Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat fristgerecht eine Erweiterung der heutigen Tagesordnung beantragt. Diesen Antrag werden wir im Anschluß an die Aktuelle Stunde behandeln.
Ich rufe Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Lage der deutschen Werftindustrie
Die Fraktion der SPD hat diese Aktuelle Stunde fristgerecht gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Gansel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde ist von der SPD-Fraktion beantragt. Denn nach den Beschlüssen der Bundesregierung am 15. Oktober sind die Existenzsorgen der Werftindustrie so aktuell wie davor.Weil die Bundesregierung seit Monaten bei diesen Existenzsorgen versagt, ist aber jetzt die Stunde des ganzen Parlaments gekommen, nicht nur einer Fraktion. Alle Abgeordneten aus den Küstenländern sind jetzt zum Handeln aufgerufen. Wir suchen nicht nach Streit, sondern nach Gemeinsamkeit.10 000 Arbeitsplätze im Schiffbau sollen in Niedersachsen, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein abgebaut werden, Tausende in Flensburg, Lübeck, Rendsburg, Husum, Wevelsfleth, Büsum, Kiel und Lauenburg. Das ist schon schlimm genug. Noch schlimmer: Es ist nicht Vorsorge getroffen, daß die anderen 30 000 Arbeitsplätze auf den Werften sicher sind.Wenn aber die Werften kaputtgehen, wird die maritime Verbundwirtschaft von Schiffbau und Zulieferbetrieben, von Schiffahrt, Häfen, Außenhandel und Banken, von Entwicklung und Forschung aufgebrochen. Dann verliert die Küste ihre industriellgewerbliche Basis, verändern Landschaften und Städte ihr Gesicht, droht die Küste wirtschaftlich zu veröden. Dann steht das Mehrfache an Arbeitsplätzen auf dem Spiel — mit all den bitteren Konsequenzen für die Arbeitnehmer und ihre Familien.Der Werftkoordinator der schleswig-holsteinischen Landesregierung hat eine Antwort der Politik auf diese Herausforderung verlangt und vor den verfälschten Marktkräften gewarnt. Die Küstenländer seien außerstande — ich zitiere —, „andere als Teillösungen zu verwirklichen, die den endgültigen Zusammenbruch der Schiffbauindustrie nur um einige Monate hinausschieben können". — Das sagt der ehemalige Finanzminister des ehemaligen Ministerpräsidenten Stoltenberg.Ich sage deutlicher: Wer in dieser Situation auf die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft vertraut, läßt ihren Selbstzerstörungskräften freien Lauf:
mörderische Konkurrenz, Dumpingpreise, Sozialabbau, Konkurse, Entlassungen.Die Antwort der Bundesregierung — besser als gar nichts — ist aber noch nicht einmal eine Teillösung.Nach monatelangem Ringen mit sich selbst hat sie für drei Jahre ganze 420 Millionen DM Strukturhilfen für die Küstenländer bereitgestellt. 380 Millionen DM nur für die Entwicklung nur eines neuen Jagdflugzeuges im Zeitraum nur eines Haushaltsjahres hat die Bundesregierung am selben Tag per Eilverfahren im Parlament beantragt. Da sind doch im wahrsten Sinne des Wortes die industrie-und beschäftigungspolitischen Prioritäten verrückt.
Die Hilfen für den Schiffsneubau sind richtig, aber spät und unzureichend. Es gibt Reeder, die in der Bundesrepublik Schiffe bestellen wollen. Das werden die nächsten Wochen zeigen.Die Bundesregierung hat durch ihr Spiel auf Zeit und ihre ideologischen Schwierigkeiten bei Subventionen geradezu auf einen Investitionsstau hingewirkt und den Kapazitätsabbau beschleunigt. Es geht aber „nicht nur um Schiffe, es geht um Menschen", wie die IG Metall gesagt hat. Und die haben mit ihren Arbeitsplätzen und Unternehmen bitter darunter leiden müssen.
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18548 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
GanselWir wollen kein Geld für Sozialpläne und für die vage Hoffnung auf Neuansiedlung von Unternehmen. Wo sollen die denn herkommen, wenn der baden-württembergische Ministerpräsident Späth allein für ein neues Automobilwerk 140 Millionen DM zuschießt?Wir wollen, daß Schiffahrt und Schiffbau als nationale Aufgabe garantiert werden. Und wir wollen die Umstrukturierung von Teilkapazitäten in den bestehenden Betrieben. Das sichert Arbeitsplätze. Funktionierende Produktionsstätten kaputtgehen zu lassen, wäre eine volkswirtschaftliche Verschwendung. Ein gewollter „Abbau von Kapazitäten" wäre eine zynische Verharmlosung der Entlassung in die Arbeitslosigkeit.Unsere Werften sind leistungs- und anpassungsfähig. Moderne Umwelt- und Energietechnologien können und müssen direkt gefördert werden. Das ist gesellschaftliche Aufgabe und bedeutet individuell Arbeit. Ich weiß, daß dieser Bundesregierung die Umstellung zu einer solchen Beschäftigungspolitik schwerfällt. Aber wenn sich die Arbeitnehmer umstellen sollen, warum denn eigentlich nicht auch die Politiker?Ausgerechnet in der „Süddeutschen Zeitung" hat der Bundesfinanzminister aus Norddeutschland am 16. Oktober erklärt — ich zitiere —, „daß dies alles schließlich auch im Zeichen des Wahlkampfes gesehen werden müsse und" — so berichtet die Zeitung weiter —, „wie er spöttelnd bemerkte, Nikolaustag sei noch lange nicht". Herr Stoltenberg, hier ist Ironie fehl am Platz.
Wir wünschen von Ihnen keine frommen Gaben. Wir verlangen, daß Sie Ihre verdammte Pflicht tun.
Das Wort hat der Abgeordnete Metz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die entscheidende Ursache für die weltweite Misere in Schiffahrt und Schiffbau läßt sich mit einem einzigen Satz umschreiben: Es gibt zu viele Schiffe und es gibt zu wenig Ladung. Dadurch wird der Wettbewerb ruinös, das Frachtratenniveau ruiniert. Immer weniger Handelsschiffe fahren ihre Kosten ein. Hinzu kommt die augenblickliche Dollarschwäche. Da die Frachtraten weitgehend auf Dollarbasis abgeschlossen werden, gehen die Erlöse in Dollar ein. Da die Kosten der deutschen Reeder weitgehend in D-Mark anfallen, wirkt sich ein schwacher Dollarkurs ertragsmindernd aus. Leidtragende sind nicht nur die Reeder, Leidtragende sind auch die Schiffbauer und die Werften.
Wenn die Nachfrage nach Schiffen stagniert, weil erstens zu viele Schiffe vorhanden sind und zweitens die Reeder wegen der sinkenden Erträge nicht investitionsfähig sind, ruht auf den Werften die Arbeit. Die Deutschen können das Problem allein nicht lösen, meine Damen und Herren. Wenn wir die gesamte deutsche Kapazität aus dem Markt nähmen, gäbe es immer noch zu viele Schiffe bei zu wenig Ladung.Die Überkapazitäten sind dadurch entstanden, daß auf diesem Gebiet nie das Regulativ von Angebot und Nachfrage herrschte, sondern jeweils besondere nationale Interessen eine marktverzerrende Rolle gespielt haben. Wir haben übrigens in anderen Bereichen — siehe Landwirtschaft — ähnliche Erscheinungen.In dieser Situation sind nicht alle bestehenden Arbeitsplätze im Handelsschiffbau zu halten. Das ist keine spezielle Erkenntnis der Bundesregierung oder dieses Parlaments, sondern das sagen die Wirtschaftsminister und -senatoren der Küstenländer, das sagen Gutachter, das sagen Vertreter der betroffenen Schiffbauindustrie selbst.Am 2. Oktober, also vor drei Wochen, hat der Sprecher der deutschen Schiffbauindustrie hier in Bonn vor Abgeordneten erklärt — ich zitiere —:Dies bedeutet, daß die Kapazitäten im deutschen Schiffbau angepaßt werden müssen, und zwar um rund ein Drittel, und dies bedeutet ferner, daß mit einem Verlust von rund 10 000 Arbeitsplätzen gerechnet werden muß.Dieser Prozeß zieht sich bereits über viele Jahre hin. Im kleinen Land Bremen hat es einmal fast so viele Werftarbeiter gegeben wie heute an der gesamten deutschen Küste. Seit vielen Jahren versuchen die Landesregierungen der Küstenländer und die verschiedenen Bundesregierungen bremsend und mildernd auf die negative Entwicklung einzuwirken: mit Subventionen verschiedener Art, mit Bürgschaften, mit Entschließungen der Parlamente, auch des Deutschen Bundestages, mit Richtlinien. Es ist immer wieder versucht worden zu retten, was zu retten ist. Aber das durchgreifende, das umfassend die Probleme lösende nationale Konzept hat es nicht gegeben und — das behaupte ich — wird es auch nicht geben. Sie können weltweite Entwicklungen, die etwas mit weltweitem Kostenniveau, die etwas mit weltweitem Subventionswettlauf und mit weltweiter Überkapazität zu tun haben, letztlich nicht durch nationale, dirigistische Maßnahmen in den Griff kriegen. Wer den Werftarbeitern etwas anderes erzählt, macht ihnen etwas vor.In die Bereiche Schiffbau und Schiffahrt sind in den letzten Jahren Milliardenbeträge geflossen. In der vergangenen Woche hat die Bundesregierung erneut ein ganzes Bündel kostenträchtiger Entscheidungen zugunsten der betroffenen Branchen und Regionen getroffen.Es gilt, den deutschen Schiffbau dort, wo er wettbewerbsfähig ist, in einem von anderen verzerrten Markt zu stützen. Die deutschen Werften sind im Bereich des Neubaus von technologisch hochwertigen Schiffen konkurrenzfähig, im Marineschiffbau, im Umbau, im Spezialschiffbau. Die deutsche Handelsflotte ist modern und leistungfähig. Für den Erhalt dieser Bereiche zu kämpfen und zu zahlen lohnt sich. Ob es deutschen Schiffbau und eine
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18549
Metzdeutsche Flotte auch in Zukunft gibt, ist keine Frage an der Küste, sondern ist eine Frage an das ganze Land. Die Menschen an der Küste wollen nicht nur materielle Hilfe, sie wollen vor allen Dingen auch spüren, daß in Bonn und im Binnenland begriffen wird, daß Schiffahrt und Schiffbau und das Schicksal der maritimen Verbundwirtschaft Fragen von nicht nur regionaler, sondern von nationaler Bedeutung sind.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Weng.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich halte es für unanständig, wenn sich der Kollege Gansel hier herstellt und den Eindruck erweckt, die Entwicklung eines Jagdflugzeuges für die Zukunft der Sicherheit der Bundesrepublik sei dem Parlament und sei der Bundesregierung mehr wert als Arbeitsplätze an der Küste. Die Entwicklung dieses Jagdflugzeuges, Herr Kollege Gansel, wird im Grundsatz von Ihrer Fraktion unterstützt. Wer in letzter Konsequenz sagt: Wenn wir gar keine Verteidigung hätten, dann ginge es uns hier besser, der lügt die Bürger dieses Landes an.
Herr Kollege Gansel, Sie haben gesagt, die Bundesregierung habe versagt. Ich erinnere mich gut an die Diskussion vor einem Jahr. Da waren alle ganz fröhlich. Da war die Situation bei den Werften unverhältnismäßig gut geworden. Da hat man gesagt, man kann — mit den Einschränkungen, die bekannt sind — an sich zufrieden sein; es gibt Hoffnungsschimmer in den Bereichen, in denen die Werften bei uns handlungsfähig und konkurrenzfähig sind;
in diesen Bereichen stabilisiert sich die Situation.Heute haben wir eine völlig veränderte Situation. Wir haben einen Einbruch auf ungefähr ein Zehntel des Auftragsvolumens. Und daran soll die Bundesregierung schuld gewesen sein?Meine Damen und Herren, der Kollege Metz hat sehr deutlich gemacht, wo überall die Fehler, und zwar die weltweiten Fehler, und die weltweiten Probleme liegen. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat am 17. Oktober in einem Artikel darauf hingewiesen, daß in Südkorea der Schiffbau lebhaft und zu niedrigen Preisen geschehe. Da wird gesagt, die Südkoreaner haben trotz einer auch dort gestiegenen Lohnsituation immer noch einen Wettbewerbsvorteil, selbst gegenüber den Japanern, von 50 % bis 60% der Lohnkosten, und die wiederum machen rund 60 % der Produktionskosten im Großschiffbau aus. Es wird darauf hingewiesen, und zwar unwidersprochen, daß die Arbeitskosten in der deutschen Schiffbauindustrie in der Größenordnung mehr als viermal so hoch sind wie in einem anderen Land, das als Konkurrent auf den Weltmärkten auftritt. Das zeigt einfach, daß im Großschiffbau für die deutschen Werften die Konkurrenzfähigkeit wohl nicht mehr erreichbar sein wird. Erreichbar sein wird sie dort — und da müssen wir sie halten —, wo nur auf Grund einer möglicherweise kurzfristigen Gegebenheit, nämlich der Entwicklung des Dollarkurses, ein abrupter Stillstand droht.Meine Damen und Herren, dies will ich hier auch sagen: Wir haben uns in der Arbeit des Haushaltsausschusses in den vergangenen Wochen von Einzelplan zu Einzelplan, überall, wo Schiffbau möglich war, wo Schiffbau vorgezogen werden konnte, wo die Situation gerade von im Spezialschiffbau tätigen Werften verbessert werden konnte, bemüht — aber da haben uns die SPD-Fraktion und die GRÜNEN sowieso alleingelassen —,
Aufträge vorzuziehen, um die Situation zu verbessern, und noch gestern, als wir bereit waren, eine der flankierenden Maßnahmen der Bundesregierung im Ausschuß zu verabschieden, hat man von seiten der SPD gesagt: Nein, wir wollen vertagen,
und zwar — sehr richtig, Herr Waltemathe — vertagen auf Grund der Forderung, ein Gesamtkonzept zu erarbeiten. Aber, meine Damen und Herren, Sie wissen doch ebenso wie jeder andere hier im Raum, daß es dieses Gesamtkonzept, das Sie sich vorstellen, überhaupt nicht geben kann. Wer hier ein Gesamtkonzept und einen Verzicht auf sofortige Maßnahmen fordert,
der fordert Nichtstun.Meine Damen und Herren, die fünf Minuten in der Aktuellen Stunde eilen immer sehr schnell vorbei. Ich kann hier jetzt keine allgemeine Subventionsdiskussion führen; dafür reicht die Zeit nicht. Natürlich ist die Entscheidung für Subventionen einerseits immer eine Entscheidung zwischen Scylla und Charybdis — es gibt dann Unterstützung immer auch in Bereichen, in denen es nicht wünschenswert erscheint —, andererseits aber müssen wir eben auch unserer Verantwortung gerecht werden.Wir werden — das sage ich hier mit aller Klarheit — trotz gewisser Bedenken die Bundesregierung bei ihrem Versuch unterstützen, durch kurzfristige Hilfen langfristige Verbesserungen auch der Wirtschaftsstruktur und der Struktur der Arbeitsplätze in diesem Bereich zu erreichen.Vielen Dank.
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18550 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Wirtschaft das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Metz hat richtig beschrieben, was die Ursache der schwierigen Lage der deutschen Werftindustrie ist: Wir haben einen strukturellen Nachfragerückgang und durch das Aufkommen neuer Schiffbauländer mit wettbewerbsfähigen Schiffbauindustrien sowie durch eine verzerrende Subventionspraxis sehr vieler Länder Probleme, die seit Jahren zu niedrigen Auftragsbeständen, zu niedrigen Frachtraten und zu einem Überhang an Kapazität geführt haben.
Das hat sich in Europa im allgemeinen, aber auch in der Bundesrepublik im besonderen negativ bemerkbar gemacht, und deswegen gehen alle, die die Werftindustrie bei ihrem schwierigen Bemühen, sich dieser Situation anzupassen, unterstützen wollen, davon aus, daß wir eine Nachfragebelebung in den nächsten Jahren nicht erwarten können, und zwar weil der Dollarkursrückgang, weil der Frachtratenverfall, weil die schwierige Neubaufinanzierung und weil auch der Überhang an Kapazität das nicht erwarten lassen.
Deswegen geht auch die Werftindustrie und gingen auch die Wirtschaftsminister der Länder, Herr Gansel, gemeinsam mit der Bundesregierung davon aus, daß ein Kapazitätsabbau, ein Abbau der Arbeitsplätze um etwa 10 000, notwendig ist.
Es ist unredlich, hier so zu tun, als ob es möglich wäre, diese Arbeitsplätze zu erhalten. Ich finde auch, es ist für jemanden, der für die Küste spricht und der wissen müßte, daß wir z. B. im Marineschiffbau viel für die Werften tun, wenig angemessen, angesichts der Tatsache, daß wir auch in der Flugzeugindustrie in Norddeutschland eine Menge Arbeitsplätze haben, hier einen Widerspruch zwischen militärischen Aufträgen und den Möglichkeiten, die im zivilen Schiffbau bestehen, herzustellen.
Deswegen, meine Damen und Herren, haben wir uns über das hinaus, was wir in den vergangenen Jahren bereits geleistet haben, entschlossen, zusätzliche Maßnahmen durchzuführen, und die möchte ich hier einmal darstellen, damit deutlich wird, was das im einzelnen bedeutet:
Wir haben zunächst einmal gemeinsam eine Finanzhilfe nach Art. 104a Abs. 4 des Grundgesetzes beschlossen. Der vom Bundeskabinett vorgelegte Entwurf eines Gesetzes sieht eine Hilfe in Höhe von insgesamt 300 Millionen DM an die vier Küstenländer Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Niedersachsen vor. Die Aufteilung dieser Gelder — ich sage das, weil ich das gestern in Hamburg im Wahlkampf als Vorwurf gegenüber der Bundesregierung gehört habe — zwischen den einzelnen Küstenländern ist von den Küstenländern vereinbart worden; sie ist nicht von der Bundesregierung vorgegeben worden. Es ist manchmal schon wirklich traurig, zu welchen Entgleisungen sich die Opposition im Wahlkampf hinreißen läßt, wenn es ihr angeblich um ein so schwieriges Problem geht.
Diese Finanzhilfen sollen insbesondere zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur verwendet werden und damit wichtige Rahmenbedingungen für die Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen schaffen. Der Bundesanteil beträgt 65%.
Außerdem wollen wir den Anpassungsprozeß regionalpolitisch flankieren. Zu diesem Zweck werden wir dem Planungsausschuß „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" folgende Maßnahmen vorschlagen: Das Sonderprogramm für Bremen zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen wird um zwei Jahre, d. h. bis zum 31. Dezember 1989 verlängert. Darüber hinaus stellt der Bund den Ländern Schleswig-Holstein und Niedersachsen, soweit dort Fördergebiete enthalten sind, für die Jahre 1987, 1988 und 1989 zusätzliche Bundesmittel vorrangig zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen zur Verfügung. Dafür werden in den Jahren 1987 bis 1989 jeweils 40 Millionen DM, also 120 Millionen DM, bereitgestellt. Das sind 420 Millionen DM zusätzliche Mittel, die durch entsprechende Mittel der Länder ergänzt werden, so daß insgesamt im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe 240 Millionen DM zur Verfügung stehen. Die 300 Millionen DM, rund gerechnet als zwei Drittel, werden um ein Drittel durch Ländermittel ergänzt, so daß ein erhebliches Finanzvolumen zur Verfügung steht,
das höher ist als die Mittel, die die Schiffbauindustrie selbst gefordert hat und für notwendig hält.
Voraussetzung ist allerdings — das möchte ich hier eindeutig sagen —, daß der Planungsausschuß dem zustimmt. Ich möchte hier ausdrücklich betonen, daß das auch nicht Subventionen an die Werften sind. Das sind vielmehr Mittel zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen. Wer glaubt, hier eine Subventionsdebatte führen zu können, der irrt sich. Wir sind uns alle, alle Länderwirtschaftsminister, der Bundeswirtschaftsminister und die Werftindustrie, darüber im klaren, daß wir die Kapazität nicht halten können.
Führen Sie bitte keine Kriege auf den falschen Schauplätzen, sondern unterstützen Sie die Bundesregierung und die Länder bei ihrem Bemühen, Ersatzarbeitsplätze zu schaffen. Dafür haben wir die Mittel zur Verfügung gestellt.
Meine Damen und Herren, die Arbeitsmarktlage in diesen Küstenregionen soll auch durch Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit verbessert werden. Die Bundesregierung hat die Anstalt aufgefordert, Entsprechendes zu tun. Ich glaube, daß die
Bundesminister Dr. Bangemann
Anstalt auf diese Aufforderung positiv reagieren wird.
Auch die Tarifvertragsparteien müssen endlich einmal erkennen, daß sie selbst Ursachen für die Schwierigkeiten setzen, die hier entstanden sind.
— Herr Gansel, 4 % Lohnerhöhung im Bereich der IG Metall können von Daimler-Benz, BMW und anderen Werken weggesteckt werden, aber für eine kleine Werft in Schleswig-Holstein können 4 % mehr Lohn das Aus bedeuten. Das muß man sich in solchen Verhandlungen endlich auch einmal klarmachen.
— Die Arbeiter haben nicht schuld, aber Herr Metz hat j a vollkommen richtig gesagt: Wenn die Lohnkosten in Korea 30% der Lohnkosten in der Bundesrepublik ausmachen, wie wollen Sie dann konkurrenzfähig Schiffe bauen? Können Sie das einmal jemandem erklären?
Wir werden das bestehende Fördersystem für Reeder und Werften weiter ausbauen. Wir werden bei Aufträgen aus den Entwicklungsländern verbesserte Konditionen anbieten. Zinszuschüsse können abweichend vom Regelfall bis maximal 2% gewährt werden. Wir werden die Umbauten, wo wir den Fördersatz bereits auf 20 % angehoben haben, erweitern. Die Definition der förderbaren Schiffstypen wird ausgeweitet, so daß z. B. Schwimmbagger, Hafenschlepper usw. ebenfalls gefördert werden können, und der Baransatz bei den Finanzbeiträgen für Reeder soll erhöht werden.
Das alles zusammen — mit den Maßnahmen, die die Küstenländer mit uns gemeinsam in Form einer Richtlinie noch vorbereiten; diese Richtlinie wird der Europäischen Kommission vorzulegen sein — soll dazu dienen, den Anpassungsprozeß zu erleichtern. Wir wissen, daß die Schiffsbauindustrie eine wichtige Schüsselindustrie für die Küste ist. Deswegen ist eine gewisse Zahl von leistungsfähigen Werften erforderlich, die es übrigens noch gibt; denn man sollte angesichts der allgemeinen Situation nicht die Augen davor verschließen, daß es eine Reihe von mittleren und kleinen Werften gibt, die auf Grund einer vernünftigen Geschäftspolitik leistungsfähige Arbeitsplätze bieten.
und deswegen keine Konkurrenz zu fürchten haben. Das gilt insbesondere für den Spezialschiffbau. Das sind Leistungen gewesen, die diese Unternehmen und ihre Mitarbeiter am Markt erbracht haben.
Werften, die ausschließlich darauf gesetzt haben, über Steuermittel zu fördernde bzw. geförderte Schiffe zu bauen und auf diese Weise verpaßt haben, sich wettbewerbsfähig zu halten, werden die Schwierigkeiten jetzt sicherlich weniger gut überwinden können als Werften, die schon immer Anstrengungen unternommen haben, sich am Markt zu bewähren.
Deswegen will und wird die Bundesregierung diesen Anpassungsprozeß unterstützen. Sie kann und wird aber keine Arbeitsplätze erhalten, die man im Wettbewerb nicht erhalten kann. Das ist nämlich das Schlüsselproblem jeder Industrie, nicht nur der Werftindustrie.
Die Werften können sich auf die Bundesregierung verlassen.
Gemeinsam mit den Küstenländern haben wir dieses Programm erarbeitet. Wie Sie wissen, werden nicht alle Küstenländer nur von den Parteien regiert, die die Bundesregierung stellen. Ich hoffe, daß diese Gemeinsamkeit anhält. Wenn sie nämlich nicht durchzuhalten ist, werden wir im Planungsausschuß Schwierigkeiten bekommen, über die Sie sich dann Gedanken machen sollten, aber nicht die Bundesregierung.
Das Wort hat der Abgeordnete Hansen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Bangemann, jeder Werftarbeitnehmer wird Ihnen zustimmen hinsichtlich Lohnabsenkungen auf das Niveau, das in Korea herrscht, wenn die Minister mit gutem Beispiel vorangehen und auch nur Ministergehälter in koreanischer Höhe nehmen.
Ich möchte noch einmal den Schlußsatz aufgreifen, den mein Kollege Gansel mit dem Nikolaus gebracht hat. Wie sich doch Zeiten und Personen ändern! Der frühere Ministerpräsident eines Künstenlandes und heutige Bundesfinanzminister käme sich wie ein Nikolaus vor — so die „Süddeutsche Zeitung" —, wenn er der berechtigten und gemeinsamen Forderung nach einer wirksamen finanziellen Beteiligung des Bundes zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation in der Region und auch der Chance unserer Werftarbeiter im Norden nachgegeben hätte. Daraus ist doch wohl zu folgern: Der Nikolaus ist ein guter Mann, der Finanzminister nicht. Zustimmung, Herr Stoltenberg.
Die Reaktion der Bundesregierung auf die Forderung der Küstenländer — ganz zu schweigen von dem, was wirklich notwendig wäre und was die IG Metall fordert — ist eine Almosenvergabe. Die 300 Millionen DM für die Schaffung neuer Arbeitsplätze, verteilt auf vier Länder und zwei Jahre, 120 Mil-
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Hansen
lionen DM für die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, sind ein weiteres Beispiel für die andauernde Konzeptionslosigkeit, die die Bundesregierung hier für einen ganzen Wirtschaftszweig, die maritime Verbundwirtschaft, an den Tag legt. Das wissen Sie auch.
Auf die Zusammenhänge in der maritimen Verbundwirtschaft hat nicht zuletzt mein Kollege Hettling ständig hingewiesen. Er hat diesen Begriff ins Parlament gebracht.
Daß es kein Konzept gibt, sondern offenbar nur die Taktik, die Einigkeit der Küstenländer in einer wichtigen wirtschaftspolitischen Frage möglichst schnell wieder zu zerstören, ist auch daraus zu entnehmen, daß mit den 120 Millionen DM zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur Konkurrenzvorteile der Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein zu Lasten Hamburgs, Hamburger Arbeitnehmer und Unternehmen, verstärkt werden. Das ist ein Schlag ins Gesicht der Hamburger Arbeitnehmer und der Hamburger Arbeitslosen, meine Herren Minister Bangemann und Stoltenberg. Wenn, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Ihre Hamburger Kollegen und die, die in Hamburg das große Wort führen und die Stadt so richtig ansiedlungsförderlich auf allen Gebieten mies machen,
für Hamburg außer zu polemisieren etwas hätten tun wollen, dann hätten sie — so sie denn überhaupt bei Ihnen auf irgend etwas Einfluß haben — diesen Teil des Regierungsbeschlusses verhindert.
Was davon zu halten ist, beschreiben auch die „Kieler Nachrichten", nachdem sie das Ganze zunächst als „Jongleurnummer zur Rettung der Werften" bezeichnen, so: „Dies ist der Startschuß für den Wettlauf der Bettler an die Futtertröge der Nation."
In der Tat: Wie Bettler müssen sich die Kolleginnen und Kollegen auf den Werften vorkommen, nachdem ihre berechtigten Forderungen so abgeschmettert wurden. Noch schlimmer: Die Politik des Kapazitätsabbaus wird fortgesetzt. Keiner weiß, wohin die Reise geht. Um alles zu krönen, hören wir von Herrn Stoltenberg und auch von Herrn Bangemann: Lohnverzicht der Werftarbeiter in der nächsten Tarifrunde ist angesagt. Die sollen also den Kakao, durch den sie von Ihnen gezogen werden, auch noch trinken,
und das alles für eine Bakschischhilfe, von der die Kollegen wissen, daß sie letztendlich den Arbeitsplatzabbau nicht verhindern wird.
Der schleswig-holsteinische Finanzminister Asmussen führte am 23. September 1986 aus:
Die angestrebten Hilfen sollen die verbleibenden Werftkapazitäten in Zukunft absichern. Wir können jedoch keine Hilfestellung bei der Bewältigung der finanziellen Altlasten unserer Werftbetriebe gewähren. deshalb wird ein Vergleich oder Konkurs von Fall zu Fall ein notwendiger Zwischenschritt zur gebotenen wirtschaftlichen Konsolidierung eines Werftbetriebes sein.
Wenn das gesagt wird, meine Damen und Herren, kann ich dies nur als den Appell an einen nicht ehrbaren Kaufmann bezeichnen — und das von Ihnen!
Mein Fazit lautet also: Konzeptionslosigkeit bei Regierung, CDU/CSU und FDP. Die Bundesregierung fährt in dieser Frage wie der Kapitän des Schiffes, der immer das Motto hatte: Lieber schneidig gerammt als verkorkstes Manöver. Dieser Kapitän mußte abmustern. Sie sollten es mit dieser Regierung auch tun.
Das Wort hat der Abgeordnete Stutzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn darüber gesprochen wird, wie den deutschen Werften geholfen werden kann, sind nicht nur die Unternehmen und Gewerkschaften, die Wirtschafts-, Finanz- und Verkehrspolitiker, sondern nicht zuletzt auch wir Sozialpolitiker gefordert. Dieses Thema eignet sich nach meiner Überzeugung nicht für polemische, parteipolitische Wahlkampfauseinandersetzungen. Die von der Krise Betroffenen hätten hierfür nicht das geringste Verständnis. Liebe Kollegen Gansel und Hansen, das muß ich Ihnen nach Ihren Reden leider sagen.Am 25. September hatte die IG Metall die norddeutschen Kollegen hier in Bonn zu einem Schiffsbauinformationsgespräch eingeladen. Bis auf die GRÜNEN waren auch alle Fraktionen vertreten, um ihre Stellungnahme zur Situation auf den Werften mit Lösungsvorschlägen vom Juli dieses Jahres vorzutragen. Ich war doch sehr überrascht, daß in diesem Zusammenhang mit keinem Wort über das umfangreiche und höchst wirksame Instrumentarium der Bundesanstalt für Arbeit nach dem Arbeitsförderungsgesetz gesprochen wurde, obwohl das auch im Papier der IG Metall unter den Ziffern 9.3 und 10 erwähnt worden ist. Der IG Metall muß ich sagen, daß das, was sie diesbezüglich in ihrem Papier gefordert hat, schon längst realisiert worden ist.Ich empfehle, einen Blick in die vom schleswigholsteinischen Sozialministerium herausgegebene Broschüre „Arbeitsplatzoffensive Schleswig-Holstein" zu werfen. Ich kann den Stadtstaaten Hamburg und Bremen nur empfehlen, in Zusammenarbeit mit der Bundesanstalt für Arbeit diesem guten Beispiel Schleswig-Holsteins zu folgen.
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StutzerAus Zeitgründen kann ich hier nicht die einzelnen Maßnahmen aufführen. Es ist Beachtliches, was hier geleistet worden ist.
Eine besondere Bedeutung — Herr Jungmann, wenn Sie einmal zuhören wollen — kommt hier, wenn ich an die Beschäftigten der Werften denke, den Maßnahmen zur Förderung der Arbeitsaufnahme einschließlich Eingliederungsbeihilfen und den Maßnahmen zur Fortbildung, Umschulung und Einarbeitung zu.
— Herr Jungmann, ich weiß, es fällt Ihnen schwer, hier zuzuhören. In der Geschichte der Bundesrepublik hat die Arbeitsverwaltung den Küstenländern noch nie soviel Geld wie in diesem Jahr zur Verfügung gestellt.
1984 waren es für Maßnahmen zur Förderung der Arbeitsaufnahme 80 029 000 DM; in diesem Jahr werden es 145 160 000 DM sein. 1984 waren es für Eingliederungsbeihilfen 61 588 000 DM; in diesem Jahr werden es über 100 000 000 DM sein. 1984 wurden für Fortbildung, Umschulung und Einarbeitung in den Küstenländern 710 000 000 DM gezahlt; in diesem Jahr werden es über 850 000 000 DM sein.Wir begrüßen es ausdrücklich, daß der Bund in Gesprächen mit der Bundesanstalt für Arbeit darauf hingewirkt hat, daß im Hinblick auf die Werftenkrise die Bundesanstalt mit ihrem Programm künftig Schwerpunkte in den Küstenländern setzen wird. Das heißt mit anderen Worten, daß von der Bundesanstalt für Arbeit für die Küstenregion in den nächsten Jahren noch mehr Geld als in diesem Jahr zur Verfügung gestellt werden wird.Ich konnte mich in dieser Woche in Nürnberg davon überzeugen, daß der Appell der Bundesregierung sowohl bei der Selbstverwaltung als auch bei dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit auf offene Ohren gestoßen ist.
Natürlich kann allein mit diesen Maßnahmen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Werftenkrise nicht bewältigt werden. Sie sind aber ein nicht zu unterschätzender Faktor bei der Gemeinschaftsanstrengung der Bundesregierung und der Landesregierungen, der Unternehmen und Gewerkschaften, eine Problemlösung zu finden.Hier nur noch ein Beispiel aus der Praxis. In Rendsburg muß sich eine sehr leistungsfähige Werft von Mitarbeitern trennen. Wenige hundert Meter Luftlinie von dieser Werft entfernt sucht ein Industriebetrieb dringend Metallfachkräfte. Dieser Betrieb kann die zur Entlassung kommenden Werftarbeiter nicht gebrauchen, weil es an der notwendigen Qualifikation fehlt. Hier ist also, meine Damen und Herren, die Arbeitsverwaltung mit ihrem Instrumentarium nach dem Arbeitsförderungsgesetz gefordert, die betroffenen Arbeitnehmer rechtzeitig und unbürokratisch auf die neue Berufstätigkeit vorzubereiten. Nach Ansicht der Wirtschaft und Gewerkschaften eröffnet vor allem eine praxisnahe berufliche Qualifizierung bei neuen Techniken Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Die von der Arbeitslosigkeit bedrohten oder schon betroffenen Arbeitnehmer der Werften sollten diese Chance nutzen.
Ich erteile dem Präses der Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Herrn Senator Lange, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was der Norden im Moment braucht, ist keine sogenannte Lehrstunde über die geschichtliche Entwicklung der Werften in Norddeutschland, sondern was wir brauchen, ist eine gemeinsame Anstrengung, auf dem Höhepunkt einer Strukturkrise in Norddeutschland Lösungen zu entwickeln, um neue Arbeitsplätze in Norddeutschland zu schaffen. Einheitliches Handeln im Interesse der norddeutschen Region ist dringend erforderlich. Ich wiederhole das, was die Kollegen der SPD-Fraktion gesagt haben: Der Erhalt der maritimen Verbundwirtschaft ist eine Existenzfrage für den ganzen Norden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was ist geschehen? Wir haben im Norden erstmalig und wie ich glaube, auch bisher einmalig eine Solidarität erlebt. Über Parteien und Parteiengrenzen hinweg
ist man sich einig gewesen, Herr Fischer. Es ist ja immer nur ein Teil zitiert worden. Ich komme auf den zweiten Teil zurück, den ja der Kollege Wirtschaftsminister hier durchaus verschwiegen hat.Wir sind uns einig gewesen: Hilfen für den Norden sind dringend erforderlich. Die Wirtschaftsministerkonferenz, Herr Abgeordneter Metz, hat ja nicht nur das beschlossen, was Sie zitiert haben, sondern hat beschlossen: Es ist ein Minimalbetrag von 850 Millionen DM notwendig, um neue Arbeitsplätze zu schaffen, um eben nicht nur den Kapazitätsabbau durchzuführen, den wir auch kommen sehen. Wir wollen Beschäftigung für den Norden haben.
Diese Beschäftigung kann mit den Maßnahmen der Bundesregierung nicht geschaffen werden.Meine Damen und Herren, die Wirtschaftsministerkonferenz im Norden ist sich einig, auch Ihr Nachfolger, Herr Stoltenberg, Herr Barschel, ist sich einig mit den anderen drei Ministerpräsidenten, daß dringend eine Hilfe, wie hier vorgegeben, notwendig ist und daß darüber hinaus noch weitere Notwendigkeiten im Bereich der Schiffahrtsförderung bestehen. Die Entscheidung der Bundesregierung ist leider nur ein Minimalschritt. Die Entschei-
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Senator Lange
dung der Bundesregierung ist keine ausreichende Hilfe zur wirklichen Strukturverbesserung im Norden. Diese Hilfe ist — und da spreche ich im Namen aller vier Wirtschaftssenatoren und -minister Norddeutschlands — völlig unzureichend.
— Nein, ich bin durchaus berechtigt, nach der Küstenministerkonferenz in Bremerhaven vor zwei Wochen, auf der das zur Sprache kam, zu sagen: völlig unzureichend.Meine Damen und Herren, die Entscheidung der Bundesregierung ist eine Absage an die Solidarität des Nordens, eine Absage an eine zukunftsorientierte Industriepolitik für den Norden, eine Absage an eine notwendige nationale Schiffbaupolitik, eine Absage an eine notwendige nationale Schiffahrtspolitik, und diese Entscheidung der Bundesregierung ist eine Mißachtung der Verantwortung des Bundes für eine Stärkung der Regionalsituation im Norden,
eine Aufgabe, die nach dem Grundgesetz gegeben ist.Die Entscheidung der Bundesregierung bedeutet eine wahllose Ausweitung des Gießkannenprinzips im Bereich der Regionalsubvention zu Lasten Hamburgs. Darauf hat Herr Hansen bereits hingewiesen. Sie fördern mit dieser Entscheidung den volkswirtschaftlich völlig sinnlosen Bürgermeisterwettbewerb inklusive Zonenrandförderung im Norden.
Diese Entscheidung der Bundesregierung ist — ich wiederhole das, auch wenn Sie es nicht gerne hören wollen — eine völlig unzureichende Antwort auf wirtschaftliche Notwendigkeiten im Norden. Der Norden und Hamburg können die Entscheidung der Bundesregierung hier nur heftig kritisieren.
Wir müssen die Regionalförderung und die Ansichten der Bundesregierung dazu anprangern. Hamburg wird sich — und das ist eine Antwort auf Ihre Zwischenrufe — nicht aus der norddeutschen Solidarität herauslösen lassen. Wir werden diese erhalten, auch als Kampfmittel gegen die Entscheidung der Bundesregierung. Wir werden uns aber, auch wenn es schwerfällt, bei unserer Stimmabgabe für den Werftarbeiter in Büsum, in Flensburg, in Bremen oder in Emden entscheiden. Wir werden versuchen, mit unserer Entscheidung diesen zu stützen.
Jedoch, meine Damen und Herren, Sie dürfen nicht vergessen, daß wir die Bundesregierung damit nicht aus ihrer Verantwortung für die Strukturpolitik im Norden entlassen werden. Sie, meine Damen und Herren, werden an Ihren Taten und nicht an Ihren Sprüchen gemessen,
also daran, was Sie für den Norden und auch für Hamburg zu tun bereit sind.
Ihre Parteifreunde lassen sich in Hamburg vor einer blühenden Werftindustrie ablichten, und darunter steht der Titel: Den Aufschwung nach Hamburg holen. Mit Ihrer Entscheidung, meine Damen und Herren, holen Sie nicht den Aufschwung nach Hamburg. Sie hindern daran, daß es im Rahmen einer vernünftigen Strukturpolitik wieder dazu kommt, daß wir im Norden Anschluß an einen Aufschwung finden.Meine Damen und Herren, Herr Bangemann, gestatten Sie mir zum Abschluß eine persönliche Bemerkung.
Es ist absolut sicher: Die Arbeiter und ihre Löhne auf den Werften sind mit Sicherheit nicht schuld an der Werftenkrise.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister der Finanzen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist zu Recht in dieser Diskussion darauf hingewiesen worden, daß wir seit dem vierten Quartal 1985 international und vor allem auch in der Bundesrepublik einen neuen schweren Einbruch
in einer Werftkrise haben, die uns seit 1974 beschäftigt. Von 1974 bis 1985 haben wir einen Rückgang der Zahl der Beschäftigten auf den deutschen Werften von mehr als 30 000 hinnehmen müssen.Die Gründe für diese Verschlechterung der Situation seit zwölf Jahren sind nach meiner Einschätzung im wesentlichen zwei: Erstens. Wir haben seit den 70er Jahren zu hohe Kapazitäten auf dem Weltschiffsmarkt. Ich will einmal daran erinnern, daß eines der Vorzeichen dieser neuen Zuspitzung der Krise der Zusammenbruch eines der größten Weltschiffahrtsunternehmen in Japan war, der Sanko-Reedereien.Der zweite Grund aber muß uns ernsthaft beschäftigen. Es hat keinen Sinn, das Thema Tarifpolitik jetzt mit emotionalen Reden zum Tabu zu erklären. Wir haben seit Anfang der 70er Jahre ständig eine ungünstige Kostenentwicklung für die Bundesrepublik Deutschland und die anderen Länder der Europäischen Gemeinschaft im Vergleich
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Bundesminister Dr. Stoltenbergzu traditionellen Wettbewerbern wie Japan und vor allem neuen Wettbewerbern, die nicht nur in Asien auf den Markt kommen, sondern auch in anderen Regionen der Dritten Welt für uns hier schwierigste Probleme schaffen.Zu den kritischen Bemerkungen der SPD-Kollegen und den ungewöhnlich polemischen und unsachlichen Ausführungen des Hamburger Wahlkämpfers Lange
möchte ich hier folgendes sagen. —
— Entschuldigen Sie, ich habe oft von der Bundesratsbank hier geredet, aber das ist ein neuer Stil. Das kann er in Hamburg machen, aber nicht hier im Deutschen Bundestag.
— Herr Roth, können Sie gar nicht mehr in Ruhe eine andere Auffassung hören? — Diese Bundesregierung und diese Mehrheit des Deutschen Bundestages helfen den Werften, ihren Mitarbeitern und den Küstenländern wirksamer, als die Sozialdemokraten das in ihrer Regierungszeit in Bonn jemals getan haben.
Wir haben die Förderinstrumente im Haushalt seit 1982 trotz einer zurückhaltenden Ausgabenpolitik gestärkt. Sie machen jetzt knapp 530 Millionen DM aus.
— Wissen Sie, man kann nicht einerseits die Existenzsorgen von Menschen beklagen, sich dann andererseits aber hier nur noch belustigen, Herr Kollege Roth. Das ist auch eine Geschmacklosigkeit besonderer Art.
Wir haben, wie gesagt, die Förderinstrumente im Haushalt seit 1982 ständig gestärkt. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben wir das Instrument nach Art. 104 a GG genutzt — das ist ohne Beispiel, das hat es auch in den 13 Regierungsjahren der SPD nicht gegeben —, um mit einer Initiative, die dem Bundestag und Bundesrat jetzt vorliegt, die Folgeprobleme einer Strukturkrise an den Werftstandorten mit Hilfe des Bundes gezielt zu mildern. Das war vor 1982, Herr Senator Lange, als Sie hier noch ständig Ergebenheitsadressen an die damalige Bundesregierung ablieferten, überhaupt nicht vorstellbar und möglich.
Erstmals in dieser Form haben wir dem Planungsausschuß vorgeschlagen, ein Regionalprogramm für die Küstenländer im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe für mehrere Jahre hier einzubeziehen.Was nun die Ausführungen von Herrn Lange betrifft,
so will ich dazu sagen: Diese Ausführungen sind auch deshalb so erstaunlich, weil Sie als zuständiger Senator bis zum heutigen Tage weder dem Bundeswirtschaftsminister noch dem Bundesfinanzminister die Unterlagen für ein Anpassungskonzept vorgelegt haben.
Ich empfinde es als eine Provokation, sich hier in dieser Art mit massiven, unsachlichen Angriffen hinzustellen
und uns vorzuwerfen, daß wir nicht handeln, wenn Sie nicht einmal in der Lage sind, ein Konzept dafür vorzulegen, was nach Auffassung der zuständigen Hamburger Senatoren für die Hamburger Werften und ihre Mitarbeiter geschehen soll.
Ich will Ihnen in aller Klarheit sagen, Herr Kollege Lange,
daß ich das Kabinett unter großen Bedenken aller zuständigen Mitarbeiter des Bundesfinanzministeriums und auch anderer um diese Entscheidung nach Art. 104a des Grundgesetzes — trotz des Fehlens von Anpassungsunterlagen aus mehreren Küstenländern — gebeten habe, weil wir wußten, daß dies der letzte Zeitpunkt war, in dem überhaupt eine Chance bestand, daß Bundestag und Bundesrat noch in dieser Wahlperiode beschließen können.
— Ich glaube nicht, daß das im Januar möglich wäre, Herr Kollege Gansel. Daß Sie persönlich dazu bereit sind, unterstelle ich. Aber, wie gesagt, ich glaube nicht, daß das im Januar möglich wäre. — Es kann nicht hingenommen werden, daß in der Art, wie der Senator Lange das hier getan hat, pausenlos polemisiert wird, wenn die Hamburger SPDLandesregierung bis zum heutigen Tag, obwohl wir seit zwölf Monaten wissen, welche Probleme auf uns zukommen, nicht einmal die erforderlichen Unterlagen für ein Anpassungskonzept vorlegt. Ich
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18556 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Bundesminister Dr. Stoltenbergempfinde das als völlig unerträglich, was hier gemacht wird.
Der Herr Kollege Gansel hat j a zu Recht darauf hingewiesen — —
— Ich bitte, mir die Zwischenrufe auf die Redezeit anzurechnen, Herr Präsident.
Ich bitte, sich gegenseitig in Ruhe zuzuhören.
Sie haben die Aktuelle Stunde beantragt. Nun müssen Sie auch in Gelassenheit andere Auffassungen und ihre Begründung hören können.
Die von Ihnen vorgebrachten polemischen Attakken können Sie gar nicht im Namen aller vier Küstenländer machen. Die schleswig-holsteinische Landesregierung hat in einer öffentlichen Erklärung die Entscheidung der Bundesregierung begrüßt und als hilfreich empfunden.
Es ist Amtsanmaßung und Täuschung, was Sie hier versucht haben, Herr Kollege Lange.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, sich mit den Zwischenrufen zurückzuhalten.
Ja, es ist nicht mehr als parlamentarisch zu qualifizieren, was Sie da machen.
— Sie haben die Rede von Herrn Lange gehört. Sie bekommt eine angemessene Antwort.
Meine Damen und Herren, das letzte, was ich in diesem Zusammenhang sagen möchte: Sie wissen, Herr Senator Lange, daß es durch frühere Entscheidungen — in der Zeit der früheren Koalition und Mehrheit — festgelegt ist, daß Hamburg nun leider nicht in ein Programm nach der Gemeinschaftsaufgabe aufgenommen werden kann. Ich habe mich — auch gegen gewisse Bedenken, die es rechtlich gab — dafür eingesetzt, daß Hamburg in jedem Fall in die Hilfe nach Art. 104a einbezogen wird. In den ersten Stellungnahmen anderer Länder — nicht der Küstenländer — werden dagegen jetzt gewisse rechtliche Bedenken geltend gemacht. Sie sollten lieber mit Ihren sozialdemokratischen Kollegen aus anderen Bundesländern reden, daß sie die Einbeziehung Hamburgs nach Art. 104 a mittragen, anstatt hier die Bundesregierung zu attackieren. Auch das ist in diesem Falle zu empfehlen.
Eine vorletzte Bemerkung. Herr Kollege Gansel, Ihr Appell betreffend mehr Hilfe für die Werftarbeiter wäre wesentlich überzeugender, wenn Sie Ihre bekannten Widerstände gegen Marineaufträge — auch befreundeter Marinen — für unsere Werften, bei HDW und anderswo, endlich einmal aufgäben.
Als Letztes im Blick auf die Uhr: Natürlich bestimmt die Tarifpolitik entscheidend mit darüber, ob Konzeptionen tragfähig sind. Bei in Existenznot befindlichen Sektoren wie den Werften brauchen wir andere Tarifregelungen als bei den Spitzenunternehmen der deutschen Elektronik- und Automobilindustrie. Wer das nicht nachvollzieht, gefährdet jede Zukunftsperspektive für die Werften und ihre Mitarbeiter.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Waltemathe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was Herr Stoltenberg soeben vorgetragen hat, war wirklich kein Nikolaustagsgeschenk für die Küstenländer. Ich weiß nicht, wo er die Frechheit hernimmt, zu behaupten, daß er keine Wahlkampfrede gehalten habe.
Zuletzt hat eine Aktuelle Stunde zur Lage der Werftindustrie im Bundestag am 14. September 1983 stattgefunden. Das war genau elf Tage vor der damaligen bremischen Bürgerschaftswahl. Eine Woche vorher, am 8. September 1983, hatte das Thema der Schiffbau- und Schiffahrtspolitik wegen der dramatischen Zuspitzung der Lage bei der Bremer Werft AG-Weser und bei der Hamburger Deutschen Werft und der Werftenbesetzung eine große Rolle gespielt.Damals hatte die Bundesregierung Norddeutschland schon schmählich im Stich gelassen. Der damalige Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff hatte von Norddeutschland und von den Schiffbauunternehmen ein Konzept gefordert. Das heißt, er selbst hatte keins. Aber nachdem solche Konzepte vorlagen, hat er diese gar nicht akzeptiert.
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WaltematheInzwischen war die Wahl in Bremen gewesen, und die FDP war herausgeflogen. Damals hatte der Bundesfinanzminister — auch damals schon Stoltenberg — keinerlei Neigung, irgendwelche Stützungsmaßnahmen gegen ein ungeordnetes Zusammenbrechen norddeutscher Wirtschaftsstrukturen anzubieten, denn die Schleswig-Holstein-Wahl war ja schon am 13. März 1983 gelaufen. Die Bundesregierung sah mit kaum verhohlener Schadenfreude, wie die Werftarbeiter der AG-Weser in ihrer Verzweiflung nicht etwa vor der Krupp-Villa in Essen oder vor dem Bundeskanzleramt in Bonn, sondern vor dem Bremer Rathaus demonstrierten. Damals war davon die Rede, daß die Zahl der unmittelbar auf Werften Beschäftigten unbedingt auf 40 000 zusammenschrumpfen müsse. Dies ist nun längst geschehen. Heute wird davon gesprochen, daß mindestens weitere 10 000 Arbeitsplätze geopfert werden müssen. Aber wer übernimmt eigentlich die Garantie, daß die dann noch verbleibenden 30 000 Arbeitnehmer wirklich zukunftssichere Arbeitsplätze hätten.Heute hat sich für den Bundesfinanzminister, der ja zugleich schleswig-holsteinischer CDU-Landesvorsitzender ist und deshalb gar keinen „Wahlkampf" macht, die Lage offenbar dramatisch verschlechtert; denn nun geht das Werftensterben weiter, und zwar in Schleswig-Holstein.
Nun fürchtet man um die Industriestruktur und auch um die eigene Wählerschaft. Dabei hätte auch Herr Stoltenberg schon 1983 wissen können, wohin die Reise geht; denn einhellig haben schon damals bei einer Anhörung alle Beteiligten aus der Industrie, aus der Arbeitnehmerschaft, aus Politik in Nordeutschland Auftragshilfen, aber eben auch Hilfen zur Umstrukturierung gefordert. Aber, wie gesagt, der Bund stellte sich taub, weil j a wahltaktisch keine Gefahr im Verzuge war.Meine Damen und Herren, die plausiblen oder auch weniger plausiblen Motive von Politikern sind allerdings für die Betroffenen völlig unwichtig. Allen ist klar, daß die wichtigste Aufgabe darin besteht, erstens eine Schiffbaukapazität in Norddeutschland aus nationalen Gründen zu erhalten, zweitens eine Schiffahrtspolitik zu betreiben, die es deutschen Reedern und deutschen Schiffsbesatzungen ermöglicht, im verzerrten internationalen Wettbewerb für den seewärtigen Güterverkehr existenzfähig zu bleiben bzw. zu werden, und drittens für die Standorte von Werften bei auch längerfristig verringertem Auftrags- und Arbeitsvolumen eine Industriestrukturpolitik zu betreiben, die Ersatzarbeitsplätze entstehen läßt und Norddeutschland nicht zum Armenhaus der Republik macht.Niemand will den Bund animieren, Geld für Schiffe auszugeben, die keiner mehr haben will, aber trotzdem gibt es eine, wenn auch verringerte Nachfrage, die wir nicht aufs Spiel setzen dürfen. Norddeutschland spricht gegenüber dem Bund inzwischen schon fast mit einer Zunge. Die Regierung der Bundesrepublik als eine der wichtigsten Industrie- und Handelsnationen ist aufgefordert, jetzt endlich ihre Pflicht gegenüber Norddeutschland zu tun.
Die Beschlüsse des Bundeskabinetts vom 15. Oktober sind erste Schritte, aber sie können nicht das letzte Wort sein. Die Arbeitnehmer in Norddeutschland wollen keine öffentlich geförderten Sozialpläne, damit ihre Arbeitsplätze beseitigt werden, sondern sie wollen auch in Zukunft sinnvolle Arbeit.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bredehorn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere vier norddeutschen Küstenländer Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen sind vom wirtschaftlichen Strukturwandel in einem besonderen Maße betroffen. Dies liegt vor allem daran, daß die Wirtschaftsstruktur dieser Küstenregion zum erheblichen Teil von Wirtschaftszweigen bestimmt wird, die sich in einer seit Jahren anhaltenden Phase der Anpassung bzw. Schrumpfung befinden. Hierzu zählen insbesondere die auf Grund der geographischen Lage typischen Wirtschaftszweige wie Schiffbau, Schiffahrt, Fischerei und Fischwirtschaft. Hinzu kommt, daß diese Bereiche in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren wachsenden weltwirtschaftlichen Restriktionen unterliegen, die die bereits vorhandenen Probleme noch weiter verschärft haben.Die Lage der Schiffbauindustrie ist weltweit ungünstig, weil durch geringe Nachfrage nach Handelsschiffsneubauten hohe Überkapazitäten und zumindest in Europa nicht kostendeckende Preise festzustellen sind. Der Subventionswettlauf unter den Schiffbauländern hat in den letzten Jahren einen erheblichen Umfang erreicht mit der Folge, daß sich die schon vorhandenen Probleme noch weiter verschärft haben.Diese strukturellen Schwächen lassen sich jedoch nur richtig bewerten, wenn man bedenkt, daß die vier Küstenländer auf vielfältige Weise auch in ihrer Infrastruktur miteinander verflochten sind und ökonomische Auswirkungen damit auf die gesamte Küstenregion ausstrahlen. Hinzu kommt die grundlegende Verlagerung der Wirtschaftsströme zu Lasten des norddeutschen Raumes. Insgesamt ergibt sich dadurch die Notwendigkeit, gegen die gemeinsamen Strukturprobleme auch gemeinsam vorzugehen und mit Hilfe des Bundes einem weiteren Absinken der Wirtschaftskraft in den Küstenländern entgegenzuwirken.Besonders betroffen von Arbeitsmarktproblemen sind die Werftstandorte, in denen die Schiffbaubetriebe als wichtige Beschäftigungsstätten die Struktur bestimmen. Diese Arbeitsmarktsituation dürfte sich durch die notwendige Kapazitätsanpassung in Zukunft noch zusätzlich verschärfen. Um eine Fortsetzung dieser unerwünschten negativen Entwicklung zu verhindern und den Anschluß an das übrige Bundesgebiet wiederzugewinnen, stehen die nord-
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18558 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Bredehorndeutschen Länder vor der schwierigen Aufgabe, durch entsprechende Impulse außerhalb der Problemsektoren, wie der Werftindustrie, die Strukturschwäche ihrer Wirtschaft in den Griff zu bekommen.Auf Grund der angespannten Finanzlage — das gilt für alle Küstenländer — fehlt den Ländern jedoch ein Teil der notwendigen finanziellen Mittel. Durch die Gewährung von Finanzhilfen will sich der Bund an besonders wichtigen Investitionen der vier norddeutschen Bundesländer beteiligen. Diese Hilfen sind für einen begrenzten Zeitraum erforderlich, um eine den gesamtwirtschaftlichen Anforderungen entsprechende Stärkung der öffentlichen Investitionen zu bewirken, die wiederum zur Verbesserung der Wirtschaftskraft und damit langfristig auch zur Verbesserung der Finanzsituation der Länder beitragen soll.Die Finanzhilfen des Bundes werden für Investitionsmaßnahmen, zur Verbesserung der Infrastruktur, die für die regionale Wirtschaft im Küstenraum von besonderer Bedeutung sind, gewährt. Sie betragen insgesamt 300 Millionen DM und werden in den Jahren 1987 und 1988 in gleichen Jahresbeträgen gezahlt.Zusätzlich haben wir in den Bereichen Werft- und Schiffahrtshilfen in den zur Zeit laufenden Haushaltsberatungen entscheidende Verbesserungen für die Küste vorgenommen. Ich erwähne hier nur das Werfthilfeprogramm, wo wir höhere Zinszuschüsse beschlossen und die Konditionen bei Aufträgen aus Entwicklungsländern verbessert haben. Im Reederprogramm haben wir durch die Erweiterung der Zweckbestimmung für Neubau-, Umbauhilfen den Kreis der förderungsfähigen Projekte ausgedehnt. Wir wollten gestern im Haushaltsausschuß die Erhöhung der Finanzbeiträge um 50 Millionen auf 160 Millionen DM beschließen, und wir wollten auch die Verpflichtungsermächtigung für das Jahr 1980 von 50 auf 80 Millionen DM erhöhen. Die SPD hat hier Vertagung beantragt, aber darauf werden wir zurückkommen.Zum Schluß möchte ich noch einmal feststellen, daß sich die norddeutschen Küstenländer in einer schwierigen strukturellen Anpassungsphase befinden. Ich kann weiter festhalten, daß sich diese Schwierigkeiten bereits seit über 10 Jahren entwikkelt haben. Wir haben mit dem soeben veabschiedeten Hilfsprogramm aus Bundessicht, aus unserer Sicht alles getan, um den Ländern bei dem schwierigen Umstrukturierungsprozeß zur Seite zu stehen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bohlsen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der deutsche Schiffbau — das lassen Sie mich feststellen — ist nicht erst seit heute, sondern bereits seit 12 Jahren in einer strukturbedingten Krise. Der Erhalt einer leistungsfähigen deutschen Schiffbauindustrie, deren innovativer Stand weltweit mit an der Spitze steht, ist eine nationale Aufgabe, die gemeinsam mit allen Beteiligten, aber auch der öffentlichen Hand in Bund und Ländern, angegangen wenden muß.Von den vielfältigen Bundeshilfen, die zur Zeit bereits gewährt werden, seien das Achte Werfthilfeprogramm, die Reederhilfen für Neu- und Umbauten, steuerliche Regelungen zugunsten von Reedern und Werften durch Verlustzuweisungen, die Förderung von Forschungs- und Entwicklungsvorhaben im Schiffbau, der Marinebau sowie der Sonderschiffbau genannt.Erlauben Sie mir, von den soeben genannten Bereichen der Bundesförderung für die deutsche Schiffbauindustrie den des Marinenschiffbaus ein wenig eingehender zu behandeln.Im Verteidigungsetat werden pro Jahr ca. 1,3 Milliarden DM für die Beschaffung und Materialerhaltung der Bundesmarine bereitgestellt. Diese Mittel kommen im Ausschreibungswege gleichfalls deutschen Werften zugute. Im Jahre 1987 wird sich der Etatansatz nochmals um 200 Millionen DM erhöhen, damit die Fregatten VII und VIII der Bundesmarine von der Bremer Vulkan sowie von den Thyssen Nordseewerken gebaut werden können und der Auftrag für das dritte Flottendienstboot von der Flensburger Schiffswerft durchgeführt werden kann.Der Marineschiffbau im eigenen Lande muß weiterhin sichergestellt bleiben, damit auch in Spannungs- und Friedenszeiten ausreichende Kapazitäten für die Bundesmarine bereitstehen, und Technik und Forschung in diesem Bereich stets den neuesten Stand haben. Auf Grund des hervorragenden Know-hows deutscher Werften gelang es, Exportaufträge für die Rüstungsgeräte aus dem Werftenbereich zu erlangen. Wegen ihrer marktstabilisierenden Wirkung waren so z. B. Fregattenaufträge aus der Türkei, aus Portugal, U-Boot-Aufträge aus Norwegen sowie U-Boot-Wünsche aus Australien sicherlich sehr zu begrüßen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch auf den Sonderschiffbau, den Spezialschiffbau eingehen; denn er stellt sicherlich ein aussichtsreiches Marktpotential unserer Werften dar.Dabei ist zu unterscheiden zwischen den frachtfahrenden und den nichtfrachtfahrenden Spezialschiffen. Die Nachfrage nach frachtfahrenden Spezialschiffen orientiert sich in der Regel an der allgemeinen Lage auf den Verkehrsmärkten und wird daher in den kommenden Jahren — so die Einschätzung der Fachleute — zurückgehen. Für die nichtfrachtfahrenden Schiffe gelten jedoch Sonderkonditionen. Der Bestelleingang in diesem Sonderschiffbau — das lassen Sie mich auch aus niedersächsischer Sicht sagen — kann durchaus optimistisch eingeschätzt werden. Hierbei nenne ich beispielsweise die Eisbrechtechnik der Thyssen Nordseewerke. Ich nenne zum anderen den Bereich des Fähren- und Passagierschiffbaus in den Papenburger Werften. Ich nenne Entwicklungen des Unterwasserbootbaus im Off-shore-Bereich sowie Ent-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18559
Bohlsenwicklungen eines Prototyps eines Flugbootes mit dem sogenannten Bodeneffekt.Sie sehen hier erhebliche Anstrengungen. Lassen Sie mich abschließend feststellen: Unter dem Strich läßt sich sagen, daß eine Reduzierung der Schiffbaukapazitäten in unserem Lande sicherlich unausweichlich ist. Dabei muß der notwendige Kapazitätsabbau mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze sowie der dauerhaften Stabilisierung der verbleibenden Schiffbaubereiche einhergehen. Hierbei soll und wird der Bund im Rahmen seiner Möglichkeiten sicherlich finanzielle Unterstützung leisten.
Das Wort hat der Abgeordnete Tatge.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Situation an der norddeutschen Küste ist in der Tat erschrekkend, die Handlungsunwilligkeit der Bundesregierung bedrückend.
Mit der Zerstörung des Schiffbaus an der Küste wird die Zerstörung einer ganzen Region eingeleitet. Wo wirtschaftspolitische Strukturmaßnahmen, wo eine verbindliche Strukturpolitik gefordert wäre, ergehen sich die Koalitionsfraktionen in ideologischen Debatten. Da diskutieren doch tatsächlich CDU/CSU und FDP über den freien Markt, über den Welthandel, über das Für und Wider von Subventionen und dergleichen mehr, statt zu handeln. So subventionieren sie immer weiter den Abbau bestehender Arbeitsplätze, statt den Aufbau neuer, dauerhafter Arbeitsplätze zu finanzieren. Was hätte man an der norddeutschen Küste und auf den Werften mit den über 12 Milliarden DM nicht alles an volkswirtschaftlich Sinnvollem machen können, die als Subventionen von 1960 bis 1982 geflossen sind.
Es wird so getan, als wäre der Schiffbau — und so diskutieren Sie — seit seiner Gründung im Deutschen Reich auch nur ein einziges Jahr über den sogenannten freien Markt verkauft worden. Immer gab es Staatsaufträge, immer machten diese Staatsaufträge den größten Anteil aus, immer sah man im Schiffbau eine staatliche Aufgabe.
Besonders unverantwortlich handeln die Arbeitgeber der Schiffbauindustrie, wenn sie — wie in den letzten elf Jahren — weiterhin Arbeitsplätze abbauen wollen. In einem Memorandum im Mai 1986 verlangt der VDS, daß 10 000 der rund 40 000 Menschen, die noch in der Schiffbauindustrie arbeiten, stempeln gehen sollen. Finanziert werden soll dies auch noch aus Steuergeldern über die Bundesregierung.
Damit setzen die Arbeitgeber fort, was sie schon seit Beginn der Schiffbaukrise vor elf Jahren betrieben haben. Getreu der Devise „Nach uns die Sintflut" wurden seit 1975 rund 50 % der Arbeitsplätze auf den Werften vernichtet, ohne daß der Rest dadurch jemals sicherer geworden wäre.
Ebenso borniert zeigen sich die Arbeitgeber wie auch die Bundesregierung auf einem anderen Gebiet. Seit Jahren werden Arbeitnehmer, die sich auf den vielen Werften zu Arbeitskreisen zusammengeschlossen haben, um nach neuen und anderen Produkten zu suchen, regelmäßig von ihren Arbeitgebern abgewiesen und als vertrottelte Spinner dargestellt. Während der VDS-Chef Budczies zugibt, daß in der Bundesrepublik seit 1983 „strukturpolitisch nichts geschaffen wurde", werden einige der von ihm und seinen VDS-Kollegen verworfenen Ideen mit Erfolg produziert, z. B. kleine und mittlere Windenergieanlagen, die in Dänemark hergestellt werden und sich zum Exportschlager auf dem USMarkt entwickeln.
Schweden ist ein Modell, wie man die Umstrukturierung eines Industriezweiges bewerkstelligen kann. Mit Finanzhilfen von seiten des Staates und der Kommunen wurden stillgelegte Produktionsanlagen wieder sinnvoll genutzt wie die Beispiele Landskrona und Lindholmen zeigen.
Auch für die norddeutsche Küste gibt es Alternativen zum weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit. Notwendige wichtige Aufgaben sind in den Bereichen Energieversorgung, Umweltschutz, Verkehr, Abfallwirtschaft sowie Stadt- und Dorferneuerung ausreichend vorhanden. Es gibt einen ausreichenden Bedarf an innovativen, beschäftigungsintensiven Produkten. Die Werften sind genau die richtigen Produktionsstätten für diese Produkte.
Während die Bundesregierung zwar kurzfristig 800 Millionen DM zum Bau für Panzer in Bayern verschleudert, ist sie nicht in der Lage, ein vernünftiges Programm für eine entsprechende Strukturpolitik zu entwerfen.
Deshalb haben wir zum Wirtschaftshaushalt einen Antrag vorgelegt, der vorsieht, Zuschüsse für Umstrukturierungsmaßnahmen in der Werftindustrie zu zahlen, und ein Gesamtvolumen von 150 Millionen DM umfaßt.
Ausgehend von der Ablehnung von Rüstungsproduktion sieht unser Programm folgendes vor: erstens Investitionen in die Diversifizierung des Produktionsprozesses; zweitens eine eindeutige Konversionsförderung im Bereich des Schiffbaus; drittens Zuschüsse für Neuansiedlungen von Gewerbetätigkeit auf dem Gelände in Konkurs gegangener Werften und viertens Gelder für Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen im Rahmen von Diversifizierungs-, Konversions- und Neuansiedlungsprojekten.
Durch die dadurch möglich werdende Produktion z. B. von Blockheizkraftwerken, Rauchgasreinigungsanlagen, Wärmetauschern oder Sonnenkollektoren auf den Werften wäre eine wesentliche Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur zu erreichen.
Doch an einem kommt man nicht vorbei: 10 % der Wählerstimmen für die GRÜNEN in Bremen und Hamburg sind nicht genug. Dies muß sich auf Bundesebene übertragen, damit sich in der soeben genannten Weise etwas ändern kann.
Danke schön.
18560 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Das Wort hat der Abgeordnete Fischer .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Hansen, ich fand es schon erstaunlich, wie unkooperativ Sie sich — völlig abweichend von der Linie Ihres Senators — den anderen norddeutschen Bundesländern gegenüber verhalten haben. Sie haben versucht, hamburgische Interessen gegen die Interessen anderer Bundesländer auszuspielen. Sie hatten heute offenbar die Aufgabe, den Part des Holzens zu übernehmen. Gleich danach ist Herr Lange nach vorne gegangen und hat gesagt, man sei hier gemeinsam mit gemeinsamen Konzepten angetreten, und man habe keine Differenzen mit den anderen Ländern.Ich meine auch, es ist wichtig, festzuhalten, daß die Regierungschefs und Fachminister der norddeutschen Bundesländer in der Sache einig sind. Wir haben dieses gemeinsame Auftreten und die gemeinsamen Konzepte auch dringend nötig, wenn es darum geht, wirklich etwas für die Küstenregion zu bewirken.
Herr Kollege Lange, Sie haben massive Angriffe gegen die Bundesregierung gerichtet, die der Bundesfinanzminister bereits überzeugend gekontert hat.
Aber ich meine, Ihnen, der SPD, steht in allerletzter Linie zu, die Rolle des Chefanklägers zu spielen.Wenn ich mir die Situation auf dem Schiffahrtssektor anschaue, wo in der Zeit von 1977 bis 1982 der Rückgang der Tonnage doppelt so groß gewesen ist wie in dem vergleichbaren Zeitraum hinterher, und wenn ich mir anschaue, daß Helmut Schmidt in seiner Regierungszeit die Zahl der Arbeitsplätze von Seeleuten praktisch halbiert hat, während wir, seitdem wir hier in Bonn die Verantwortung tragen, praktisch eine Stabilisierung der Arbeitsplätze deutscher Seeleute haben erreichen können, dann wundert mich in der Tat, mit welcher Selbstgerechtigkeit Sie hier angetreten sind.Sie haben einmal in der Hamburg-Vertretung, als wir die Frage der Versäumnisse der alten Bundesregierung bei den Seehafenhinterlandverkehren besprochen haben, auf Vorhaltungen gesagt, Sie hätten nie behauptet, daß Helmut Schmidt ein guter Kanzler für die Küste gewesen sei. Dies möchte ich hier in Erinnerung rufen. Herr Kollege Lange, so billig kann man sich doch nicht aus der Verantwortung stehlen, so billig kann man sich doch nicht zugleich die Rolle des Chefanklägers anmaßen.
Nein, ich glaube, es ist festzuhalten: Wenn diese Regierung der SPD seinerzeit weiterregiert hätte, hätten wir heute leere Kassen, einen Riesenschuldenberg und überhaupt nicht den finanziellen Spielraum, die gewaltigen Leistungen zu erbringen, die die jetzige Bundesregierung für die Küste bereitstellt. Dies ist doch eine Wahrheit.
Herr Kollege Lange, als Hamburger kann ich doch überhaupt nicht daran vorbei, hier eindeutig zu sagen: Die Forderung „den Aufschwung nach Hamburg holen" ist richtig,
insbesondere in einer Situation, in der sich die Hamburger Arbeitsmarktzahlen von der Bundesentwicklung in negativer Weise abheben und weiter abrutschen,
in der wir bei der Jugendarbeitslosigkeit, Herr Dr. Vogel, in Hamburg dreimal so hohe Zahlen haben wie im Bundesdurchschnitt,
in der wir in Hamburg feststellen müssen, daß sich die Wachstumsraten von der Bundesentwicklung abkoppeln,
in der wir feststellen müssen, Herr Dr. Vogel, daß in Hamburg die Arbeitsplatzentwicklung deutlich negativer verläuft als im Bundesdurchschnitt.
Wenn Herr Lange hier antritt und derart aberwitzige Thesen aufstellt, werden wir mit Härte dagegen antreten und eine derartige Verfälschung der Wahrheit nicht hinnehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, man kann die Entwicklung der Werften natürlich nicht unabhängig von der Schiffahrt beurteilen. Natürlich kann in der Zukunft ein Reeder nur dann ein Schiff ordern, wenn er sich dadurch Beschäftigung und Erträge erhoffen kann, die eine solche Investition rechtfertigen. Wir wissen, daß das Verhalten der Schiffsbeleihungsbanken heute so ist, daß sie nur noch in Projekte investieren, bei denen ökonomisch ein Erfolg zu erwarten ist. Alles andere, auch die Verknüpfung von Schiffahrtsförderung und Werftförderung, ist problematisch, weil die Reeder gezwungen werden, Aufträge zu placieren, die zur Übertonnage, die weltweit herrscht, noch beitragen. Dies muß einmal gründlich überdacht und aufgearbeitet werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Bundesregierung hat alles in ihrer Kraft Stehende getan, um in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum der deutschen Flotte Flankenschutz zu geben
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18561
Fischer
und die Investitionsfähigkeit der Reedereien zu erhalten und zu stärken.
Es ist doch immer noch so, daß über 80 % der Aufträge auf deutschen Werften von deutschen Reedern kommen.Es ist doch wirklich ein interessanter Zusammenhang, daß Sie die Finanzbeiträge für die Seeschifffahrt beseitigt und wir sie wieder eingeführt haben. Ihre Bundesregierung hatte Schluß gemacht, und als Sie in der Opposition waren, sind Sie ein Jahr später gekommen und haben gesagt: Jetzt wollen wir aber 240 Millionen DM. — Derartige Zusammenhänge müssen gesehen werden.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Kommen Sie zum Schluß.
Meine Damen und Herren, ich glaube, diese Bundesregierung hat sich sowohl mit dem Programm für die Küste als auch mit ihren Anstrengungen für Schiffahrt und Werften in den letzten Jahren bewährt. Deswegen haben die Arbeitnehmer genauso wie die Unternehmungsleitungen einen guten Grund, diese Bundesregierung auch in der Zukunft mit ihrem Vertrauen zu begleiten.
Das Wort hat der Abgeordnete Ewen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Lage in den niedersächsischen Küstenregionen an der Weser, an der Hunte, an der Jade und an der Ems ist von hoher Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Sie liegt zur Zeit bei 16% und ist damit fast doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt — und dies in einem CDU-geführten Bundesland, Herr Kollege Fischer, der Sie meinen, Sie müßten hier Wahlkampf zu Lasten der einen oder anderen Partei machen. Dies ist ein Problem der Küste insgesamt, unabhängig von Regierungen.Ein weiterer Abbau von Arbeitsplätzen auf den Werften führt zu einer Arbeitslosenquote von mehr als 20 % und im Winter sogar von 30 %. Das ist unerträglich.Herr Kollege Stutzer, wir wollen gerne anerkennen, daß die Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit wirken. Aber in welcher Weise? Sie wirken, indem sie die Arbeitslosenstatistik nach unten fahren, und sie machen die Mitarbeiter der Werften oder andere Arbeitslose vermittlungsfähiger. Aber wohin denn? Sie machen sie für Baden-Württemberg vermittlungsfähig. Die Busse fahren Richtung Süden. Es gibt auch für umgeschulte Arbeitskräfte kaum neue Arbeitsplätze an der Küste. Das ist das eigentliche Dilemma, das wir haben.
Somit darf bei aller Anerkennung leider nicht frohen Herzens ja zu diesen Maßnahmen gesagt werden, wenn sie nicht mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze in den Regionen, in denen sich die Arbeitslosen befinden, gekoppelt werden können.
— Dazu können wir gleich gern noch etwas sagen. Kollege Cronenberg, ich lade Sie ein, bei uns zu investieren. Ich habe überhaupt nichts dagegen, Sie als Unternehmer in Ostfriesland zu begrüßen.
Bund, Länder und Kommunen haben in den letzten 20 Jahren an der ganzen Küste mit gewaltigen Kraftanstrengungen die Infrastruktur den modernen Anforderungen anzupassen versucht. Dies sollten eigentlich Vorleistungen für Gewerbeansiedlungen sein. Aber die Fördermöglichkeiten im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe, die ja gegeben sind, reichen nicht aus, neue Ansiedlungen bei uns zu forcieren. Es fehlt ein Instrument zur Verhinderung von öffentlichen Förderungen außerhalb der Gemeinschaftsaufgabengebiete. Wenn reiche Bundesländer das Instrument Gemeinschaftsaufgabe durch Gewährung von Zuschüssen konterkarieren, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Kumulation von Betrieben im süddeutschen Raum ständig zunimmt und im norddeutschen Raum abnimmt.Was wir fordern müssen, sind Programme, die dazu führen, daß nicht nur keine Arbeitsplätze abgebaut, sondern neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Dazu hat der DGB Vorschläge gemacht. Dazu gibt es ein Programm „Arbeit für die Küste", das Herr Senator Lange Ihnen, Herr Minister Stoltenberg, sicherlich gern zur Verfügung stellt. Es gibt von der SPD das Programm „Arbeit und Umwelt". Nun ist wichtig, daß diese Programme und die Finanzierungsinstrumente auf nationaler wie auf europäischer Ebene zusammengefaßt werden und nicht im parteipolitischen Hickhack gegeneinander, sondern in einer gemeinsamen Kraftanstrengung miteinander dazu führen, daß die Menschen an der Küste wieder eine Perspektive sehen.
Ich will noch ein Wort zum Marineschiffbau sagen. Wir wollen von Marineaufträgen nicht total abhängig werden. Wir sagen als Sozialdemokraten ja zum Schiffbau für die Bundeswehr, ja zum Schiffbau für die NATO. Das tut auch mein Kollege Norbert Gansel, wie Sie sehr wohl wissen, Herr Stoltenberg. So geht es nicht, hier einzelne herauszufischen, die Sie meinen herausfischen zu sollen. Es ging damals um Aufträge für Chile, es ging um Aufträge für Argentinien, die damals Diktaturen waren bzw. noch heute sind, und nicht um NATO-Schiffbau. Das muß hier eindeutig klargestellt werden.
Wer im Marineschiffbau gut sein will, muß sich auch den Erfahrungsschatz im Umgang mit Materialien wie auch bei den Verfahrenstechniken beim
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18562 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
EwenBau von Spezialschiffen bewahren und erweitern. Unsere Werftarbeiter haben in der Vergangenheit dafür hervorragende Vorleistungen erbracht. Sie haben sich fortgebildet. Sie sind in der Lage, Schiffe zu bauen, und sie haben sich auch verantwortungsbewußt verhalten, wenn es darum ging, die Arbeitsbedingungen zu verändern. Sie haben davon gesprochen, Herr Bangemann, 4 % Lohnerhöhung sei zuviel. Aber auch 12 % Rücknahme von Vorgabezeiten führen zu erheblichen Lohneinbußen. Dazu sind die Werftarbeiter bereit gewesen. Sie haben ihren Teil zur Werftumstrukturierung getan.
