Dr. de With Wolfram
Würtz
Zander
Zeitler
Frau Zutt
Berliner Abgeordnete
Dr. Diederich Heimann
Löffler
Dr. Mitzscherling Stobbe
Dr. Vogel
Wartenberg
DIE GRÜNEN
Auhagen
Bastian
Frau Borgmann
Frau Dann Frau Eid
Fischer Fritsch
Frau Hönes Frau Kelly Mann
Dr. Müller Rusche
Schmidt
Senfft
Suhr
Tatge
Vogel Volmer
Werner Werner (Westerland) Frau Zeitler
Berliner Abgeordneter Ströbele
Enthalten
fraktionslos Tischer
Gemäß § 48 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung stelle ich fest, daß die erforderliche Mehrheit der voll stimmberechtigten Abgeordneten dem Gesetz zugestimmt hat. Das Gesetz ist damit angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/6718 ab. Wer dem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist bei einigen Enthaltungen abgelehnt.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Tagesordnung.
Ich schließe die Sitzung.