Das Wort hat der Abgeordnete Austermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Küste braucht Hilfe, und sie bekommt Hilfe. Sie bekommt die Hilfe aus Bonn. Leider ist bei dieser Hilfestellung die Solidarität aller Bundesländer nicht einheitlich, nicht gleichmäßig. Ich habe mich schon etwas gewundert, daß Herr Lange hier aufgetreten ist, gewissermaßen ohne Hosen, um dann hier über Hosenmode zu reden.Meine Damen und Herren, Hamburg hat sich bisher geweigert, Partner von HDW zu werden. Es hätte helfen können. Hamburg hat sich bisher geweigert, den Werften überhaupt zu helfen. Es hat bisher den feinen Max gemacht und tut jetzt so, als ob andere endlich eingreifen müßten.Der Bund hat seit dem Regierungswechsel durch wesentliche Korrekturen der Werfthilfe die Chancen der Werften in unserem Land verbessert, ohne damit die weltweite Krise abmildern zu können. 1982 wurden für Schiffbau an Zuschüssen 310 Millionen DM vom Bund bereitgestellt. In diesem Jahr sind es 475 Millionen DM. Im nächsten Jahr sind es 530 Millionen DM. Diese Beträge hat der Kollege Gansel vergessen, also er von einer kümmerlichen Hilfe sprach. Allein 530 Millionen DM werden im nächsten Jahr gezahlt, ohne das Sonderprogramm, das wir vorgesehen haben.Geholfen wurde auch durch das Vorziehen von Aufträgen mit einer erheblichen Kraftanstrengung. Fünf Fregatten wurden in Auftrag gegeben, außerdem weitere Schiffe für die Bundesmarine, und ein Auftrag über 200 Millionen DM für die Flensburger Schiffbauwerft wird uns heute im Haushaltsausschuß beschäftigen. Erwähnt werden müssen dann auch noch die Bundesbahnfähre und das Forschungsschiff „Meteor". Auch hier gab es eine zusätzliche vorziehende Hilfe.Die Auftragslage veranlaßte noch im November letzten Jahres die Interessenvertreter im Bereich der Reeder und im Bereich der Schiffbauer dazu, im Gespräch mit uns zu sagen, man sei mit der Perspektive zufrieden. Es ist noch nicht einmal ein Jahr her, daß gesagt wurde, wir hätten eine befriedigende Perspektive für die Werften. Das galt dann bis zum Harmstorf-Einbruch, der kein Einzelfall blieb und auf den, Herr Gansel, das Land Schleswig-Holstein umgehend reagiert hat, auch wenn kurz darauf feststand, daß die Hilfe nicht mehr rechtzeitig kam.Die weltweite Abwärtsentwicklung an Aufträgen hat natürlich diejenigen als erste und am härtesten getroffen, die unternehmerisch am wenigsten vorbereitet waren. Von der unternehmerischen Verantwortung auch zur Umstrukturierung ist meines Erachtens ein bißchen zu wenig gesprochen worden.Auch jetzt handelte der Bund verantwortlich: Die Schiffbauzuschüsse wurden auf Umbauten erweitert, und als sich die vier Küstenländer unter Berücksichtigung der weiteren Entwicklung auf ein gemeinsames Hilfsprogramm verständigt hatten, hat der Bund schnell gehandelt. Das, was als Ergebnis der Kabinettsentscheidungen in den letzten Wochen vorgelegt wurde, möchte ich als eine Zukunftschance für die Küste, als ein Zukunftsprogramm bezeichnen. Aus Bundes- und Landesmitteln gemeinsam, aus Mitteln der vier norddeutschen Länder und des Bundes, stehen knapp 700 Millionen DM für zwei Jahre bereit; nicht für drei Jahre, sondern für zwei Jahre knapp 700 Millionen DM Bundes- und Landesmittel! 1987 kann die erste Rate ausgegeben werden, wenn auch der Planungsausschuß zustimmt.Für Hamburg sind das im nächsten Jahr 45 Millionen zusätzlich, für Niedersachsen 80 Millionen, für Bremen, das ja ohnehin schon seit längerer Zeit eine Sonderhilfe bekommt, 95 Millionen und für Schleswig-Holstein, das 50 % der Werftkapazitäten trägt, 120 Millionen DM. Darüber kann man doch nicht einfach hinweggehen und sagen, das sei gar nichts. Und wie gesagt: Die 530 Millionen DM Schiffbauhilfe kommen noch hinzu.Damit kann der Strukturwandel eingeleitet werden. „Strukturwandel" scheint j a für manchen ein Zauberwort zu sein; man braucht dann nicht weiter zu erklären, was das eigentlich ist. Wenn die IG Metall — wie auch andere — sagt, daß wir ein Sofortprogramm brauchen, ohne zu erklären, was das ist, ist eine solche bloße Forderung sinnlos.Neue Arbeitsplätze können durch staatlich geförderte Investitionen geschaffen werden. Jetzt kommt es auf die Kreativität unserer Landesregierungen, der Unternehmer und der Arbeitnehmer an. Süddeutsche Unternehmer, die tüchtige Fachkräfte suchen, sind — das möchte ich ausdrücklich unterstreichen — im Norden gefragt und gefordert, und man hat den Eindruck, daß sie sich auch verstärkt auf den Weg nach Norden machen.Neben den Mitteln aus der Gemeinschaftsaufgabe gibt es besondere Investitionshilfen, eine beispiellose Kraftanstrengung, qualitativ verbesserte Schiffbauhilfen und verstärkte Mittel der Bundesanstalt für Arbeit.Von Herrn Ewen wurde behauptet, der Kollege Stutzer färbe damit die Statistik. Dazu will ich Ihnen folgendes sagen: Sämtliche Büsumer Werftarbeiter, die durch die Harmstorf-Krise arbeitslos geworden sind, haben ein Angebot vom Arbeitsamt bekommen — sämtliche Werftarbeiter ein Angebot! —, und man kann davon ausgehen, daß auch
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AustermannArbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu 60 % zu Dauerarbeitsplätzen führen. Dies sollte nicht verniedlicht werden. Ich bin dem Kollegen Stutzer für den Hinweis auf diese Möglichkeiten und Angebote der Bundesanstalt für Arbeit dankbar.Weitere Bundesaufträge, z. B. aus dem Forschungshaushalt, stehen bevor. Entschieden wurde in den letzten Tagen über eine beispielhafte Aufstockung der Mittel für Meeresforschung und Meerestechnik. Das Institut GEOMAR kommt. Wir stellen im nächsten Jahr Mittel in Rekordhöhe bereit. Dieses Institut kommt also, innovative Seehafentechnologien verbessern die Struktur der Häfen und, das Schiff der Zukunft soll weiterentwickelt werden. Zu all diesen Punkten habe ich im Ausschuß keinen einzigen Antrag der SPD gehört. Der Einstieg in die großtechnologische Nutzung der Windenergie ist vorbereitet und macht in absehbarer Zeit einige hundert neue Arbeitsplätze auf Werften als Alternative möglich.Meine Damen und Herren, die Reduzierung der Schiffbaukapazitäten in Norddeutschland ist unvermeidbar, aber die Hilfen, die jetzt beschlossen worden sind, bieten die Chance, daß tatsächlich 30 000 Arbeitsplätze auf Dauer erhalten bleiben.1979 hatten der DGB, die Wirtschaftsminister der norddeutschen Länder und die Arbeitgeber ein „Strukturprogramm Küste" gefordert. Passiert ist nichts. Erst die Regierung Kohl hat gehandelt, und ich bin den Ministern, die heute gesprochen haben, für ihr Engagement in diesem Bereich dankbar. Diejenigen, die den Strukturwandel verschlafen haben, sind kaum geeignet, sich als Exponenten der Zukunft der Küste aufzuspielen.Ich muß auch noch einmal einen deutlichen Satz zu Hamburg sagen. Durch Forschungsmittel des Bundes haben wir gewissermaßen erst erzwungen, daß Hamburg nicht weiter mit dem Rücken zur Zukunft steht. Ich habe mich darüber gewundert, daß heute der in 14 Tagen nicht mehr im Amt befindliche Senator erschienen ist, um zu diesem Thema zu sprechen.Was jetzt gefragt ist, meine Damen und Herren, ist nicht Miesmacherei und Pessimismus, gefragt ist Energie, Optimismus und Einsatz für den Norden. Wir sind dabei, die Krise der Werften auch als Chance für den Norden zu nutzen.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, darf ich folgende Amtliche Mitteilungen zur Verlesung bringen:Der Abgeordnete Weiß hat am 19. Oktober 1986 seinen 60. Geburtstag gefeiert. Ich darf dem verehrten Kollegen die guten Wünsche des Hauses übermitteln.
Nach Absprache zwischen dem Innenausschuß und dem Rechtsausschuß wird interfraktionell vorgeschlagen, den Gesetzentwurf über das Verfahren bei sonstigen Änderungen des Gebietsstandes der Länder nach Art. 29 Abs. 7 des Grundgesetzes auf der Drucksache 10/4265 dem Rechtsausschuß zur federführenden Beratung und dem Innenausschuß zur Mitberatung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Interfraktionell ist ferner vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:3. Abstimmung nach § 88 Abs. 2 der Geschäftsordnung zum Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Großen Anfrage der Abgeordneten Roth, Dr. Jens, Rapp , Bernrath, Daubertshäuser, Ibrügger, Dr. Klejdzinski, Kretkowski, Dr. Kübler, Müller (Schweinfurt), Oostergetelo, Pfuhl, Ranker, Stahl (Kempen), Dr. Schwenk (Stade), Frau Weyel, Wolfram (Recklinghausen), Dr. Vogel und der Fraktion der SPDBenachteiligung kleiner und mittlerer Unternehmen— Drucksache 10/6164 —4. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 2. November 1984 zum Abkommen vom 30. April 1964 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit und zu der Vereinbarung vom 2. November 1984 zur Durchführung des Abkommens— Drucksache 10/6023 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 10/6238 —Berichterstatter: Abgeordneter Stutzer
5. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes und des Häftlingshilfegesetzes (HHG)— Drucksache 10/6240 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO6. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Pflege ostdeutschen Kulturgutes— Drucksache 10/6237 —7. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPBerufliche Bildung— Drucksache 10/6239 —Dabei soll gleichzeitig, soweit erforderlich, von der Frist für den Beginn der Beratungen abgewichen werden.Weiterhin haben die Fraktionen vereinbart, die Punkte 17 und 14 der Tagesordnung nach Punkt 12 aufzurufen.
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Präsident Dr. JenningerSind Sie mit der Erweiterung bzw. der Umstellung der Tagesordnung einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Meine Damen und Herren, wie bereits heute morgen mitgeteilt, hat die Fraktion der SPD beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung des Antrags Einheitliche Europäische Akte — Drucksache 10/6013 — zu erweitern. Die Debattenzeit hierzu soll eine Stunde betragen.Wird das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht? — Das Wort hat der Abgeordnete Porzner.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Wir stellen den Antrag, den Gesetzentwurf zur Einheitlichen Europäischen Akte dem Bundestag endlich vorzulegen, weil es allmählich ein Skandal wird, daß sich der Bundestag damit nicht befassen kann.
Der Prozeß der europäischen Einigung hat zur Folge, daß Rechte von Parlamenten auf die europäische Bürokratie übertragen werden. Auch Landesrechte und Rechte von Landesregierungen werden auf europäische Bürokratie übertragen. Wenn z. B. Fragen des Rundfunkwesens und des Fernsehens von der Europäischen Kommission als Dienstleistung definiert werden, dann wird die EG-Kommission und dann werden EG-Organe über Länderkompetenzen und Länderzuständigkeiten entscheiden, ohne daß z. B. die Länder noch ein Mitspracherecht oder Mitentscheidungsrecht haben.
Der Bundesrat hat auch deswegen bei seiner Entscheidung im Mai über den Gesetzentwurf zur Europäischen Akte in seiner Stellungnahme Änderungen und Mitberatungsrechte des Bundesrates verlangt.
Die Bundesregierung hat seitdem alle auf die Gegenäußerung warten lassen und den Gesetzentwurf nicht dem Bundestag zugeleitet. Obwohl die Staats-und Regierungschefs in Mailand im Juni des vergangenen Jahres feierlich eine Regierungskonferenz zur Änderung und Ergänzung der Römischen Verträge einberufen haben und im Dezember des vergangenen Jahres dazu ein Beschluß gefaßt wurde, obwohl dann im Februar 1986 alle Staaten der Europäischen Gemeinschaft ihre Zustimmung dazu gegeben haben und die Regierung dann im April den entsprechenden Gesetzentwurf durch Kabinettsbeschluß dem Bundesrat zugeleitet hat, also inzwischen sehr, sehr viel Zeit vergangen ist, kann sich der Bundestag damit nicht befassen. Sie verschleppen die Beratung.
Auch die Europa-Kommission des Bundestages hat sich mit den Stimmen der Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion — ich vermute, auch mit den Stimmen der FDP-Fraktion — dafür ausgesprochen, daß diese Beratungen nun stattfinden können. Aber es geht nicht.
Warum wir uns dagegen wehren, daß der Bundestag so behandelt wird: Gewiß hat die Regierung das Recht, diesen Gesetzentwurf zurückzuziehen, nicht weiterzuleiten. Aber die Regierung will ja — das war der gemeinsame Wille der Regierungschefs der europäischen Staaten —, daß diese Europäische Akte am 1. Januar 1987 in Kraft tritt. Das wird aber kaum geschehen können; denn falls Sie irgendwann im Laufe des November noch dazu kommen sollten, wird der Bundestag für die Beratung der komplizierten Dinge — und der Bundesrat hat auch Verfassungsänderungen verlangt — keine Zeit mehr haben. Wenn die Regierung diese Beratungen monatelang verzögert, wird der Bundestag nicht imstande sein, binnen Tagen über Verfassungsfragen und Kompetenzfragen zwischen Bund und Ländern unter Einbeziehung der Rechte der europäischen Organe zu entscheiden.
Setzen Sie uns bitte nicht unter Druck! Bitte stimmen Sie dem Antrag zu. Wir können uns dann darüber verständigen, wann wir im Laufe des Tages über diesen Antrag beraten und ob wir deswegen vielleicht einen anderen Tagesordnungspunkt absetzen.
Zur Geschäftsordnung hat das Wort der Abgeordnete Bohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Porzner, ich kann das, was Sie hier entfachen wollen, eigentlich nur als ein Stürmchen im Wasserglas empfinden. Sie haben uns das ja schon in der letzten Sitzungswoche präsentiert. Wir haben Ihnen die Argumente, wie ich finde, doch in sehr eindrucksvoller Form vortragen können, die dafür sprechen, Ihrem Antrag nicht stattzugeben.
Zunächst einmal sollten Sie korrekt vortragen. Es geht nicht darum, daß die Einheitliche Europäische Akte an sich streitig ist
oder von der Bundesregierung nicht vorgelegt werden kann oder sollte oder daß sie es nicht will.
Vielmehr geht es darum, auf Grund der auch von Ihnen initiierten Beschlußfassung des Bundesrates sozusagen als zweites Bein des Gesetzgebungsverfahrens das Beteiligungsverfahren der Länder in europäischen Dingen in das Gesetz aufzunehmen.
Dadurch kommen wir zu einer zeitlichen Verzögerung. Ich bitte, nicht den Eindruck zu erwecken, als ginge es hier um die Einheitliche Europäische Akte im engeren Sinne. Es geht nur um das Beteiligungsverfahren der Länder.
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BohlDa haben Sie ein Junktim über den Bundesrat hergestellt, nämlich daß das gleichzeitig geregelt werden soll.
Die Bundesregierung nimmt diese Bitte des Bundesrates sehr, sehr ernst
und will in Abstimmung mit den Ländern nun zu einer Regelung kommen, die später ein Vermittlungsverfahren überflüssig macht. Nun wird auch dieses ernsthafte Bemühen der Bundesregierung von Ihnen kritisiert. Ich finde, die Bundesregierung hat hier unter Beweis gestellt, daß sie hohen Respekt vor den Beschlüssen des Bundesrates hat.
Ich möchte mich ausdrücklich dafür bedanken, daß diese gewaltige Kraftanstrengung unternommen wird.Was den Vergleich zu den anderen Ländern anlangt, Herr Kollege Porzner, darf ich Sie auf folgendes hinweisen. Dänemark, Belgien und Spanien haben das Verfahren abgeschlossen. Noch nicht einmal in das parlamentarische Verfahren eingestiegen sind Irland und Griechenland.
— Gehen Sie doch einmal zu Herrn Papandreou! Sie haben doch so gute Beziehungen zu ihm, Herr Vogel! Sorgen Sie doch dafür, daß Griechenland weiterkommt! —
Alle anderen Länder befinden sich im Verfahren, so wie wir auch. Deswegen ist gar keine unnötige Hast oder übertriebene Sorge am Platz.Was die Beschlußfassung der Europa-Kommission anbelangt: Verehrter Herr Kollege Porzner, die Europa-Kommission faßt viele kluge Beschlüsse,
die wir auch alle gut in unseren Ordnern abheften. Wir nehmen sie auch sehr, sehr ernst. Aber das ist die europäische Sicht der Dinge. Wir müssen uns natürlich letztlich in einer Gesamtschau der Politik entscheiden. Da es darum geht, hier in der Tat auch die Bedenken des Bundesrates zu berücksichtigen, glauben wir, daß die Abstimmungsverfahren, die die Bundesregierung vornimmt, der richtige Weg sind. Es wird auch richtige Entscheidungen geben. Ich darf Sie, Herr Kollege Porzner, beruhigen: Wir werden in Kürze das Verfahren durch die Bundesregierung eingeleitet sehen.
Die Bundesregierung wird es dem Bundestag zuleiten. Sie werden überrascht sein: Die Koalition wird auch in dieser Frage einhellig, einstimmig zu einer Verabschiedung kommen — vielleicht zu Ihrer Enttäuschung, aber zum Wohle Europas und im Interesse der Länder.Vielen Dank.
Zur Geschäftsordnung hat das Wort der Abgeordnete Wolfgramm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir haben diese Debatte am 25. September ja schon einmal geführt.
Ich bin der Meinung, daß es Europa nicht dient, Herr Kollege Porzner, was Sie im Augenblick hier als parlamentarischen Vorstoß exerziert haben.
Es dient Europa überhaupt nicht; denn es wird durch Ihre Anmerkungen wie „Verschleppungstaktik" und „Skandal" der Eindruck erweckt, als ob die Bundesrepublik verschleppe.
Das ist überhaupt nicht der Fall.
Herr Kollege Vogel, Sie haben eben eifrig genickt. Sie hätten vorher bei der Entwicklung dieses Verfahrens mit Ihren SPD-Ministerpräsidenten sprechen müssen. Dann wäre vielleicht nicht das entstanden, was wir im Augenblick zumindest als eine unterschiedliche Verfassungsinterpretation vor uns haben.Ich darf, damit das Hohe Haus einen kleinen Einblick in die wirklich gravierende Problematik nehmen kann, kurz zitieren. Die Mehrheit im Bundestag hat vorgeschlagen, einen Art. 1 a einzufügen. Dieser Art. 1 a soll nach der Meinung des Bundesrates wie folgt lauten:Die Bundesregierung ist verpflichtet, vor ihrer Zustimmung zu Beschlüssen der EG zu Vorhaben, die in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder fallen oder deren wesentliche Interessen berühren, die Stellungnahme des Bundesrates einzuholen. Sie hat diese bei Verhandlungen zu berücksichtigen und darf bei Vorhaben, die in ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen der Länder fallen, hiervon nur aus zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen abweichen. Im Falle einer Abweichung hat sie dem Bundesrat die maßgeblichen Gründe mitzuteilen. Im übrigen ist die Wahrung der vom Bundesrat vorgetragenen Länderbelange in ihre Abwägungen einzubeziehen. Soweit die Stellungnahme des Bundesrats einzuholen ist, sind auf Verlangen Vertreter der Länder zu den Verhandlungen der EG hinzuzuziehen.Das ist eine ganz neue Lage in unserer Verfassung.
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Wolfgramm
Das hat es bisher nicht gegeben. In der Europäischen Gemeinschaft sind wir der einzige Bundesstaat. Wir müssen natürlich bei entsprechenden Übertragungen von Hoheitsrechten mit den Ländern sprechen.
Aber wir haben hier eine völlig neue Position. Eschenburg schreibt in einem Artikel in der „Zeit":Der Artikel 1 a fixiert Pflichten der Bundesregierung gegenüber dem Bundesrat, die über die Bestimmungen des Grundgesetzes weit hinausgehen.
Das ist ein ungeheuer gravierender Vorgang, meine Damen und Herren von der SPD.
Das muß sorgfältig behandelt werden. Wenn die Länder bisher diese Position einnehmen, dann können wir uns nicht mit einer Vorlage einem Verfassungsstreit aussetzen, der nachher nach Karlsruhe geht, und das Ratifizierungsverfahren auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben.
Ich bitte Sie sehr herzlich, das nicht zum Gegenstand von parlamentarischen Attacken zu machen. Das ist zu kurzfristig gedacht.
Wir haben unterschiedliche Interpretationen im Hinblick auf die Verfassung. Wir stehen möglicherweise vor einem Verfassungsstreit in dieser Frage. Wir wollen alles tun, damit es nicht dazu kommt. Das, was Sie betrieben haben, stört die europäische Entwicklung.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen zur Abstimmung über den Aufsetzungsantrag der Fraktion der SPD. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist bei einer Enthaltung abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Baugesetzbuch
— Drucksachen 10/4630, 10/5027, 10/5111 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
— Drucksache 10/6166 — Berichterstatter:
Abgeordnete Conradi Dörflinger
Magin
Reschke
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Bachmaier, Müntefering, Lohmann , Dr. Hauff, Bernrath, Frau Blunck, Büchler (Hof), Duve, Egert, Frau Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Ibrügger, Purps, Immer (Altenkirchen), Jansen, Kiehm, Dr. Klejdzinski, Kißlinger, Dr. Kübler, Lambinus, Lennartz, Frau Dr. Martiny-Glotz, Meininghaus, Menzel, Müller (Düsseldorf), Müller (Schweinfurt), Reschke, Reuter, Schäfer (Offenburg), Frau Schmidt (Nürnberg), Stahl (Kempen), Steiner, Stiegler, Frau Terborg, Urbaniak, Wartenberg (Berlin), Frau Weyel, Wolfram (Recklinghausen), Frau Zutt, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Stadtökologie — Umweltschutz in Städten und Gemeinden
— Drucksachen 10/3012, 10/4208 —
Hierzu liegen Änderungsanträge sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 10/6228 bis 10/6232 vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung der Punkte 2 a und 2 b drei Stunden vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Mir ist durch den Ausschuß mitgeteilt worden, daß das Wort zu einer Berichtigung gewünscht wird. Das Wort hat der Berichterstatter Abgeordneter Dörflinger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Niemand könnte den Berichterstattern über dieses Gesetz vorwerfen, sie hätten sich mit diesem Bericht nicht große Mühe gegeben. Wir haben uns mehr Mühe gegeben als der Verfasser manchen modernen Romans. Trotzdem darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich als Berichterstatter um zwei Berichtigungen dieses Berichtes bitte.
Erstens. In Art. 1 Nr. 120 muß das Zitat für den neuen § 217 Abs. 1 um zwei Paragraphen ergänzt werden, die bereits im geltenden Recht enthalten sind.
Zweitens. In Art. 2 Nr. 16 muß die letzte Zeile, die im Druck verlorengegangen ist — auch so etwas soll vorkommen —, wiederhergestellt werden. Zur Abkürzung der Prozedur gebe ich den vollen Text zu Protokoll, und ich bitte Sie, dem zuzustimmen*).
Zu einer weiteren Berichtigung hat der Berichterstatter Reschke das Wort.*) Anlage 2
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich beziehe mich auf die Seite 2 der Drucksache 10/6166. Da steht unter „C. Alternativen" im letzten Satz: „Die Fraktion DIE GRÜNEN hat an der Schlußabstimmung nicht teilgenommen." Nach unserem Geschäftsordnungsverständnis könnte das bedeuten, sie hat erklärt: „Wir nehmen an der Abstimmung nicht teil." Ich möchte ausdrücklich feststellen: DIE GRÜNEN waren nicht anwesend bei der Schlußabstimmung.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Möller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau legt Ihnen heute ein abgerundetes, ein neues Gesetz vor, das auf breiter und bewährter Basis in der Praxis erprobt, von der Wissenschaft und von den Verbänden sachkundig begleitet, vom federführenden Ausschuß und von den beteiligten Ausschüssen sorgfältig beraten und gegenüber dem Entwurf der Bundesregierung noch verbessert worden ist. Die Bürger und vor allem die kommunale Praxis haben dieses Gesetz gefordert. Es ist rechtzeitig in dieser Wahlperiode fertig geworden.Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau hat in 15 Sitzungen das Baugesetzbuch beraten und am 1. Oktober verabschiedet. Es war eine sehr intensive und, wie ich auch betonen möchte, kooperative Beratung unter ständiger Teilnahme von Vertretern der Bundesländer und der kommunalen Spitzenverbände. Vorangegangen waren ein Planspiel unter wissenschaftlicher Begleitung des Deutschen Instituts für Urbanistik in Berlin in sechs Planspielgemeinden, eine ganztägige Präsentation der Ergebnisse und eine ganztägige öffentliche Anhörung von über 50 Verbänden, wissenschaftlichen Instituten, Professoren und Praktikern. Ihnen allen gilt unser Dank.Meinen Kollegen im Ausschuß, vor allem den Berichterstattern, Herrn Dörflinger, Herrn Conradi, Herrn Magin und Herrn Reschke, möchte ich für das erhebliche Maß an Arbeit und den dabei bewiesenen großen Sachverstand herzlich danken.
Ich danke auch ausdrücklich für die konstruktive Mitarbeit der Kollegen der SPD-Fraktion, die unbeschadet der politisch kontroversen Beurteilung die Ausschußarbeit vorangebracht haben.Bundesbauminister Dr. Oscar Schneider, seinem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Friedrich-Adolf Jahn und den Mitarbeitern des Ministeriums gilt der uneingeschränkte und herzliche Dank für ihre unermüdliche und immer weiterführende Hilfe bei der Formulierung des Baugesetzbuches.
Meine Damen und Herren, ohne das reibungslos funktionierende Ausschußbüro und ohne den großen und ungemein sachkundigen Einsatz und Beitrag des Ausschußsekretärs Roland Wolf wäre dieses Gesetz sicherlich nicht so schnell und so gut beraten worden. Mein persönlicher Dank gilt diesen Mitarbeitern ganz besonders.
Meine Damen und Herren, das Ihnen jetzt vorliegende Gesetz erfüllt die Wünsche und Vorstellungen erstens der Bürger, die bauen wollen, zweitens der kommunalen Praxis, die es handhaben muß, und drittens der Wissenschaft, die es kommentieren wird. Viertens wird es künftig schneller möglich sein, Streitfragen bundeseinheitlich zu klären. Das Baugesetzbuch faßt die rechtlichen Grundlagen des Städtebaus in einem einheitlichen Gesetzeswerk zusammen. Aus dem Bundesbaugesetz und aus dem Städtebauförderungsgesetz ist ein einheitliches zusammenfassendes Gesetzbuch geworden. Das Baugesetzbuch wird die Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben des Städtebaus neu fassen und hat diese Aufgaben klargestellt.Meine Damen und Herren, überflüssige Bestimmungen wurden durch dieses Baugesetzbuch abgebaut, und das Bauen wurde erleichtert. Die Auf stel-lung von Bauleitplänen wird beschleunigt und vereinfacht. Die Planungshoheit der Gemeinde wird gestärkt, und die Rechtssicherheit der Bauleitpläne ist wesentlich erhöht worden.Meine Damen und Herren, das Baugesetzbuch bringt für Städte und Gemeinden, für Bürger und Bauwillige, für Natur und Umwelt eine Vielzahl wichtiger Änderungen und Verbesserungen, von denen ich hier nur einige kurz erwähnen darf.Erstens. Die städtebaulichen Instrumente zugunsten des Umweltschutzes und des Denkmalschutzes werden verbessert.
Das Baugesetzbuch leistet einen wichtigen Beitrag zur Stadtökologie.
Die Umweltverträglichkeitsprüfung ist mit diesem Gesetz vollzogen.
Der Schutz und die Entwicklung der natürlichen Lebensgrundlagen wird deutlich gestärkt.
Mit Grund und Boden muß sparsam und schonend umgegangen werden.
Statt auf die ständige Neuausweisung von Bauland können und sollen sich die Gemeinden stärker auf die Entwicklung der Innenstädte konzentrieren. Die Wiederverwendung brachliegender Flächen, die behutsame Stadterneuerung, die Verbesserung des
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18568 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Dr. MöllerWohnumfeldes, die Erhaltung des Gebäudebestandes, insgesamt die Wiederbelebung der Innenstädte sind Aufgaben der Gegenwart und der Zukunft, die mit diesem neuen Gesetzbuch besser gelöst werden können.
Meine Damen und Herren, auch dem Gesetzentwurf der Bundesregierung kritisch gegenüberstehende Verbände wie etwa der Bund Deutscher Architekten haben eingeräumt — ich zitiere —, daß das Gesetz „viele Verbesserungen gegenüber dem bisherigen Recht enthält" und daß in der Umweltvorsorge versucht wird, die Weichen für die Zukunft zu stellen.Durch das vorliegende Baugesetzbuch wird in der Tat zugunsten des Umweltschutzes, des Denkmalschutzes und des Bodenschutzes viel getan, und es wird auch viel erreicht. Deshalb haben die kommunalen Spitzenverbände übereinstimmend und überzeugend erklären können, daß die Umweltverträglichkeitsprüfung jetzt Bestandteil des Bauplanungsrechtes geworden ist. Sie stellen fest — ich zitiere —, daß „das Baugesetzbuch sowohl für die Bauleitplanung als auch für die Zulässigkeitsprüfung sicherstellt, daß die Umweltauswirkungen der umweltbedeutsamen Planungen und Vorhaben, insbesondere ihre Auswirkungen auf Mensch, Fauna und Flora, auf Boden, Wasser und Luft, Klima und Landschaft, auf Sachgüter und kulturelles Erbe einschließlich ihrer Wechselwirkungen untereinander und in die Entscheidungsfindung mit einbezogen werden" — so wörtlich der Deutsche Städtetag und die kommunalen Spitzenverbände. Sie sagen genau das, was Sie bestreiten.
Meine Damen und Herren, genau das ist das Ziel dieses Gesetzes, und das ist jetzt erreicht. Es ist ein ganz wesentlicher umweltpolitischer Erfolg dieser Bundesregierung.
Zweitens. Die kommunale Selbstverwaltung, die Handlungs- und Entscheidungsspielräume und -möglichkeiten der Gemeinden werden wesentlich gestärkt, ohne daß die Beteiligung der Bürger eingegrenzt oder verringert wird. Auf dieses Thema werden meine Kollegen Dörflinger und Magin näher eingehen.Drittens. In den vergangenen Jahren haben wir häufig im Ausschuß, aber auch hier im Plenum darüber diskutiert, wie Betrieben von Industrie, Gewerbe, Handwerk und Landwirtschaft die Möglichkeit eingeräumt werden kann, im Rahmen einer geordneten städtebaulichen Entwicklung an ihrem angestammten Standort zu investieren, um damit Arbeitsplätze zu sichern und neue Arbeitsplätze zu schaffen.Eine Reihe von neuen Regelungen wird dieser Problematik gerecht: Die erleichterte Erteilung von Befreiungen, die erweiterte Möglichkeit der Vorweggenehmigungen von Vorhaben während der Planaufstellung, die Neufassung der Zulässigkeitsvorschriften und der neue Genehmigungstatbestand nach § 34 werden sich auf investitionsbereite Betriebe und damit auf die Arbeitsplätze positiv auswirken. Das gleiche gilt für die neuen Abgrenzungen zum Emissionsschutzrecht. Ich meine, daß dieses Gesetz auch gerade für investitionsbereite Betriebe ein ganz wesentlicher Schritt nach vorn ist.Unser Ausschuß, meine Damen und Herren, ist einvernehmlich der Auffassung, daß den mittelständischen Betriebsformen des Einzelhandels eine erhebliche Bedeutung für die geordnete städtebauliche Entwicklung zukommt.
Das ist der vierte, wesentliche Punkt. Durch das Baugesetzbuch werden die Gemeinden stärker als bisher dazu angehalten, bei der Aufstellung der Bauleitpläne u. a. „die Belange der Wirtschaft", — und ich zitiere — „auch ihrer mittelständischen Struktur im Interesse einer verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung" zu berücksichtigen.
Die verbrauchernahe Versorgung ist gerade für ältere Menschen und für Familien mit Kindern besonders wichtig. Mit der gefundenen Gesetzesänderung wird die Wettbewerbsneutralität nicht verletzt, weil städtebauliche Erfordernisse ausschlaggebend sind. Aber ich glaube, daß das ein wichtiger Schritt für den Mittelstand ist.
Meine Damen und Herren, ein fünfter Punkt: Innerhalb des neuen Baugesetzbuchs hat § 22 eine ganz besondere Bedeutung. Durch diese seit vielen Jahren geforderte, völlig neue Bestimmung soll erreicht werden — und wird erreicht —, daß Kur- und Erholungsorte ihre Zweckbestimmung für den Fremdenverkehr und damit ihre städtebauliche Funktion erhalten können. Die in den Fremdenverkehrsorten immer noch erkennbare Tendenz, Hotels oder andere Häuser in Eigentumswohnungen umzuwandeln und als Zweitwohnungen zu veräußern, verändert den Charakter eines Ortes und damit auch die städtebauliche Note einer Gemeinde.Um die Fremdenverkehrsorte in ihrer Funktion zu erhalten, können die Gemeinden die Begründung oder die Teilung von Wohnungseigentum künftig der Genehmigung unterwerfen. Der Ausschuß hat die Voraussetzungen für einen Genehmigungsvorbehalt bewußt eng gezogen, um berechtigten Belangen der Eigentümer zu entsprechen. § 22 ist in seinem Anwendungsbereich nicht auf die Umwandlung von Miet- und Eigentumswohnungen in anderen Städten übertragbar. Meine Damen und Herren, wir sind der Auffassung, daß diese neue Regelung die Fremdenverkehrsgemeinden in die Lage versetzt, die weitere Entwicklung in ihren Orten positiv zu beeinflussen, wie wir das wünschen.
Ein sechster Punkt: Im neuen Baugesetzbuch sind auch die Belange des Sports angemessen berücksichtigt. Der Sport — und das betone ich — hat
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18569
Dr. Möllereine wachsende Bedeutung für das Allgemeinwohl. Er fördert nicht nur die Volksgesundheit, sondern ermöglicht auch eine sinnvolle Gestaltung der zunehmenden Freizeit. Der Sport ist ein Stück kommunaler Kultur. Daraus zieht auch das Baugesetzbuch die Konsequenz. Sport- und Spielanlagen können künftig ohne die Einengung des bisherigen Rechts in Flächennutzungs- und Bebauungsplänen festgesetzt werden, und grundsätzlich können Sport- und Spielanlagen auch in Wohngebieten oder wohngebietsnah eingeplant werden. Wie bei allen Festsetzungen wird die Gemeinde aber darauf bedacht sein müssen, Konflikte durch sorgfältige Abwägung zu vermeiden.Meine Damen und Herren, über diese von der Bundesregierung vorgeschlagenen Verbesserungen hinaus hat der Ausschuß noch weitergehende neue Regelungen beschlossen, die von erheblicher Bedeutung sind. Wir freuen uns, daß der Städtetag diese Verbesserungen und damit das Baugesetzbuch insgesamt gerade heute in einer Presseerklärung begrüßt hat. Lassen Sie mich einige Punkte davon noch nennen.Erstens. Im Verhältnis Staat/Gemeinde ist besonders bedeutsam, daß bestimmte gemeindliche Satzungen — Veränderungssperre, Vorkaufsrechtssatzung, Erhaltungssatzung —, die bisher der Genehmigung durch die staatliche Aufsichtsbehörde unterliegen, künftig weder einer Genehmigung noch einer Anzeige bedürfen. Bebauungspläne, die sich aus Flächennutzungsplänen entwickeln, bedürfen in Zukunft nicht mehr der Genehmigung, sondern allenfalls der Anzeige.
— „Allenfalls" könnte man weglassen; es bedarf also nur noch der Anzeige. —
Dadurch wird die kommunale Zuständigkeit, aber auch die Verantwortung der Gemeinden gestärkt. Der Entscheidungsspielraum der gemeindlichen Selbstverwaltung wird wesentlich erhöht.Zweitens. Die Gemeinden können künftig durch Neuregelung der Veränderungssperre städtebaulich unerwünschte Nutzungsänderungen besser und schneller beeinflussen.Drittens. Für den Bau von Kinderspielplätzen soll künftig kein Erschließungsbeitrag mehr gezahlt werden. Hierdurch wird ein wichtiges Hemmnis abgebaut, das vielerorts bisher dem nachträglichen Bau von Kinderspielplätzen z. B. in Altstadtquartieren entgegenstand.Viertens. Das städtebauliche Sanierungsrecht ist erheblich vereinfacht worden. Zugleich können die Gemeinden die städtebaulichen Sanierungsziele wesentlich flexibler durchsetzen.Fünftens. Ein ganz wichtiger Durchbruch, eine ganz wichtige Neuregelung ist die Einführung einer Siebenjahresfrist für die Rüge materieller Fehler von Bauleitplänen und auch die Einführung einer sogenannten Nichtvorlagebeschwerde.
Das wird zur Rechtssicherheit wesentlich beitragen. Die Siebenjahresfrist ist auch für die Betroffenen angemessen, weil Bauleitpläne innerhalb von sieben Jahren weitgehend in das Stadium des Vollzuges gelangen oder sonst ihre Wirkung spürbar wird. Es kann von den Betroffenen erwartet werden, daß sie in dieser Zeit Mängel geltend machen.Sechstens. Die Verlagerung von Gesetzgebungskompetenzen auf die Länder ist auf einmütigen Widerstand der am städtebaulichen Geschehen Beteiligten gestoßen. Wir haben uns deshalb diesen Vorschlag nicht zu eigen gemacht und die Streichung empfohlen.Meine Damen und Herren, was jetzt dem Parlament, was Ihnen zur Entscheidung vorliegt, erschien vor Jahresfrist vielen überhaupt nicht möglich. Manch einer hat dies der Bundesregierung und der Koalition nicht mehr zugetraut. Aber wir haben es geschafft. Um so dankbarer sind wir für dieses Werk. Das hat ja jetzt der Städtetag noch einmal betont. Dieses Gesetz darf nicht toter Buchstabe bleiben. Es liegt an den Städten und Gemeinden, an den Bürgern und an allen am Städtebau Beteiligten, es jetzt mit Leben zu erfüllen.Das Baugesetzbuch verkündet keine neue städtebauliche Leitidee. Es will zukünftige Entwicklungen nicht einengen, sondern erleichtern. Es gibt aber den Kommunen, den kommunalen Vertretungskörperschaften das Instrumentarium, das nötig ist, um unsere Städte wieder wohnlicher zu gestalten, um das individuelle Gepräge der Städte und der Stadtviertel zu pflegen, um Verwurzelung in Heimat zu ermöglichen. Letztlich geht es um das Leben der Bürger in einer gesunden Umwelt. Genau das wird durch dieses Gesetzbuch ermöglicht und erleichtert.
Das Wort hat der Abgeordnete Conradi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lange Zeit haben wir unter Umwelt vor allem die natürlichen Lebensgrundlagen verstanden, also Wasser, Luft, Pflanzen und Tiere. Aber das ist zu eng. Der Begriff Umwelt greift an sich viel weiter. Umwelt ist die Welt um uns herum, also die natürliche und die gebaute Welt, unsere Wohnwelt, unsere Arbeitswelt, unsere Freizeitwelt.Der Zustand und die Gestalt unserer Wohnungen, unserer Häuser, der Zustand und die Gestalt von Straße und Platz, von Quartier und Stadt bestimmen unser objektives Wohlergehen und unser subjektives Wohlbefinden. Die Planung, die Ordnung und die Gestaltung dieser Umwelt sind zuerst Sache der Gemeinde. Wir, der Gesetzgeber, setzen hier den rechtlichen Rahmen, wir legen das Verfahren für die Planung fest, wir sagen, wer plant, wer beteiligt wird, welche Interessen zu berücksichtigen
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Conradisind, welche Instrumente es gibt, was man darf und was verboten ist.Diese Verfahrensregeln sind nicht nur formaler Art. Sie bestimmen auch den Inhalt der Planung, z. B. ob mit Boden sparsam umgegangen werden muß, ob Rücksicht auf die Nachbarn genommen wird, ob die freie Landschaft geschützt wird, ob die Bürger informiert und beteiligt werden und ob der Rat oder die Verwaltung entscheidet.Vor zehn Jahren haben wir die letzte große Novellierung des Bundesbaugesetzes in einem gründlichen Gesetzgebungsverfahren, Herr Minister, ohne Hektik und ohne billige Effekthascherei vorgenommen.
Damals haben wir die Bürgerbeteiligung in die Stadtplanung eingeführt, die Umweltbelange aufgenommen, die Planungsinstrumente verbessert und gestärkt. Wir sagen hier: Das Bundesbaugesetz hat sich bewährt. Seine Defizite liegen nicht im Gesetz, sie liegen in der Anwendung.
Die oft beklagten langen Planungszeiten haben ihre Ursachen nicht im gesetzlich festgelegten Planungsverfahren, sie haben ihre Ursachen in den wachsenden Konflikten. Das leuchtet doch ein: Städtebau ist unter anderem deshalb, weil wir in den letzten 40 Jahren so viel gebaut haben, eben komplexer, schwieriger geworden. In einem dichtbesiedelten, dichtbevölkerten Land, wie es die Bundesrepublik ist, nehmen die Konflikte um die Bodennutzung zu, die Konflikte zwischen Wohnen und Verkehr, zwischen Wohnen und Gewerbe, zwischen Industrie und Umwelt.Die lange Planungsdauer ist auch eine Folge des Wertewandels und des wachsenden Bürgersinns. Die Bürger wehren sich dagegen, daß ihre Städte verunstaltet und zerstört werden. Sie lassen sich nicht mehr alles gefallen. Wir finden das gut.Was bringt nun diese Novelle, und was müßte sie bringen? Sie bringt einige Verbesserungen. Wir haben ihnen zugestimmt, beispielsweise der Zusammenführung von Städtebauförderungsrecht und Bundesbaugesetz. Sicher sind auch einige Rechts-und Verwaltungsvereinfachungen gelungen, vor allem die größere Bestandskraft der Pläne. Wir haben uns bemüht, daran mitzuarbeiten, und wir stimmen diesen Teilen zu.Aber die große Chance, Herr Minister, ein Städtebaurecht der Zukunft zu schaffen, das die ökologischen Belange stärker berücksichtigt, haben Sie nicht genutzt. Sie haben die Planung beschleunigt, so als gehe es darum, schneller zu planen, als sei unser Problem nicht, besser zu planen. Sie haben das Bauen erleichtert, ja, aber um den Preis der Rücksichtslosigkeit gegenüber Menschen und Natur.
Es ist ja nicht zu bestreiten, daß trotz intensiver Planung in vielen Dörfern und Städten schreckliche Fehler gemacht worden sind. Aber unsere Antwort auf diese Fehler ist: Besser planen. Ihre Antwort ist: Weniger planen.
— Doch.
Ihre Antwort ist: Weniger planen, so als zöge man aus dem richtigen Satz „Wer arbeitet, macht Fehler" die falsche Konsequenz: „weniger arbeiten — weniger Fehler".
Ich will hier einige Beispiele für die Bedenkenlosigkeit, für die Verantwortungslosigkeit geben, mit der Sie die Ordnungsaufgabe der Stadtplanung, die Rücksicht auf Mensch und Natur preisgegeben haben.Erstens. 120 ha Freiland, so sagt der Bauminister im Raumordnungsbericht, werden täglich in der Bundesrepublik zugebaut. Die Innenentwicklung der Dörfer und Städte, so sagt er, müsse Vorrang haben vor der Ausdehnung in die freie Landschaft.
— Das sind hohle Sprüche. Denn den Vorschlag des Bundesrates, den Gemeinden den sparsamen Bodenverbrauch und den Vorrang der Innenentwicklung gesetzlich vorzuschreiben, haben Sie mit fadenscheinigen Gründen abgelehnt. Das ist unser erster Änderungsantrag. Wir nehmen damit den Vorschlag des Bundesrates auf.Zweitens. Die Gemeinden brauchen Möglichkeiten, bestimmte Nutzungen auszuschließen. Die Planspieler haben uns vorgeschlagen, im Außenbereich in schutzwürdigen Gebieten auch landwirtschaftliche Bauten, auch Straßenbauten, auch Versorgungsbauten zu untersagen. Im Innenbereich, so hat der Bundesrat vorgeschlagen, sollten die unverträglichen, die städtebaulich schädlichen Nutzungen wie Spielhallen, Peep-Shows und anderes zwielichtige Gewerbe einzeln oder insgesamt ausgeschlossen werden können. Wir haben das beantragt. Sie haben das abgelehnt. Auch unser zweiter Änderungsantrag entspricht dem, was der Bundesrat will.Drittens. Die EG-Richtlinien schreiben eine Umweltverträglichkeitsprüfung vor. Wir waren übereinstimmend der Meinung, daß wir kein formales, ausgeformtes Rechtsinstitut „Umweltverträglichkeitsprüfung" wollen. Die Umweltverträglichkeitsprüfung findet in der Planung, in der Abwägung der Interessen und Belange statt. Aber warum lehnen Sie ab, was der Bundesrat vorschlägt, daß die Gemeinde im Gesetz verpflichtet wird, in der Begründung ihres Bebauungsplanes und in der Erläuterung ihres Flächennutzungsplanes darzulegen, wie sie abgewogen hat und welche ökologischen Folgen die Planung hat? Das ist unser dritter Änderungs-
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Conradiantrag. Auch er entspricht dem, was die Mehrheit des Bundesrates will.Schließlich haben wir — viertens — den Bundesratsvorschlag aufgenommen, die ökologischen Belange im Innenbereich zu stärken. Im Innenbereich darf ja ohne Bebauungsplan gebaut werden, wenn keine Konflikte vorliegen. Wir haben vorgeschlagen, das Gebot des Einfügens, das Gebot der Rücksicht auch auf die ökologischen Belange auszudehnen. Das ist unser vierter Änderungsantrag.Besonders schwergewichtig an diesem Gesetz ist, daß Sie den Schutz des Außenbereichs zerschlagen. Gegen den einhelligen Rat, gegen die dringenden Warnungen aller Fachleute setzen Sie die katastrophale Entwicklung im Außenbereich fort, die die FDP mit ihrer sogenannten Beschleunigungsnovelle 1978 begonnen hat. Sie erweitern den Landwirtschaftsbegriff: In Zukunft sind im Außenbereich auch Pensionstierhaltungen, also Ponyhöfe, und Gartenbaubetriebe möglich, die dort nichts zu suchen haben, ebenso wie die industrialisierte Landwirtschaft, die ja nicht in den Außenbereich, sondern ins Industrie- oder Gewerbegebiet gehört. Sie erleichtern die Umnutzung landwirtschaftlicher Betriebe in Gewerbebetriebe. In Zukunft werden gewerbliche Bauherren geradezu in den Außenbereich verwiesen. Sie müssen sich nicht teure Gewerbegrundstücke in der Ortslage suchen, die können im Außenbereich einen heruntergewirtschafteten Bauernhof — Sie werden noch viele Bauern mit Ihrer Agrarpolitik zugrunde richten — nehmen
und daraus dann eine Kraftfahrzeugwerkstatt machen. Zukünftig zieht das Gewerbe in den Außenbereich. Schließlich erleichtern Sie den Umbau, die Erweiterung und den Neubau von Wohngebäuden im Außenbereich. Der Rest der freien Landschaft, der Rest der Natur wird bedenkenlos der Vermarktung preisgegeben.
So leicht wie zukünftig, Herr Dr. Möller, hat man in der deutschen Geschichte noch nie im Außenbereich bauen dürfen; Sie machen aus dem Bundesbaugesetz ein Bundeszersiedlungsgesetz.
Dies ist geradezu absurd: Alle Welt redet von behutsamer Stadterneuerung. In jeder Stadt bemühen wir uns, die Innenstädte liebevoll wieder herzurichten und herauszuputzen; aber den Stadtrand und die freie Landschaft überlassen Sie der planlosen, wüsten Verbauung durch Kraftfahrzeughallen, Massentierställe, Schrottplätze, Verbrauchermärkte und Kernkraftwerke. Fahren Sie doch in eine beliebige deutsche Stadt, und Sie kommen hin durch eine Wüstenei zwischen der freien Landschaft und der Stadt. Ihr Gesetz wird dies in Zukunft erleichtern.
Wir wollten schließlich die Baunutzungsverordnung, mit der die Nutzung von Bauflächen geregelt wird, in eine Flächennutzungsverordnung weiterentwickeln und damit den Gemeinden ein Instrument geben, mit dem sie auch die Nutzung nicht bebauter Flächen besser regeln können. Auch das haben Sie abgelehnt.Das Baugesetzbuch, das Sie als Jahrhundertwerk angekündigt haben, Herr Minister, wird den ökologischen Zukunftsaufgaben nicht gerecht. Es hat keine Zukunftsperspektive, keine einzige wegweisende neue Idee. Im Gegenteil, mit diesem Gesetz zieht auch in der Stadtplanung die kalte Rücksichtslosigkeit ein, die wir aus Ihrer Sozialpolitik kennen.
Die Bürgerbeteiligung haben Sie formal unangetastet gelassen, aber in der Praxis wird sie abgebaut.
Bisher galt der Grundsatz: Wo es keine Konflikte gibt, wo sich das Neue dem Alten einfügt, kann der Bauantrag ohne Bebauungsplan genehmigt werden. Gibt es jedoch Konflikte, dann muß geplant werden, dann müssen die Interessen und Belange in der Planung geprüft und abgewogen werden, dann muß die Öffentlichkeit informiert werden, dann müssen die Bürger beteiligt werden, und dann entscheidet am Schluß der vom Volk gewählte Rat.Nun erweitern Sie die Genehmigungsmöglichkeiten im Innenbereich, vor allem für das Gewerbe,
und im Außenbereich, und Sie erweitern die Vorweg- und Ausnahmegenehmigung. Eine Fülle von Konfliktfällen wird zukünftig nicht mehr durch Planung, sondern durch Genehmigung entschieden, und das heißt in der Konsequenz: Wir werden weniger Öffentlichkeit haben. Bei der Genehmigung erfährt der Bürger erst, wenn der Bagger anrückt, daß dort gebaut wird, und dann ist es zu spät. Wir werden weniger Bürgerbeteiligung haben; denn bei Genehmigungsverfahren wird der Bürger nicht beteiligt. Sie schwächen die kommunale Volksvertretung; denn anders als bei der Planung, bei der der Rat entscheidet, entscheidet bei der Genehmigung die Verwaltung. Was Sie, Herr Minister, als Entbürokratisierung tarnen, ist in Wirklichkeit eine Machtverlagerung von den Bürgern und den von ihnen gewählten Räten hin zur Verwaltung. Sie stärken nicht die kommunale Selbstverwaltung, Sie
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Conradistärken die kommunale Verwaltung. Ihr Motto heißt: Weniger Demokratie, mehr Bürokratie.
Warum handeln Sie so? Sie reden viel von der Baufreiheit, die es endlich zu verwirklichen gelte. Von der notwendigen städtebaulichen Ordnung, von der gegenseitigen Rücksichtnahme, vom schonenden Umgang mit den Lebensgrundlagen ist bei Ihnen nicht die Rede. Die FDP hat das dialektische Verhältnis, das Spannungsverhältnis zwischen Baufreiheit und städtebaulicher Ordnung nie begriffen. Bei Ihnen hat immer gegolten: Erlaubt ist, was bezahlt wird. Zuerst kommt das Geld, dann kommt noch einmal das Geld, und wenn absolut nichts mehr zu verdienen ist, kommen der Umweltschutz und die Bürgerrechte.
Die Konservativen behaupten, sie wollten erhalten und bewahren, was erhaltens- und bewahrenswert ist. Sie, die Konservativen, reden doch sonst so gern von der Ordnung, ohne die Freiheit unerträglich sei. Beim Baugesetzbuch haben Sie Ihre Grundsätze schmählich verraten. Die Union hat gegen den Rat, gegen die Warnungen vieler Fachleute, vieler Kommunalpolitiker und Stadtplaner, gegen überzeugende Voten des Bundesrates — da haben Sie doch die Mehrheit — Stadt und Landschaft einem billigen Manchester-Liberalismus geopfert.
Es ist bezeichnend, daß Industrie und Gewerbe als einzige Ihren Gesetzentwurf loben und preisen. Offenbar haben sich die Spenden gelohnt, die der Bauminister in reichem Maße angeschafft hat. Jetzt wird nach dem Motto „Wer zahlt, schafft an" die Gegenleistung erbracht.
Wir waren bereit, in sachlicher Arbeit mit Ihnen ein gutes Baugesetzbuch zu erarbeiten. Wir wollten ein Baugesetzbuch der guten Nachbarschaft, das wollten Sie nicht. Wir haben trotz unzumutbarem parlamentarischem Zeitdruck konstruktiv mitgearbeitet: Wir haben über 30 Änderungsanträge ausgearbeitet, begründet und eingebracht. Sie aber haben kalt und unbelehrbar Ihren Entwurf durchgesetzt. Die Verantwortung für den Schaden, der mit diesem Baugesetzbuch in unserem Land angerichtet wird, liegt bei Ihnen. Wir werden Sie daran erinnern.
Das Wort hat der Abgeordnete Grünbeck.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Anfang dieser Legislaturperiode hatten wir in einer der ersten Sitzungen des Bauausschusses die Frage gestellt, ob man die Novelle zum Baugesetzbuch in dieser Legislaturperiode schaffen kann. Man gab damals zu bedenken, daß man wohl zwei Perioden brauchen würde, um dieses umfassende Gesetzeswerk überhaupt abzuhandeln.
Daß wir das in einer Legislaturperiode geschafft haben, dafür bin ich sehr dankbar. Ich bedanke mich sehr herzlich bei Ihnen, Herr Minister, daß Sie Ihre ganze Energie gemeinsam mit den Beamten Ihres Hauses in dieses Gesetzeswerk gesteckt haben und daß wir diese Novelle heute vorlegen können. Mein Dank gilt insbesondere den Ausschußbeamten, die eine großartige Leistung gezeigt haben.Ich bedanke mich auch bei der SPD und entschuldige mich gleichzeitig bei Ihnen, weil wir Ihnen eine Zeitlang den Vorwurf gemacht haben, daß Sie die Arbeit möglicherweise verzögern wollten. Ich mache Ihnen das Kompliment, daß Sie sehr effizient mitgearbeitet haben, bei aller unterschiedlichen materiellen, inhaltlichen Diskussion, die gerade jetzt durch Sie, Herr Conradi, sehr deutlich aufgezeigt wird. Das Schauermärchen, das Sie dargestellt haben, paßt nicht in unsere Landschaft, vor allen Dingen auch nicht in unsere kommunale Landschaft.
Die Novelle zum Baugesetzbuch war für mich ein nahezu gelungenes Pilotprojekt für eine effiziente Zusammenarbeit zwischen Parlament und Ministerium.Durch die Zusammenfassung von Baugesetzbuch und Städtebau ist das Ziel erreicht, Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu vereinfachen. Ich will allerdings die Hoffnungen auf die Vereinfachungen nicht all zu weit stecken. Ich glaube, wir sollten uns besser das Wort der Ehrlichkeit, d. h. der Erleichterung, zu eigen machen. Ich will es belegen. Allein die Zusammenlegung von Bundesbaugesetz und Städtebauförderungsgesetz wird Rechts- und Verwaltungsvereinfachungen bewirken, was unsere Bürger wollen, nicht nur unsere Bürger, die Wohnungen bauen, sondern auch die Wirtschaft, die die strukturelle Weiterentwicklung bestehen muß. Ich denke dabei auch an eine Erleichterung der Genehmigungsfähigkeit, auch unter Berücksichtigung auch der nachbarschaftlichen Belange. Ich begrüße den sogenannten einfachen Bebauungsplan, der manches ermöglichen wird, was bisher nicht möglich war.Im einzelnen möchte ich einige Punkte hervorheben:Erstens. Die Neufassung der Vorschrift über die Bebauung im nicht geplanten Innenbereich. Da verstehe ich so manche Haltung unserer Opposition überhaupt nicht. Die Bedeutung von Modernisierungen und Sanierungen unserer Städte und Dörfer wird immer größer. Wir haben kürzlich im Kredit-
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Grünbeckausschuß erfahren, daß der Bedarf allein bei der Städtebauförderung in den nächsten 30 bis 40 Jahren auf 400 bis 500 Milliarden DM geschätzt wird. Der Strukturwandel wird gerade in den mittelständischen Betrieben durch eine moderne Technologie beschleunigt. Da haben wir doch keine Wahl, etwa zu entscheiden, ob wir das bremsen wollen oder nicht. Es wäre falsch, diese Belange des Strukturwandels etwa durch starke Eingriffe des Gesetzgebers zu behindern. Ich will auch nicht, daß man sie steuert, sondern ich will nur, daß man den Strukturwandel erleichtert. Das stellt viele Betriebe vor enorme Herausforderungen. Sie müssen nicht nur innovative, sondern auch finanzielle Kräfte freisetzen.Ich persönlich will mich aber noch besonders für die Erleichterungen bedanken, die im Grundstücksverkehr ermöglicht werden. Ich bin gar nicht unglücklich darüber, daß die Vorkaufsrechte der Gemeinden auf wirklich städtebauliche Bedürfnisse beschränkt werden. Wir haben ja in den letzten Jahren erlebt, daß in den Kommunen durch manche wohlausgewogene Grundstücksvorratspolitik einiges ermöglicht wurde. Aber natürlich wurde dadurch auch ein Preisanstieg bewirkt.Ich will mich im Rahmen dieser Beratungen einmal ganz besonders kritisch mit den Eingriffen des Staates, der öffentlichen Hand in das Eigentum der Bürger auseinandersetzen. Wir haben heute ein Vorkaufsrecht, Denkmalschutz, Nutzungsbeschränkung, Veränderungssperre, Natur- und Landschaftsschutz. Dies alles greift jedesmal in die Eigentumsverfügbarkeit oder in die Eigentumsbewertung ein.
— Daß Sie fragen: „Na und?", wundert mich nicht. Sie haben mit dem Eigentum nichts am Hut. Sie haben immer nur das Eigentum anderer im Kopf, aber nicht Ihr eigenes. Das ist grüne Eigentumspolitik.
Liberale Eigentumspolitik sieht anders aus. Meine Damen und Herren, wir müssen uns doch einmal die Frage vorlegen, was die Väter unseres Grundgesetzes mit Art. 14 des Grundgesetzes, mit der Sozialpflichtigkeit des Eigentums eigentlich beabsichtigt haben und inwieweit die Sozialpflichtigkeit des Eigentums bis heute schon unterwandert ist. Ich habe nachgelesen, was die Rechtsgelehrten schreiben: Das Grundgesetz schreibt keinen für alle Zeiten fixierten Begriff des Eigentums fest. Und es heißt weiter bei Kimminich:Da es keinen absoluten Begriff des Eigentums gibt, ist es Sache des Gesetzgebers, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen.Damit hat das Parlament das Wort, aber es trägt auch eine große Verantwortung, und es sieht sich vor eine große Herausforderung gestellt, denn es gilt, diesem Gedanken der Väter unseres Grundgesetzes nicht zu widersprechen.
Eigentum und Freiheit sind für uns Liberale keine trennbaren Begriffe. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluß vom 16. März 1971 festgestellt — ich darf zitieren —:Dem Eigentum kommt im Gefüge der Grundrechte die Aufgabe zu, dem Träger des Grundrechts einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich sicherzustellen und ihm damit eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen.Wir Liberalen werden mehr als je zuvor darauf achten,
daß diese Grundrechte nicht verletzt und auch nicht verwässert werden.
Zu diesen Grundrechten gehört für meine Begriffe auch — Sie brauchen nur die Rechtsprechung zu verfolgen — die Veräußerungsfreiheit. Eingriffe wie Veräußerungsverbote gehören nach der laufenden Rechtsprechung bis hin zum Bundesgerichtshof zu den schwersten Eingriffen in den Freiheitsbereich unserer Bürger. Eingriffe durch das Baurecht gilt es deshalb zu beachten, weil es ein sehr sensibler Bereich ist und weil hier keine Enteignung stattfindet, sondern weil die Gesetzgebung Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen hat. Das heißt, daß auch die Entschädigungsfrage sorgfältig zu beachten ist.Nun noch ein Wort zur Bürgerbeteiligung. Ich bin sehr dankbar, daß wir bei den bewährten Rechtsgrundlagen der Bürgerbeteiligung bleiben. Sowohl bei der Bauleitplanung als auch bei der Sanierung wurden die bisherigen Regelungen der Bürgerbeteiligung überhaupt nicht eingeschränkt und überhaupt nicht verwässert. Allerdings muß man eines betonen: Dieser Gesetzentwurf sieht vor, daß mehr die betroffenen Bürger beteiligt werden, insbesondere auch im Innenbereich gemäß § 34. Dazu sage ich später noch etwas mehr.Ich halte es für gut, daß wir die Bürgerbeteiligung fortsetzen. Nur, ich fordere die betroffenen Bürger auf — meistens rühren sich bei der Bürgerbeteiligung ja die nichtbetroffenen Bürger —, mehr als bisher von der Bürgerbeteiligung Gebrauch zu machen. Und ich kritisiere, daß nichtbetroffene Bürger unnötige Verzögerungen auslösen, die manchmal wirklich verheerende Folgen haben.
Ich darf Ihnen mal ein klassisches Beispiel nennen: den Güterbahnhof München.
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18574 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Grünbeck1936 hat unter dem Hitler-Regime die Planung des Güterbahnhofs München begonnen. Heute, über 50 Jahre später, haben wir immer noch keinen neuen Güterbahnhof in München, obwohl jährlich einige hundert Eisenbahner verletzt werden, manche schwer und manche sogar tödlich, und obwohl der Güterverkehr in Bayern dadurch etwa zwei Tage Zeitverzögerung erleidet.
Millionen von D-Mark wurden verplant, dennoch sind wir, auch wegen der Beteiligung von Bürgern, die nicht betroffen sind, zu keinem neuen Güterbahnhof gekommen.
Das zweite Beispiel ist der Flughafen München II. Überlegen Sie sich einmal, welche Wirkungen das Projekt Flughafen München II hatte. Nicht betroffene Bürger haben Einsprüche erhoben. Da haben dann einige Rechtsanwälte gute Geschäfte gemacht, aber man ist nicht zu der Lösung gekommen, die die Stadt München dringend braucht.Ich muß dazusagen, daß der Flughafen München II trotz der Unterbrechungen, die nicht notwendig waren, heute so gebaut wird, wie er ursprünglich konzipiert war.
— Vielleicht sollten Sie in Zukunft keine Flugzeuge mehr benutzen. Das wäre die einzig richtige Antwort.
Wenn Sie doch überhaupt mal wüßten, worüber Sie reden: Der Flughafen München II war nicht aus wirtschaftlichen Gründen notwendig, sondern aus Gründen der Flugsicherheit; denn die Großstadt München wird täglich von sehr vielen Flugzeugen überflogen. Das finden Sie in keiner anderen Großstadt dieser Welt.
— Ja.Deshalb bauen wir diesen Flughafen München II völlig richtigerweise. Nur haben wir pro Tag 1 Million DM Mehrkosten allein durch die Verzögerungen auf Grund der Einsprüche nichtbetroffener Bürger.
Ich möchte noch ein Wort zum Thema Baurecht und Sport sagen. Sie haben es nicht erwähnt, Herr Conradi, aber ich halte trotzdem für wichtig, daß wir im Baurecht die Belange des Sports berücksichtigt haben. Ich persönlich bin der Meinung — und wer die Sportlandschaft kennt, weiß, daß ich zumindest in diesem Punkt recht habe —: Die Probleme wurden hochgepusht. Die Probleme zwischen demSport und dem Baurecht sind viel kleiner, als sie von manchen Leuten gemacht wurden. Das Einverständnis zwischen den Kommunen und dem Sport ist bei uns in der Bundesrepublik groß. Es gibt im Grunde genommen wenig Klagen. Wir sollten die Dinge deshalb nicht dramatisieren.Ich muß noch eines sagen: Bei meinen vielen Tätigkeiten im Sport habe ich festgestellt, daß viele Leute klagen. Ich habe erst kürzlich ein nettes Beispiel erlebt. Der Nachbar eines Tennisplatzes beklagte sich darüber, daß die Tennisbälle zu laut geschlagen würden und er beinahe nicht mehr leben könne. Aber seine beiden Söhne fahren schwere Motorräder und belästigen die Nachbarn Tag und Nacht. Dagegen hat er nichts einzuwenden.
Sportanlagen in Wohngebieten sollten wir vermeiden. Darüber herrscht Einverständnis in allen Fraktionen. Die Kommunen sollten sich geeignete Flächen in ihrem Bereich für eine echte Freizeitgestaltung durch Sport suchen.Ich glaube, die Bundesrepublik Deutschland ist bezüglich der Sportstätten ein Musterland in Europa.
Ich kenne kein Land, in dem es so viele und qualitativ so hochstehende Sportstätten für die gesunde Betätigung der Bürger in der Freizeit wie in der Bundesrepublik Deutschland gibt. Das sollte man nicht zerreden. Da haben auch SPD-Landräte und SPD-Bürgermeister ihren Anteil.Lassen Sie mich noch ein Wort zum Umweltschutz sagen: Meine Damen und Herren, es gibt die Forderung nach der Umweltverträglichkeit. Ich bin der Meinung, daß eine sorgfältige Bauleitplanung im Grunde genommen die beste Umweltverträglichkeitsprüfung ist.
Das geltende Recht ist gut. Das Bundesbaugesetz plus der Novelle von 1976 ist verbessert worden.Meine Damen und Herren, ich wundere mich immer wieder, daß manche Leute glauben, daß man die Umweltverträglichkeit dadurch erhöhen könne, daß man neue Verordnungen, neue Gebote und neue Verbote schafft. Umweltpolitik wird für Liberale dadurch bestimmt, daß wir schlechte Technologien durch bessere Technologien ersetzen wollen und der Staat den Rahmen schafft, damit sich diese Entwicklung ordnungsgemäß vollziehen kann.Wir stimmen zu, daß ein sparsamer Umgang mit Grund und Boden richtig ist. Wir stimmen zu, daß die Ausweisung von Natur- und Landschaftsschutzgebieten möglich ist. Wir stimmen zu, daß die Pflicht zur Kennzeichnung von Flächen mit Altlasten eingeführt wird. Das Altlastenproblem hat für die Grundwasserqualität und damit für die Bevölkerung eine ungeheure Bedeutung. Darüber sind wir uns einig. Wir stimmen auch den umweltfreundli-Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18575Grünbeckchen Abfallbeseitigungsanlagen zu und was derlei Dinge mehr sind.Ich möchte auch noch ein Wort zur Mittelstandskomponente sagen, die wir in das Baurecht eingebracht haben. Ordnungspolitisch gesehen kann man über das Baurecht in die Struktur der Wirtschaft nicht eingreifen; man soll es auch nicht. Dennoch aber ist es richtig, daß wir in Anbetracht der Entwicklung, insbesondere der von Ihnen, Herr Möller, aufgezeigten Versorgungsstrukturen, dem Handel, dem Handwerk und dem Gewerbe die Chance geben, ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Wir können doch unmöglich auf der einen Seite Milliardensummen in die Modernisierung unserer Städte und Dörfer investieren und auf der anderen Seite zulassen, daß durch den ständigen Neubau von Einkaufszentren auf der grünen Wiese die renovierten Innenbereiche der Städte veröden.
Das ist die Verantwortung unseres Baurechts. Dem sind wir gerecht geworden.
Ich bedanke mich auch,
daß wir im Bereich des Fremdenverkehrs, § 22, bei dem Regierungsentwurf geblieben sind.Ich darf dazu für die FDP-Fraktion erklären: Erstens. Wir begrüßen, daß die Möglichkeit zum Erlaß einer Rechtsverordnung durch die Länder gemäß dem Regierungsentwurf beibehalten wird. Zweitens. Wir sehen die Notwendigkeit der Pflicht zur Begründung für den Erlaß einer Gemeindesatzung. Drittens. Wir begrüßen die Formulierungen im Ausschußbericht, wonach die Beschränkung der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen nur in eng begrenzten Problemfällen Anwendung finden kann.
Lassen Sie mich noch etwas zum Abbau der Bürokratie sagen. Die Bundesregierung ist beim Abbau der Bürokratie — Herr Minister, dafür danke ich Ihnen und Ihren Beamten besonders — auf dem richtigen Weg. Wir sollten alles unternehmen — hier finden Sie Liberale immer an Ihrer Seite —,
wenn es darum geht, Bürokratien abzubauen und Privatisierungschancen zu nutzen.
Ich glaube, daß wir auf diesem Gebiet allerdings noch einigen Nachholbedarf haben. Ich bitte sehr, daß wir tatsächlich einmal eine Kommission bilden, die sich mit der Entrümpelung unserer DIN-Vorschriften beschäftigt. Meine Damen und Herren, was wir in Deutschland an Vorschriften haben, istmanchmal nicht nur überzogen, sondern widerspricht sich sogar zum Teil.
Ich nenne ein Beispiel. Wir führen in Bayern zur Zeit einen wirklich hochinteressanten Prozeß. Der Prozeß des Metzgermeisters, dem das Gewerbeaufsichtsamt die Schließung seines Betriebs innerhalb von drei Monaten angedroht hat, läuft. Der Fall ist folgendermaßen: Ein Metzgermeister bekommt die Auflage, innerhalb von drei Monaten eine neue Wurstküche zu bauen. Das Gesundheitsamt hat ihm vorgeschrieben, daß er glatte Fliesen nimmt, weil die hygienischer sind, und das Gewerbeaufsichtsamt hat ihm vorgeschrieben, daß er rauhe Fliesen nehmen soll, weil die rutschfester sind. Der Metzgermeister hat in Zeitnot entschieden, daß er von jeder Sorte die Hälfte nimmt, damit er beiden Ämtern gerecht wird. Nun hat er eine Rechnung über 36 000 DM von der Ortskrankenkasse bekommen, weil sein Lehrling ausgerutscht ist. Die Ortskrankenkasse hat ihm den dreivierteljährigen Aufenthalt im Krankenhaus in Rechnung gestellt, weil er die falschen Fliesen genommen hat. Der Rechtsanwalt hat im ersten Schriftsatz eine humorvolle Einleitung geschrieben.
— Ich habe jetzt von der Zukunft geredet.
Ich rede vom weiteren Abbau der DIN-Vorschriften.
— Sie sollten halt zuhören.Der Rechtsanwalt hat geschrieben, wie denn jetzt die Frage der Schuld zu entscheiden sei, nachdem der Lehrling nachgewiesenermaßen Schuhgröße 44 hat und die Fliesesn einen Durchmesser von jeweils nur 12 cm haben. Auf welcher Fliese ist er nun ausgerutscht? — Das sind die Vorschriften, mit denen wir uns heute in der mittelständischen Wirtschaft oft auseinandersetzen müssen.
Ich darf zum Abschluß noch eines sagen. Ich schließe mich hier den Ausführungen des Obmannes, Herrn Dr. Möller, ausdrücklich an. Ich appelliere an die Länder und Kommunen, die jetzigen Gesetze mitzutragen und mit Leben zu erfüllen, nicht neue Ländergesetze oder kommunale Satzungen zu erlassen, die den Geist dieses Gesetzes verletzen. Ich würde mir wünschen, daß das Bauen in Zukunft keinen Ärger mehr bedeutet, sondern daß es den gesellschaftspolitischen Zielen und den marktwirtschaftlichen Strukturen gerecht wird.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, zu Punkt 2 a der Tagesordnung ist zwischen-
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18576 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Vizepräsident Westphalzeitlich ein Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 10/6252 eingebracht worden.
Dieser Antrag liegt auf den Drucksachenwagen in der Eingangshalle aus.Jetzt hat der Abgeordnete Werner das Wort.
Das trifft womöglich zu, Herr Vorsitzender!Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst muß ich als Mitglied des 16. Ausschusses hier eine Erklärung darüber abgeben, warum meine Mitarbeit an dieser Vorlage in letzter Zeit praktisch nicht mehr stattgefunden hat. Ich habe die Aufgabe übernommen, für die GRÜNEN im 3. Untersuchungsausschuß „Neue Heimat" tätig zu sein,
und mit den Arbeitskapazitäten sieht es in unserer kleinen Fraktion eben anders aus als in größeren Fraktionen.
Aber in der Grundtendenz hat sich der Entwurf zu diesem Baugesetzbuch seit der Einbringung nur wenig verändert, und deshalb kann ich es mit meinem Gewissen vereinbaren, zu Beginn ein Zitat aus meiner eigenen Rede anläßlich der ersten Lesung zu bringen. Damals habe ich gesagt:Wir GRÜNEN haben diesen Gesetzentwurf geprüft. Wir haben ihn selbstverständlich besonders darauf überprüft, ob die einzelnen Vorschriften dem entsprechen, was die Regierung als Zielsetzung dieses Baugesetzbuches angekündigt hat. Diese Ankündigungen waren ja recht vollmundig. Da war z. B. die Rede von Rechts- und Verwaltungsvereinfachungen, von Beschleunigung und Vereinfachung der Bauleitplanung, von Erleichterung des Bauens, von Stärkung der Planungshoheit der Gemeinden, aber auch von Stärkung des vorsorgenden Umweltschutzes. In dieser Aufzählung— von Ankündigungen —darf aber ein besonders schöner Satz nicht fehlen: „Der elementare Grundsatz des Städtebaurechts ist die Baufreiheit."So in einer Broschüre des Ministers!— Nun, wir werden sehen, welche Freiheit da wohl gemeint ist.Das Baugesetzbuch verschiebt die Gewichte. Die Lösung von Bodennutzungskonflikten wird zugunsten von industriellen und Bauinvestorinteressen verschoben. Verlierer sind die Kommunen, denen korrigierende Eingriffsinstrumente entzogen werden. Die Bürgerbeteiligungsrechte werden ebenso wie die Umweltschutzbelange trotz gegenteiliger Äußerungen der Bundesregierung weiter zurückgedrängt. Der jetzt vorliegende Entwurf bietet keine Gewähr dafür, daß die zukünftigen Probleme der Stadt- und Dorfentwicklung berücksichtigt werden.Die groß angekündigte Ausweitung der kommunalen Handlungsspielräume reduziert sich auf ein größeres Entgegenkommen gegenüber potentiellen Bauinvestoren durch erleichterte Planbefreiungen. Die öffentliche Aufgabe einer geordneten Stadt-und Dorfentwicklung wird durch die geforderte „Baufreiheit" tendenziell wieder zu einer Privatsache gemacht. Zudem werden die kommunalen Instrumente zur Planverwirklichung beschnitten, da die Vorkaufsrechte eingeschränkt werden. Dies gilt besonders für das preislimitierende Vorkaufsrecht, dessen Existenz allein schon auf die örtlichen Bodenmärkte preisregulierenden Einfluß nehmen kann.Das Baugesetzbuch ist entgegen den Ankündigungen kein Beitrag zur Entbürokratisierung; vielmehr werden grundlegende Bürgerbeteiligungsrechte zurückgedrängt.
Das Baugesetzbuch leistet damit einen Beitrag zur Entdemokratisierung. Zu Beispielen komme ich noch.Befreiungen von bestehenden Bebauungsplänen, die zuvor durch das Verfahren der Bürgerbeteiligung gelaufen sind, werden erleichtert. Befreiungen müssen zudem nicht mehr „städtebaulich gerechtfertigt", sondern nur noch „städtebaulich vertretbar" sein. Die Bürgerbeteiligung wird so nachträglich entwertet. Genehmigungen während der Planaufstellung sollen nicht mehr an das Kriterium der Planreife gebunden werden; in Zukunft soll bereits der Beschluß, einen Bebauungsplan aufzustellen, die ausreichende Grundlage für eine Baugenehmigung sein.Für Bürger besteht weiterhin kein Recht auf Einsicht in umweltrelevante Genehmigungsakten. Naturschutzverbände haben kein Verbandsklagerecht. Sie reden in diesem Zusammenhang immer nur von den nicht betroffenen Bürgern, die unnötigerweise Einsprüche erheben.Das Ziel der Entbürokratisierung wird nicht erreicht, da viele Nutzungskonflikte bisher durch das Beteiligungsverfahren zumindest entschärft wurden, nunmehr aber Verwaltungsgerichte eine Aufgabe übernehmen sollen, die eigentlich in einem demokratischen Prozeß gelöst werden sollte.
Die Belange des Umweltschutzes kommen im Gesetzentwurf der Bundesregierung zu kurz, da jegliche Konkretisierung des neu in den Zielkatalog auf-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18577
Werner
genommenen Wunsches, mit Grund und Boden sparsam umzugehen, fehlt. Das alles ist nur SollVorschrift, alles ist rein deklamatorisch.Der Regierungsentwurf unterläßt die notwendige Neuregelung des Verhältnisses zwischen der Bauleitplanung und einer querschnittsorientierten Landschaftsplanung, was die Nachrangigkeit der ökologischen Zielsetzung im Planungsprozeß festschreibt.Zur Lösung der innerstädtischen Nutzungskonflikte wäre die Installation wirkungsvoller Instrumente zur ökologischen Orientierung nötig wie eine Verpflichtung zur Umweltverträglichkeitsprüfung — Sie haben zwar dieses Wort hier in den Mund genommen, aber die Verpflichtung einer Umweltverträglichkeitsprüfung bei der Bauleitplanung ist eben nicht enthalten — und eine Überarbeitung der Baunutzungsverordnung zur Sicherung von Grün-und Freiflächen. Beides konnte in der Kürze der Zeit vom Ministerium und vom Ausschuß nicht geleistet werden. Statt dessen soll in der Stadt die Lösung von Nutzungskonflikten in Gemengelagen einseitig zugunsten der Betriebe aufgelöst werden. Betriebsänderungen und -erweiterungen werden erleichtert, rechtliche Eingriffsmöglichkeiten werden auf die sogenannte Nachbarschaftsklage eingeengt. Zur Lösung der Konflikte in den Gemengelagen sind die Kommunen stärker als bisher auf das Instrument der Gewerbeaufsicht verwiesen, da das Bundesimmissionsschutzgesetz nur bei genehmigungspflichtigen Produktionen den „Stand der Technik" durchsetzen kann.Eine Gefährdung des städtischen Umlandes geht von der geplanten Möglichkeit aus, sogenannte Splittersiedlungen durch Gemeindesatzung zu einem einheitlichen Bebauungsgebiet zusammenzufassen. Typische Siedlungsstrukturen würden damit durch Eigenheimneubauten aufgefüllt und damit ihrer lokalen Eigenart beraubt.Auch durch die Neufassung des Begriffs der Landwirtschaft, die z. B. die Pachttierhaltung erleichtert, wird das Umland der Städte noch stärker durch Reiterhöfe und ähnliche Freizeiteinrichtungen sowie deren Folgeeinrichtungen bzw. Folgewirkungen belastet werden.In ländlichen Gebieten wird die Landschaft weiter zerstört werden, wenn bei sogenannten privilegierten Vorhaben im Außenbereich die Erweiterung von Betrieben erleichtert wird. Bisher war die Sicherung der wirtschaftlichen Existenz das Kriterium für die Genehmigung von Betriebserweiterungen, jetzt soll es nur noch die Angemessenheit zum vorhandenen Betrieb sein. Dabei kann auch gegen bestehende Flächennutzungs- und Landschaftspläne nach dem Bundesnaturschutzgesetz verstoßen werden. Damit erhalten insbesondere industrielle Landwirtschaftsbetriebe Konkurrenzvorteile, die zur weiteren Verdrängung von bäuerlichen Klein- und Mittelbetrieben führen werden.Das bisherige Bundesbaugesetz und das Städtebauförderungsgesetz haben in der Vergangenheit die Zerstörung der Städte als politischen, kulturellen und auch als ästhetischen Lebensraum nichtverhindert. Sie waren und sind vielmehr Rechtsgrundlage zur Durchsetzung kapitalkräftiger Interessen.
Gleiches gilt für die Zerstörung der Natur- und Kulturlandschaften.Die GRÜNEN im Bundestag lehnen das Baugesetzbuch ab. Eine Reform des Planungsrechts ist unerläßlich, aber das Baugesetzbuch wird das Entstehen menschen- und lebensgerechter Städte noch mehr verhindern. Das Baugesetzbuch wird Umwelt-und Naturschutz noch mehr als bisher den Kapitalinteressen der Investoren, der Industrie und dem agrarindustriellen Bereich unterordnen.
Wir brauchen ein ökologisch orientiertes Planungsrecht. Daher fordern die GRÜNEN im Bundestag die Umweltverträglichkeitsprüfung im Städtebau und für alle Einzelmaßnahmen des Bauens. Dabei muß Transparenz für den Bürger jederzeit sichergestellt sein. Eine Novellierung des Baurechts schafft noch keine Neuorientierung der Stadtentwicklungspolitik, der Industrie-, Landschafts- und Naturschutzpolitik. Das Planungsrecht stellt aber die Weichen für den Erhalt oder die Zerstörung unserer Planungsgrundlagen; das Planungsrecht erleichtert oder erschwert den Kampf gegen die Umweltzerstörung. Damit ist Planungsrecht ein Maßstab für die demokratische und kulturelle Kultur unserer Republik.Wir brauchen ein demokratisches Planungsrecht. Die GRÜNEN im Bundestag fordern die Bürgerbeteiligung auf allen Stufen der Planung und Planverwirklichung als demokratisches Grundrecht. Notwendig ist das Verbandsklagerecht und die juristisch gesicherte Teilhabe der Umwelt- und Naturschutzverbände an der Planung. Die GRÜNEN im Bundestag fordern zudem für alle Bürger das Einsichtsrecht in alle Umweltakten.
Ich denke, meine Ausführungen haben deutlich gemacht, warum wir als GRÜNE diesem Gesetz nicht zustimmen können.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dörflinger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der ersten Lesung des Baugesetzbuches am 17. Januar 1986 hatte ich für meine Fraktion angekündigt, die Union wolle den Gesetzentwurf zügig und gründlich beraten, sei offen für sachliche Alternativen und werde demzufolge nicht alles unbesehen übernehmen, was die Regierung vorgelegt habe. Nach monatelangen, sehr intensiven Beratungen kann ich
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18578 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Dörflingerals Berichterstatter meiner Fraktion heute feststellen, daß wir den seinerzeit gesteckten Zielen sowohl vom Ergebnis als auch vom Stil unserer Beratungen her gerecht geworden sind.
Das Parlament hat seine Rolle als Gesetzgeber in vollem Umfang wahrgenommen. Die Unions-Fraktion hat, aufbauend auf einer gründlichen, vorher schon viel Sachverstand mobilisierenden Vorarbeit der Bundesregierung und ihrer ständigen Begleitung, aber auch ständig begleitet vom konstruktiven Rat der kommunalen Spitzenverbände, dem Gesetz ihren Stempel aufgedrückt, bemerkenswerte eigene Akzente gesetzt.
Die Palette dieser eigenen Akzente reicht vom Wegfall der von uns immer für unsinnig gehaltenen Kompetenzverlagerung in bestimmten Rechtsbereichen an die Länder über das nochmalige Ausweiten kommunalen Handlungsspielraums, den Wegfall der Beitragspflicht für Kinderspielplätze, die Verankerung des ÖPNV als Kriterium für die Bauleitplanung bis zu der zwingenden Pflicht der Gemeinden, Erschließungsbeiträge für die Landwirtschaft zinslos zu stunden.
An der Tatsache, daß die Union ihren Ansprüchen voll gerecht geworden ist, ändern auch die verbalen Attacken der SPD nichts. Im Gegenteil: Die Attacken sind, lieber Herr Kollege Conradi, eher geeignet, den von mir ausdrücklich anerkannten sachlich-konstruktiven Beitrag der SPD-Kollegen zu diskreditieren. Demzufolge wären Sie auch gut beraten gewesen, es beim Stil unserer Ausschußberatungen im allgemeinen zu belassen und heute morgen nicht zum Morgenstern zu greifen. Der Griff zum Morgenstern steht nämlich in einem merkwürdigen Kontrast zu Ihren Appellen, Diskussionen im Plenum nicht zu Schaufensterveranstaltungen degenerieren zu lassen. Er steht auch im Gegensatz dazu, daß Sie tatsächlich viele Dinge mitgetragen haben. Dort, wo Sie das Gesetz nicht mitgetragen haben, haben Sie leider — das muß ich auch feststellen — eine kommunal- und wirtschaftsfeindliche Haltung eingenommen.
Dennoch sind es die Argumente der SPD wert, näher analysiert zu werden. Bevor ich das tue, will ich auch die Beiträge der zwei übrigen Fakultäten im Ausschuß würdigen. Mit der FDP gab es freundschaftliche, vertiefende Diskussionen über die von uns ebenso stets beachteten ordnungspolitischen Gesichtspunkte. Wir haben faire Kompromisse erzielt, so insbesondere auch bei § 22, der Kurgebietsproblematik. Ich sage an die Adresse der SPD: Die Koalition, der man gemeinhin die größte Nähe zum Kapital nachsagt, war diejenige, die dieses alte Problem gelöst hat, während die frühere Regierung, insbesondere die SPD, zum Schaden der Kurgebiete im Schwarzwald, in Schleswig-Holstein und im Allgäu beispeilsweise 13 Jahre lang nur geredet, aber nichts getan hat.
Besonders froh bin ich über die mit der FDP zusammen durchgesetze Mittelstandsklausel. Sie markiert den Abschied von der Illusion, das uferlose Anschwellen großer Märkte auf der grünen Wiese nütze dem Verbraucher. Das Gegenteil ist der Fall. Planlose Expansion außerhalb der gewachsenen Kerne führt zur Konzentration, höhlt die Funktionsfähigkeit der Innenstädte aus, gefährdet die Zukunft des ländlichen Raumes und zwingt die Verbraucher zu langen Wegen, die in der Regel nur mit dem Auto zurückzulegen sind. Solche Entwicklungen aber machen einen nicht unbeträchtlichen Teil unserer Bemühungen bei der Stadtsanierung zunichte. Ich begrüße es deshalb ausdrücklich, daß die Bundesregierung durch die in die Wege geleitete Novellierung der Baunutzungsverordnung diesen Weg konsequent fortsetzt.
Denn wir können es nicht zulassen, daß die in den Zentren plazierten Geschäfte, die durch ihr kostspieliges Bemühen um Stadtgestalt und gewaltige Aufwendungen für Stellplätze bzw. das Ablösen von Stellplätzen ohnehin starken Wettbewerbsnachteilen ausgesetzt sind, zusehen müssen, wie sie durch planerische Unfähigkeit um das Ergebnis ihrer Bemühungen gebracht werden.Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang die Bemerkung, daß es mir unverständlich ist, wie der Präsident des Bundeskartellamts etwa die Konzentration im Lebensmittelbereich als eine Art Naturgesetz darstellt.Meine Damen und Herren, den simpelsten Part der Beratungen übernahm die Fraktion der GRÜNEN. Sie placierte einen ihr genehmen Claqueur in das Hearing, formulierte schon vor Beginn der Beratungen ein Verdammungsurteil, legte dem Ausschuß ein Paket Anträge auf den Tisch,
bei dessen Erläuterung ihr Vertreter bereits ins Stottern geriet, um dann nach dem LohengrinMotto „Nie sollst du mich befragen" im grün gestrichenen Nachen zurück gen Westerland zu fahren, wo wir in Abwesenheit des Vertretes der GRÜNEN mehrfach die Kurgebietsproblematik studiert hatten.
Daß die GRÜNEN in der Schlußabstimmung über das Gesetz nicht präsent waren, weist sie vollends als Truppe aus, die flotte, medienwirksame Sprüche in Masse auf der Pfanne hat, von konkreter parlamentarischer Detailarbeit aber nichts hält.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18579DörflingerHerr Kollege Werner, Ihre Erklärung von vorhin war absolut nicht überzeugend.
Doch zurück zur SPD, deren Sprecher Peter Conradi soeben wieder einmal einige apokalyptische Reiter durch den Plenarsaal hat traben lassen,
dem es freilich auch vor wenigen Wochen gelungen war, einem fachlich absolut inkompetenten Redakteur eines Hamburger Wochenblatts die Horror-story anzudienen, künftig werde es möglich sein, ein im Außenbereich liegendes Bauernhaus mühelos in ein Freudenhaus umzufunktionieren.
Ungeachtet solcher rhetorischer Übertreibungen bleibt festzuhalten, meine Damen und Herren, daß Union und SPD prinzipielle Betrachtungsweisen unterscheiden, daß die Haltung der SPD aber auch gekennzeichnet ist von einer ganzen Serie innerer Widersprüche und ideologiebedingter Vorurteile. Ihr Kurs glich oft den Irrfahrten des Fliegenden Holländers. Aber auch wenn Oscar Schneider dieses Jahr bei den Bayreuther Festspielen war, waren weder er noch wir in der Lage, der SPD das Opfer der Senta oder den Heiligen Speer zu liefern, um sie von ihren inneren Leiden zu befreien. Ich fürchte, das wird auch Johannes Rau am Wochenende nicht gelingen.
Oft hatte man den Eindruck, als wolle die SPD überhaupt nicht mehr bauen, als wolle sie nur noch planen. Sie gleicht damit einem Kraftfahrer, der Gas gibt und gleichzeitig auf das Bremspedal tritt. Sie will mit dem Ladenhüter „Arbeit und Umwelt" und anderen Programmen die Baukonjunktur stimulieren, legt aber gleichzeitig so viele Schlingen aus, daß Bauen eher verhindert wird.
Da ist das abgrundtiefe Mißtrauen der SPD gegenüber dem Ausweiten kommunalen Spielraums und dem notwendigen Abbau von Abhängigkeiten gegenüber höheren Instanzen, denen man — warum, weiß ich nicht — automatisch höhere Kompetenz oder höhere Weisheit zubilligt. Herr Kollege Conradi, was sagen eigentlich Ihre SPD-regierten Städte und Gemeinden zu Ihrer Haltung gegenüber der angeblichen Unfähigkeit der Kommunalpolitiker, die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft anzunehmen?
Was soll denn der Aberglaube, mit Planung ließe sich alles optimal richten? Gibt es nicht ebensoviel geplanten Unsinn, wie es ungeplanten gibt?
Entscheiden nicht letztlich Verantwortung und Sachkompetenz, z. B. auch beim Umweltschutz? Sie sagen: keine eigene Umweltverträglichkeitsprüfung, reklamieren dann zu wenig Umweltschutz, als ob Umweltschutz davon abhinge, daß man bestimmte Begriffe zehn-, zwanzig- oder dreißigmal im Gesetzestext wiederholt.Entscheidend ist doch, daß wir die Umwelt als durchgängiges Prinzip in diesem Baugesetzbuch verankern: in der Bauleitplanung genauso wie bei der Prüfung von Einzelvorhaben. Deswegen werden wir auch Ihren Anträgen, die in diese Richtung zielen, nicht zustimmen, weil sie schlicht überflüssig sind.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi?
Wenn mir die Zeit nicht angerechnet wird.
Bei den langen Redezeiten ist das eigentlich unüblich. Aber ich werde es machen.
Es sind 15 Minuten.
Das halte ich für eine lange Redezeit.
Herr Kollege, warum haben Sie denn den Vorschlag des Bundesrats, den einstimmigen Vorschlag der Umweltministerkonferenz, an dem sogar der Bundesinnenminister mitgewirkt hat, nämlich die Umweltverträglichkeitsprüfung in der Begründung zum Flächennutzungsplan und zum Bebauungsplan zu verankern, abgelehnt?
Herr Kollege Conradi, weil die Formulierung, die wir gefunden haben, meines Erachtens sachlich genau dasselbe bewirkt. Wenn ich Umwelt-, Naturschutz-, Landschaftsschutz, Denkmalschutz und so weiter als entscheidende Kriterien für die Bauleitplanung verankere, dann nehme ich mich auf allen Gebieten selbstverständlich in die politische Pflicht, und zwar automatisch.
Wie sieht es denn mit dem sparsamen Umgang mit Grund und Boden oder bei arbeitsplatzvermehrenden Investitionen aus, wenn sich die SPD der Lösung der Gemengelageproblematik versagt und damit provoziert, daß entweder nach außen gegangen werden muß oder daß überhaupt nicht investiert wird? Wie sieht es im Außenbereich mit seiner differenzierten Struktur aus, wenn die Substanzerhaltung nicht möglich ist oder man auf eine langwierige, entmutigende Prozedur angewiesen ist? Haben Sie den Strukturwandel in der Landwirt-
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Dörflingerschaft nicht registriert? Wie steht es bei Ihnen mit dem Ziel, durch das unproblematische Genehmigen einer zweiten Wohnung das Zusammenleben der Generationen wieder stärker zu fördern?
Das ist eine außerordentlich wichtige gesellschaftspolitische Angelegenheit auch im Blick auf den veränderten Altersaufbau.Ist es nicht vernünftiger, im Außenbereich liegende Splittersiedlungen oder seit vielen Jahren vorhandene Siedlungsansätze durch Abrundungssatzungen, bei denen Bürgerbeteiligung stattfindet, vernünftig zu ordnen als Einzeldruck zu erzeugen?Herr Kollege Conradi, wie argumentieren Sie gegenüber dem von Ihnen immer apostrophierten Arbeiter von Bosch, der bauen will, wenn wir die Hürden bei den §§ 31 und 33, bei Befreiungen und Vorweggenehmigungen, etwas senken, wenn Sie ihn aber durch Ihre Haltung in ein monatelanges Gezerre mit der Baugenehmigungsbehörde zwingen und er feststellt, daß seine Initiative womöglich durch übertriebene bürokratische Sichten eingeengt wird?
Es stimmt einfach nicht, daß von §§ 31 bis 35 keine Bürgerbeteiligung stattfinde, weil die Gemeinden die Chance haben, diese Dinge in eigener Zuständigkeit zu regeln und weil sie jederzeit die Möglichkeit haben, gemeindliches Einvernehmen in ihrem Sinne, im Sinne einer umfassenden Verantwortung zu definieren.Dieses Baugesetzbuch installiert den zentralen Blick auf den Innenbereich. Das ist der zentrale Punkt. Damit wird Stadt- und Dorferneuerung zu einer herausragenden gesellschaftspolitischen Aufgabe für die Zukunft. Ich will daran erinnern, daß es diese Bundesregierung war, die mit der Novelle zum Städtebauförderungsgesetz, mit der exorbitanten Ausweitung der öffentlichen Förderungsmittel, mit der Erweiterung der Problemstellungen, des Begriffs der Stadtsanierung, genau die Signale gesetzt hat, die zu dem weiteren Inangriffnehmen von Sanierungsmaßnahmen in Stadt und Land geführt haben. Sie hat eine Pilotfunktion übernommen, auch gesellschaftspolitischer Natur.In dieser Konsequenz bewegt sich das Baugesetzbuch. Es ist eine überzeugende Antwort auf die Erfahrungen aus der Vergangenheit, auf die Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft; es schafft Bewegungsspielraum, betont aber auch durchgehend die Verantwortung für die Umwelt. Das Baugesetzbuch ist eine große Chance für Gemeinden und Bürger; es folgt auch dem Prinzip der Subsidiarität.Wir haben den 1. Juli 1987 als Termin des Inkrafttretens gewählt, weil wir die Chance geben wollen, behutsam umzustellen. Wir formulieren aber zugleich die Erwartung, daß die mit der Genehmigung befaßten Stellen insbesondere bei den Einzelvorhaben möglichst bald in der Tendenz des neuen Gesetzes entscheiden,
damit die einzelnen Bürger auch bald von diesem Gesetz profitieren. Dasselbe gilt übrigens für auch für den § 22, Fremdenverkehr, wo nicht bis zum 1. Juli gewartet werden muß, bis man an die Rechtsverordnung herangeht.
Die positiven Dinge sollen den Gemeinden und den Bürgern bald zum Nutzen sein.Meine Damen und Herren, im übrigen bin ich überzeugt davon: Dieses Gesetz wird sich schnell bewähren, und es wird die Praxis sein, die die Kassandra-Rufe der Opposition schnell und eindeutig widerlegt.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Reschke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Auseinandersetzung um das Baurecht steht der vor 25 Jahren geführten nicht nach, auch wenn die Akzente anders sind. Ich habe wirklich den Eindruck, Kollege Dörflinger, Sie sprechen über Städte, die noch bebaut und gebaut werden müssen, während es doch darum geht, Bestand zu erhalten und Bestand zu sichern. Das ist der eine Punkt des Baurechts.
Der zweite Punkt: Es geht heute im Kern um die Bindung und die Freiheit, die wir einzelnen auferlegen und gewähren gegenüber dem einzelnen in einer Stadt und gegenüber der Allgemeinheit. Wenn Sie nicht begreifen wollen, daß die Bindung an die Freiheit des einzelnen irgendwo eine Grenze hat, dann werden wir nie ein Baurecht bekommen, das die Entwicklung unserer Städte gesellschaftspolitisch, sozial und ökonomisch berücksichtigt.
Damals wie heute ging es um die Zusammenfassung von Gesetzen.1960 ging es um die Zusammenfassung eines zersplitterten Planungsrechts in ein Bundesbaugesetz. Das Grundgesetz, die Grundrechte der Bürger unserer damals 10 Jahre alten Republik, sollte sich auch im Baurecht wiederfinden. Der Gedanke der Demokratie sollte damals prägend sein. Der Gedanke der Verpflichtung von Eigentum und Kapital gegenüber dem Allgemeinwohl sollte mit dem Bundesbaugesetz seinerzeit Praxis und Wirklichkeit werden.Die Demokratisierung des Bau- und Planungsrechts mußte schließlich bis in die Mitte der 70er Jahre warten. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums blieb auf Grund des Parteiengezänks und der Ideologisierung der Bodenfrage in den 70er Jahren in ihren Anfängen stecken. Bis auf ein Gutachten
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Reschkehat der Deutsche Bundestag die steuerrechtlichen Grundfragen vor sich hergeschoben und den Gemeinden neben Planungsrechtsinstrumentarien ein Bodensteuerrecht zur Durchsetzung stadtplanerischer Ziele nie an die Hand gegeben.Jetzt sollen Baurecht und Städtebauförderung ein Gesetz werden. Die Grundfrage stellt sich einfach: Brauchen wir ein neues Planungsrecht? Wenn ja, für wen? Welche Instrumentarien planungsrechtlicher und steuerrechtlicher Art sind sinnvoll?Die Priorität der Stadtpolitik lag in den vergangenen Jahrzehnten verständlicherweise bei der Schaffung sozialer und kultureller Infrastruktur sowie der technischen Infrastruktur für die Arbeitsplätze. Heute muß man feststellen, daß ein „Gemeinde- und Stadtentwicklungsgesetz" künftige Aufgaben und zukünftige Ziele der Kommunalpolitik durchsetzen helfen sollte.Jetzt komme ich zu Ihren Zielvorstellungen, Herr Kollege Dörflinger. Zu Ihren Zielvorstellungen heißt es in Ihrem Entschließungsantrag: Das neue Baugesetz ist auf die neuen städtebaulichen Aufgaben zugeschnitten. Auf welche, möchte ich wissen. Auf die, die die Städte und Gemeinden sich wünschen, die unsere Kommunalpolitiker sehen oder die Sie einmal in Ihren Leitlinien, die Sie uns im Deutschen Bundestag vorlegen wollten, angekündigt haben? Welche Aufgaben liegen vor uns, und wo hilft dieses Gesetz?Ich habe sehr genau die Untersuchung des Deutschen Institutes für Urbanistik, DIfU, gelesen. Dieses Institut hat die Gemeinden befragt, welche Prioritäten und welche Wünsche in der Stadtentwicklung vorliegen und welchen Weg sie ins Jahr 2000 gehen wollen.Priorität Nr. 1 ist die Stadterneuerung, wobei heute Stadterneuerung Stadterhaltung, behutsame Stadtbildpflege sowie den Erhalt vorhandener Strukturen bedeutet. Die Priorität Nr. 1 „Stadterneuerung" heißt doch in der Praxis, Plandurchsetzung und Bestandsschutz als Voraussetzung für Erhaltung und Pflege zu schaffen. Das bedeutet heute aber auch Einsatz von enormen Finanzmitteln.Priorität Nr. 2 war die Wirtschaftsförderung und Gewerbepolitik. Auch dies heißt: Planungsinstrumente bereitstellen, Bodenrechtsfragen lösen, Altlasten erfassen, Einsatz von größeren Finanzmitteln, um Sünden der Gründerzeit in unseren Großstädten zu beseitigen.Umweltschutz und Stadtökologie werden mit zunehmender Gemeinde- und Stadtgröße — je näher einem Ballungsgebiet zugehörig — als Priorität Nr. 3 für zukünftige Aufgaben genannt. Durch diese Aktivitäten wollen die Städte auch am Ende dieses Jahrhunderts noch lebensfähig sein. Das heißt: Vorausschauende Planung zur Vermeidung von Schäden an Umwelt und Ökologie sowie Beseitigung vorhandener Schäden sind Maßnahmen, die stadtökologische und stadtpolitische Ziele verwirklichen. Dies bedeutet auch Einsatz von enormen Mitteln, bedeutet auch, die Bodenverfügbarkeit in unseren Städten stärker zu beachten, und bedeutet auch Besteuerung der Verursacher der Umweltschäden in unseren Städten. Mit größerem Einsatz von Finanzmitteln kann hier in vielen Bereichen geholfen werden.Wohnungsbau einschließlich Eigenheimbau stand an vierter Stelle dieser Untersuchung. Erstaunlich ist die Nennung dieser Priorität bei den Großstädten. Das heißt doch: Es müssen den Gemeinden ein Bodenrechts- und ein Bodensteuerinstrumentarium an die Hand gegeben werden, um die Bedürfnisse — nein, ich will sagen: das Grundrecht — auf Wohnen auch in den eigenen vier Wänden in den Ballungsgebieten ökonomisch und ökologisch zu verwirklichen. Auch hier fehlen klare Aussagen.Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und bessere Verkehrserschließung nennen die Gemeinden gleichrangig mit der Priorität Stadterneuerung. Der Verkehr in unseren Städten ist autogerecht. Er muß endlich stadtgerecht geregelt und geordnet werden. Was brauchen die Gemeinden — der Kollege des Verkehrsausschusses, der Sprecher Ihrer Fraktion für Verkehrsfragen, sitzt hier — dafür? Ein Planungsrecht, Mittel zur Wohnumfeldverbesserung und zur Revitalisierung der Städte, Finanzmittel für Nachinvestitionen an vorhandenen Bundesfernstraßen — in den Großstädten können wir diese in vielen Bereichen „Bundeslärmstraßen" nennen — und eine bessere Durchsetzung ihrer Ziele gegenüber Landes- und Bundesplanungsbehörden.Der letzte Punkt, den ich aus dem Katalog der Gemeindewünsche — und dafür machen wir j a dieses Gesetz — ansprechen wollte, sind die Entsorgung und Versorgung unserer Städte.
Dies steht an sechster Stelle. — Sie wissen offenbar gar nicht Kollege Grünbeck, daß die kommunale Selbstverwaltung als oberstes Verwaltungsorgan Vertreter der Bürger ist. Sie sollten einmal in die Verfassung sehen. — Die Spannweite innerhalb dieser Priorität ist groß. Sie reicht von einer volkswirtschaftlich sinnvollen und ökologisch geprägten Abfallentsorgung und Abfallvermeidung bis hin zu Fragen des Gewässerschutzes. Das heißt: Die Gemeinden brauchen Finanzmittel, um Hinterlassenschaft und Unterlassungen der Vergangenheit anzugehen.Dies alles erfordert in einem Baugesetzbuch: ein Planungsrecht zur Durchsetzung stadtplanerischer Ziele und nicht Investorinteressen; ein Bodenrecht, das auf der einen Seite Verfügbarkeit erbringt, auf der anderen Seite Verantwortung des Eigentümers und des Nutzenden durch Steuern und Abgaben deutlich macht und Ressourcen schützt; erhebliche Finanzmittel auch über 1988 hinaus, um den schon in Milliardenhöhe bestehenden Investitionsstau in Städten und Gemeinden abzubauen.
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18582 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
ReschkeDer Kollege Grünbeck spricht j a mit uns dafür, daß zumindest die Finanzfragen schnell und durchgreifend geordnet werden.
Ich habe nur die wichtigsten Probleme genannt. Ich kann nicht erkennen, wo dieses Gesetz zur Lösung dieser Probleme in den Städten und Gemeinden beitragen kann. Deswegen werden wir auch der Entschließung der Koalition nicht zustimmen.Die Investitionsquote der öffentlichen Hand, besonders bei den Gemeinden, ist in den letzten Jahren schon um mehr als 10 % gesunken. Mit der Streichung der Mittel für den sozialen Wohnungsbau, mit der Streichung der öffentlichen Mittel für die Eigentumsförderung, mit der Streichung und dem Auslaufen der Finanzmittel für Energiesparmaßnahmen, mit dem Auslaufen von Zukunftsinvestitionsprogrammen, z. B. Fernwärmeschiene, und jetzt mit der Streichung der Städtebauförderungsmittel wird die Investitionsquote der Städte und Gemeinden abermals gesenkt.
Die ökologische und soziale Situation in den Städten wird durch diese Regierung ohne Not verschärft.
Wer glaubt Ihnen denn noch, meine Damen und Herren von der Koalition? Bei jeder der genannten Streichungen haben Sie Ersatz angekündigt, so auch jetzt bei der Städtebauförderung.
Der Bund darf sich nicht aus der finanziellen Verantwortung für unsere Städte und Gemeinden stehlen.
Die Streichung der Mischfinanzierung mit diesem Gesetz ist unerträglich und kann — hier zumindest — nicht hingenommen werden. Ich frage Sie: Können Sie einen konkreten Vorschlag als Ersatz dafür abliefern?
Sie liefern den Städten und Gemeinden ein Bundesbaugesetz ab. Sie liefern einen Bauauftrag an einen Bauherrn, der sowieso über kein Geld verfügt. Sie laden den Gemeinden Probleme auf und schieben ihnen Verantwortung zu. Wenn es konkret wird, liefern sie den ungedeckten Scheck hinzu. Der Scheck des Baurechts ist ungedeckt zur finanziellen Unterstützung des ökologischen Stadtumbaus. Der Scheck ist ungedeckt für Straßen- und Gewerbeinfrastrukturrückbau sowie für die Beseitigung von Industriebrachen. Der Scheck ist ungedeckt,denn Sie reden über Altlastensanierung und liefern ein Gesetz ab, das in Zukunft Altlasten präzise erfaßt. Aber die Beseitigung der Blindgänger der Industrialisierung, die in unserem Boden liegen, müssen die Gemeinden im Wege der Ersatzvornahme, wie es so schön heißt, selbst bezahlen. Sie liefern einen ungedeckten Scheck im Bereich der notwendigen Nachinvestitionen zur Pflege und zum Bestand unserer Wohnungen. Welche Städte sollen eigentlich die notwendigen Nachinvestitionen bei den Großsiedlungen der 60er und 70er Jahre betreiben und bezahlen?Die Bodenrechtsfrage und die Bodensteuerfrage als Instrumente der Stadtplanung sind von Ihnen in diesem Gesetz überhaupt nicht angesprochen worden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann den Auftrag des Kabinetts, noch in diesem Jahr den Entwurf des Baugesetzbuches zur Beschlußfassung vorzulegen, nur erfüllen, wenn die Herren Ministerpräsidenten nicht mehr an ihrem Beschluß von Oktober 1984 festhalten, den Abbau der Mischfinanzierung im Bereich der Städtebauförderung und die Verlagerung der entsprechenden Gesetzgebungskompetenzen auf die Länder anzustreben.
Ich frage Sie, Herr Schneider: Warum haben Sie denn eigentlich trotz dieses eindeutigen Briefes geliefert? Ein Baugesetzbuch ohne Finanzierungsteil, was Sie geliefert haben, ist wie ein Bagger ohne Greif arm.
Alle Regelungen, die Gemeindeaktivitäten betreffen, können wir aus Verwaltungsvereinfachungsgründen streichen, wenn neben den Instrumentarien nicht der Topf zur Anwendung, der Topf zur Finanzierung bereitgestellt wird. Am 2. Mai dieses Jahres hat ja Ministerpräsident Strauß die ausstehende Regelung noch einmal angemahnt.
Mit dem Rückzug aus der Städtebauförderung, mit diesem auf einseitige Interessen ausgerichteten Gesetz, haben Sie Ihre „Überflüssigkeitsprüfung" bestanden, Herr Minister. Wie sonst soll ich denn die Entscheidung der CDU-Länder im Bundesrat verstehen, den Wohnungsbauausschuß aufzulösen bzw. ihn zu einem ständigen Unterausschuß des Innenausschusses des Bundesrates zu machen?
Der logische Schritt müßte dann doch eigentlich folgen: Der Wohnungsbauausschuß des Bundestages wird auch ein Unterausschuß des Innenausschusses, und Sie, Herr Minister, werden vielleicht Abtei-
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Reschke
lungsleiter oder Unterabteilungsleiter im Innenministerium.
— Bringen wir ein.
Lassen Sie mich zum Schluß noch eines ansprechen: Mit diesem Gesetzentwurf hat die Bundesregierung und die sie tragende Koalition ein Musterbeispiel an Verfall politischer Sitten und Parlamentskultur geliefert.
In einem Dreivierteljahr mußte ein Parlament ein so wichtiges Gesetz durch die Gremien schleifen. Hier war nur Quantität anstatt Qualität gefragt.
Einige tausend Seiten an Information, Stellungnahmen, gutgemeinte Ratschläge, mühevolle Beratun. gen bei der Anhörung, sinnvolle Vorschläge beim Planspiel der Gemeinden fanden kaum Eingang in dieses Gesetz.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dörflinger?
Bitte schön.
Bitte schön, Herr Dörflinger.
Herr Kollege Reschke, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß die Art und Weise, wie Sie die Arbeit des Ausschusses qualifizieren, ein Stück weit dem Hohn spricht, was alle Berichterstatter und die Kolleginnen und Kollegen in diesem Ausschuß an Arbeit und Überlegungen investiert haben, und daß es eigentlich gut wäre, wenn wir im Interesse der politischen Hygiene auf derart überflüssige Attacken, die völlig neben der Sache liegen, verzichteten?
Herr Kollege, ich spreche die Parlamentskultur an. Es widerspricht einer guten Parlamentskultur, qualitativ gute Gesetze für die Bürger zu schaffen, wenn man abends oder morgens seitenlange Vorlagen bekommt und die noch während der Ausschußsitzungen lesen und verarbeiten, um sie in die Beratungen einzubringen. Es geht nicht um die Leistung der Kolleginnen und Kollegen. Es geht um die Kultur, die sich dieses Parlament mit so einer Beratung leistet.
— Sie gestatten, daß ich zuerst einmal bei dieser Frage weitermache.
Ich glaube, Seiten sind bewegt worden, nach meiner Auffassung oft kaum gelesen worden, weil sie gar nicht mehr verarbeitet werden konnten.
Die Regierung hatte acht Tage Zeit, 20 Gruppen anzuhören, wir hatten acht Stunden, um über tausend Seiten Stellungnahmen von mehr als 40 Experten zu lesen und zu behandeln. Wer sollte dies politisch, inhaltlich noch zu einer Vorlage von Qualität verarbeiten?
Was uns, gut gemeint, abgeliefert wurde, wurde zum Archivmaterial. Mit einem solchen Verfahrensweg verliert ein Parlament seine politische Kultur und ordnet seinen Auftrag Kabinettszielen unter. Trotz aller guten Ratschläge von Wissenschaftlern und Experten hat die Koalition ohne wesentliche qualitative Änderungen den Gesetzentwurf der Regierung zum neuen Baugesetzbuch durch die parlamentarischen Gremien gepeitscht.
Daß die Qualität des Baurechts auf der Strecke geblieben ist, werden wir in den nächsten Jahren durch Reparaturnovellen erleben; sonst entscheiden wieder die Gerichte. Daß die kommunalen Bedürfnisse auf der Strecke bleiben, werden wir in den kommenden Jahren an unseren Städten und ihrem Zustand sehen und deutlich erkennen. Daß die Investitionen für notwendige Aufgaben ausbleiben und schon jetzt nicht mehr in den Stadtkassen sind, ist doch wohl unumstritten.
Das Städtebaurecht der Zukunft muß im Dienst der Bürger stehen, die in den Städten wohnen; es darf nicht im alleinigen Dienst des Investors oder der Wirtschaft stehen.
Ein Städtebaurecht der Zukunft muß Rechtssicherheit für Eigentümer, Mieter, Industrie und Gewerbe beinhalten und Interessen ausgleichen.
— Herr Kollege Möller, es erfüllt nicht die Wünsche aller Bürger. Das Baugesetzbuch erfüllt die Wünsche von 3 bis 5% der Bevölkerung,
die in den nächsten Jahren als Investoren auftreten, zu Lasten von Natur und Landschaft, zu Lasten einer geordneten innerstädtischen Entwicklung und des Umweltschutzes und zu Lasten von über 90% der Bürger, die in unseren Städten leben. Wir Sozialdemokraten lehnen dies ab.
Das Wort hat der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Schlußberatung des Baugesetzbuchs steht am Ende einer 60jährigen Wegstrecke zu einem weitgesteckten Ziel, das
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18584 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Bundesminister Dr. Schneiderwir heute erreichen. Mit dem Baugesetzbuch setzen wir heute den Schlußstein.
Es ist die erste Gesamtkodifikation des deutschen Städtebaurechts.Seit Beginn der Weimarer Republik wurde versucht, das gesamte Städtebaurecht zu kodifizieren. Im Juni 1926 hat das Preußische Staatsministerium erstmals einen Referentenentwurf für ein Städtebaugesetz erarbeitet.
Im November 1931 hat das Reichsarbeitsministerium den Entwurf eines Reichsstädtebaugesetzes vorgelegt. Damals scheiterte das Gesetz an der Uneinigkeit der Parteien und am Widerstand der Länder. Heute unterstützt eine ausreichende Parlamentsmehrheit den Entwurf der Bundesregierung. Er wird auch am Nein der Sozialdemokraten nicht wieder scheitern.
Auch die Länder unterstützen mit ausreichender Mehrheit das Gesetz.Gleichwohl habe ich zu Beginn meiner Rede Anlaß zu danken. Ich danke den Kollegen in den Ausschüssen, allen voran den Kollegen im Bundestagsausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Ich schließe die Kollegen von der Opposition in meinen Dank ausdrücklich ein.
Mein Dank richtet sich besonders an Herrn Kollegen Dr. Franz Möller, den Vorsitzenden des federführenden Ausschusses,
und an die Herren Berichterstatter. Sie haben qualifizierte Gesetzgebungsarbeit geleistet — das gilt auch nach der Rede des Herrn Reschke immer noch — und den zügigen Fortgang der Beratungen durch Eifer und Fleiß ermöglicht.
Die Handschrift des Gesetzgebers wird im Baugesetzbuch sichtbar. Der Gesetzentwurf ist im Parlament ergänzt und, wie ich hinzufügen möchte, auch verbessert worden. Mit Freude und Genugtuung darf ich allerdings feststellen: Der Regierungsentwurf ist in den Beratungen und Anhörungen insgesamt bestätigt worden.Sie, Herr Abgeordneter Conradi, haben durch Ihre Rede deutlich gemacht, daß Sie davon nichts mehr wissen wollen. Ich habe Ihre schlimme Rede aufmerksam angehört; sie hat mich peinlich berührt.Das Gesetz enthält eine Reihe von Bestimmungen, es ist ein Gesetz für die Zukunft, es richtet sich an die Zukunft, es beantwortet die Fragen der Gegenwart aus der Erfahrung der Vergangenheit. Ich füge hinzu: Dieses Gesetz ist mit größter Sorgfalt vorbereitet worden.
Wir haben aufgebaut auf den jahrzehntelangen Erfahrungen mit dem Bundesbaugesetz und dem Städtebauförderungsgesetz. Die Ergebnisse des experimentellen Städtebaus und die Ergebnisse von mehr als 50 Forschungs- und Sachverständigengutachten sowie von zahlreichen Expertengesprächen sind berücksichtigt worden. Im Vordergrund stand für die Bundesregierung dabei die Frage: Wer braucht das Baugesetzbuch, für wen wird das Städtebaurecht neu kodifiziert?Dies ist ein Gesetz für den einzelnen Bürger, der Wünsche an seine Gemeinde hat, also ein Gesetz, das die Rechte und Pflichten der Gemeinden und ihrer Bürger neu bestimmt. Über unsere städtebaulichen Vorstellungen, die im Baugesetzbuch verwirklicht werden, habe ich Parlament und Offentlichkeit wiederholt unterrichtet. Noch zuletzt habe ich mit dem Baulandbericht, mit dem städtebaulichen Bericht „Umwelt und Gewerbe in der Städtebaupolitik" und mit dem Raumordnungsbericht zusammenfassende Darstellungen und politische Bewertungen der künftigen städtebaulichen Entwicklung vorgelegt.Meine Damen und Herren, dem Regierungsentwurf liegt eine umfangreiche und vielfältige Vorarbeit zugrunde. Das Gesetz wird sich daher in unseren Rathäusern und Planungsbüros — dessen bin ich ganz sicher — bewähren. Städte und Gemeinden, die Bürger, die Wirtschaft und die Landwirtschaft warten auf das Baugesetzbuch. Sie warten auf die wichtigen und richtungweisenden Änderungen. Ich nenne Änderungen, die keinen Aufschub erlauben.Umweltschutz: Die Belange der Umweltvorsorge in der Bauleitplanung werden gestärkt. Mit Grund und Boden ist sparsam umzugehen. Das DIFU-Institut, das das Planspiel vorbereitet hat — das ist im Bericht auf Drucksache 10/6166 auf Seite 117 nachzulesen — stellt fest:Über den Regierungsentwurf hinausgehende städtebaurechtliche Vorschriften zur Durchsetzung ökologischer Anforderungen innerhalb der bebauten Bereiche werden ... nicht für erforderlich gehalten.
Denkmalschutz und Bestandspflege: Diese Belange sind in der Bauleitplanung und in der Sanierung besser abgesichert.Strukturwandel von Wirtschaft und Gesellschaft: Ich nenne die Gemengelageproblematik, die Sicherung des Mittelstandes, die Erhaltung der Fremdenverkehrsorte.Zur Rechts- und Verwaltungsvereinfachung: Zahlreiche Vorschriften fallen weg; im Interesse von Bürgern und Gemeinden werden Verfahren vereinfacht.Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18585Bundesminister Dr. SchneiderStärkung der kommunalen Selbstverwaltung: Das Verhältnis zwischen Staat und Gemeinde bei der Bauleitplanung und bei städtebaulichen Satzungen wird neu geregelt und zugunsten der Gemeinden verbessert. Die Bürgerbeteiligung wird in der Bauleitplanung und in der Stadterneuerung gestärkt.Verbessertes Planungsrecht: Die Festsetzungsmöglichkeiten in Bauleitplänen werden erweitert, das Inkrafttreten des Bebauungsplans im Parallelverfahren wird vorgezogen, der einfache Bebauungsplan wird hervorgehoben.Bestandskraft der Bauleitpläne: Unter anderem wird eine Siebenjahresfrist für das Rügen von Abwägungsfehlern eingeführt.Bauen im Innenbereich: Die Innenentwicklung wird gefördert.Bauen im Außenbereich: Die Schutzvorschriften zugunsten des Außenbereichs bleiben ungeschmälert, gerechtere Regelungen bei Ersatzbauten und bei Erweiterungen von Wohngebäuden werden eingeführt.Erschließungsbeitragsrecht: Die Wohnwegeproblematik wird gelöst, die Beitragspflicht für Kinderspielplätze entfällt. Kinderspielplätze werden als Aufgabe des sozialen Gemeinbedarfs betrachtet.Zur Stadterneuerung: Die Sanierungsvorschriften, Bundesbaugesetz, Städtebauförderungsgesetz, Ausgleichsbetragsverordnung und Ordnungsmaßnahmenverordnung, werden zusammengefaßt. Mit anderen Worten: Das Baugesetzbuch enthält alle Regelungen, die in einer Gesamtkodifikation des Städtebaurechts zu regeln sind.Die Beratungen im Deutschen Bundestag haben die Entscheidungen der Bundesregierung bestätigt, die Baunutzungsverordnung nicht in das Baugesetzbuch zu integrieren. Was als Aus- und Durchführungsrecht in einer Verordnung geregelt werden kann, gehört nicht in ein Gesetz.Auch im Verhältnis von Fachplanungsrecht und Städtebaurecht verwirklicht das Baugesetzbuch voll das von mir angestrebte Ziel. Das, was in einem Baugesetzbuch des Bundes zu regeln ist, wird aufgegriffen und verwirklicht. Ich nenne hier vor allem die Neuregelung im Verhältnis von Bauleitplanung zur Landschaftsplanung. Ich habe mich aber sehr frühzeitig und mit Nachdruck dagegen ausgesprochen, alle Regelungsbereiche der Fachplanungen in ein Baugesetzbuch zu verlagern. Dies wäre aus mehreren Gründen falsch:Es würde das Städtebaurecht überfrachten, die Konflikte von Fachplanungen in das Städtebaurecht hineintragen, somit das Städtebaurecht erheblich komplizieren, einen programmierten und laufenden Änderungsbedarf im Städtebaurecht auslösen und insgesamt die Rechtsmittelanfälligkeit von städtebaulichen Planungen und Entscheidungen erhöhen.Worauf es im Städtebaurecht ankommt ist folgendes: Die Bauleitplanung schafft den Ordnungsrahmen für die bauliche Entwicklung. Die Gemeinde definiert die planungs- und entwicklungspolitischenZiele. Die Prärogative für die städtebauliche Entwicklung liegt bei der städtebaulichen Planung der Gemeinde.Wir geben den Gemeinden ein Instrument in die Hand, mit dem alle gegenwärtigen und voraussehbaren städtebaulichen Entwicklungen gelöst werden können. Ein Instrument muß man spielen können. Was das Gesetz in seiner alltäglichen Anwendung wirklich leistet, das liegt in den Städten und Gemeinden am Kommunalpolitiker und an der Kommunalverwaltung, im Landesbereich an den für den Vollzug des Bundesrechts zuständigen Länderbehörden, am Architekten und Planer, am Richter, der für die sachgerechte Auslegung des Gesetzes verantwortlich ist, und vor allem auch am Bürger. Der Bürger wählt den Rat, er wirkt im Rahmen der Bürgerbeteiligung und der öffentlichen Diskussion an der städtebaulichen Entwicklung mit.Die Bundesregierung wird die Städte und Gemeinden bei der Lösung der Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben auch nach Verabschiedung des Baugesetzbuchs weiterhin unterstützen.
Ich begrüße daher den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, das Parlament hierüber in der nächsten Legislaturperiode zu unterrichten.Weiterhin werden wir in der nächsten Legislaturperiode die Verordnungen, in erster Linie die Baunutzungsverordnung, dem neuen Gesetzbuch und den neuen Aufgaben im Städtebau anpassen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu zwölf zentralen politischen Zielen des Gesetzes folgendes feststellen:Zunächst die Innenentwicklung: Unsere Städte und Dörfer entwickeln sich nicht mehr nach außen. Die Umorientierung des Städtebaurechts des Bundes auf die Innenentwicklung ist ein Markstein für die weitere städtebauliche Entwicklung. Die Aufgabe lautet also nicht mehr quantitative Expansion nach außen, sondern qualitative, ökologische, umweltgerechte Stadt- und Dorferneuerung.
Ich habe bereits mit dem Baulandbericht von 1983 dem Umweltschutz Vorrang eingeräumt, ohne den Fehler zu begehen, die freien Marktkräfte zu erstikken.
Meine Politik war und ist: Vorrang der Entwicklung nach innen, keine Gängelung auf den Baulandmärkten, vielmehr eine allgemeine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die für Preisstabilität sorgt.
Der Erfolg gibt dieser Bundesregierung recht: Die Bodenpreise sind stabil. Vorbei ist die Flucht in Sachwerte, die besonders den „kleinen Mann" vom Grundbesitz ausgeschlossen hat. Wer spekuliert hat, den trifft heute die volle Schuld, und er hat auch die volle Verantwortung für seine Spekula-18586 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986Bundesminister Dr. Schneidertionssünden zu tragen. Die Länder, die Städte und Gemeinden haben meine Forderung nach Vorrang der Innenentwicklung aufgegriffen. Es zeichnet sich heute schon ab: Die Außenentwicklung hat ihre Grenzen erreicht, ihren Höhepunkt bereits überschritten.Die Baulandreserven reichen in nahezu allen Bereichen der Bundesrepublik Deutschland aus, der voraussehbaren Wohnungsnachfrage bis in die 90er Jahre hinein zu entsprechen. Wir haben damit auch die voraussehbare Bevölkerungsentwicklung berücksichtigt.Zum Umweltschutz und zur Umweltvorsorge: Ein zentraler Leitgedanke des Baugesetzbuchs ist die Verbesserung von Umweltschutz und Umweltvorsorge, von Landschafts- und Naturschutz. Das Baugesetzbuch stellt einen Durchbruch für Umweltschutz und Umweltvorsorge im Boden- und Planungsrecht dar.
— Niemand kann dies bestreiten. Wer dies bestreitet, betreibt Polemik und keine Politik.Die Grundrichtung des Gesetzes wird zugunsten eines schonenden und pfleglichen Umgangs mit den natürlichen Lebensgrundlagen, vor allem des Bodens, geändert. Das Baugesetzbuch enthält die umfassendste Umweltverträglichkeitsprüfung unseres Rechts.Wir stärken auch die kommunale Selbstverwaltung:
Das Baugesetzbuch stärkt die Planungshoheit, die Verantwortung der Gemeinden für ihre städtebauliche Ordnung und Entwicklung.Eine grundsätzliche Änderung hebe ich besonders hervor: den Ersatz der staatlichen Genehmigung in der Bauleitplanung und bei städtebaulichen Satzungen durch das Anzeigeverfahren für aus Flächennutzungsplänen abgeleitete Bebauungspläne; die Freistellung von zahlreichen Satzungen von der Genehmigungs- und Anzeigepflicht.Auch die Bürgerbeteiligung kommt nicht zu kurz, denn die Bürgerbeteiligung ist Ausdruck demokratischer Mündigkeit und Reife. Deshalb verstärkt das Baugesetzbuch die Bürgerbeteiligung. Ich erwähne die Innenbereichssatzungen und die städtebauliche Sanierung.Ich habe in den letzten Monaten — auch bei den heutigen Beiträgen der Vertreter der Opposition — immer wieder mit großem Erstaunen zur Kenntnis nehmen müssen, daß dem Baugesetzbuch ein „Abbau von Demokratie" vorgeworfen wird. Ein absurder Vorwurf! Wer den Gesetzentwurf kennt und die Wahrheit sagt, wird bestätigen: Die Rechte des einzelnen Bürgers und seine Verantwortung für die Gesellschaft werden erhöht. Bürgermitverantwortung ist zugleich der beste Eigentumsschutz. Aber Bürgerbeteiligung darf nicht für gruppenegoistische Zwecke mißbraucht werden. Die vorgesehenenVerfahrenserleichterungen werden insgesamt die Bürgerbeteiligung beleben und kräftigen.Der Opposition wird es demgegenüber schwerfallen, unserem Volke zu erklären, weshalb sie für den Bürger bedeutsame Erleichterungen für das Bauen ablehnt. Wir vermeiden Vorschriften, die sachlich nicht erforderlich sind, den Bauwilligen aber sinnlos Zeit und Geld kosten.Das ist keine kalte Rücksichtslosigkeit; davon kann keine Rede sein. Wir rechnen mit dem mündigen Bürger, dessen Rechte im Rahmen der Eigentumsfreiheit und Baufreiheit Sie einschränken wollen.Rechts- und Verwaltungsvereinfachung im Städtebaurecht: Alle Vorschriften des geltenden Städtebaurechts sind mit dem Ziel überprüft worden, entbehrliche Vorschriften aufzuheben, städtebauliche Planungen und Maßnahmen zu beschleunigen und bauliche Investitionen zu erleichtern. Das Baugesetzbuch erleichtert und beschleunigt die Rechts-und Verwaltungsverfahren.Schließlich zur Stadterneuerung: Die Übernahme des bisherigen Sonderrechts der Sanierung in das Baugesetzbuch, die damit mögliche Aufhebung des Städtebauförderungsgesetzes, der Ordnungsmaßnahmenverordnung und der Ausgleichsbetragsverordnung — dies allein hätte schon ein Gesetzgebungswerk gerechtfertigt.Mit der Zusammenfassung der Gesetze sind nicht nur zahlreiche Doppelregelungen entfallen, sondern die Aufgaben des Neubaues und der städtebaulichen Erneuerung sind nunmehr in einem Gesetz integriert.Im Baugesetzbuch können selbstverständlich nicht alle Bereiche geregelt werden, die zur Erleichterung des Bauens dringend der Rechts- und Verwaltungsvereinfachung bedürfen. Hier liegt eine große Aufgabe für die Zukunft. Wir werden auch diese Aufgabe meistern.Wir haben die erforderlichen Initiativen ergriffen und können bereits Erfolge aufweisen. Ich nenne die Rechts- und Verwaltungsvereinfachungen in den Bereichen Wohnungsbaurecht, Baunebenrecht und bautechnisches Normenwerk. Die Übernahme des bisherigen Sonderrechts wird auch im Bereich der Rechtsprechung zu allerlei Vorteilen führen.Das Baugesetzbuch — auch das ist neu — ist ein Gesetz für Stadt und Land. Die städtebauliche Erneuerung unserer Dörfer ist eine Aufgabe, deren Bedeutung viele erst heute erkennen. Das Baugesetzbuch wird die städtebauliche Planung und Erneuerung auf dem Dorf, das Bauen im ländlichen Raum erleichtern und verbessern. Die Lebensqualität im ländlichen Raum wird erhöht.Das Gesetz erfüllt den Auftrag der Raumordnung, gesunde und gleichwertige Lebensbedingungen in allen Teilräumen des Bundesgebietes zu schaffen und zu erhalten. Zersiedelung richtet sich gegen alle, gegen Natur und Bauern. Deshalb muß der Außenbereich geschützt bleiben. Aber: Das Land darf nicht veröden. Auch in Zukunft müssen
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18587
Bundesminister Dr. Schneiderin ländlichen Räumen Menschen leben können und leben wollen.
Den Strukturveränderungen zu Lasten des mittelständischen Einzelhandels mit ihren nachteiligen Auswirkungen auf die verbrauchernahe Versorgung der Bevölkerung in Stadt und Land kann in Zukunft auf der Grundlage des Baugesetzbuches wirksam entgegengetreten werden.
Die Gemeinden werden künftig bei der Aufstellung der Bauleitpläne „die Belange der Wirtschaft, auch ihrer mittelständischen Strukturen, im Interesse einer verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung" zu berücksichtigen haben. Eine Ergänzung der Baunutzungsverordnung wird dieses Ziel weiter absichern.Das Baugesetzbuch sichert für Wirtschaft und Gewerbe investitionsfreundliche Rahmenbedingungen. Es ist auch hier auf Interessenausgleich bedacht. Die Erleichterungen des Bauens, verbesserte Möglichkeiten für Investitionen an den Standorten der Betriebe dienen den Interessen der Wirtschaft und damit auch der Arbeitnehmer.Dem Strukturwandel in Kur- und Fremdenverkehrsgemeinden tritt der neue § 22 — darauf haben die Kollegen schon hingewiesen — wirksam entgegen. Ich sehe hierin ein unverzichtbares Instrument, die Attraktivität der Fremdenverkehrsorte erhalten und der Verödung Einhalt bieten zu können. Ich appelliere an die Länder, die erforderlichen Rechtsverordnungen möglichst umgehend zu schaffen.Nun ein Wort zur Mischfinanzierung. Mit dem Baugesetzbuch wird die 1971 geschaffene gesetzliche Grundlage für die Gewährung von Bundesfinanzhilfen im Bereich des Städtebaus aufgehoben. Die Bundesregierung entspricht damit einem Wunsche aller elf Bundesländer, insbesondere dem beharrlichen Begehren des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau.
Es ist ganz und gar unverständlich — um einen milden Ausdruck zu gebrauchen —,
daß nunmehr die Redner der Opposition diesen Punkt in polemischer Weise angreifen. Alle Versuche innerhalb der Fachberatungen, die Mischfinanzierung beizubehalten — es gab dafür gute Gründe; es gibt auch einleuchtende Gründe auf seiten der Länder, die ich anerkenne und respektiere; aus diesem Grunde habe ich auch einen Regierungsentwurf vorgelegt, der den Wünschen der Länder entspricht —, sind fehlgeschlagen. Aber wer auf der einen Seite auf Landesebene kategorisch den Abbau der Mischfinanzierung fordert, dessen Partei darf dann im Deutschen Bundestag auf der anderenSeite nicht das Gegenteil behaupten, es sei denn, er wolle die letzte Glaubwürdigkeit verlieren.
Die Bundesregierung vertraut darauf, daß die Finanzverhandlungen zwischen Bund und Ländern zu dem Ergebnis führen werden, daß die Städtebauförderung in der Verantwortung der Länder im bisherigen Umfang aufrechterhalten werden wird. Die Notwendigkeit einer Förderung im bisherigen Umfang ist nicht zu bestreiten.Ich möchte auf folgendes hinweisen: Als ich vor vier Jahren mein Amt angetreten habe, standen im Bundeshaushalt für solche Zwecke etwa 200 Millionen DM. Heute stehen im Haushalt 1986 und im Haushalt 1987 nicht 200 Millionen DM Bundesmittel, sondern eine ganze Milliarde. Wir haben den Ansatz verfünffacht.
Wer so im Glashaus sitzt, sollte sich größerer Zurückhaltung befleißigen.
Mit der heutigen Verabschiedung des Baugesetzbuchs im Deutschen Bundestag steht die umfassende Reform des Städtebaurechts kurz vor ihrem Abschluß. Das ist keine Stunde
für Polemik und für Gehässigkeit.
Und schon gar nicht sollte die Stunde genutzt werden, eine sachliche Leistung, die im Ausschuß erbracht worden ist, zu zerreden. Wir haben alle ein gleiches Interesse daran, daß dieses Gesetz seine segensreiche Wirkung entfalten kann.
Das Baugesetzbuch ist die umfangreichste Gesetzgebung dieser Legislaturperiode. Die erkennbaren Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben, die sich dem Städtebau stellen, sind aufgegriffen und sachlich geprüft worden, und es ist im Hinblick auf einen Regelungsbedarf im Städtebaurecht politisch entschieden worden. Es ist die seit langem geforderte Gesamtüberprüfung und Gesamtreform des Städtebaurechts. Die Städte und Gemeinden erhalten die notwendigen rechtlichen Eingriffs- und Gestaltungsinstrumente. Länder und Gemeinden werden die Zeit bis zum 1. Juli nächsten Jahres nutzen, sich mit dem neuen Recht vertraut zu machen.Ich vertraue auf die Fähigkeit und Bereitschaft der Gemeinden, daß sie ihre erweiterte Planungshoheit zur Stärkung der gemeindlichen Selbstverwaltung im Interesse aller zu nutzen wissen. Die Bundesregierung wird in ihrem Zuständigkeitsbereich und in Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden alles ihr Mögliche tun, um dem Baugesetzbuch in der praktischen Anwendung zum Erfolg zu verhelfen.
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18588 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Das Wort hat der Abgeordnete Müntefering.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, ich kann mich nicht erinnern, daß ich jemals einen Minister eine so langweilige Rede in so langweiliger Form hätte vorlesen hören in diesem Hause. Dieses ist die Grundeinstellung gewesen, mit der Sie sich diesem Thema gestellt haben. Da ich einen Rest von Respekt gegenüber Ihnen aus der Zeit habe, Herr Minister, da Sie Ausschußvorsitzender waren, kann ich es mir nur so erklären, das Ihnen das, was Sie uns da mitgeteilt haben, aufgeschrieben worden ist.
Aber ich denke, es war wohl die Abschiedsvorstellung, die Sie hier als Bauminister gegeben haben.
Denn alles deutet darauf hin — und Sie reichen Ihre Hand dazu —, daß das große Thema Bauen und Stadtentwicklung aus der Bundespolitik gestrichen wird und im nächsten Jahr bei uns hier nicht mehr vorkommen soll.
Ich kann das alles nicht anders verstehen, wenn ich mir angucke, wie Sie sich beim Zustandekommen dieses Bundesbaugesetzes insgesamt verhalten haben.Ich will noch ein Wort zu der Mischfinanzierung sagen. Wir haben darüber lange genug gesprochen; wir haben offen darüber gesprochen. Wir wissen, daß alle elf Bundesländer für den Abbau der Mischfinanzierung sind. Wenn Sie sich jetzt auf Herrn Rau berufen, dann könnte ich Ihnen noch ein paar Themen sagen, wo Sie ihm auch folgen können: Wir möchten die Novelle zu § 116 AFG weghaben; wir möchten BAföG ändern. Wenn auf einmal Herr Rau der Stimmführer für Ihre Entscheidung ist, sind wir sofort mit dabei. Da können Sie mit uns schnell noch ein paar Sachen hintereinander machen.
: Es geht um Ihre Doppelzüngigkeit!)
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18589
— Herr Kansy, wenn man eingeht, hat das seine Vor- und Nachteile. Mancher wäre stolz, wenn er so nicht in die Geschichte einginge, und das wird an dieser Stelle sicher dem Minister so gehen.Herr Minister, Sie haben hier am 17. Januar in der ersten Lesung Kritierien für ein neues Städtebaurecht aufgezählt, Anforderungen an das Städtebaurecht. Ich habe mir das noch einmal angeschaut. Sie haben gesagt, in dem Gesetz stehe: sparsamer und schonender Umgang mit Grund und Boden. Eben in Ihrem Beitrag haben Sie — sehen Sie noch einmal nach — die Formulierung „ist sparsam und schonend umzugehen" gebraucht. Nun, das steht nicht in dem Gesetz! In dem Gesetz wird nur geflüstert: Es soll ... Als die Sozialdemokraten beantragt haben, daß formuliert wird „ist sparsam umzugehen" — das steht jetzt auch wieder in unserem Änderungsantrag —, haben Sie gesagt: Nein, so genau machen wir es denn doch nicht, und wir schreiben auch nicht hinein, daß man sich auf den Innenbereich konzentrieren soll. Das ist die Meinungsbildung im Ausschuß gewesen, und daran reden Sie jetzt vorbei, als ob wir uns durchgesetzt hätten. Leider Gottes war das nicht der Fall, aber Sie können ja gleich noch mit uns stimmen; der Antrag steht ja gleich zur Abstimmung.Dann sagen Sie am 17. Januar, es seien Vorkehrungen für Bodenschutz und Altlastensanierung getroffen. Was denn für Vorkehrungen? Wir haben gestern einen Antrag der Sozialdemokraten über die Finanzierung der Beseitigung von Altlasten beschlossen. Das wurde abgelehnt. Dann fordern Sie am 17. Januar: Anerkennung der Stadterneuerungsaufgabe als städtebauliche Daueraufgabe. Ich verweise auf die Streichung der Städtebauförderungsmittel. Ab 1988 zahlt der Bund nichts mehr. Dann sprechen Sie von einer Ausschöpfung der Möglichkeiten der Erhaltungssatzung. Als wir Sozialdemokraten gefordert haben, man solle den Gemeinden— den vernünftigen Gemeinden; da sind wir uns einig — ein Instrument an die Hand geben, das es ihnen ermöglicht, Satzungen für Bereiche zu erlassen, in denen Mietwohnungen nicht en masse in Eigentumswohnungen umgewandelt werden können, da dadurch sonst die ganze Sozialstruktur kaputtginge
— wir kennen den Fall; Sie können ruhig das Stichwort geben; ich mache da überhaupt keinen Abstrich, auch dafür wäre es gut —, haben Sie gesagt: Nein. Die Koalition hat das abgelehnt.Ich muß Ihnen sagen, ein ganzes Stück von dem, was Sie am 17. Januar angekündigt haben, ist mit diesem Gesetz weiß Gott nicht realisiert. Das eigentlich Schlimme ist aber — das müssen sich die Wohnungs- und Städtebauer vergegenwärtigen —: Wir haben keine Zeit gehabt oder Sie haben nicht gewollt, daß wir über bestimmte Probleme ausführlich sprechen: Ich nenne das Stichwort Verknüpfung der Bauleitplanung mit der Landschaftsplanung — wir kennen das —, das Problem, daß in den Gemeinden eigentlich nur für den Bereich gedacht wird, wo konkret gebaut werden soll, daß aber das, was von der Landschaftsnutzung her an Notwen-
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18590 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Münteferingdigkeiten an die Gemeinden herankommt, von anderer Stelle geplant wird und daß die notwendige Koordinierung fehlt. Die Frage der Mobilisierung der Industriebrache — auch das hat nicht wirklich zu Konsequenzen in Ihrem Gesetz geführt — oder die Frage der Konsequenzen der demographischen Entwicklung. Wie wird das eigentlich in den Städten und Gemeinden sein, wenn die Bevölkerungsentwicklung so ist, wie sich das darstellt? Wie wird das im Norden sein, wie wird das im Süden sein? Welche Konsequenzen ergeben sich, und welche Instrumente müssen die Gemeinden haben? Wir sind gar nicht dazu gekommen, darüber intensiv zu reden. Vor allem aber haben wir es nicht geschafft, eingehend darüber zu sprechen, wie wir denn an einen behutsamen Umbau in unseren Städten und Gemeinden herankommen mit dem Ziel, Arbeit, Wohnen und Freizeit auch räumlich wieder näher aneinanderzubringen. Es war ein Fehler, daß in den 50er, 60er und 70er Jahren dank Mobilität alles auseinandergedriftet ist. Wir wissen das. Man muß versuchen, das behutsam zusammenzuführen. Das wäre eine Aufgabe für uns gewesen. Wir sind aber gar nicht dazu gekommen, darüber zu sprechen, und wir haben uns im Ausschuß im Grunde in Kleinigkeiten erschöpft, in Vereinfachung, in Entbürokratisierung. Das war nicht das, was man sich als Reform des Städtebaus hätte vorstellen können und was man sich hätte wünschen müssen.Ich will zum Schluß eine Anmerkung zu dem machen, was der Kollege Dörflinger über die Art und Weise der Zusammenarbeit im Ausschuß angesprochen hat. Ich will vorweg noch einen Punkt ansprechen — das wird Sie interessieren, Herr Kollege Grünbeck —, weil es in Ihrem Beitrag einen Punkt gab, in dem ich Ihnen zustimme. Sie haben den Mitarbeitern des Ausschußbüros herzlich die intensive Arbeit gedankt. Das tun die Sozialdemokraten auch.
Ich schließe auch den Ausschußvorsitzenden insofern mit ein, als ich sage: Wir haben uns alle im Ausschuß — Mann und Frau — bemüht, intensiv an der Sache zu arbeiten. Herr Kollege Dörflinger, das bedeutet nicht, daß wir nicht draußen deutlich unsere Meinung sagen. Das ist unser Verständnis von Demokratie. Das hat auch nichts damit zu tun, daß wir hier anders reden würden als im Ausschuß. Wir haben in der Sache diskutiert, wir haben im Ausschuß abgestimmt. Sie haben uns an vielen Stellen überstimmt. Heute sagen wir Ihnen und den vielen Menschen draußen, wie das gelaufen ist. So verstehen wir Demokratie, und so werden wir das auch handhaben.
Sie dürfen nicht glauben, daß wir nach draußen hin nicht sagen, welche Schwächen dieses Gesetz hat, daß wir nach draußen nicht sagen, an wie vielen Punkten Sie uns gehindert haben, zu besseren Ergebnissen zu kommen als zu denen, die hier vorliegen.Was die Planung angeht, so ist ja das Sprichwort vom geplanten und nicht geplanten Unsinn etwas, was man nett gebrauchen kann. Wenn wir auf der grünen Wiese bauen müßten, könnte man sich vorstellen, daß man da ein bißchen toleranter sein könnte. Nachdem wir aber in der Nachriegszeit von 10 Millionen auf ungefähr 26 Millionen Wohnungen gekommen sind und nachdem dieses Land das dichtestbesiedelte ist, das es überhaupt auf der Welt gibt, ist es blanke Illusion zu glauben, man käme ohne eine solide Abwägung und ohne eine solide Planung aus.
Das ist die Wahrheit. Wenn Sie denn uns schon nicht glauben, will ich Ihnen vorlesen, was der stellvertretende Vorsitzende des Bausenats beim Bundesverwaltungsgericht, Herr Schlichter, dazu sagt:Die Revitalisierung der Städte und Gemeinden läßt sich nur durch eine besonders sorgfältige Planung und eine besonders behutsame Genehmigungspraxis erreichen. Es muß deshalb bezweifelt werden, daß das Ziel, das Städtebaurecht den heutigen Anforderungen des Städtebaus anzupassen, nämlich vornehmlich Stadterneuerung und nicht Stadterweiterung zu betreiben, mit dem Entwurf des Baugesetzes erreicht werden kann.Das war beim Entwurf schon fraglich. Beim Gesetz zeigt sich: Es ist nicht erreicht. Tut mir leid, Herr Minister Schneider: Aufgabe nicht erfüllt.
Das Wort hat der Abgeordnete Magin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Müntefering, von Ihnen hätte ich eigentlich etwas mehr erwartet als aus dem Zusammenhang gerissene Quantitätsbetrachtungen, die Sie aufgereiht haben.
Das zeigt doch, daß Sie Sinn und Inhalt dieses Gesetzes — ich will nicht sagen: nicht begriffen haben; das ginge zu weit — partout nicht begreifen wollen.Auch die Art und Weise, in der Sie die Rede des Ministers qualifiziert haben, ist entlarvend.
Sie verwechseln Sachlichkeit mit Langeweile. Die Rede des Ministers war diesem wichtigen Gegenstand, dem Bundesbaugesetzbuch, angemessen.
Er hat sich auf einen sachlichen Beitrag beschränkt, was Sie leider nicht getan haben.
Die heutige Debatte macht deutlich, was die SPD, die Opposition überhaupt von den vielen Rufen hält, die seit vielen Jahren zu hören sind. Sind Sie denn auf allen Ohren taub für die Rufe, die aus der Bürgerschaft, aus dem kommunalen Bereich seit vielen
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18591
MaginJahren an uns gerichtet werden? Wollen wir doch einmal ehrlich sein: Es ist höchste Zeit, daß ein solches Bundesbaugesetzbuch beschlossen wird und zur Verfügung steht.
Haben Sie denn die Wandlungen der letzten Jahrzehnte überhaupt nicht begriffen? Haben Sie wenigstens das Buch von Alexander Mitscherlich über die Unwirtlichkeit unserer Städte gelesen? Haben Sie die vielen Rufe aus den Kommunen gehört?Lieber Herr Müntefering, Sie müßten das eigentlich am besten wissen. Sie haben bisher keine Antwort gegeben.
Das Bundesbaugesetzbuch, das Sie in dieser schnöden Weise herabzusetzen versuchen, gibt Antwort auf wichtige, zentrale Fragen des heutigen Städtebaus, unserer Stadt- und Dorferneuerung.
— Herr Ströbele, Sie haben doch von diesen Dingen gar keine Ahnung. Ich will Sie deswegen nicht schelten.Städtebau braucht langen Atem, Vorausdenken und Behutsamkeit. Deshalb ist es wichtig, rechtzeitig, nicht zu spät die notwendigen rechtlichen Instrumente für eine gewandelte Auffassung zur Hand zu haben. Das Baugesetzbuch, das wir heute verabschieden, ist die konsequente Fortführung unseres Städtebaurechtes, das wir nach dem Krieg in der Bundesrepublik gehabt haben: das Bundesbaugesetz von 1960, das Städtebauförderungsgesetz 1971, die Novelle zum Bundesbaugesetz 1976 und heute, wenn Sie so wollen, die Zusammenführung des Erhaltungs- und Neubaurechtes. Wir meinen, es war an der Zeit, nicht eine auf ein Problem oder auf wenige Probleme gerichtete Novellierung, sondern eine Gesamtüberprüfung des Städtebaurechts, eine Gesamtschau vorzunehmen und die neuen Aufgabenstellungen im Städtebau neu zu definieren, aufeinander abzustimmen und gesetzlich zu fassen. Das geschieht hier.In Blickpunkt steht dabei eine nach innen gerichtete Entwicklung unserer Städte und Dörfer. Das gibt im übrigen Antwort auf viele Fragen, die Sie gestellt haben: 124 ha Landverbrauch jeden Tag oder auch die Frage der demographischen Entwicklung. In dem Zusammenhang wird ja ein ganzes Bündel von Maßnahmen angesprochen. Nicht der Bau neuer Siedlungen und Ortsteile steht im Mittelpunkt, sondern die bessere Nutzung der bereits besiedelten Fläche, die bessere Nutzung der vorhandenen Bausubstanz. Deswegen sind die neuen Herausforderungen zunächst Stadterhaltung, Stadterneuerung, aber auch — das muß man im Zusammenhang sehen — Umweltvorsorge und Bodenschutz. Dazu gehören für uns eine wirksame Stadtökologie durch Begrünung und sinnvolle Verkehrsführungen, der Schutz der historischen und denkmalwerten Gebäude, Ensembles und Plätze, die eigentlich die Identität einer Stadt ausmachen, aber auch die anmutige und liebenswerte Gestaltung unserer Städte nach innen, also alles in allem: eine von den Menschen gewünschte und gestaltete freundliche, lebendige Umwelt, in der sie sich wohlfühlen, in der sie sich geborgen und daheim fühlen können und die ihnen im wahrsten Sinne des Wortes auch zur engeren Heimat wird.Meine Damen und Herren, seit Jahren wächst — ich habe das vorhin schon gesagt — die Sensibilität für diese neuen Aufgaben im Städtebaurecht ständig. Diese Aufgaben sind nicht weniger wichtig als die hinter uns liegenden. Deswegen spielt sicherlich, Herr Kollege Müntefering, die Städtebauförderung eine zentrale Rolle.Aber ich muß noch einmal unterstreichen, was hier wiederholt gesagt wurde. In einem Quasi-RütliSchwur haben die Ministerpräsidenten gleich dreimal auf ihren Ministerpräsidentenkonferenzen beschlossen: Entmischung. Das geschah mit dem Hinweis: Wir können das vor Ort viel gelenkiger, viel besser machen. Das war mit der Versicherung verbunden, daß sie dafür die entsprechenden Mittel bereitstellen werden.
— Lieber Herr Müntefering, hören Sie bitte bis zum Ende zu. Dann sage ich Ihnen dazu etwas.Damals ist man noch von 280 Millionen DM ausgegangen. Meine Damen und Herren, wenn der Streit darum geht, ist das Problem eigentlich erledigt. Aber wir gehen doch davon aus, daß diese wichtige Zukunftsförderung, daß diese Zukunftsaufgabe in unseren Städten und Gemeinden aufgenommen wird und daß das nicht nur eine Sache des Bundes, sondern — wie in vielen Bereichen geschehen — auch der Länder bleibt. Das ist eine langfristige Aufgabe, die mehrfach wichtig ist, vom wirtschaftlichen bis zum ökologischen Bereich. Deswegen müssen sich Gemeinden, Städte und Länder der Sache besonders annehmen, nachdem sie wollten, daß sie die Aufgabe übernehmen.Ich verstehe es nicht, daß Sie die Aussagen eines Verfassungsorgans nicht ernst genug nehmen, vor allen Dingen auch dann — ich darf es wiederholen —, wenn Herr Rau daran mitgewirkt hat. Wenn Sie schon jetzt seine Fahne verlassen, was machen Sie denn erst nach dem 25. Januar?
— Darüber können Sie schon jetzt lachen.Es sind nicht weniger bedeutende Bauaufgaben, die nun auf uns zukommen, sondern es sind in erster Linie andere Bauaufgaben. Das bedeutet nicht, wie Sie gesagt haben, ein Weniger an Städtebau, sondern das bedeutet einen anderen Städtebau. Unsere Bürger, Gemeinderäte und Gemeindeverwaltungen brauchen dazu anders ausgerichtete rechtliche Instrumente, die dieses Baugesetzbuch nun zusammenbündelt.
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18592 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
MaginSie, meine Damen und Herren von der SPD, haben gesagt, man hätte sich viel Zeit lassen sollen. Die Gemeinden brauchen das Instrumentarium aber jetzt; es ist höchste Zeit. Andernfalls würden gerade auf dem Sektor Städtebau hoffnungsvolle Chancen vertan.Diese Instrumente müssen auch flexibler und gezielter einsetzbar sein, entsprechend den vielfältigen und örtlich sehr unterschiedlichen Situationen in der Bundesrepublik. Das Baugesetzbuch vollzieht genau diesen Schritt: behutsam, ohne Systembrüche, auf Bewährtem aufbauend, aber doch mit deutlich neuen Akzenten.Meine Damen und Herren, neue rechtliche Instrumente wirken nicht von heute auf morgen. Gerade deswegen müssen wir vorausschauend handeln. Sie brauchen ihre Zeit, bis sie sichtbar zum Tragen kommen. So hat es z. B. Jahre gebraucht, bis sich erste Gemeinden an die 1976 eingeführte Erhaltungssatzung herangewagt haben. Es hat weiter Jahre gebraucht, bis erste sichtbare Zeugnisse auch anderen Gemeinden Mut gemacht haben, sich dieses Instruments zu bedienen. Heute ist die Erhaltungssatzung ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil des modernen Städtebaus, dessen sich alle bedienen, die damit umzugehen haben.Wer daher die Weichen für den Städtebau an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend stellen will, muß handeln, muß heute handeln. Das wird mit diesem Baugesetzbuch getan.Meine Damen und Herren, dieses Bundesbaugesetzbuch bringt wesentliche Neuerungen gerade zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung. Die Gestaltung unserer Städte und Dörfer ist in erster Linie Aufgabe der Bürger und der von ihnen gewählten Räte und gemeindlichen Verwaltungen. Diese kommunalen Selbstverwaltungen zu stärken ist ein wesentliches Anliegen des Gesetzes. Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung heißt auch: Stärkung der Rechte des Bürgers.
— Ich weiß: Das wollen Sie negieren. Sie stellen sich irgendwie ein priesterliches Gremium vor, das den Leuten erklärt, was richtig ist, und die anderen, die nahe dabei sind, haben gar nichts zu sagen. Das ist Ihre Auffassung.
Überlegen Sie einmal, ob Ihre Haltung nicht eher reaktionär als fortschrittlich ist.
Dennoch ist die Sache eigentlich sehr alt. Freiherr vom Stein, den wir den Vater der Selbstverwaltung nennen, hat j a den Kernsatz geprägt: Die Kenntnis der Örtlichkeit ist die Seele des Dienstes. Was will er damit sagen? Die kommunale Wirklichkeit ist denen, die dort ihren Lebensmittelpunkt haben, die also Bürger oder Vertreter der Bürger in den Gemeinderäten, in den Stadtverwaltungen sind, am besten bekannt.Das ist ja auch der tiefere Grund, warum die Planungshoheit bei den Gemeinden liegt. Dieser Planungshoheit in verantwortlicher Weise und zeitgerecht gerecht zu werden, das ist ein Anliegen dieses Bundesbaugesetzbuches. Es gibt unseren Gemeinden in wesentlichen Fragen die ungeteilte Verantwortung, um selbstverantwortlich zu handeln. Man kann selbstverantwortlich nur handeln, wenn der andere nicht dauernd hineinregiert, wenn man eine ungeteilte Verantwortung hat.Erstmals wird für die meisten städtebaurechtlichen Satzungen der Gemeinde die Genehmigung durch die höhere Verwaltungsbehörde durch das Anzeigeverfahren ersetzt. Meine Damen und Herren, das ist ein ganz wichtiger Schritt. Das gilt für Bebauungspläne, die auf der Grundlage von Flächennutzungsplänen erstellt sind, d. h., da es heute Flächennutzungspläne fast überall in der Bundesrepublik gibt, für nahezu alle Bebauungspläne. Man muß einmal überlegen, was das im einzelnen ausmacht. Das gilt für Satzungen zur Sicherung von Gebieten mit Fremdenverkehrsfunktion und für Sanierungssatzungen. Diese Satzungen müssen künftig nur noch der höheren Verwaltungsbehörde angezeigt werden.Auf Antrag der CDU/CSU-Fraktion, wird auf das Genehmigungs- und Anzeigeverfahren bei den folgenden kleinen Satzungen verzichtet: bei Veränderungssperren, bei Vorkaufsrechtssatzungen und bei Erhaltungssatzungen. Meine Damen und Herren, wir geben den Gemeinden hier zu Recht mehr Verantwortung. Denn die durch die Verwaltungsreform gewachsene Verwaltungskraft rechtfertigt die Übertragung dieser verantwortlichen Aufgabe. Wir sind auch davon überzeugt, daß unsere Städte und Gemeinden dieses Vertrauen rechtfertigen werden. Deshalb ist es für uns völlig unverständlich — dazu haben Sie eigentlich heute gar nichts gesagt —, daß die SPD in diesem wesentlichen Punkt den Gemeinden ihre Unterstützung versagt.Auf Vorschlag der kommunalen Spitzenverbände hat der Ausschuß auch die Stellung der Gemeinden gegenüber öffentlichen Fachplanungsträgern gestärkt.
— Herr Schmitt, hören Sie einmal zu. Diese staatlichen Stellen dürfen von einem vorhandenen Flächennutzungsplan nur abweichen, wenn sie Belange geltend machen können, die in ihrer Bedeutung wichtiger sind als die im Flächennutzungsplan festgelegten Vorstellungen der Gemeinden. Ich meine, auch das ist ein wichtiger Schritt, gerade um das Ganze flexibler und gelenkiger zu machen.Nun, meine Damen und Herren, zur Beteiligung der Bürger bei Planungen der Gemeinden. Es wird j a hier behauptet, die Bürgerbeteiligung werde ausgehöhlt. Die Beteiligung der Bürger an den städtebaulichen Planungen der Gemeinde wird künftig sogar lebendiger gestaltet. Lesen Sie doch einmal das, was im Gesetz steht und was wie ein roter Faden das Gesetz durchwirkt. Sie wird künftig le-
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Maginbendiger gestaltet werden können. Auch in diesem Punkt erhalten die Gemeinden — das ist wichtig — die ungeteilte Verantwortung. Denn die Gemeinderäte entscheiden künftig selbst, wann und wie oft sie bei der Aufstellung der Bauleitpläne die Entscheidung an sich ziehen. Der Ablauf wird dadurch geschmeidiger gehandhabt werden können, und die Gemeindevertretung selbst kann abwägen und gewichten. Sie trägt auch die Verantwortung. Sie ist gegenüber dem Bürger wie auf der anderen Seite natürlich auch gegenüber der Genehmigungsbehörde verantwortlich. In den allermeisten Fällen — das können wir doch heute schon sagen, meine Damen und Herren —, wird es zu Zeitersparnissen führen. Dadurch kann der Bürger früher zu seiner Baugenehmigung kommen.Die Räte haben künftig auch die Aufgabe, das Verfahren der Bürgerbeteiligung entsprechend den örtlichen Vorstellungen und den örtlichen Verhältnissen auszugestalten. Auch das ist ein wichtiger positiver Schritt.Zur Bürgerbeteiligung und Baugenehmigung hat mein Kollege Dörflinger ja schon entsprechend Stellung genommen. Das kann ich mir hier ersparen. Aber hier zeigt sich ebenfalls eine Stärkung der Gemeinde, auch ein Abbau von Schwierigkeiten und Hürden und damit eine beweglichere und flexiblere Situation nach diesem Gesetz.Nun, meine Damen und Herren, zur Planung. Insbesondere Sie, Herr Conradi, haben heute wieder renitent — das tun Sie die ganze Zeit — die Behauptung vorgetragen, das Baugesetzbuch baue Planungen ab. Dadurch, daß Sie das immer wieder vortragen, wird die Aussage nicht glaubwürdig. Die Planung wird erleichtert — hier verwechseln Sie etwas! —, und das wollen wir doch alle, nehme ich an. Das Bauleitplanverfahren wird z. B. durch die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung erleichtert, z. B. durch das Anzeigeverfahren.
— Welche Bürokratie? Was verstehen Sie denn unter Bürokratie?
— Sie wollen doch nicht sagen, daß es in der Gemeinde Bürokratie gibt. In der Gemeinde sitzen doch nicht Parlament und Verwaltung gegenüber. Das ist doch eine Verwaltung! Das sind doch Verwaltungsangelegenheiten! Der Gemeinderat kann alles an sich ziehen. Er ist dem Bürger verantwortlich. Er ist dem Bürger am nächsten, Herr Conradi. An ihn kann sich der Bürger halten, nicht an eine ferne, für ihn völlig anonyme Genehmigungsbehörde.
Ein weiterer Punkt. Planung wird dadurch erleichtert, daß die Bauleitpläne eine bessere und stärkere Bestandskraft haben werden. Ich wiederhole den Satz: Dieses Gesetz baut nicht Planung ab, sondern erleichtert Planung.Der Stärkung der kommunalen Planungsverantwortung dient auch der erstmals in das Bundesrecht aufgenommene städtebauliche Rahmenplan. Auch das ist ein Bekenntnis zur Planung, aber in einer flexiblen und nicht verrechtlichten Weise.Meine Damen und Herren, eine Bemerkung zum Stichwort „Bauen wird erleichtert". Herr Conradi, Sie haben beliebt, sich darüber lustig zu machen. Wir sind uns darüber im klaren, Bauen wird weiterhin komplizierte Sachverhalte haben. Auf komplizierte Sachverhalte gibt es keine einfachen Antworten. Das wissen wir alle. Wer gedacht hat, er könne beim Bauen machen, was er will, liegt falsch. So etwas wird es künftig nicht geben. Aber das neue Baugesetzbuch — das ist doch eindeutig — sieht auch sinnvolle Erleichterungen des Bauens vor. Entgegen Ihren Behauptungen, meine Herren von der SPD, sind die Vorschriften so gefaßt, daß die geordnete städtebauliche Entwicklung voll gewahrt bleibt. Die Gemeinde hat in jedem Fall das letzte Wort. In allen Fällen muß die Gemeinde — und Gemeinde heißt immer: Gemeindeverwaltung und Gemeinderäte — ihr Einvernehmen erteilen. Die neuen Vorschriften dienen also unmittelbar dem bauwilligen Bürger. Sie vermeiden langwierige Planungsverfahren, die in der Sache auch nicht mehr bringen als die Entscheidung im Genehmigungsverfahren.Ein Beispiel dazu: Ein Bürger, der mit Zustimmung der Gemeinde in städtebaulich vertretbarer Weise von einem Bebauungsplan geringfügig abweichen will, braucht in zahlreichen Fällen künftig nicht mehr ein viele Monate dauerndes und für ihn auch mit finanziellen Nachteilen verbundenes Plan-änderungsverfahren abzuwarten, sondern das kann heute hier sehr flexibel eingefügt werden.Auch was die Verbesserung im Umweltschutz betrifft, gibt es eindeutige Fortschritte. Die Grundlagen zugunsten einer Verbesserung der ökologischen Verhältnisse in unseren Städten und Dörfern werden in wichtigen Bereichen erweitert. Beispielhaft ist hier hervorzuheben, daß die Gemeinden — das ist von Ihnen vorhin etwas bestritten worden — verpflichtet werden, mit Grund und Boden sparsam und schonend umzugehen, und diese Aufgabe ebenfalls eigenverantwortlich wahrzunehmen. Zusätzlich zum bereits geltenden Recht erhalten sie in den Bauleitplänen die Möglichkeit — das haben Sie gar nicht erwähnt —, Flächen für landschaftspflegerische Maßnahmen auszuweisen, die Größe von Wohnbaugrundstücken zu begrenzen und die Bepflanzung der Grundstücke festzulegen.Meine Damen und Herren, das, was die SPD entgegen der Auffassungen der kommunalen Spitzenverbände noch an weiteren Reglementierungen an diesem Punkt fordert, würde allerdings zu erheblichen Erschwernissen der Planprozesse führen. Es würde sogar in vielen Fällen Planung überhaupt nicht mehr machbar machen. Das kann doch nicht der Sinn eines Baugesetzbuches im Jahre 1986 sein.Der Ausschuß hat vernünftigerweise mit Ausnahme der Fraktion DIE GRÜNEN und in Übereinstimmung mit den kommunalen Spitzenverbänden bewußt davon abgesehen, eine besondere Umweltverträglichkeitsprüfung zu fordern. Die Umweltver-18594 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986Maginträglichkeitsprüfung ist integraler Bestandteil des Verfahrens zur Aufstellung der Bauleitpläne.
— Lieber Herr Conradi, dadurch werden zusätzliche Verfahrenserschwernisse vermieden. Alle Belange werden schon aufeinander bezogen; die Umweltverträglichkeitsprüfung ist integriert. Die Aufgaben der Gemeinden bleiben auch in diesem Bereich voll erhalten. Denn alles, was geschieht, geschieht in der kritischen Betrachtung und der kritischen Begleitung der Bürger. Es ist doch nicht so, daß das fernab am grünen Tisch entschieden wird. In einer Gemeinde können doch an jedem Stammtisch und an jeder Ecke der Gemeindevertreter und der Bürgermeister zur Verantwortung gezogen und zur Rede gestellt werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi?
Ja, bitte!
Herr Kollege Magin, wenn die Umweltverträglichkeitsprüfung in die Planung integriert ist, warum wehren Sie sich dann so erbittert dagegen, daß über die Ergebnisse dieser Prüfung nachher der Öffentlichkeit berichtet wird, wie der Bundesrat das vorschlägt?
Also, Herr Conradi, ich sehe überhaupt keinen Grund, daß da nicht berichtet wird. Es wird über alles berichtet, was sich im Planungsgeschehen abspielt. In vielen Sitzungen wird das ja öffentlich gemacht, auch im Rahmen der Bürgerbeteiligung. Ich wiederhole: Die Bürger in den Gemeinderäten, die ja Bürger unter Bürgern sind — das müssen wir einmal sehen; die sind ja nicht fernab —, müssen doch über alles Rechenschaft geben. Fragen Sie einmal, wenn Sie das nicht wissen, Ihre Kommunalpolitiker, insbesondere die Kommunalpolitiker auch in den großen Städten, weil man meint, das sei so anonym, dort gehe das nicht.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müntefering?
Ja, bitte.
Darf ich Ihre Einlassung so verstehen, daß Sie unserem Antrag zustimmen, in dem wir das noch einmal ausdrücklich fordern?
Lieber Herr Müntefering, wir halten es gar nicht für nötig, Ihrem Antrag zuzustimmen. Da können wir auch weiße Salbe ins Gesicht schmieren; das ist doch drin.
Meine Damen und Herren, was die Verwaltungsvereinfachung angeht, so haben Sie gesagt, da sei nichts passiert. Nun, was bringt denn das neue Baugesetzbuch? Das Baugesetzbuch stärkt nicht nur die kommunale Selbstverwaltung, sondern es entlastet die Gemeindeverwaltung auch von unnötiger Bürokratie und übertriebenem Planungsaufwand. Dafür gibt es eine Menge von Beispielen; es ließe sich eine ganze Liste von Punkten anführen. Es gibt aber künftig — das können wir sagen — kein Entweder-Oder mehr. Die Alternative heißt nicht mehr: hie qualifizierter Bebauungsplan oder gar keine Planung, sondern es gibt Zwischenformeln, die dem Baugeschehen heute, gerichtet auf eine behutsame Stadtentwicklung, genau entgegenkommen. Bei diesen Zwischenformeln steht der Verwaltungsaufwand in einem vernünftigen Verhältnis zu den städtebaulichen Aufgaben.
Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt wäre noch zu nennen: die Kaufverträge über Wohnungseigentum. Mit diesem Gesetz schaffen wir das Negativtestat, diesen Unfug, ab, der die Gemeindeverwaltung und auch die Notare viel Zeit und unnötigen Aufwand kostet.
Und was die Umlegung angeht, so gibt es auch hier Vereinfachungen. Die Umlegung ist künftig auch noch in Gebieten mit einfachem Bebauungsplan möglich.
Die Rechtssicherheit wird erhöht; darauf ist bereits Bezug genommen worden. Eine schnelle Klärung rechtsgrundsätzlicher Fragen ist durch die Einführung einer Beschwerdemöglichkeit an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren möglich.
Auch zur Sicherung der Fremdenverkehrsorte, meine Damen und Herren, ist einiges gesagt worden. Das alles sind Dinge, die für die Gemeinden wichtig sind und die, meine Damen und Herren, seit vielen Jahren dringend der Lösung harren. Das, was Sie da heute geboten haben, bedeutet, daß Sie unseren Gemeinden und damit den Bürgern Steine statt Brot geben. Wir müssen ihnen jetzt Antwort auf die Fragen geben, die im Jahre 1986 gestellt werden, die gegenwärtig wichtig sind, aber auch in die Zukunft hinein eine positive Gestaltung ermöglichen.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Gut, vielen Dank. — Meine Damen und Herren, daß wir dem Gesetz zustimmen, habe ich schon erklärt.
Das Wort hat der Abgeordnete Grünbeck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr froh, daß mir noch Zeit bleibt, einige Dinge zu korrigieren, die sich da aufstauen.
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GrünbeckDer Kollege Magin hat in seinem Schlußwort darauf hingewiesen, daß Sie, Herr Müntefering, hier angekündigt haben, daß Sie durch die Lande ziehen und dieses Baugesetzbuch, das j a für den Bürger gemacht wurde, sozusagen zerreden, wenn nicht sogar noch etwas Schlimmeres veranstalten werden.
Ich habe mir Ihre Beiträge heute sehr aufmerksam angehört. Es war im Grunde genommen eine rot-grüne Schelte für alle Investoren. Ich frage mich nur: Mit wem wollen Sie eigentlich bauen, wenn Sie keine Investoren mehr haben? Erst locken Sie die Investoren mit allen möglichen Mitteln in Ihre Gemeinden und in Ihre Landkreise, und dann, wenn sie da sind, verprügeln Sie sie und verordnen ihnen dauernd höhere Steuern und immer höhere Auflagen.
Das ist eine rot-grüne Investitionspolitik, die ich natürlich nicht gutheißen kann.
— Reden Sie Ihren Unsinn draußen ruhig weiter, wir werden Ihnen schon heftig widersprechen.Ich will dann noch einmal etwas zu Ihrem berechtigten Anspruch auf eine seriöse, rechtzeitige Bereitstellung von finanziellen Mitteln sagen. Ich frage mich nur, wie ernst Sie das mit Ihren Städtebauförderungsmitteln meinen. Es wäre gut, wenn Sie Ihre Rede von heute freundlicherweise Ihrem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten schicken wollten, sozusagen als Mißtrauenserklärung an die Adresse der Länder; das war nämlich Ihr Beitrag, Herr Müntefering, zum Städtebauförderungsgesetz.Ich bin der Meinung, der Bundesbauminister hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, was das Fundament unserer künftigen Finanzierung und unserer künftigen Investitionspolitik ist, nämlich die Haushaltspolitik der Bundesregierung und damit eine Stabilitätspolitik fortzusetzen, die eine Niedrigstzinspolitik zur Folge hat. Die Niedrigstzinspolitik ist sowohl eine investitionsfreundliche als auch eine bürgerfreundliche Politik. Daran wollen wir festhalten.Dann muß ich über Ihre Philosophie mit den Altlasten staunen. Ich habe manchmal den Eindruck, daß die SPD alles, aber auch alles Gute aus der sozial-liberalen Koalition vergessen hat.
Wir waren damals doch diejenigen, die gemeinsam das Verursacherprinzip festgelegt haben. Nun wollen Sie sich auch noch aus dem Verursacherprinzip verabschieden und die Altlasten in einen Fonds verlagern. Wenn ich schon das Stichwort Fonds höre, denke ich immer an nichts Gutes. Das ist die Politik, die kollektive Verantwortung in den Fonds zu verlagern, statt sie da zu behalten, wo sie hingehört, nämlich bei den Verursachern. Wir werden daran festhalten, daß in der Umweltpolitik — dazu gehören die Altlasten — von diesem Verursacherprinzip nicht abgegangen wird.
Lassen Sie mich im übrigen noch einmal eines erklären. Was mich wundert, ist, daß Sie im Grunde genommen die Umweltpolitik in der Bundesrepublik, wann immer Sie Gelegenheit haben, in den Dreck ziehen, obwohl Sie selbst maßgebende und gute Beiträge zur Entwicklung der Umweltpolitik geleistet haben. Warum bringen Sie eigentlich Ihre eigenen Leistungen um den Erfolg der Anerkennung? Es gibt kein Land auf dieser Welt, das Gesetze hat, die so mustergültig wie unsere Umweltgesetze sind, wenn ich nur einmal an das Abfallbeseitigungsgesetz oder an das Abwasserabgabengesetz denke.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reschke?
Frau Präsidentin, wenn Sie mir dies nicht anrechnen.
Mache ich. Ich halte die Uhr schon an.
Ich würde aber gerne diesen Gedanken zu Ende bringen. Dann lasse ich Herrn Reschke ans Mikrophon.
Ich will nur noch einmal betonen: Es gibt nach internationalen Wertmaßstäben kein einziges Land auf der Welt, das in der Umwelttechnologie insgesamt so weit fortgeschritten ist wie wir. Warum bemühen Sie sich eigentlich, dieser Erfolge der Bundesrepublik Deutschland — sowohl aus der Wissenschaft als auch aus der Forschung, als auch aus der Wirtschaft — zu zerreden, nur weil es Ihnen nicht paßt, daß es im Moment noch weiterhin dynamische Erfolge gibt?
So, bitte.
Herr Kollege Grünbeck, sind Sie bereit, anzuerkennen, daß den Gemeinden ein Verursacherprinzip nichts nützt, wo auf Grund der Rechtsnachfolge kein Verursacher mehr zu finden ist — das ist der eine Punkt —, und sind Sie — das ist der zweite Punkt — bereit, anzuerkennen, daß die Gemeinden jetzt Hilfe brauchen, weil sie im Wege der Ersatzvornahme verpflichtet sind, heute sofort bei Gefahr im Verzug Mittel bereitzustellen, um Altlasten zu beseitigen?
Herr Kollege Reschke, ich habe gestern im Ausschuß erklärt, daß ich in dem ersten Punkt mit Ihnen einig bin. Wenn der Bund im militärischen Bereich Altlasten hinterlassen hat, entspricht das genau meinen Ausführungen, daß nämlich der Bund nach dem Verursacherprinzip für die Beseitigung zuständig ist.
Aber in dem zweiten Punkt bin ich mit Ihnen nicht einig, denn Sie schreien nach dem Bund als
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Grünbeck
Finanzbegleiter für kommunale Maßnahmen, weichen von dem Verursacherprinzip ab und gehen in die Gefahr der Bereitstellung zusätzlicher Mittel, die nicht vorhanden sind und die über neue Schulden beschafft werden müssen; neue Schulden verursachen aber eine inflationäre Entwicklung und höhere Zinsen. Damit tun Sie der gesamten Problematik doch keinen Gefallen. Ich hoffe, daß Sie das endlich einmal begreifen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmitt .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere heutige, mehr als zweistündige Debatte kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Auseinandersetzung um das Bundesbaugesetz — ich sage: leider — im Grunde eine Diskussion unter Experten geblieben ist und daß unsere Bürger, die heute die Schlußabstimmung zur Kenntnis nehmen, nicht wissen und nur wenige ahnen, welche unmittelbaren Auswirkungen diese gesetzlichen Bestimmungen auf das Planen und Bauen in unseren Städten und auf ihre Gemeinden haben, welche unmittelbaren Auswirkungen für ihre Wohnung, für ihr Haus, für ihr Umfeld, für ihre Stadt und Gemeinde daraus erwächst.
Dies liegt nicht an den Medien, die ja in der Diskussion an einigen drastischen Beispielen aufgezeigt haben, welche Gefahren Ihr Gesetz für die künftige Stadtentwicklung bringt und was künftig an Umwelt- und Landschaftszerstörung möglich ist.
Wir leiden darunter, daß Ihr Bauminister 1984 gewissermaßen als Beschäftigungsauftrag für die Koalition die These verbreitet hat, wir brauchen ein neues Baurecht, Entbürokratisierung und „Baufreiheit ist das Panier". Dann wurde ein neues Gesetz zusammengebastelt, das heute — wir hören es nicht mehr — als Jahrhundertwerk verabschiedet werden sollte.
An den Bürgern ist dies alles vorbeigegangen, an den Bürgern, die uns fragen: Wie sichert ihr, daß in Zukunft Fehlplanungen, Fehlentwicklungen verhindert werden? Wie sichert ihr uns Bürgern eine stärkere Beteiligung, daß wir in der Gemeinde nicht nur mitreden, sondern auch mitbestimmen können? Eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit fehlt, in der wir den tiefgreifenden Wandel in Stadt- und Ortsentwicklung deutlich machen, nämlich am Abschluß der Wiederaufbauphase mit all den Problemen, die sie gebracht hat, am Abschied vom Wachstum um jeden Preis, in der Neubesinnung auf Stadterhaltung, Stadtgestaltung und vor allem Umweltschutz als eine der tragenden Aufgaben der Stadt von heute und morgen.Wenn das so gekommen ist, dann lag das am Tempo der Beratungen, in denen Termine vor der Erörterung von Fakten standen. Wenn heute der Bauminister den Glorienschein einer intensiven Beratung vorstellt, dann erinnere ich an die eintägige Anhörung, wo das Fazit der Experten war: wenn schon ein neues Baurecht anstelle des bewährten Baugesetzbuches, dann nehmt euch die Zeit, dann schafft Bedingungen für die Stadt im nächsten Jahrzehnt.
Dies war das übereinstimmende Votum der Sachverständigen.
Das heißt, die Chance, eine breite Diskussion über die Stadt der Zukunft zu führen, wurde von Ihnen vertan.
Wenn Sie immer wieder — wie auch Sie, Herr Magin — die Bürgerbeteiligung beschwören, dann muß man sich an den Gesetzestext halten. Da haben Sie nun einmal den bewährten § 2 a zunächst aufgeben wollen. Es ist den kommunalen Spitzenverbänden und den Vertretern aus der Städtebau-praxis zu verdanken, daß hier jedenfalls gegenüber dem Regierungsentwurf noch einiges verbessert werden konnte,
daß wenigstens Substanz erhalten blieb. Ja, Sie haben unsere Anträge dazu abgelehnt.Eines ist doch auch bei Herrn Grünbeck wieder deutlich geworden. Wer Bürgerbeteiligung nur als ein Planungshemmnis, als ein Erschwernis für Investoren ansieht und nicht bereit ist, für Stadtentwicklung die Chance einer Akzeptanz der Bürger zu nutzen, der muß davon ausgehen, daß sich die Kritiker und Widerstrebenden nicht mehr in den Amtsstuben oder Parlamentsräumen unserer Städte, sondern im Gerichtssaal mit dem auseinandersetzen, was dann in einzelnen Gemeinden beschlossen wurde.
Gerade aus diesem Grunde haben wir Ihre Veränderungen der §§ 34 und 35 im Zusammenhang gebauter Ortsteile, im Außenbereich entschieden abgelehnt und legen dazu ja auch noch mal Anträge vor. Eine Bürgerbeteiligung, die man im Wortsinne ernst nimmt, ist nur dann möglich, wenn systematisch und umfassend geplant wird.
Dies erfolgt nun einmal, meine Damen und Herren,eher in einem Bebauungsplan, für den ganz bestimmte Verfahrensregeln gelten, als in Einzelfall-
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entscheidungen, wo Interessenten entsprechenden Druck ausüben können
und dann das Ihrige in Kommunalverwaltungen und auch — ich sage es — in Kommunalvertretungen erreichen können. Deshalb weisen wir noch einmal mit allem Nachdruck auf die Stärkung der Bürgerbeteiligung hin. Uns geht es hier nicht allein um Information, sondern um Mitbeteiligung und Mitentscheidung.
So muß man auch festhalten: Sie haben unsere Vorschläge zum Sozialplan, der ja im alten Städtebauförderungsgesetz des Jahres 1970 eine ganz entscheidende Rolle spielte, abgelehnt.
— Ihn interessiert das ja auch nicht mehr. Wir wollten den Gemeinden — dieses Problem geht vor allem die Großstädte an — Möglichkeiten geben, den Bürgern, den Mietern ihre Mietwohnungen zu sichern. Wir wollten die Mieter vor Umwandlungen schützen, und dies ist gerade für Stadterhaltung von so großer Bedeutung. Wenn wir dann erfahren, daß die Bundesregierung beabsichtigt, auch die Kündigungsfrist für Eigenbedarf zu reduzieren — gestern wurde es verkündet —, dann zeigt das, wie dringend und notwendig Bestimmungen im Baugesetzbuch sind,
um gewachsene Strukturen, auch Sozialstrukturen, zu erhalten. Aber wieder einmal haben Sie die Mieter bei Stadtplanung und Stadtentwicklung übersehen.
Wenn wir uns um eine stärkere Position des Bürgers in der gemeindlichen Planung, nicht allein am Wirtshaustisch, im Gespräch mit dem Bürgermeister, mit Stadtverordneten, Stadträten usw. bemühen, ihm Rechtsinstrumente geben, damit er mitwirken und mitentscheiden kann, wenn wir das für den einzelnen Bürger fordern,
dann gilt dies auch für die Gemeinden. Da, Herr Magin, haben Sie, wenn ich an den § 37 Abs. 2 und 4 denke, unsere Anträge abgelehnt.
Worum geht es da? Sie erleben es in Ihren Wahlkreisen, Sie erleben es in der Diskussion mit Bürgern, daß im Bereich militärischer Planungen die Ohnmacht, die Machtlosigkeit kommunaler Körperschaften der Bürger immer bedrückender wird;
denn es bleibt so, wie es war, daß für Verteidigungsaufgaben und Landbeschaffung lediglich eine Anhörung der Gemeinden erfolgt. Dann entscheidet der Bundesverteidigungsminister nach Beteiligung der Länder. Wir haben gefordert, daß dann, wenn die Gemeinde widerspricht, sich auch der Minister einmal mit den Argumenten und Widersprüchen der Gemeinde auseinandersetzen muß, ehe er entscheidet,
daß ein Zwang zur Diskussion erfolgt. Wem daran gelegen ist — Herr Magin, ich weiß nicht, warum Sie sich so erregen —, eine Akzeptanz auch dieser schwierigen, problematischen Investitionen in einem so dicht besiedelten Gebiet hier zu erreichen, der müßte unseren Vorschlägen folgen, damit der Bürger nicht immer wieder das Gefühl der Ohnmacht vor der Bürokratie in Bonn erleben muß und letzten Endes nur noch in politischen Protesten eine Lösung finden kann.
— Dann haben Sie wenig Ahnung, Herr Kansy, von dem, was sich in vielen Städten und Gemeinden in diesem Bereich vollzieht.
Für uns ist kommunale Selbstverwaltung auch gleichzeitig Auftrag, dem Bürgerwillen beim Planen und Bauen eine Chance zu geben. Wir meinen, daß wir unseren mündigen Bürgern ein hohes Maß an Selbstbestimmung, an Mitbestimmung, gerade auch in ihrem eigenen Bereich, beim Planen und Bauen geben sollten. Sie sprechen zwar viel von Bürgerbeteiligung, aber wer mit Ihrem Gesetz umzugehen hat, wird erfahren, daß hier weniger herausgekommen ist, als es seit 1976 gab. Trotzdem erwarten wir, daß unsere Städte und Gemeinden im Rahmen ihrer kommunalen Zuständigkeit auch über dieses Gesetz hinaus ein hohes Maß an Bürgerbeteiligung fortführen und entwickeln und auch aus diesem für die Kommunen unzureichenden Gesetz das Beste machen. Denn in der Tat hätten unsere Städte und Gemeinden ein besseres, zukunftsweisendes Baurecht verdient.
Herr Minister, wenn Sie hier auf die Erklärungen des Deutschen Städtetages von heute verweisen, dann haben Sie — es sei Ihnen verziehen — nur auf das hingewiesen, was gewissermaßen als Konsens gemeinsam getragen wurde. Ich zitiere hier — dies ist einer der wesentlichen Punkte auch der heutigen Diskussion —, daß der Deutsche Städtetag u. a. gesagt hat: Es wurden allerdings nicht alle Forderungen des Deutschen Städtetages berücksichtigt.
— Das geht meistens nicht. — Insbesondere ist zu beklagen — das ist ein zentraler Punkt —, daß der Bund die Förderungszuständigkeit für die Zukunftsaufgabe Stadterneuerung aufgegeben hat. Das schreibt Ihnen der Städtetag ins Stammbuch.
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18598 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Schmitt
Sorgen Sie dafür, daß damit 1987 kein Ende ist!
Für uns Sozialdemokraten ist die heutige Abstimmung nicht das Ende eines Prozesses, ein modernes, den Zukunftsaufgaben entsprechendes Baurecht zu schaffen. Wir werden diese Diskussion mit allen Beteiligten fortführen. Dies bleibt für uns eine aktuelle Aufgabe. In dieser aktuellen Aufgabe haben wir Ihnen vier Anträge zur Abstimmung vorgelegt, in denen wir die essentiellen Forderungen zum Baugesetzbuch vortragen. Wir haben Ihnen eine Entschließung vorgelegt. Wenn wir in einer ganzen Reihe von kontroversen Fragen auf Einzelabstimmung verzichten, so bedeutet dies — ich betone das ausdrücklich zu Protokoll — keine Zustimmung zu diesen Punkten. Wir haben im Ausschuß 36 Anträge gestellt, Sie haben lediglich einen akzeptiert.
Daraus kann für uns nur resultieren: Dies ist nicht unser Gesetz.
Dieses Gesetz haben Sie zu verantworten. Wir werden dafür Sorge tragen, daß all das, was heute nicht beantwortet wurde, im Gespräch bleibt, daß wir in Zukunft alle Chancen wahrnehmen, ein besseres Baurecht für unsere Städte und Gemeinden, für unsere Bürger zu schaffen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über Tagesordnungspunkt 2 a, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/4630 in der Ausschußfassung Drucksache 10/6166. Auf den Drucksachen 10/6228 bis 10/6231 liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor, die sich alle auf den Art. 1 beziehen. Es ist mit den Antragstellern geklärt worden, daß wir über diese Änderungsanträge im Ganzen vor Aufruf der Einzelabstimmung abstimmen können. Ich rufe jetzt die einzelnen Änderungsanträge auf.Wer für den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 10/6228 stimmt, den bitte ich die Hand zu heben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Wer für den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 10/6229 stimmt, den bitte ich, die Hand zu heben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Wer für den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 10/6230 stimmt, den bitte ich die Hand zu heben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 10/6231? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Auch dieser Antrag ist abgelehnt.Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Einzelvorschriften, und zwar zuerst zu Art. 1 in der Ausschußfassung. Die Fraktion der SPD verlangt hierzu getrennte Abstimmung.Wir stimmen zuerst über die Nr. 1 bis 13 ab. Wer den aufgerufenen Nummern zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe!— Enthaltungen? —
— Das trifft meistens das ganze Haus.
— Nein, nicht einschließlich des Präsidenten, denn der hat die Unterlagen vor sich liegen. Die anderen Damen und Herren können die Vorlagen wegen der Enge des Raumes ja gar nicht auf dem Schoß transportieren.
— Meine Damen und Herren, die Nr. 1 bis 13 sind angenommen.Wer für die Nr. 14 stimmt, der gebe ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Nr. 14 ist angenommen.Wer für die Nr. 15 der Ausschußfassung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe!— Enthaltungen? — Nr. 15 ist angenommen.Wer für die Nr. 16 bis 33 stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Nummern 16 bis 33 sind angenommen.Wer für die Nummern 34 bis 38 stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit der Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion angenommen.Wer für die Nummern 39 bis 95 stimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe!— Enthaltungen? — Bei Gegenstimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.Wer für Nr. 96 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Nr. 96 ist angenommen.Wer stimmt für die Nummern 97 bis 130? — Gegenprobe! — Bei Gegenstimmen der GRÜNEN angenommen.Damit ist Art. 1 in der Ausschußfassung mit der vom Berichterstatter vorgetragenen Berichtigung angenommen.Ich rufe die Art. 2 bis 5, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung mit der vom Berichterstatter vorgetragenen Berichtigung auf. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen?— Bei einigen Gegenstimmen der GRÜNEN angenommen.Wir treten jetzt in diedritte Beratung
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18599
Vizepräsident Frau Rengerein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU und FDP angenommen.Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/6232. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 10/6252 ab. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Entschließungsantrag ist angenommen.Damit ist diese Gesetzesberatung abgeschlossen.Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt Zusatzpunkt 3 der Tagesordnung auf:Abstimmung nach § 88 Abs. 2 der Geschäftsordnung zum Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Großen Anfrage der Abgeordneten Roth, Dr. Jens, Rapp , Bernrath, Daubertshäuser, Ibrügger, Dr. Klejdzinski, Kretkowski, Dr. Kübler, Müller (Schweinfurt), Oostergetelo, Pfuhl, Ranker, Stahl (Kempen), Dr. Schwenk (Stade), Frau Weyel, Wolfram (Recklinghausen), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Benachteiligung kleiner und mittlerer Unternehmen— Drucksache 10/6164 —Dazu wird keine Debatte erbeten.Das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Roth.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stimmen heute über einen Entschließungsantrag ab, den wir in der vergangenen Woche debattiert haben. Es geht insbesondere um eine steuerstundende Investitionsrücklage für kleinere und mittlere Unternehmen und um eine Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen. Ich stimme diesem Antrag zu, und ich freue mich, daß die SPD-Fraktion geschlossen zustimmen wird,
unabhängig davon, ob jemand stärker dem gewerkschaftlichen Lager verbunden ist oder ob er in unserer Arbeitsgemeinschaft der Selbständigen tätig ist. Das heißt: Auch die Arbeitnehmervertretung in unserer Fraktion ist ausdrücklich für diese steuerpolitische Maßnahme zur Sicherung der Investitionsfähigkeit der kleinen und mittleren Unternehmen.
Meine Damen und Herren, die CSU hat den Bürgern, den kleinen Mittelständlern in ihrem Wahlprogramm für den soeben beendeten Landtagswahlkampf diese steuerstundende Investitionsrücklage versprochen.
Herr Kollege, nicht in eine Sachdebatte eintreten!
Meine Damen und Herren, entgegen unserem Abstimmungsverhalten, entgegen meinem Abstimmungsverhalten muß ich entdecken, daß Kolleginnen und Kollegen, die die steuerstundende Investitionsrücklage seit Jahren in aller Offentlichkeit befürwortet haben, hier im Hause nein zu diesem mittelstandspolitischen Instrument sagen.
Herr Kollege Roth, ich muß noch einmal sagen —
Meine Damen und Herren, ich stimme dieser Vorlage ausdrücklich auch deshalb zu,
weil die große Steuerreform, auf die die kleinen und mittleren Selbständigen nun verwiesen werden, erst in einigen Jahren wirksam wird. Meines Erachtens ist schon heute eine steuerstundende Investitionsrücklage zur Sicherung des Eigenkapitals der kleinen und mittleren Unternehmen und zur nachhaltigen Stärkung ihrer Investitionstätigkeit notwendig. Wir, ich insbesondere, sind der Auffassung, daß diese Vorlage, jetzt realisiert, den mittelständischen Unternehmen helfen und einen Nachteilsausgleich gegenüber den Großunternehmen darstellen würde. Ich bedauere deshalb, daß nach den Erklärungen der Fraktionen diese vernünftige Maßnahme offenkundig keine Mehrheit in diesem Hause finden wird.
Meine Damen und Herren, mir liegt eine schriftliche Erklärung der Abgeordneten Ruf, Hinsken, Landré, Dr. Rose, Wittmann , Zierer, Brunner, Dr. Götzer, Dr. Kunz (Weiden), Fellner, Müller (Wadern), Ganz (St. Wendel), Milz, Jung (Lörrach), Glos, Dr. Götz zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Großen Anfrage der Abgeordneten Roth usw. vor. Sie wird im Protokoll abgedruckt.*)
Wir kommen jetzt zur Abstimmung.
— Verzeihung. Das habe ich als zum nächsten Tagesordnungspunkt gehörig angesehen.Bitte schön, Herr Kollege Hauser, Sie haben zu einer persönlichen Erklärung das Wort.*) Anlage 3
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18600 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Abstimmung über den Antrag der SPD auf Drucksache 10/6164 gebe ich folgende Erklärung ab, der sich auch die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion anschließen:
Diesem Antrag betreffend die Benachteiligung kleiner und mittlerer Unternehmen kann ich nicht zustimmen. Es hat keinen Sinn, wenn der Bundestag die Bundesregierung vier Sitzungswochen vor Ende der Legislaturperiode auffordert, zu wichtigen Komplexen der Steuerpolitik und des Wettbewerbsrechts Gesetzentwürfe vorzulegen. Die in dem SPDAntrag angesprochenen Themen der Steuer- und Wettbewerbspolitik sind für den Mittelstand so wichtig, daß sie nicht zu Wahlkampfzwecken mißbraucht werden dürfen.
— Hoffentlich beruhigen Sie sich bald.
Die Koalition hat in ihrer Steuerpolitik in den zurückliegenden vier Jahren zahlreiche Entlastungen des Mittelstandes durchgesetzt und weitere für die nächste Legislaturperiode angekündigt. Die Steuerpolitik der nächsten Legislaturperiode muß die nach wie vor unzureichende Eigenkapitalausstattung der Unternehmen des Mittelstandes unter Verwendung mittelstandsspezifischer Steuermaßnahmen verbessern.
Die Koalition hat in der Wettbewerbspolitik durch die Novellierung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb bewiesen, daß sie handlungsfähig ist, und sie wird dies auch in der nächsten Legislaturperiode bleiben. Es gilt, dem sich in vielen Branchen vollziehenden Konzentrationsprozeß und dem leistungswidrigen Verdrängungswettbewerb Einhalt zu gebieten. Deshalb muß das Kartellgesetz überprüft werden.
Die von der SPD angeschnittenen Themen stehen ganz unabhängig von deren Antrag auf der politischen Tagesordnung. Aber sie müssen eingebettet werden in Gesamtzusammenhänge und in die Gesamtkonzeption der Fortsetzung unserer Politik der Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft.
Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition haben immer wieder betont, daß es in der Mittelstandspolitik Handlungsbedarf gibt.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben ebenfalls versichert, daß sie die anstehenden Themen der Mittelstandspolitik in der nächsten Legislaturperiode gemeinsam lösen werden.
Schaufensteranträge mit Hilfe ungedeckter Schecks sind kein Lösungsbeitrag.
Auch dies ist ein Teil der Debatte, verehrter Herr Kollege. Ich darf Sie mahnen.
Ich bin auch gleich fertig. —
Die CDU — —
— Ich persönlich
und auch die Kollegen der CDU/CSU lehnen den Antrag der SPD als überflüssig ab,
weil wir ihn als eine Entschuldigung für ihre Versäumnisse in der Mittelstandspolitik in der Vergangenheit empfinden.
Nach § 31 der Geschäftsordnung hat das Wort Herr Abgeordneter Haussmann.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zur Abstimmung erkläre ich: Ich lehne die in dem SPD-Antrag geforderte steuerstundende Investitionsrücklage ab. Ich weiß mich in dieser Haltung einig mit der Bundesregierung, mit dem Bundesfinanzminister,
mit zahlreichen wissenschaftlichen Instituten und Gremien und einer Mehrzahl mittelständischer Verbände.
Ich persönlich setze mich mit Nachdruck für eine durchgehende steuerliche Entlastung mittelständischer Betriebe ein. Notwendig aus meiner Sicht ist eine generelle Steuersenkung, nicht eine bloße Steuerstundung.
Die steuerstundende Investitionsrücklage würde unser Steuerrecht weiter komplizieren. Von dieser Regelung gingen weitere investitionshemmende Einflüsse aus. Hierdurch würden zusätzliche Überwachungs- und Kontrolltätigkeiten erforderlich. Schließlich wäre — das ist ja die Position der SPD — eine steuerstundende Investitionsrücklage ein erster Schritt in eine Richtung, die von der Bundesregierung und der Koalition nachdrücklich abgelehnt wird, die Investitionslenkung.Ich erkläre zur Abstimmung weiter: Was not tut, ist eine gründliche Prüfung der Vorschläge der wirtschaftswissenschaftlichen Institute, die geplante generelle Steuersenkung vorzuziehen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18601
Das Wort zur Abstimmung hat der Abgeordnete Tatge.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich möchte zur Abstimmung folgendes erklären. Wir haben gebeten, eine getrennte Abstimmung durchzuführen.
Punkt 1, die steuerfreie Investitionsrücklage, entspricht nicht der Programmatik, die wir vertreten. Ich lehne diese Forderung ab. Wir glauben, daß, wenn Hilfen gegeben werden, sie gezielt und direkt an Unternehmen gegeben werden sollten, daß man eine Unterscheidung zwischen kleinen und kleinsten Unternehmen und mittleren Unternehmen machen muß. Nach der Definition der sozialdemokratischen Fraktion wäre auch Heckler & Koch ein mittleres Unternehmen und könnte Waffen mit einer steuerfreien Investitionsrücklage finanzieren.
Punkt 2 des SPD-Antrags stimme ich zu. Ich empfehle dies auch meiner Fraktion.
Punkt 3 werde ich ablehnen, was ich auch meiner Fraktion empfehle. Wir glauben nicht, daß die dort geforderten Programme in eine richtige Richtung führen.
Zu Punkt 4 des SPD-Antrags muß ich sagen, daß die Aufnahme freier Berufe in die Ansparförderung eine sinnvolle Maßnahme darstellt. Ich stimme diesem Punkt zu und empfehle dies auch meiner Fraktion.
Meine Damen und Herren, wir kommen nun zur Abstimmung. Die Antragsteller wünschen hierzu getrennte Abstimmung.
Wer stimmt für Ziffer 1 des Entschließungsantrags? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Gegen die Stimmen der SPD abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über Ziffer 2 ab. Wer ihr zustimmen möchte, bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung ist Ziffer 2 ebenfalls abgelehnt.
Wer stimmt für Ziffer 3 des Entschließungsantrags? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen abgelehnt.
Wer stimmt für Ziffer 4? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist Ziffer 4 abgelehnt. Damit ist der Entschließungsantrag der SPD abgelehnt.
Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt den Punkt 3 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung im Jahre 1987
— Drucksache 10/6213 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die gesetzlichen Rentenversicherungen, insbesondere über deren Finanzlage in den künftigen 15 Kalenderjahren, gemäß §§ 1273 und 579 der Reichsversicherungsordnung, § 50 des Angestelltenversicherungsgesetzes und § 71 des Reichsknappschaftsgesetzes
Bericht der Bundesregierung zur Frage einer Anpassung der Einkommensgrenzen bei den Waisenrenten in der Sozialversicherung an volljährige Waisen in Ausbildung
Bericht der Bundesregierung zur Frage der Notwendigkeit einer Anpassung der im Gesetz bestimmten Höhe der Zahlungen der gesetzlichen Rentenversicherung für die Krankenversicherung der Rentner an den durchschnittlichen Beitragssatz der gesetzlichen Krankenversicherung
Gutachten des Sozialbeirats zur Anpassung der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung zum 1. Juli 1987 und zu den Vorausberechnungen der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzlage der Rentenversicherung bis zum Jahre 2000
— Drucksache 10/6074 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Punkte 3 a und 3 b und eine Aussprache von 60 Minuten vorgesehen. Findet das die Zustimmung des Hauses? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Bundesminister Dr. Blüm.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute den Entwurf eines Gesetzes über die Anpassung der Renten und der Geldleistungen in der Unfallversicherung. Ich möchte mich beim Deutschen Bundestag ausdrücklich für die Bereitschaft zu einer zügigen Beratung bedanken.
— Ja, vor allen Dingen zu wenige Sozialdemokraten bei dieser wichtigen Rentendebatte!
Frau Kollegin Fuchs, ich bedanke mich sehr dafür, daß Sie auf diesen Mangel hinweisen.In der Tat, wir stehen in der Pflicht, für eine termingerechte Anpassung zu sorgen, die weder durch Wahlkampf noch durch Wahlen gefährdet werden kann.Die Rentner sind — das läßt sich auch aus Anlaß dieser Debatte sagen — die zweifachen Gewinner unserer Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik: Erstens. Wir haben wieder Aufschwung, wir haben
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18602 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Bundesminister Dr. Blümwieder Wachstum, und die Rentner nehmen daran teil. Zweitens. Die Renten sind wieder sicher. Die Löhne steigen, und die Renten folgen den Löhnen — in kürzerem Abstand als früher, in einjährigem Abstand.Meine Damen und Herren, in diesem Jahr haben wir — das gilt es festzuhalten — die höchste reale Rentensteigerung seit acht Jahren.
Die Inflation ist tot. Gerade vor ein paar Tagen haben ja die wirtschaftswissenschaftlichen Institute noch nachgewiesen, daß wir sogar Preissenkungen haben. Die Rentnergeneration ist eine Generation, die besser als alle anderen weiß, wer bei Inflation der Leidtragende ist. Die Rentner von heute, das sind die Kinder und die jungen Leute aus der Inflationszeit der 20er Jahre, als man für einen Sack voll Geld zwei Brötchen erhielt. Die Rentnergeneration, das sind diejenigen, die das Erlebnis der Währungsreform hatten. Inflation ist immer das Ergebnis politischer Hochstapelei: mehr ausgeben, als man einnimmt.
Wir haben die höchste Preisstabilität seit 1953.
Das ist eine gute Nachricht für Arbeitnehmer und Rentner. Insofern haben wir es mit einer ehrlichen Rentenerhöhung zu tun. Bei Preisstabilität bleibt eine Mark eben eine Mark. Was haben Rentner eigentlich von einer hohen Rentensteigerung, wenn ihnen das, was mit der linken Hand als Rentensteigerung gegeben wird, mit der rechten durch Inflation wieder aus der Tasche geholt wird? Inflation ist der Taschendieb der kleinen Leute. Wir ermöglichen einen realen Kaufkraftgewinn für die Rentner.Wenn ich das noch dem Restbestand der Sozialdemokratischen Partei mitteilen darf:
Wir haben ein Rekordrentenniveau, d. h. einen Rekord im Verhältnis der Rente zum vergleichbaren Einkommen. Wir haben ein Rekordrentenniveau, das noch über jenem Niveau liegt, das 1980 von Helmut Schmidt als Rekord bezeichnet wurde und damals den Beifall der gesamten SPD erhielt. Wenn Sie damals — bei einem Rentenniveau, das niedriger war als das jetzige — Helmut Schmidt Beifall geklatscht haben, bitte ich Sie, auch heute dem Rentenniveau Ihren Beifall zu zollen.
Die effektive Rentenerhöhung beträgt im nächsten Jahr 3 %, und zwar 3 % nach Abzug des Krankenversicherungsbeitrages. Ich wende mich jetzt an die ältere Generation auch mit der Bitte, Verständnis für diesen Krankenversicherungsbeitrag zu haben. Das ist der Solidaritätsbeitrag der Älteren für die Jüngeren. Die Jüngeren stehen in der Pflicht der Solidarität, immer die Renten der vorhergehenden Generation zu finanzieren, und ich denke, daß auch die Älteren darauf achten müssen, daß ihre Kinder und ihre Enkel nicht Beiträge zahlen müssen, unter denen sie zusammenbrechen.
Mit dem Krankenversicherungsbeitrag der Rentner wird ein Fünftel der Kosten für die Krankenversicherung der Rentner finanziert. Ich sage das nicht mit dem geringsten Unterton eines Vorwurfs; ich will nur darauf hinweisen, daß der größere Teil noch immer von den Jüngeren bezahlt werden muß, worüber sich die Jüngeren auch nicht beschweren dürfen, denn das ist Ausdruck der Generationensolidarität. Die heutigen Jüngeren werden auch einmal älter.Die zweite gute Nachricht ist: Die Rücklage in der Rentenversicherung wächst, bis 1990 auf rund 30 Milliarden DM; das sind 2,3 Monatsausgaben. Abseits allen Fachkauderwelschs, allen SopoDeutschs, aus dem wir alle j a nicht ganz herauskommen: Sicherheit ist in erster Linie eine Frage des Geldes, das in der Kasse ist; je mehr Geld in der Kasse ist, um so mehr Sicherheit. Nach Jahren der Abwärtsbewegung der Rentenfinanzen haben wir jetzt wieder eine Aufwärtsbewegung.Verehrte Frau Kollegin Fuchs, Sie fragen immer nach der Wende. Das ist ein Teil der Wende: statt abwärts geht es wieder aufwärts, eine typische Wende.
Freilich, das ist uns nicht in den Schoß gelegt worden, sondern das Ergebnis von Konsolidierung. Alle haben daran teilgenommen. Das ist uns nicht leichtgefallen. Wem fällt schon Sparen leicht? Teilgenommen haben die Rentner an der Konsolidierung durch den Krankenversicherungsbeitrag — das ist der Beitrag der älteren Generation —, teilgenommen haben die Jüngeren durch unausweichliche Beitragserhöhungen, teilgenommen hat auch der Staat. Ich wiederhole noch einmal: Wir sind die erste Bundesregierung, die den Bundeszuschuß über die gesetzliche Verpflichtung hinaus erhöht hat. Das ist auch das Kontrastprogramm zu der vorhergehenden, SPD-geführten Regierung. Die hat immer nur abkassiert beim Bundeszuschuß, gestundet, abkassiert. Wir haben den Bundeszuschuß erhöht. Auch hier zeigt sich ein Muster, wie wir schwierige Probleme angehen. Das beste Rezept ist immer, es auf alle Schultern zu verteilen: auf die Alten durch Krankenversicherungsbeitrag, die Jungen durch Beitragserhöhung und den Staat.Wir mußten in diese Konsolidierung auch die strukturellen weiterführenden Elemente einbauen, und wir haben das auch getan. Das war nicht nur Sparen, das war auch Gestalten durch Aktualisierung der Rentenanpassung, durch Neuordnung der Erwerbsunfähigkeitsrenten. Wir haben die Hinterbliebenenrentenreform durchgeführt. Und wiederum an die Sozialdemokraten gewandt: Wo wären wir hingekommen, hätten wir Ihr Hinterbliebenenmodell genommen?
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18603Bundesminister Dr. BlümEs wäre vor allen Dingen der Rückschritt gewesen, daß weniger Geld in den Rentenkassen gewesen wäre, denn es hätte Milliarden mehr gekostet, ohne deshalb gerechter zu sein.
Die Beschäftigung wächst. Auch das ist ein Beitrag zur Rentensicherheit, weil auf diese Weise mehr Einnahmen kommen.Meine Damen und Herren, ich will die Gelegenheit dieser Debatte auch dazu nutzen, an die Rentenversicherungsträger, mit denen wir in gutem Kontakt stehen, nochmals auch von diesem Pult den Appell zu richten, Rentenbescheide verständlich zu formulieren, sich die Mühe zu machen, unser kompliziertes Rentenrecht für die Rentner verständlich zu übersetzen; denn soziale Sicherheit hängt ja nicht nur davon ab, daß ausreichend Geldleistungen zur Verfügung stehen, sondern hängt auch davon ab, ob ich das System durchschaue. Ein Rentenbescheid, zu dessen Verständnis man mehrere Jahre lang Soziologie, Sopo- und Computerdeutsch studieren muß, ist kein Rentenbescheid, der unseren Ansprüchen entspricht.
Der Sozialstaat ist keine Maschine. Er darf keine Maschine sein. Deshalb muß er sich um Verständlichkeit bemühen.Aus dem Rentenbescheid sollte klar hervorgehen, ob dem Rentenantrag stattgegeben wurde, um welche Rentenart es sich handelt, wann die Zahlungen beginnen, wie hoch die Rente ist, wann mit Nachzahlungen zu rechnen ist. Ich denke, daß wir gemeinsam, Rentenversicherungsträger wie wir, uns nicht nur um die Lesbarkeit der Rentenbescheide kümmern sollten, sondern auch um die Verständlichkeit. Dazu rufe ich uns auf.Vor uns steht die große Strukturreform. Wir können sie mit Gelassenheit angehen, was nicht heißt: keine Entschlossenheit. Gelassenheit und Entschlossenheit, das müssen die beiden Beine sein, auf denen wir marschieren. Gelassenheit: Wir können eine Rentenreform ohne Hektik durchführen. Auch das ist der Erfolg dieser Legislaturperiode.Ich lade nochmals alle zu einer großen rentenpolitischen Einigung ein. Ich glaube, wir stehen alle gegenüber unseren Rentnern, gegenüber der älteren Generation in der Pflicht, die Rentenangst zurückzudrängen. Wir stehen in der Pflicht zur Gemeinsamkeit. Niemand sollte glauben, er könnte auf Kosten des Vertrauens in die Rentenversicherung politische Gewinne machen. Ich werbe für die gute alte Rentenversicherung. Sie hat 100 Jahre lang alle Stürme überstanden, Kriege überstanden, die Währungsreform, sie wird auch die nächsten 100 Jahre überstehen.
— Sie hat selbst 13 Jahre sozialliberale Regierung überstanden, mit allen Kürzungen,
und sie hat bei uns endlich wieder Boden unter die Füße bekommen; die Rücklagen steigen.Wir werden eine sozial gerechte, eine leistungsbezogene Rentenreform durchführen. Rente ist Alterslohn für Lebensleistung. Strukturreform heißt nicht Rentenrevolution, sondern heißt solide Weiterentwicklung unserer Rentenversicherung. Dazu lade ich Sie und auch die Sozialdemokratische Partei ein. Sie sind alle herzlich willkommen. Ich denke — lassen Sie mich damit schließen —, in der Aufgabe, im Ziel stimmen wir überein. Ich glaube, auch in den Grundsätzen gibt es schon weitgehende Übereinstimmung: Die Rente muß beitrags-, lohnbezogen sein. Der Bundeszuschuß muß auf eine neue, gesicherte Grundlage gestellt werden.Wir können mit Zuversicht in die nächste Rentenrunde gehen. Wir stellen uns dieser Aufgabe.
Das Wort hat der Abgeordnete Heyenn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundesarbeitsminister, wir haben Sie wieder in Ihrer Lieblingsrolle erlebt. Die Rentenfinanzen können in der mittelfristigen Finanzvorschau Defizite von mehr als 200 Milliarden DM erreichen, wie Ihr Haus es veröffentlicht — für Sie ist das eitel Sonnenschein. Da kann die Altersarmut in der Bundesrepublik ständig steigen — Norbert Blüm lehnt sich zufrieden zurück.Das ist die Situation: Über eine halbe Million älterer Menschen, vor allem Frauen, leben von Kleinstrenten oder beziehen neben der Rente Sozialhilfe.
Diese Menschen haben Sie sträflichst vernachlässigt, Herr Bundesarbeitsminister und auch Sie, Herr Kolb.
Wie Ihre Äußerungen zu unserer Forderung nach sozialer Grundsicherung zeigen, wollen Sie auch künftig nichts für diese Personen tun.
Ich will auf den Zwischenruf gerne eingehen: Die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist in Ihrer Regierungszeit von 2,2 Millionen auf nahezu 2,9 Millionen gestiegen. Darunter befinden sich 300 000 ältere Menschen, die in die Sozialhilfe hineingerutscht sind.
— Das scheint ja sogar zu treffen.Bei der Anerkennung eines Babyjahres, Herr Blüm, haben Sie ausgerechnet die älteren Frauen ausgeklammert, die unser Land nach dem fürchterlichen Weltkrieg wiederaufgebaut haben. Das war und ist eine schreiende Ungerechtigkeit.
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18604 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kolb?
Ich darf den Gedanken zu Ende führen.
Nach Ihrem Stufenplan sollen die älteren Frauen immer noch benachteiligt werden. Das halte ich für eine große Beleidigung dieser Frauen. Ihr Stufenplan ist, wie ich finde, eine makabre Politik mit der Sterbetafel.
Ebenso ungerecht war — Herr Kolb, sofort —, daß Sie auch den berufstätigen Frauen — jetzt den jüngeren — das Babyjahr überwiegend versagt haben.
Inzwischen wissen wir doch aus der Praxis: Jede zweite berufstätige Frau geht bei Ihnen leer aus.
Ihr Babyjahr ist ein Zweiklassenrecht zu Lasten der berufstätigen Frau. Offensichtlich geht es Ihnen darum — wie Herr Blüm mehrfach gesagt hat —, die Frauen wieder an den heimischen Herd zu führen.
Herr Kolb, bitte.
Herr Kollege Heyenn, stimmen Sie mir zu, daß die Rente leistungs- und beitragsbezogen sein muß und daß damit, soweit es sich um Kleinrenten handelt, eventuell die Leistungs- bzw. die Beitragsbezogenheit nicht stimmen kann? Wenn Sie aber meinen, daß die Rente beitragsbezogen sein muß, können Sie sie doch nicht als sichere Altersversorgung ansehen.
Lieber Herr Kolb, es gibt sehr viele, die nicht ihr Leben lang arbeiten konnten, weil sie immer dann, wenn sie nicht mehr gebraucht wurden — wie die Frauen —, aus dem Arbeitsleben hinausgeschickt wurden, weil sie Kinder erziehen mußten, weil sie teilzeitgearbeitet haben und deshalb sehr niedrige Löhne erzielt haben und trotzdem mehr als die Hälfte ihres Lebens gearbeitet haben. Das sind die Frauen, die Sie durch niedrige Rentensteigerungen in den vergangenen Jahren in die Sozialhilfe hineingetrieben haben.
— Seien Sie doch so lieb und geben mir die Gelegenheit, Ihnen jetzt auch etwas Positives zu sagen.Der vorliegende Gesetzentwurf zur Rentenanpassung 1987 — er kommt ja sehr früh; weswegen, wissen wir — wird den Rentnern voraussichtlich zum erstenmal seit der Wende wieder eine spürbare Kaufkraftsteigerung bescheren. Das ist den Rentnern von Herzen zu gönnen. Ich glaube, darin stimmen wir überein.
Aber meines Erachtens rechtfertigt das nicht, lieber Herr Blüm, Ihre Selbstgefälligkeit.
21/2 bis 3 % zum 1. Juli 1987 sind eine gute Sache. Aber die Fehler und die unsozialen Eingriffe werden dadurch ebensowenig ungeschehen gemacht wie der fahrlässige Umgang mit den Zukunftssorgen der Rentner und der Versicherten.Der Arbeitsminister feiert die Stabilität der Preise. Er tut so, als sei dies ein Verdienst der Bundesregierung
und nicht eine ökonomische Gesetzmäßigkeit, die auch etwas mit fallenden Ölpreisen und dem sinkenden Dollarkurs zu tun hat. Wenn Herr Blüm darüber hinaus auch noch den Anschein erwecken will, es ginge den Rentnern besser als vor seiner Amtsübernahme, dann operiert er mit Wunschdenken, mit falschen Zahlen, und er verschweigt, daß seine Politik den Rentnern jahrelang das Geld aus der Tasche gezogen hat.
Wenn Herr Blüm hier von dem hohen Nettorentenniveau spricht, dann muß ich ihm sagen, daß wir nach den Schätzungen für 1987 mit 63 bis 63,5 % unter dem Nettorentenniveau von 1982 mit 64,6 % liegen.
Nach vier Jahren konjunktureller Belebung, meine Damen und Herren, haben die Rentner heute weniger Kaufkraft zur Verfügung als 1982.
Diese Tendenz der Verarmung ist nicht Zufall, sondern sie ist erklärte Absicht dieser Wende-Regierung. Meine Damen und Herren, das läßt sich doch belegen. Sie können die Tatsachen hier nicht wegschreien.
Die Reichen sind auf Kosten der kleinen Leute weiter bereichert worden. Diese Absicht haben wir j a ganz deutlich bei Lambsdorff oder bei Albrecht gelesen. Ich glaube, der Norbert Blüm hat sich zum Erfüllungsgehilfen dieser Strategiepapiere gemacht.
Ich will auf ein paar Zahlen eingehen, meine Damen und Herren, weil Sie meine Aussagen bezweifeln. Die durchschnittlichen Nettolöhne sind von
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18605
Heyenn1 897 DM in 1982 auf 1 996 DM im ersten Halbjahr 1986 gestiegen. Lieber Herr Kolb, die Nettolöhne: nominaler Zuwachs 5,2 %, realer Einkommensverlust 2,8 %.
Jahresdurchschnittliche Rente nach 40 Jahren: von 1 205 DM in 1982 auf 1 308 DM in 1986 gestiegen; nominaler Zuwachs 8,5 %, Preissteigerung 8,7 %, also weniger an Kaufkraft.
Nehmen wir das Arbeitslosengeld. Es wird 1986 im Durchschnitt wahrscheinlich 968 DM im Monat betragen. 1982 betrug es 975 DM. Das Arbeitslosengeld ist real um 8,3 % niedriger als 1982.
Nun eine Zahl, die aussagt, welche Politik Sie gemacht haben. Von 1982 bis 1985 — Herr Kolb freut sich darüber —
sind die Nettoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen nominal um 36,7 % und real um 27 % gestiegen.
Kein Wunder, daß die Arbeitnehmer, Rentner und Arbeitslosen von der wundersamen Einkommensvermehrung, wie sie Herr Blüm hier eben wieder beschrieben hat, in ihren Portemonnaies nichts gemerkt haben.Wir können feststellen: Herr Blüm ist Minister für Arbeit und Sozialordnung. Er gehört der größten Arbeitnehmerorganisation der Republik an. Aber ich muß ihm sagen: Er ist der treueste und eilfertigste Diener arbeitnehmer- und rentnerfeindlicher Interessen.
Herr Blüm, wenn ich das mit dem vergleiche, was Sie in der Opposition zur Sozialpolitik gesagt haben, und wenn ich dann Ihre Mitgliedschaft in der IG Metall sehe, dann kommt mir das so vor wie ein Pazifist, der sich freiwillig zur Bundeswehr meldet. Das ist doch widersinnig.
Die Rentenerhöhung, die jetzt für das Jahr 1987 vorbereitet wird und zu der wir hier reden, kann die beispiellosen Flickschustereien, die Finanzschiebereien der vergangen Jahre
nicht entschuldigen.
— Herr Kolb, lassen Sie mich doch einmal aufzählen. Erstens. Sie haben die Rentenversicherungsbeiträge der Arbeitslosen halbiert. Das bedeutet seit 1983 einen jährlichen Ausfall von 5 Milliarden DM.Zweitens haben Sie die Anpassung um ein halbes Jahr verschoben, wodurch den Rentnern alljährlich die Hälfte der Rentenerhöhung verlorengeht.
Drittens. Sie haben den Krankenversicherungsbeitrag der Rentner von null Prozent im Jahre 1982 auf 5,9 % zum Juli 1987 angehoben.
Viertens. Sie haben die Rentenanpassung mit negativen Auswirkungen für die Rentner aktualisiert.Fünftens. Sie haben 1983 den Beitragssatz um ein halbes Prozent erhöht.Sechstens. Sie haben zusätzlich die Urlaubs- und die Weihnachtsgelder beitragspflichtig gemacht.
— Das bedauere ich auch, Herr Kolb.Siebtens. Sie haben zu Lasten der Frauen die völlige Streichung des Anspruchs auf Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten für Millionen von Frauen durchgesetzt.
Achtens. Sie haben die Streichung des Kinderzuschusses zu den Renten zu verantworten.Neuntens. Sie haben die Rentenversicherungspflicht für das Krankengeld eingeführt.Zehntens. Sie sind verantwortlich für Finanzverschiebungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung durch Rückzug des Bundes aus der Finanzierung der knappschaftlichen Rentnerkrankenversicherung
und durch die Kostenverlagerung bei der Tuberkulosebehandlung.Elftens. Sie haben die Witwenrentenabfindung gekürzt.Zwölftens. Sie haben die Beiträge für Behinderte in Werkstätten und damit deren spätere Renten gekürzt.
Dreizehntens. Sie haben das Übergangsgeld bei beruflicher Rehabilitation gekürzt.Vierzehntens. Sie haben die Einkommesanrechnung bei den Witwen eingeführt und den Satz bei 60 % gelassen.
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18606 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
HeyennSeitdem haben wir das Bedürftigkeitsprinzip in der Rentenversicherung, obwohl lebenslang Beiträge gezahlt worden sein können.
Fünfzehntens. Sie haben die Beiträge erneut erhöht, von 18,5 auf 18,7 %.
Sechzehntens. Sie haben die Beiträge weiter erhöht auf 19,2 %.Siebzehntens. Sie haben erstmalig in der Geschichte der Rentenversicherung Renten auf Pump zahlen müssen.
Und dann inserieren Sie: Die Renten sind sicher.
Wir werfen — ich will darüber fair debattieren — Herrn Blüm nicht unbedingt jede dieser Maßnahmen vor. Die Aktualisierung z. B. haben wir mitgetragen, obwohl sie sich im Zeitpunkt der Einführung negativ ausgewirkt hat.
Die Rentenanpassung zum 1. Juli stellen wir auch nicht mehr in Frage. Bei der Erhöhung des Rentnerkrankenversicherungsbeitrages stimmen wir Ihnen im Grundsatz zu. Wir kritisieren nur Ausmaß und Tempo.Aber der Skandal ist — wie ich meine —, daß die Opfer der Rentner, die Opfer der Beitragszahler einem falschen Ziel gedient haben. Sie wurden nicht zur langfristigen Sicherung der Renten eingesetzt, sondern zur Umverteilung von unten nach oben.
Man hat z. B. aus diesen Einsparungen die Senkung der Gewerbesteuer und der Vermögenssteuer finanziert. Man hat aus diesen Einsparungen die Abschreibungsverbesserungen für Wirtschaftsgebäude finanziert.
Man hat aus diesen Beträgen die erhöhte Vorsteuerpauschale für Landwirte finanziert. Man hat aus diesen Beträgen die Frühpensionierung 45jähriger Bundeswehroffiziere finanziert.
Auf rund 90 Milliarden DM summieren sich für die Zeit bis 1991 diese Wahlgeschenke, die mit den erzwungenen Spargroschen der Rentner erst möglich gemacht worden sind.Das Fazit dieser Rentenpolitik heißt also: Die Sparmaßnahmen waren sozial einseitig verteilt. Die vorhandenen Konsolidierungsspielräume, die für eine langfristige Sicherung hätten genutzt werden sollen, sind nutzlos verpulvert worden.
Die Chancen für eine dauerhafte und tragfähige Rentenreform sind fahrlässig vertan worden, weil der Arbeitsminister die Kooperationsangebote der Opposition und praktisch aller wichtigen gesellschaftlichen Gruppen ausgeschlagen hat.Herr Kolb, ich will kurz auf Ihren Zwischenruf eingehen: „von neun auf zwei Monatsausgaben". Wer hat denn die Beschlüsse 1972 mit Einbeziehung der Selbständigen zu Lasten der Arbeiterbeiträge im Parlament da drüben durchgesetzt?
Wie war es denn 1982? Wir hatten Rücklagen von zwei Monatsausgaben. Sie waren noch keine zwei Jahre oder gerade zwei Jahre im Amt, da war nichts mehr vorhanden. Sie mußten zu den Banken und pumpen gehen, um die Renten bezahlen zu können.Meine Damen und Herren, wir haben es wieder erlebt, der Arbeitsminister feiert sich selbst, weil nun angeblich die Renten bis Anfang der 90er Jahre sicher sind.
— Wenn Sie mich fragen, wie lange ich noch reden will, dann muß ich Sie bitten: Wenn Sie es nicht hören wollen, dann gehen Sie raus!
— Nein, nein, Frau Rönsch. Dies sieht völlig anders aus. Ich komme dazu, und ich komme ganz sachlich dazu! Ich sage zunächst: Den Vorausberechnungen liegen optimistische Arbeitsmarktprojektionen der Bundesregierung zugrunde.
Die Wirklichkeit wird mit hoher Wahrscheinlichkeit anders verlaufen, zumal wenn man bedenkt, daß nach all unseren Erfahrungen auf die gegenwärtige wirtschaftliche Entwicklung
auch wieder Phasen eines konjunkturellen Abschwungs folgen können.
Die Bundesregierung geht in ihrer sogenannten mittleren Arbeitsmarktvariante — auch wenn das sehr sachlich ist, meine ich, sollte das hier einmal gesagt werden — von einer mittelfristigen Beschäftigungssteigerung von 0,9% aus. Bei dem Szenario
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18607
Heyennfür ungünstige Wirtschaftsentwicklung legt sie einen Prozentsatz von 0,7 % zugrunde. Wir hätten gerne erklärt — Herr Stark hat eben gesagt, Sie seien Optimisten —, woher dieser Optimismus kommt.
Denn, Herr Stark, wir haben heute noch nicht die Beschäftigungszahlen vor der Wende wieder erreicht.
Wenn ich ganz fair bin und das Jahr 1983 zugrunde lege — ich möchte j a eine sachliche Diskussion —, dann ergibt sich seit 1983 eine j ahresdurchschnittliche Steigerung der Beschäftigung von 0,4 %. Sie prognostizieren aber 0,7 % bis 0,9 %. Ich kann dazu nur sagen: Entweder haben Sie für Ihre Berechnungen sozialdemokratische Arbeitsmarktpolitik ab 1987 zugrunde gelegt, oder Sie treiben pure Schönfärberei.
Die langfristige Perspektive der Rentenversicherung ist und bleibt trotz der vorübergehend gestopften Löcher desolat. Unter keiner noch so optimistischen Annahme sind die Renten wenigstens für das ganze nächste Jahrzehnt gesichert.
In der günstigsten Variante des Rentenanpassungsberichts, dem völlig irreale Annahmen zugrunde liegen, errechnet sich für den 15-Jahre-Zeitraum ein Fehlbetrag von 139 Milliarden DM, bezogen auf das Jahr 2000. Bei der ungünstigsten Variante, die bezüglich der Beschäftigungsannahmen — wie ich nachzuweisen versucht habe — immer noch optimistisch ist, haben wir sogar im Jahre 2000 in der gesetzlichen Rentenversicherung ein Defizit von sage und schreibe 286 Milliarden DM. Dies sind die Fakten, von der Bundesregierung selbst veröffentlicht.Ich halte es für skandalös, daß die Bundesregierung das hilflose Vor-sich-Hinschieben von Problemen zur Routine werden läßt. Sie hofft, so müssen wir annehmen, daß sich die Rentner und die Versicherten an den ungewissen Zustand gewöhnen. Man muß sich einmal vorstellen, wie der Oppositionspolitiker Blüm vor einigen Jahren hier im Deutschen Bundestag getobt hätte, hätten wir eine derart katastrophale Langfristbilanz hier vertreten.
286 Milliarden DM Defizit im Jahre 2000 sind nach den von Blüm veröffentlichten Zahlen möglich.Ich glaube, Sie versündigen sich mit dem Fehlen der Initiativen am Geist der Generationensolidarität.
Sie lassen zu, daß sich gerade die Versicherten im mittleren Lebensalter im besten Fall mit Galgenhumor, zunehmend aber auch mit Verbitterung mit der Frage der Renten auseinandersetzen. Wir Sozialdemokraten werden nicht müde werden, dies zu wiederholen.
Wir sagen, was der Arbeitsminister versäumt hat, nämlich konkrete und durchgerechnete Vorschläge zur langfristigen Rentensicherung in diesem Deutschen Bundestag einzubringen.
— Wir haben ein Konzept vorgelegt Herr Stark, ich freue mich, daß Sie auf einmal so viel von Sozialpolitik verstehen. Ich dachte, Sie seien Rechtspolitiker. —
Wir werden weiter betonen: Unser Konzept hat hier vorgelegen, konnte aber nicht behandelt werden, weil Herr Blüm von Herrn Stoltenberg dafür kein grünes Licht bekommen hat.
Dann lassen Sie mich noch weiter sagen: Ich finde, was langfristige Sicherung angeht, steht Norbert Blüm mit leeren Händen da.
Wenn wir uns einmal überlegen, was er denn in dieser Legislaturperiode an Rentenpolitik betrieben hat, dann stellen wir fest, daß das Kürzungen, Kürzungen und noch einmal Kürzungen waren.
Mittelfristig, für wenige Jahre, ist es eine scheinbare Konsolidierung, aber dann kommen die groben Löcher.
Und zu allen in der Gesellschaft diskutierten Problemen gibt es in der Union entgegengesetzte Auffassungen. Strukturreform: Blüm ja, Stoltenberg nein; Ergebnis: jein. Zur Wertschöpfung sagt Herr Blüm nein.
Zur Grundsicherung sagt Herr Blüm nein,
viele andere Christdemokraten diskutieren das genau wie wir Sozialdemokraten.
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18608 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Heyenn— Na, Herr Biedenkopf, der Berliner Sozialsenator, Herr Fink,
der Vorsitzende des Bundesfachausschusses Sozialpolitik in der CDU, sind das nicht Namen, die man hier nennen kann? — Ich komme zum letzten Satz, Frau Präsidentin. — Ich habe den Eindruck gewonnen, daß das, was man in den Zeitungen heute manchmal lesen kann, daß sich Norbert Blüm in der nächsten Legislaturperiode um den Fraktionsvorsitz bemüht, auch damit zu tun hat, daß er vom Scherbenhaufen Sozialpolitik so schnell wie möglich wegkommen will.
Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.
Frau Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Heyenn, wir diskutieren den Punkt: Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung im Jahre 1987.
— Ja, dazu komme ich noch. — Zu diesem Tagesordnungspunkt, Herr Kollege Heyenn, haben Sie einen richtigen Satz gesagt, nämlich daß Sie sich freuen, daß die Renten um 3 % erhöht werden.
Alles andere, verehrter Herr Kollege, hatte relativ wenig mit der Rentenerhöhung,
bestenfalls mit dem Bericht zu tun.Lassen Sie mich auf einige der Punkte eingehen, die Sie hier aufgezählt haben, auf Maßnahmen, die zur Konsolidierung unbestrittenerweise mit beigetragen haben. Sie haben bedauerlicherweise übersehen, dabei zu bemerken, daß alle diese Maßnahmen zwischen uns schon diskutiert wurden, in Vorbereitung waren und daß ein Großteil davon, verehrter Kollege Heyenn, als fertige Vorlagen aus der Schublade gezogen werden konnte — —
— Nein, das ist nicht falsch. Die Beamten des Ministeriums, die dafür verantwortlich sind, werden Ihnen das gerne bestätigen, Frau Kollegin Fuchs. Ich will Ihnen einmal sagen, was Sie an dieser ganzen Angelegenheit als so störend empfinden: Erstens bedauern Sie natürlich, daß wir das nicht mehr gemeinsam machen konnten.
Zweitens bedauern Sie, daß der Laden mit imGrunde genommen so vielen kleinen, aber wir-kungsvollen Maßnahmen in so kurzer Zeit in Ordnung gebracht werden konnte.
Das sind die beiden Dinge, die Sie an der Sache stören. Eigentlich sollten wir uns gemeinsam freuen, daß die Renten um 3 % erhöht worden sind und das Rentenniveau — trotz aller Rechnerei — sehr, sehr hoch ist. Und wir würden uns gemeinsam freuen, wenn es uns gelänge, ein solches Rentenniveau auf Dauer zu halten. Ich habe da meine erheblichen Zweifel.Erfreulicherweise ist auch die Liquidität besser als von Ihnen angekündigt. Und lassen Sie mich das einmal sagen: Es ist ja doch angenehmer, in der Arbeitslosenversicherung und in den anderen Systemen der sozialen Sicherung eher von höherer Liquidität, von Überschüssen zu reden
als über Defizite und deren Beseitigung. Wir konnten, was die Liquidität anlangt, erfreulicherweise sogar die versprochene Senkung auf 18,7 % wieder vornehmen.Das alles ist das Ergebnis einer soliden Wirtschaftspolitik; es beweist unseren Satz, daß es einen Zusammenhang zwischen vernünftiger Wirtschaftspolitik und solide finanzierter Sozialpolitik gibt. Das ist nicht, Herr Kollege Heyenn, wie Sie immer behaupten, „fetten Gänsen den Oos schmieren". Wir haben dafür gesorgt, daß die Betriebe die Chance haben, mehr Leute einzustellen mit dem Ergebnis, daß mehr Beitragszahler da sind und keine Beitragserhöhungen mehr notwendig sind.
Damit aber die Ausgaben- und Verteilungskünstler nicht übermütig werden, muß man in der Tat nachdrücklich davor warnen, die Rentenversicherung mit zusätzlichen Aufgaben und Ausgaben zu belasten. Wer das beabsichtigt, kriegt großen Ärger mit der FDP, insbesondere mit mir.
Die Gefahr droht nicht nur von den Ausgabenkünstlern und Politikern, sondern auch von den Gewerkschaften. Sie wollen Arbeitszeitverkürzungen um jeden Preis. Arbeitszeitverkürzungen sind aber nur verantwortbar, wenn sie bei der Lohnfestsetzung berücksichtigt werden, denn der Produktivitätsfortschritt kann nur einmal verteilt werden. Von mehr Urlaub, weniger Wochenarbeitszeit und kürzerer Lebensarbeitszeit kann man keine Rentenversicherungsbeiträge kassieren. Man muß darauf aufmerksam machen, daß derjenige, der eine solche Tarifpolitik befürwortet, im Grunde genommen die Gefahr niedriger Renten heraufbeschwört.
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Cronenberg
Trotz der günstigen Liquidität besteht wegen der demographischen Entwicklung unveränderter Handlungsbedarf. Deswegen noch einige Worte zur Frage der Strukturreform. Wir Liberalen wollen die Stärkung des Versicherungsprinzips. Wir halten auch eine Neubewertung beitragsfreier und beitragsgeminderter Zeiten sowie die Abschaffung der Halbbelegung für erforderlich. Da ist viel Gemeinsamkeit. Ebenso stimmen wir mit der Mehrheit des Hauses darin überein, daß eine nettoähnliche Rentenanpassung — übrigens von uns schon 1979 unter dem großen Protest von SPD und CDU/CSU verlangt — und die Ergänzung der Rentenformel um eine demographische Komponente erforderlich sind. Das ist notwendig, um einen fairen Generationenausgleich zwischen Rentnern, die ihr verdientes und angemessenes Alterseinkommen haben wollen, und den aktiv Tätigen herbeizuführen.Das geht nur, wenn die Rentenversicherung nicht überbelastet wird. Deswegen bitte ich, dem Herrn Finanzminister auszurichten, daß versicherungsfremde Leistungen nicht vom Beitragszahler bezahlt werden dürfen. Sie müssen von der Allgemeinheit finanziert werden. Deswegen ist es ganz wichtig, noch einmal festzustellen, daß die Leistungen für Kindererziehungszeiten keine Versicherungsleistungen sind
und daß diese dauerhaft vom Finanzminister, von der Allgemeinheit übernommen werden müssen. Ich glaube, daß wir Sozialpolitiker aus allen Lagern darauf achten müssen. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales wird mir dankbar sein, wenn ich ihn beim Finanzminister in diesem Sinne unterstütze.
Im nächsten Jahr müssen wir die Gleichstellung von Mann und Frau beim Rentenzugang vornehmen. Wir müssen darauf achten, daß die finanziellen Auswirkungen auf die Rentenversicherung nicht den Konsolidierungsprozeß gefährden und daß den Versicherten nicht die Möglichkeit genommen wird, durch längere Beitragszahlungen die Rente zu erhöhen.Zum Schluß möchte ich zwei persönliche Bitten loswerden. Ich würde mich sehr freuen, wenn die Verfechter von Maschinensteuer, von beitragsfinanzierten Grundrenten
und anderen abenteuerlichen und revolutionären Ideen ihre Zeit und Phantasie für eine notwendige und mögliche Reform unseres bewährten Rentensystems einsetzen würden.
— Dies richtet sich an all diejenigen, die es angeht, Herr Kollege Heyenn.Nun meine zweite Bitte. In den Wahlkämpfen seit 1976 hat die jeweilige Opposition — eine kleine Kostprobe haben wir gerade vom Kollegen Heyenn erlebt — die Rentenversicherung mies gemacht, nur um Stimmen zu gewinnen. Das hat jedesmal die Rentner verunsichert, der Rentenversicherung geschadet, das notwendige Vertrauen in unser bewährtes Rentensicherungssystem gefährdet.
Ich empfehle allen Ernstes der derzeitig nicht sehr stark vertretenen Opposition,
aus den Fehlern ihrer Vorgänger zu lernen: Verzichten Sie im Wahlkampf auf die Verunsicherung der Rentner. Die Rentner werden es Ihnen danken.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Bueb.
Wir haben gerade, meine Damen und Herren, den Lobgesang des Herrn Blüm auf die Stabilitätspolitik der Bundesregierung erlebt
und gehört, welche Wohltaten er für die alten Menschen mit der Rentenanpassung bereithält, die auf das ganze Jahr bezogen, nicht einmal 2 % ausmacht. Und dann sagt er, eine Mark bleibt eine Mark.
— Das ist richtig; nur was hat es damit zu tun, daß für Witwen, die eine Rente von 450 DM im Monat haben, die Rentenerhöhung in etwa 9 Mark ausmachen würde, sie aber diese 9 DM gar nicht bekommen, weil sie Sozialhilfe beziehen und das Sozialamt diese 9 DM wieder abholt?
Das ist also soziale Rentenpolitik.Das Arbeitsministerium hat vor kurzer Zeit veröffentlicht, daß 19 % der Witwen ein Einkommen und eine Rente haben, die unterhalb von 800 DM liegen. Bei den ledigen oder geschiedenen Frauen sind es gar mehr als 30 %, deren Gesamteinkommen unterhalb des Sozialhilfeniveaus liegt. Das heißt, mehr als eine Million alter Frauen — und dazu kommen noch 200 000 alte Männer — leben in der Bundesrepublik in Armut. Sie leben von der Sozialhilfe
oder unterhalb des Sozialhilfeniveaus, weil sie sich schämen, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen
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Bueboder praktisch ihre Kinder mit heranzuziehen. Fazit: Bei uns haben 20 % der alten Menschen, der Rentnerinnen und Rentner überhaupt nichts von dieser Rentenanpassung.Gleichzeitig wird durch das Steuersenkungsgesetz 1986/88 eine Steuerreform für Reiche durchgeführt. Spitzenverdiener sparen damit im Jahre 1986 133 DM im Monat und im Jahre 1988 nochmals 172 DM, insgesamt 300 DM pro Monat. Das ist ein Betrag, von dem viele alte Leute heute leben müssen, weil sie nämlich nicht mehr Rente bekommen. Gleichzeitig wird die Steuerlast vom Unternehmenssektor auf die privaten Haushalte verlagert. Während der Steueranteil der Gewerbe-, Körperschaft- und Vermögensteuer 1980 noch 22% betrug, sank dieser Satz im Jahre 1985 auf 15% ab, während von 1970 bis 1984 die Lohnsteuer um 290 % anstieg und damit alle anderen Steuererhöhungen bei weitem übertraf.
Gleichzeitig weist das Bruttoeinkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nur noch geringe Zuwachsraten auf. Auf Grund der gestiegenen Abgabebelastungen sind die Nettozuwachsraten noch viel geringer.Umgekehrt verlief in diesem Punkt das Einkommen der Unternehmer. Während z. B. 1984 die Arbeitnehmereinkommen netto nur um 1,64 % anstiegen, wuchsen die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen im gleichen Jahr um netto 8,6%.
An diesem Beispiel wird die Spaltung unserer Gesellschaft sichtbar. Auf Kosten der sozial Schwachen werden die anderen gut bedient.
Wer Armut im Alter wirksam bekämpfen will, muß kurzfristig eine bedarfsorientierte Grundsicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung einführen, die per Bundesmittel die verfügbaren Alterseinkommen im Bedarfsfall auf etwa 1 200 DM pro Person und etwa 2 200 DM bei einem Ehepaar aufstockt. Almosen helfen hier nicht. Langfristig läßt sich unserer Meinung nach die rentenpolitische Gerechtigkeit nur über eine Grundrentenreform erreichen, die mit den Privilegien aufräumt und den heutigen armen Alten ein menschenwürdiges Dasein garantieren könnte.
Aber so etwas ist in der geistig-moralischen Wende nicht vorgesehen.Danke.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache zu den Tagesordnungspunkten — —
— Habe ich das übersehen? Haben Sie sich gemeldet? Bei mir waren Sie nicht gemeldet.
Sie haben das Wort, Herr Günther, bitte.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Heyenn hat eben von unserem guten Arbeitsminister gesprochen und gesagt, daß er sich hier in der Lieblingsrolle gebärdet hätte. Ich freue mich, daß er seine Lieblingsrolle, nämlich Gutes zu verkünden, hier immer spielen kann, und ich wünsche, daß er das weiterhin tun kann.
Wir unterstützen ihn dabei nach Kräften. Frau Kollegin Fuchs, Sie haben einen anderen in der Lieblingsrolle. Der Kollege Heyenn hat immer die Lieblingsrolle des Schwarzmalers, und die hat er wieder perfekt ausgeübt.
Man kann überhaupt nicht auf alles eingehen, was er hier an Falschem verkündet hat. Wir werden dieses, Kollege Heyenn, in der zweiten und dritten Lesung nachholen; wir kriegen ja die Texte und können das dann fein analysieren.Einige Punkte können hier nicht so stehenbleiben, weil ich meine, daß Sie unredlich sind oder es nicht wissen. Sie haben vom sinkenden Rentennettoniveau gesprochen. Sie wissen selber, daß dies eine Größe ist, die so überhaupt nichts besagt. Das Rentennettoniveau ist deshalb abgesunken, weil die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer auf Grund unserer Steuersenkung gestiegen sind.
Das ist doch eine positive Sache, die die Rentner überhaupt nicht benachteiligt.
Reden Sie doch hier nicht von der Senkung des Rentennettoniveaus!Dann sprechen Sie wieder das Babyjahr an. Ich habe j a Verständnis dafür, daß Sie der Sache nun schon seit 14 Jahren nachlaufen. Aber wer 13 Jahre in dieser Sache nichts erreicht hat, und der Kronzeuge, Frau Fuchs — —
— Nein, ich lasse das jetzt nicht zu. Ich weiß, wasSie damit bezwecken. Sie haben schon genug damit
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Güntherin dieser Richtung gemacht. Ich lasse keine Zwischenfragen zu.
In der dritten Lesung können Sie das alles beantworten, Kollege Heyenn. Wir werden das gründlich aufarbeiten müssen.
Die Frau Kollegin Fuchs, die hier sitzt, ist der beste Kronzeuge, daß sie noch zuletzt vom Bundeskanzler Schmidt nichts, aber auch nicht eine müde Mark für das sogenannte Babyjahr bekommen hat.
Jetzt haben Sie einen neuen Gesetzentwurf eingebracht und grenzen wieder 800 000 Frauen aus. Wir nehmen alle Frauen mit, alle bekommen bei uns etwas,
wenn auch mit einer gewissen Zeitverzögerung. Das stimmt ganz genau.Wer in den beiden Rentenanpassungsgesetzen, im 20. und 21. Rentenanpassungsgesetz, den Rentnern 13 Milliarden DM gestohlen hat, der soll hier nicht solche Reden halten. Sie laufen also Ihrer eigenen Politik nach.Meine Damen und Herren, was die Rentenerhöhung 1987 angeht, ist die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sehr wohl der Auffassung, daß noch vor der Neukonstituierung des Bundestages, die erst 1987 nach der Neuwahl erfolgen kann, die Anpassung der Renten beschlossen werden muß, um die Erhöhung den Rentnern auch rechtzeitig auszahlen zu können.
Geringfügige Abweichungen nehmen wir dabei in Kauf. Die pünktliche Auszahlung ist uns wichtiger als die Stelle hinter dem Komma.
Wir sind daher auch damit einverstanden, daß das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates den endgültigen Anpassungssatz, der sich j a nur marginal — wahrscheinlich nach oben — ändern kann, entsprechend anpassen und festlegen wird.Manche kritisieren — wir haben das auch heute von der Opposition wieder so durchgehört —, daß diese angeblich zu frühe Gesetzgebung nun als Wahlgeschenk auf den Tisch komme.
Erst einmal möchte ich sagen, daß wir uns dafür eigentlich bedanken müßten; denn wenn etwas als Wahlgeschenk verkauft wird, ist es ja etwas Gutes — wir werden nichts Schlechtes als Wahlgeschenkverkaufen —, und es ist auch erfreulich. Aber ansonsten ist es anders. Aus den geschilderten Terminlagen müssen wir so handeln.Zweitens ist die Rentenerhöhung überhaupt kein Geschenk und schon gar kein Wahlgeschenk.
Entsprechend der Lohn- und Gehaltsentwicklung im Jahre 1986 werden die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung, der gesetzlichen Unfallversicherung und der Altershilfe für Landwirte auf gesetzlicher Grundlage angehoben, und das ist kein Geschenk. Es ist eine der tragenden Säulen der Rentenpolitik der CDU/CSU-Fraktion, daß auch in Zukunft eine gleichgewichtige Entwicklung von Löhnen und Gehältern auf der einen und Renten auf der anderen Seite fortgeschrieben wird.Die vorliegenden Daten ermöglichen, einschließlich einer Endschätzung für 1986, eine Rentenanhebung ab 1. Juli 1987 von 3,7%. Gleichzeitig tritt die bereits gesetzlich verankerte letzte Rate des Beitrags der Rentner zu ihrer Krankenversicherung von 0,7 % in Kraft. Dadurch erhöht sich die Rente effektiv um rund 3 %. Diese Erhöhung erfährt ihre Bedeutung aber erst, wenn festgestellt wird, was dem Rentner davon an Kaufkraft bleibt.Beim Rentenanpassungsbericht 1986 konnte ich den erfreulichen Sachverhalt vortragen, daß der Anpassungsrate von seinerzeit 2,15% wohl nur eine Geldentwertungsrate von 1 % gegenüberstehen würde. Heute kann nach unten korrigiert werden. Nicht etwa die Rentensteigerung, nein die Preissteigerungsrate ist ganz weg. Wir liegen bei null, und in manchen Bundesländern gehen die Preise sogar zurück. Kollege Heyenn, der Ölpreis ist hierbei nur ganz minimal vertreten. Im übrigen möchte ich Sie fragen, was Sie hier sagen würden, wenn der Ölpreis so hoch wäre, daß er zu einer hohen Preissteigerungsrate führen würde. Dies wäre selbstverständlich die Bundesregierung schuld. Lassen Sie das doch. Der Rentner zählt ohnehin nur das, was ihm unter dem Strich übrigbleibt.Aus einem Minuswachstum der Wirtschaft aus SPD-Zeiten haben wir ein Minuswachstum der Preise gemacht, bei gleichzeitiger Plusentwicklung der Wirtschaft. Das ist vernünftige Politik.
Wir verzichten gerne auf Rentenerhöhungen von über 5%, wenn die Preissteigerung den gleichen Prozentsatz hat und für den Rentner nichts an Kaufkraft übrigbleibt. Für 1987 haben die Institute nur eine ganz minimale Preissteigerung vorausgesagt, so daß sich die reale Kaufkraft für die Rentner mindestens ebenso wie 1986 erhöht. Wahrscheinlich wird sie noch günstiger ausfallen.Diese Rentenanhebung kann aus sich immer mehr füllenden Rentenkassen gezahlt werden. Dies stelle ich mit besonderer Freude fest. Daß die Renten sicher sind, hat inzwischen wohl auch der politische Gegner einsehen müssen. Leider hat es dazu einer großen Aufklärungsaktion bedurft, weil die Opposition ihre Aufgabe darin sah und teilweise noch sieht, wie wir heute gehört haben, Rentner zu
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Güntherverunsichern, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Die Rentner in Bayern haben begriffen, daß mit ihnen Schindluder getrieben wurde.
Die Rentner in Hamburg und im übrigen Bundesgebiet haben das in gleicher Weise erkannt. Wir werden das feststellen.Immerhin kommen mit dieser Rentenanpassung rund 5 Milliarden DM an Kaufkraft für die Rentner zur Auszahlung. Dies ist eine erfreuliche Feststellung, die 15,5 Millionen Renten in der Bundesrepublik Deutschland betrifft.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen rühmen sich nicht, was die Erhöhung als solche angeht, da sie von den Vereinbarungen der Tarifpartner abhängt. Aber eine gute und solide Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik haben dafür gesorgt, daß real der größte Batzen von dieser Erhöhung übrigbleibt.An dieser Stelle will ich noch einmal darauf hinweisen, daß die Tarifpolitik der Gewerkschaften, die ab 1985 wieder Reallohnsteigerungen als Erfolg vermelden kann, sehr wohl auch gleichzeitig wegen der Ableitung Rentenpolitik bedeutet. Es wäre gut, wenn die Gewerkschaften die Grundlage, die sie durch die gute Gesamtpolitik der Bundesregierung erhalten, auch einmal anerkennen würden. Tarifpolitik ist bekanntlich für die Gewerkschaften die wichtigste Säule ihrer Arbeit, und wenn diese erfolgreich gestaltet werden kann, sollte man dies von seiten der Gewerkschaften zumindest nicht dauernd verschweigen. Wenn im Rahmen dieser Tarifpolitik Teile von Einkommensverbesserungen für die Arbeitszeitverkürzung eingesetzt werden, leistet der Rentner einen Solidarbeitrag, weil er von Arbeitszeitverkürzungen nichts hat.
— Eine ausgewogene Tarifpolitik, Frau Fuchs, das ist meine Antwort auf Ihren Zwischenruf, die beide Notwendigkeiten einschließt, ist deshalb auch mit Rücksicht auf die Rentner sinnvoll.Der Sozialbeirat hat in seinem Gutachten vom 17. September 1986 diese, unsere Rentenpolitik voll bestätigt. Auch was die mittelfristigen Berechnungen, die bis zum Jahre 1990 reichen, angeht, ist mit Liquiditätsproblemen für die gesetzliche Rentenversicherung nicht zu rechnen. Selbst bei ungünstiger Annahme mehrerer Varianten werden wir 1990 eine Schwankungsreserve von 1,7 Monatsausgaben haben. Wir rechnen aber, weil wir eine optimistische Politik — und dies hat die Vergangenheit gezeigt — mit Recht betreiben,
mit 2,3 Monatsausgaben, und werden in dieser Einschätzung vom Sozialbeirat bestärkt.Angesichts der vom Sozialbeirat immer wieder betonten Notwendigkeit einer Mindestrücklage von mehr als einer Monatsausgabe wird diese Entwicklung von diesem unabhängigen Gremium lebhaft begrüßt. Es ist möglich, weil wieder mehr Pflichtversicherte Beschäftigung gefunden haben und mit dazu beitragen, die Rentenversicherung zu stärken. Ich will an dieser Stelle auch sagen: Jeder Unternehmer muß daher wissen, daß mit der weiteren Schaffung von Arbeitsplätzen eine Stabilisierung der Sozialversicherung eintritt,
die mit dazu beiträgt, Beitragserhöhungen zu vermeiden bzw. sie in Grenzen zu halten. Ich nehme an, Sie von der SPD unterstützen wenigstens das. Aber Sie protestieren auch da, wie Sie gegen alles, was vernünftig ist, protestieren.Meine Damen und Herren, trotzdem werden wir die Probleme, die nach 1990 verstärkt auf uns zukommen, damit allein längst nicht lösen; das wissen wir. Eine Reihe anderer Schritte ist nötig, um keine einseitigen Belastungen entstehen zu lassen.Wir müssen im nächsten Jahr darangehen, die Rentenversicherung strukturell weiterzuentwikkeln. Dies wird im Rahmen des bestehenden Systems möglich sein.Die beitragsbezogene dynamische Rente des Jahres 1957 hat sich bewährt, und an ihr ist festzuhalten, meine Damen und Herren. Grundsicherungspläne, Grundrentenpläne, Vermischung mit der Sozialhilfe und ähnliche Experimente werden von uns abgelehnt.
Wir werden wohl die eine oder andere Anpassung innerhalb des Systems an die wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderung vornehmen müssen; das ist klar. Dabei steht z. B. auch die erfreuliche Tatsache, daß die Menschen immer älter werden, dann allerdings als Finanzierungsproblem an.Genauso ist es mit der negativen demographischen Entwicklung und der Tatsache, daß die Beitragszahlungen auf Grund längerer Ausbildungszeiten später einsetzen, gleichwohl aber Leistungen für diese beitragslosen Zeiten entstehen.Wir werden diese Probleme aber lösen; ich hoffe, mit einer breiten Zustimmung in diesem Hause. Jeder sollte sich im Interesse unserer guten Rentenversicherung darüber freuen, daß es wieder aufwärts geht. Dadurch wird jede Problemlösung auch leichter.Meine Damen und Herren, bei der Alterssicherung in jedweder Form handelt es sich um ein Stück Lebensplanung. Lebensplanung gedeiht nur auf sicherem Grund. Deshalb sind Kontinuität, Sicherheit und Seriosität auf diesem Gebiet besonders wichtig. Die CDU/CSU-Fraktion steht dafür ein.Ich rufe den Rentnern zu: Lassen Sie sich nicht verunsichern und im Wahljahr nicht mißbrauchen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18613
Günther Danke.
Mit liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache.
Zu den Tagesordnungspunkten 3 a und 3 b schlägt der Ältestenrat Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 10/6213 und 10/6074 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. — Andere Vorschläge werden nicht gemacht. Dann ist das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, es ist interfraktionell beschlossen worden, die Punkte 4 bis 8 der Tagesordnung nach der Behandlung des Punktes 9 der Tagesordnung aufzurufen. Wir treten jetzt nicht in die Mittagspause ein. Unser heutiger Verhandlungsbedarf reicht sicherlich bis 22 Uhr. Morgen ist kein Sitzungstag. Wir bitten daher um Ihr Einverständnis, so daß ich jetzt Punkt 9 der Tagesordnung aufrufen kann.
— Jetzt sind es noch sieben Minuten bis 14 Uhr. Wollen Sie noch eine Pause von sieben Minuten machen?
— Ich mache alles, was Sie wollen. Ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr. Wir beginnen dann mit Punkt 9 der Tagesordnung.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Es gibt eine Änderung im Ablauf der heutigen Sitzung: Im Ältestenrat ist vereinbart worden, Punkt 9 der Tagesordnung jetzt aufzurufen und die Punkte 4 bis 8 der Tagesordnung dann mit den Abstimmungen um 16 Uhr zu verbinden.
Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" — Drucksachen 10/1722, 10/5403 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Lippold
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/6235 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Kein Widerspruch. — Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. — Das Wort hat der Herr Abgeordnete Collet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es war ein weiter Weg vomBäumchenpflanzen in einer Stadt oder Gemeinde oder gar von der Forderung Willy Brandts 1961 nach blauem Himmel über der Ruhr bis zur heutigen Debatte. Einige Ihrer Vorgänger in der Union hatten Willy Brandt damals mit Hohn und Spott überschüttet unter dem Stichwort: „Der Schornstein muß rauchen". Auch Sozialdemokraten und Gewerkschaften haben sich beim Umdenken schwergetan, mit dem Argument, Umweltauflagen gefährdeten die Arbeitsplätze. FDP-Kollegen hatten Schwierigkeiten mit ihren Freunden in Großindustrie und Konzernen.
Die C-Parteien als Konservative tun sich beim Umdenken sowieso immer besonders schwer mit ihrem starken Wirtschaftsflügel, vor allem in diesem Fall. Aber auch Sie von der Koalition können nicht überhört haben, was unser Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, dieser Tage zur Erhaltung der Schöpfung gesagt hat. Wem das nicht genügt, der sollte im „Bonner General-Anzeiger" vom 1. Oktober nachlesen, was der Salzburger Erzbischof, Karl Berg, als Festredner beim Jahresempfang der deutschen Bischöfe gesagt hat, wenn er fragte, ob Europa vor der Endzeit stehe, wenn er feststellte, daß es nicht mehr um das „Wie leben?", sondern um das Leben selber gehe, oder wenn er wissen wollte, wie die Menschen Macht über die ihnen gegebene Macht gewinnen könnten. Er war überzeugt, daß wir von der Zukunft nicht mehr ohne das Wort Verantwortung reden könnten.Die GRÜNEN kann ich bei diesen Betrachtungen ausklammern, waren doch Fragen der Umwelt einer ihrer Entstehungsgründe.Ich weiß aus Reden, daß Sie von der Union nicht wahrhaben wollen, in Umweltfragen die Letzten zu sein. Aber ich will es Ihnen an einigen Beispielen beweisen.Da war Ihr früherer Umweltminister Zimmermann, der bei mir sicher keinen allzu großen Kredit hatte. Er brachte eine Vorlage zum Katalysator, er brachte eine Vorlage zu Buschhaus, und er brachte eine Vorlage zur Novellierung des Abfallbeseitigungsgesetzes. Was daraus geworden ist, wissen Sie: Aus dem Abfallbeseitigungsgesetz wurde ein Wegwerfgesetz, auch wenn heute morgen Herr Kollege Grünbeck dies als ganz besondere Leistung herausgestellt hat.
Dies war dann die erste Leistung des im übrigen als Kernenergieausbau- und -sicherungsminister verpflichteten Herrn Walter Wallmann.Meine Damen und Herren, daß auch wir Sozialdemokraten uns bei unserer 120jährigen Tradition im Einsatz für Arbeitnehmer und für Arbeitsplätze zunächst mit dem Umdenken schwergetan haben, mag jeder verstehen. Trotzdem sind wir Ihnen in der Koalition um mehr als zehn Jahre voraus. Wer unsere harten internen Diskussionen vor fünfzehn, vor zehn und teilweise noch vor fünf Jahren verfolgt hat, der weiß, daß nach diesen Diskussionen unser Weg vom wachsenden Bewußtsein zum akti-
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Colletven Handeln recht kurz war. Es war schließlich nicht einfach, da im parallelen Zeitablauf steigende Umweltschäden und steigendes Umweltbewußtsein mit einer großen Wirtschaftskrise zusammentrafen, mit Geldknappheit und mit Massenarbeitslosigkeit.Wir sind uns einig, daß Arbeitsplätze und Umwelterhaltung neben Friedenspolitik, neben sozialer Gerechtigkeit und neben der Sicherung demokratischer Freiheiten die wichtigsten Aufgaben der Politik sind. Sie haben zur Umweltpolitik wenig und zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit gar nichts bewirkt, obwohl Sie doch die Arbeitslosenzahl in zwei Jahren auf eine Million reduzieren wollten. Darüber täuschen auch nicht Ihre — Entschuldigung — Manipulationen an der Arbeitslosenstatistik hinweg. Auch Ihr Ersatzargument mit den Beschäftigtenzahlen ist eine Bürgertäuschung, haben wir doch heute im Konjunkturhoch noch immer fast sechshunderttausend Beschäftigte weniger als im Konjunkturtal 1981. Wäre es da nicht Ihre Pflicht gewesen, nach unserem Antrag zu greifen, der Umweltnot lindert und gleichzeitig Massenarbeitslosigkeit reduziert?Aber das Problem mit den Arbeitslosen und mit den Arbeitsplätzen wird erst dann vom Ansatz her besser gelöst, wenn Arbeit und Kapital wenigstens gleichwertig nebeneinander stehen. Ich meine, daß wir ein einziges Ministerium für Arbeit und Wirtschaft brauchen. Nehmen Sie dies als meine persönliche Bemerkung; sie ist mit Fraktion und SPD nicht abgesprochen. Solange es einem Wirtschafts- minister noch möglich ist, sich wegen seiner Erfolge in der Wirtschaft — was immer das ist — feiern zu lassen und dabei den Abfall seiner Erfolge als Arbeitslose dem Arbeitsminister vor die Tür zu kehren, solange werden die Arbeitnehmer immer das letzte Rad am Wagen sein. Die Koppelung von Arbeits- und Sozialpolitik, die vielleicht im vergangenen Jahrhundert berechtigt war, ist an sich schon ein Zeichen für die Unterbewertung des Faktors Arbeit in unserer Gesellschaft.Ich hatte dies übrigens dem Herrn Bundeskanzler 1983 zum Zeitpunkt der Regierungsbildung in einem offenen Brief mitgeteilt.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, als alter Parlamentarier, der nach 21 Jahren demnächst ausscheidet, weiß ich natürlich — und ich halte das nicht für gut —, daß Regierungskoalitionen, aus welchen Gründen auch immer, nicht einfach Anträgen der Opposition zustimmen und diese auch nicht mit einigen Änderungsanträgen übernehmen. Ich hätte es noch akzeptiert, wenn Sie einen eigenen Gesetzesvorschlag ähnlichen Inhalts eingebracht hätten.Meine Damen und Herren, ich warne Sie: Die Entwicklung unserer Umwelt läßt uns nicht die Zeit, in Ihrer langsamen Gangart weiterzumachen. Lesen Sie dies bei unserem Herrn Bundespräsidenten nach. Er war ja mal Ihr Fraktionskollege.Wenn ich von Ihnen schnelleres Umdenken und Handeln verlange, dann als jemand, der noch vor sechs Jahren in seinem Wahlkreis für eine Müllverbrennungsanlage plädiert hat und der diese seit drei Jahren mit steigendem Engagement ablehnt. Ich mußte mich dafür der „Kindesaussetzung" zeihen lassen.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Union, glauben Sie mir: Die Zeit drängt. Und wenn Sie mir nicht glauben, dann informieren Sie sich besser darüber. Ein guter Politiker zeichnet sich auch dadurch aus, daß er ständig bereit ist, seine eigene Position zu überprüfen und gegebenenfalls zuzugeben, daß seine erste Überlegung die falsche war.Die SPD-Fraktion hat als Alternative zu der Ausschußempfehlung, unseren Antrag abzulehnen, einen Änderungsantrag vorgelegt. Dieser bietet uns allen, auch Ihnen in der Koalition, die Chance, der Regierung einen Handlungsauftrag gegen Umweltnot und Massenarbeitslosigkeit zu geben. Es läge dann immer noch — und darin sehe ich auch Ihre Chance zur Gemeinsamkeit — im Ermessen der Regierung, auf der Grundlage dieses Antrages einen Gesetzentwurf vorzulegen, der im Parlament breite Zustimmung über Fraktionsgrenzen hinweg finden könnte.Sehen Sie sich doch noch einmal das Protokoll des Anhörverfahrens an. Sie werden feststellen, daß alle unparteiischen Sachverständigen die Vorteile für Umwelt und Arbeitsplätze bestätigt haben. Dabei war von 200 000 bis 400 000 Arbeitsplätzen die Rede.Vorbehalte betrafen im wesentlichen die Finanzierung des Projekts, nämlich die Abgaben auf den Energieverbrauch. Dazu muß noch einmal gesagt werden, daß der Verbrauch, d. h. die Verbrennung, von Primärenergie wie 01 oder Kohle und die Erzeugung von Sekundärenergie wie z. B. Strom, aber auch Dampf oder Wärme zur Umweltschädigung beitragen. Dies muß jedem Bürger möglichst schon in der Schule bewußt gemacht werden, wie die SPD-Landtagsfraktion es für den Unterricht in Rheinland-Pfalz schon mehrfach angemahnt hat.Durch diesen Zuschlag auf den Energieverbrauch würden also nicht nur die Mittel für das Projekt „Arbeit und Umwelt" beschafft, sondern es würde auch das Bewußtsein von den luftschädigenden Auswirkungen von Verbrennungsvorgängen geschärft. Selbst wenn als Folge eines solchen Aufschlags von 7 DM pro Durchschnittshaushalt der einzelne Verbraucher diesen Betrag durch Energiesparen wieder herausholt, hat die Umwelt den Vorteil davon. Die verbleibende Einnahme ist immer noch groß genug und ein wichtiger Anstoß für die Vermeidung oder Beseitigung von Umweltschäden und für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Dies wurde auch durch die Ausführungen des Sachverständigen Professor Simonis aus Berlin
ausdrücklich bestätigt, wie sich aus dem Protokoll des Anhörverfahrens ergibt.Aus dem Kreis der Sachverständigen will ich hier einen Praktiker, nämlich Herrn Leonhard, den Direktor der Stadtwerke Saarbrücken, herausgreifen.
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ColletDabei muß man wissen, daß diese Werke auch weite Teile des Saarlands mitversorgen. Er hat vor dem Ausschuß an Beispielen deutlich gemacht, daß bei Einführung dieses Programms im Saarland im Zeitraum von zehn Jahren 7 000 neue Dauerarbeitsplätze entstehen würden. Wenn man berücksichtigt, daß einer Million Einwohner dort 60 Millionen Einwohner der Bundesrepublik insgesamt gegenüberstehen, kann man, wenn man vorsichtig hochrechnet, auf 400 000 Arbeitsplätze kommen.
Dies ist einleuchtend, wenn man an den Bedarf an Fernwärmenetzen, Abf allverwertungseinrichtungen und modernen Kläranlagen oder wenn man an Altlasten im Abfallbereich denkt. Viele Gemeinden brauchen Finanzierungshilfen, um den vorhandenen guten Willen zu unterstützen. Man denke auch an die vielen Kraftwerke, deren Filteranlagen nicht dem neuesten technischen Stand entsprechen.Ich meine also, es gibt gute Gründe, unserem Änderungsantrag zuzustimmen. Mein Kollege Volker Hauff wird noch im besonderen zur Umweltsituation und zu den Auswirkungen des Programms in diesem Bereich Stellung nehmen, und Wolfgang Roth wird aus wirtschaftspolitischer Sicht die Auswirkungen auf Arbeitsplätze und Wirtschaft verdeutlichen.Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch ein paar Sätze als Schlußbemerkung: Es war mir eine Ehre, 21 Jahre lang in diesem Hause mitarbeiten zu dürfen. Entschuldigen muß ich mich bei niemandem, denn ich bin sicher, in all den Jahren niemanden beleidigt zu haben. Dies schließt auch meine früheren Kontrahenten im Wahlkreis, Josef Becker und den leider verstorbenen Kollegen Dr. Werner Marx, ein. Trotz vieler harter Wahlkämpfe und unterschiedlicher Positionen in der Sache läßt sich in den Unterlagen sicher nirgendwo ein persönlich verletzendes Wort des einen über den anderen finden.Wenn Sie in den kommenden Jahren in den grünen Loseblattsammlungen zum Stand der Gesetzgebung, die in vielen Abteilungen des Hauses der Einfachheit halber „Der Collet" genannt werden, nachschlagen, sollten Sie sich daran erinnern, daß ich das komplette Modell dazu Anfang 1973 der damaligen Bundestagspräsidentin Annemarie Renger zur Verfügung gestellt hatte, um uns allen die Arbeit zu erleichtern.Wenn Sie heute zur Unterstützung Ihrer Arbeit Mitarbeiter zur Verfügung haben, so sollten Sie auch wissen, daß wir während der zweiten Hälfte der 5. Legislaturperiode nach Gründung einer entsprechenden Arbeitsgemeinschaft — meine damaligen Stellvertreter waren Egon Klepsch von der Union und Hans-Heinrich Schmidt von der FDP — bei den Haushaltberatungen die Mittel für einen Mitarbeiter pro Abgeordneten durchgesetzt haben.Das von mir in der 5. Legislaturperiode als Muster vorgelegte Vorblatt zu jedem Gesetzentwurf hat der damalige Präsident von Hassel eingeführt. Leider wird es heute, mehr als Pflichtübung, seinemAuftrag, den schnellen Leser über das gegebene Problem, seine Lösung und dessen Kosten zu informieren, nicht mehr gerecht.Kolleginnen und Kollegen! Neben meinem Dank an Sie alle für die langjährige gute Zusammenarbeit richte ich noch eine Bitte und einen Wunsch an Sie — dies scheint mir für die Weiterentwicklung der Demokratie und ihre Stabilisierung sehr wichtig —: Jeder Mensch und erst recht jeder Politiker steht immer — dies wurde im Zeitalter der Werbung noch verstärkt — vor der Frage: Mache und sage ich das, was richtig ist, oder das, was ankommt? Denn das, was richtig ist, kommt nicht immer an, und das, was ankommt, ist nicht immer richtig. Geben Sie dem Richtigen in Zukunft eine größere Chance!Ich bedanke mich.
Herr Abgeordneter Collet, es ist noch zu früh, um Ihnen als langjährigem Mitglied dieses Hauses schon zu danken. Sie sind ja noch bis in die zweite Woche des Dezembers da, und es wäre durchaus denkbar, daß Sie nochmals hier vors Mikrophon treten werden. Deshalb sparen wir uns diesen Dank noch ein bißchen auf. Aber er wird Ihnen gewiß sein.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Lippold.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mehr Umweltschutz durch mehr Beschäftigung — mehr Beschäftigung durch mehr Umweltschutz! Die CDU wird dies verbinden und hat dies verbunden durch integrierten Umweltschutz und integrierte Beschäftigungspolitik. Neben den wirtschaftspolitischen Zielen — hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei angemessenem Wirtschaftswachstum und Preisstabilität — ist für uns der Schutz der Umwelt gleichrangig.
Mit dieser Feststellung in den Stuttgarter Leitsätzen bekennt sich die CDU zur Gleichrangigkeit umweltpolitischer und wirtschaftspolitischer Herausforderungen in der Sozialen Marktwirtschaft. Die Soziale Marktwirtschaft bietet den geeigneten ordnungspolitischen Rahmen, um die Bundesrepublik Deutschland zu einem der umweltfreundlichsten Industrieländer zu entwickeln.Meine sehr geehrten Damen und Herren! Umweltschutz ist eine zu wichtige Daueraufgabe, als daß er durch kurzfristige Strohfeuer-Konjunkturprogramme mit umweltpolitischem Anstrich so wie von der SPD in Anspruch genommen werden kann.
Diese Politik ist bereits in den 70er Jahren gescheitert, Herr Stahl. Wer den Umweltschutz mit der falschen Wirtschaftspolitik verbindet, gefährdet nicht
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Dr. Lippoldnur Arbeitsplätze, sondern auch zügige Fortschritte bei der Lösung umweltpolitischer Probleme.Die Bundesregierung hat jetzt die Rahmendaten geschaffen, die den Wirtschaftsaufschwung und den Beschäftigungsaufschwung ermöglichten und weiter ermöglichen werden: absolute Preisstabilität, Stopp des Schuldenzuwachses,
Zinsstabilisierung, Zinssenkung und nachhaltiger Steuerabbau. Dadurch schufen wir nicht nur in den vergangenen Jahren stetiges Wirtschaftswachstum, sondern werden dies auch in den kommenden Jahren schaffen. Wir haben jetzt einen Investitionsaufschwung im Inland, der endlich den Investitionsabschwung unter Ihrer Regierungszeit, Herr Stahl, wieder ausgleicht.
Dieser Investitionsaufschwung heißt: mehr und humanere Arbeitsplätze, umweltfreundlichere Produktionsverfahren sowie schadstoffarm und energiesparend arbeiten — aber nicht erst nachträgliche Sanierung eingetretener Schäden. Dieser Investitionsaufschwung heißt auch: neue und umweltfreundliche Produkte — Umweltverträglichkeit und Rohstoffe sparen. Das ist das richtige Konzept.Wir konnten mit dieser integrierten Wirtschafts-und Umweltschutzpolitik auch Ihre Talfahrt in die Arbeitslosigkeit stoppen. In den beiden letzten Jahren Ihrer Regierung nahmen die Arbeitslosenziffern um jeweils über 40 % zu. In den letzten drei Jahren haben wir über 600 000 Arbeitsplätze neu, zusätzlich geschaffen. Das ist ein Erfolg; daran kommen Sie nicht vorbei.
Das haben wir mit einer konsequenten und entschlossenen integrierten Umweltschutz- und Wirtschaftspolitik gemacht — nicht mit staatlichen Ausgabeprogrammen, nicht mit Gängelung im Detail, sondern mit sachgerechten, wirtschaftlichen und zeitlichen Anpassungsspielräumen. Das sind die Markenzeichen unseres innovativen Umweltschutzes.Wir nutzen den Sachverstand durch Kooperation mit der Wirtschaft. Diese Politik, so wie ich sie kennzeichne, hat eine stolze Bilanz aufzuweisen: mehr Luftreinhaltung durch die Großfeuerungsanlagen-Verordnung, durch die Novellierung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, der TA Luft. Das bedeutet für den Menschen auch mehr Gesundheitsschutz, mehr Beitrag zur Rettung unserer Wälder. Ich glaube, das ist ganz besonders wichtig. Beides muß man miteinander sehen. Wir haben das auch dadurch geschafft, daß wir das umweltfreundliche Auto, dessen Einführung Sie verschlafen haben — daran sind Sie alle beteiligt, die Sie auf der erstenBank sitzen —, innerhalb von nur zweieinhalb Jahren durchgesetzt haben.
Jetzt wird deutlich, daß die Entwicklung einen geradezu stürmischen Aufschwung nimmt. Lassen Sie sich die letzten Zulassungszahlen vorlegen, lassen Sie sich sagen, in welchem Umfang Katalysatorautos jetzt den Anteil an der Produktion bestimmen.Wir haben auch besseren Gewässer- und Grundwasserschutz durchgesetzt durch die Neufassung des Wasserhaushaltsgesetzes, durch die Überarbeitung des Abwasserabgabengesetzes, das wir jetzt gerade fertigstellen, durch die Überarbeitung des Waschmittelgesetzes, das auch fertiggestellt wird.
In der Abfallwirtschaft geht die CDU/CSU konsequent nach dem Grundsatz Vermeidung vor Verwertung und sicherer Entsorgung vor. Die Novelle zum Abfallbeseitigungsgesetz ist verabschiedet. Sie bringt den Einstieg in die Abfallwirtschaft, die Schonung von Deponien und Rohstoffen. Dem Gefährdungspotential der Abfälle wird Rechnung getragen. Gefährliche Abfälle müssen sicher gelagert oder schadstoffarm verbrannt werden, wenn sie nicht vermieden oder recycliert werden können. Mit der in Arbeit befindlichen TA Abfall werden wir den notwendigen Handlungsrahmen dafür schaffen.Die CDU/CSU betreibt eine Politik der umf assen-den Vorsorge auch in den übergreifenden Bereichen der Umweltpolitik. Wir haben den medienübergreifenden Umweltschutz ausgebaut. Mit dem Bodenschutzkonzept haben wir die Grundlage für das Bodenschutzprogramm geschaffen.
Mit der Gefahrstoffverordnung wurde ein weiterer Schwerpunkt der Schadstoffreduzierung und der Vorsorge am Arbeitsplatz gesetzt. Schließlich haben wir die Umweltforschung favorisiert; denn gerade vorsorgender Umweltschutz braucht Informationen über ökologische Wirkungszusammenhänge, damit die Weichen richtig und nicht in eine falsche Richtung gestellt werden.
Umweltschutz kostet Geld. Eine gesunde Wirtschaft kann sich das leisten. Wir haben in den letzten Jahren 200 Milliarden DM in den Umweltschutz investiert.
Mit unseren neuen Vorhaben werden jetzt noch einmal mehr als 50 Milliarden DM investiert werden.
Das sichert Arbeitsplätze in der Umweltschutzindustrie. Das ist Vorfahrt für Beschäftigung.
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Dr. LippoldIch sage allerdings auch, daß wir alleine mit diesen Umweltschutzinvestitionen natürlich nicht das Gesamtphänomen der Arbeitslosigkeit werden beseitigen können.Kurz gefaßt: Unsere Entscheidungen bedingen einen Umweltschutz und ein Investitionsprogramm in Milliardenhöhe, ergänzt durch Sonderabschreibungen, die wirksame Anreize darstellen. Wir stellen zinsgünstige Kredite über die KfW zur Verfügung, ebenfalls über das ERP-Programm. Schon diese konzentrierte, am Verursacherprinzip orientierte Handlungskonzeption macht den heute vorliegenden SPD-Vorschlag überflüssig. Die wenigen richtigen Ansatzpunkte sind von uns längst übernommen worden. Sie laufen der Entwicklung hinterher. Die gravierenden Nachteile Ihres Programms werden hingegen von uns vermieden.Zum Vorschlag der SPD, ein Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" einzurichten, zehn Punkte. Erstens. Es trägt alle Züge eines umweltpolitisch verbrämten Konjunkturprogramms, mit dem die SPD bereits in der Vergangenheit nachweislich gescheitert ist. Das bestätigen Ihnen auch alle Sachverständigen.
— Das ist nicht falsch. Sie behaupten das Gegenteil, aber wir können es nachweisen.
Zweitens. Es betont aus umweltpolitischer Sicht — das haben Ihnen auch alle Sachverständigen in der Anhörung gesagt — zu stark das Gemeinlastprinzip. Nicht der Verursacher kommt für die Beseitigung von Umweltschäden auf, sondern die Gesamtheit der Steuerzahler.
Drittens. Mittel für dieses Programm kommen aus zusätzlicher Verschuldung. Die Kreditaufnahmen beeinflussen den Kreditmarkt und die Zinsen nicht positiv. Das gefährdet weitere Investitionen. Das wissen Sie, und trotzdem gehen Sie von diesem falschen Weg nicht ab.
Viertens. Die für dieses Programm erforderlichen Subventionen, Zinsverbilligungen und Zuschüsse werden durch Steuererhöhungen und Zuschläge finanziert, die der kleine Mann, der Rentner, der sozial Schwache besonders zu spüren bekommt.Fünftens. Die unübersehbaren Schwächen der Finanzierung dieses Fonds durch das, was ich gerade genannt habe, sind ja selbst vom parteinahen DGB kritisiert worden. Das hat dazu geführt, daß die SPD selbst darauf verzichtet hat — das waren Sie, meine Damen und Herren —, die Finanzierungsvorstellung in den heute vorliegenden Beschlußantrag aufzunehmen. Das ist doch ein wahrhaft phänomenales Ereignis. Nach bewährter SPDManier wird in Ihrem Beschlußantrag, der uns heute vorliegt, wiederum nur gesagt, wofür gezahlt werden soll, aber nicht, woher das Geld dafür kommen soll. Nichts spricht mehr für die Unsolidität sozialdemokratischer Finanzpolitik wie gerade auch wieder dieser Vorschlag, der in Form des Beschlußantrags vorliegt.
Ich darf damit einen kurzen Rückblick verbinden. Seinerzeit, als Sie diese Finanzierungsvorstellungen in die Diskussion einbrachten, wurden Sie nicht nur von uns, sondern auch vom DGB und anderen kritisiert. Sie haben sie daraufhin zurückgezogen,
haben im Ausschuß gesagt, Sie wollten eine andere Lösung vorstellen, und nach einem guten halben Jahr kamen Sie kleinlaut und mit der nahezu unveränderten Lösung wieder zurück, mit genau dem, was DGB, Wirtschaftsinstitutionen, Forschungsinstitute und auch wir nachhaltig kritisieren, nämlich mit einer unsoliden Finanzierung dieses Programms zu Lasten der Kleinen, zu Lasten der sozial Schwachen, zu Lasten der Verbraucher, der Rentner, der Arbeitnehmer.
Meine Damen und Herren, das ist ziemlich deutlich ein Punkt, der ja in den Gesamtrahmen Ihrer wirtschafts- und steuerpolitischen Vorstellungen paßt. Die Energiesteuer kommt doch nicht zufällig. Das Steueranhebungsgesetz der SPD ist eigentlich das detaillierteste Konzept, das Sie vorgelegt haben. Ich darf erinnern: Anhebung der Ergänzungsabgabe, Solidarsteuer, Abbau der Abschreibungsvergünstigungen, Rücknahme der Vermögensteuersenkung, Sparbuchsteuer. Ich könnte diesen Katalog noch ellenlang fortführen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Gelder, die Sie Arbeitern, Angestellten und Rentnern sowie auch der Wirtschaft abnehmen, kommen sechstens nicht sofort dem Umweltschutz zugute. Davon gehen, wie die Abwasserabgabe zeigt, die Verwaltungskosten ab. Dann werden Förderprogramme erstellt, dann werden Pläne gemacht, dann wird in Kommissionen über die Mittelvergabe diskutiert, vielleicht sogar auch noch entschieden, und dann steht am Ende irgendwann einmal doch noch die Umweltschutzinvestition, und dann ist es zu spät.
Was Sie vorschlagen, ist in Wirklichkeit noch viel bürokratischer. Aber das läßt sich in so kurzer Zeit nicht darstellen.Siebtens. Schafft diese Umweltinvestition mehr Arbeitsplätze? Meine sehr geehrten Damen und Herren, nicht in dem von Ihnen genannten Ausmaß. Sie berücksichtigen nicht den Kaufkraftentzug durch den Steuerzuschlag. Die Mehrnachfrage auf der einen Seite wird nämlich zumindest zum Teil
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Dr. Lippolddurch die Mindernachfrage auf der anderen Seite kompensiert.
Das stört Sie aber gar nicht, und das ist auch kein Quatsch, Herr Roth. Das sagen Ihnen alle Sachverständigen. Davon sollten Sie ein paar mehr in Ihren eigenen Reihen haben. Das wäre sehr gut.Diese Umweltinvestition beeinträchtigt natürlich darüber hinaus im wesentlichen die Investitionsneigung und die Investitionsfähigkeit. Das haben sowohl die Bundesbank als auch wirtschaftswissenschaftliche Institute, die Wirtschaft und die Forschungsinstitute bestätigt.Achtens. Die Zahlen, die Sie zur Beschäftigungswirksamkeit nennen, sind gegriffen. Mal sprechen Sie von 200 000 Arbeitsplätzen, die Sie schaffen wollen, mal von 400 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen. Ihre Parteifreunde in Hessen haben sogar ein Konzept vorgelegt, mit dem sie 720 000 zusätzliche Arbeitsplätze schaffen wollen.
Ich frage Sie, Herr Hauff: Warum nehmen Sie dann nicht dieses Programm, mit dem Sie doch eigentlich mehr Arbeitsplätze schaffen könnten, als sie es jetzt vorhaben?Aber der entscheidende Punkt ist: Die Zahlen sind gegriffen, es sind Schätzdaten, es ist unsolide, genauso wie es unsolide finanziert ist.Auch die umweltschutzpolitische Vorstellung ist verfehlt; denn Sie handeln mit diesem Programm so, daß Sie am Symptom korrigieren, aber nicht an den zugrunde liegenden Fakten.
Das haben Ihnen selbst die GRÜNEN bestätigt, die Ihr Programm als einen „umweltpolitischen Reparaturbetrieb" bezeichnet haben, als eine Korrektur am Symptom. Wenn selbst Ihre neuen Freunde Sie nicht beeinflussen können, dann lassen Sie sich doch wenigstens von uns sagen, daß dies ein Weg in die falsche Richtung ist.Das Fazit ist: Die Umweltpolitik dieser Koalition, eingeleitet durch die ersten Maßnahmen in den ersten Jahren und jetzt konsequent und entschlossen fortentwickelt von Minister Wallmann, konsequent auch durchgeführt, ist der Weg in die richtige Richtung. Wir werden diesen Weg weitergehen. Wir werden Minister Wallmann genauso wie diese Bundesregierung unterstützen. Das wird mehr Beschäftigung und auch mehr Umweltschutz für unser Land bedeuten.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, in der Ehrenloge hat eine Delegation des Auswärtigen Ausschusses des Repräsentantenhauses des Königreiches Marokko unter Leitung des Vi-
zepräsidenten des marokkanischen Parlaments, Herrn Ahmed Lasky, Platz genommen.
Im Namen des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie sehr herzlich und wünsche Ihnen gute Gespräche sowie einen angenehmen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Roth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Umweltpolitik ist auch stets Wirtschaftspolitik. Wirtschaftspolitik muß, ob es Unternehmer, Gewerkschaften oder Fachökonomen akzeptieren, künftig auch Umweltpolitik sein.Herr Lippold, es gibt große Lasten auf der Umwelt aus den vergangenen Jahrzehnten der industriellen Entwicklung, in der alle die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen unterschätzt haben. Es gibt wegen dieser Lasten Aufgaben zur Beseitigung der Altschäden.Unser Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" konzentriert sich auf die Beseitigung dieser Altschäden, auf die Beseitigung der Vergiftung von Böden, auf die Wiederherstellung zerstörter Gewässer, auf die Beseitigung von Schäden in der Luftverschmutzung und vorhandener Schäden in der Lärmbelastung. Ich habe nun verstanden, daß Sie, bezogen auf diese Altlasten in der Umwelt, keine politische Antwort haben, an keiner einzigen Stelle.
Meine Damen und Herren, Umweltzerstörung ist die eine große Herausforderung, Massenarbeitslosigkeit die andere. Unser Volk stand nach dem Zweiten Weltkrieg nun wahrhaftig vor ähnlich großen Verantwortungen und Herausforderungen und hat die Aufgaben bewältigt. Das waren damals der Wiederaufbau der Städte und die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit, zu der es insbesondere auch wegen des Zustroms der Vertriebenen gekommen war. Die Auseinandersetzung mit den Investitionen zum Wiederaufbau der Städte hat gleichzeitig das Problem der Massenarbeitslosigkeit mit bewältigt.Wir sind der Auffassung: Die Auseinandersetzung mit der Zerstörung der Umwelt und den auf der Umwelt lastenden Altschäden kann gleichzeitig ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit sein. Das ist die Aufgabe dieser Tage.
Jetzt zitiere ich ein CDU-Mitglied, das Sie nun weiß Gott nicht so verächtlich machen können, wie Sie es vorhin gegenüber unseren Vorschlägen getan haben, nämlich Dr. Wicke, den Direktor des Umweltbundesamtes. Er sagt wörtlich:Wiederaufbau der zerstörten Umwelt bzw. Erhaltung der noch intakten Teile von ihr und Schaffung von zwei Millionen Arbeitsplätzen, das ist eine Aufgabe, die zusammengeht.
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RothWir haben mit unserem Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" den Vorschlag gemacht, diese Doppelaufgabe nun anzupacken.Wirtschaftspolitisch sehe ich zwei Gründe für einen derartigen Ansatzpunkt. Erstens. Wir sind davon überzeugt, daß wir mit der in den sechziger und siebziger Jahren und im Grunde bis heute praktizierten Strategie eines nur und vor allem exportorientierten Wirtschaftswachstums an eine Grenze gestoßen sind. Wir brauchen jetzt auch Nachholbedarfbewältigung und Nachfrage im Bereich der Binnenwirtschaft. Gerade im Umweltsektor haben wir erheblichen Nachholbedarf und Investitionschancen und damit Nachfragemöglichkeiten.Zweitens. Umweltschutzinvestitionen sind rentabel, oft — das gebe ich zu — nicht rentabel für das einzelne betroffene Unternehmen, aber rentabel für die Volkswirtschaft, für unsere Gesellschaft. Der genannte Professor Wicke — noch einmal sei es gesagt: Ihr Parteimitglied — kommt auf Grund von Untersuchungen des Umweltbundesamtes zum Ergebnis, daß eine Milliarde DM an Umweltinvestitionen einen volkswirtschaftlichen Ertrag von 2,5 Milliarden DM hat. Oder lassen Sie es mich negativ sagen: Auf Grund unterlassener Umweltinvestitionen hat diese Volkswirtschaft einen Verlust von 103 Milliarden DM jährlich; so sagt das Umweltbundesamt.Meine Damen und Herren, wer jetzt von volkswirtschaftlicher Rentabilität redet, der sollte unser Projekt unterstützen und nicht Autobahnen, dem Rhein-Main-Donau-Kanal oder anderen Fernstraßen nachrennen. Das ist die Alternative im Ökologischen.
Angesichts dieser Schadensziffern wird es höchste Zeit, daß wir uns angewöhnen, wirtschaftliche Leistungen nicht mehr an Umsatz- und Sozialproduktzahlen zu messen, sondern jährlich auch die Umweltschäden vom Bruttowert unserer Produktion abzuziehen. Wir werden dann feststellen, daß Umweltinvestitionen mit der rentabelsten volkswirtschaftlichen Investition vereinbar sind. Eine Umweltoffensive rechnet sich.
Herr Abgeordneter Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wissmann? — Bitte schön.
Herr Kollege Roth, da es ja keinen Streit über die Notwendigkeit des Umweltengagements in der Substanz gibt,
sondern nur einen Streit über den richtigen Weg dorthin, möchte ich Ihnen die Frage stellen, ob Sie Ihr Konzept, das Sie hier noch einmal zur Beratung stellen, hier nicht auch unter dem Gesichtspunkt einer genaueren Durchleuchtung unterziehen wollen, wie Sie es eigentlich finanzieren, und ob Sie zu dem Hinweis Ihres Kollegen Dr. Jens, der nach der letzten Anhörung vieler Sachverständiger erklärt hat, daß er die Erhöhung der Energiesteuern zur
Finanzierung eines solchen Programms für fragwürdig halte,
[SPD]: Das hat er nicht so
erklärt! Sie sollten das einmal genau nachlesen! — Dr. Hauff [SPD]: Falsch zitiert!)
hier nicht präziser Stellung nehmen können.
Verehrter Kollege, das war ja fast eine Rede, die Sie gehalten haben. Sie haben insgesamt drei Fragen gestellt.
Erstens. Sie haben keine Antwort auf die Frage der Altlasten. Mit dem Verursacherprinzip, worüber der Herr Lippold redete, kann man nicht mehr an die Lösung des Problems herangehen. Das wissen Sie ganz genau.
Zweitens. In einer Phase, in der die Energiepreise besonders niedrig sind, besteht die Gefahr, daß wieder Energieverschwendung stattfindet. Unser Vorschlag zur Finanzierung der Beseitigung von Altschäden unserer Umwelt liegt auch in der Zeit, nicht nur in der Sache goldrichtig.
Sie kennen unser Konzept. Wir sind der Auffassung: Ein Sondervermögen nimmt Kredite auf, die es weitergibt an die Gemeinden. Gleichzeitig werden aus einer Energieabgabe Zinsen und Tilgung gedeckt. Das Institut für Wirtschaftsforschung Berlin hat uns in der Anhörung bestätigt, daß damit 17 Milliarden DM Investitionen mobilisiert werden und ein Beschäftigungseffekt — unter Einbeziehung der Effekte, von denen Sie geredet haben — für netto 400 000 Personen erreicht würde. Das IfoInstitut hat etwa dieselbe Schätzung vorgenommen. Ich zitiere das Ifo-Institut:
— Ich bin bereit, weitere Fragen zu beantworten, aber nur, wenn Sie mir einen Zuschlag geben, Herr Präsident.
Ich rechne Ihnen die Zeiten nicht an. Einen Zuschlag bekommen Sie nicht.
— Herr Abgeordneter Lippold, bitte sehr.
Herr Kollege Roth, ist Ihnen im Anhörungsverfahren deutlich geworden, daß das Ifo-Institut die Daten, die zur Beschäftigungsentwicklung genannt worden sind, unter den deutlichen Vorbehalt gestellt hat, daß erstens im Bereich der Löhne ein Ausgleich geschaffen wird, daß zweitens die Investitionsneigung nicht beeinträchtigt werden darf, daß dann drittens die Gewerkschaften dazu gesagt haben, sie würden darauf nicht eingehen, und daß bezüglich der Investitionsneigung gesagt wurde, sie würde dadurch wesentlich beeinträchtigt, daß mithin diese Konsequenzen erst gar nicht eintreten werden?
Herr Abgeordneter Lippold, ich habe aufmerksam darauf gewartet, bis die Frage kommt.
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Ich beantworte sie trotzdem, denn ich ahne die Tendenz der Frage, und dann kann man j a antworten. Ich antworte mit einem Zitat des IfoInstitutes:Das vorgeschlagene Sondervermögen unterscheidet sich hinsichtlich Konzept, Organisation und Laufzeit deutlich von früheren, sehr kurzfristig angelegten Konjunktur- und Beschäftigungsprogrammen und kann daher nicht a priori mit dem Hinweis auf deren mangelhaften Erfolg abgelehnt werden.Das ist die Antwort auf Ihre Frage.
Diese Beurteilung des Ifo-Instituts — Oppenländer ist der Chef, nun weiß Gott nicht ein eingeschriebenes Mitglied der SPD; leider, würde ich sagen, ist er noch in einer anderen Partei —
hat also deutlich gemacht, daß darin ein Beschäftigungs- und ein Umweltprogramm liegt. Übrigens, polemische Kritik an unseren Vorschlägen geht ja auch deshalb an der Wirklichkeit und an Ihrer Realität vorbei, weil Sie j a unser Programm im kleinen Maßstab klammheimlich kopiert haben,
und zwar in vier Elementen:
Erstens. Sie haben ein ERP-Programm für Maßnahmen der Abwasserwirtschaft, der Luftreinhaltung und der Abfallwirtschaft aufgelegt. Zweitens haben Sie zinsgünstige Kredite — ein kleines Programm, zugegebenermaßen — der Kreditanstalt für Wiederaufbau für kommunale Umweltinvestitionen akzeptiert. Drittens sind Sie bereit gewesen, mit Hilfe der Deutschen Ausgleichsbank ein kleines, ein MiniProgramm für kleine und mittlere Unternehmen aufzulegen. Viertens haben Sie auch die Gemeinschaftsaufgabe erweitert und Mittel für Umweltinvestitionen einbezogen. Das macht hinsichtlich des Beschäftigungseffekts insgesamt aber nur etwa 15 % unseres Vorschlags aus. Wenn Sie den restlichen 85 % zustimmen, dann sind wir ideologisch und in der Sache endlich einer Meinung.
Das, worin wir uns in der Sache unterscheiden, ist einerseits das notwendige Volumen und andererseits die Aufrichtigkeit hinsichtlich der Notwendigkeit, Kosten zu tragen.Meine Damen und Herren, Umweltschutz gibt es nicht zum Nulltarif, Altlastenbeseitigung erst recht nicht. Wenn Sie den Verursacher der Umweltschäden nicht mehr haftbar machen können, muß die Allgemeinheit für die Schadensbeseitigung aufkommen. Wie — mit Steuern oder mit anderen Abgaben —, darüber muß man dann im Detail diskutieren, aber nicht darüber, ob sie überhaupt dafür aufkommen soll.Sie und die Wirtschaftsverbände haben gegen das Sondervermögen auch mit dem Argument Front gemacht, die Belastung des Energieverbrauchs führe zu Wettbewerbsnachteilen. Mit dem Argument „Wettbewerb" hat übrigens, Herr Haussmann, Graf Lambsdorff schon in der sozialliberalen Koalition Gerhart Baum in seinen Umweltanstrengungen ständig behindert.
Meine Damen und Herren, Japan hat infolge der massiven Bedrohung der Gesundheit der j spanischen Bevölkerung Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre ein Jahrzehnt gewaltiger Umweltschutzanstrengungen hinter sich gebracht. Japans Konkurrenzfähigkeit wurde dadurch nicht ruiniert, im Gegenteil: Japan ist heute wettbewerbsfähiger denn je. Übrigens ist das gar nicht erstaunlich: Die verschärften Umweltanforderungen haben den technischen Fortschritt angeregt, eine Umstrukturierung der Wirtschaft ausgelöst und die Modernisierung der japanischen Wirtschaft in die richtige Richtung beschleunigt. Japan hat bei umweltfreundlichen Produktionsverfahren und Produkten einen Konkurrenzvorsprung, was ihm im übrigen auch beim Export zugute kam. Es war ein Trauerspiel — ich schließe mich da in der Kritik gar nicht aus —, daß wir bei Katalysatoren vorübergehend auf den Import aus Japan angewiesen waren. Deshalb müssen mehr Anstrengungen in der richtigen Richtung stattfinden.
Meine Damen und Herren, ein anderer Vorwurf von Ihnen lautet, dieses Programm sei dirigistisch. Wenn die Koalition mit diesem Vorwurf auf das technische Verfahren abzielt, also Kreditantrag und -gewährung über KfW bzw. über das ERP-Vermögen, dann wäre alles dirigistisch, was wir über ERP zugunsten des Mittelstandes machen.
Das Argument würde dann auch hier zutreffen. Wer absurde Investitionen wie Wackersdorf gegen jede wirtschaftliche Vernunft durchsetzt, soll uns mit dem Vorwurf „Dirigismus" in Ruhe lassen, meine Damen und Herren.
Sie plädieren nun, Herr Lippold, für mehr Marktwirtschaft beim Umweltschutz; so weit, so gut. Wenn marktwirtschaftlicher Umweltschutz für Sie bedeutet, daß — wie im Fall der Abwasserabgabe — der Gewässerverschmutzer eine Abgabe zahlen und sich deshalb über den Markt anstrengen muß, Alternativen zu bieten und den Schmutz zu beseitigen, dann stimmen wir hier überein. Wichtig ist nur, daß wir mit umweltpolitischen Instrumenten erreichen: erstens, daß ein Betrieb durch mehr Umweltschutz künftig Kosten einsparen oder eben Gewinne erzielen kann; zweitens, daß Umweltschutzinvestitionen dorthin gelenkt werden, wo sie den größten Effekt haben; drittens, daß Betriebe nicht mehr dem Bundestag und den Ministerien auf den Hals rücken, um nachzuweisen, daß der Stand der Technik mehr Umweltschutz nicht zuläßt. Für sie sollte vielmehr ein Anreiz bestehen, ihren Verstand
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Rothund ihre Kraft darauf zu konzentrieren, den Stand der Umwelttechnik ständig zu steigern.Ich glaube, mit dieser Vorstellung von marktwirtschaftlichem Umweltschutz unterscheiden wir uns nicht so sehr von den Umweltpolitikern der Koalition — ich sage das einmal so —; aber wir unterscheiden uns gründlich von den Wirtschaftspolitikern der Koalition, die diese Art von marktwirtschaftlichen Instrumenten im Umweltschutz ständig abgelehnt haben.Ihre heutige Haltung zeigt, daß Ihr Ziel weiter das Nichtstun — bezogen auf die Altschäden — ist. Die Ignoranz, mit der von der Koalition im Wirtschaftsausschuß das Altlastenproblem behandelt wurde, ist für mich immer noch unglaublich. Haben wir bisher etwa durch freiwillige Vereinbarungen beim Altlastenproblem Erfolge erzielt? Ist durch die Wirtschaft, durch den BDI, ein Fonds für die Altlastenbeseitigung eingerichtet worden? Professor Wicke zitiert hierzu in seinem jüngsten Buch einen Vertreter des BDI, der gesagt hat: „Auch nur den Versuch einer freiwilligen Fondsbildung gegen die Altlasten zu unternehmen käme einem verbandspolitischen Harakiri gleich." Das ist die Antwort aus dem Unternehmensbereich.Wenn dies so ist: Wie sonst als durch ein Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" sollen die Altlasten beseitigt werden? Sie geben keine glaubwürdige Antwort auf diese Frage. Ich hoffe, daß diese Debatte Ihnen nochmals Zeit zum Nachdenken gibt und Sie dazu bewegt, unseren Vorstellungen endlich Ihre Zustimmung zu geben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Haussmann.
Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Ich bedauere außerordentlich,
daß auf Grund einer wichtigen Fraktionssitzung sowohl der Unionsfraktionen als auch meiner Fraktion
zu dem Thema Terrorismusbekämpfung nicht mehr Kollegen hier sein können. Ich bitte, mir das abzunehmen. Minister Bangemann selbst wollte zu dem Thema sprechen.
Das Thema „Arbeit und Umwelt" ist überhaupt nichts Originelles.
Es ist ein Thema, mit dem sich CDU/CSU, SPD und FDP seit über 40 Jahren beschäftigen, weil es immer schon darauf ankam, einerseits Aspekte der Arbeitsplätze und andererseits Aspekte der Natur miteinander zu vereinen.
Insofern ist dies nichts Neues.Die FDP selbst hat überhaupt keinen Nachholbedarf, was dieses Thema angeht.
Als es im Bundestag noch keine grüne Partei gab, als es in Bonn ein Große Koalition zwischen SPD und CDU/CSU gab, gab es zum erstenmal in Westeuropa ein Parteiprogramm — es wurde 1971 von den Freien Demokraten in Freiburg verabschiedet —,
in dem das Recht auf eine gesunde Umwelt vorrangig verankert war.
Die Anstrengungen meiner Partei unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt und unter dem jetzigen Bundeskanzler Helmut Kohl,
den Umweltschutz im Grundgesetz zu verankern, sind bisher gescheitert. Insofern hat die FDP keinerlei Nachholbedarf zu diesem Thema.
Der erste Umweltminister Hans-Dietrich Genscher hat die erste größere Umweltschutzgesetzgebung in Westeuropa auf den Weg gebracht. Wir stehen heute nach wie vor dafür ein: Die beste Kombination von Arbeit und Umwelt sind ein staatliches Rahmenprogramm und marktwirtschaftliche Wettbewerbselemente, die dieses Programm erfüllen, und nicht ein uraltes staatliches Investitionsprogramm à la SPD, das jetzt einen grünen Mantel erhält.
— Herr Hauff, es ist ein uraltes staatliches Konjunkturprogramm mit einem grünen Mäntelchen. Das ist die ganze Philosophie der Sozialdemokraten.
Die entscheidende Frage hat Herr Wissmann ja angesprochen:
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18622 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Dr. HaussmannWie hält es die SPD mit der Finanzierung?
Was nützt es denn dem Umweltschutz, wenn der Verbraucher dafür blechen muß, meine Damen und Herren?
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter Haussmann. Ich habe mit sehr viel Aufmerksamkeit und auch mit gleich großer Geduld immer wieder die Häufigkeit der Zwischenrufe festgestellt. Ich bitte, ein bißchen Zurückhaltung zu üben.
Ich habe den Eindruck, daß die Debatte doch sehr sachkundig und sachbezogen geführt wird. Ich habe den Eindruck, daß wir hier in einem etwas erweiterten Familienkreis sind. Stören Sie bitte den Kreis nicht.
Herr Präsident, ich bedanke mich. — Ich bin eigentlich froh darüber, daß meine Rede eine solche Resonanz bei den Sozialdemokraten erzeugt.
Ich war an dem Punkt angekommen, wo ich sagte, der Pferdefuß dieses scheinbar neuen SPD-Programms liegt auf der Finanzierungsseite, indem nämlich das Grundprinzip des Umweltschutzes, nämlich das Verursacherprinzip, ausgeschaltet wird. Das heißt, Umweltlasten, die entstanden sind, sollen nicht von den Verantwortlichen bezahlt und finanziert werden, sondern der Autofahrer soll durch Benzinverteuerung, der Stromkunde soll durch Energieverteuerung dafür blechen.
— Meine Damen und Herren, ich kann darauf folgendes sagen. Wir setzen uns im Moment dafür ein, daß durch eine stärkere Vergünstigung für bleifreies Benzin das umweltfreundliche Auto sich durchsetzt.
Die SPD und die GRÜNEN setzen sich dafür ein, daß das Benzin teurer wird. Das unterscheidet uns eben. Wir sind eine Koalition, die die Steuern und Abgaben senken will.
Herr Abgeordneter Haussmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Herrn Abgeordneten Senfft? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Senfft.
Herr Kollege Haussmann, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie dem Antrag des Bundesrates auf Senkung der Mineralölsteuer für bleifreies Benzin als Fraktion zustimmen werden?
Meine Fraktion setzt sich seit langem dafür ein, daß bleifreies Normalbenzin wie in der Schweiz und in Österreich verboten werden soll. Wir setzen uns seit längerer Zeit dafür ein,
daß die Steuererhöhungen beim bleihaltigen Benzin zu keinem Gewinn beim Finanzminister führen dürfen, sondern daß die Gewinne an den umweltbewußten Autofahrer, der bleifrei fährt, weitergegeben werden. Die Frage wird dann zu entscheiden sein, wenn auch im Bundesrat ein einheitliches Votum da ist.
— Darf ich fortfahren? — Letztlich verengt sich doch die Frage, meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, darauf: Neben Arbeitszeitverkürzung ist ihr neuestes Modell, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, dieses Sonderprogramm. Da sind wir der Meinung, daß sich mehr Arbeitsplätze auch im Umweltschutz nicht durch teure bürokratische staatliche Programme schaffen lassen, sondern durch andere Mittel.Wir brauchen nur das Herbstgutachten zu studieren, meine Damen und Herren. Diesen Ratschlag gebe ich Ihnen. Erstens. Machen Sie mit uns solides, inflationsfreies Wirtschaftswachstum.
Daraus resultiert mehr Wettbewerbsfähigkeit. Eine wettbewerbsfähige Industrie ist leichter in der Lage, Umweltschutzauflagen zu erfüllen.Zweitens. Beteiligen Sie sich an einer soliden Finanzpolitik. Eine solide Finanzpolitik schafft Finanzierungsspielräume auch für die Gemeinden, um mit Umweltlasten fertig zu werden.
Dazu braucht man keine staatlichen Programme.Drittens. Meine Damen und Herren, sorgen Sie dafür, daß der Widerstand gegen moderne Technologien aufgegeben wird. Der Einsatz von modernen Technologien eröffnet die größte Chance, alte Umweltschäden in Ordnung zu bringen.
Erst so, meine Damen und Herren, werden aus Umweltschutz auch mehr Arbeitsplätze. Mit einem uralten staatlichen Investitionsprogramm, für das der Verbraucher zu blechen hat, gibt es keine neuen Arbeitsplätze, sondern nur mehr staatliche Bürokratie.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18623
Ich erteile Herrn Dr. Müller das Wort.
Herr Abgeordneter, ich war abgelenkt, weil von der Tribüne ein Gegenstand herabgeworfen worden ist. Ganz gleich, ob er ungefährlich ist oder nicht, das ist ein Zustand, den es bei uns in diesem Hause nicht gibt. — Bitte sehr.
Das Problem heutzutage ist, daß eine große Anzahl von Dingen von oben kommen, die wir so nicht erwartet haben.
In einer Umweltdebatte muß man einfach einmal darauf hinweisen können, daß all das, was aus dem Schornstein herausfliegt, später als Regen oder dergleichen — meistens als saurer Regen — ungewünscht wieder herunterkommt. Deswegen sollten wir in dieser Debatte so überrascht nicht sein.Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir haben uns als Fraktion der GRÜNEN in den Beratungen in den Ausschüssen teilweise der Stimme enthalten, teilweise zugestimmt, um klarzumachen, daß ein Grundgedanke in diesem Antrag der sozialdemokratischen Fraktion richtig ist. Das ist der Grundgedanke, daß Investitionen im Bereich des Umweltschutzes selbstverständlich Arbeitsplätze schaffen. Dieser Grundgedanke ist richtig, und das betonen wir. Wir sind froh, daß die sozialdemokratische Fraktion diesen Gedanken nachvollzogen und davon Abstand genommen hat, die gesamten Investitionen im Bereich der Umweltpolitik als Ausstieg aus der Industriegesellschaft zu denunzieren oder dergleichen.
— Wenn Sie, Herr Roth, den Zwischenruf machen, daß ich klein und dick sei, dann würde ich Ihnen empfehlen, Ihren eigenen Umfang einmal kurz und kritisch zu betrachten.
Es ist selbstverständlich richtig, heutzutage angesichts der Umweltkrise und der Arbeitslosigkeit darauf hinzuweisen, daß die Arbeitslosigkeit allein durch Umweltinvestitionsprogramme nicht zu bewältigen ist. Dazu bräuchte es insbesondere in strukturschwachen Gebieten regionaler Strukturprogramme und insbesondere Arbeitszeitverkürzungen. Die Gefahr bei dieser Debatte hier ist, daß der Eindruck entsteht, allein durch Umweltinvestitionen sei die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Dies ist nicht der Fall.
Ich betone, in Übereinstimmung auch mit einer Tendenz in diesem Antrag der Sozialdemokraten, daß in modernen Industriegesellschaften die Probleme Umweltkrise und Arbeitslosigkeit gleichzeitig gelöst werden müssen. Diese Lösung wird allerdings nur dann als soziale Lösung möglich sein, wenn gleichzeitig aus riskanten, veralteten, fehlerunfreundlichen Produktionsstrukturen ausgestiegen wird — als wichtigste ist hier die Atomenergie zu nennen — und parallel dazu industrielle, ökologisch verträgliche Produktionsweisen erforscht, entwickelt und durch staatliche und marktwirtschaftliche Anreize und Gesetze gefördert und auch durchgesetzt werden.
Ich betone diese Gleichzeitigkeit, weil alles andere großen Abstand von der Wirklichkeit nimmt, und dies käme weder der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit noch der Bekämpfung der Umweltkrise zugute.Ein Ausstieg — das sage ich für die gesamte grüne Fraktion — aus der Industriegesellschaft im Sinne eines Bruches ist weder möglich noch konsensfähig und erst recht nicht sozial zu verantworten. Ich betone das insbesondere in dieser Richtung in diesem Haus, weil ich es satt habe, Debatten zu führen, die deswegen überhaupt nicht mehr relevant sind, weil wir sehr wohl wissen, wie notwendig es ist, in eine ökologisch verträgliche Produktionsweise auch industrielle Produktionsweisen zu integrieren. Das ist das Ziel.
Für eine ökologische Zukunft bedarf es sozialer Garantien. Es bedarf des demokratisch ausgewählten Einsatzes fortschrittlichster Technologien und insbesondere der beschleunigten Ablösung von alten Produktionsverfahren, die sich gegenüber den natürlichen Bedingungen unserer Existenz wie eine Besatzungsarmee im Feindesland verhalten. Dies ist programmatische Grundlage unserer Fraktion. Ich betone es deswegen, weil ich klarmachen möchte, wo unsere Kritik an diesem Sondervermögen und diesem Vorschlag zu finden ist.Generell ist zu sagen, daß sich dieses Programm immer noch in der Tradition sozialdemokratischer Beschäftigungsprogramme bewegt.
Ein ökologischer Ansatz, Herr Roth, der Wert auf den Umbau des schädlichen Teils der industriellen Produktion in Richtung auf naturverträgliche Verfahren zielt, ist in diesem Programm nicht enthalten. Wirtschaftspolitisch fällt auf, daß Sie mit Ihrem Programm die Bauwirtschaft anregen wollen, als sei die Bauwirtschaft heute noch entscheidender Konjunkturmotor.
Sie, Herr Roth, haben mit Recht darauf hingewiesen, welche Bedeutung die Bauwirtschaft in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gehabt hat. Im Einzelfall, Herr Roth, mag es ja so sein, daß die Bauwirtschaft im Bereich der Umweltpolitik und durch Umweltpolitik angeregt werden kann. Ich denke dabei an den Bau von Kläranlagen und dergleichen. Allerdings erweckt Ihr Programm, Herr
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18624 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Dr. Müller
Roth, den Eindruck, als wollten Sie wirklich nur mal wieder Steuergelder in Beton verwandeln.
Das mag sozialdemokratische Tradition sein, aber es ist weiß Gott kein ökologischer Ansatz.
Es ist weiterhin an Ihrem Programm zu kritisieren — —
Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber gerne. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
Herr Müller, würden Sie dem Haus mitteilen, wenn Sie für den Bau von Kläranlagen eintreten, ob es mittlerweile außer Beton andere Materialien gibt, die man dabei einsetzen kann?
Herr Kollege Hauff, Ihnen teile ich gerne mit, daß es bei dem Bau von Kläranlagen entscheidend darauf ankommen würde, biologische Verfahren zu entwickeln und einzusetzen, die wahrlich nichts mit Beton und auch nichts mit Betonköpfen zu tun haben.
Es ist zu kritisieren, daß Sie in Ihrem Programm „Arbeit und Umwelt" das unsoziale Gemeinlastprinzip betonen, statt das Verursacherprinzip durch drastische Erhöhung von gesetzlichen Umweltabgaben finanzwirksam werden zu lassen. Es ist mir klar, daß bei einem großen Teil der Altlasten, die wir haben, die natürlich auch noch aus sozialdemokratischer Regierungszeit stammen — das werden Sie hoffentlich nicht bestreiten — und die natürlich auch noch weiter aufgefüllt werden, insbesondere auch in sozialdemokratisch regierten Ländern — auch das werden Sie nicht bestreiten —,
das Verursacherprinzip durchgängig nicht das entscheidende Kriterium sein kann, um diese zu beseitigen. Es ist gar keine Frage, die Altlasten müssen weg. Da können wir nicht warten, bis wir einen Verursacher gefunden haben, den wir rechtlich dingfest machen können. Es gibt ja auch den Fall, daß Firmen gar nicht mehr existieren, die uns aber Altlasten eingebrockt haben.
Aber eins ist entscheidend: Wenn Sie das finanzieren, ohne mit Steuern auch zu steuern, d. h. wenn Sie die Finanzen, die Sie dafür brauchen — ich weiß, daß das sehr teuer wird — nicht ökologisch wirksam regelnd einsetzen, dann tun Sie für den notwendigen Umbau innerhalb dieser Industriegesellschaft sehr wenig.
Jetzt ein Letztes: Sie haben gesagt, es ginge nicht um eine traditionelle Konjunkturpolitik, und Sie haben gesagt, Sie wären ökologisch engagiert. Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben 51 Milliarden DM Investitionen für den Straßenbau zugestimmt. Das ist genau die alte Politik: Steuergelder in Beton verwandeln. Das ist keine ökologische Politik.
Ein letztes zur Anzahl der Arbeitsplätze. Das Ärgerliche bei den sozialdemokratischen Wirtschaftspolitikern, Herr Roth, ist ja, daß sie sich immer verrechnen. Sie haben vorgegeben, Sie würden im Falle der Verwirklichung Ihres Programms 400 000 Arbeitsplätze schaffen. Das ist nicht schlecht. Das Ifo hat gegengerechnet; es sagt, es seien 200 000 Arbeitsplätze. Diese Rechenfehler und die falschen Prognosen, mit denen Sie arbeiten, machen uns immer wieder deutlich, daß es Ihnen nicht darum geht, hier in die notwendige ökologische Strukturpolitik einzusteigen, die wir brauchen. Sie haben mit Ihrem Programm vielmehr nur versucht, es in irgendeiner Art und Weise endlich zu schaffen, die Begriffe Arbeit und Umwelt zusammenzubringen. Das Schlimme daran ist, daß ein ökologischer Ansatz dabei leider über den Deister gegangen ist. Das ist die Situation.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stahl?
Ich gestatte noch eine Zwischenfrage, aber ich hoffe, ich habe noch genug Zeit für die Beantwortung.
Sie wissen ja, daß Ihre Redezeit bald abgelaufen ist. Die gelbe Lampe leuchtet schon.
Herr Kollege Müller, kann ich aus dem, was Sie soeben auf den Straßenbau und die 51 Milliarden DM bezogen gesagt haben, schließen, daß die Bundestagsfraktion der GRÜNEN der Meinung ist, daß in der Bundesrepublik keine Straßen mehr gebaut und daß auch keine Reparaturen mehr durchgeführt werden dürfen?
Sie haben dem Neubau von Fernstraßen zugestimmt. Ich habe doch nichts gegen die Reparatur von Straßen.
Unterstellen Sie uns das auch nicht. Das ist gar nicht der Punkt. Aber eine weitere Versiegelung der Landschaft mit Beton ist das Unökologischste und Schädlichste, was wir uns in der Bundesrepublik mit dem weit verbreitetsten Straßennetz in ganz Europa überhaupt leisten können. Damit muß ich leider zum Abschluß kommen.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18625
Ich erteile dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Grüner das Wort.
— Herr Abgeordneter Immer, das sind Ausdrücke, die wir auch zwischen den Bänken nicht benutzen sollten.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Ich habe dem Debattenbeitrag des Kollegen Collet mit großer Aufmerksamkeit und Anteilnahme zugehört, nicht nur weil Sie deutlich gemacht haben, daß das wahrscheinlich Ihr letzter Beitrag hier im Deutschen Bundestag sein wird, sondern auch weil Sie meiner Ansicht nach sehr eindringlich und sehr verständlich eine gemeinsame Zielsetzung deutlich gemacht haben. Sie haben den Bundespräsidenten und seine Aufforderung, umweltbewußt zu denken — ich bringe es auf diesen einfachen Nenner —, zitiert. Ich meine, in dem Geiste, in dem der Bundespräsident gesprochen hat, müssen wir die Aufgabe angehen, die vor uns steht. Hier sind wir nicht unterschiedlicher Meinung.
Worüber wir hier zu streiten haben, ist der Weg, den wir hin zu diesem Ziel beschreiten, und die Frage, ob wir mit den hier vorgeschlagenen Maßnahmen tatsächlich das erreichen können, was Sie anstreben. Dabei besteht im Rahmen der Wirtschaftspolitik überhaupt kein Streit darüber, daß marktwirtschaftliche Prinzipien, etwa im Bereich des Verursacherprinzips, allein nicht ausreichen, sondern daß gesetzliche Rahmenbedingungen dafür sorgen müssen, daß der Markt reagiert. Es gibt auch keinen Streit darüber, daß wir Umweltschäden haben, die wir wohl nach dem Gemeinlastprinzip werden finanzieren müssen.
Auch darüber kann es keinen Streit geben. — Aber kein Sonderprogramm.
Noch einmal: Es geht um den Weg.
Herr Collet, Sie haben in Ihrem Beitrag auf die Arbeitslosigkeit hingewiesen. Ich möchte doch sagen, daß es nicht richtig ist, wenn Sie der Meinung sind, daß unsere wirtschaftliche Entwicklung nicht auch Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt gezeitigt hat. Der Aufschwung geht 1987 in sein fünftes Jahr. Ich erinnere Sie etwa daran, in welcher Situation wir uns nach der zweiten Ölpreiskrise im Jahre 1982 befunden haben und welche Wegstrecke hier seitdem zurückgelegt worden ist. Die Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten in ihrem soeben veröffentlichten Gemeinschaftsgutachten für 1986 und 1987 jeweils ein reales wirtschaftliches Wachstum von 3 %. Ein solcher Wachstumsprozeß wäre undenkbar gewesen, wenn wir nicht durch die Wende 1982 entschlossen und gegen Ihren Widerstand ein
Umsteuern in der Staatsverschuldung eingeleitet hätten.
Das ist doch das zentrale Problem, vor dem wir auch bei diesem Programm stehen.
Was ist das Ergebnis dieser Wirtschaftspolitik? Der Geldwert ist stabil. Der Anteil des öffentlichen Defizits am Bruttosozialprodukt wurde auf rund 1 % zurückgeführt. Die Staatsquote ist von 50 % auf rund 46,5 % reduziert worden. Die Ertragslage der Unternehmen hat sich deutlich verbessert.
Und die Wirtschaft investiert wie seit langem nicht mehr.
Das bedeutet für die Beschäftigung mehr als alle nur denkbaren öffentlichen Programme. Außerdem haben wir ein bedeutendes Ansteigen der realen Arbeitnehmereinkommen zu verzeichnen.
Meine Damen und Herren, wenn wir Wirtschaftspolitiker immer in der Sorge sind, mit Umweltauflagen unsere Wirtschaft zu überfordern, dann sind wir es wegen der Arbeitsplätze. Ich habe bei dem Umsteuern in Richtung Katalysator, weg vom Magerkonzept, was unser früheres Konzept war, gezittert, ob das die deutsche Automobilindustrie verkraften würde, welche Auswirkungen das haben würde. Der Anstieg der Realeinkommen hat uns natürlich geholfen, heute vor einer Automobilkonjunktur zu stehen, die uns, jedenfalls von der Beschäftigungsseite her, Gott sei Dank keine Sorgen machen muß. Ist es denn ein berechtigter Vorwurf an einen Wirtschaftspolitiker, wenn er in seiner Verantwortung die Wettbewerbsfähigkeit gerade auch im internationalen Bereich in den Vordergrund seiner Überlegungen stellt — gerade im Blick auf die japanische Automobilindustrie, über deren Leistungsfähigkeit ja, was die Preise anlangt, wohl kein Zweifel bei uns bestehen wird?
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Collet?
Bitte sehr.
Bitte sehr, Herr Collet.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie fragen, ob Ihnen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes vom September dieses Jahres, die das erste Halbjahr 1986 einschließen, noch im Gedächtnis
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18626 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Colletsind, wonach wir 1980 26 328 000, 1981 im Konjunkturtal, 26 144 000 und im ersten Halbjahr dieses Jahres, also im Konjunkturhoch, immer noch bloß 25 589 000 Beschäftigte — ich rede jetzt gar nicht von Arbeitslosen — hatten, weil Sie doch darauf Ihren Erfolg stützen? Ist Ihnen also deutlich, daß wir im Konjunkturhoch immer noch unter diesen Zahlen von 1980 liegen?
Herr Kollege Collet, die Zahlen, die Sie nennen, sind richtig. Ich habe auf die dramatische Situation nach der zweiten Ölpreiskrise hingewiesen. Und es ist richtig, daß wir seit 1980 eine Million Arbeitsplätze verloren haben. Bis Mitte 1984 haben sich die Folgen dieses schweren weltwirtschaftlichen Einbruchs, die Folgen einer explosionsartigen Energieverteuerung — Stichwort: Energieverteuerung —,
gezeigt. Aber seitdem, Herr Kollege Collet — und das ist mein Punkt —, werden wir bis Ende dieses Jahres 600 000 Beschäftigte mehr haben.
Das heißt, die Wende an der Beschäftigungsfront ist erreicht worden. Ich sage Ihnen, daß in diesem Jahr etwa 300 000 neue Beschäftigungsverhältnisse hinzukommen werden.
Das ist für mich in der wirtschaftlichen Entwicklung bedeutender als die Tatsache, daß wir keine erfreuliche Lage in der Arbeitslosenstatistik haben — geburtenstarke Jahrgänge und anderes.
[SPD]:
Also, Sie haben die Zahlen doch nicht gelesen!)
Aber entscheidend ist diese Wende an der Beschäftigungsfront. Sie ist entscheidend von der privaten Investitionstätigkeit, die der Schlüssel für mehr Wachstumsdynamik und mehr Beschäftigungsdynamik ist, ausgelöst worden. Dazu gehört die Verbesserung der Rahmenbedingungen. Dazu gehört auch die Entlastung der gewerblichen Wirtschaft, die die höchste Steuerlast zu tragen hat. Deshalb paßt es nicht in ein Beschäftigungskonzept, wenn die Sozialdemokraten die Rückgängigmachung aller Verbesserungen der Rahmenbedingungen fordern und statt dessen für das nächste Jahr in ihrem Steuerprogramm Mehrbelastungen für die gewerbliche Wirtschaft von über 10 Milliarden DM ankündigen.
Mit der politischen Grundausrichtung, die ich hier dargelegt habe, sind die Vorschläge der SPD zur Einrichtung eines Sondervermögens „Arbeit und Umwelt" nicht zu vereinbaren. Entkleidet man die SPD-Vorschläge ihrer Verpackung, so ist festzuhalten: Es bleiben höhere Abgaben und gewaltige Belastungen der Kreditmärkte, neue Subventionen, staatlich gelenkte Investitionskredite.
Meine Damen und Herren, das Entscheidende dabei ist, daß das Ganze vor dem Hintergrund der nach wie vor bestehenden Notwendigkeit geschehen soll, die Nettoneuverschuldung im Griff zu halten, der nach wie vor bestehenden Notwendigkeit, nicht durch falsche Zinssignale etwa eine Verteuerung auf dem Kreditmarkt oder, was noch sehr viel schlimmer ist, das Auskaufen der privaten Kreditnehmer über öffentlich subventionierte Kredite zuzulassen. Durch den Steuerzuschlag auf den Verbrauch bestimmter Energien, wie Sie ihn vorschlagen, werden Wirtschaft und privaten Haushalten Mittel für investive und konsumtive Zwecke in Höhe von rund 4,7 Milliarden DM entzogen. Dadurch kommt es zur Verdrängung von Nachfrage und Beschäftigung auch im privaten Bereich. Zugleich wird die Abgabenquote erneut ausgeweitet.
Vom Verlieren wiedergewonnenen Vertrauens will ich hier gar nicht sprechen.
Die jährliche Inanspruchnahme — und dies zehn Jahre lang — eines Kreditvolumens in Höhe von sage und schreibe 1 % des Bruttosozialprodukts —1986 rund 20 Milliarden DM — für staatlich subventionierte und gelenkte Investitionskredite belastet die Kreditmärkte erheblich und wirkt tendenziell zinssteigernd. Wie verträgt sich eine solche Forderung mit Ihrer Forderung an die Bundesbank nach Zinssenkung?
Die SPD-Politik würde, wenn dieses Programm verwirklicht würde ein crowding out nicht subventionierter Kredite und Investitionen auslösen, was für die Beschäftigung sehr viel nachteiliger wäre als alles, was auf diesem Sektor sonst geschehen kann.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Roth? — Bitte.
Herr Staatssekretär, wollen Sie wirklich ernsthaft behaupten, daß heutige Zinssätze durch nationales Kreditangebot und nationale Kreditnachfrage bestimmt sind und nicht durch internationale Geldpolitik und nationale Geldpolitik?
Herr Kollege Roth, es gibt keine alleinige Ursache. Natürlich ist das auch international wirksam. Aber ich habe hier den Tatbestand
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18627
Parl. Staatssekretär Grünerfestgestellt, daß Sie die Bundesbank zu Zinssenkungen aufgefordert haben. Ich sage Ihnen, daß die Inkraftsetzung dieses Programms einer solchen Forderung entgegenwirken würde, übrigens auch zu den Vorstellungen der Deutschen Bundesbank, was öffentlich subventionierte Kredite anlangt, in einem sehr klaren Widerspruch stünde.
Darf ich eine weitere Zusatzfrage stellen? — Im letzten Jahr haben wir einen Nettokapitalexport an die USA von 15 Milliarden DM gemacht. Das entspricht etwa der Kreditsumme, die wir hier nötig haben. Ist es Ihnen eigentlich lieber, den Haushalt in den USA zu finanzieren als Umweltinvestitionen in der Bundesrepublik Deutschland?
Herr Kollege, wenn die Wirtschaftspolitik so einfach wäre, daß ich vor dieser Wahl stünde, dann würde ich Ihnen ja recht geben.
Aber das steht ja gar nicht zur Diskussion.
Es ist doch nicht so, daß, wenn wir Ihr Programm hier verabschieden, damit etwa das Zinsniveau in den Vereinigten Staaten und damit der Kreditabfluß von hier beeinflußt würde. So einfach ist die Wirtschaftspolitik nun doch nicht.
— Ich halte keinen professoralen Vortrag,
sondern ich versuche lediglich Zusammenhänge darzustellen, die Ihnen offenbar nicht geläufig sind.Durch die Verteuerung von Energie, insbesondere des Stroms, wird die Wettbewerbsposition der deutschen Unternehmen erschwert, und in Bereichen mit stromintensiver Fertigung können sich für die Unternehmen ernsthafte Existenzprobleme ergeben. Auch daran muß gedacht werden. Die Standortgunst für neue Arbeitsplätze verbessert sich auch unter energiepolitischen Gesichtspunkten nicht. Eine Stromsteuer oder eine weitere spezielle Abgabe auf Strom neben dem Kohlepfennig, den ich hier in Erinnerung rufe — mit seiner gewaltigen Belastungswirkung —, könnte zu zusätzlichen Risiken für den Einsatz deutscher Kohle bei der Verstromung führen.Es ist schon darauf hingewiesen worden, wie fragwürdig die Wirkung des Programms der SPD auf die Beschäftigung tatsächlich ist. Das Ifo-Institut hat zwar, Herr Kollege Roth, gesagt, daß hier kein eigentliches Konjunkturprogramm vorgeschlagen wird, aber es hat natürlich — darauf hat Herr Kollege Dr. Müller hingewiesen — eine sehr kritische Sonde an dieses Programm gelegt und hat davon gesprochen, daß modelltheoretisch eineMehrbeschäftigung von rund 200 000 zu erwarten sei, also die Hälfte
— wogegen nichts zu sagen ist;
— nur, Herr Kollege Roth, erreiche ich das auf andere Weise besser —, und auch diese Aussage hat das Ifo-Institut mit dem Zusatz versehen, Voraussetzung sei, daß die Energiepreissteigerungen nicht durch höhere Löhne ausgeglichen werden und daß die sinkende Rentabilität bei den Unternehmen nicht zu Einschränkungen bei den Investitionen führt.Ich erinnere Sie daran, wie wir nach der ersten Ölpreisdiskussion hier — auch und gerade von sozialdemokratischer Seite — die Forderung gehabt haben, durch Lohnerhöhungen und durch staatliche Zuschüsse diese gewaltige Belastung der Verbraucher auszugleichen. Das ist ein Argument, das Sie sich ernsthaft vor Augen führen müssen. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß die Gewerkschaften bereit sind, die nach Ihrem Programm vom Staat auferlegten zusätzlichen Verteuerungen bei den Lohndiskussionen stillschweigend wegzustecken! Das ist ja auch der Grund, warum der DGB-Vertreter Ihren Finanzierungsvorschlägen nicht zugestimmt hat.Auf das Verursacherprinzip ist hingewiesen worden. Dieses Verursacherprinzip wird durch Ihr Programm tatsächlich durchlöchert. Nach Auffassung des Sachverständigenrates bedeutet eine Abwälzung der Kostenlast von den Schadensverursachern auf die Steuerzahler auch, daß die Produkte umweltbelastender Betriebe nicht mit den Kosten ihrer Umweltbeanspruchung belastet werden. Außerdem können mit Hilfe von Subventionen vorbeugende Umweltschutzmaßnahmen über das geltende Recht hinaus nicht erreicht werden, wenn die Unternehmen befürchten müssen, daß jede freiwillige Maßnahme den Umweltbehörden zur Verschärfung ihrer Anforderungen dient.Für die Bundesregierung ist der Schutz der Umwelt wichtig. Gleichzeitig ist die Erlangung eines hohen Beschäftigungsstandes das zentrale Ziel der Wirtschaftspolitik.
— Ich meine schon, daß gerade die Wende, die an der Beschäftigungsfront erreicht worden ist, einen Beweis für den Erfolg unserer Wirtschaftspolitik darstellt! Dieser Weg würde durchkreuzt werden, wenn wir den Weg beschreiten wollten, den die Sozialdemokraten — auch mit diesem Programm „Arbeit und Umwelt" — vorgezeichnet haben. Die SPD betätigt sich auf breitester Front als eine Abgabenerhöhungspartei, und zwar nicht nur mit diesem Programm, sondern auch mit ihren steuerpolitischen Vorschlägen. Die Vorschläge der Sozialdemokraten sind deshalb in sich total widersprüchlich, weil sie den falschen Weg der Beschäftigungspolitik
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18628 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Parl. Staatssekretär Grünermit mehr Umweltschutz verbinden wollen, und sie sind auch, weil sie das Verursacherprinzip durchbrechen, den Problemen, die wir zu lösen haben, nicht angemessen.
Sie belasten den kleinen Mann und den privaten Verbrauch, auf dessen Dynamik wir in der augenblicklichen Konjunkturentwicklung von der Nachfrageseite her außerordentlich angewiesen sind, sie erschweren arbeitsplatzschaffende Investitionen in den Unternehmen durch — wegen der zusätzlichen Kapitalmarktinanspruchnahme — wieder steigende Zinsen, und sie beweisen, daß der Weg, den die Sozialdemokraten hier aufzeigen, von den Irrtümern der Vergangenheit gekennzeichnet ist und daß Sie, meine Damen und Herren, nicht bereit sind, aus den Irrtümern der Vergangenheit mit uns gemeinsam entsprechende Schlußfolgerungen zu ziehen — für eine bessere Umwelt und für mehr Beschäftigung.
Das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Hauff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Grüner, ich bin Ihnen sehr dafür dankbar, daß Sie hier bestätigt haben, daß wir im fünften Jahr des konjunkturellen Aufschwungs in der Zahl der Beschäftigten noch unter der Zahl liegen, die beim letzten Tiefpunkt der konjunkturellen Entwicklung in unserem Lande gegolten hat. Das heißt, Ihre ganze Wendepolitik hat heute noch nicht einmal das Beschäftigungsniveau erreicht, das es 1982 gab.
Sie haben dann verschiedene Gründe dafür genannt, aber ich finde, es wäre ein Stück Ehrlichkeit, wenn Sie hier nicht mit dem Begriff „Abgabenpartei" herumpolemisierten, sondern den Deutschen Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit darüber aufklärten, daß die Abgabenquote im Jahre 1981 39,3 % betrug und im Jahre 1985 bei 42,7 % lag. Herr Grüner, dies ist die höchste Abgabenbelastung in diesem Land seit 1949!
Und da behaupten Sie, Sie seien gegen eine Abgabenerhöhung. Das Gegenteil ist der Fall. Das gleiche gilt für die Lohnsteuerquote. Sie machen einen Marsch in den Lohnsteuerstaat; Sie holen es bei den Arbeitnehmern. Richtig ist: Sie senken die Vermögensteuer; dort explodieren dann die Gewinne. Aber das unter die Überschrift zu stellen, man wäre gegen die „Abgabenpartei", das ist schon eine schamlose Unverschämtheit.
Herr Kollege Müller, wir können das Thema ganz schnell abhaken: Unser Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" wird weder alle Probleme der Massenarbeitslosigkeit lösen noch alle Umweltprobleme — beides ist richtig —, aber zu beidem kann es einen nennenswerten Beitrag liefern. Deshalb haben wir das vorgelegt, wobei wir von der Überlegung ausgehen, daß sich die Belastung der Umwelt in unserem Land in vielen Bereichen weiter verschlechtert. Nehmen wir die Luftbelastung durch das Automobil. Sie können zwar Statistiken abfeiern, die die Zahl der abgasfreundlichen Autos ausweisen, aber die Statistik sagt nichts über die Tonnen Stickoxide, die aus dem Verkehr in unsere Umwelt kommen. Die steigen nach wie vor. Das ist die Wirklichkeit. Als Folge davon ist das Waldsterben ungebremst.
Das ist nur ein Beispiel für die enorme Umweltbelastung und Umweltzerstörung, die wir in der Bundesrepublik erleben. Im Hochgebirge ist mittlerweile jeder zweite Baum geschädigt. Von daher kommen auf die öffentlichen Haushalte unglaubliche Folgeleistungen zu. Andere Beispiele sind korrosionsgeschädigte Brücken, die Zerstörung von Kulturdenkmälern, belastete, vergiftete Flüsse und Seen, vergiftete Böden, die Altlasten und die Zunahme von Krankheiten von Menschen, die eindeutig umweltbedingt sind. Die Fachleute sagen relativ einheitlich, daß wir, wenn wir allein die Lasten betrachten, die sich ökonomisch beziffern lassen, in der Bundesrepublik jährlich Umweltschäden von 100 Milliarden DM haben. Das sind immerhin, Kollege Grüner, 6 % unseres Bruttosozialprodukts. Ich erwarte von einem Wirtschaftspolitiker, daß er nicht über Abgabenpartei und ähnliches herumpolemisiert, sondern sich zu diesem wirtschaftlichen Strukturproblem äußert, daß derzeit 6 % unseres Bruttosozialprodukts durch Umweltbelastungen aufgefressen werden. Dagegen muß man doch etwas unternehmen.Ich teile die Meinung des Bundespräsidenten, daß das allmähliche bessere Verstehen der Schäden und ihrer Größenordnungen — auch der Schäden, die erst noch auf uns zukommen — Anlaß zu einer grundlegenden Kurskorrektur sein muß. Wir müssen erheblich mehr für den Umweltschutz tun, und zwar in zweifacher Hinsicht: Bei der Vorbeugung, um wenigstens für die Zukunft das Ausmaß der wahnwitzigen Zerstörung zu begrenzen, und auch bei der Beseitigung der alten Lasten, daß also dort, wo schlimme Schäden da sind, diese soweit wie möglich beseitigt werden.Wir haben 1984 — das ist die letzte Zahl, die ich finden kann — 20 Milliarden DM für den Umweltschutz aufgewendet. Bei der Gegenüberstellung der jährlichen wirtschaftlichen Schäden — ich rede nicht von seelischen Schäden oder was es bedeutet, wenn wir uns anmaßen, in 30 Jahren Kulturdenkmäler zu zerstören, die über Jahrhunderte hinweg unversehrt waren; das lasse ich im Augenblick ganz
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18629
Dr. Hauffaußerhalb der Betrachtung, ich rede nur von den quantifizierbaren Schäden —
von 100 Milliarden DM sind 20 Milliarden zur Bekämpfung dieser Schäden ein unangemessenes Verhältnis. Dazu hätte ich gern ein Wort des Wirtschaftspolitikers gehört.Das Kernstück der Wirtschaftspolitik — hören Sie also auf mit Ihrem anderslautenden Gerede — ist unumstritten das Verursacherprinzip. Darüber streite ich mit Ihnen nicht, aber vielleicht darüber, ob es immer angewandt wird, z. B. von der CDU in Baden-Württemberg mit dem Wasserpfennig, was der noch mit dem Verursacherprinzip zu tun hat. Darüber würde es sich lohnen, einmal ein Wort zu hören,
und zwar auch vom Bundesumweltminister, präzise und klar und nicht verschwommen: Was heißt da „Verursacherprinzip"? Ich sage aber mit der gleichen Entschiedenheit: Wir haben wichtige und große Bereiche, die nicht oder nicht mehr mit dem Verursacherprinzip erledigt werden können. Dort gilt es anzusetzen. Und dem soll unser vorgeschlagenes Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" dienen. Mit dem wollen wir drei Probleme lösen. Das erste ist die Sanierung der Altlasten. Da besteht ein riesiger Investitionsbedarf. Sie mögen unseren Vorschlag ablehnen. Nur, sagen Sie doch endlich selber, wann und wie man das Problem lösen soll, wie Ihre Vorstellung dazu ist. Sagen Sie dazu doch Ihre eigene Meinung, statt herumzupolemisieren, warum das falsch ist: Null Antworten dieser Bundesregierung in der Frage Altlasten. Keinerlei Antwort dazu.
Zweites Problem: Bei aller Anerkennung des Verursacherprinzips, Sie müssen die umweltpolitischen Schnelläufer fördern, d. h. diejenigen, die den technologisch-industriellen Fortschritt wirklich nutzen. Das ist eine der wesentlichsten Quellen, um mit dem Umweltproblem in der Zukunft besser fertig zu werden. Dazu haben wir unseren Vorschlag gemacht.Das dritte Problem betrifft die Gemeinden. Gerade die Kommunen spüren den Druck. Ob es der Müll ist, ob es die Altlasten sind, ob es die Gewässer sind — das ist in der Hauptsache ein Problem der Gemeinden. Es ist richtig, daß das nicht unmittelbar uns bedrückt. Nur muß auf die Frage eine Antwort gefunden werden, wie man den Gemeinden eigentlich hilft, mit diesem Problem besser fertig zu werden.Unser Programm »Arbeit und Umwelt" ist kein kurzfristiges Konjunkturprogramm. Was sind denn zehn Jahre? Wer behauptet, daß ein auf zehn Jahre angelegtes Programm ein Konjunkturprogramm ist, den muß ich fragen, was er eigentlich noch unter Konjunktur versteht. Das ist ein langfristig angelegtes Strukturprogramm, mit dem wir insgesamt dazu kommen, das Niveau an Investitionen undMaßnahmen im Umweltschutz heraufzufahren. So ist das angelegt.Das Programm ist jetzt zwei Jahre alt. Es hat an Dringlichkeit nichts eingebüßt.
Im Gegenteil, Maßnahmen in diesem Bereich bedeuten sowohl ökologisch wie auch ökonomisch sinnvoll angelegtes Geld. Wir wissen, daß es manche wissenschaftliche Fragezeichen gibt, die Kosten für Maßnahmen, die reiner Luft, sauberem Wasser und gesundem Wald dienen sollen, in Mark und Pfennig auszudrücken. Trotzdem: Der Nutzen, der durch Investitionen im Umweltschutz für unsere Umwelt entsteht, übertrifft die Kosten bei weitem.In einigen Bereichen läßt sich das sogar quantifizieren, z. B. bei der Luftreinhaltung. Wir wissen, daß jede Mark, die im Bereich der Luftreinhaltung sinnvoll investiert wird, Schäden in einer Größenordnung von 2,50 DM vermeiden kann. Wir haben also einen Kosten-Nutzen-Effekt von 1 : 2,5. Vergleichbares gilt für den Gewässerschutz. Kosten für Reinhaltemaßnahmen, für Tiefwasserbelüftungsaggregate, für die Ableitung verschmutzter Abwässer, all das ergibt bei einer Gegenüberstellung von Kosten und Nutzen unter dem Strich eine positive Bilanz, d. h. solche Maßnahmen sind wirtschaftlich sinnvoll. Der Nutzen übersteigt mithin die Kosten.Seit zwei Jahren sagen wir das. Seit zwei Jahren bezweifelt diese Bundesregierung das. Seit zwei Jahren steigt aber auch die Zahl der Fachleute, die sagen: Auf diesem Gebiet muß insgesamt erheblich mehr geschehen, und zwar auch im Gemeinlastbereich. Darauf müssen Sie eine Antwort geben. Es geht nicht um die Frage, wo wir das Verursacherprinzip besser anwenden können — da sind wir an Ihrer Seite —, sondern um die Frage, wo und wie das Gemeinlastprinzip verwirklicht werden kann.Wir fühlen uns auch in unserer Auffassung bestätigt, daß es bezüglich der Finanzierung richtig ist, bei den Energiekosten anzusetzen. Den Energieverbrauch teurer zu machen hilft auch beim Energiesparen. Das ist nicht nur vertretbar, das ist auch sinnvoll; denn jeder Energieverbrauch, ganz gleichgültig, welcher Energieträger dabei angesprochen ist, ist auch mit Umweltbelastung verbunden. Deswegen ist umgekehrt jede eingesparte Energieeinheit ein Beitrag zur Luftreinhaltung.Schließlich werden wir gleichzeitig mit wirksamem Umweltschutz im Rahmen dieses Sondervermögens Hunderttausende von Arbeitsplätzen schaffen. Ich erinnere an die Stellungnahme des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die das noch einmal eindringlich bestätigt hat. Mit diesem Programm im Gemeinlastbereich und einem verschärften Verursacherprinzip sind, sagen wir, um die 450 000 Arbeitsplätze zu erreichen. Das ist die Angabe, zu der wir stehen. So eine Zahl muß man dann auch einmal mit Investitionen in anderen Bereichen vergleichen, die man für richtig hält.Ich komme noch einmal auf Wackersdorf zurück. 10 Milliarden DM wird dieses Projekt kosten. 10 Milliarden DM sollen für eine Technik ausgege-
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Dr. Hauffben werden, die auf Grund ihrer Kapitalintensität kaum Arbeitsplätze schafft und die uns im Grunde immer tiefer in eine Entwicklung verstrickt, die nicht sinnvoll ist. Im Durchschnitt kostet ein industrieller Arbeitsplatz 200 000 DM an Investitionen. Beim Bau der Wiederaufarbeitungsanlage kostet ein Arbeitsplatz 7 Millionen DM. Das heißt, mit einem Einsatz von 10 Milliarden DM werden in Wackersdorf in den nächsten acht bis zehn Jahren maximal 1 500 Menschen ihre Beschäftigung finden. Wenn man mit den 10 Milliarden DM Umweltschutzmaßnahmen finanzieren würde, kämen dabei unter dem Strich statt der 1 500 Arbeitsplätze 50 000 Arbeitsplätze heraus. Das macht den Unterschied in der Beschäftigtenstatistik zwischen 1982 und 1986 aus, daß die Richtung Ihrer Wirtschaftspolitik nicht stimmt, weil sie eindeutig darauf ausgelegt ist, Arbeitslosigkeit in Kauf zu nehmen und dagegen nichts zu unternehmen. Das ist der wesentliche Unterschied.Jede Investition in die Wärme-Kraft-Kopplung, in Kohletechnik, in Mikroelektronik zum Energie- und Stromsparen schafft doch bei Gott mehr Arbeitsplätze und ist erheblich umweltfreundlicher.Bei den Gemeinden gibt es einen riesigen ungedeckten Bedarf an Umweltschutz. Da besteht die Gefahr, daß angesichts leerer Kassen Gefahrenpotentiale gar nicht erst aufgedeckt werden, z. B. bei den Altlasten, weil die Kommunen überhaupt nicht wissen, wie sie mit dieser Gefahr fertigwerden sollen, wenn sie entdecken, welche riesigen Aufwendungen damit verbunden sind, wenn sie diese Altlasten wirklich sanieren wollten.Die Bundesregierung mag unsere Vorschläge ablehnen. Ich sage: Das ist zwar kurzfristig, aber das ist ihr gutes Recht, wie es das Recht eines jeden Menschen ist, Fehler zu machen.
Nur eines bleibt in der öffentlichen Diskussion — darauf werden wir bestehen, und darauf werden wir auch mit großem Nachdruck hinweisen —: Die Ablehnung unserer Antworten macht noch lange nicht die Fragen gegenstandslos, von denen wir ausgehen.
Das ist der Kern meines Vorwurfs.Die drei Fragen, die wir uns gestellt und die dazu geführt haben, diesen Vorschlag zu unterbreiten, bleiben auf der Tagesordnung:Erstens. Wie wollen Sie das Problem der alten Lasten wirklich lösen — und zwar nicht durch kleine Beiträge von einigen Millionen Mark? Dort sind nämlich Aufwendungen in einer Größenordnung von mindestens zweistelligen Milliardenbeträgen erforderlich.Zweitens. Wie wollen Sie eigentlich die umweltpolitischen Schnelläufer wirklich fördern, damit das, was in unserem Land an technisch-industriellem Potential steckt, wirklich rasch entwickelt wird im Interesse des Umweltschutzes?Drittens. Welche konkreten Hilfen — nicht Almosen, sondern Hilfen, die sich bemessen an der Größe der Aufgabe des Umweltschutzes bei den Gemeinden — bieten Sie eigentlich den Gemeinden auf diesem Gebiet?Auf allen drei Gebieten sehen wir eine tatenlose Bundesregierung. Auch auf dem Gebiet des Umweltschutzes zeigt sich, daß die Phantasielosigkeit und die Denkfaulheit dieser Bundesregierung bei der Lösung wichtiger Zukunftsfragen zu einem Risiko für unser Land werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Hauff, ich bezweifle Ihre Aussage, daß Sie mit diesem Programm Hunderttausende neuer Arbeitsplätze schaffen werden. Ich habe im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ihre Kollegen gefragt: Wie errechnen Sie denn die Zahl von 400 000 neuen Arbeitsplätzen? Woher kommt diese Zahl? Greifen Sie die so willkürlich? Die Antwort lautete, man habe diese Zahlen auf der Grundlage der Erfahrung mit den Investitionsprogrammen früherer Jahre errechnet.
Aber das ist doch genau die Zeit, in der die Arbeitslosigkeit geradezu explosionsartig angestiegen ist.
— Entschuldigen Sie, natürlich. In den Jahren, in denen Sie diese Programme gemacht haben, ist die Arbeitslosigkeit doch in einem Maß gestiegen, wie es nie zuvor der Fall war.
Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Collet?
Wenn Sie mir das bei der Redezeit nicht aufbrummen, Herr Präsident, j a.
Die gesamte Redezeit wird dadurch nicht verlängert, aber auf Ihre Redezeit wird diese Zeit nicht angerechnet.
Bitte, Herr Abgeordneter Collet.
Herr Kollege, da Sie sagen, Sie bezweifelten die Zahlen hinsichtlich der neuen Arbeitsplätze, die so entstünden, darf ich Sie folgendes fragen:Erstens: Waren Sie in dem Anhörverfahren, in dem das durch die Sachverständigen dargelegt wurde?
Ich darf Sie zweitens fragen, ob Sie wenigstens aus dem Protokoll zur Kenntnis genommen haben, was dort ein Praktiker — ich habe es heute hier vorgetragen — vorgerechnet hat, nämlich für das
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ColletSaarland mit einer Einwohnerzahl von 1 Million 7 000 Arbeitsplätze. Darf ich Sie fragen, ob Sie das zur Kenntnis genommen haben?
Entschuldigen Sie bitte, ich habe die Gutachten sehr wohl gelesen. Aber aus den Gutachten ist nicht schlüssig zu entnehmen, daß neue Arbeitsplätze in dieser Größenordnung entstehen, und zwar Arbeitsplätze von Dauer, wie Sie sie hier prognostizieren. Deswegen sage ich: Sie scheinen aus Ihren Fehlern in früheren Jahren einfach nichts gelernt zu haben. Das ist ein entscheidender Punkt.
Meine Damen und Herren, die Bürger haben uns 1983 nicht gewählt, damit wir Ihre falsche Politik fortsetzen. Ich halte die Erfolge der Bundesregierung für sehr viel besser. Ihr ist es nämlich gelungen, ohne derartige Programme für neue Beschäftigung zu sorgen. Diese Politik kann sich sehen lassen, denn sie ist um vieles überzeugender als das, was Sie uns heute hier vorlegen.
Meine Damen und Herren, die Wege der SPD, die uns in die Krise hineingeführt haben, werden uns auch nicht aus der Krise herausführen.
Kollege Roth, ich habe mich j a mit Ihnen in dieser Frage schon mehrfach unterhalten. Ich habe den Eindruck, Ihre Fraktion ist einfach nicht davon abzubringen, zu glauben, die auftretenden Probleme nur mit neuen bürokratischen Maßnahmen lösen zu können. Denn nichts anderes bedeutet doch dieses Programm. Dieses Programm führt letztlich zu mehr Staat, zu neuer Bürokratie, zu unnötigen Mitnahmeeffekten
und vor allem zu höheren Belastungen für die kleinen Leute. Ihre Philosophie lautet doch: Wir schaffen neue Abgaben, und der Staat wird sie schon durch neue Programme in der richtigen Weise verteilen. Diese Art von Politik, meine Damen und Herren von der Opposition, wollen die Bürger nicht. Ich möchte ein weiteres sagen.
Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hauff?
Bitte, Herr Kollege.
Herr Abgeordneter Müller, wären Sie so freundlich, mir zu erklären, daß eine kleine, winzige, sehr bescheidene Aufstockung des Programms bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau, das von dieser Bundesregierung beschlossen wurde, eine vernünftige Sache ist, und wenn wir eine großzügige Aufstockung dieses Programms vorschlagen, das dann unnötige Bürokratie ist?
Nein, das kommt auf den Grundsatz an, auf die Strukturen, die Sie hier eingeben. Diese, so meine ich zu erkennen, führen uns hier in der Zielsetzung, die Sie vorgeben, nicht weiter.
Ich möchte ein weiteres deutlich machen. Das interessiert mich als Gewerkschaftler in besonderer Weise. Ich will wissen: Wie wird das denn mit den Belastungen werden? Es ist geradezu abenteuerlich, wenn man hört, was Sie alles an neuen Steuern einführen wollen.
Ich habe die Beschlüsse des Nürnberger Parteitags gelesen. Sie fordern die Erhöhung der Mineralölsteuer, die Erhöhung der Vermögensteuer, die Erweiterung der Gewerbesteuer; Sie fordern neue Umweltabgaben, eine neue Wertschöpfungssteuer, eine neue Ausbildungsplatzabgabe,
eine neue Ergänzungsabgabe, eine neue Quellensteuer und so weiter und so fort.
Das Tollste ist, Kollege Roth, daß Sie auch noch die steuerlichen Erleichterungen, die die Regierung Kohl geschaffen hat, wieder rückgängig machen wollen. Dann kommen Sie und sagen, Sie wollten noch 4,7 Milliarden DM haben, um das von Ihnen beantragte Sondervermögen zu finanzieren. Auch wenn Sie das heute in Ihrem Entschließungsantrag nicht mehr so deutlich formulieren, so bleibt es unter dem Strich das gleiche: Sie wollen eine neue Energiesteuer. Strom, Benzin, Diesel, Heizöl und Erdgas werden dann teurer. Das halte ich für eine gigantische Umverteilung, eine Politik gegen die Arbeitnehmer, die Rentner und die Familien. Diese Politik werden wir nicht mitmachen. Wir werden im Wahlkampf alles tun, um die Menschen über Ihre wahren Absichten aufzuklären. Ich bin sicher, Sie haben dann vier Jahre Zeit, in der Opposition weiter darüber nachzudenken, daß das keine Politik ist, die mehrheitsfähig ist.
Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Roth?
Natürlich, mit dem Kollegen Roth diskutiere ich sehr gerne.
Ich habe in meiner Rede — wie stehen Sie dazu? — die Tatsache zitiert, daß ein CDUrofessor namens Wicke vom Umweltbundesamt einen volkswirtschaftlichen Schaden von über
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Roth100 Milliarden DM aus diesem Umweltsektor errechnet hat?
Kollege Müller, da ich annehme, daß Sie weiterhin Arbeitnehmerinteressen vertreten: Wer trägt denn diese volkswirtschaftlichen Schäden anders als der durchschnittliche Arbeitnehmerhaushalt? Ist es da nicht besser, Umweltinvestitionen mit 7 DM, also Kosten von zwei Viertel Wein oder drei Bier daraufzulegen und damit diese Umweltschäden zu beseitigen? Ist das nicht billiger?
Aber Herr Kollege Roth, Sie bitten doch hier die kleinen Leute zur Kasse. Das müssen Sie doch dann auch deutlich genug sagen.
Sie sagen in Ihrem Programm — ich habe es ganz genau gelesen, Sie haben dazu ja auch einen Kongreß veranstaltet —: Der Haushalt wird zwischen 4,50 DM und 10,50 DM im Monat belastet. Jetzt kommen neue Beschlüsse hinzu, die ebenfalls die Haushalte belasten. Sagen Sie das doch deutlich. Sagen Sie: Wir machen ein Programm und bitten die kleinen Leute, die Auflagen, die wir beabsichtigen, zu finanzieren.
Meine Damen und Herren, ich meine, es ist nicht überzeugend dargestellt worden, daß Sie mit diesem Programm auch nur teilweise die Arbeitsmarktprobleme lösen. Dazu brauchen wir etwas anderes, nämlich Mut, Ausdauer und Phantasie für neue Wege. Die von der Bundesregierung verbesserten Rahmenbedingungen tragen sehr viel überzeugender zum Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und auch zur Lösung der Umweltschutzprobleme bei, als alle Programme der SPD es vermögen.
Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich glaube, jetzt habe ich genügend diesen Spielraum gegeben. — Das beweisen die über 500 000 zusätzlich geschaffenen Arbeitsplätze.
Meine Damen und Herren, die Beseitigung der Arbeitslosigkeit ist und bleibt für uns alle die Herausforderung Nummer eins. Es gibt dafür kein Patentrezept,
und es gibt auch keinen Königsweg. Wir brauchen dazu einen langen Atem und viele kleine Schritte. Ich kann nur hoffen, daß auch die Tarifpartner ihre Verantwortung immer besser erkennen und mithelfen, neue Wege zu gehen. Es muß möglich sein, die Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeit zu verkürzen und flexibler zu gestalten. Das kommt nämlich den Arbeitszeitwünschen der Arbeitnehmer, den
Belangen der Unternehmen und den Erfordernissen des Arbeitsmarkts entgegen.
Der gestern neu gewählte IG-Metall-Vorsitzende Franz Steinkühler hat das erkannt. Ich kann nur hoffen, daß sich in dieser Frage auch bei den Gewerkschaften endlich etwas bewegt.
Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, Sie sollten einmal nachlesen, was wir auf dem Bundesparteitag der CDU Anfang Oktober diskutiert haben. Dort haben wir sehr engagiert über neue Chancen in der Arbeitswelt diskutiert. Dabei ist deutlich geworden, daß ein Riesenpotential von neuer Beschäftigung durch mehr Flexibilität und mehr Teilzeitarbeit vorhanden ist, ohne daß die hart erkämpften Schutzrechte für die Arbeitnehmer aufgegeben werden müssen, wie Sie uns immer fälschlicherweise unterstellen.
Wir brauchen neue Wege, um die Zukunft zu gestalten. Damit müssen wir heute beginnen und nicht erst morgen. Wir sind bereit, diese neuen Wege zu gehen.
Sie setzen leider auf unbrauchbare Umverteilungsprogramme der Vergangenheit. Sie sind 17mal in Ihrer Regierungszeit den falschen Weg gegangen. Sie haben 17mal die falsche Diagnose gestellt und die falsche Therapie angewandt. Auch mit dem 18. Programm werden Sie den Weg in die Zukunft nicht finden. Deswegen werden wir Ihren Entschließungsantrag und Ihr Programm hier heute ablehnen.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst will ich den Aufruf, den Herr Abgeordneter Collet an uns gerichtet hat, nämlich zu mehr Gemeinsamkeit zu finden oder uns jedenfalls darum zu bemühen, gerne an- und aufnehmen. Ich bin der Auffassung, Herr Abgeordneter Collet, daß Polemisiern unserer Umwelt nicht hilft. Ich bedaure, daß in vielfacher Hinsicht Übereinstimmungen, die es jedenfalls einmal gegeben hat, heute — aus welchen Gründen auch immer — nicht mehr vorhanden sind.
Aber gestatten Sie auch, Herr Abgeordneter Collet, daß ich es nicht akzeptieren kann, wenn Sie gesagt haben, Koalition und Regierung hätten in
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Bundesminister Dr. Wallmann
den vergangenen Jahren in Fragen des Umweltschutzes, des Naturschutzes nichts geleistet.
— Verzeihen Sie, auch „wenig", Herr Abgeordneter
— ich will mich gerne korrigieren lassen —, trifft nicht zu. Es ist vielmehr beachtlich, was hier geleistet worden ist: von der Großfeuerungsanlagen-Verordnung über die Technische Anleitung Luft
bis hin zu Chemikaliengesetz, Abwasserabgabengesetz, Abfallgesetz und was es sonst noch alles gegeben hat.
Wenn Sie — oder einer Ihrer politischen Freunde, Herr Abgeordneter Collet — gesagt haben, daß hier im Grunde genommen eine Interessenidentität dieser Koalitionsparteien mit der Wirtschaft vorhanden sei, dann darf ich Sie daran erinnern, wie diese Koalition und die Regierung im Zusammenhang mit der Großfeuerungsanlagen-Verordnung von der Industrie kritisiert worden sind. Es ist damals gesagt worden, daß das, was da an Investitionen auf die Industrie zukomme, einfach nicht finanzierbar sei. Die Regierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben sich davon nicht beirren und beeinflussen lassen, weil sie wußten, daß dies im Interesse unserer Umwelt — oder, sagen wir es einfacher und schlichter: im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger — erforderlich ist.
Wenige Bemerkungen zu dem, was Sie, Herr Abgeordneter Roth, gesagt haben. Sie haben gesagt, unser Volk habe nach dem Zweiten Weltkrieg vor großen Problemen gestanden und sie gelöst. Ja, aber verzeihen Sie, wenn ich mit allem Nachdruck frage: Wollen Sie nicht einmal darüber nachdenken, Herr Abgeordneter Roth, ob dies damals wohl ohne die Entscheidungen im Wirtschaftsrat in Frankfurt, ohne Ludwig Erhard, ohne Konrad Adenauer gelungen wäre? Wäre der Fleiß der Menschen in einer Planwirtschaft belohnt worden, und hätten wir mit ihr jene Ergebnisse erreicht? Das war doch damals der leidenschaftliche Streit zwischen Ihnen und der Koalition. Ludwig Erhard wurde im Jahre 1950 zum Rücktritt aufgefordert, weil die Soziale Marktwirtschaft angeblich zur sozialen Verelendung führe. Vergessen wir das doch bitte nicht in diesem Zusammenhang, im Zusammenhang mit Ihrem Antrag, mit Ihren Vorstellungen, bei denen doch die Frage der Sozialen Marktwirtschaft eine so zentrale Rolle spielt. Sondervermögen — ist dies mit Sozialer Marktwirtschaft vereinbar?
— Bitte nicht, Herr Abgeordneter. Ich habe nur noch ganz wenig Zeit.
— Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe beobachtet, in welcher Art Ihnen zugehört worden ist, als Ihre Vertreter geredet haben, und wie Sie bei Koalitionsrednern reagiert haben, angefangen von Dr. Lippold über Dr. Haussmann bis zu Herrn Müller . Es ist hochinteressant, meine Damen und Herren.
Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, zu dem, was Herr Hauff gesagt hat. Zunächst einmal haben Sie das Thema der Abgaben angesprochen. Das, was Sie, Herr Abgeordneter Hauff, gesagt haben, ist schlicht falsch. Und hier gilt für Sie ganz besonders: Unterlassen Sie das Polemisieren, informieren und operieren Sie mir klaren, eindeutigen Zahlen. Die gebührende Antwort haben Sie vom Herrn Abgeordneten Müller bekommen. Ich denke, es ist eindrucksvoll gewesen, als er vorgetragen hat, in welchem Umfange Sie Abgaben und Steuern erhöhen wollen, welche Zielvorstellungen Sie vertreten und wer davon als erstes betroffen ist.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hauff?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe gesagt, ich habe wenig Zeit. Herr Hauff hat doch genügend Zeit gehabt, hier vorzutragen.
Ich kann nicht — wie Sie — Zwischenfragen stellen.Sie haben gesagt, die Beschäftigungspolitik dieser Koalition und dieser Regierung habe noch nicht einmal den Stand von 1982 erreicht. Ich sage mit aller Deutlichkeit: Dies ist falsch.
— Auch in bezug auf 1981 gilt: Dies ist falsch. In den letzten Monaten Ihrer Regierungszeit ist die Zahl der Beschäftigten um etwa 180 000 gesunken. Herr Müller hat darauf hingewiesen, daß wir jetzt eine Zunahme von etwa 500 000 Beschäftigten festzustellen haben. Dies ist die Wahrheit.Sie haben etwas über die Zahl der schadstoffarmen Autos gesagt. Herr Kollege Hauff, darf ich einmal fragen: Was haben Sie eigentlich zum Thema Katalysatoren gesagt, als Sie im Amt gewesen sind?
Die Wahrheit ist, daß heute schadstoffarme Autosin größerem Umfange gekauft werden als früher.
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18634 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Bundesminister Dr. WallmannDie Wahrheit ist, daß heute mehr katalysatorausgerüstete Fahrzeuge verkauft werden als früher.
Die Wahrheit ist aber auch, daß wir längst noch nicht dort sind, wo wir sein wollen. Auch dies wird von uns gesagt.
Ich sage in diesem Zusammenhang, weil von bleifreiem Benzin und dergleichen die Rede ist: Wir können heute das verbleite Normalbenzin nicht einfach verbieten und vom Markt nehmen.
— Aus Rechtsgründen können wir das nicht. Das wissen Sie. Da brauchen Sie gar nicht „Aha!" zu rufen.Ich habe bei der Behörde in Brüssel, bei der Kommission, ein Memorandum eingereicht. Wir hoffen, daß wir damit für einen Alleingang Erfolg haben. Wenn wir diese Erlaubnis bekommen, werden wir nicht zögern, verbleites Normalbenzin durch Verbote vom Markt zu nehmen. Damit hätten wir eine wesentliche Zielvorstellung erreicht. Es ist auch geboten, alles dafür zu tun.
Es ist in dem Zusammenhang von Herrn Hauff vom Stickstoffoxidausstoß und davon gesprochen worden, wie die Situation bei den Waldschäden ist. Wir stehen vor großen Problemen. Auch hier wird nichts verharmlost. Aber ich darf Ihnen, Herr Abgeordneter Hauff, sagen: Sie hatten in Ihrem Haushalt 200 000 DM an Forschungsmitteln zur Verfügung, der Kollege Riesenhuber verfügt über eine Projektsumme von 75 Millionen DM. Es ist Ausweis einer aktiven Umweltpolitik, daß wir keinem Thema ausweichen und alles in unseren Kräften Stehende tun, um für die Zukunft das Erforderliche zu leisten.
Schließlich ist über die Altlasten geredet worden. Erste Frage, weil sich natürlich viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht so genau auskennen können: Wer hat eigentlich die Zuständigkeiten für die Beseitigung der Altlasten? Sind wir das oder sind das die Länder? Herr Hauff, etwas mehr Kenntnisse über die Verfassungslage wären hilfreich.
Zweite Frage in diesem Zusammenhang: Wir bleiben dabei, daß das Verursacherprinzip nicht aufgegeben werden darf, wissen aber zugleich, daß der Verursacher manchesmal überhaupt nicht mehr herausgefunden werden kann.
Wir haben bis jetzt auch nur — das wissen wir — einen Bruchteil der tatsächlichen Altlasten gefunden. Deswegen kann die Situation entstehen, daß die öffentliche Hand eingreifen muß. Zuständig sind die Länder. Das Kooperationsmodell vonRheinland-Pfalz, nämlich Kooperation mit der Wirtschaft, ist beispielhaft und richtig.
Was die Gemeinden angeht — davon verstehe ich ein wenig; sicherlich nicht so viel wie Sie, Herr Hauff, aber ein bißchen —, so kann ich Ihnen sagen:
Gerade in der vergangenen Woche hat es ein Gespräch mit den kommunalen Spitzenverbänden gegeben. Wir sind uns über folgendes einig geworden: Wir wollen prüfen, ob wir ein Pilotprojekt vom Bund auflegen.
Wir wollen prüfen, ob wir vielleicht durch wissenschaftliche Untersuchungen einheitliche Kriterien finden können, und wir wollen vor allem sicherstellen, daß es einen Erfahrungsaustausch gibt.Ein letzter Punkt, der von Bedeutung ist: Energieeinsparen. Natürlich geht es ganz entscheidend auch darum, Energie einzusparen. Wir haben j a beachtliche Erfolge erzielt — nicht nur diese Bundesregierung, sondern ich meine ohne Wenn und Aber auch Ihre Regierungszeiten —: von 1973 bis 1985 pro 1 000 DM Bruttosozialprodukt wenn ich mich recht erinnere — ich habe die Zahlen jetzt nicht vor mir liegen — eine Einsparung von 18 %. Wenn trotzdem insgesamt der Absatz zugenommen hat — nicht mehr so steil wie früher, sondern nur mäßig, um 2 %; dies ist, Herr Staatssekretär Grüner, auch im Energiebericht der Bundesregierung festgehalten —, dann liegt das daran, daß die Wirtschaft eben wieder Tritt gefaßt hat und wir damit in entsprechender Weise auch eine Zunahme des Wirtschaftens insgesamt und somit auch des Bruttosozialprodukts haben.Herr Präsident, meine Damen und Herren, Umweltschutz ist in unserem Land noch nie so wirksam betrieben worden wie unter der Regierung Kohl.
Die vergangenen vier Jahre sind zugleich ein Beweis dafür, daß Umweltschutz nur gemeinsam mit der Wirtschaft, mit der Landwirtschaft, mit Gewerkschaften, mit Handwerksbetrieben, also mit den Bürgern und nicht gegen sie, zu verwirklichen ist.
Die Behauptung vom unversöhnlichen Gegensatz zwischen Ökonomie und Ökologie, wie sie auch heute wieder von den GRÜNEN hier aufgestellt wurde, ist widerlegt.
Eine gesunde Umwelt, meine Damen und Herren,braucht eine funktionierende Wirtschaft. — Herr
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18635
Bundesminister Dr. WallmannDr. Müller, Sie können so laut reden, wie Sie wollen, dieses ist die Wahrheit.
Diese Soziale Marktwirtschaft hat sich auch insofern glänzend bewährt. Dieses festzustellen ist heute geboten.Die Soziale Marktwirtschaft setzt auf die Bereitschaft aller Bürgerinnen und Bürger, Verantwortung für das Gemeinwohl wahrzunehmen. Soziale Marktwirtschaft ist eben viel, viel mehr als das Denken in ökonomischen Kategorien: sie ist wahrhaftig das Pendant zu der verfassungsmäßig festgeschriebenen demokratischen Ordnung in unserer Bundesrepublik Deutschland. Unternehmen, wollen sie auf Dauer erfolgreich sein, müssen den Wunsch der Menschen nach umweltfreundlichen Produkten und umweltfreundlichen Produktionsmethoden aufnehmen. Der Staat nimmt sie ordnungspolitisch in die Pflicht, und zwar vor allem durch das Verursacherprinzip. Zugleich schafft der Staat den nötigen Freiraum für Eigeninitiativen zum Nutzen unserer Umwelt. Nur so kann es uns gelingen, die in unserer Gesellschaft reichlich vorhandenen Ressourcen an Wissen, Phantasie und Kreativität für das gemeinsame Ziel optimal zu nutzen. Wir wollen und müssen uns dieses unerschöpflichen Potentials auch zum Wohle unserer Umwelt bedienen.Wir — die Bundesregierung — haben kein Vertrauen in die Leistungsfähigkeit einer aufgeblähten Bürokratie, wie sie der SPD ganz offenkundig vorschwebt. Unsere Politik führt zu Investitionen. Sie schafft die Arbeitsplätze, die von Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, zwar versprochen werden, aber nicht verwirklicht werden können.Allein die Luftreinhaltepolitik der Bundesregierung führt zu Investitionen von rund 50 Milliarden DM. Insgesamt sichert die konsequente Umweltpolitik der Regierung Kohl und der sie tragenden Koalition der Mitte mehr als 400 000 Menschen Arbeit und Einkommen. Die Umweltpolitik dieser Bundesregierung hat dazu geführt, daß bereits in den ersten drei Jahren dieser Legislaturperiode 9,7 Milliarden DM an sonderabschreibungsfähigen Umweltschutzinvestitionen getätigt wurden. Das ist übrigens, meine Damen und Herren, mehr als in den vorausgegangenen acht Jahren zusammengenommen, jenen acht Jahren, in denen Sie, meine Damen und Herren von der SPD, die Regierung geführt haben.
Ich weise ferner auf die Umweltschutzkredite aus dem ERP-Sondervermögen und den Kreditprogrammen der Banken des Bundes hin. Meine Damen und Herren, ich tue das insbesondere deswegen, weil ja Herr Kollege Roth vorhin gesagt hat, wir würden doch auch nicht so mit der Marktwirtschaft umgehen, und gleichzeitig nähmen wir sie dauernd in Anspruch.
— Nein, ich will Ihnen deutlich machen, daß es selbstverständlich staatliche Rahmenprogramme gibt und geben muß, ohne daß deswegen Soziale Marktwirtschaft in irgendeiner Weise Schaden nimmt, wie das bei Ihrem Programm der Fall ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sehe, daß meine Zeit um ist. Ich will zum Schluß sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Es gibt zur erfolgreichen Umwelt- und Wirtschaftspolitik dieser Regierung und der sie tragenden Koalition der Mitte keine Alternative.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der vom Plenum beschlossenen Aussprachezeit, und daher liegen auch keine Wortmeldungen mehr vor. Ich schließe die Aussprache*).Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/6235. Wer diesem Änderungsantrag zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit Mehrheit bei Enthaltung der Fraktion der GRÜNEN abgelehnt.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 10/5403. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/1722 abzulehnen. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung erweitert werden um die Beratung des Antrags der Fraktion der SPD „Berufliche Bildung", Drucksache 10/6260. Dieser Antrag soll zusammen mit Tagesordnungspunkt 14 aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie den Zusatztagesordnungspunkt 4 auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 14. November 1983 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Spanien über die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen und Vergleichen sowie vollstreckbaren öffentlichen Urkunden in Zivil- und Handelssachen— Drucksache 10/5415 —*) Zu Protokoll gegebene Rede siehe Anlage 4.
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Vizepräsident StücklenBeschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 10/6140 —Berichterstatter:Abgeordnete Lowack Stiegler
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 2. November 1984 zum Abkommen vom 30. April 1964 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit und zu der Vereinbarung vom 2. November 1984 zur Durchführung des Abkommens— Drucksache 10/6023 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 10/6238 —Berichterstatter: Abgeordneter Stutzer
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.Wir kommen zuerst zur Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/5415. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Teile der Fraktion der GRÜNEN haben sich enthalten.Wir kommen nunmehr zur Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/6023. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Teile der Fraktion der GRÜNEN haben sich enthalten. Ich habe den Eindruck, daß einige Mitglieder der GRÜNEN überhaupt nicht mitgestimmt haben.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 und 6 sowie den Zusatztagesordnungspunkt 5 auf:5. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Begünstigung von Zuwendungen an unabhängige Wählervereinigungen— Drucksache 10/6088 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß
InnenausschußRechtsausschußHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO 6. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag sowie dem Zusatzprotokoll vom 20. November 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Osterreich über den Binnenschiffsverkehr— Drucksache 10/6113 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr Auswärtiger AusschußRechtsausschußZusatzpunkt 5:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes
und des Häftlingshilfegesetzes (HHG) —— Drucksache 10/6240 —
Überweisungsvo rschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GOEine Aussprache ist nicht vorgesehen.Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 10/6088, 10/6113 und 10/6240 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es weitere Vorschläge? — Dies ist nicht der Fall. Dann ist diese Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a bis 7 e auf:a) Beratung der Sammelübersicht 154 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/5676 —b) Beratung der Sammelübersicht 163 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/5992 —c) Beratung der Sammelübersicht 167 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/6061 —d) Beratung der Sammelübersicht 170 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/6180 —e) Beratung der Sammelübersicht 171 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/6181 —Zu den Tagesordnungspunkten 7 b und 7 c liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 10/6233 und 10/6234 vor.Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung zu den Tagesordnungspunkten 7 a, 7 d und 7 e.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18637
Vizepräsident StücklenWer den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 10/5676, 10/6180 und 10/6181 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen.
— Dann stelle ich die Beschlußempfehlung zu Punkt 7 a zur Abstimmung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Gegenstimmen und einer Enthaltung aus der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.Wir kommen nunmehr zu dem Tagesordnungspunkt 7 b, und zwar zuerst zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/6233. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Dieser Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung zu Punkt 7 b. Wer ihr zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung mit Mehrheit angenommen.Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 7 c, und zwar zuerst zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf der Drucksache 10/6234. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine. Mit Mehrheit abgelehnt.Ich komme nun zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung zu Punkt 7 c. Wer ihr zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.Ich komme zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung zu Punkt 7 d. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine. Das erste war die Mehrheit.Ich komme zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung zu Punkt 7 e. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Jetzt erfolgt die Ablösung des Präsidenten.
Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung der Bedingungen für die Zulassung von Verkehrsunternehmern zum Güterkraftverkehr innerhalb eines Mitgliedstaates, in dem sie nicht ansässig sind
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung der Bedingungen für die Zulassung von Verkehrsunternehmern zum Güter- und Personenverkehr in der Binnenschiffahrt innerhalb eines Mitgliedstaates, in dem sie nicht ansässig sind
— Drucksachen 10/4681 Nr. 54 und 55, 10/5516 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Buckpesch Haungs
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung auf Drucksache 10/5516 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag des Abgeordneten Drabiniok und der Fraktion DIE GRÜNEN
Transport von dioxinhaltigen Abfällen aus der Pentachlorphenol-Produktion der Firma Dynamit-Nobel, Rheinfelden
— Drucksachen 10/2920, 10/6141 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Schmidtbauer Frau Dr. Hartenstein
Schulte
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN
Maßnahmen gegen Gesundheitsgefährdung und Umweltbelastung durch Dioxine
— Drucksachen 10/1579, 10/6177 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Müller
c) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Chemiepolitik
Entgiftung der Chemischen Industrie
Förderung und Weiterentwicklung einer „Sanften Chemie"
— Drucksache 10/6052 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung und Technologie
d) Beratung des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN
18638 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Vizepräsident Frau Renger
Konsequenzen aus den jüngsten Dioxinskandalen
— Drucksachen 10/1205, 10/6243 —
e) Beratung des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN zur Großen Anfrage des Abgeordneten Dr. Ehmke (Ettlingen) und der Fraktion DIE GRÜNEN
Umweltgefährdung durch polychlorierte Biphenyle
— Drucksachen 10/1270, 10/6243 —
f) Beratung des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN
Schutz der Gesundheit in Innenräumen — Drucksachen 10/2339, 10/6243 —
g) Beratung des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Giftsgaskatastrophe in Bhopal und mögliche Konsequenzen für die chemische Produktion in der Bundesrepublik Deutschland
— Drucksachen 10/2612, 10/6243 —
Der Bericht nach § 62 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung zu den Tagesordnungspunkten 10 d bis 10 g liegt auf den Drucksachenwagen in der Eingangshalle.
Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Nein. Dann ist auch dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Hönes.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich beginne mit einem kurzen Zitat der chemischen Industrie:Liebe Mitbürger! Wenn es die Vorsorge für Gesundheit und Umwelt erfordert, werden wir Verkauf und Produktion betroffener Produkte einschränken oder einstellen. So steht es in unseren Leitlinien.
— Nicht klatschen, das ist vorschnell. — Meine Damen und Herren, die chemische Industrie wirbt um Vertrauen, und das ist verdächtig. Sie wirbt so stark und so massiv um Vertrauen wie niemals zuvor. Sie will das böse Image abschütteln; sie heischt nach Glaubwürdigkeit und möchte uns alle vom Nutzen ihrer Tätigkeit überzeugen.Die chemische Industrie hat es anscheinend bitter nötig, verlorenes Terrain in der Öffentlichkeit wettzumachen. Ihre Umsätze steigen zwar unaufhörlich — d. h. die Belastungen nehmen zu —, aber der Lack ist ab, wie man so sagt. Ich glaube nicht, daß diese und die folgenden PR-Kampagnen die Risse zukleistern können. Eine neue Chemiepolitik könnte das vielleicht. Aber davon sind wir leider meilenweit entfernt.„Wenn es die Vorsorge erfordert, werden wir die Produktion einstellen", so die chemische Industrie; das klingt überzeugend. Warum, so frage ich mich, wird beispielsweise die Herstellung und Vermarktung von halogenierten Kohlenwasserstoffen nicht eingestellt? Wie lange will man uns denn noch für dumm verkaufen? Seit etwa hundert Jahren ist den Verantwortlichen in der Industrie die Gefährlichkeit bestimmter aromatischer Kohlenwasserstoffe, z. B. der chlorierten Naphthaline, für den Menschen bekannt. Seit etwa 50 Jahren sammelt die Industrie Erfahrungen mit den nicht minder dubiosen Ersatzprodukten, den polychlorierten Biphenylen und anderen halogenierten Kohlenwasserstoffen in ihren Archiven.Nicht erst seit Seveso, sondern belegbar seit mindestens 30 Jahren wissen die Verantwortlichen der chemischen Industrie bestens Bescheid über die extreme Toxizität chlorierter Dioxine.Die Fürsorge für die exponierten Chemiearbeiter trägt allerdings sehr häufig deutliche Züge von Menschenverachtung. Wenn man die Zahlen aus der arbeitsmedizinischen Literatur addiert, kommt man weltweit auf etwa 2 000 Dioxinopfer, und das nur in den Betrieben.Nein, nicht alle sind daran gestorben, Herr Laufs; aber Nervenleiden und Leberschäden, Arbeitsunfähigkeit, Frührente: Das wäre doch wirklich genügend Grund zum Umdenken gewesen.Das Wissen um die enorme Gefährlichkeit der Dioxine und Furane hinderte die Firmen Boehringer in Hamburg und Dynamit in Badisch-Rheinfelden nicht daran, ihre Arbeitnehmer und die Käufer ihrer Produkte jahrelang zu gefährden und viele Gebiete in der Bundesrepublik durch Ablagerung ihrer Dioxinabfälle auf unbekannte Zeit zu belasten. Beiden Giftküchen wurde durch den unentwegten Widerstand von engagierten Bürgerinnen und Bürgern das Handwerk gelegt.
Wir heften uns diesen Erfolg auch auf unsere Fahnen. Die Angriffe, die Herr Rappe gegen unser Entgiftungsprogramm reitet,
können wir schon deswegen nicht ernst nehmen, weil es nicht im Interesse der Arbeitnehmervertreter liegen kann, die Gesundheit der Werktätigen aufs Spiel zu setzen.
Das gilt nicht nur für Boehringer und Dynamit-Nobel.Wer die Materie kennt, weiß, welche Schlüsselposition das Element Chlor in der modernen Chemie einnimmt. Die Insider wissen aber auch, welcher
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18639
Frau HönesRattenschwanz von Problemen damit verknüpft ist. Der vermeintlich geniale Trick, durch Halogenierung, vor allem durch Chlorierung, Chemikalien widerstandsfähig, d. h. besonders lange wirksam zu machen, erwies sich als ökologisch verhängnisvoller Fehler, den wir uns nicht länger leisten können. Die Details können Sie in jedem Standardwerk der Toxikologie nachlesen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe es im Plenum schon öfter gesagt, und ich scheue mich nicht, es zu wiederholen: Der weitestgehende Verzicht auf halogenierte Kohlenwasserstoffe ist überfällig. Die Konversion bringt bei intelligenter Betriebsführung keinerlei wirtschaftliche Nachteile, aber für die gesamte Gesellschaft ausschließlich Vorteile, z. B. auch die Vermeidung höchst gefährlicher und im Hinblick auf ihre Entsorgung höchst kostspieliger Abfallprodukte. Solche Vorteile erscheinen allerdings nicht in der betriebswirtschaftlichen Kalkulation unserer Chemiekonzerne, weil die kurzfristig und vordergründig entstehenden Mehrkosten infolge Produktionsumstellung das Management mehr interessieren als die durch die alten Produkte erzeugten individuellen, lokalen, regionalen und globalen Schäden, welche bekanntlich die Allgemeinheit zu tragen hat.
Wir fordern die schrittweise Entgiftung der chemischen Industrie und machen dazu sehr konkrete Vorschläge, nach welchen Kriterien, in welchem Zeitrahmen und mit welchen rechtlichen Instrumenten dies geschehen kann. Vor Ihnen liegt ein ganzes Paket an Anfragen, Anträgen und Gesetzesvorschlägen unserer Fraktion. Unsere Fachargumentation ist, wie Herr Rappe richtig erkannt hat, wissenschaftlich untermauert.Nicht der Mangel an realisierbaren Ideen verstellt dieser Gesellschaft den Weg zur Entgiftung; es fehlt am politischen Willen zu ihrer Verwirklichung.
Schon das Chemikaliengesetz, auf das Sie sich so gerne berufen, bietet mit seinen in § 17 beschriebenen Ermächtigungsgrundlagen Gelegenheit zu Verboten und Beschränkungen. Nicht einmal haben Sie dies genutzt, um der Vergiftung einen Riegel vorzuschieben. Diese Bundesregierung und, wie es scheint, auch die SPD ziehen moralische Appelle und freiwillige Vereinbarungen vor.Was haben diese Vereinbarungen bisher konkret bewirkt? Ziehen Sie mal ehrlich Entgiftungsbilanz. Hochtoxische Pestizide: Wer hat wann was freiwillig zurückgezogen? Pentachlorphenol, PVC, Asbest, Cadmium, Lindan, Dioxin und dioxinrelevante Produktionsströme in der Industrie? Nichts ist geschehen. Dioxan? Haben Sie vorgestern abend „Monitor" gesehen? Frau Süssmuth schreibt einen höflichen Brief an den Industrieverband Körperpflege und Waschmittel und bittet für die Zukunft um etwas weniger Krebsrisiko im Shampoo, während das Bundesgesundheitsamt die Falschmeldung verbreitet, man könne das Zeug literweise trinken. Was ist mit Formaldehyd?, frage ich Sie.Sie wollen die Kehrseite des chemischen Wirtschaftswunders einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Der Wähler soll selbst sehen, wie er damit zurechtkommt. Dabei hat die rasche Zunahme von Allergien bereits mehr als 30 % der Bevölkerung erfaßt.Es ist meine feste Überzeugung: Wenn Kooperationsbereitschaft, Lobbyunabhängigkeit, Zivilcourage und Sachverstand in diesem Parlament günstigere Lebensbedingungen hätten und eine entscheidungsfähige Mehrheit erlangen könnten, wären auch unsere Bevölkerung und ihr Lebensraum der progressiven Vergiftung vor allem durch umweltfeindliche Produkte und Abfälle der chemischen Industrie, durch toxische Pestizide, bedenkliche Waschmittelzusatzstoffe, giftige Farben, Lacke und Holzschutzmittel nicht länger hilflos ausgeliefert.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Senfft, Frau Kollegin?
Bitte.
Hannegret, wie bewertest du die Tatsache, daß angesichts der Problematik der chemischen Vergiftung auf der Regierungsbank kein Vertreter irgendeines Ministeriums, noch nicht einmal ein Beamter anwesend ist?
Damit sind wir in letzter Zeit ständig konfrontiert. Das wirft ein entsprechendes Licht auf diese Regierung.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Nein, ich würde jetzt gern — —
— Bitte schön, aber doch nicht in Form einer Zwischenfrage. Dazu haben Sie ein anderes Mal Gelegenheit.
Ich kann für etwas anderes das Wort leider nicht erteilen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich wollte Sie gern fragen, ob Sie bereit sind, die Erklärung entgegenzunehmen, daß auch ich der Auffassung bin, daß die Regierung auf der Regierungsbank vertreten sein sollte, und daß ich mich darum kümmern werde.
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18640 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Sehr erfreulich. Dann würde ich Sie doch bitten, zum Telefonhörer zu greifen. — Sehr schön.
Daß es auch anders geht, meine Damen und Herren, haben jene bewiesen, die vor einigen Jahren das Konzept der sanften Chemie in Theorie und Praxis entwickeln konnten. Die sanften Naturfarben erfreuen sich wachsender Beliebtheit, und zwar weil dort mit offenen Karten gespielt wird und weil die mit ökologischer Sorgfalt ausgewählten pflanzlichen und mineralischen Rohstoffe den Produkten tatsächlich jene innere und äußere Qualität verleihen, die wir bei konventionellen Farben und Lacken vergeblich suchen. Die Rezeptur und die Herstellung der Naturfarben erfordern genauso viel Intelligenz und Spürsinn wie die chemische Synthese.
Nur steckt hinter der noch unausgeschöpften Vielfalt der sanften Chemie ein hohes Maß an Bescheidenheit.
Wenn es die pflanzliche Retorte besser und umweltschonender kann, warum sollte dann der Komplex der petrochemischen Industrie mit seiner zumeist rücksichtslosen Gigantomanie bemüht werden?
Im Haus- und Wohnbereich, dort, wo die Menschen mit den Stoffen unmittelbaren Kontakt haben, sind Naturstoffe den Syntheseprodukten eindeutig überlegen. In der Natur gibt es auch Gifte, werden Sie sagen. — Richtig; aber damit können wir schon einige tausend Jahre umgehen. Die evolutionäre Anpassung des Menschen an Dioxin ist eine Illusion, meine Damen und Herren.
Wenn überhaupt, wären dazu Millionen von Jahren nötig.
Das Konzept der sanften Chemie ist also auch in der Biologie verwurzelt. Viele Beispiele sanfter Chemie sind erprobt und ausbaufähig. Ich nenne die Bereiche Pflanzenschutz, Waschmittel, Kosmetika oder sogar neuartige, tatsächlich abbaubare Kunststoffe. Hier muß geforscht, gearbeitet und konvertiert werden. Wir nehmen diese Dinge sehr ernst und werden uns nicht mit Almosen abspeisen lassen. Auf längere Sicht führt kein Weg daran vorbei. Wenn die chemische Industrie ihre Verantwortung gegenüber Mensch und Umwelt ernst nimmt, wird sie mit Stoffen arbeiten, die nicht naturfremd sind und bei deren Synthese, Gebrauch und Entsorgung ökologische Gefährdungen nicht zu erwarten sind.
Eine Chemiepolitik im Interesse der Arbeitnehmer und der Umwelt wird sich diesen Zielen kaum widersetzen können, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit nicht verlieren will.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Lippold.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Hönes, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.Ich sage jetzt etwas zur Qualifizierung Ihrer eigenen Aussagen mit Ihren eigenen Worten. Sie haben hier die Chemieindustrie angegriffen, nachhaltig angegriffen, haben ihr Gefährdung vorgeworfen,
alles mögliche. Sie haben gesagt, es fehle an Kooperation und allem. Es ist noch nicht eine Woche her, daß wir in einem Gremium gemeinsam mit Repräsentanten der Chemie diskutiert haben. Dort haben Sie konstruktive Sacharbeit zugesagt. Dort haben Sie zugesagt, daß es hier sicherlich vernünftige Ansätze gibt. Auf die Diskrepanz der Ausführungen vor diesem Gremium gegenüber Ihren sonstigen Ausführungen im Plenum hingewiesen, haben Sie ausgeführt: Plenum, das ist doch die Politschau, die wir machen müssen. — Genau das ist es, was Sie heute hier wieder gemacht haben: keine konstruktive Argumentation, sondern Politschau. Aber Sie haben es ja neulich vor Zeugen nachhaltig zum Ausdruck gebracht: Sie benutzen dieses Forum als Schauforum, für nichts anderes. Ihre eigenen Worte — so haben Sie gesagt —, die Sie hier äußern, könne man nicht so ernst nehmen. Da ließe sich im kleinen Kreis ganz vernünftig anders reden.
Ein Weiteres. Wenn Sie die Bundesregierung angreifen, weil sie nicht vertreten sei, dann sollten Sie bei den Ausschußberatungen zu diesen Positionen wenigstens mit einem Vertreter anwesend sein, damit Ihr Vertreter bei den Ausschußberatungen auch mitberaten kann und wir hier zu vernünftigen Lösungen kämen. Aber wenn Sie sich dort nicht sehen lassen, wenn Sie dies allenfalls hier vortragen, aber nicht bei den Fachberatungen, dann, verehrte Frau Kollegin Hönes, können wir das so nicht im Raume stehen lassen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Ziel der Umweltpolitik der Union ist es, Leben und Gesundheit von Menschen vor Schäden durch gefährliche Stoffe zu bewahren und in gleicher Weise die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen zu schützen und zu erhalten. Das setzt voraus und impliziert die Realisierung des Vorsorgeprinzips, von dem Union und Bundesregierung sich leiten lassen, im frühestmöglichen Stadium und ebenso den übergreifenden Schutz der Umweltmedien — Wasser, Boden, Luft, Pflanzen- und Tierwelt —, und das ist j a gerade von unserer Fraktion — ich denke insbesondere an ihre Sprecher Laufs und Schmidbauer -- in ganz hervorragender Form aufgegriffen und immer wieder deutlich gemacht worden.Das setzt auch die Kenntnis gefährlicher Stoffe und ihrer Gefahrenpotentiale sowie ihre Bewertung voraus. Diesem Ziel dient eine Reihe von stoffbezogenen Gesetzen: das Arzneimittelgesetz, das Pflanzenschutzgesetz usw.; ich könnte hier die ganze Liste aufzählen. Diesem Ziel dient auch das Chemikaliengesetz, mit dem wir erstmals eine systematische Regelung für alle nicht spezialgesetzlich erfaßten
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18641
Dr. LippoldStoffe getroffen haben. Übergeordnetes Schutzziel dieses Gesetzes ist die Sicherung der Gesundheit der Menschen.Frau Kollegin Hönes, ich könnte die lange Liste der Maßnahmen, die wir ergriffen haben, hier noch fortführen. Wir haben die Gefahrstoffverordnung verabschiedet. Das Chemikaliengesetz greift; es ist — das können wir jetzt sagen — erfolgreich. Die Zeit der praktischen Anwendung ist allerdings zu kurz, als daß wir es bereits abschließend beurteilen könnten. Deshalb sagen wir schon heute, daß wir uns darüber weiterhin — wie bisher — Gedanken machen werden und dieses Thema aufgreifen werden.Aber wir werden diese Chemiepolitik mit Augenmaß, mit dem nötigen Augenmaß, betreiben, und wir werden uns von Ihnen nicht in Angst und Panik hineintreiben lassen, weil Angst bislang stets ein schlechter Berater gewesen ist, der nicht zu sachlich begründeten Entscheidungen geführt hat.Meine sehr geehrten Damen und Herren, um das alles durchzusetzen und um auch die Altstoffproblematik aufzugreifen, arbeiten wir mit dem Umweltbundesamt und dem Bundesgesundheitsamt zusammen, arbeiten wir auch mit der chemischen Industrie zusammen. Wir sind kooperativ, weil uns diese Kooperation weiterbringt. Ich halte das für ganz wesentlich. Wir allein haben nicht den Sachverstand, um die anstehenden Probleme lösen zu können, und Sie selbst wissen, daß Sie aus Ihren Reihen dazu nichts beisteuern können.Die Gefahrstoffverordnung bringt jetzt einen ganz entscheidenden Ansatz. Wir reduzieren die Belastung durch Formaldehyd. Wir haben neue Grenzwerte für verschiedene Stoffe. Wir haben umfassende Regelungen zu Dioxinen: zu polychlorierten Dibenzodioxinen und Dibenzofuranen. Das sind Lösungen, die für den einzelnen wirken, die mehr Arbeitsschutz garantieren und mit denen wir — lassen Sie mich das einmal in aller Deutlichkeit sagen — weltweit führend sind, mit denen wir über das hinausgehen, was eigentlich EG-verträglich ist. Wir setzen es aber im Interesse der Menschen in unserem Lande und im Interesse ihrer Gesundheit durch!
Akzeptieren Sie doch einmal die Führungsrolle, die die Bundesregierung gerade in diesem Bereich des Gesundheitsschutzes in der EG, in ihren Institutionen und Organisationen, übernommen hat, und kritisieren Sie nicht immer nur!Ich will jetzt gar nicht auf die Verbote der zukünftigen Verwendung von PCB eingehen. Es gibt noch eine Reihe weiterer Maßnahmen, die wir anführen könnten und die deutlich machen, daß hier Punkt für Punkt gehandelt wird, daß hier nicht in universitärer Manier nur diskutiert wird, ohne daß Entscheidungen getroffen werden, sondern daß hier richtige Entscheidungen fallen, Entscheidungen für die Zukunft, Entscheidungen für unser Volk.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt noch — damit komme ich auf das zurück, was ich einleitend zu Frau Hönes gesagt habe — ein Wort über unsere chemische Industrie und über die Menschen sagen, die dort arbeiten, über die Menschen, die dort — ich sage es noch einmal — verantwortungsbewußt arbeiten und die wir gegen die von der Opposition erhobenen pauschalen Vorwürfe — Stichwort: verantwortungslose Manipulationen mit Chemikalien und chemischen Rückständen — ganz nachdrücklich in Schutz nehmen. Es ist ganz einfach unverantwortlich, wie Sie hier mit diesen Menschen, die in den Betrieben verantwortungsbewußt handeln, umgehen, wie Sie ihnen jedes Verantwortungsbewußtsein absprechen. Erbringen Sie doch erst einmal die Leistung dieser Menschen in gleichem Verantwortungsbewußtsein, nicht aber, wie wir es hier gerade feststellen konnten, in einer Polit-Show! Erst dann haben Sie überhaupt ein Recht, hier mitzureden!Wie erfolgreich die Maßnahmen gewesen sind, belegen — das möchte ich deutlich sagen — die Unfallhäufigkeitsziffern. Im Jahre 1960 hatten wir 109 Unfälle auf je 1 000 Vollarbeiter in der chemischen Industrie. Bis 1984 ist diese Zahl auf 37 zurückgegangen. Wenn ich einmal alle Stolperunfälle, Leiterunfälle usw. da herausnehme, habe ich an chemietypischen Unfällen nur noch einen einzigen auf 1 000 Vollarbeiter pro Jahr. Das ist weltweit beispiellos. Akzeptieren Sie doch einmal, was hier an Sicherheit geschaffen wurde: Sicherheit am Arbeitsplatz, Sicherheit für die Menschen an diesem Arbeitsplatz. Und kritisieren Sie nicht immer nur herum ohne die nötige Sachkenntnis.Weil Sie in der Bundesrepublik Deutschland j a auch nichts zu kritisieren haben, nehmen Sie Ihre Katastrophenbeispiele nicht aus bundesdeutschen Ereignissen und Vorfällen, sondern diskutieren mit Bhopal, mit Seveso, mit Union Carbide. Das sind alles wunderbare kleine „deutsche" Städte und Dörfer — oder? Sie versuchen, mit diesen ausländischen Vorkommnissen in der Bundesrepublik ein Bild zu schaffen, als würden wir unserer Verantwortung sowohl als Regierung wie als die diese Regierung tragenden Koalitionsparteien nicht gerecht. Aber das ist genau nicht der Fall. Sie müssen sich sachkundig machen und sehen, was ist — aber Sie dürfen nicht versuchen, hier einen falschen Eindruck zu erwecken.Sie lassen sich eh nie an einem greifen. Sie setzen eine panikmachende Information in die Welt. Wenn aber die wissenschaftlichen Gegenbeweise angetreten werden, gehen Sie zum nächsten Stoff über. Da haben Sie z. B. gefordert, daß wir die braunkohlebetriebenen Kraftwerke abschalten, weil sie zu Waldschäden führen und Kinder tödlich geschädigt werden — Pseudo-Krupp —, Sie machen den Leuten Angst. Aber wenn es Ihnen in Ihre politische Richtung paßt, vergessen Sie dies und wollen Kohlekraftwerke, wollen Braunkohlekraftwerke ans Netz gehen lassen, als ob alles, was Sie vorher gesagt haben, nicht wahr wäre. Meine sehr geehrten Damen und Herren, so können wir das nicht akzeptieren.Wir können auch die Vorstellung der SPD nicht akzeptieren betreffend undefinierte Begriffe wie18642 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986Dr. Lippoldsozialer Nettonutzen. Sie wissen doch genau, alle wissenschaftlichen Diskussionen haben gezeigt, daß es hier überhaupt keinen Anhaltspunkt gibt, um dies dingfest machen bzw. in konkrete, handfeste Vorschriften umsetzen zu können. Hier lassen Sie völlig sachfremden, ideologischen Einflüssen Tür und Tor offen. Das kann nicht der Ansatzpunkt sein, auf dem wir eine vernünftige Chemiepolitik der Zukunft aufbauen können.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Hauff?
Wenn sie mir auf die Zeit nicht angerechnet wird.
Das können wir mal generell feststellen: Das wird nie auf die Zeit angerechnet.
Herr Kollege, würden Sie mir freundlicherweise erklären, was eigentlich der große Unterschied in der Bestimmtheit des Begriffs zwischen einem sozialen Nettonutzen, den wir verwendet haben, und dem gesellschaftlichen Nutzen, den die Bundesregierung in ihren Leitlinien verwendet, ist?
Sehr geehrter Herr Kollege Hauff, das eine ist eine Zielfunktion, die die Bundesregierung beschrieben hat. In der Zielfunktion kann ich durchaus in dieser Form von gesellschaftlichem Nutzen sprechen. Sie benutzen dies als Bewertungskriterium in detaillierter Form. Das hatten wir schon in anderen Positionen. Sie können es aber nicht quantifizierbar machen, so daß es zur Bewertung — und dazu bräuchte ich die Bewertung — nicht geeignet ist. Und entsprechende qualitative Maßstäbe sind strittig; das wissen wir beide.
Noch eine Zwischenfrage? — Wird auch nicht angerechnet!
Herr Kollege Lippold, können Sie mir bestätigen, daß in den Leitlinien der Bundesregierung davon gesprochen wird, daß man eine qualitative Bestimmung dieses Begriffs vornehmen sollte, und daß das durchaus in voller Übereinstimmung mit dem ist, wie wir den Begriff benutzt haben? Und falls Sie das bestreiten wollen, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß Sie uns dann falsch verstanden haben?
Erstens, Herr Hauff, verstehe ich Sie selten falsch. Im Gegenteil, ich verstehen Sie viel zu gut. Deshalb können wir das ja auch beurteilen. Und zweitens halte ich beides nicht für identisch.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir werden auch ein Weiteres tun; auch das, wozu Sie in dieser Form nicht bereit sind. Wir glauben, daß wir Marktkräfte nutzen und mit der Chemie kooperieren sollen, daß wir diesen Sachverstand nutzen sollen, um bei der Problemlösung schneller voranzukommen.
Darüber hinaus werden wir eine internationale Harmonisierung anstreben, weil wir der Meinung sind, daß zu einer Zeit, in der Grenzen weltweit geöffnet sind, wir hier Regelungen nicht nur für uns anstreben müssen, sondern insgesamt weltweit zu harmonisierten Regelungen kommen müssen. Das hilft allen. Und ich hoffe, Sie unterstützen uns dabei genauso wie die Bundesregierung, die im Interesse aller handelt. Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, nach § 30 der Geschäftsordnung gebe ich der Frau Abgeordneten Hönes das Wort.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, nach § 30 der Geschäftsordnung hier einiges zurechtzurücken, was der Kollege Lippold fälschlicherweise verzerrt hat.
Frau Kollegin, verzeihen Sie! Sie haben mir nur gesagt, Sie seien falsch zitiert worden und wollten das korrigieren. Bitte, keine Debattenrede!
Ich bin falsch zitiert worden. Das möchte ich korrigieren. Ich habe bei der gemeinsamen Veranstaltung zusammen mit Herrn Lippold und Vertretern der chemischen Industrie nicht gesagt, daß die GRÜNEN keinerlei Interesse hätten, mit der chemischen Industrie zu kooperieren, und daß wir hier im Plenum die Angriffe nur aus Gründen des Wahlkampfes bzw. der Wahlkampftaktik fahren würden.
— Von Schaukämpfen, Herr Lippold, beruhigen Sie sich.
Das ist falsch. Richtig ist, daß ich bei dieser gemeinsamen Veranstaltung gesagt habe, — —
— Sie können einen Paragraphen suchen, um nachher auch noch eine persönliche Erklärung abgeben zu können.
Verzeihen Sie, meine Damen und Herren.
Ich bitte Sie, jetzt nur das Zitat richtigzustellen. Damit ist Ihre Wortmeldung dann verbraucht. Bitte, Frau Kollegin.
Ich habe bei dieser Veranstaltung gesagt, daß DIE GRÜNEN jederzeit bereit sind, sich mit den Vertretern der chemischen Industrie an einen Tisch zu setzen und mit ihnen sachlich zu beraten. Richtig ist, daß ich gesagt habe: Wir vermuten, daß die chemische Industrie schon lange Pläne für eine Konversion hat, und es ist notwendig, daß wir politisch alles in Bewegung setzen, da-
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18643
Frau Hönes
mit diese längst überfällige Entwicklung endlich in Gang gebracht wird.
Ich gebe jetzt dem Herrn Abgeordneten Müller das Wort.
Meine Damen und Herren! Nach dem Qualm möchte ich wieder zur Sache kommen. Die Sache heißt Chemiepolitik.Gestatten Sie mir, daß ich zu diesem Tagesordnungspunkt drei Feststellungen vorweg mache. Erstens. Die Tatsache, daß dieser Tagesordnungspunkt sieben Einzelpunkte umfaßt, macht meines Erachtens deutlich, daß das Parlament einen Nachholbedarf in der Behandlung chemiepolitischer Fragen hat.Zweite Bemerkung: Die Fülle der angesprochenen Einzelthemen macht aber auch deutlich, daß wir mit einer isolierten Betrachtung nicht weiterkommen. Das gilt um so mehr, als man sehen muß, daß wir den Punkten, die vorliegen, noch eine Vielzahl hinzufügen könnten, die neue Meldungen über chemische Gefahren betreffen. Deshalb ist es für uns unverzichtbar, von der Einzelbehandlung wegzukommen, also nicht über Schadstoffe des Monats zu reden. Vielmehr ist es erforderlich, zu einer systematischen und langfristig angelegten Chemiepolitik zu kommen.
— Es freut mich, daß Sie nicken. Ich erinnere mich an eine Aktuelle Stunde über Dioxin vor eineinhalb Jahren. Damals haben wir den Begriff Chemiepolitik zum erstenmal im Plenum verwendet. Damals haben Vertreter der Koalition uns gefragt: Was soll denn dieser Unsinn? Es ist gut, daß wir gemeinsam so schnell lernen.
— Wir können j a über unser Konzept für eine umwelt- und gesundheitsverträgliche Chemiepolitik reden. Wir haben es immerhin erreicht, dieses Konzept in einem breiten Konsens mit den Arbeitnehmern im Chemiebereich zu erstellen.Dritte Bemerkung: Mehr noch als bei anderen Umweltthemen gibt es beim Thema Chemiepolitik einen direkten, einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Gefährdung der Gesundheit des Menschen. Wir sehen mit Sorge, daß Allergien zur Volkskrankheit werden; Allergien, die in hohem Maße auf chemische Produkte zurückzuführen sind. Wir nehmen mit großer Sorge die zunehmende Zahl der Berichte von Ärzten zur Kenntnis, in denen von einer dramatischen Verschlechterung des Immunstatus des Menschen die Rede ist. Auch das ist in hohem Maße mitverursacht von Umweltbelastungen — neben anderen Faktoren natürlich, wie zuzugeben ist. Es gibt heute keine monokausalen Erklärungen mehr.Schließlich haben wir mit Sorge auch die amerikanischen Studien beispielsweise über den Zusammenhang zwischen Erkrankungen und Chemikalien im Haushalt zur Kenntnis genommen. Das alles sind Punkte, die wir ernst nehmen müssen. Das sind Gefahren, die letztlich von dem außerordentlich hohen Anstieg der chemischen Stoffe, Verfahren und Produkte herrühren.Das macht aber auch deutlich, daß unsere bisherige Umweltpolitik an Grenzen geraten ist. Mit einer Politik der nachträglichen Reparatur und der Grenzwertorientierung ist dieses Problem ebensowenig zu lösen wie mit einer medialen Umweltbetrachtung, bei der letztlich die Umwelt aufgeteilt wird in einzelne Bereiche wie Luft, Wasser, Boden, die aber nicht dem vernetzten und systemischen Charakter der Natur gerecht wird. Aus dem Grund heißt Chemiepolitik: Wir brauchen eine weitergehende stoffliche Neubewertung der Umweltgefahren, also eine Bewertung der Umwelttoxikologie im umfassenden Sinne. Wir brauchen zweitens einen vorsorgenden Umweltschutz; insbesondere deshalb, weil wir in vielen Bereichen nicht wissen, wie die persistenten, die akkumulativen oder auch die synergistischen Wirkungen von chemischen Stoffen sind. Vor allem wissen wir auch nicht, welche Langzeitgefahren davon ausgehen. Das klassische Beispiel ist Krebs, hervorgerufen durch gefährliche Arbeitsstoffe, mit Latenzzeiten von zehn, 15 Jahren und noch mehr. Wenn da der Krebs eintritt, ist keine Reparatur mehr möglich. Dies ist nur durch eine vorsorgende Chemiepolitik und Umweltpolitik in den Griff zu bekommen.Von daher ist Chemiepolitik für uns ein zentrales Feld der ökologischen Erneuerung unserer Volkswirtschaft und damit die Herausforderung einer Industriegesellschaft, die zum einen leistungsfähig ist. Ich glaube, es ist unbestritten — bei keiner Fraktion wird das angezweifelt —, daß die Chemie ein wichtiger und unverzichtbarer Teil unserer Wirtschaft und unseres Lebens ist.Andererseits ist eine Chemiepolitik auf Dauer in dieser Gesellschaft nur dann konsensfähig, wenn sie ökologischen, sozialen und gesundheitspolitischen Zielsetzungen entspricht. In diesem Zusammenhang ist der Begriff des sozialen Nettonutzens zu verstehen, und zwar nur in diesem Zusammenhang.
Wer das nicht begreift, hat auch nicht begriffen, wo die Leistungsfähigkeit und die Legitimation einer Industriegesellschaft liegen.Ich möchte in diesem Zusammenhang den Begriff der Risikogesellschaft nennen, der in letzter Zeit häufiger aufgetaucht ist. Ich glaube, daß man die Auffassung teilen muß, daß moderne Gesellschaften immer mehr zu großen Risikogesellschaften werden, die auf Dauer nur dann stabil sein können, wenn es in dieser Gesellschaft einen breiten Grundkonsens zu zentralen Fragen gibt. Dazu gehört unzweifelhaft das Verhältnis von Umwelt, Technik und Mensch.Das bedeutet aber: Wenn wir immer mehr eine Risikogesellschaft werden — unabhängig von sonstigen macht- und gesellschaftspolitischen Fra-
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18644 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Müller
gen —, dann brauchen wir auf jeden Fall einen handlungsfähigen, einen transparenten, einen demokratischen Staat. Wir brauchen eine Gesamtinstitution zur Lösung der Probleme und zur Beseitigung der größten Risiken. Wir brauchen zum zweiten immer stärker die Durchsetzung ökologischer Ziele gegenüber einzelwirtschaftlichen Zielsetzungen. Beides sind Ansatzpunkte, die hinter dem Stichwort der ökologischen Modernisierung oder Erneuerung unserer Industriegesellschaft stehen. Sie gelten speziell für den Bereich der Chemiepolitik.Es ist richtig, daß ungeheuer komplexe und verflochtene Gesellschaften wie unsere bei wichtigen Themen zu Selbstblockaden kommen können. Die Entwicklung der Chemieproduktion ist ein solches Thema, das in einer gewissen Weise zu einer Selbstblockade führen kann. Das bedeutet aber umgekehrt, daß es nur möglich ist, durch eine Gestaltungspolitik diesen Gefahren zu begegnen und von daher durch eine vorsorgende Chemiepolitik den gesellschaftlichen Grundkonsens zu bewahren.Auf diesem Hintergrund müssen meines Erachtens die drei zentralen Problembereiche der Chemiepolitik gelöst werden. Diese sind erstens das Störfallrisiko, zweitens die Sonderabfallproblematik und drittens eine ökologisch orientierte Produktpalette. Ich behaupte, daß es in der letzten Zeit zum Thema des Störfallrisikos erhebliche Anstrengungen der Industrie gegeben hat.
Wir haben in der Bundesrepublik zweifellos Verbesserungen erreicht. Unbestritten wird dies an dem Investitionsaufwand in den einzelnen Betrieben deutlich.Ich behaupte zweitens, daß wir bei der Sonderabfallproblematik weit von einer überzeugenden Lösung entfernt sind.Ich behaupte drittens, daß das schwierigste Problem, das in den nächsten Jahren ganz dringend auf uns zukommt, die Frage der stofflichen Neubewertung der chemischen Stoffe ist und daß wir da eigentlich am weitesten von Lösungen entfernt sind.Es ist richtig, daß diese Fragen entgegen dem klassischen Verständnis nicht allein von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gelöst werden können, sondern daß in die Problemlösung genauso die Stirnmen und die Mitbeteiligung beispielsweise von Umweltgruppen und Verbrauchergruppen gehören.
— Wissenschaft natürlich auch.
Deshalb bedeutet Chemiepolitik auch ein gesellschaftliches Verständnis von Politik und kann nicht reduziert werden auf betriebliche, volkswirtschaftliche und gewerkschaftliche Interessen, so wichtig sie im einzelnen sind.
Wir fordern bei der Chemiepolitik die Herausstellung der staatlichen Gesamtverantwortung, und wirfordern die Einbeziehung von weiteren gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere von Umwelt-und Verbrauchergruppen, um zu einer Vorsorge zu kommen und von Augenblickslösungen Abschied zu nehmen.Im einzelnen heißt das für eine Chemiepolitik erstens die systematische Aufarbeitung und Bewertung und gegebenenfalls den Ersatz der über 90 000 Altstoffe in einem öffentlich durchschaubaren Prozeß. Dazu gehört, wie gesagt, auch die Beteiligung von Umweltverbänden in dem Beratergremium für umweltrelevante Altstoff e.Es geht aber nicht nur um die Beteiligung von Umweltgruppen. Wir sind der Meinung, daß auch die staatlichen Bewertungsinstitutionen transparenter und flexibler und auch kontrollierbarer werden müssen. Ich meine hier beispielsweise das Verhalten des Bundesgesundheitsamtes am Beispiel Dioxin. Das war wenig überzeugend für diese Gesellschaft.
Das war wenig überzeugend für eine staatliche Verantwortung.Wir brauchen zweitens eine Erweiterung der Gefahrstoffverordnung über den Arbeitsplatz hinaus, vor allem für den Bereich des Gesundheitsschutzes und des Verbraucherschutzes.Wir brauchen drittens eine rasche und dringende Novellierung des Haftungsrechts. Dies gilt ganz besonders für die chemische Industrie.Wir brauchen viertens die bereitere Beteiligung der Arbeitnehmer bei der Gestaltung der Arbeits-und Produktionsbedingungen, insbesondere einerseits die Humanisierung der Arbeit als auch zum anderen die ökologische Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Betrieb.Wir brauchen fünftens einen wirksamen Schutz vor Chemikalien in den Innenräumen.Alles das, meine Damen und Herren, sind zweifellos große Aufgaben. Ich glaube, daß es notwendig ist, daß wir zukünftig dieses Thema nicht am Rande und am Ende von Debatten des Bundestages führen, sondern daß wir dem in der nächsten Zeit etwas mehr und etwas intensiver Raum schenken.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, in der Ehrenloge hat eine Delegation des Obersten Sowjet der UdSSR unter Leitung des stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR, Herrn Jurij Petrowitsch Batalin, Platz genommen.
Ich begrüße Sie im Namen des Deutschen Bundestages sehr herzlich und wünsche Ihnen einen guten Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und viele gute Gespräche.Herzlichen Dank.Meine Damen und Herren, ich erteile dem Abgeordneten Baum das Wort.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18645
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wir vermögen dem Antrag der GRÜNEN nicht zuzustimmen, Frau Kollegin Hönes.
— Diese Selbstkritik höre ich gerne, daß Sie anderen Gruppen gar nicht zutrauen, daß sie Ihnen zustimmen könnten.
Denn Sie haben eine Fülle von Forderungen gestellt, die gar nicht zu verwirklichen sind, weder kurzfristig noch langfristig. Ich halte z. B. nichts davon, einer Verbrennung des Sondermülls ein Nein entgegenzusetzen und dann den Sondermüll in die DDR zu bringen und darauf zu vertrauen, daß er dort irgendwie unschädlich beseitigt werde.
In einer vernünftigen Abfallpolitik brauchen wir Sondermüllverbrennungsanlagen.
Sie entziehen sich diesen Problemlösungen, und Sie suggerieren auch mit der Formel von der „sanften Chemie", als ob es möglich wäre, wenn man nur entschieden an die Probleme herangeht, Lösungen zu finden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Chemikaliengesetz — so hat er gesagt — ist ein Instrument zum Fangen schwarzer Katzen in einem dunklen Raum. Wir tappen in vielerlei Hinsicht im Dunkeln. Sie vermitteln den Eindruck, als bedürfe es nur der Entschlußkraft der Regierung, um die Probleme zu lösen. Das ist so nicht der Fall.
Bereits das Umweltprogramm der Bundesregierung von 1971 hat deutlich gemacht, daß das oberste Ziel der Umweltchemikalienpolitik — so nennen wir das — der Schutz der menschlichen Gesundheit ist. Mit dem 1980 in meiner Amtszeit verabschiedeten Chemikaliengesetz erfolgte die Hinwendung vom produktionsbezogenen Umweltschutz zum produktbezogenen Umweltschutz. Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und Umweltschutz wurden in einem Gesetz, unter einem Dach angesiedelt.Das Chemikaliengesetz und auch die heute zu behandelnden Vorlagen machen die Kompliziertheit der Materie deutlich. Denn es geht hier nicht nur um die Ausweitung dieses Schutzes, sondern es geht auch darum, daß Kriterien gesetzt und verändert werden müssen, daß neuartige Prüfungen und Bewertungen durchgeführt werden müssen. Die Problemsituation der Umweltchemikalienpolitik ist eben das Auftreten kleinster Mengen chemischer Substanzen in der Umwelt, die kurzfristig unschädlich sein können, auf längere Zeit jedoch Schäden verursachen.Es ist richtig: Wir müssen das Vorsorgeprinzip anwenden, wo es immer geht. Das beinhaltet grundlegende Pflichten, wie umweltfreundliche Produktionsverfahren, Substitution umweltgefährdender Stoffe durch unschädliche Ersatzstoffe, Durchführung von Toxizitätsprüfungen usw.Der Bericht der Bundesregierung zum Chemikaliengesetz hat deutlich gemacht, wie tiefgreifend und umfassend mit dem Chemikaliengesetz einerseits schon Wirkungen verbunden sind, wie auf der anderen Seite aber nur schrittweise vorgegangen werden kann. Es ist praktisch unmöglich, für alle Chemikalien, also für zirka 100 000 in Verkehr gebrachte Stoffe und für über eine Million Zubereitungen die erforderlichen Sicherheitsstandards in einem Zuge einzuführen. Sie bieten uns in Ihrem Antrag zur Lösung des Problems überhaupt keine Handhabe. Sie kritisieren uns wegen des Prinzips der Kooperation mit der Industrie. Ich bin der Meinung, wir sollten es nutzen wo es irgend geht.
— Gut, wenn Sie einverstanden sind, ist es in Ordnung. Dann begrüßen Sie bitte auch die Abkommen, die wir jetzt in Sachen Waschmittel mit der Industrie erreicht haben.
Das sind, vorausgesetzt, daß eine Breite der Anwendung gewährleistet wird, wirksame Beiträge. Wenn die Industrie bereit ist zu kooperieren, sollten wir das akzeptieren. Jegliche gesetzliche Maßnahme ist schwieriger, dauert länger und bedeutet Bürokratie.Das Chemikaliengesetz war ein wichtiger Schritt, um die Problematik der Umweltbelastungen in den Griff zu bekommen. Mit diesem Gesetz wurde Neuland beschritten, aber auch weitere Maßnahmen wurden ergriffen. So enthält die am 1. Oktober 1986 in Kraft getretene Gefahrstoffverordnung Herstellungs- und Verwendungsverbote für die acht gefährlichsten Dioxine und Furane. In der Störfallverordnung sind z. B. Stoffe, aus denen sich bei einem Störfall Dioxine bilden könnten, berücksichtigt. Die neue TA Luft vom 27. Februar 1986 verschärft die Emissionsbegrenzung einer Vielzahl von Stoffen. Auch das neue Pflanzenschutzgesetz verbessert den Schutz vor gefährlichen Stoffen. Es geschieht also etwas, Frau Kollegin Hönes. Auch die Beratungen im Umweltausschuß — an denen Sie jetzt beteiligt sind — zum Waschmittelgesetz, die Beratung zum Abwasserabgabengesetz, die gründliche Beratung zum jetzt abgeschlossenen Abfallbeseitigungsgesetz, bei allen diesen Beratungen geht es um Gesetze, die wichtige Beiträge zur Begrenzung der Umweltverschmutzung durch Umweltchemikalien darstellen.
Wir werden diesen Weg weitergehen, nicht in einem zu groß angelegten Konzept, sondern Schritt für Schritt in dem Rahmen, den wir uns gesetzt haben. Meine Fraktion ist der Meinung: wir müssen das Umweltchemikaliengesetz in der nächsten Legislaturperiode novellieren. Ich weise einmal auf § 4
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18646 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
BaumAbs. 6 des Gesetzes hin, nämlich auf die Regelung über die alten Stoffe. Um das gesetzte Ziel zu erreichen, so rasch wie möglich die alten, für Umwelt und Gesundheit relevanten Stoffe zu bewerten, wird es notwendig sein, das Gesetz zu überarbeiten. Ich bin auch der Meinung, daß die Eingriffsschwelle des § 17 überdacht und geprüft werden muß, ob die bereits bestehenden freiwilligen Vereinbarungen ausreichen oder ob nicht Regelungsdefizite durch den Gesetzgeber ausgeglichen werden müssen.Meine Damen und Herren, am nächsten Dienstag haben wir eine Sondersitzung des Umweltausschusses zur Chemiepolitik. Es geschieht also etwas. Wir brauchen uns nichts vorhalten zu lassen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zuerst zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 10 a: Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 10/6141. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/2920 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 10b, und zwar über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit auf Drucksache 10/6177. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/1579 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen.
Zu Tagesordnungspunkt 10 c schlägt der Ältestenrat Überweisung des Antrags auf Drucksache 10/6052 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist dies so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 und den Zusatz-Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über ihre Maßnahmen zur Förderung der ostdeutschen Kulturarbeit gemäß § 96 BVFG in den Jahren 1981, 1982 und 1983
— Drucksachen 10/2178, 10/6212 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Czaja Dr. Nöbel
Dr. Hirsch Ströbele
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Pflege ostdeutschen Kulturgutes
— Drucksache 10/6237 —
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte 45 Minuten vorgesehen. Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Nöbel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einer Plenardebatte zu § 96 BVFG diskutieren, verpflichtet uns, der Öffentlichkeit klarzumachen, worum es eigentlich geht, weil erstens der Gegenstand nicht ohne weiteres — auch nicht von allen Politikern — zu verstehen ist, weil es zweitens um die Verteilung von Mitteln — nicht zuletzt an teilweise miteinander konkurrierende Verbände — geht und es drittens lange Zeit verboten war, Berichte gemäß § 96 BVFG der Offentlichkeit zugänglich zu machen.Es handelt sich um den 10. Bericht über die Maßnahmen zur Förderung der ostdeutschen Kulturarbeit. Bund und Länder haben die Aufgabe, das kulturelle Erbe aus den Vertreibungsgebieten im Bewußtsein der deutschen und ausländischen Öffentlichkeit zu bewahren. Dies besagt § 96 des Bundesvertriebenengesetzes.Wir haben dazu gemeinsam eine Grundsatzkonzeption erarbeitet, die der Anpassung an eine Reihe von Entwicklungsfaktoren bedarf. In diesem Zusammenhang weise ich auf unsere Initiative hin, die dazu führte, daß in dieser Grundsatzkonzeption festgeschrieben wurde: Die Kultur aller Deutschen ist trotz im Jahre 1945 willkürlich gezogener Grenzen nicht teilbar. Wenn also mehr als 30 Jahre des Bestehens unserer Bundesrepublik nur der Begriff der ostdeutschen Kulturpolitik gegolten hat, ist eines sicher: nie hat es eine ost-, eine mittel-, eine westdeutsche Kultur gegeben, sondern immer nur eine deutsche Kultur in unterschiedlichen Landschaften. Darauf habe ich vor zwei Jahren hingewiesen mit der Schlußfolgerung, daß es sich um ein Kulturerbe als untrennbaren Bestandteil unseres gesamten Kulturgutes handelt.Deshalb begrüßen wir, was im gemeinsamen Kommuniqué über den Gedankenaustausch des Präsidiums des Bundes der Vertriebenen mit Johannes Rau vom 17. September dieses Jahres festgehalten ist. Es heißt dort u. a.:Es bestand Übereinstimmung, daß die Pflege des Kulturerbes der Ost- und Sudetendeutschen und der Deutschen aus den Siedlungsgebieten in Ost- und Südosteuropa als Bestandteil der deutschen Nationalkultur weiterhin nach Kräften gefördert werden soll. Hierbei komme der Weiterführung der ostdeutschen kulturellen und wissenschaftlichen Arbeit im Sinne desDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18647Dr. Nöbel§ 96 des Bundesvertriebenengesetzes große Bedeutung zu.Johannes Rau hob in diesem Zusammenhang hervor, daß sich an dieser Arbeit nicht nur die Vertriebenenverbände und Landsmannschaften beteiligen sollten, sondern dies sei Aufgabe aller Deutschen und insbesondere jeder Bundes- und Landesregierung.
Und weiter heißt es:
Johannes Rau verwies demgegenüber auf die durch die Nazidiktatur und den Zweiten Weltkrieg in Europa geschaffene Lage. Die von Willy Brandt eingeleitete und von Helmut Schmidt fortgeführte Deutschland- und Ostpolitik habe vieltausendfache menschliche Erleichterungen möglich gemacht, sie habe so die Geschichts-, Kultur- und Sprachgemeinschaft und das Gefühl der Zusammengehörigkeit der Deutschen gewahrt und gestärkt. Im übrigen hätten die Ostverträge nicht nur die bestehende Rechtslage berücksichtigt und seien im vollen Einvernehmen mit den Partnern im Westen abgeschlossen worden, sondern seien auch die Voraussetzung gewesen für den KSZE-Prozeß der Entspannung in Europa, der jetzt in eine zweite Phase münden müsse.Die Frage der deutschen Nation, der sich auch die DDR nicht entziehen könne, habe sich durch die staatliche Teilung nicht erledigt. Solange die beiden deutschen Staaten unterschiedlichen Bündnissen angehörten, sei die staatliche Einheit ausgeschlossen. Es bleibe aber offen, ob und in welcher Form die Deutschen in beiden Staaten in einer europäischen Friedensordnung zu institutioneller Gemeinschaft fänden.Sein Wort gilt genau wie das, was Hans-Jochen Vogel jetzt zur Frage der „deutschen Identität" in der „Neuen Gesellschaft" schreibt: Im Hinblick auf die Existenz zweier deutscher Staaten unterscheide uns der Zustand, daß nationale und staatliche Gemeinschaft nicht zusammenfielen, von unseren europäischen Nachbarn. Er sei aber in der Geschichte der Deutschen nicht neu. Deshalb liege es nahe, an die „gedanklichen Erfahrungen der mitteleuropäischen Geschichte anzuknüpfen" und sich „in bewußter Abkehr von der Verabsolutierung des Staates" wieder an den Werten zu orientieren, die eine „Gemeinschaft zur Nation werden lassen". Dies, so Jochen Vogel, seien vor allem die kulturellen Werte. Und weil sie es sind, verbindet er damit die „Perspektive zu einem weiten Kulturbegriff", der die „Entwicklung des Staates über den Rechts- und Sozialstaat hinaus zum Kulturstaat umschließe".Diese Perspektive geht weit über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses hinaus. Deshalb enthalten wir uns bei der Abstimmung. Natürlich stimmen wir unserem eigenen Antrag zu.Lassen Sie mich zur Entwicklung dorthin Stellung nehmen und zu meiner Eingangsbemerkung zurückkommen. Das Bundesvertriebenengesetz ist 1953 verabschiedet worden. Die ersten sechs Berichte, nämlich über die Jahre 1957 bis 1972, blieben meist aus verschiedenen Geheimhaltungsgründen vor der Öffentlichkeit im Verborgenen. Ich will Ihnen sagen, wie sich 1960 die damalige Bundesregierung dafür rechtfertigte: nämlich,daß die gesamte deutsche Ostarbeit einschließlich der Kulturarbeit und in besonderem Maße die deutsche Ostforschung in den Ostblockstaaten mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und mit propagandistischer Zielsetzung zum Anlaß genommen werden, deutschen Stellen revanchistische und imperialistische Motive zu unterschieben.
Frau Kollegin Terborg wird Ausführungen zu unserem Antrag machen. Ich will den Bogen dorthin schlagen: von der Ostarbeit zur Allgemeinkultur.
Auch wenn sich jemand über das ärgert, was in dem Antrag enthalten ist, was als „mögliche radikale Tendenzen" angesprochen wird: Gut wäre es, darüber einig zu sein, daß die Zeit der Ostarbeit ein für allemal als Episode abgehakt werden kann.
Wie paradox wäre z. B. das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über kulturelle Zusammenarbeit, das am 25. November 1977 in Kraft trat, oder der Warschauer Vertrag von 1970, in dem es heißt: „... in der Erkenntnis, daß eine Ausweitung der Zusammenarbeit im Bereich der kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen im gemeinsamen Interesse liegt."Wir sind gespannt, wie die Bundesregierung im nächsten Bericht die angekündigte „Fortschreibung der ,Grundsatzkonzeption zur Weiterführung der ostdeutschen Kulturarbeit' bzw. die Erarbeitung entsprechender Grundsätze für den mitteldeutschen Bereich" beschreibt.Die im Abschnitt „Sicherung des dinglichen Kulturguts" erwähnte Zusammenarbeit mit ostdeutscher und mit allgemeiner Kulturarbeit befaßter Persönlichkeiten auf der Regensburger Tagung ist zu begrüßen, wenn sie wirklich dazu beigetragen haben soll, das weitgehende Nebeneinander ostdeutscher und allgemeiner musealer Präsentationen zu koordinieren.Wir wollen uns verstärkt den kulturellen Fragen stellen. Wer glaubt, daraus Vorwürfe wie „SPD gegen Vertriebene" konstruieren zu können, bei dem sind die Dinge schlecht aufgehoben.Wenn ich beispielsweise die Autorenförderung nehme, ist doch offenkundig und unbestreitbar, daß die bedeutendsten unter ihnen nicht beim Bund der Vertriebenen ihre Hand aufhalten. Hier muß einiges in Ordnung gebracht werden.
„Kultur für alle", sagt der Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann. Diese Forderung stelle ich
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Dr. Nöbelan § 96 des Bundesvertriebenengesetzes. Das kulturelle Erbe und das Kulturschaffen heute sollen Hilfen für die Menschen besonders angesichts vermehrter Freizeit sein und Beitrag zur Persönlichkeitsbildung in einer demokratischen Kulturgesellschaft.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Czaja.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Nöbel hat in sachlicher Weise die Aufgabe umrissen, die uns gesetzt ist, aber dann hatte er — das spürte man — seine Schwierigkeit mit dem, was er mit dem Herzen gern vertreten hätte, und dem, was er vertreten mußte.
Alle zwei bis drei Jahre gibt der Bundestag konstruktive Empfehlungen zu dem gesetzlich vorgeschriebenen Bericht der Bundesregierung, wie sie in den letzten Jahren Kulturerbe, Kulturarbeit und wissenschaftliche Forschung über deutsche Vertriebene und Vertreibungsgebiete förderte, natürlich als Teil der Nationalkultur. Aber daß sie in diesem Teil — und die deutsche Kultur besteht in der Vielfalt — Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen und Flüchtlinge, Förderung der wissenschaftlichen Forschung zu tun hat, das steht in § 96 schon in der Überschrift, und das Gesetz ist nicht geändert.Inhalt und Zweck sind also gesetzlich fixiert. Die Arbeit ging weiter. Ein früher dazu zurückhaltend dotierter Titel beim Bundesministerium des Innern wurde verdoppelt. Der Dank dafür gilt zum Teil auch Anträgen aus diesem Hause.Die sorgfältigen Empfehlungen — und Sie haben j a nichts gegen sie eingewandt — mehrerer Ausschüsse waren grundlegend für die weitere Arbeit. Vieles davon wird das Bundesinnenministerium wohl auch in seinem geplanten Aktionsprogramm aufgreifen.Meine Damen und Herren, ich spreche diesmal zu den Empfehlungen mit einer Mischung von Genugtuung, aber auch von Sorge und Trauer und mit etwas Hoffnung. Im Innenausschuß hat die SPD daran gar nichts ausgesetzt, in anderen Ausschüssen hat sie der Beschlußempfehlung sogar zugestimmt, sie fand sie gut.Kanzlerkandidat Ministerpräsident Rau — ich möchte seine entscheidenden Punkte hier nochmals unterstreichen — hat nach einem Gespräch mit dem Bund der Vertriebenen durch die SPDPresse — Sie haben ihn ja teilweise zitiert, und dann haben Sie alles mögliche hinzugefügt, was nicht drin steht — erklären lassen, die Pflege des ostdeutschen Kulturgutes und der wissenschaftlichen Forschung müsse mit allen erreichbaren Kräften gefördert werden. Und gegenüber dem Apostolischen Visitatoren der deutschen Heimatvertriebenen sagte er sogar, meine Damen und Herren von der SPD, man dürfe die Geschichte des deutschen Ostens nicht verdrängen und verzerren.
Aber bei der ersten Nagelprobe kehren Sie mit Drucksache 10/6237 Rau's Wort „Versöhnung statt Entspannung" um. Mit dieser Drucksache, die Sie hier vorlegen, hat sich Herr Kollege Nöbel aus verständlichen Gründen nicht sehr stark befaßt. Er hat hier Herrn Vogel zitiert; aber dessen Ausführungen wurden nicht als Stellungnahme der SPD dargelegt, sondern die befindet sich in einem Antrag, der unbegründete pauschale Bedenken gegen die Kulturarbeit der Vertriebenen erhebt und wirklichkeitsferne Belehrungsversuche anstellt. Da zwei Drittel des Berichts, Herr Duve, Ihre Regierungszeit betreffen, wären darin Selbstvorwürfe der SPD enthalten. Auch das ist ein Zeichen dafür, mit welcher primitiven Arroganz — nicht Herr Nöbel, aber gewisse verklemmte Ideologen — aus mangelnder Sachkenntnis beschuldigen. Sie gehen in diesem Antrag 10/6237 auf Konfrontation.Die Kulturarbeit — das wird dort auch gesagt — unterläuft nicht die Ostverträge, denn als Gewaltverzichtsverträge — also nicht Gebietsübertragungsverträge — gebieten sie keineswegs, zu verschleiern, daß viele Vertreibungsgebiete sieben Jahrhunderte durch deutsche Kultur geprägt waren,
und sie verbieten nicht unsere Pflichten für das ganze Deutschland, Herr Kollege von den GRÜNEN. Das paßt natürlich Ihrem nationalkommunistischen polnischer Kommissionspartner nicht. Aber deshalb sollten Sie eigentlich noch nicht, meine Damen und Herren, die physisch vertriebenen Deutschen zusätzlich aus der Geschichte vertreiben wollen; das ist nicht gut.
Das Auswärtige Amt hat in bezug auf frühere, ehemalige Gebiete, was Sie auch beanstanden, noch am 27. August 1986 direkt abgeschworen, die Ostgebiete als „ehemalige" deutsche Ostgebiete zu bezeichnen. Sie aber verwenden im Antrag Terminologien, die mit der verbindlichen Bundesverfassungsgerichtsentscheidung vom 7. Juli 1975, dem Grundgesetz und dem Völkerrecht in Widerspruch stehen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.Meine Damen und Herren, wie Sie mit Ihrem Kanzlerkandidaten umgehen, ist natürlich Ihre Sache; aber der Mensch Johannes Rau kann einem schon leid tun. Mit tiefer Sorge — nur das sage ich hier — muß ich jedoch feststellen, daß Sie in diesen Fragen zum erstenmal ein Mindestmaß an Solidarität mit Millionen deutscher Vertriebener und ein Minimum der Übereinstimmung bei der Pflege gesamtdeutschen, einschließlich ostdeutschen Kulturerbes verweigern. Statt in einem natürlichen Verhältnis zur Geschichte, zu Volk und Staat zu stehen, beugen Sie sich leider in diesem Punkt verklemmten Ideologen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18649
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Duve?
Ja, wenn Sie mir das nicht auf die Redezeit anrechnen.
Herr Kollege Dr. Czaja, sind Sie bereit, dem Hohen Hause einige der deutschen Autoren, der großen literarischen Autoren zu nennen, die für die deutsche Kultur eine große Bedeutung haben und die mit dem gemeint sind, was Kollege Nöbel hier gesagt hat, von der Ostpolitik zur Kulturpolitik, die durch diese Maßnahmen, die Sie hier vertreten, in ihrer Arbeit in der letzten Zeit gefördert sind? Gehören dazu Günter Grass, gehört dazu Siegfried Lenz? Sind das nicht alles große und wichtige Autoren, und geben Sie zu, daß unsere Idee und unser Antrag darauf zielt, hier eine kulturpolitische — und keine vertriebenenpolitische — Debatte für das gesamte Deutschland zu erreichen?
Die sind über Maß gefördert worden, aber wir haben viel zu wenig gefördert beispielsweise, um jemanden zu nennen, Max Hermann Neisse. In Ihrer Regierungszeit ist Kafka viel zu wenig gefördert worden, dessen Geburtstag man hätte wirklich repräsentativ nutzen sollen. August Scholtis, Ernst Wiechert und viele andere sind viel zu wenig gefördert worden.
Ich möchte nun noch bemerken, daß in einer Zeit — Herr Duve, das meine ich wirklich ernst —, wo viele Deutsche zwischen linkem und rechtem Nationalismus, Neutralismus und Übermaß schwanken, Sie leider nicht, was Sie sein sollten, eine wichtige Mitte-Linkspartei sein wollen, die wir unabdingbar für ein ebenso maßvolles wie entschiedenes nach Europa und nach humanistischen Werten geöffnetes deutsches nationale Staats- und Geschichtsbewußtsein bräuchten. Das ist meine große Sorge. Schreckt Sie nicht die Erinnerung an 1929 bis 1932, wo das Mindestmaß der Übereinstimmung zu spät kam und zu wenig konstruktiv war?
Daß Sie sich beim Beschluß enthalten, der alles das enthält, was Sie wollten, läßt noch Hoffnung bestehen, denn jetzt sind Sie weder heiß noch kalt, sondern lau. Vielleicht werden morgen bei Ihnen Kräfte erstarken, die mit Schumacher wissen, daß eine Volkspartei, die die nationale Frage links liegen läßt, damit droht unterzugehen. Das waren bis zuletzt die Worte Schumachers.
Nun einige Hinweise zu den Empfehlungen, bei denen Sie sich enthalten: Förderung von Schriftstellern, die sich mit Leben und Geschichte Ostdeutschlands befassen, und ostdeutscher Schriftsteller, ohne Beschränkung auf die einen oder anderen, aber auch nicht mit Beschränkung auf elitäre
Ideologen bei Dichterlesungen und Auslandsbesuchen,
bessere Hilfen an ostdeutsche Landesmuseen und landeskundliche Institute, zum Bau und zur Ausstattung wissenschaftlicher Planstellen, Qualitätsverbesserung in der kulturellen Breiten- und in der deutschlandpolitischen Bildungsarbeit durch hauptamtliche Kräfte, Stipendien für Nachwuchs, bessere Darstellung — übrigens einstimmig oder ohne die GRÜNEN im Auswärtigen Ausschuß — der Rechtslage und der tatsächlichen Lage Deutschlands und der Deutschen im Ausland.
Meine Damen und Herren, noch ein Grundsätzliches: Für Jugend- und Erwachsenenbildung, Forschung, umfassende Kulturpflege, bezogen auf den ostdeutschen Bereich, geben Bund, Länder und Gemeinden 40 bis 45 Millionen DM aus. Auf den westlichen Teil unseres Vaterlandes bezogen, gibt es dafür Dutzende von Milliarden DM.
Die Ostblockstaaten befassen zahlreiche staatliche Institute und hunderte von Wissenschaftlern mit ostdeutscher Geschichte. Bei uns ist die Zahl dieser Stellen verschwindend gering. Deshalb will sich das Bundesinnenministerium um die Realisierung des angekündigten Aktionsprogramms bemühen, und es wird darum sehr, sehr ringen müssen, denn Schreibtischpläne allein nützen wenig.
Eine Parlamentsdebatte über Kultur-, Geschichts- und Wissenschaftspflege in einem getrennten Vaterland ist auch Anlaß zu Besinnung und Ausschau. Unsere an deutsche Eigenart, ebenso an ganz Europa und auch an alle Nachbarn gebundene geistige, geschichtliche Tradition sollte nach den Gesetzen des Lebens zu friedlichem Wandel genutzt werden. Im Godesberger Programm noch stand dazu in Ziffer 41 das Bekenntnis, möglichst viel von Deutschland zu erhalten, sogar das Recht auf die Heimat der Deutschen und einen Ausgleich mit europäisch gewährleisteten Volksgruppenrechten in besonders umstrittenen Randgebieten zu erreichen.
Meine Damen und Herren, daran anzuknüpfen täte gut. Beerdigen Sie das nicht im Irseer Programm. Solche Aufgaben ergeben sich aus dem geschichtlichen und kulturellen Erbe, über das wir sprechen. In diesem Sinn stimmen wir der Empfehlung zu. Wir verbinden damit den Dank an viele ehrenamtliche Helfer und müssen ihre Pauschalbeschuldigung leider ablehnen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Ströbele.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Liebe Männer und Frauen! Leider sind die Kollegen aus dem Obersten Sowjet nicht mehr hier.
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18650 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
StröbeleEs wäre sicher ein Thema gewesen, das sie mit großem Interesse verfolgt hätten.Herr Kollege Czaja, was Sie tun, ist viel schlimmer. Sie vertreiben nicht nur die Völker Osteuropas aus der Kulturpolitik, die Sie hier gefördert haben wollen, sondern Sie leugnen sie. Sie kommen nämlich weder in Ihren Berichten noch in Ihrer Beschlußempfehlung überhaupt vor.
Seit Bestehen der Bundesrepublik wurden Jahr für Jahr viele Millionen DM aus Bundesmitteln aus allen möglichen Töpfen ausgegeben für die Förderung der sogenannten ostdeutschen Kulturarbeit. Gleichbleibend wurden die Gelder von allen Parteien und allen Regierungen ohne Murren zur Verfügung gestellt. Solange das der Preis für die Eingliederung der Millionen von Flüchtlingen war und dafür, daß diese von der Verwirklichung von Rückkehrträumen Abstand nahmen, mag das hingenommen werden. Der Preis war dann nicht zu hoch, wenn mit diesem Geld das Ventil bezahlt wurde, mit dessen Hilfe der Druck aus einem gefährlichen Kessel rechtzeitig abgelassen werden konnte, bevor sich ein aggressiver Revanchismus hätte Bahn brechen können: Besser, die Flüchtlinge in der Bundesrepublik zu integrieren und sich mit ihrer verlorenen Kultur zu beschäftigen, als in ihnen die Bereitschaft wachzuhalten, tatsächlich zurückkehren zu wollen. Das mag das kleinere Übel gewesen sein, auch wenn diese Kulturarbeit nicht nur sehr einseitig und beschränkt auf deutsches Brauchtum blieb, sondern auch schrille nationalistische Töne immer wieder hörbar wurden, die mit bundesdeutschen Steuergeldern finanziert wurden.Inzwischen aber hat sich einiges geändert: Die Flüchtlinge in der Bundesrepublik sind voll integriert, die Alten können nicht mehr und die Jungen wollen nicht mehr zurück. Es gibt ganz offiziell eine andere, eine neue Ostpolitik, die die heutigen deutschen Ostgrenzen anerkennen und die Völker, die dort leben, ernstnehmen will. Wegen der erreichten Eingliederung der Flüchtlinge ist die Existenz und die Finanzierung eines Entlastungsventils mit schrillen Tönen heute nicht mehr nötig. Für ein verbessertes Verhältnis zu den östlichen Nachbarn aber sind nicht nur die immer noch vorkommenden schrillen Töne einer solchen ostdeutschen Kulturarbeit, wie bisher, äußerst störend und sogar schädlich, sondern mit einer solchen anderen Ostpolitik ist ostdeutsche Kulturarbeit, die nur das Deutsche in der Kultur der polnischen, der tschechischen, der ungarischen und der rumänischen Grenzgebiete des ehemaligen deutschen Reiches wahrnimmt und pflegt, nicht zu vereinbaren.In dem 15seitigen Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen zur Förderung der ostdeutschen Kulturarbeit kommt Polen zweimal, kommen Ungarn, Rumänien, die Tschechen überhaupt nicht vor. Aus dem Bericht ergibt sich aber, daß nicht nur ostdeutsche Gedenktage oder etwa der Ankauf von Musikinstrumenten mit Verstärkeranlagen für Oberschlesier oder der Ankauf eines großen Gemäldes „Eichen mit Hünengrab an der Küste Rügens" aus Bundesmitteln bezahlt wurde; sondern eben auch Bundestreffen von Landsmannschaften und Zeitschriften und sonstige Publikationen von Vertriebenenverbänden wurden über viele Jahre finanziert. Da erinnert man sich doch gleich an revanchistische Artikel in solchen Zeitschriften oder an das Motto von Vertriebenentreffen, etwa in Hannover, das selbst dem Bundeskanzler Verdauungsschwierigkeiten bereitete.Wer so etwas mitfinanziert, ist auch für die Folgen mitverantwortlich, vor allem auch für die Resonanz solcher Veröffentlichungen und solcher Veranstaltungen bei den Völkern an unseren östlichen Grenzen, und er ist für die Konsequenzen für eine wirkliche Entspannungspolitik mitverantwortlich. Solche Äußerungen in der Bundesrepublik dienen in den östlichen Nachbarstaaten im übrigen auch dazu, Liberalisierungen im Innern und die Öffnung nach außen mit dem Hinweis auf einen noch wachen Revanchismus in Deutschland zu versagen.Eine neue Ostpolitik und unsere Verantwortung für die Entwicklung in den Ländern jenseits der deutschen Grenze im Osten verlangt deshalb auch eine Förderung einer anderen ostdeutschen Kulturarbeit. Zumindest die aus Steuermitteln mitfanzierte. Kulturarbeit muß sich auf alle Völker beziehen, die in den Gebieten des ehemaligen Deutschen Reiches gelebt haben und heute noch leben, und sie muß unverzichtbar mit den Kulturen dieser Völker verbunden bleiben. Eine alternative Kulturarbeit unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge ist aber weder in dem Bericht der Bundesregierung noch in der Beschlußempfehlung vorgesehen. Wir lehnen die Beschlußempfehlung daher ab.Den Vorschlag der SPD werden wir unterstützen, auch wenn wir vermissen, daß die SPD in den vielen Jahren, in denen sie diese Kulturarbeit bestimmen sollte, die Prinzipien, die da niedergelegt worden sind, leider nicht beachtet hat.Danke sehr.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Baum.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist in der Geschichte der Bundesrepublik während der Zeit, in der § 96 BVFG in Kraft war, eigentlich nie bestritten worden, daß hier eine wichtige Aufgabe des Staates vorhanden ist.
Es kann meines Erachtens schlechterdings nicht bestritten werden, daß wir das kulturelle Erbe in bezug auf die Gebiete pflegen. Diese Pflege würde nämlich sonst nur teilweise und unzureichend vorgenommen. Sie bedarf der staatlichen Förderung.Nun muß man fragen: Wie geschieht das? Ich bin der Meinung, daß die politische Wirklichkeit nicht außer acht gelassen werden darf. Bei der Förderung darf nicht außer acht gelassen werden, daß sich die politischen Verhältnisse geändert haben, daß wir in
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Baumder Außenpolitik weitergekommen sind und daß wir mit den osteuropäischen Staaten eine Politik der guten Nachbarschaft pflegen. Es darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß wir in der europäischen Zusammenarbeit einen wichtigen Schritt weitergekommen sind, beispielsweise in der KSZESchlußakte. Diese Förderung darf also diese Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, die j a unseren Interessen entspricht, nicht stören. Ich sehe hier aber auch keinen Ansatzpunkt für Kritik.Ich sehe Ansatzpunkte für Kritik an manchem, Herr Kollege Czaja und Kollege Hupka, was auf Vertriebenentreffen gesagt wird. Ich bin selber Vertriebener. Aber das beeinträchtigt nicht meine positive Einschätzung dieser Förderungsaufgabe, die wir als Staat wahrzunehmen haben. Ich selber habe das als Innenminister immer für richtig gehalten. Ich habe viele Einrichtungen besucht. Ich habe mich davon überzeugt, daß hier vieles geschieht, was notwendig ist, etwa im Bereich der Wissenschaft, aber auch im Bereich der Museen, was sonst überhaupt nicht geschehen würde.Deshalb meine ich, wir sollten das, was hier in der Beschlußempfehlung steht, ernst nehmen. Es fällt mir auf, daß eine ganze Reihe von Sachen sozusagen „alte Bekannte" sind. Es gibt Entschließungen aus dem Jahre 1984, die immer noch nicht verwirklicht sind. Das ist insbesondere auch in bezug auf die Mitteldeutschen der Fall. Ich möchte die Bundesregierung mahnen, die mitteldeutsche Kultur und die deutschlandpolitische Bildungsarbeit, so wie hier vom Parlament schon 1984 gefordert, mit einzubeziehen. Da hat der Bund der Mitteldeutschen recht: Das gehört dazu.Es gibt jetzt eine ganze Reihe von Anregungen, die hier gemacht worden sind. Besonderes Interesse haben bei uns die Anregungen des Auswärtigen Ausschusses gefunden. Ich nenne nur einige: die Aktion für Bücherspenden zu wissenschaftlichen, schöngeistigen, belehrenden und unterhaltenden Zwecken für Jung und Alt zu erweitern; die Liste der Autoren, Schriftsteller und Wissenschaftler, die mit Bezug auf § 96 bei Vorträgen im Ausland gefördert werden, zu erweitern; zu prüfen, ob eine halbe Million DM an Zuschüssen für die Bamberger Symphoniker nicht aus allgemeinen Kulturförderungsmitteln getragen werden kann. Also, Herr Kollege Ströbele, diese schrillen Töne, von denen Sie gesprochen haben, werden offenbar von den Bamberger Symphonikern verursacht.
Sie wissen j a offenbar gar nicht, was hier geschieht. Kennen Sie denn die Ostdeutsche Galerie in Regensburg, eine wunderbare Einrichtung? Im empfehle Ihnen sehr, diese mal anzusehen.
— Ich habe dazu eben schon etwas gesagt.Es geht ferner darum, soweit wie möglich die kulturelle Breitenarbeit und die Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse in jenen Regionen anzustreben, wo noch viele Deutsche in Ost- und Südosteuropa sowie in den Gebieten östlich von Oder und Neiße leben. Dann gibt es auch Hinweise auf das Verhältnis zu Polen, die KSZE-Politik, die Notwendigkeit von Übersetzungen, auch Übersetzungen neuerer und älterer ostdeutscher Autoren ins Polnische. Alles dies halte ich für wichtige Anregungen. Ich möchte die Bundesregierung ermutigen, hier tätig zu werden.Wir werden dem Berichtsentwurf zustimmen.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Waffenschmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst zu Ihnen, Herr Kollege Ströbele: Ich möchte hier ausdrücklich für die Bundesregierung Ihre sehr unqualifizierten und arroganten Angriffe gegen Millionen deutscher Bürger zurückweisen.
Das sind deutsche Menschen. Sie haben ein schweres Schicksal auf sich genommen, stellvertretend für uns alle, und ich will hier bewußt noch einmal sagen: Es war 1950, als die Vertriebenen in der Charta der Vertriebenen auf Rache und Gewalt verzichtet haben.
Ich möchte hier noch einmal für die Bundesregierung feststellen: Es war und ist eine der größten Friedensinitiativen unserer Zeit, was die Vertriebenen da geleistet haben.
Nun zu dem, was uns heute besonders beschäftigt. Für die ostdeutsche Kulturarbeit sind nach wie vor mehrere Schwerpunkte bedeutsam: a) die Förderung landsmannschaftlicher Arbeit zur Vermittlung und Weiterführung der geschichtlichen und kulturellen Leistungen sowie der gelebten Traditionen der von der Vertreibung betroffenen deutschen Volksgruppen, b) die Förderung der Erschließung und Vermittlung ostdeutscher Kultur und Geschichte durch Forschung und Lehre an Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen, c) die Herausgabe übergreifender Gesamtdarstellungen zur ostdeutschen Kultur und Geschichte und d) die Errichtung und der Ausbau ostdeutscher Landesmuseen, in denen ein anschaulicher und umfassender Überblick über die Kulturregionen des deutschen Ostens gegeben werden soll.Meine Damen und Herren, wenn man einmal Bilanz macht und das auch in Zahlen ausdrücken darf, möchte ich hier heute doch einmal hervorheben: 1983 standen 4,3 Millionen DM für die ostdeutsche Kulturarbeit im Haushalt. Wir haben jetzt den Entwurf der Bundesregierung für 1987 im Haus-
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Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidthaltsausschuß dieses Parlaments verabschiedet. Wir sind in der Lage, 1987 11,5 Millionen DM für diese wichtige Aufgabe auszugeben. Von 4,3 Millionen DM auf 11,5 Millionen DM, das zeigt, daß wir hier nach wie vor mit guten Gründen und auch mit wichtigen Initiativen einen bedeutsamen politischen Schwerpunkt setzen. Das wollen wir auch in vielen Initiativen umsetzen.Die bisher bei der Durchführung einzelner Maßnahmen gewonnenen Erfahrungen zeigen, daß die zur Umsetzung ostdeutscher Kulturarbeit berufenen Einrichtungen und Organisationen noch verstärkter Hilfe bedürfen. Wir dürfen sie mit ihrer Arbeit nicht sich selbst überlassen. Es geht hier um eine Aufgabe, die, so meine ich, alle Deutschen angeht.
Bund und Länder haben nach § 96 BVFG den Auftrag, die ostdeutsche Kulturarbeit aktiv mitzutragen und zu verantworten. In diesem Sinne wird zur Zeit im Bundesinnenministerium ein Aktionsprogramm
zur Fortführung der ostdeutschen Kulturarbeit vorbereitet, das die notwendigen konkreten Maßnahmen aufzeigen soll, für die dann zusätzliche Haushaltsmittel in einem mittelfristigen Zeitraum gezielt einzusetzen wären.
Das Programm wird zusammen mit dem nächsten Bericht nach § 96 BVFG dem Deutschen Bundestag vorgelegt werden. Zur Vorbereitung des Programms werden selbstverständlich auch die Anregungen einbezogen, die der Deutsche Bundestag zu den bisherigen Kulturberichten und zu dem heute vorliegenden Bericht uns gegeben hat.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Abgeordneten Duve?
Ja.
Herr Staatssekretär, wenn Sie hier von einem Aktionsprogramm sprechen und davon, daß für diesen Zweck erhebliche weitere Mittel eingeworben werden sollen: Ist die Bundesregierung bereit, in eben diesem Maße die Mittel zur allgemeinen Kulturförderung des Bundes steigen zu lassen?
Herr Kollege Duve, ich bin sehr dankbar für diese Frage. Ich darf darauf hinweisen, daß gerade diese Bundesregierung in der allgemeinen Kulturarbeit für unser Land, soweit sie gesamtstaatliche Zuständigkeit hat, weite und fruchtbare Initiativen gesetzt hat. Ich erinnere daran, daß die erste große kulturpolitische Debatte nach vielen Jahrzehnten
unter dieser Bundesregierung in diesem Parlament stattgefunden hat.
Ich möchte ein zweites sagen. Wir werden alles tun, daß neben der allgemeinen Kulturarbeit eben auch die ostdeutsche Kulturarbeit weiterhin intensiv gefördert wird. Hier ist ein Vermächtnis für ganz Deutschland. Diese ostdeutsche Kultur ist Teil der gesamten deutschen Kultur, die wir niemals aufgeben dürfen. Sie ist unser Vermächtnis auch für die Zukunft.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit insbesondere all denen danken, die in den vergangenen Jahrzehnten unter oft sehr schwierigen Umständen mit großem persönlichen Einsatz zur Bewahrung unseres ostdeutschen kulturellen Erbes beigetragen haben. Sie alle haben einen wichtigen Dienst für Staat und Volk geleistet. Deutsche Geschichte und Kultur sind unteilbar. Hierauf wurde mit Recht bereits bei der Behandlung des Berichtes für die Jahre 1979 und 1980 in diesem Hause hingewiesen.Die unter den Aspekten des § 96 BVFG zu leistende Arbeit dient nicht nur der Bewahrung und Weiterentwicklung des kulturellen Erbes der Vertreibungsgebiete. Sie schafft auch wichtige Voraussetzungen für einen fruchtbaren kulturellen und wissenschaftlichen Austausch mit unseren Nachbarvölkern im Osten und Südosten Europas. Dies will ich hier ausdrücklich sagen. Es entspricht der guten Tradition der Landschaften und der Menschen, derer wir hier gedenken, daß sie immer Brückenfunktion zu osteuropäischen Nachbarvölkern wahrgenommen haben.
Ich finde, dies liegt in unser aller Interesse.Wir müssen die Qualität und Intensität der ostdeutschen Kulturarbeit noch aus mehreren Gründen erheblich steigern, müssen den Menschen, die sich für diese Arbeit zur Verfügung stellen, Mut machen und die Rahmenbedingungen bieten, die den gestellten Ansprüchen gerecht werden. Dies gilt für alle Bereiche: für Kunst, Wissenschaft und auch für Breitenarbeit.Wir alle wissen, meine Damen und Herren, daß auf diesem Gebiet noch vieles zu leisten ist. Das Aktionsprogramm zur Fortführung der deutschen Kulturarbeit wird uns dies erneut vor Augen führen. Ich lade Sie alle ein mitzutun, wenn wir dieses Programm vorlegen. Denn wir erfüllen hier eine wichtige Aufgabe im geteilten Deutschland.
Wir sollten dann daraus gemeinsam die notwendigen Schlußfolgerungen ziehen. Denn kein Volk
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Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidtkann es sich auf Dauer leisten, einen so wesentlichen Teil seiner Geschichte und Kultur zu vernachlässigen.Ich möchte noch einmal all denen herzlich danken, die sich der wichtigen Aufgabe ostdeutscher Kulturarbeit zugewandt haben, und möchte hoffen, daß es uns auch in Zukunft gelingt, immer wieder trotz mancher Irritationen, die hier bewußt oder unbewußt gesät werden, einen breiten Konsens unserer Bürger herbeizuführen für dieses wichtige deutsche kulturelle Erbe, das uns nie verlorengehen sollte.Herzlichen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Terborg.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Allzu häufig ist es nicht, daß sich der Deutsche Bundestag intensiv mit der Frage beschäftigt: Wie schaut es mit der Frage des ostdeutschen Kulturgutes aus? Wie werden die beträchtlichen Mittel der Förderung nach § 96 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge eingesetzt? Was hat sich bewährt? Was müßte man vertiefen? Was kann man anders und vielleicht auch besser machen?
Wir Sozialdemokraten begrüßen die heutige Aussprache, die über den Kreis der Insider hinaus das Interesse des Hohen Hauses an seiner eigenen Förderungspraxis wecken kann.
Um es kurz zu machen: In diesem Haushaltsjahr sind es allein beim Innenminister und beim innerdeutschen Minister 7,94 Millionen DM, und im kommenden Haushaltsjahr werden es 10 Millionen DM sein, die in Rede stehen. Das Auswärtige Amt ist nicht in der Lage, eine genaue Aufstellung seiner Ausgaben für die Zwecke des § 96 zu liefern.
— Ja, auch ich sage dazu: leider. Es ist nicht in Ordnung, daß dem Deutschen Bundestag eine vollständige Übersicht über die Vergabe der Mittel fehlt. Auch dies würde zu dem Plan gehören, den Sie, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, eben vorgetragen haben.
Mit diesem Titel wird das kulturelle Erbe aus den ehemals ostdeutschen Gebieten gefördert, ausgewertet und archiviert, und der Wissenschaft und Forschung zur Verfügung gestellt; die Kulturleistung der Vertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler wird unterstützt. Die Bundesregierung berichtet regelmäßig, die Ausschüsse beraten die Berichte regelmäßig und einigen sich — so ist es jedenfalls meist der Fall gewesen — quer durch die Fraktionen auf ein paar Empfehlungen dazu, wie es weitergehen soll.
Dieses obligate Einvernehmen hat, wie wir erlebten, eine vertiefte Debatte über Fördervolumen und Mittelvergabe nicht gefördert. Deshalb schien es uns an der Zeit, einmal gründlicher auf den § 96 einzugehen. Wir haben auf der Drucksache 10/6056 eine Kleine Anfrage eingebracht, die in diesen Tagen beantwortet wurde. Die Antwort gibt Stoff für weitere Erörterungen, aber das steht heute nicht zur Debatte. Interessanter ist da schon die merkwürdige Tatsache, daß nicht etwa Freude am Interesse des Parlaments aufkam, sondern hektische Aufgeregtheit.
Der Bund der Vertriebenen witterte Unrat und ließ uns das wissen.
Der Herr Kollege Wilz mußte sich im Unions-Pressedienst auf schon fast lächerliche Weise aufblasen, und die Bundesregierung beeilte sich, ehe sie auf unsere Fragen antwortete, erst einmal lang und breit die Verdienste der Vertriebenen beim Aufbau des neuen Deutschland zu rühmen. Auch das ist nicht das Thema! Da ich selbst aus Schlesien nach Norddeutschland verschlagen wurde, weiß ich um unser Schicksal und darum, wie wir es meisterten. Ich weiß, was wir geschaffen haben, und wäre selbst dann stolz darauf, wenn ich heute kein Lob von dieser Regierung bekäme.
Mich interessiert, ob das Geld aus dem Titel des § 96 des BVFG wirklich optimal angelegt wird, um das ostdeutsche Kulturerbe zu erhalten, ob die Forschungsergebnisse über den Tag hinausweisen und ob sie zum vertieften Verständnis zwischen den Völkern beitragen. Ich frage: Ist die Pflege von Kultur und Geschichte eine planvolle, oder hängt sie von den zufälligen Interessen derer ab, die wissen, wofür es Mittel gibt, und die immer rechtzeitig Anschlußprojekte anbieten, damit das schöne Geld „in der Familie" bleibt? Darüber muß man doch reden können!
Wenn alles seine Ordnung hat, muß man sich hier ja nicht aufregen. Wir wollen sicherstellen, daß man bei der Förderung und Sicherung des ostdeutschen Kulturerbes planvoll vorgeht, nicht nach den zufälligen Interessen der sogenannten ewigen Zuwendungsempfänger. Wir Sozialdemokraten wollen sicher sein, daß das vom Bund geförderte Schrifttum keine Zweifel am Friedens- und Versöhnungswillen der Deutschen und an ihrer demokratischen Gesinnung aufkommen läßt.
Wir wollen mithelfen, daß die große Begegnung der deutschen und der osteuropäischen Kulturen in ihrer Zeit, in ihren Wechselbeziehungen und in ihrer gegenseitigen Durchdringung erhellt und bewahrt wird.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Czaja?
Nein.
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Frau TerborgDas kulturelle Erbe soll allen Deutschen zugänglich gemacht werden, nicht in Mini-Museen, sondern an Orten, die garantieren, daß es zum Kulturgut aller werden kann.
Ich müßte mich sehr wundern, wenn es auch nur einen in diesem Hause gäbe, der ein solches Mühen als falsch oder gefährlich einschätzen würde. Das ist unsere selbstverständliche Verpflichtung. Wir haben die Millionen nicht nur aufzustocken und dafür zu sorgen, daß sie abfließen; wir haben auch und vor allem darauf zu achten, daß sie sinnvoll eingesetzt werden, und das alle Jahre aufs neue.Ich danke Ihnen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 11, und zwar über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 10/6212. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen und einer Gegenstimme ist so beschlossen.Wir stimmen nunmehr über den Zusatztagesordnungspunkt 6, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/6237, ab. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Meine Damen und Herren, bei mir ist beantragt worden, zu den Tagesordnungspunkten 12 a bis c und 17, abweichend von der Geschäftsordnung nach § 126, die vorgesehenen Reden zu Protokoll zu geben. Ist das Haus damit einverstanden?
— Ist j a phantastisch! Vielen herzlichen Dank. Dann wird so verfahren. Ich bitte, die Reden hier heraufzureichen *).Meine Damen und Herren, dennoch muß ich die Tagesordnungspunkte zur Abstimmung aufrufen. Zunächst Punkt 12:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines neuen Marktabschnitts an den Wertpapierbörsen und zur Durchführung der Richtlinien des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 5. März 1979, vom 17. März 1980 und vom 15. Februar 1982 zur Koordinierung börsenrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 10/4296 —Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 10/6168 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Solms
*) Anlagen 5 und 9 b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für institutionelle Anleger— Drucksache 10/4671 —Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 10/6154 —Berichterstatter:Abgeordnete Huonker Dr. von Wartenberg
c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Unternehmensbeteiligungsgesellschaften
— Drucksache 10/4551 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 10/6193 —Berichterstatter:Abgeordnete Huonker Uldallbb) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 10/6244 —Berichterstatter:Abgeordnete Roth HoppeWieczorek
Suhr
Zunächst stimmen wir ab über Punkt 12 a, Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/4296. Ich rufe die Art. 1 bis 5 sowie Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Gegenstimmen angenommen.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über Punkt 12b, Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 10/4671. Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.
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Vizepräsident Frau RengerWir treten in diedritte Beratungund Schlußabstimmung ein. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über Punkt 12 c, Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/4551. Ich rufe die §§ 1 bis 33 sowie Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Gegenstimmen angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Gegen einige Stimmen ist der Gesetzentwurf angenommen.Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Fahrpersonalgesetzes— Drucksache 10/5975 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 10/6178 —Berichterstatter: Abgeordneter Curdt
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 10/6227 vor. Da eine Debatte nicht vorgesehen ist, sondern die Reden zu Protokoll gegeben werden, kommen wir gleich zur Einzelberatung und Abstimmung.Ich rufe die Art. 1 und 2 in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das ist angenommen.Ich rufe Art. 3 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/6227 ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vor. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist mit Mehrheit angenommen.Wer Art. 3 in der Ausschußfassung mit der soeben beschlossenen Änderung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.Es bleibt noch über Einleitung und Überschrift abzustimmen. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.Damit ist die zweite Beratung beendet. Wir können unmittelbar in die dritte Beratung eintreten, obwohl in der zweiten Beratung ein Änderungsantrag angenommen worden ist, wenn zwei Drittel der Anwesenden dafür sind. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann sind es in jedem Fall zwei Drittel.
Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Gegen die Stimmen der SPD und der GRÜNEN mit Mehrheit angenommen.Ich rufe Punkt 14 sowie Zusatzpunkt 7 der Tagesordnung auf:14. a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Berufsbildungsförderungsgesetzes— Drucksache 10/5449 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft
— Drucksache 10/6205 —Berichterstatter:Abgeordnete NelleWeisskirchen
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Kastning, Büchner , Frau Fuchs (Köln), Ibrügger, Kuhlwein, Dr. Mitzscherling, Frau Odendahl, Dr. Penner, Vogelsang, Weisskirchen (Wies-loch), Dr. Vogel und der Fraktion der SPDBerufliche Weiterbildung— Drucksachen 10/5545, 10/6085 —c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Weisskirchen , Kuhlwein, Büchner (Speyer), Kastning, Frau Odendahl, Frau Schmidt (Nürnberg), Frau Steinhauer, Vogelsang, Toetemeyer, Hiller (Lübeck), Dr. Jens, Dr. Penner, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDLage und Entwicklung des berufsbildenden Schulwesens— Drucksachen 10/4657, 10/5652 — Zusatzpunkt 7:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPBerufliche Bildung— Drucksache 10/6239 —Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte 75 Minuten vorgesehen. Wir können
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Vizepräsident Frau Rengeres auch kürzer machen. Wird vielleicht beantragt, weniger Zeit vorzusehen?
Wie ist es? Bleibt es bei 75 Minuten?
Kein Widerspruch? — Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rossmanith.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die zum 30. September dieses Jahres vorgelegte Lehrstellenbilanz ist eine Bilanz der Zuversicht und des Erfolges; eines berufsbildungspolitischen Erfolges, wie ihn seit Anfang der 70er Jahre keine Bundesregierung mehr vorzuweisen hatte.
Im Vergleich zum Vorjahr wurden über 30 000 Ausbildungsplätze zusätzlich zur Verfügung gestellt, während die Zahl der Bewerber erstmals, und zwar nach einer langen Zeit des Anstiegs, um 28 000 zurückgegangen ist.
Damit haben in diesem Jahr bereits Ende September 93,5 % aller Ausbildungsplatzsuchenden eine Lehrstelle erhalten. Bis zum Jahresende werden sogar 96 % aller Jugendlichen, die sich um einen Ausbildungsplatz bemüht haben, eine Lehrstelle haben. Genau das ist es ja, was wir in unserem Antrag mit zum Ausdruck bringen. Sie von der Opposition, insbesondere von der SPD, täten gut daran, unserem Antrag zuzustimmen.In konkreten Zahlen bedeutet das, daß auch heuer wieder 700 000 Jugendliche eine Lehrstelle gefunden haben. Damit erhöht sich die Gesamtzahl der Ausbildungsplätze auf 1,9 Millionen Lehrstellen gegenüber einer Lehrstellengesamtzahl von 1,3 Millionen im Jahr 1973. Ich glaube, dieser Lehrstellenzuwachs um nahezu 50 % in den letzten zehn Jahren ist ein deutlicher Beweis für die Leistungsfähigkeit unseres beruflichen Bildungswesens. Wir haben deshalb alle Veranlassung, beiden Partnern dieses so überaus erfolgreichen dualen Ausbildungssystems unseren Dank auszusprechen: den Ausbildungsbetrieben auf der einen und den Berufsschulen auf der anderen Seite.
Aber auch die Bundesregierung darf sich diese positive Bilanz zugute halten; denn sie hat ganz bewußt auf das Engagement, auf das Verantwortungsbewußtsein der Wirtschaft in der Berufsausbildung gesetzt. Sie hat ja gerade die Ausbildungsbereitschaft der kleineren und mittleren Betriebe in diesen schwierigen Jahren unterstützt und stimuliert, wo sie nur konnte. Im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion danke ich deshalb noch einmal der ausbildenden Wirtschaft in Handel, Handwerk und Industrie, in den freien Berufen und in der Landwirtschaft nachdrücklich für dieses große Engagement.Ich möchte aber auch betonen, daß wir mit allem Stolz zugleich die von der Bundesregierung erfolgreich betriebene Wirtschafts- und Finanzpolitik anerkennen, die ja wesentlich dazu beigetragen hat, die Lage der jungen Menschen bei der Suche nach Ausbildungs- und Arbeitsplätzen deutlich zu verbessern.Leider haben Sie von der SPD und auch die GRÜNEN wie immer nur sehr negative Kommentare und Schlagzeilen zu dieser Bilanz abzugeben. Sie beweisen dies insbesondere in Ihrem Antrag. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich glaube, wenn Sie Ihren Antrag einmal ehrlich betrachten, müssen Sie Ihren eigenen Antrag ablehnen.
Was glauben Sie denn, welchen grotesken Eindruck Ihre notorischen berufsbildungspolitischen Katastrophenmeldungen bei uns im Freistaat Bayern oder in Baden-Württemberg vermitteln, wo es den Ausbildungsbetrieben — vor allem im technisch-gewerblichen Bereich — schon seit Jahren nicht mehr gelingt, ihre Lehrstellen zu besetzen? Wollen Sie denn allen Ernstes die Handwerksmeister beispielsweise bei mir im Allgäu, die sich von Jahr zu Jahr schwerer tun, eine genügende Zahl geeigneter Lehrlinge zu finden, dafür jetzt auch noch mit einer finanziellen Zwangsumlage bestrafen?Meine Damen und Herren von der SPD, ich meine schon, daß Sie Ihre letzte geradezu demütigende Wahlniederlage im Freistaat Bayern endlich einmal zum Anlaß nehmen sollten, um über den rapiden Realitätsverlust Ihrer Politik selbstkritisch nachzudenken; denn Ihre völlig absurden Parolen von der angeblichen neuen Armut gehen an der politischen Alltagswirklichkeit unserer Bürger genauso vorbei wie Ihre auf Angst und Panikmache angelegten energiepolitischen Horrorszenarien oder Ihre berufsbildungspolitischen Katastrophenmeldungen.Was in der Berufsausbildung heute noch aufzuarbeiten bleibt, das sind im wesentlichen Regional-und Branchenprobleme. Dazu läßt sich verkürzt feststellen: Hätten Sie in den SPD-regierten Bundesländern Hamburg, Bremen und vor allem in Nordrhein-Westfalen in den letzten zwei Jahrzehnten eine bessere Wirtschafts- und Finanzpolitik betrieben, dann würde sich die aktuelle Lehrstellenproblematik heute auf einige wenige, besonders von Krisen geschüttelte Küstenregionen beschränken. Gerade am Beispiel des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen zeigt sich doch wieder einmal ganz deutlich, daß eine schlechte Wirtschafts- und Finanzpolitik am Ende vor allem von den Arbeitslosen und den immer wieder abgewiesenen Lehrstellenbewerbern bezahlt werden muß. Der Kanzlerkandidat Rau wäre sehr gut beraten, wenn er mit seiner Politik des Umsteuerns, wie er es nennt, zunächst in seinem eigenen Bundesland Nordrhein-Westfalen anfinge.
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RossmanithLassen Sie mich deshalb zum Schluß noch ein Wort zu den Hauptproblemgruppen sagen, die wir heute in der Berufsausbildung haben, nämlich den jungen Mädchen und Frauen. Wir alle wissen, daß hier ein Bewerberüberhang vor allem in den Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufen besteht. Wir wissen ebenso, daß dem ein Überangebot an Ausbildungsplätzen in den gewerblich-technischen Berufen, d. h. vor allem in den Metallberufen, den Bau- und Baunebenberufen sowie in den handwerklichen Ernährungsberufen, gegenübersteht. Wir werden deshalb in Zukunft vor allem bei den jungen Frauen und ihren Eltern um Verständnis und Interesse für diese gewerblich-technischen Ausbildungsberufe werben müssen.Aber wir werden als Politiker auch das nötige Verständnis dafür aufbringen müssen, wenn diese Bemühungen nur in beschränktem Maße zum Erfolg führen; denn alle noch so berechtigten Emanzipationsbestrebungen unserer Tage werden an ihre natürlichen Grenzen stoßen, wo die unterschiedliche — ich bin so altmodisch zu sagen: geschlechtsspezifische — Interessenlage dies gebietet. Alle noch so überzeugenden Versuche, technisch-gewerbliche Ausbildungsberufe für junge Mädchen attraktiv zu machen, werden meines Erachtens nichts daran ändern, daß das Hauptinteresse junger Mädchen auch künftig den kaufmännischen Berufen sowie den Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufen gelten wird.
Wir sollten deshalb unsere berufsbildungspolitischen Anstrengungen in Zukunft vor allem auch darauf richten, die Aus- und Weiterbildungsqualifikationen in diesen häufig besonders dynamischen Bereichen der Wirtschaft und Verwaltung den spezifischen Interessen der Mädchen und Frauen möglichst umgehend anzupassen.Denn dann wird — und ich betone das besonders mit dem Hinweis auf die zukünftigen Möglichkeiten der dezentralisierten Heimarbeit — für unsere Frauen und Mütter technischer Fortschritt auch schnell zu einem humanen — menschlichen — Fortschritt.Wer allerdings — wie insbesondere die Gewerkschaften — allein aus ideologischen Gründen mit aller Macht darauf drängt, die zweijährigen Ausbildungsberufe im Einzelhandel ersatzlos zu streichen, der leistet gerade den bei der Lehrstellensuche besonders benachteiligten jungen Mädchen einen Bärendienst. Nach der Statistik des Berufsbildungsberichtes 1986 wurden im Jahre 1985 allein 44 676 Ausbildungsverträge zum Verkäufer bzw. zur Verkäuferin, aber nur 10 348 zum Einzelhandelskaufmann bzw. zur Einzelhandelskauffrau abgeschlossen.Die Forderung nach ersatzloser Streichung des Verkäuferberufes hätte deshalb zur Folge, daß Zehntausende von Jugendlichen, die bisher für eine praxisbezogene Verkäuferausbildung sehr wohl begabt sind und denen diese Ausbildung auch Freude bereitet, in Zukunft vor den überwiegend theoriebezogenen Anforderungen einer Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann kapitulieren müßten. Angesichts der großen Zahl der davon Betroffenen stellt sich dann allerdings die Frage, welche Berufsausbildung diesen Jugendlichen in Zukunft zuteil werden soll.Ich möchte deshalb ausdrücklich darauf hinweisen, daß ich mich mit einem solchen elitär verordneten berufsbildungspolitischen Kahlschlag nicht einverstanden erklären werde.
Mir fehlt aber auch sonst jedes Verständnis dafür, wenn sich dieselben Gewerkschaften, die ja Jahr für Jahr das Klagelied einer angeblich hunderttausendfachen Lehrstellenkatastrophe anstimmen, rigoros für die Eliminierung eines Ausbildungsberufes einsetzen, der heute von Zehntausenden — vor allem jungen — Mädchen mit viel Freude, Geschick und Charme ausgeübt wird. Auch in dieser Hinsicht wäre ich deshalb für etwas mehr berufsbildungspolitischen Realitätssinn dankbar. Denn auch in Zukunft geht es in der Berufsbildungspolitik nicht um die Erfüllung weltfremder Ideologien, sondern um eine qualifizierte und praxisgerechte Ausbildung für unsere Jugend.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Kuhlwein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute drei verschiedene parlamentarische Vorgänge zu beraten, die nur scheinbar wenig miteinander zu tun haben. Es geht um unsere Großen Anfragen zur Lage und Entwicklung der Berufsschulen bzw. der beruflichen Weiterbildung, und es geht um die Aufgaben des Bundesinstituts für Berufsbildung nach dem Berufsbildungsförderungsgesetz. Allen drei Vorgängen ist gemeinsam, daß wir Antworten der Bildungspolitik auf neue technische und soziale Herausforderungen suchen. Was die Bundesregierung dazu vorgelegt hat, ist jedoch in hohem Maße unbefriedigend.
Ich will heute, drei Wochen nach dem 30. September, nicht ausführlicher darauf eingehen, daß der Bundeskanzler auch 1986 gegenüber fast 80 000 unvermittelten Jugendlichen erneut sein Lehrstellen-versprechen gebrochen hat.
Ich finde es schon stark, Herr Kollege Rossmanith, daß Sie das immer wieder verniedlichen wollen. Es gibt für die Koalition, was die Zahlen angeht, überhaupt keinen Grund zum Jubeln. Aber ich wollte eigentlich heute das Ritual unserer Debatten der letzten Jahre durchbrechen und mich auch einmal
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Kuhlweinmit der Qualität der beruflichen Bildung beschäftigen.Wir hatten von der Bundesregierung Antworten auf die Frage erhofft, wie die Politik in den nächsten Jahren das Berufsbildungssystem gestalten will, um den jungen Menschen den Einstieg in eine ihrer Qualifikation entsprechende Arbeit und den Erwachsenen gleiche Chancen zur Erhaltung und Weiterentwicklung ihrer Qualifikation und zur politischen Mitwirkung zu sichern.Wenn man die vielen Seiten der Antworten auf unsere großen Anfragen auf den gemeinsamen Kern reduziert, dann ergibt sich:Ausbildung und Weiterbildung sollen sich auf die Belange der Wirtschaft hin orientieren. Nun kann und darf es doch bei einer Qualifizierungsoffensive, wie sie die Bundesregierung vor sich herträgt, nicht nur darum gehen, Menschen für den Wettbewerb mit Japan oder den USA fit zu machen,
sondern es muß doch in erster Linie darum gehen, Menschen die Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die sie brauchen, um in einer immer komplizierter werdenden Welt selbstbestimmt leben zu können.
Dazu gehören auch Kenntnisse und Fertigkeiten in den neuen Technologien. Dazu gehören auch Fähigkeiten wie Verantwortungsbewußtsein, Kreativität, Fähigkeit zu Initiativen und zur Zusammenarbeit, Umsicht und Mitdenken. Dazu gehört, meine Damen und Herren, für alle Arbeitnehmer aber auch die Fähigkeit, die neuen Techniken selbst zu beherrschen und zu gestalten und damit über die Arbeits- und Lebensbedingungen mitbestimmen zu können.
Meine Damen und Herren von der Koalition, wir halten Ihren Ansatz für falsch, alles dem sogenannten freien Spiel der Kräfte zu überlassen, weil dies letztlich den Verzicht auf politische Gestaltung bedeutet. Wer Erstausbildung und Weiterbildung fast ausschließlich den Kräften des sogenannten Marktes überläßt, macht Menschen zum Spielball meist kurzfristiger ökonomischer Interessen. Bei diesem Politikverzicht ist es nur logisch, daß die Bildungspolitik unter dieser Regierung immer mehr an Gewicht verloren hat. Und weil Sie den Bildungsbereich gar nicht gestalten wollen, haben Sie dafür naturgemäß auch kein Konzept.Sie scheuen, Frau Wilms, die öffentliche Verantwortung für die berufliche Erstausbildung, obwohl Sie inzwischen wissen müßten, daß jährlich Zehntausende von Ausbildungsverhältnissen über den Markt direkt in die Arbeitslosigkeit führen.
Sie können sich nicht darauf zurückziehen, die jungen Leute seien selbst schuld, weil sie unbedingt Kraftfahrzeugmechaniker oder Friseurin werden wollten.Sie scheuen die öffentliche Verantwortung für die Entwicklung eines flächendeckenden Weiterbildungssystems, obwohl Sie wissen, daß es in der beruflichen Weiterbildung keine Chancengleichheit gibt, daß 80% aller Betriebe, vor allem die kleinen und mittleren, überhaupt keine Weiterbildung betreiben, daß es ein starkes regionales Gefälle der Angebote gibt, daß auf dem Weiterbildungsmarkt noch immer viele schwarze Schafe grasen, daß letztlich für den einzelnen Arbeitnehmer und für die Berater dieser Markt so undurchsichtig ist wie das Rheinwasser nach der Schneeschmelze.
— Sie können auch die Donau nehmen.
Es paßt doch nicht zusammen, daß Sie vom einzelnen Arbeitnehmer mehr fachliche und räumliche Mobilität fordern, daß Sie ihm aber ein transparentes und geordnetes Weiterbildungssystem bewußt vorenthalten.Sie scheuen schließlich die öffentliche Verantwortung, wenn es um die Gleichstellung von Frau und Mann in der Berufsausbildung geht. Sie haben das Problem zwar erkannt, daß junge Frauen noch immer die schlechteren Ausbildungen für wenig zukunftssichere Berufe absolvieren und daß sie zwei Drittel der unvermittelten Bewerber stellen, aber Sie überlassen auch hier dem Markt die Reparatur dieses unhaltbaren Zustands.
Sie haben nicht den ordnungspolitischen Mut, auch einmal am dualen System vorbei für die Mädchen eine zukunftssichere Ausbildung zu organisieren, für die Mädchen, die auch in diesem Jahr wieder leer ausgegangen sind. Wir werden Sie, Frau Wilms — und teilen Sie das auch Ihrer Kollegin Frau Süssmuth mit —, immer wieder löchern. Wir werden Ihre schönen Sonntagsreden hier immer wieder parlamentarisch einklagen.
Meine Damen und Herren, die SPD wird nach dem 25. Januar 1987 eine neue Phase der Bildungsreform einleiten. Wir werden die Chancengleichheit wiederherstellen, die Ausbildung für alle sichern, die Bildungswege wieder öffnen und die Breitenförderung wieder an die Stelle Ihrer Elite-Experimente treten lassen.Wir werden dafür sorgen, daß jede junge Frau und jeder junge Mann eine berufliche Chance erhält. Wir werden die öffentliche Verantwortung wahrnehmen und Ausbildungs- und Arbeitsplätze für die jungen Menschen schaffen, die der „Markt" vergessen hat. Wir werden diese Ausbildung, Herr Kollege Rossmanith, aus einer Ausbildungsplatzabgabe bezahlen, die von den Betrieben finanziert werden muß, die sich um ihre Pflichten gedrückt haben.
Wir werden schließlich schrittweise ein umfassendes Weiterbildungssystem aufbauen. Die Weiterbildung wird — ihrer Bedeutung entsprechend — ei-
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Kuhlweinnen festen und gleichwertigen Platz im Bildungssystem bekommen.Meine Damen und Herren, die Wähler werden am 25. Januar auch darüber zu entscheiden haben,
ob sie durch mehr und bessere Bildung ihre Zukunft selbst gestalten können oder ob sie zum Opfer des technischen und sozialen Wandels werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kommen wir nach dieser utopischen Vorschau auf den Boden der Tatsachen zurück.
Die mir zur Verfügung stehende Zeit erlaubt mir nun nicht, so wie das bei den größeren Fraktionen der Fall ist, alle drei Themen mit der gebotenen Gründlichkeit zu besprechen.
Aber, lieber Herr Kuhlwein, ich glaube, es ist schon richtig, daß im Vordergrund des berufbildungspolitischen Interesses auch heute wieder die Sorge um ausreichende Ausbildungsplätze steht. Die unterschiedlichen Vorschläge, dieses Problem zu lösen, sind hier nun so oft diskutiert worden, daß ich meine, wir sollten uns diesem theoretischen Ritual heute nicht hingeben.Wir stellen zum aktuellen Stand fest: Einerseits hat sich die Situation in diesem Jahr erfreulicherweise weiter entspannt, andererseits macht die Zahl der noch unversorgten Bewerber weitere Anstrengungen — da sind wir uns j a alle einig — über den Stichtag der Berufsbildungsstatistik hinaus notwendig. Dazu gehört neben den Bemühungen der Ausbildungsbetriebe die Fortführung der Länderprogramme, das Benachteiligtenprogramm.Insbesondere für Mädchen, deren Anteil an den unversorgten Bewerbern zwei Drittel ausmacht, müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft und zusätzliche Maßnahmen geprüft werden. Dazu gehört allerdings nicht zuletzt auch — und da widerspreche ich Ihnen etwas — eine Aktion zur Anregung und Aufklärung. Denn die regionale und sektorale Verteilung des Angebots und der Nachfrage spielt auch in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, wie ja überhaupt die hohe Zahl unbesetzter Ausbildungsplätze die Förderung einer eben nicht nur räumlichen Flexibilität notwendig macht.Meine Damen und Herren, die Großen Anfragen und ihre Beantwortung durch die Bundesregierung stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den quantitativ-qualitativen Problemen der beruflichen Erstausbildung — auch wenn es um Berufsschule und Weiterbildung geht — und mit den nicht erst jetzt erkennbaren Notwendigkeiten, die in der Zukunft auf uns zukommen.Für Vergangenheit und Gegenwart zeigt j a allein schon ein Blick in den Tabellenteil der Antwort zur Berufsschul-Anfrage, welche Leistungen — und da wiederhole ich die Danksagung des Kollegen Rossmanith — von den Lehrern der beruflichen Schulen zur Bewältigung der Probleme erbracht worden sind. Hinzu kamen in den letzten Jahren, wie es in dieser Antwort heißt, die vergrößerte Menge und Komplexität der Unterrichtsinhalte und die zunehmende Verschiedenartigkeit der schulischen Vorbildung — also mehr Abiturienten, mehr Realschüler als früher gewohnt —, die in didaktischer und unterichtsmethodischer Hinsicht große Anforderungen stellte und auch weiterhin stellen wird.Wenn an dieser Stelle oft darauf verwiesen wird — was ja richtig ist —, daß hinter jeder Zahl und hinter jedem zusammenfassenden Begriff ein junger Mensch mit seinen berechtigten Erwartungen, Sorgen, Wünschen und Hoffnungen steht, dann gilt das natürlich auch für die Menschen, die sich an verantwortlicher Stelle in Ausbildungsbetrieben und an beruflichen Schulen eingesetzt haben. Ihnen soll als einzelnen Dank gesagt werden, nicht nur einer Gruppe an sich.Meine Damen und Herren, ich komme zu dem Problem der Weiterbildung, die hier auch von Herrn Kuhlwein angesprochen worden ist. Dieser Bereich gewinnt eine immer stärkere Bedeutung. Auch vor dem Hintergrund der erwähnten, noch bestehenden quantitativen Probleme hinsichtlich der beruflichen Erstausbildung gilt ja besonders: Eine Ausbildung ist immer noch besser als gar keine. Aber wir wissen, daß die zweite Schwelle nach der Ausbildung und der Wandel in der Arbeitswelt weitere Orientierung und Bildung über den erlernten Beruf hinaus wie auch Weiterbildung in den Berufen selbst in Zukunft immer dringlicher machen, wenn der einzelne seine Chancen wahrnehmen will und die Wirtschaft auf qualifizierte Mitarbeiter rechnen können soll. Denn für die Zukunft bedarf es qualifizierter Arbeitsplätze, es bedarf qualifizierter Mitarbeiter an diesen Arbeitsplätzen. Für den einzelnen bedeutet das lebenslange Lernen die Möglichkeit, seine eigenen persönlichen Lebenschancen zu nutzen. Das gilt für fachspezifische wie auch für außerfachliche Qualifikationen. Deshalb gehören, wie es in der Antwort der Bundesregierung richtig heißt, zu den Fähigkeiten, die berufliche Weiterbildung vermitteln kann und soll, Verantwortungsbewußtsein, Ideenreichtum, Fähigkeiten zur Initiative und zur Zusammenarbeit, Umsicht und Mitdenken, Fähigkeiten also, deren j a nicht nur die Wirtschaft bedarf, sondern deren der einzelne und unsere Gesellschaft insgesamt bedürfen.Meine Damen und Herren, wir sehen diesen vierten Sektor des Bildungswesens als einen von der Pluralität der Träger und Initiativen geprägten Bereich, für den nichts so schädlich wäre, Herr Kuhlwein, wie staatliche Gängelung und übermäßige Reglementierung. Denn betriebliche oder von den Verbänden oder Gewerkschaften getragene Weiterbildung, das berufliche Schulwesen mit seiner regionalen Bedeutung, Volkshochschulen, Schulen und Einrichtungen in freier Trägerschaft antworten eben auf eine Vielzahl ganz verschiedener Bedürf-
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Neuhausennisse. So können z. B. die Volkshochschulen gerade bei der Qualifizierung, Wiedereingliederung und Weiterbildung von Mädchen und jungen Frauen eine wichtige Rolle spielen, weil nach aller Erfahrung die geringere Schwellenangst zu höherer Motivation und kontinuierlicher Lernbereitschaft beiträgt. So sollten die Pionierleistungen von beruflichen Schulen in freier Trägerschaft anerkannt und gefördert werden, und ihre Angebote sollten bei der Planung von Weiterbildungsinitiativen der Verbände, Kammern, Gewerkschaften oder auch bei staatlichen Maßnahmen eine kooperative Berücksichtigung finden. Das ist natürlich pauschal gesagt; in den Details steckt mancher Teufel.Aber Pluralität darf eben nicht als Wildwuchs und gestalterische Freiheit nicht als Willkür mißverstanden und diskriminiert werden. Es muß natürlich, werden Qualifikationen erworben, Rahmenregelungen geben. Es darf auch kein neues Bildungsgefälle entstehen, sondern es müssen im Gegenteil Interesse und Motivation auf allen Qualifikationsstufen geweckt und gefördert werden. Eine Monopolstellung des Staates und eine Verschulung dieses Bildungsbereiches würden aber dieses Ziel gefährden, weil — davon bin ich überzeugt — das „Bürgerrecht auf Bildung", bezogen auf die Weiterbildung von Erwachsenen, in besonderem Maße die Freiheit der Wahl einschließt, was die Freiheit der Initiative und des Angebots voraussetzt.Ich glaube, mit diesen Andeutungen ist schon gezeigt, daß wir, so eindrucksvoll die Antwort der Bundesregierung bisherige Leistungen und jetzt neu eingeleitete Maßnahmen der „Qualifizierungsoffensive" darstellt, erst am Anfang einer Entwicklung stehen, die höchste politische Aufmerksamkeit und Unterstützung verdient.Zum Schluß und der guten Ordnung halber: Wir stimmen der Verabschiedung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Berufsbildungsförderungsgesetzes zu, weil wir die Unterstützung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten durch das Bundesinstitut und die Förderung von Modellversuchen im außerschulischen Bereich der Berufsbildung unterstützen möchten. Alle diese Maßnahmen wie auch die vorher angesprochenen müssen allerdings von Menschen vor Ort getroffen werden, denn allzu-leicht könnte auf unsere Bemühungen sonst der Satz von Schopenhauer angewendet werden, der einmal sagte: Ich höre wohl das Klappern der Mühle, sehe aber leider kein Mehl.
Das Wort hat nun die Abgeordnete Frau Zeitler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute zwei Antworten auf Große Anfragen der Sozialdemokraten vorliegen, die auf den ersten Blick recht trocken erscheinen, obwohl z. B. das Thema berufsbildende Schulen fast die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler in unserem Land betrifft. Was das Thema so trokken macht, ist die Vorstellung vom Alltag an den Berufsschulen. Da hängen unmotivierte Schüler herum, die sich nicht für den Unterrichtsstoff interessieren, weil er für sie in keinem Zusammenhang mit ihrer Arbeit steht. Sie haben auch keinen Kontakt zueinander, wenn sie sich nur einmal in der Woche sehen. Außerdem fallen viele Unterrichtsstunden aus. Langweilig es es auch, weil die meisten Lehrer ihren Stoff durchziehen und von neuerer Didaktik kaum etwas gehört haben.
In den Klassen der berufsbildenden Schulen, die der Kategorie „Warteschleifen" angehören, findet man logischerweise auch nicht mehr Engagement. Wenn ich die Situation betrachte, wundere ich mich nur, welche Geduld die Jugendlichen trotz allem aufbringen, um in diesem defekten System doch noch ein bißchen Bildung abzukriegen. Längst überfällig wären eine Bildungsplanung und Bildungsreform, die nicht nur die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes, sondern die Lebensbedürfnisse der Jugendlichen berücksichtigen.Ein wichtiges Ziel dieser Bildungsreform müßte die Aufhebung der Trennung von beruflicher und allgemeiner Bildung sein. Die Bundesregierung behauptet, dafür sei die Zeit zu knapp. Die Zeit von wem? — Eine halbe Million Jugendliche sind arbeitslos gemeldet. Wahrscheinlich sind es in Wirklichkeit doppelt so viele.
Nun aber zum Thema berufliche Weiterbildung. Die Antwort der Bundesregierung zeugt von Ignoranz und Betonköpfigkeit, wenn sie sich angesichts 500 000 arbeitslos gemeldeter Jugendlicher, einer Million arbeitslos gemeldeter Frauen und 100 000 fehlender Ausbildungsplätze mit prozentualen Erfolgen im Bildungsbereich brüstet. Diese Taschenspielertricks können die Wirklichkeit nicht überdecken,
eine Wirklichkeit, in der die gravierenden Mängel und Vernachlässigungen in der beruflichen Erstausbildung der letzten Jahre zum Handeln zwingen und besonders an die Weiterbildung große Probleme und Aufgaben herantragen. Insofern ist der Vorstoß der SPD zu begrüßen, die mit ihrer Großen Anfrage zur Klärung der Situation der beruflichen Weiterbildung beiträgt.Meines Erachtens läßt sich über die Ausgestaltung von Weiterbildung nur sprechen, wenn klar ist, welches Interesse mit Weiterbildung verfolgt wird. Die Antwort der Regierung hierzu liegt vor. Es geht ihr darum — ich zitiere —, günstige Rahmenbedingungen sicherzustellen für eine dynamische Wirtschaft als Voraussetzung für notwendige wirtschaftlich-strukturelle Anpassungsprozesse, für die Erschließung neuer Aufgaben und Produktionsfelder und damit für ein stetes wirtschaftliches Wachstum.
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Frau ZeitlerWas verbirgt sich dahinter? Hinter „notwendigen strukturellen Anpassungsprozessen" verbergen sich Rationalisierungsmaßnahmen und, damit verbunden, hohe Arbeitslosigkeit sowie die Notwendigkeit, die verbleibenden Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen an die neuen Techniken anzupassen. Das geschieht durch betriebsorientierte kurzfristige Weiterbildungsmaßnahmen, die keiner Qualitätskontrolle unterliegen und sich vorwiegend an männliche Führungskräfte richten. Das ist eindeutig unternehmerorientiert. Das Interesse von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen an betrieblicher Unabhängigkeit und persönlicher Entwicklung bleibt unberücksichtigt. Kleine und mittlere Unternehmen können solche Weiterbildungsmaßnahmen auch nicht anbieten, weshalb diese Unternehmen und die dort beschäftigten Arbeitnehmer — darunter wieder viele Frauen — außen vor bleiben.Nachdem die Interessen der Bundesregierung hinter der blumigen Ausdrucksweise recht klar sind, frage ich mich, wohin die SPD wohl steuert. Obwohl sie hervorhebt, daß die hohe Arbeitslosigkeit wirtschaftlich-strukturelle Gründe hat, meint sie dann doch wieder, daß durch bessere Qualifizierung mehr Arbeitslose vermittelt werden könnten. Das scheinen mir die negativen Folgen einer Trennung von Bildungs- und Wirtschaftspolitikern zu sein.Es ist doch ganz simpel: Durch Qualifizierung wurde noch kein Arbeitsplatz geschaffen, außer im pädagogischen Bereich; aber den meinen Sie ja nicht, denn Sie wollen ja die Arbeitnehmer an den technologischen Wandel anpassen.
Da sind Sie sich nun mit der Regierung in der Stoßrichtung einig. —
— Aber geschrieben haben Sie etwas anderes. Der große Unterschied zur Regierung besteht doch offensichtlich darin, daß Sie gern etwas breiter auf die Rationalisierung und Technologisierung hin weiterbilden möchten. Die arbeitslosen Jugendlichen, Frauen und Männer sollen informiert sein, was ohne sie im Betrieb abgeht. Die Alternative dazu muß sein: Weiterbildung aus der Sicht und nach den Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, der arbeitslosen Frauen, Männer und Jugendlichen zu gestalten. Das heißt, Bildungseinrichtungen müssen offen sein für alle Altersstufen, damit jeder Mensch entscheiden kann, wann er theoretische, praktische, künstlerische oder sonstige Fähigkeiten entwickeln will.Unsere Vorschläge zu einem Mindesteinkommen bieten z. B. die finanzielle Voraussetzung zu solch einem flexiblen Umgang mit Lohnarbeit und Eigenarbeit. Wir haben in unserem Entwurf einer Arbeitszeitordnung außerdem Vorschläge gemacht, wie Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen durch bezahlte und unbezahlte Freistellungsansprüche in dieses System von lebenslangem Lernen mit einbezogen werden können. Strukturell sind dafür integrierte Bildungseinrichtungen nötig, die sich flexibel auf die Bedürfnisse ihrer Teilnehmer und Teilnehmerinnen einstellen. Auch die starren Schranken zwischen Allgemeinbildung, fachlicher Bildung und Erwachsenenbildung in ihren vielfältigen Formen müssen abgebaut werden. Das kann natürlich nur geschehen, wenn Weiterbildung als öffentliche Aufgabe verstanden wird und wenn trotz unterschiedlicher Träger die Finanzierung gesetzlich geregelt wird.Noch eine kurze Bemerkung zur Frauenförderung. Ich finde alle Qualifizierungsmaßnahmen, Modellversuche etc. unterstützenswert; aber insgesamt hat Frauenförderung bei der Regierung und bei den meisten Sozialdemokraten den Stellenwert einer Hobbygärtnerei.
Wenn Sie wirklich die Situation der jungen Frauen auf dem Ausbildungsmarkt, die Situation erwerbsloser Frauen auf dem Arbeitsmarkt verbessern wollen, müssen Sie mit uns die Quotierung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen unterstüzen; sonst werden die Frauen immer hintanstehen.
Wenn Frauen wissen, daß sie über Quotierungsregelungen reale Chancen haben, in den Arbeitsprozeß eingegliedert zu werden, dann zeigen sie auch ein anderes, nämlich ein breiter gestreutes Ausbildungsverhalten. Wenn Sie wirklich die Situation von Frauen verbessern wollen, die wegen Kindererziehung ihre Erwerbsarbeit aufgegeben haben, dann verabschieden Sie meine Freistellungsregelung für Erziehungszeiten mit Arbeitsplatzgarantie. Da reicht ein Jahr nicht aus, weil Mütter ihre einjährigen Babys nicht zu Hause sitzen lassen können. Ich sage Ihnen eines: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schemken.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es bleibt dabei, und es wird auch durch das negativ gewollte Wegreden nicht anders: Die Ausbildungsplatzsituation hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert.
Es hat sich gezeigt, daß das Engagement der Wirtschaft, auf das wir gesetzt haben, gezogen hat. Der deutliche Rückgang — Frau Zeitler, vielleicht ist das wichtig zu hören; ich weiß nicht, wie Sie auf die 500 000 kommen und die noch einmal verdoppeln, in grauen Zahlen —
der Zahl der arbeitslosen Jugendlichen mit abgeschlossener Berufsausbildung beweist im übrigen, daß die Chancen auf einen Arbeitsplatz nur durch Qualifizierung zu erhöhen sind. Im übrigen haben wir qualifizierte Arbeitsplätze in so großer Zahl,
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Schemkendaß sie nicht besetzt werden können. Auf Grund solcher Qualifizierung konnten 91 % vermittelt werden, die nicht das Schicksal der zweiten Schwelle zu erfahren brauchten.Die Negativbilanz, die Sie immer wieder aufzäumen, ist nicht mehr angebracht. Wir sind in regionalen Bereichen schon so weit, daß ein Überangebot an Ausbildungsplätzen da ist.
— Sicher nicht in allen Regionen. Uns kümmert auch das Einzelschicksal, uns kümmert auch die Frage der Frauen in der beruflichen Bildung. Nur können Sie das nicht staatlich verordnen. Hier muß ein Stück Mentalitätsproblematik überwunden werden, und das ist unser aller Aufgabe. Weil wir demnächst am Markt ein Überangebot an Ausbildungsplätzen festzustellen haben, darf es uns nicht passieren, daß dann noch Frauen übrigbleiben. Deshalb müssen wir an die Aufgabe herangehen, hier im betrieblichen, aber auch im schulischen Bereich die Voraussetzungen für eine veränderte Bewußtseinsbildung einzuleiten und zu fördern und nicht schwarzzumalen. Wir halten deshalb am dualen Berufsausbildungssystem fest. Wir sind der Meinung, die Berufsschule ist ein förderlicher Teil der Ausbildung.
Sie gestatten eine Zwischenfrage? — Bitte schön, Frau Zeitler.
Herr Schemken, ist Ihnen klar, daß seit vielen Jahren die schulischen Leistungen von Mädchen und jungen Frauen weit über den schulischen Leistungen von jungen Männern liegen, und welchen Schluß ziehen Sie daraus?
Es ist exakt richtig, daß Frauen schneller lernen, daß Mädchen schneller zu Abschlüssen kommen. Es ist aber auch exakt richtig, daß sie noch keinen Eingang zu dem Markt gefunden haben, der sich eröffnet. Ich denke an den technologischen Bereich, an den computergesteuerten Bereich, z. B. der Metalltechnik. Hier könnten viel mehr Frauen auf Zukunftsarbeitsplätze hingeführt werden.
Das Bildungsangebot ist deshalb im dualen System so zu fördern, daß wir der Berufsschule eine wichtige Position einräumen
— ich habe die Frage beantwortet, glaube ich wenigstens — und ihr in ihrer Differenziertheit und auch in der Aufgabenstellung den ihr angemessenen Rang gegeben. Allerdings sind auch die wirtschaftlichen Notwendigkeiten, nämlich der Arbeitsplatz, zu berücksichtigen; denn was nützt es, wenn jemand zwar die Schule absolviert, aber dann keinen Arbeitsplatz hat? Dann kommt das Schicksal der zweiten Schwelle.
Wenn immer wieder unser Bundeskanzler zitiert wird, dann macht mich das irgendwie betroffen, weil das langsam nicht mehr stimmt:
denn er hat mit seinem Wort, das er von Wirtschaft und Handwerk erhalten hat, recht behalten. Wir haben mit 2,8 Millionen Ausbildungsverhältnissen innerhalb von drei Jahren einen einsamen Rekord, wobei sich die Zahlen jährlich sogar gesteigert haben. Die Zahlen per 30. September dieses Jahres zeigen deutlich, daß noch einmal zugelegt wurde. Was kann uns eigentlich mehr erfreuen?
Wollen wir denn jetzt die Schullandschaft verändern, obwohl die Hinführung zum Arbeitsplatz ohne wissenschaftliche und ideologische Belastung schneller erfolgen kann? Das sage ich angesichts der Diskussionen, die vor allen Dingen in Nordrhein-Westfalen geführt werden. Da Sie den Bundeskanzler zitieren, muß ich Ihnen sagen: Das Schlimmste, was einem Jugendlichen passieren kann, ist, daß hier ein Bildungssystem, ein Gesamtschulsystem aufgezwungen werden soll,
das im Grunde genommen die Neigung und Eignung des Jugendlichen nicht berücksichtigt und nicht auf die differenzierten Anforderungen der zukünftigen Ausbildung vorbereitet, sondern im Gegenteil eine Differenzierung unmöglich macht. Die Gesamtschule zementiert, und sie nivelliert.
Es kommt etwas Weiteres hinzu: Wenn Schule im recht verstandenen Sinne ein Stück Nachbarschaft, Hinführung und ein Stück Gemeinschaftsleistung ist, dann sage ich Ihnen hier: Der unselige Schulstreit im Lande Nordrhein-Westfalen führt zur Spaltung, wo Ausgleich zur Vielfalt geboten wäre. Ich will nicht sagen, daß das erst recht nicht zur Versöhnung führt. Das muß ich hier auch einmal deutlich machen. Ich bin fest davon überzeugt, daß nur die Vielfalt des gegliederten Schulwesens Antwort auf die Bedürfnisse des Menschen gibt, aber nicht der Wirtschaft alleine. Daraus folgt, daß der Mensch nach Eignung, Neigung und seiner Würde einen Arbeitsplatz und eine Ausbildung, eine Hinführung zur Erwachsenenwelt erhält. Dies kann nicht durch ideologische Konzepte erreicht werden. Diese ideologischen Konzepte werden immer wieder angeboten, und Sie glauben, mit diesen Konzepten können Sie die Herausforderung der Zukunft bewältigen.
Die Qualifikationsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt und damit auch auf die Berufsausbildung bezogen, müssen sowohl an die betriebliche Produktion als auch an die individuellen Wünsche und Bedingungen geknüpft sein. Wir sehen den Menschen in der Arbeit, in seiner Verwirklichung. Da geht es sowohl um die traditionellen Fertigkei-
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Schemken
ten, als auch um die Hinführung zu Fertigkeiten computerunterstützter Produktionsbereiche. Dies kann man der Jugend ehrlichen Herzens sagen: Alles Verwahren in überzogen ideologischen Schulbereichen führt an der Wirklichkeit vorbei.
Nun zum Berufsbildungsgesetz. Wir möchten die überbetrieblichen Ausbildungsstätten auch zukünftig gestützt wissen. Das ist ein wichtiges Element.
— Ja, Herr Kuhlwein, das ist ein wichtiges Element, da sollten wir uns einig sein.
— Entschuldigung, es ist vielleicht auch eine Frage der Bildung, wenn man hier etwas flott vorträgt: Berufsbildungsförderungsgesetz. Ich bin ja dankbar, wenn Sie mir helfen.
In der Sache selbst sind wir sicherlich einer Meinung, weil es Gemengelagen gibt, wo überbetriebliche Ausbildungen in der Hinführung gerade von der Grundausbildung zur weiteren Stufenausbildung unbedingt erforderlich sind.
Dies ist eine Meinung, die ich hier für die CDU/CSU-Fraktion immer vertreten habe.
Besonders möchten wir aber darauf hinweisen, daß die Novelle die Rechtsgrundlage für die Förderung weiterer Modellversuche in der Wirtschaft durch das Bundesinstitut für Berufsbildung klarer faßt. Wir sind der Meinung, daß Menschen keine Versuchskarnickel sind. Im Gegenteil: Wir möchten eigentlich — Sie möchten mit Ihren schulischen probaten Mitteln, mit denen Sie gescheitert sind, ständig diese Versuche, die zu keinem Erfolg führen, durchführen — in Modellversuchen mit der Wirtschaft dies praxisnah erproben und damit den Menschen eine Möglichkeit der Lösung ihrer konkreten Berufsprobleme schaffen.
Ich möchte auch den Lehrern an berufsbildenden Schulen Dank sagen.
Ich möchte einen weiteren wichtigen Bereich einbeziehen. Vielleicht ist das auch des Zuhörens wert. Neben den Mädchen muß es uns auch um die Jugendlichen unserer ausländischen Mitbürger gehen.
Nur über die berufliche Ausbildung können wir eine große soziale Frage lösen. Die Lösung liegt darin, sich durch Qualifizierung zu bewähren. Wir können die dritte Generation der ausländischen Mitbürger nicht in Hilfsarbeitertätigkeiten verschleißen.
Im Gegenteil: Sie müssen sich qualifizieren. Das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt. Mit dem Selbstverständnis der CDU/CSU-Fraktion, das sich am Menschen orientiert, brauchte ich das eigentlich gar nicht zu sagen, aber ich bin dankbar, daß Sie das mit uns auch so sehen.
Ich möchte abschließend sagen, daß es uns auch wichtig erscheint, daß wir mit unserem Antrag — der mag vielleicht für Sie nur am Rande eine Rolle spielen — erreicht haben, daß immerhin auch das Institut in Berlin durch unseren Vorschlag, daß der Generalsekretär auf Vorschlag der Bundesregierung und sein Stellvertreter auf Vorschlag des zuständigen Bundesministers vom Bundespräsidenten in das Beamtenverhältnis berufen werden, die Berufsausbildung exemplarisch einen bestimmten Rang zuerkannt bekommt. Allzulange — das müssen wir uns gegenseitig zugestehen — haben wir die Aussichten der Jugendlichen alleine in Hochschulbildung und Bildungsgängen im Bereich weiterführender Schulen gesehen. Ich freue mich, daß die Berufsausbildung in den letzten Jahren — seit der Amtszeit dieser Bundesregierung — mit Frau Minister Wilms einen solchen Stellenwert erreicht hat, wenngleich wir nach wie vor um verbesserte Lösungen ringen müssen. Das war doch früher nicht der Fall.
— Herr Kuhlwein, zu Ihrer Zeit wollten Sie die Berufsausbildung doch total verschulen. Wir möchten in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit der Wirtschaft, mit denen, die es wissen müssen, die Zukunftsfragen der Jugend bewältigen. Wir laden Sie mit dazu ein.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Weisskirchen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schemken — wo ist er denn jetzt?; ich sehe ihn gar nicht —, es ist ja gerade Helmut Rohde gewesen, der dafür gesorgt hat, daß die berufliche Bildung den Stellenwert bekam, den sie auch verdiente. Gerade er ist es gewesen, der zusammen mit jemandem, der in dieser Legislaturperiode Ausschußvorsitzender ist, Kurt Vogelsang, dafür gesorgt hat, daß die berufliche Bildung den ihr angemessenen Stellenwert in der Bildungspolitik des Bundes bekommen hat. Wir sprechen unseren Dank dafür aus, daß das geschehen ist.
Vielleicht stimmt mir das ganze Haus zu, wenn ich sage, daß nicht zuletzt auch unser Vorsitzender, der Vorsitzende des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft, im Verlauf der 70er Jahre, aber insbesondere, seitdem er hier im Bundestag ist, nämlich seit 1972, dazu beigetragen hat, daß die berufliche Bildung auch wirklich den Stellenwert in unserer Ge-
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Weisskirchen
sellschaft erhalten hat, den sie verdient. Herzlichen Dank, Kurt Vogelsang!
Wir stimmen der Novellierung des Berufsbildungsförderungsgesetzes zu, weil Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, bereit sind, dieses Modell für die Kooperation von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, von Bund und Ländern im Kern zu erhalten. Es hat eine Weile gedauert, bis Sie das verstanden haben, aber immerhin, Frau Dr. Wilms, wir begrüßen es, daß Sie dies tun.
Wir können der Änderung aber auch deshalb zustimmen, weil die Bundesregierung im Ausschuß erklärt hat, die Arbeit des Bundesinstituts für Berufliche Bildung werde, besonders was die Modellversuche und deren Politik betreffe, uneingeschränkt fortgesetzt. Wir begrüßen das. Aus diesem Grunde können wir dem Gesetz insgesamt zustimmen.
Das Bundesinstitut ist ja tätsächlich auch zu einer international anerkannten vorbildlichen Einrichtung geworden. Es hat Entscheidendes zur Verbesserung der beruflichen Bildung in der Bundesrepublik — bei Konsens der Beteiligten — geleistet. Wir danken allen, die an dieser unverzichtbaren Arbeit mitgewirkt haben. Wir Sozialdemokraten werden darauf achten, daß die Mitarbeiter des Instituts durch das neue Gesetz nicht gegängelt werden, sondern daß sie die Chance haben, auch zu zeigen, was in ihnen steckt. Wir ermutigen die Mitarbeiter, ihren wichtigen Beitrag auch weiterhin zu leisten, damit die Qualität der beruflichen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland weiter verbessert werden kann.
Ich muß aber leider feststellen, daß Sie, Herr Schemken, erneut die große Arie gesungen haben, die auch schon im Text Ihres Entschließungsantrages gesungen wird. Ich will jetzt nicht das gleiche tun, aber lassen Sie mich trotzdem auf eines hinweisen: Sie kommen ja nun schließlich nicht an der Tatsache vorbei, daß es in diesem Jahr erneut — trotz der Anstrengungen des Handwerks und aller anderen Beteiligten, für die wir herzlich danke schön sagen — fast 80 000 junge Menschen gegeben hat, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben. 33 000 von ihnen sind zwar in Maßnahmen abgewandert, aber sie haben ihren Wunsch, eine Ausbildung zu erhalten, nach wie vor aufrechterhalten. Deswegen können wir es nicht verstehen, und wir können es auch nicht akzeptieren, daß Sie an diesen 80 000 Jungen und Mädchen ständig vorbeiargumentieren. Sie sind diejenigen, die trotz der Bemühungen des Handwerks und der Industrie nach wie vor keinen Ausbildungsplatz bekommen haben. Lassen Sie mich deswegen sagen: Der Bundeskanzler hat zu Beginn versprochen, es werde für jeden eine Ausbildungsstelle geben. Für diese 80 000 jungen Leute stehen keine Ausbildungsstellen zur Verfügung.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schemken?
Bitte schön. Vizepräsident Westphal: Bitte schön.
Herr Kollege, gehen Sie mit mir einig, daß diese Zahl, die Sie nannten, die Zahl per 30. September ist und daß es am 31. Dezember, wenn wir wirklich über das abgeschlossene Jahr sprechen können, anders aussehen wird?
Lieber Kollege Schemken, es kommt darauf an, daß zum Stichtag nach dem Berufsbildungsförderungsgesetz 80 000 Jungen und Mädchen keinen Ausbildungsplatz bekommen haben. Das genau ist der entscheidende Punkt. Sie hatten versprochen, Sie würden für jeden einen Ausbildungsplatz schaffen. Das ist nicht gelungen. Und das halten wir fest.
-- Ja, so ist es: Punkt.
Es wird darauf ankommen, daß wir jetzt, nachdem die Arien gesungen sind, auf die wirklichen Probleme der beruflichen Bildung deutliche Antworten zu geben versuchen.Eines der Probleme ist sicherlich, daß der Prozeß der technischen Innovation, der sich beschleunigt hat, zu wesentlichen Teilen an den Berufsschulen vorbeigegangen ist. Jetzt kommt es darauf an, daß wir als Bildungspolitiker in Bund und Ländern dafür sorgen, daß die Berufsschulen in diesen Prozeß der technischen Innovation einbezogen werden. Leider muß man feststellen, daß die Antworten, die Sie in diesem Zusammenhang auf unsere Anfrage gegeben haben, nicht ausreichen.
Die beruflichen Schulen müssen ihren Beitrag schon allein deswegen leisten, weil die Chance der Erneuerung der industriellen und handwerklichen Produktion und der Produktion von Dienstleistungen besteht.Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage belegt, wie dringlich diese erneute gemeinsame Anstrengung von Bund und Ländern für die berufliche Bildung ist. Uns Sozialdemokraten reicht es jedenfalls nicht aus, wenn die Bundesregierung in ihren Antworten auf unsere Fragen auf die Kulturhoheit der Länder allein verweist. Die Spielräume des kooperativen Bildungsföderalismus müssen intensiv genutzt werden. Wer das duale System im Hinblick auf die Anforderungen der Zukunft weiterentwickeln will — und wir wollen das —, muß jetzt dafür sorgen, daß die beruflichen Schulen modernisiert werden. Das schließt ausdrücklich ein, daß die Abtrennung der beruflichen Erstqualifikation von der beruflichen Fort-und Weiterbildung aufgehalten werden muß. Was
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18665
Weisskirchen
wir brauchen, ist eine engere Zusammenarbeit von Schulen, Gewerkschaften und Wirtschaft.Wir fordern die Bundesregierung auf, an die große Anstrengung der späten 70er Jahre anzuknüpfen — Kurt Vogelsang hat persönlich dafür gestritten —, als das 400-Millionen-DM-Programm von Helmut Rohde in Abstimmung mit den Ländern die Ausstattung der beruflichen Schulen deutlich verbessert hat. Es war eine große Leistung, die in den 70er Jahren zugunsten der beruflichen Schulen erbracht worden ist. Sie stellen doch auch selber in Ihrem Bericht fest, daß, seitdem diese Maßnahmen ab 1981 ausgelaufen sind, die baulichen Investitionen in den Berufsschulen um über 37 % zurückgegangen sind.Kehren Sie also zu diesen Anstrengungen zurück, die in den 70er Jahren durch Sozialdemokraten vorangetrieben worden sind. Dann leisten Sie einen großen Beitrag dazu, daß die beruflichen Schulen ihren Teil zur Verbesserung der Berufsbildung insgesamt erbringen können.Herzlichen Dank.
Bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich doch mal fragen, ob die Meldungen korrekt sind. Stimmt diese seltene Massierung sozialdemokratischer Redner, gleich zwei hintereinander? Herr Vogelsang ist der nächste Redner. Kein Widerspruch von irgendeinem Geschäftsführer? — Herr Vogelsang, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei den Auseinandersetzungen über die Berufsbildungspolitik hat es immer den Anschein, als wenn wir in den Grundsätzen erheblich unterschiedlicher Meinung seien, was sich aber einfach nicht feststellen läßt.Wenn ich es richtig sehe, gibt es zu dem dualen System, zumindest zwischen den großen Fraktionen, keine Meinungsverschiedenheiten. Ich räume ein, daß wir vielleicht ein bißchen mehr als in der Vergangenheit darüber nachdenken sollten, ob wir in der Tat ein duales System haben. Denn mir scheint — nicht erst seit heute, sondern schon seit längerer Zeit —, daß die Leistungen in der Berufsschule zwar verbal — auch von allen Rednern heute abend — gewürdigt worden sind, aber daß wir zu einer gesetzlichen Normierung, sie bei Abschlüssen auch zu würdigen, bisher nicht den Mut oder die Mehrheiten gefunden haben. Ich wünsche mir, daß wir in Zukunft die Leistungen, die der junge Mann oder die junge Frau in der Berufsschule erbringt, bei den beruflichen Abschlüssen mehr würdigen würden, als das bisher der Fall ist.
Davon verspreche ich mir eine größere Motivation für die Mädchen und Jungs für den theoretischen Teil der beruflichen Ausbildung.Wir sind uns doch auch einig, daß es falsch ist, zu sagen: Die Wirtschaft erbringt große Ausbildungsleistungen. Wir wissen vielmehr, daß es zwei Teile gibt, nämlich den ausbildenden Teil der Wirtschaft und den nicht ausbildenden Teil der Wirtschaft. Wir zerbrechen uns den Kopf darüber, was wir mit dem Teil tun können, der bisher nicht ausbildet oder auch — das räume ich ein — nicht ausbilden kann. Aber ich meine, er kann doch in einer Mangelsituation, die wir jetzt über vier Jahre hinweg haben, nicht einfach ungeschoren davonkommen.
Ich erinnere mich, daß Professor Karl Carstens in seiner Eigenschaft als Bundespräsident vor einem Gewerkschaftskongreß gesagt hat, ihm — also dem Bundespräsidenten — leuchte nicht ein, wieso wir in der Lage sind, jedem Schüler einen Schulplatz, jedem Studenten einen Studienplatz, wenn auch nicht den Studienplatz seiner Wahl, zur Verfügung zu stellen, und warum wir nicht in der Lage sind, jedem Hauptschüler einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen.
Ich denke, auch darin stimmen wir überein.Nun werfen wir uns Worte wie „Horrorszenarien" usw. vor. Ich will eine Formulierung anwenden, die von Ihnen benutzt worden ist. Ich habe eine Pressemeldung des Kollegen Daweke vor mir liegen. Er spricht von einstimmig angenommenen Anträgen der Fraktion der CDU/CSU im Ausschuß. Er schreibt: Im Wichtigsten bezogen sie sich auf die Schaffung eines besonderen Ausbildungsplatzprogramms für junge Frauen, die, wie die Bilanz vom 30. September dieses Jahres ausgewiesen hat — jetzt kommt die entscheidende Stelle —, noch immer überproportional hohe Schwierigkeiten haben— er spricht also ganz allgemein von hohen Schwierigkeiten. Einigen wir uns auf diese Formulierung und werfen uns doch nicht gegenseitig vor, der eine wäre der Gute, und der andere würde böse Äußerungen von sich geben.
— Vielen Dank. Es freut mich, wenn ich aus Ihrer Fraktion einmal recht bekomme.
— Aber bitte, Herr Kollege Schemken, nicht nach dem Grundsatz: Nur ein toter Sozialdemokrat ist ein guter Sozialdemokrat.
Ich meine, daß wir hier bei einem Thema sind, dem wir wirklich mehr Aufmerksamkeit widmen müssen, nicht bloß Aufmerksamkeit. Auch das ist eine hohle Floskel; das räume ich ein. Denn in der Tat ist es so, daß diejenigen, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, Gott sei's geklagt, zu zwei Dritteln Mädchen sind. Ich glaube, wir kommen nicht daran vorbei, mit staatlichen Stützungsmaßnahmen Initiativen bei den betroffenen Mädchen wie aber auch in der ausbildenden Wirtschaft und im öffentlichen Dienst herbeizuführen, damit eine Entspannung dieser Situation eintritt.
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18666 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
VogelsangLassen Sie uns auch darüber einig sein, daß sich die Humanität einer Gesellschaft nicht daran mißt, wie sie mit den Mehrheiten umgeht. Die Humanität einer Gesellschaft mißt sich nach meiner Überzeugung daran, wie sie mit Minderheiten umgeht. Es kann, so meine ich, daher nicht beruhigen, wenn Frau Wilms in einer Presseerklärung des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft darauf hinweist, daß statt 92 % im vorigen Jahr in diesem Jahr 93,5 % aller Beteiligten einen Ausbildungsplatz gefunden haben, sondern ich würde sagen, es muß eine Aufgabe sein, daß wir die Zahl „93" nicht durch die Zahl „100", sondern durch eine höhere Zahl ersetzen,
damit wir auch aus den strukturellen Schwierigkeiten der beruflichen Bildung herauskommen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, vielleicht darf ich meine Kollegen aus dem Ausschuß für Bildung und Wissenschaft noch einmal ansprechen: Es sei mir gestattet, mich bei ihnen für die gute Zusammenarbeit in den letzten Jahren recht herzlich zu bedanken.
Das Wort hat Frau Dr. Wilms, Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da wir nun voraussichtlich die letzte Berufsbildungsdebatte in dieser Legislaturperiode führen
— das glaube ich nicht! — , möchte ich noch einmal darauf verweisen, Herr Kollege Schemken, daß in den Jahren 1983 bis 1986 2,8 Millionen Ausbildungsverträge geschlossen worden sind; das ist eine Viertelmillion mehr als in den drei Jahren zuvor. Es sind eben 96 % eines Bewerberjahrgangs Jahr für Jahr letztendlich vermittelt worden, und es sind in diesem Jahr, Herr Kollege Vogelsang, zum 30. September schon 93,5 % vermittelt gewesen. Das ist noch nicht befriedigend, aber es ist mehr als 92 %, und dahinter stehen Menschen. Es stehen einzelne Menschen dahinter, die froh darüber sind, daß sie in diesem Jahr beizeiten eine Möglichkeit zur Ausbildung bekommen haben.
Die Zahl der nicht besetzten Ausbildungsstellen ist in diesem Jahr um 41 % höher als im Vorjahr, und wir haben 54 Arbeitsamtsbezirke, in denen die Zahl der angebotenen Lehrstellen größer ist als die Zahl der Bewerber. Die Zahl der Unvermittelten hat in diesem Jahr um 20 % abgenommen. Verehrte Kollegen, es sind nicht 80 000 auf der Straße, sondern 46 800, und Sie können doch keine Motivforschung in der Frage betreiben, ob es da noch einen Studenten gibt, der vielleicht lieber eine Lehrstelle bei der Deutschen Bank hätte.
— Ach, Herr Kuhlwein, ich würde Sie doch bitten, sich etwas zu mäßigen. Sie können auch nicht sagen, daß die jungen Menschen, die jetzt in der beruflichen Schule sind, in einer Schule, die Sie gerade so gepriesen haben, dort vielleicht auf einem Abstellgleis stehen. Eines kann nur stimmen: Entweder ist die berufliche Schule gut, oder sie ist nicht gut. Da müssen Sie schon konsequent sein.
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Weisskirchen?
Bitte schön.
Frau Minister, stimmen Sie denn zu, wenn die Bundesanstalt für Arbeit in ihrer Bilanz vom September 1986 ausdrücklich sagt, daß fast 34 000 junge Menschen ihren Ausbildungsplatzwunsch aufrechterhalten haben und gleichzeitig in andere Maßnahmen übergewechselt sind?
Ja, sicher stimmt diese Zahl, aber ich sage doch gerade: Andere Maßnahmen sind etwa berufsschulische Maßnahmen,
oder es sind Maßnahmen in überbetrieblichen Ausbildungsstätten. Wissen Sie, meine Damen und Herren Kollegen von der SPD, entweder sind diese Maßnahmen gut, oder sie sind nicht gut.
Sie können nicht an der einen Stelle sagen „Wir lehnen sie ab" und an der anderen Stelle fordern, die Bundesregierung sollte das alles mehr fördern, weil es so gut sei. Ich bitte Sie um ein bißchen mehr Konsequenz in der Politik!
Meine Damen und Herren, mir ist es angesichts der leichten Entspannung in der Lehrstellensituation, die wir nun verzeichnen und die auch von Ihnen nicht bestritten wird, völlig schleierhaft, warum Sie trotz dieser entspannten Lage nach wie vor — auch hier jetzt wieder in Ihrem Antrag — eine Ausbildungsumlage fordern. Sie wollen also ein anderes Ausbildungssystem, und offensichtlich ist Ihr Bekenntnis zum dualen System ein Lippenbekenntnis.
Duales System heißt: einzelbetriebliche Finanzierung plus Berufsschule.
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Bundesminister Frau Dr. Wilms
Dann kann es nicht durch ein Fondssystem ersetzt werden.
— Sie sind doch Fachmann! Das ist eine Abmachung unter Tarifpartnern, wo es uns nicht ansteht, einzugreifen. Wenn Tarifpartner so etwas auf regionaler oder branchenmäßiger Ebene vereinbaren, ist das deren Sache. Hier geht es um Ihre Forderung einer gesetzlichen Umlage, und die lehnen wir ab, weil sie das duale System zerstören würde.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein, Frau Minister?
Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Minister, Sie haben eben gesagt, zum dualen System gehöre die einzelbetriebliche Finanzierung. Ich will meine Frage noch einmal wiederholen: Würden Sie sagen, daß es im Baugewerbe, wo durch Tarifvertrag eine überbetriebliche Finanzierung für bestimmte Bereiche der Berufsausbildung vereinbart ist, das duale System nicht mehr gibt?
Herr Kollege Kuhlwein, Sie haben gerade selbst die beiden entscheidenden Einschränkungen gemacht: Erstens ist es eine tarifvertragliche Regelung, und zweitens gilt sie nur für Teilbereiche der Ausbildung.
Hier geht es um die Frage, ob Sie per Gesetz die einzelbetriebliche Finanzierung auflösen wollen. Das wollen Sie, wir nicht! Ich wollte nur Standpunkte klarstellen.
Ich möchte noch einmal wiederholen und betonen — daran liegt mir sehr, wie Sie verstehen können —, daß Ihr Vorwurf, die Bundesregierung habe in all den Jahren nichts getan, einfach nicht stimmt und von den Tatsachen längst eingeholt ist: Wir haben die Ausbildungsleistungen des Bundes gegenüber 1983 um 13 % erhöht. Wir haben die Förderung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten Weiterbetrieben; die Gesetzesänderung von heute trägt mit zur weiteren Förderung bei. Die Kollegen der Koalitionsfraktionen haben in einem Antrag gefordert, daß weitere Überlegungen für überbetriebliche Einrichtungen getroffen werden; ich begrüße diese Feststellung sehr. Wir haben Modellversuche durchgeführt, die gerade dahin zielen, die Ausbildungsordnungen moderner zu gestalten. Wir haben Jugendschutz- und Ausbildungserfordernisse wieder in Einklang gebracht, ein Punkt, der gerade für viele Handwerksbetriebe von außerordentlicher Bedeutung ist.
Wir haben das Benachteiligtenprogramm aufgestockt. Im Etatansatz stehen 407 Millionen DM. Das bedeutet, daß 30 000 junge Menschen vor allem in Defizitregionen ab diesem Ausbildungsjahr gefördert werden können. Ich möchte ausdrücklich sagen — vielleicht ist das nicht so bekannt —, daß von den im Benachteiligtenprogramm Geförderten 40 % Mädchen sind. Von den zusätzlichen Mitteln in Höhe von 72 Millionen DM, die jetzt zur Verfügung stehen, werden wir überwiegend Mädchen fördern, und dies wiederum überwiegend in Defizitregionen.
Herr Kuhlwein, Sie haben vorhin wieder anklingen lassen, daß junge Leute auch in Berufen ausgebildet würden, die nicht sicher auf die Zukunft ausgerichtet sind. Meine Damen und Herren, sind wir uns nicht mehr darin einig, daß unsere gemeinsame Forderung die Ausbildung über den Bedarf war? Ich stehe zu dieser These und halte sie nach wie vor für richtig. Die Ausbildung über Bedarf hat doch mit dazu beigetragen — das ist der entscheidende Punkt —, daß die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen unter 20 Jahren stark zurückgeht. Sie ist in diesem Jahr um 13% gegenüber 1985 gesunken. Die Zahl der Jugendlichen unter 25 Jahren ist um 10 % niedriger als im Vorjahr. Meine Damen und Herren, dies spricht alles für eine richtige Berufsbildungspolitik.
Trotzdem möchte ich die Betriebe von dieser Stelle aus noch einmal bitten, gerade junge Menschen, die ihre Ausbildung zu Ende gebracht haben, einzustellen, eventuell in Teilzeitarbeit mit befristeten Qualifizierungsmaßnahmen.
— Davon haben die sehr viel.
— Die haben auch etwas von dem Geld, das sie über das Beschäftigungsförderungsprogramm, gegen das Sie gestimmt haben, und durch die Siebte Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes bekommen. Meine Damen und Herren Kollegen, Sie haben dagegen gestimmt, wir haben dafür gestimmt, es eingebracht und damit den Betrieben und den jungen Menschen eine echte Hilfe gegeben.
Ein Blick in die weitere Entwicklung — das klingt auch in den Anträgen an —: Wir werden in den nächsten Jahren weniger Jugendliche in der Ausbildung haben. Wir rechnen mit 600 000 um 1990. Wir werden mehr ältere Jugendliche haben. Der Anteil der Mädchen wird steigen. Wir werden mehr technisch orientierte Berufe haben. Wir werden auch künftig benachteiligte, d. h. schwächer talentierte Jugendliche haben. Wir werden in Zukunft sicher auch regionale Friktionen haben.
Das bedeutet für die Politik, daß wir alles tun müssen, um das duale System weiter zu verbessern und die betriebliche Ausbildung qualitativ wettbewerbsfähig zu machen. Ich schließe mich gerne dem Appell der Kollegen an, die sagen, die Bundesländer mögen bitte ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf die Berufsschulen lenken. Ich möchte aber sehr deutlich unterstreichen — ich weiß, was ich sage —, daß wir vor allen Dingen an die Teilzeitberufsschulen
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Bundesminister Frau Dr. Wilms
denken sollten. Ich halte es nicht für so sinnvoll, die Gelder vorwiegend in Vollzeitberufsschulen fließen zu lassen und Teilzeitberufsschulen zu vernachlässigen. Ich glaube, diese Schulen haben es dringender nötig, personell und finanziell gut ausgestattet zu werden.
Ich halte mit Blick auf die nächsten Jahre eine schnellere Reform der Ausbildungsordnungen für notwendig. Ich denke, daß wir den jungen Menschen mehr und bessere Berufsinformationen — auch hinsichtlich neuer Berufsentwicklungen — geben müssen.
Wir müssen die Informationen für Mädchen gezielter und praktikabler weitergeben. Wir müssen Hemmschwellen bei den Betrieben überwinden, damit auch Mädchen beschäftigt werden.
Wir müssen — das halte ich für eine ganz wichtige Aufgabe der nächsten Jahre — die Ausbildungsmöglichkeiten für benachteiligte Jugendliche noch einmal insgesamt durchdenken; denn es geht nicht an, daß angesichts erhöhter technologischer Anforderungen viele Jugendliche möglicherweise gar keine Chance zur Ausbildung mehr haben, eben auf Grund der Anforderungen. Hier müssen wir sicher gemeinsam darüber nachdenken, wie man dieser Entwicklung begegnen kann.
Die Ausbildung und die Weiterbildung werden auch künftig zwei Bereiche sein, die eng aufeinander bezogen sind. Hier lassen Sie mich sehr deutlich sagen — auch zu den Kollegen der SPD —: Ich stehe für ein offenes, flexibles Weiterbildungssystem, das kommunale und staatliche Träger umfaßt, aber auch alle freien Träger von den Gewerkschaften über die Wirtschaft bis zu den Kirchen. Der Staat hat die Aufgabe, Rahmendaten zu setzen. Der Staat hat nicht die Aufgabe, auch die Weiterbildung bis zum letzten I-Tüpfelchen zu reglementieren.
Wir müssen in der Weiterbildung Rahmendaten setzen — der Bund und die Länder —, und innerhalb dieser Rahmendaten sind Kreativität und Phantasie, Anpassungsfähigkeit, Motivation und da, wo notwendig, auch finanzielle Unterstützung gefordert. Ich hoffe, daß in dieser ordnungspolitischen Frage vielleicht doch mehr Gemeinsamkeit vorhanden ist, als es im Augenblick der Fall zu sein scheint.
Herr Präsident, Sie erlauben, daß auch ich ein sehr persönliches Wort des Dankes an den scheidenden Vorsitzenden des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft, Herrn Kollegen Vogelsang, richte. Herr Kollege Vogelsang, wir haben manche Klinge gefochten. Aber das darf ich sagen: Sie haben sich für die berufliche Bildung immer in besonderem Maße eingesetzt. Gerade den jungen Menschen, die den beruflichen Bildungsweg gehen, hat
Ihre besondere Sorge gegolten. Vielen Dank für Ihre Mitarbeit.
Ich freue mich wirklich, daß über meinen Freund Kurt Vogelsang von allen so positive Worte gesprochen worden sind. Ich schließe mich gerne an.Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über Tagesordnungspunkt 14a, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/5449. Ich rufe Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind einstimmig angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dann ist dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 10/6239. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Antrag mit Mehrheit angenommen.Wir stimmen nunmehr über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/6260 ab. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dann ist dieser Antrag mit Mehrheit abgelehnt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 und 16 auf:13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Bachmaier, Dr. de With, Dr. Emmerlich, Dr. Apel, Fischer , Klein (Dieburg), Lambinus, Pfuhl, Ranker, Rapp (Göttingen), Schmidt (München), Dr. Schöfberger, Schröder (Hannover), Dr. Schwenk (Stade), Stiegler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDReform des Insolvenzrechts — Drucksache 10/5814 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft16. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Artikels 2 des Vierten Gesetzes zur Änderung der Bundesärzteordnung und zur Änderung der Bundesärzteordnung, des Gesetzes über die Ausübung der
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Vizepräsident WestphalZahnheilkunde und der Reichsversicherungsordnung— Drucksache 10/6222 —Überweisungsvorschl ag:Ausschuß für Jugend, Familie,Frauen und Gesundheit Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung und Wissenschaftb) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Streichung des Ausbildungsabschnittes „Arzt im Praktikum" aus der Bundesärzteordnung
— Drucksache 10/6106 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Jugend, Familie,Frauen und Gesundheit Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung und Wissenschaftc) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDGesamtreform der Ärzteausbildung— Drucksache 10/6107 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Jugend, Familie,Frauen und Gesundheit Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung und WissenschaftIch habe feststellen können, daß unsere Geschäftsführer sehr geschäftig gewesen sind. Abweichend von der Geschäftsordnung ist von der erforderlichen Mehrheit beantragt worden, zu diesen beiden Tagesordnungspunkten die Redebeiträge zu Protokoll zu geben. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. *)Wir müssen bei diesen Tagesordnungspunkten aber noch ein paar Abstimmungen durchführen.Zu Tagesordnungspunkt 13 schlägt Ihnen der Ältestenrat die Überweisung des Antrags auf Drucksache 10/5814 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Zu Tagesordnungspunkt 16 wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 10/6222 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit und zur Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft. Die hierzu in der Tagesordnung aufgeführte Überweisung an den Haushaltsausschuß gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung soll nicht erfolgen. Das kann nur etwas damit zu tun haben, daß dies einmal nichts kostet.Weiterhin wird gemäß einer Vereinbarung im Ältestenrat vorgeschlagen, die Vorlagen zu Tagesordnungspunkt 16b und c auf den Drucksachen 10/6106 und 10/6107 an die in der Tagesordnung aufgeführ-*) Anlagen 6 und 8 ten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun Punkt 15 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung Reichspräsident-Ebert-Gedenkstätte— Drucksache 10/6215 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOMeine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Soell.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den vorliegenden gemeinsamen Gesetzentwurf über die Errichtung einer Stiftung Reichspräsident-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg möchte ich im Namen nicht nur meiner Fraktion, sondern auch der anderen beteiligten Fraktionen von CDU/CSU und FDP begründen.
Mit dem Entwurf wird eine Verpflichtung gegenüber dem Gedenken an Friedrich Ebert, dem ersten demokratisch gewählten Staatsoberhaupt in Deutschland, eingelöst, die mehr als überfällig ist. Obwohl ihn Theodor Heuss, der erste Präsident der zweiten Republik, in einer Rede aus Anlaß des 25. Todestags am 28. Februar 1950 mit dem Satz, Ebert sei der Abraham Lincoln der deutschen Geschichte, bleibend im Gedächtnis der Deutschen zu verankern suchte, sind dessen Leben und Werk weithin vergessen.
Die Maßstäbe, mit denen politisch bedeutsame Leistungen gemessen werden, werden — zumal in der Demokratie — nie einheitlich sein können. Die bitteren Erfahrungen, die wir Deutschen in unserem Jahrhundert mit unserer eigenen Geschichte gemacht haben, müßten uns jedenfalls dazu gebracht haben, auf einen Begriff von historischer Größe zu verzichten, die auf Kosten anderer oder der Nachfahren erzielt wurde. Wer nach menschlicheren Maßstäben für geschichtlich bedeutsame Leistungen sucht, wird sie in den Werten finden, deren Verwirklichung das Ziel der großen Emanzipationsbewegungen in der neueren Geschichte bildet: Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Toleranz, friedlicher internationaler Ausgleich. Für dieses Ziel hat Ebert lebenslang gearbeitet.
Da, wo sich wichtige Teilziele angesichts der extrem schwierigen äußeren und inneren Bedingungen der Jahre nach 1918, Herr Ströbele, im Zeichen der durch reaktionär-konservative Politik verursachten militärischen Niederlage nicht erreichen ließen, hat er sich bemüht, zumindest die Chancen für notwendige Veränderungen offenzuhalten.
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Dr. Soell
Als wenige Jahre nach seinem Tod die erste Republik erneut in eine Kette von Krisen geriet, wurde deutlich, wie sehr ein Mann seiner demokratischen Zuverlässigkeit und seiner Wertwelt an der Spitze des Staates fehlte. Es sind diese Verdienste, die Theodor Heuss dazu brachten, Friedrich Ebert mit Abraham Lincoln zu vergleichen. Aber dieser Vergleich ist auch aus einem anderen Grunde einleuchtend. Beide fielen durch Mord: der amerikanische Präsident direkt durch Mörderhand, Ebert gejagt durch eine von rechts gesteuerte Kampagne und von Schreibtischtätern aus den Reihen der Justiz. Über 170 Verfahren mußte er vor Gericht anstrengen, um die Ehre des Staatsoberhaupts der deutschen Demokratie zu verteidigen.
Da er in seiner Person, in seiner Herkunft wie in seinem Lebensweg auch symbolisch die neuen Lebens- und Entwicklungschancen der noch jungen Demokratie, insbesondere die der politischen und gesellschaftlichen Emanzipation der arbeitenden Menschen in Deutschland, verkörperte, wurde er von denen gejagt, die diese Entwicklung nicht anerkennen wollten und hofften, sie in irgendeiner Weise wieder rückgängig machen zu können.
Lassen Sie mich noch eine kurze Bemerkung zur Vorgeschichte der Idee machen, eine nationale Gedenkstätte „Friedrich Ebert" in Form einer Stiftung zu errichten. In der Begründung des Gesetzentwurfs können Sie lesen, daß das Geburtshaus in Heidelberg in einem beklagenswerten Zustand sei.
Korrekterweise muß man hinzufügen: Der Begriff „Geburtshaus" ist viel zu pompös. Die Tatsache, daß in dem engen Zwischengeschoß, in dem die Familie Ebert jahrzehntelang lebte, die Erinnerung an Friedrich Ebert überhaupt wachgehalten wurde, ist das Verdienst der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Stadt Heidelberg, die dort 1962 eine kleine Gedenkstätte errichtet haben.
Es ist besonders hervorzuheben, daß aus den Reihen derer, die sich um die politische Bildung bei uns in Baden-Württemberg kümmern, die Anregung kam, endlich einen Rahmen zu schaffen, der Leben und Werk Eberts in angemessener Weise zu würdigen vermag. Es waren also keine Staatsraison, keine von oben durch selbsternannte Enkel oder Urenkel verordneten Geschichtsbilder, kein Versuch falscher Heroisierung, die den Ausschlag gaben, sondern ein auf lokaler und regionaler Ebene gewachsenes Interesse an den schwierigen Ursprüngen der ersten deutschen Demokratie, wie sie sie in Leben und Werk von Friedrich Ebert greifbar verkörpern.
Es geht deshalb bei der Ebert-Gedenkstätte nicht in erster Linie darum, Ebert und seine Zeit museal zu konservieren, sondern dieses Gedenken an eine bedeutende Persönlichkeit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und der deutschen Demokratie als Teil lebendiger, demokratischer Traditionsbildung und somit auch als Teil lebendiger politischer Bildung entsprechend auszustatten und einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Dadurch werden wichtige Voraussetzungen für eine kritische und zugleich faire Auseinandersetzung mit den Chancen und Gefahren der Demokratie in Deutschland bis heute eröffnet.
Wir stimmen der Überweisung an die Ausschüsse zu und treten für eine zügige Beratung ein.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Ströbele.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich wende mich hier heute vor allen Dingen an die Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Sie meinen: Weil die CDU eine Gedenkstätte hier in Rhöndorf hat, wo von Steuermitteln Adenauer gedacht und seine Rosen und sein Haus und seine Möbel gepflegt werden,
deshalb braucht die SPD auch ein Denkmal für einen der Großen aus ihrer Partei und ihrer Geschichte.
Nur: Warum haben Sie ausgerechnet den Reichspräsidenten Friedrich Ebert genommen? Nicht etwa der sozialdemokratische Genosse und der Reichstagsabgeordnete oder auch der letzte vom deutschen Kaiser eingesetzte Kanzler, sondern der Reichspräsident Ebert soll es sein.
Das ist der, der 1918 gemeinsam mit Groener und Hindenburg gegen die Einwände revolutionärer Arbeiter und Soldaten bewaffnete Truppen in die Reichshauptstadt Berlin zurückgeholt hat. Das ist der, der im Dezember 1918 zu den heimkehrenden Truppen folgendes gesagt hat — ich zitiere wörtlich —:
Allen Schrecken habt ihr mannhaft widerstanden, Mannschaften und Führer, sei es in den Kreidefelsen der Champagne, in den Sümpfen Flanderns, auf den elsässischen Bergrücken, sei es in dem unwirtlichen Rußland oder im heißen Süden. Ihr habt die Heimat
— das hat er zu den Soldaten gesagt —
vor feindlichem Einfall geschützt, Deutschlands Fluren und Werkstätten vor Verwüstung und Zerstörung bewahrt. Dafür dankt euch die Heimat in überströmendem Gefühl.
Da fragt man sich doch: Hatten die anderen europäischen Völker Deutschland überfallen und zu vernichten oder zu zerstören versucht? Oder hatte Deutschland mit der ausdrücklichen Zustimmung und unter Führung des Fraktionsvorsitzenden der
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18671
Ströbele
SPD-Fraktion im Reichstag, Friedrich Ebert, 1914 den Kriegskrediten zugestimmt und damit die imperialen Machtpläne der kriegslüsternen Militärs in Deutschland legitimiert? Ist das auch der Ebert, den Sie in dieser Gedenkstätte in Heidelberg ehren wollen, an den Sie erinnern wollen?
Oder ist das der Ebert, der ein überzeugter Monarchist gewesen ist?
Ist das der Ebert? 1918/19 gab es in Deutschland durchaus noch die Alternative, zwischen einer aktiven Selbstregierung des Volkes, getragen von Arbeiter- und Soldatenräten auf der einen Seite, und einer gehaßten und nur zwangsweise geduldeten bürgerlich bestimmten parlamentarischen Demokratie zu wählen. Ebert und mit ihm die Mehrheit der Sozialdemokraten haben sich ohne Zögern mit den militärischen und bürgerlichen Kräften verbündet. Ihr Ziel war nichts anderes als die Wiederherstellung der Ordnung.
Historisch ist diese Entscheidung mitverantwortlich für das Scheitern der Weimarer Republik.
Warum, so frage ich mich, wollen Sie ausgerechnet des Reichspräsidenten Ebert gedenken? Ist das die sozialdemokratische Tradition, die Sie damit ehren und betonen wollen, die etwa der Bayernkurier kürzlich so beschrieben hat:
Wie viele Jahre hat die alte und neue rechtschaffene Sozialdemokratie darunter gelitten, daß man sie als einen Haufen vaterlandsloser Gesellen verunglimpft hat?
Viel redliche Arbeit von Männern wie Ebert und Noske war notwendig, um diesem Vorwurf die Spitze zu nehmen.
Wenn Sie schon unbedingt eine Art sozialdemokratische Rhöndorf-Villa brauchen, warum gründen Sie dann nicht eine Gedenkstätte zum Gedenken an August Bebel oder Rosa Luxemburg? Dann hätten Sie uns voll auf Ihrer Seite.
War August Bebel nicht ganz anders als etwa Friedrich Ebert im Kampf gegen die Sozialistengesetze engagiert? Mit dieser „Reichspräsident-EbertGedenkstätte" stellt sich die SPD in die Kontinuität deutscher Geschichtsschreibung,
die sich Demokratie nur als starken Staat und nur
als Obrigkeitsstaat vorstellen kann. Der vorgelegte
Gesetzentwurf zur geplanten Stiftung berechtigt
nicht zu der Hoffnung, daß eine Auseinandersetzung an der Person Friedrich Eberts geführt werden soll oder auch nur gewollt wird. Das zeigt schon der gewählte Name.
Sie haben versucht, nicht den Reichspräsidenten Friedrich Ebert, sondern den Politiker Friedrich Ebert in diese Stiftungssatzung hineinzubekommen. Anstatt unabhängige Geschichtsforschungsinstitute und Geschichtswerkstätten wollen Sie an der Besetzung des Kuratoriums lediglich die Politiker beteiligen, die Politiker, die dann im Proporz-verfahren dieses Kuratorium besetzen.
Wenn Politik die Darstellung der Geschichte und die historische Auseinandersetzung bestimmt, dann drohen immer der Mißbrauch von Geschichte und das Erfinden und Festschreiben idealisierender Tradition. In Heidelberg ist jemand dafür mit einem Prozeß überzogen worden, weil er über Ebert gesagt hat, der sei — jetzt zitiere ich wörtlich — „für das Reich ein Held, für die Demokratie jedoch eine Flasche" gewesen.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist beendet.
So sieht die Auseinandersetzung aus, die Sie über Friedrich Ebert nicht führen wollen. Wir sind deshalb gegen diese Stiftung. Entweder machen Sie eine Gedenkstätte für einen anderen Sozialdemokraten, .. .
Herr Abgeordneter, Sie haben Ihre Redezeit bereits überzogen.
... oder Sie ändern wenigstens die Stiftungssatzung so um, daß eine wirkliche Auseinandersetzung damit gewollt ist.
Meine Damen und Herren, manchmal ist es ganz schön schwierig, die Freiheit der Rede hier oben voll verteidigen zu müssen. Es ist möglich, solche Reden zu halten,
aber man kann ihnen nicht zustimmen, auch als Präsident nicht, noch dazu, wo es um die Ehre eines Reichspräsidenten einer demokratischen Republik geht, Herr Ströbele.
Der nächste Redner ist der Abgeordnete Weirich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann mich sehr, sehr kurzfas-
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18672 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986
Weirichsen: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt, daß unter dem Namen „Stiftung ReichspräsidentEbert-Gedenkstätte" in Heidelberg eine rechtsfähige Stiftung des öffentlichen Rechts errichtet wird. Wir unterstützen daher diesen Gesetzentwurf. Die Unterstützung dieses Gesetzentwurfes möchte ich mit einem Dank an die Bundesregierung für die bisherige Vorbereitung des Projekts und gleichzeitig mit einem Dank an die Initiatoren dieser Gedenkstätte verbinden, insbesondere an den sozialdemokratischen Bundestagskollegen Jahn.Das Ansehen des ersten deutschen Reichspräsidenten, einer Persönlichkeit der deutschen Sozialdemokratie, zu wahren und lebendig zu erhalten, eines Mannes, der den Übergang vom Kaiserreich zur ersten deutschen Republik entscheidend mitgeprägt und die Weimarer Republik in ihren Anfangsjahren ganz entscheidend, wesentlich mitgestaltet hat, entspricht unserem Credo, uns verstärkt mit der Geschichte auseinanderzusetzen und auch für die junge Generation Impulse zu setzen, damit sie diese Auseinandersetzung sucht. Deswegen sehen wir in dieser Gedenkstätte einen interessanten Beitrag zum Verständnis der deutschen Geschichte zur Zeit des Kaiserreiches und der Weimarer Republik.Hier drei Antworten an Sie, Herr Kollege Ströbele:Was Ihren Beitrag insgesamt angeht, so erinnert er mich an die Grundaussage unseres früheren, hochgeachteten Kollegen Dichgans, der gesagt hat, es sei das vornehmste Recht jedes deutschen Abgeordneten, Unsinn reden zu dürfen; er trete für dieses Recht mit Entschiedenheit ein.
Ich will es heute auch tun.Ich will ein Zweites sagen, meine Damen und Herren: Wer mit seinér kleingestrickten Ideologie 1986 — und der Historiker Mommsen hat einmal gesagt, Geschichte und ihre Persönlichkeiten könne man nur dann beurteilen, wenn man Jahrzehnte später eine Leiter an der Mauer der Geschichte aufstelle, um mit einem besonnenen Blick retrospektiv zu blicken — den entscheidenden Maßstab an die Geschichte anlegt, meine Damen und Herren, der denaturiert Geschichte zu seiner Steinbruchideologie.
Und mehr hat aus Ihrem Beitrag leider nicht gesprochen.
Er war grausam undifferenziert.
Ich füge ein Drittes hinzu: Man kann — und man soll es geradezu — über die Beiträge deutscherStaatsmänner streiten: zum Verständnis ihrer Zeit, zur Entwicklung einer Republik.
Sicherlich gibt es unterschiedliche Auseinandersetzungen darüber. Aber welche bessere Möglichkeit gibt es denn, diese Auseinandersetzung zu suchen,
als wenn mit einer Gedenkstätte das Wirken dieses Mannes präsent gemacht wird, als wenn ein Impuls für die Auseinandersetzung gegeben wird, als wenn Möglichkeiten der Begegnung bei Tagungen, Seminaren und Symposien geschaffen werden und auch Sie, verehrter Herr Kollege Ströbele, die Möglichkeit haben, Ihren ideologischen Anspruch in die Arena der Diskussion mit einzubringen?
— Den Heidelbergern wird gar nichts verboten, sondern in der Stadt Heidelberg wird von allen ernstzunehmenden politischen Gruppierungen mit Nachdruck begrüßt,
daß diese Gedenkstätte errichtet und diese Möglichkeit der Suche und Auseinandersetzung zugleich geboten wird. Und wo würde es sich besser anbieten als in der Stadt Heidelberg, dem Geburtsort und gleichzeitig der Stadt des Todes von Ebert?Zwei Bemerkungen noch: Der Gesetzentwurf orientiert sich sehr stark an der Stiftung KonradAdenauer-Haus. Wir hatten im Konrad-AdenauerHaus in diesem Jahr 1,5 Millionen Besucher. Wir hoffen, daß die Ebert-Gedenkstätte im Sinne der Darlegungen, die ich hier gerade getroffen habe, eine Chance für diese Auseinandersetzung bietet, die Möglichkeit der Würdigung, Erinnerung und der Diskussion zugleich gibt, daß die Bauarbeiten gute Fortschritte machen und daß dieses Haus bald mit dem Leben erfüllt werden kann, das wir uns gemeinsam wünschen.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache *).Es wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 10/6215 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Zusätzlich soll diese Vorlage gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß überwiesen wer-*) Zu Protokoll gegebene Rede siehe Anlage 7.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 241. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Oktober 1986 18673
Vizepräsident Westphalden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Meine Damen und Herren, damit sind wir am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 5. November 1986, 13 Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen.