Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu den Äußerungen des bayerischen Ministerpräsidenten, Dr. Franz Josef Strauß, zu den GoetheInstituten und zu zeitgenössischen Schriftstellern bei seiner Kritik an der auswärtigen Kulturpolitik der Bundesregierung
Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung diese Aktuelle Stunde verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die hellen, festlichen Töne, mit denen die DDR ihr Land im Ausland malt, werden auf Dauer erfolgreicher sein als die düstere Götterdämme, rungspalette der Bundesrepublik Deutschland."
Der CSU-Vorsitzende Strauß fährt fort: „Wir sollten uns Gedanken darüber machen, ob es der Bundesrepublik wirklich nutzt, wenn wir in fröhlicher Freiheit und Pluralität" — man höre — „versuchen, ein möglichst getreues Bild der gegenwärtigen bundesdeutschen Kulturszene vorzustellen." So verspottet Franz Josef Strauß Freiheit und Pluralität. Seine Bewunderung für die Kulturpolitik des autoritär gelenkten Staates DDR spricht aus jedem seiner Worte.
Was wohl Wolf Biermann, was wohl Angelika Domröse, was wohl Sarah Kirsch oder Manfred Krug, die ihr Land wegen fehlender Pluralität und fehlender Liberalität verlassen mußten, von solcher DDR-Lobhudelei eines rechtskonservativ-autoritären Parteiführers halten mögen!
Strauß war es auch, der als erster nach dem Krieg wieder von „entarteter Kunst" gesprochen hat. Dazu möchte ich den oft beschimpften und in den Dreck gezerrten Heinrich Böll zitieren: „Das Wort ,entarte', das j a von Strauß nie zurückgenommen worden ist, ist eine kulturpolitisch äußerst brisante Vokabel.
Sie ist ja von Strauß auf eine ungeheuer dümmlichdemagogische Weise bestätigt und wiederholt worden." Ich will die Rede, um die es heute morgen hier geht, nicht als dümmlich bezeichnen, aber sie ist für die Kulturpolitik außerordentlich interessant.
Die neuerliche Kulturkampfansage der CSU zielt auf dreierlei: Erstens sollen einmal wieder die sattsam bekannten verfassungsfremden Konturen der CSU-Kultur- und Medienpolitik deutlich gemacht werden, zweitens soll die auswärtige Kulturpolitik des sozialliberalen Erbes ausgehöhlt werden, und drittens gilt es, die Institutionen und Einrichtungen dieser Kulturpolitik — ähnlich wie bei den Sendern ARD und ZDF — durch derartige Angriffe sturmreif zu schießen, um dann systematisch CSU-Leute zu plazieren.
Parteistaatliche Kulturpolitik soll es also sein, und dagegen brauchen wir nicht nur diese Aktuelle Stunde, sondern sehr viel mehr parlamentarische Debatten.
Die Methode ist erprobt: Man legt sich grundsätzlich und pseudophilosophisch mächtig ins Geschirr, versäumt dabei nicht, einzelne zu verunglimpfen. Die Angegriffenen machen den ersten Fehler, sie verteidigen sich, sagen, sie seien gar nicht so schlimm — wie die ARD-Sender, wie leider auch die Leitung des Goethe-Instituts. Zweite Phase: Die eigenen Leute werden hineingepreßt. Der Laden kann, noch so linkslastig, angegriffen werden, aber drinnen hat man jetzt eine ganze Kavalkade Trojanischer Pferde, die ihren Auftrag erfüllen. Soweit sind wir mit dem Goethe-Institut noch nicht, aber die Strategie läuft nach Plan. Die CSU hat ihren neuen Mann, Herr Dr. Rose, bereits plaziert.
Auch der Tarnangriff auf die kritischen Schriftsteller gleicht bis in die sprachliche Form den An-
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Duve
griffen auf DDR-Dissidenten durch die SED-Führung vor zehn Jahren.
Zitat:
Seit bald zwei Jahrzehnten unterhöhlt ein erheblicher Teil der schreibenden Zunft den demokratischen Rechtsstaat.
Das sagt der Rechtsstaatsmann, der heute als letzter europäischer Politiker der Folter- und Rassendiktatur in Südafrika die Stange hält. Das sagt der Rechtsstaatsmann, der der Jugend in den 60er Jahren vorgemacht hat, wie man freundschaftliche Beziehungen zu den Demokratie-Mördern, den griechischen Obristen, herstellt. Das sind wohlbekannte Klänge aus dem Knigge für den Umgang autoritärer Staatsführer mit ihren Dissidenten.
Günter Grass hat zu Recht diesen schleichenden Prozeß der autoritären Kulturpolitik zwischen den beiden deutschen Staaten als gesamtdeutsche Kulturpolitik auf unterstem Niveau bezeichnet. Ein gewaltiger Unterschied besteht allerdings zwischen der Art, wie die DDR ihre Autoren in den 70er Jahren behandelt hat, und der Art, wie Strauß die Literaten in den 80er Jahren schmäht. Damals sollten die DDR-Autoren unbedingt in den Westen reisen. Heute sollen unsere Autoren möglichst gar nicht reisen.
Die CSU trimmt die neuen Medien auf ihre Kultur: Unterhaltungskultur ja; aber ohne kritische Inhalte, bitte. Ich darf hier noch einmal zitieren:
Sie sehen: Deutsche Mentalität und Kultur sind auch sprachlos zu vermitteln.
In der Tat, sprachlos.
Meine Damen und Herren, der Vorsitzende einer großen Regierungspartei beschimpft die deutschen Schriftsteller, sie hinterfragten ständig die Grundlage des demokratischen Rechtsstaates.
Wir werden übermorgen und dann die ganze Woche den Internationalen PEN-Kongreß haben. Wir fragen die Bundesregierung, wie sie den internationalen Schriftstellern, die dort in Hamburg versammelt sein werden, die Kulturpolitik der Bundesrepublik deutlich machen will.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist beendet. Ich bitte um Verständnis.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Dàs Wort hat Professor Hornhues.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bundeskanzler Kohl hat in seiner Rede im Goethe-Institut in Kiotodavon gesprochen, das Goethe-Institut sei auch der Ort von Spruch und Widerspruch.
In diesem Sinne ehrt es das Goethe-Institut, den bayerischen Ministerpräsidenten zu einer Vortragsveranstaltung eingeladen zu haben.Die SPD ehrt es nicht, wenn sie sich an der einen oder anderen Formulierung aufhängt und hier ihr parteipolitisches Süppchen zu brauen versucht. Das, was Sie, Herr Kollege Duve, hier heute morgen geboten haben, ist so primitiv, so simpel, daß es mir leid tut, Sie so qualifizieren müssen. Es lohnt nicht, näher auf Sié einzugehen.Noch weniger ehrt es allerdings — und das hat mich am meisten betroffen gemacht — den Generalsekretär des Goethe-Instituts, wenn er am Mittwoch in einem dpa-Gespräch erklärte, die GoetheInstitute sähen nach der Rede von Strauß keinen Anlaß zu Konsequenzen an Programm und Arbeitsstil.
Einseitige Forderungen und Vorstellungen — so weiter in diesem Gespräch — könnten dabei nicht berücksichtigt werden.Meine sehr geehrten Damen und Herren, mich erinnert das zwar an andere Sätze vom Mut zur Einseitigkeit in anderen Zusammenhängen, aber es sei einmal drum. Doch ich möchte gerne fragen: Welche einseitigen Forderungen und Vorstellungen meint denn der Goethe-General? Etwa wenn Strauß fordert, die ganze Wirklichkeit Deutschlands müsse dem ausländischen Gast des Goethe-Instituts, so gut es gehe, nahegebracht werden, oder wenn er, Strauß, erklärt, auswärtige Kulturpolitik dürfe sich nicht in Momentaufnahmen der aktuellen Kultur und Literaturszene erschöpfen,
wenn er das Problem der geschlossenen Gesellschaft, die Frage nach Adressaten, Nachfragern aufwirft, wenn er sich dagegen wendet, Einseitigkeiten in der Darstellung Deutschlands zu verallgemeinern, wenn er nachdrücklich dafür eintritt, den Adressaten in seinem kulturellen Anderssein ernster zu nehmen,
wenn er dafür eintritt, der Nachkontaktarbeit — ein, nebenbei bemerkt, gräßliches Wort — auswärtiger Kulturtechnokratie, mehr Aufmerksamkeit zu widmen,
wenn er auf den Selbstbesinnungsprozeß der außereuropäischen Kulturen hinweist und eine bessere
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Dr. HornhuesAusbildung gerade bezogen auf diese Entwicklung fordert?
Gehört dies und vieles mehr, was Franz Josef Strauß in seiner Rede vor dem Goethe-Institut geäußert hat, zu den einseitigen Forderungen und Vorstellungen, die bei Goethe nicht berücksichtigt werden?
— Herr Duve, ich empfehle Ihnen dringend: Lesen Sie sich die Rede wirklich einmal durch, bevor Sie sich ein zweites Mal hierhin stellen.
— Herr Vogel, ich weiß, daß Sie eine oder zwei Stellen gefunden haben, die Sie lesen können, aber vielleicht versuchen Sie, auch die anderen zu verstehen.
Die Reaktion des Generalsekretärs offenbart ein gehöriges Maß — das lassen Sie mich hier feststellen — an Selbstgefälligkeit, an Unfähigkeit zur Selbstreflexion.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe eine Diskussion miterlebt — es ist noch gar nicht lange her —, als eine junge Türkin zu einer WDR-Sendung eingeladen war. Diese junge Türkin hat im Goethe-Institut in Ankara Deutsch gelernt. Sie wurde gefragt, was für ein Bild sie sich über Deutschland anläßlich ihres ersten Aufenthalts hier gemacht habe und was denn anders sei. Sie hat eine Sekunde gezögert und dann sehr spontan geantwortet, was sie, als sie nach Deutschland gekommen sei, um beim Goethe-Institut Deutsch zu lernen, am meisten überrascht habe, sei, daß es in Deutschland Kühe gebe. Ich gestehe, ich habe darüber gelacht.
-- Herr Vogel, Sie haben recht: Es gibt auch Ochsen; einige sitzen vor mir.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich meine, diese und viele Erfahrungen mehr sollten für Leute, die zu Recht ein hohes Maß an Freiheit für sich in Anspruch nehmen und die im übrigen hohe Forderungen stellen, Anlaß genug sein, über die Fülle der kritisch-konstruktiven Anregungen des bayerischen Ministerpräsidenten ernsthaft nachzudenken. Ich glaube, dies ehrt alle und täte ihnen gut.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Borgmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz intensiven In-mich-Gehens, trotz mehrfachen Darüber-Schlafens sehe ich mich beinahe außerstande, den röhrenden Peinlichkeiten des neuerdings in Kultur machenden Herrn Strauß eine ernsthafte und erschöpfende Replik entgegenzusetzen.
Daß ich das hier doch versuche, liegt hauptsächlichan dem enormen Echo, das dieser von keinerleiSachkenntnis getrübte Beitrag hervorgebracht hat.
Franz Josef Strauß ist zugute zu halten, daß er sich offenbar des operettenhaften Muffs und des sterilen Heile-Welt-Charakters seiner Vorstellung von Kultur noch nicht einmal ansatzweise bewußt ist.
Der bayerische Landesvormund — Stichwort „Scheibenwischer" — verirrt sich tatsächlich in die Idee, die zentralistisch zu Tode gesteuerte Kulturpropaganda der DDR als Vorbild der „hellen und festlichen Farben" hinzustellen.
Diese Kulturpräsentation ist „auf Dauer" unzweifelhaft eben nicht überzeugender, da auch in den entlegendsten Winkeln der Erde langsam die Erkenntnis von der totgeborenen Funktionärskultur des Ostens durchsickert.Auf Dauer erfolgreicher kann nur das offene, rückhaltlose und vielgestaltige Kulturbild einer komplexen westlichen Führungsmacht wie der unseren sein. Für einen machtorientierten Industriepotentaten, dessen kulturelle Neigungeh sich meist in dem Schlachtruf „Ozapf is's!" äußern,
muß eine derart differenzierte und differenzierende Haltung tatsächlich „irrational" erscheinen.
Wenn man sich dann vor Augen hält, daß die beabsichtigte Instrumentalisierung des Goethe-Instituts zur PR-Agentur eines immer größenwahnsinniger werdenden Staatsapparates degradiert werden soll, erscheinen einige unionsgeprägte Brechstangenaktionen durchaus rational, deutschrational sozusagen, so z. B. die Pflichtauslage des „Bayernkurier" in den Goethe-Instituten der ganzen Welt,
so z. B. der Versuch, im Haushalt 1986 den GoetheInstituten 2,5 Millionen DM zugunsten eines 4-Millionen-DM-Budgets für Begleitmusik bei Auslands-
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Frau Borgmannreisen von Kanzler oder Bundespräsident zu streichen — das muß man sich einmal vorstellen —,
so z. B. das Münchener Vorhaben, eine der Staatskanzlei untergeordnete Journalistenausbildungsstätte zu schaffen. Das mittlerweile zu bitterem Ernst gewordene Scherzwort von der „neuen Dreistigkeit" erhält hier im Hinblick auf die freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit eine neue, beängstigende Qualität.
Merke: Nur eine gute Nachricht ist eine Nachricht. Daß die Strauß-Rede auch ein Tritt vors Schienbein der FDP war, zeigt, wie bedenkenlos der CSU-Chef kulturelle Vielfalt aus parteipolitischem Kalkül zu opfern bereit ist.Das Problem für den freistaatlichen Kulturkritiker besteht aber nicht darin, daß sich die kulturell und kreativ Tätigen nicht zu Schoßhündchen degradieren lassen und sich das eigene Denken nicht so recht abgewöhnen wollen, sondern auch in der relativen Unabhängigkeit des Goethe-Instituts. Da beileibe nicht ohne politische Wirkung, muß das Goethe-Institut nach Münchener Leseart zu einem schlagkräftigen Instrument der außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Interessen umgeschmiedet werden. Da drängt sich Herrn Strauß die Frage auf, ob man denn Menschen anderer Länder tatsächlich mit unseren Gastarbeiterproblemen, Bürgerprotesten, alternativen Lebensformen oder ähnlichen Erscheinungsformen deutscher Nestbeschmutzung belästigen soll. Mitnichten! Sind doch „Überdruß, Unzufriedenheit und Randgruppenprobleme" oder gar an den Haaren herbeigezogene „existentielle Ängste" unserem Exportinteresse durchaus hinderlich.Wir sind dankbar für die Bemühungen des Goethe-Instituts, ein differenziertes, aktualisiertes Bild der Bundesrepublik Deutschland im Ausland zu vermitteln.
Herr Strauß, wir haben Ihre Einlassungen über „Ratten und Schmeißfliegen" noch nicht vergessen. „Kulturschickeria" und „Pseudoelite" bewirken nicht, daß wir nun aufhören müßten, uns für Sie zu schämen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gegenstand dieser Aktuellen Stunde ist die Forderung des bayerischen Ministerpräsidenten — in welcher Kompetenz auch immer — nach einer Wende in der auswärtigen Kulturpolitik. Damit müssen wir uns hier natürlich auseinandersetzen.Es ist der Ruf nach einer starken politischen Persönlichkeit, der es gelingt, die „linke Kultur- und Literaturschickeria", die „seit beinahe zwei Jahrzehnten unseren demokratischen Rechtsstaat unterhöhlt" und zerstört, durch helle und heitere Töne à la DDR-Kulturpropaganda zu ersetzen.
Zur Begründung wird neben leider — wir bedauern das, Herr Kollege Hornhues — rüden Pauschalverurteilungen und wilden Drohgebärden, falschen Behauptungen und unverständlicher Phraseologie wie etwa dieser „Hegels Dialektik spukt offensichtlich noch immer in den Gewölben der deutschen Luftschlösser" — was auch immer das heißt —
folgendes von Herrn Strauß gesagt:
Als ein Land, dessen Wirtschaft entscheidend vom Export abhängig ist, können wir uns keinesfalls eine auswärtige Kulturpolitik leisten, die den selbsternannten Kassandren ein breites Forum liefert. Wenn wir nicht anerkennen, daß im Ausland die Freiheit des Literaten und berufsmäßigen Kulturpessimisten da endet, wo sie der Bundesrepublik Deutschland Schaden zufügt, brauchen wir uns über Mißerfolge nicht zu wundern.Diese Behauptung wird durch unsere Rekordexportstatistiken leicht widerlegt.
Nein, meine Damen und Herren und liebe Kollegen von der Koalition, wir Liberalen müssen diesen Straußschen Rundumschlag bedauern. Wir erheben Widerspruch in der Sache, Einspruch in der Form, und wir kündigen unseren Widerstand gegen die geforderte W ende in der auswärtigen Kulturpolitik an.
Die FDP sieht dazu weder Anlaß noch Veranlassung.Erstens: Widerspruch in der Sache. Der bayerische Ministerpräsident ist über die vielfältigen traditionellen und neuen Felder unserer weltweiten Kulturbeziehungen offenbar nicht informiert. Er hat noch nie die zwei Jahresberichte des Auswärtigen Amtes, geschweige denn die des Goethe-Instituts gelesen.
Auch die einstimmig — auch mit den Stimmen der CSU — verabschiedeten Empfehlungen der Enquete-Kommission des Bundestages — soviel ich mich erinnere, übrigens 1976 — sind ihm offenbar entgangen. Von der Tätigkeit unserer Auslandsschulen, von Sprachunterricht, reichhaltigen Bibliotheken, Ausstellungen, Theater, Musik, pädagogischer Verbindungsarbeit, Stipendien und Austauschprogrammen, Nachkontakten usw. usw.
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Frau Dr. Hamm-Brüchernimmt er überhaupt keine Notiz. Statt dessen wird rundum diffamiert und denunziert.Nein, meine verehrten Kollegen, eine solche Kritik einer zweifellos starken politischen Persönlichkeit, aber eines in der Sache doch Unkundigen, haben unsere überwiegend überdurchschnittlich engagierten Mitarbeiter in der ausländischen Kulturarbeit wirklich nicht verdient.
Zweitens: Einspruch in der Form. Der bayerische Ministerpräsident hat den seit der Zeit der Großen Koalition aus guten Gründen gepflegten Konsens über die Aufgaben und die Ziele der auswärtigen Kulturpolitik ohne Rücksicht auf Verluste aufgekündigt. Wenn wir dem folgen, würde das unabsehbare Konsequenzen für Kontinuität und Beständigkeit als Voraussetzung unseres weltweiten Kulturdialogs haben.Es hat im Bundestag immer Übereinstimmung gegeben, daß dieser sensible Aufgabenbereich der Außenpolitik jenseits von Parlaments- und Regierungsmehrheiten angesiedelt werden sollte, weil Kulturaustausch eben nicht „zur Magd der Außenpolitik" — Dahrendorf —, aber auch nicht zur „Magd der Innenpolitik" werden sollte,
und daß Kulturbeziehungen eben nicht den Wechselbädern und Wechselfällen politischer Konstellationen ausgesetzt werden sollte. Das ist doch durchaus möglich — ich schaue die Kollegen von der CSU und CDU an —; wir haben doch sechs Jahre lang vertrauensvoll zusammengearbeitet, als ich Staatsminister im Auswärtigen Amt war und Sie als Opposition zu solchen Rundumschlägen doch viel mehr berechtigt gewesen wären.
— Das war eine schöne Zeit, aber ich genieße auch die jetzige, Herr Kollege.
Es wäre unheilvoll und folgenschwer, wenn dieser Konsens zerschlagen und die auswärige Kulturpolitik zum Prügelknaben der außenpolitischen Ambitionen des hierfür unzuständigen bayerischen Ministerpräsidenten würde. Nebenaußenpolitik wünschen wir uns nicht.Nein, meine Damen und Herren, die Schere jedweder Zensur — ob auf dem Erlaßweg oder im Kopf, ob durch Abschalten von Fernsehsendungen oder Maulkorberlasse gegen Schülerzeitungen — ist der Anfang vom Ende jedweder kulturellen Freiheit und Freizügigkeit.
Dies ist ein unveräußerlicher und unantastbarer Grundwert unserer westlichen Demokratie.
Frau Abgeordnete, das war ein geeigneter Schlußsatz. Ich muß Sie auffordern, zum Schluß zu kommen.
Hinter der blauweißen Provokation aus München steckt leider etwas anderes.
Tut mir leid, Frau Abgeordnete, wir haben harte Regeln. Es tut mit furchtbar leid.
Schade; der letzte Satz war gut.
Ich wage das nicht zu bezweifeln, Frau Dr. Hamm-Brücher.
Jetzt kommt der Abgeordnete Verheugen dran.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Rede des CSU-Vorsitzenden vor dem Goethe-Institut, was übrigens den Vorwurf der Parteilichkeit des Instituts allenfalls begründen könnte, macht es einem so leicht, dagegen zu polemisieren und den Redner als Kulturbanausen abzutun, daß ich mir das schenken möchte.Statt dessen möchte ich etwas ganz anderes sagen: Die auswärtige Kulturpolitik lebt ganz sicher nicht in einem kritikfreien Raum. Sie braucht die kritische Begleitung wie jede andere Politik auch. Aber diejenigen, die das tun, müssen sich der Tatsache bewußt sein, daß die auswärtige Kulturpolitik mit einem anderen Gegenstand umgeht als andere Politikbereiche, daß wir es hier mit Menschen zu tun haben, die kulturelle Leistungen vermitteln sollen.Ich denke, daß der entscheidende Denkfehler in der Rede des CSU-Vorsitzenden der ist, daß er glaubt, eine Alternative zwischen vergangener Kultur und Gegenwartskultur sehen zu können. Genau das gibt es nicht. Wir sind nicht in der Lage — niemand von uns ist in der Lage —, Goethe so zu lesen, wie Goethes Zeitgenossen ihn gelesen haben und wie er sich selber verstanden hat, sondern wir sehen ihn durch die Zeit hindurch, gebrochen in dem, was in dieser Zeit geschehen ist. Wir verstehen ihn vor dem Hintergrund dessen, was wir selber wissen und erlebt haben. So geht es jebem Menschen auf der Welt. Das muß berücksichtigt werden.Die Vorstellung, wir könnten die deutsche Kunst und Literatur, die deutsche Kultur in einer Art musealer Bewahrungsdenkweise dem Ausland präsentieren, ist geradezu absurd.
Es ist in der Literatur nicht anders als im Theater, wenn wir — —
— Herr Kollege Rühe, ich bemühe mich, die Sachehier ernsthaft zu behandeln. Vielleicht dürfen Siedas Niveau Ihrer Zwischenrufe der Sache ein biß-
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Verheugenchen anpassen. Ich könnte dieses Thema wirklich auch anders abhandeln.Die auswärtige Kulturpolitik jedenfalls ist in unseren Augen ein Instrument der Begegnung zwischen den Völkern. Das unterscheidet sie von allen anderen Bereichen der auswärtigen Politik.
Auswärtige Politik ist sonst etwas, was auf der Ebene von, wenn es gutgeht, Staatsmännern, normalerweise aber Politikern stattfindet. Aber hier haben wir etwas, bei dem sich die Menschen begegnen. Das sollte bitte berücksichtigt werden. Subjektivität in der Wahrnehmung und auch in der Vermittlung von Kultur muß sein. Sie kann überhaupt nicht ausgeschlossen werden. Die Vorstellung, daß irgend jemand hier ein Kulturbild verordnet, das weitergegeben werden müßte, ist — ich sage es noch einmal — absurd.Ich glaube auch nicht, daß es dem CSU-Vorsitzenden in Wahrheit darum ging. In Wahrheit ging es ihm darum, die auswärtige Kulturpolitik als ein Instrument zu benutzen, mit dem er sein Unbehagen an der Außenpolitik insgesamt darlegen möchte. Aber die auswärtige Kulturpolitik ist uns als ein Knüppel in Koalitionsrempeleien und -rüpeleien zu schade.
Nun ist es sicherlich nicht die Aufgabe der Opposition, die Regierung vor ihren eigenen Freunden und — verzeihen Sie, Herr Genscher — den Erfinder der Wende vor seinem eifrigsten Nachahmer oder Nachbeter zu schützen. Das ist nicht unsere Aufgabe.Aber zwei Dinge möchte ich schon feststellen:Erstens. Es ist eine Angelegenheit von nationaler Bedeutung, wenn permanent die Außenpolitik eines Staates aus der Koalition heraus, die die Politik trägt, in Frage gestellt wird. Auswärtige Kulturpolitik ist j a nicht der erste Fall. Ich würde das nicht so furchtbar ernst nehmen. Wir hatten das ja schon bei Libyen, wir hatten das schon bei Grenada. Herr Genscher weiß sicher besser als ich, was er sonst noch alles falsch macht. Ich will da keine Ratschläge erteilen, aber wenn ich wollte, daß Herr Strauß mir zustimmt, dann würde ich öffentlich das Gegenteil dessen verlangen, was ich will. Dann kann ich sicher sein, daß Herr Strauß dieser Meinung ist.Wenn die Bundesregierung diese Außenpolitik betreiben würde, die Herr Strauß verlangt, wäre es ihm — da können Sie sicher sein — auch nicht recht. Auch das würde in München keine Gnade finden.Ich möchte zweitens darauf hinweisen, daß dort ohne jede Sachkenntnis auch das Problem der UNESCO behandelt worden ist. Es ist ungerecht und vollkommen falsch von Herrn Strauß, hier noch einmal die Forderung nach dem Austritt aus derUNESCO zu erheben und so zu tun, als wäre nichts geschehen.
Die Entscheidung, in der UNESCO zu bleiben, hat sich bewährt.
Lassen Sie mich zum Schluß die Kollegen der CSU fragen, warum sie im Unterausschuß für auswärtige Kulturpolitik die von ihrem Parteivorsitzenden geforderte Wende in der auswärtigen Kulturpolitik nicht gefordert haben, warum sie den Austritt aus der UNESCO nicht verlangt haben.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Geiger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich müssen wir der SPD sehr dankbar sein, daß sie diese Aktuelle Stunde zur auswärtigen Kulturpolitik beantragt hat, und zwar aus zwei Gründen. Erstens kommt auf diese Weise die auswärtige Kulturpolitik, die zu Unrecht ein Schattendasein führt, stärker ins Bewußtsein der Bürger und des Parlaments; zweitens wird die ganz ausgezeichnete Grundsatzrede des bayerischen Ministerpräsidenten zu den Zielen und Wegen der auswärtigen Kulturpolitik
breiten Kreisen bekannt. Das hat sie verdient, und das ist nützlich.
Die Stellung und das Ansehen der Bundesrepublik bei ihren europäischen Nachbarn und in der Welt hängen nicht ausschließlich vom politischen Gewicht unseres Landes ab, sondern nicht zuletzt davon, wie sich die Bundesrepublik als Kulturstaat präsentiert. Neben den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen Völkern sollte die auswärtige Kulturpolitik eine dritte Säule der Außenpolitik darstellen.
Aber trägt diese dritte Säule wirklich?
Franz Josef Strauß hat in seiner Rede den Standpunkt der CSU zur auswärtigen Kulturpolitik klar erläutert. Seine Ausführungen sind, wie er selbst sagte, weithin ein Katalog des Erreichbaren statt des Erreichten geworden, was nichts anderes heißt, als daß unsere auswärtige Kulturpolitik noch viel besser werden kann und muß.
Unserer Meinung nach brauchen wir auf einigen Sektoren eine Kurskorrektur. Denn die auswärtige Kulturpolitik soll in erster Linie für unser Land werben, sie soll das Interesse für uns in anderen Ländern wecken und Sympathie und Freundschaft schaffen. Leider wird aber in manchen Veranstal-
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Frau Geigertungen und Publikationen der Mittlerorganisationen ein verzerrtes Deutschlandbild präsentiert.
Es schadet unseren Interessen, wenn das Ausland den Eindruck erhält, als gäbe es in unserem Land eine wenig gefestigte Demokratie, die sich durch lautstarke Minderheiten darstellt.
Es gibt in unserem Land nicht nur Überdruß, Unzufriedenheit, Randgruppenprobleme und existentielle Ängste, unser Land ist — wenigstens nach meiner Meinung — zuallererst schön und liebenswert, und seine Bürger sind im allgemeinen friedlich und freundliche Menschen.
Wir müssen dem Ausland zeigen, daß wir eine lange Geschichte haben, die sich durchaus nicht auf die Geschehnisse des Dritten Reichs reduzieren läßt, daß wir über Jahrhunderte eine große humanistische Kultur gepflegt und Selbstachtung haben und ja zu unserem Land und zu unserem Staat sagen.Wie wir beim Hearing zur deutschen Sprache in der Welt diese Woche hören konnten, fordern auch die Deutschlehrer im Auslandsdienst positivere Lehrmaterialien. Sie berichteten uns auch, daß manche ihrer Schüler nach dem ersten Aufenthalt in der Bundesrepublik ganz erstaunt festgestellt haben, daß die Deutschen lachen können,
daß die Deutschen in Kneipen sitzen und daß sie sich in ihrem Land anscheinend wohlfühlen. Daß sie dies erst bei uns merken konnten, spricht gewiß nicht für die Lehrmittel.Apropos Deutschunterricht in den Goethe-Instituten: Wir wissen, daß in manchen Ländern Tausende Deutsch lernen wollen, aber mangels Kapazität nicht angenommen werden können. Hat man sich eigentlich schon einmal Gedanken über Umschichtungen im Haushalt gemacht? Nach meiner Meinung wäre es sinnvoll, weniger auf oft einseitige Kulturarbeit — z. B. bezweifle ich ganz stark, ob es sinnvoll ist, wenn General Bastian als einziger militärischer Sachverständiger ausgerechnet nach Bombay entsandt wird, um über Atomwaffen zu sprechen —
als vielmehr auf mehr qualifizierten Sprachunterricht zu setzen.Die auswärtige Kulturpolitik muß für uns zu einem unersetzlichen Botschafter des guten Willensfür unser Land im Ausland werden. Nutzen wir dieses Instrument optimal,
und beherzigen wir das, was der bayerische Ministerpräsident in seiner Grundsatzrede gesagt hat! Denn, Herr Duve, auch wenn es Ihnen nicht gefällt: Der Mann hat recht!
Das Wort hat der Abgeordnete Schlaga.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der „Münchner Merkur" leitete seinen Bericht über die Strauß-Rede mit der Wertung ein: „Ein brillant-profunder Vortrag". Ich war dabei. In Wirklichkeit war es eine öde 62-Seiten-Litanei
mit Sottisen wie dieser — Herr Genscher, Sie kennen das —: „Es ist höchste Zeit, die auswärtige Kulturpolitik in die Hände einer wirklichen politischen Führungskraft zu legen." Vielleicht äußern Sie sich dazu; das wäre doch ganz interessant.Die „Rundschau" kommentierte diese „profunde Rede" lapidar mit:Nur weil Strauß wieder einmal in seine Rolle verfällt, kann man den hinlänglich berüchtigten Kammerjäger von Ratten und Schmeißfliegen doch nicht mehr ernst nehmen.
— Wie wahr, Herr Duve. — Der Präsident des Goethe-Instituts bat Strauß, die Vorwürfe im Dialog auszutragen. Denn solche Vorwürfe kann man j a nicht einfach so stehenlassen.Aber natürlich kann man solche Vorwürfe so stehenlassen. „Niedriger hängen" hat das schon Friedrich der Große genannt Diese Rede ist für Strauß und die CSU so blamabel, daß sich das Goethe-Institut hüten sollte, den Kakao auch noch selber zu trinken, durch den Strauß es ziehen will.
Aber da ist noch der massive CSU-Parteidruck. Denn anders kann man sich das folgende ja überhaupt nicht erklären: Laut Satzung hat das GoetheInstitut neben 30 ordentlichen Mitgliedern auch je Fraktion des Deutschen Bundestages ein außerordentliches Mitglied.
— Ja. Die CSU wollte aber ein eigenes Mitglied haben, wie so oft schon. Und da sie dafür die Dreiviertelmehrheit nicht bekommen hätte und die SPD-Fraktion im übrigen gegen jede Satzungsän-
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Schlagaderung Verwahrung eingelegt hat, ging die CSU einen anderen Weg: den Weg des massiven Drucks.
Auf jeden Fall wollte sie ihren auf das Goethe-Institut dressierten Wadenbeißer Klaus Rose in die Mitgliederversammlung gewählt wissen. Das war's doch.
Und trotz heftiger Proteste wurde Herr Rose am 12. Juni gewählt. Herr Rose ist ein großer Sucher — gar keine Frage —, ein Sucher nach den falschen Zeitungen, nach den falschen Vorträgen, nach den falschen Plakaten und Büchern und Tonbändern in den Goethe-Instituten aller Erdteile.
Herr Rose ist der Haushaltsmann, der dem GoetheInstitut einen „neuen Wind" androhte. Und Herr Rose schrieb im „Bayernkurier": „Die Förderung der internationalen kulturellen Zusammenarbeit" — das ist das Ziel des Goethe-Instituts — „ähnelt mehr der Förderung einer internationalen subkulturellen Wühlarbeit."
Von diesen Roses gibt es noch viele.
— So ist es.Einen solchen miltanten Kulturpolitiker — oder gehört er auch zu einer besonderen Art von Schikkeria? —
holt man sich schwerlich freiwillig in die international renommierte Institution, die den Namen Goethes trägt, auch nicht in der Hoffnung, ihn damit einbinden zu können. Denn . dann müßten mindestens noch 30 bis 50 CDU- und CSU-MdB Mitglieder im Goethe-Institut werden.
— Von Ihnen, Herr Dr. Hornhues, würde ich das ja noch hinnehmen.
Schon im vorigen Jahr wurde, etwas unauffälliger, Professor Kreile, CSU-MdB und Mitglied des CSU-Präsidiums, Mitglied im Goethe-Institut.
Da auch der bayerische Kultusminister als einziger Kultusminister in der Bundesrepublik Mitglied im Institut ist und der Landesgruppenvorsitzende der CSU, Theo Waigel, massiv Einfluß auf die Personalpolitik im Institut zu nehmen trachtet, gehen wir davon aus, daß der auswärtigen Kulturpolitik eine krasse Wende bevorstehen soll. Es sind also nichtdie Hunderttausende von dankbaren Teilnehmern an den Veranstaltungen des Goethe-Instituts in aller Welt, die vor den Instituts-Leitern, den Lehrern und der Zentrale in München in Schutz genommen werden müßten, sondern es ist das Goethe-Institut selbst, das offensichtlich zunehmend unseres Schutzes vor kulturreaktionärem Einfluß der CSU und der Regierung bedarf. Helfen Sie uns dabei!
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Stercken.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, daß wir uns an diesem Morgen wenigstens noch über eines verständigen können.
Denn wenn Sie, verehrter Herr Duve, zu Recht anmahnen oder fordern, daß auch das Goethe-Institut ein Platz kritischen Dialogs sei, dann folgen wir Ihnen darin. Nur bitten wir Sie, den kritischen Dialog den Politiker nicht auszuschließen — was Sie hier laufend tun. Sonst würde ich jene, mit deren Meinung ich in einem Goethe-Institut nicht übereinzustimmen vermag, ähnlich qualifizieren, wie Sie hier einen Politiker qualifizieren, der einmal ein kritisches Wort zu diesen Dingen ausspricht — —
— Ja; nun gut; aber Sie kämpfen hier und an anderer Stelle für die Freiheit des Wortes. Warum sind Sie eigentlich nicht in der Lage, einem Parlamentarier gleiches angedeihen zu lassen? Warum hat er nicht das Recht, das kritisch zu sagen?
Ich möchte Ihnen deshalb an diesem Morgen vortragen, was aus unseren Kreisen zu den berühmten Staeck-Worten aus Bonn, an die wir uns noch alle erinnern, erklärt worden ist, was nun wirklich unser Ansatz, unsere Forderung ist.Was hat z. B. Herr Professor Mayer an Herrn von Bismarck geschrieben?Damit sind wir bei der Literatur. Es ist nicht nur selbstverständlich, es gehört geradezu zur Informationspflicht, daß man auch hier zuvörderst die Arrivierten, die großen Tiere traben läßt also alles — von Enzensberger, Böll, Grass, Handke, Lenz, Martin Walser —, was germanistisch auffällt und dissertationsverdächtig ist. Insofern keine Kritik an bisheriger Übung mit großen Namen. Schon fraglicher ist, ob man die braven Verbandstretgäule unserer Literatur —
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Dr. Sterckenich nenne aus Höflichkeit keine Namen — mit ähnlicher Emphase fördern soll.
Am meisten wundert mich — so schrieb er —daß gewisse Namen nie oder fast nie auftauchen, weil sie Einzelgänger sind, nicht in Seilschaften auftauchen
oder gar — wie schrecklich — in ihren politischen Meinungen mit der numerischen Mehrheit bei allgemeinen Wahlen konkordieren.Ich glaube, es ist doch ein Petitum,
daß — ich schließe mich solcher Auffassung vollends an, darüber muß doch diskutiert werden — —
Ich erlaube mir hier in der Replik auf das, was Herr Staeck mit seinem bekannten Intellektualistenkreis hier in Bonn vorgetragen hat, einmal in Erinnerung zu bringen und das vorzutragen, was wir dazu zu sagen hatten.
Ich habe damals an Herrn Harnischfeger aus diesem Anlaß geschrieben:Es kommt uns nicht darauf an, jetzt aus einer sozialliberalen Szenerie eine christlich-liberale Szenerie herzustellen. Es geht also nicht darum, Opportunismus zu wecken und die Verantwortlichen zu korrumpieren, sondern Einseitigkeiten in einem wie in anderem Sinne zu werten und das ganze Spektrum vorzuführen. Das muß auch unabhängig von den eigenen politischen Präferenzen möglich sein.Ich werde jetzt auch in einigen Diskussionen in der Öffentlichkeit deutlich markieren, daß es uns nicht um eine Korrektur einer linkslastigen Kulturpolitik zu einer rechtslastigen geht,
sondern um eine ausgewogene Darstellung des gesamten Angebots. Die Kunst steht weder links noch rechts, auch wenn einige Funktionäre das anders sehen. Der kritische Ansatz, den wir mit Recht suchen, beherrscht auch übrigens einen Teil der klassischen Literatur,
die wir deshalb in ihrer wie in unserer Zeit nicht als links empfinden müssen.
Ich nehme dies übrigens auch für mich selber in Anspruch, stelle aber mitnichten einen Alleinvertretungsanspruch. Herr Duve, das Pachten von Wahrheit habe ich immer als Gegensatz zu tolerantem demokratischen Denken empfunden.
— Nein, ich weiche damit nicht aus. Diese Dinge sind in voller Übereinstimmung. Das ist Ihr Bild, meine verehrten Damen und Herren, das Sie sich von uns machen.
Wenn das, was auch mich immer wieder bewegt hat, einmal zugegebenermaßen etwas drastischer dargestellt wird, meine Damen und Herren, dann kann ich Ihnen nur sagen: Korrigieren Sie zunächst einmal Ihr Bild, das Sie von unserem kulturellen Verständnis haben!
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Sofort, Herr Präsident.
Mein kulturelles Verständnis ist zum Beispiel, daß ich Ihnen, Herr Duve, zumute, mir mit gleicher Toleranz zuzuhören, wie ich das eben auch Ihnen gegenüber getan habe.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann mich den Dankesworten der CSU an die SPD anschließen, was die Abhaltung dieser Aktuellen Stunde angeht. Ich möchte in den Dank den Auslöser der Debatte einbeziehen, jedenfalls was die Auslösung der Debatte angeht.
Es kann der deutschen auswärtigen Kulturpolitik guttun, wenn man über sie diskutiert, wenn man dabei aber das beachtet, was — wie ich finde — Herr Verheugen zu Recht gesagt hat: daß sie ein empfindliches Instrument ist und daß Behutsamkeit im Umgang auch einer berechtigten Kritik sicher nicht ihre Würze nehmen muß.
Ich finde, daß die Unabhängigkeit des Goethe-Instituts ihm bessere Wirkungsmöglichkeiten gibt, alses der Fall wäre, wenn die gleichen Leistungen von
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17268 Deutscher Bundestag - 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
Bundesminister Genschereiner Einrichtung erbracht würden, die als ein verlängerter Arm der Regierung erschiene. Wir sollten deshalb auch nicht den Eindruck erwecken, als wollten wir diese Einrichtungen dazu machen.
Jeder in einem Goethe-Institut Tätige muß wissen, daß die Stellung des Instituts für ihn, für seine Verantwortung nicht weniger, sondern mehr bedeutet. Das gibt ihm eine größere Verantwortung, und das muß sich auch in Toleranz und Pluralität erweisen. Darüber kann man kräftig streiten. Ich fand das, was Sie, Herr Duve, über die Toleranz gesagt haben, an sich álles sehr nett. Aber, bitte, wenn Sie dann zitieren, daß Herr Strauß auf einen Mitarbeiter des Goethe-Instituts verwiesen hat, der Beachtliches über die Klassiker und ihre Verwendung in den Programmen gesagt hat, sollte man ihm doch nicht gleich das parteipolitische Plakat umhängen. Zur Toleranz und Pluralität in den Goethe-Instituten gehört der Abgeordnete Rose genauso wie Herr Ross als Mitarbeiter des Goethe-Instituts. Das geht j a in beide Richtungen.
Wenn wir von Pluralität reden, muß das auch hier heißen: im Zweifel für die Freiheit.
Kulturstaat im Sinne einer Staatszielbestimmung meint — wie das Bundesverfassungsgericht es ausgedrückt hat —, ein freiheitliches Kulturleben zu erhalten und zu fördern. Da wird viel mehr verlangt als ein kultureller Nachtwächterstaat, obwohl — wie man immer wieder feststellen kann — die Forderung, der Staat müsse sich als oberste Institution für das vermeintlich richtige Kulturverständnis betätigen, offenbar so unsterblich ist, wie es die kulturellen Leistungen der Großen unserer Kulturgeschichte sind. Für die auswärtige Kulturpolitik werden solche Forderungen auch erhoben. Da darf man niemanden ausgrenzen wollen.Hier ist interessanterweise der Auftritt von Herrn Bastian in einem Goethe-Institut erwähnt worden. Frau Kollegin, er war, dort nicht Redner des Goethe-Instituts, er war auf Einladung einer indischen Organisation in Indien
und hat an einer öffentlichen, allgemein zugänglichen Veranstaltung des Goethe-Instituts teilgenommen.
Ich denke, ich hätte den Leiter des Instituts kritisieren müssen, wenn er einem Abgeordneten des Deutschen Bundestages den Zugang zur Veranstaltung verweigert hätte.
Ich hätte ihn genauso kritisiert, wenn zur Darstellung der deutschen Sicherheitspolitik in einseitiger Weise eingeladen worden wäre. Ich verstünde es, wenn jemand Anstoß daran nähme, daß nur Vertreter einer Fraktion anwesend wären. Dabei würdeich die Einseitigkeit übrigens auch dann beklagen, wenn nur ein Abgeordneter der FDP eingeladen worden wäre.Ich denke, wir sind uns einig: Das vermittelte Deutschlandbild wäre einseitig, wenn es nur das Genehme oder Angenehme brächte. Daß es das Positive nicht ausparen darf, ist doch selbstverständlich. Aber was ist denn das Positive unseres kulturellen Lebens? Das ist doch gerade seine Pluralität,
d. h. wenn wir sie nicht mehr zeigten, verschwiegen wir sozusagen die Schokoládenseite der Bundesrepublik Deutschland. Das darf man doch dazu sagen.Was wichtig ist, ist, daß wir erkennen, daß das Auftreten von Literaten, von Künstlern, und zwar ihr ungehindertes Auftreten, immer eine Zierde für eine freiheitliche Demokratie und einen Kulturstaat ist.
Vielleicht pflügen sie auch tiefer, wenn es darum geht, das Bild eines neuen, eines demokratischen Deutschlands zu vermitteln, als es mancher von uns vermöchte. Es wird niemanden überraschen, wenn ich sage, daß es viele Fragen der aktuellen Politik gibt, in denen ich mit Heinrich Böll gänzlich unterschiedlicher Meinung war und mit Günter Grass bin, aber wenn sie nicht für uns auftreten würden, wenn sie ihre Meinungen nicht in den Goethe-Instituten äußern könnten, unsere auswärtige Kulturpolitik wäre ärmer,
wie unsere Kultur ohne sie ärmer wäre.
Das gehört also mit dazu.
Deshalb sollten wir uns darauf konzentrieren, festzustellen, ob es tatsächlich eine Verletzung des Grundsatzes der Toleranz gibt. Wenn ich einmal die Punkte der Kritik — auch der berechtigten — an Programmen der Goethe-Institute nehme und sie mit der großen Zahl von kulturellen Veranstaltungen, die die Goethe-Institute abhalten, vergleiche, finde ich, es sind herzlich wenige. Wer den kulturellen Teil einer Tageszeitung mit Berichten über das Kulturleben irgendeiner deutschen Großstadt liest, wird feststellen, daß dort viel mehr Kritik geübt wird und auch geübt werden kann als an der weltweiten Arbeit der Goethe-Institute. Nein, ich denke, daß das Goethe-Institut sachlich begleitende Kritik aber auch Unterstützung und Dank verdient.Nun möchte ich mich mit einer Bemerkung befassen, die der Herr Kollege Strauß in seiner Rede gemacht hat. Da heißt es:Zu welchen grotesken Verdrehungen und Verzerrungen des Deutschlandbildes eine solcheungewollte Arbeitsteilung bei den Adressaten
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986 17269
Bundesminister Genscherunserer auswärtigen Kulturpolitik führen muß, liegt auf der Hand. Die hellen und festlichen Farbtöne, mit denen die DDR ihr Land im Ausland malt, werden auf Dauer erfolgreicher sein als die düstere Götterdämmerungspalette der Bundesrepublik Deutschland. Da hilft es gar nichts, sich auf Aktualität und Objektivität zu berufen. Jeder kleine Sieg, den die DDR oder ein anderes Land des Ostblocks auf dem Parkett der auswärtigen Kulturpolitik erringt, ist auch ein kleiner außenpolitischer Sieg des kommunistischen Lagers.Meine Damen und Herren, im Wettbewerb der Wertordnungen ist unser stärkster Trumpf die Freiheitlichkeit und Pluralität unserer Ordnung,
und ich würde diesen Wettbewerb gerade suchen wollen.Am 28. August 1985 war im „Neuen Deutschland" ein Artikel aus einer sowjetischen Literaturzeitschrift mit der Überschrift „Die Leninsche Kulturkonzeption und die Gegenwart" abgedruckt. Darin wurde die wahrheitsgetreue Widerspiegelung des Lebens im Lichte der hohen Ideale gefordert.
Meine Damen und Herren, das wollen wir nicht!
Hier unterscheiden wir uns, und wir wissen aus den Diskussionen unter den Intellektuellen, die heute noch in der DDR sind, daß sie diesen Artikel als eine Bedrohung ihrer kleinen Freiheit betrachtet haben.
Ich denke, wir sollten immer ein Wort beherzigen, das Christa Wolf uns geschenkt hat. Sie hat nämlich gesagt — und das gilt für uns alle, ob wir als Künstler oder als Politiker tätig sind —: Laßt euch nicht von den Eigenen täuschen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Rose.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was ist in der letzten Woche in München wirklich passiert? Eigentlich gar nichts, außer daß zum erstenmal der bayerische Ministerpräsident in seiner Funktion als Ministerpräsident beim Goethe-Institut eingeladen war und dort gesprochen hat.
Es hatte vorher nie ein bayerischer Ministerpräsident, aber auch nie ein Oberbürgermeister der Stadt München beim Goethe-Institut sprechen dürfen.
Das zeigt doch, daß die Leute ein bißchen aufgeschreckt sind,
daß sie aus ihrer Inzucht-Perspektive ein bißchen hochgerissen wurden und daß sie sich jetzt mit Gedanken auseinandersetzen müssen, die endlich einmal — es war höchste Zeit — auch dort gesagt werden mußten.Meine Damen und Herren, was regt Sie denn dabei so sehr auf?
Auf der einen Seite werfen Sie allen vor,
daß man irgendwelchen Leuten oder auch Ihnen die Meinungsfreiheit nicht zubilligt. Auf der anderen Seite machen Sie aber denselben Fehler. Sie möchten z. B. dem Herrn Strauß einen Maulkorb umhängen;
er soll eben das, was er gesagt hat, nicht sagen dürfen. Natürlich wird er sagen, wie er sich die Politik vorstellt, genauso wie Sie das sagen werden.
Meine Damen und Herren, kommen wir doch zu dem, was Strauß wirklich gesagt hat, und nicht zu dem, was Sie aus den Zeitungen zitiert haben, die bekanntermaßen nicht das Richtige gebracht haben.
Strauß hat in seiner Rede vor den Leuten vom Goethe-Institut nicht pauschal verurteilt.
Er hat eine Reihe von Institutionen aus der Szene der auswärtigen Kulturpolitik ausdrücklich gelobt,
z. B. die Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Er hat auch das Goethe-Institut insgesamt positiv herausgestrichen. Sie brauchen sich bloß noch einmal die Seite 62 anzusehen.
Wenn Sie, meine Damen und Herren, also so tun, als wäre hier etwas Besonderes passiert, ein Rundumschlag, dann ist das einfach nicht wahr.
Sie täuschen sich, oder Sie verbreiten bewußt die Unwahrheit.
Ministerpräsident Strauß hat seine Gedanken von der auswärtigen Kulturpolitik ausgebreitet, und er hat dabei die Sorgen von vielen, vielen Bürgern, die an ihn herangebracht wurden, ernstgenommen und sie auch vertreten.
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17270 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
Dr. RoseAuch das wird man in der Politik tun dürfen, denn nicht bloß uns, sondern wahrscheinlich auch Ihnen werden immer wieder Briefe ins Haus kommen, daß das Goethe-Institut in verschiedenster Weise Gutes, aber auch Schlechtes macht. Er hat gesagt, daß die internationale Kulturschickeria nicht allgemeingültig ist. Ich glaube, da hat er doch wohl recht. Natürlich ist das nicht allgemeingültig, natürlich kann man auch hier streiten, ob der eine oder andere besser oder schlechter ist.Meine Damen und Herren, ich brauche diese Rede des Herrn Strauß nicht zu verteidigen; da braucht nichts verteidigt zu werden, denn das ist eine ganz wichtige Sache gewesen. Ich möchte vielmehr in der einen Minute, die mir bleibt, die Gemeinsamkeiten unserer auswärtigen Kulturpolitik herausstellen. Da werden wir uns doch nicht streiten, daß wir die 820 Millionen DM, die für auswärtige Kulturpolitik im Etat stehen, vernünftig verwenden müssen, daß wir mehr für die deutsche Sprache tun müssen und daß auch das Goethe-Institut aufgerufen ist, mehr dafür zu tun. Ich empfinde es als äußerst seltsam, daß z. B. das Goethe-Institut in Karatschi einfach mit der Behauptung, dort bestehe kein Interesse am Deutschunterricht, alle seine Aktionen auf Englisch macht. Der Deutschunterricht ist gestrichen. Im selben Land Pakistan, wo angeblich in Karatschi kein Interesse an Deutsch besteht, wird in Lahore immer mehr Deutschunterricht erteilt. Liegt es jetzt nicht an uns, dafür zu sorgen, daß die deutsche Sprache ein bißchen mehr gefördert wird? Sollte man dem Leiter eines Goethe-Instituts, der kein Interesse daran hat, nicht sagen, er müsse sich darum kümmern? Ich bin der Meinung, das sollten wir tun. Wir sollten auch das Deutschlandbild viel, viel breiter darstellen. Wir sollten mehr historische Tatsachen bringen und vieles andere mehr. Das ist eigentlich auch das gewesen, was Herr Strauß gesagt hat.Lassen Sie mich zum Schluß einen eigentlich sonst recht kritischen Journalisten zitieren, der hier aber bestimmt gut hineinpaßt. Er hat zum 70. Geburtstag von Herrn Strauß gesagt:Politiker und Journalisten mögen darüber streiten, ob die Republik von Bonn aus oder in München regiert wird. Die Persönlichkeit Franz Josef Strauß hat es nicht verdient, sie immer und immer wieder in das ebenso kleinkarierte wie intrigante Tagesgeschäft zu ziehen.
Das möchte ich Ihnen, Herr Duve, und Ihnen, Herr Rundum-Schlaga, auch einmal hinter die Ohren schreiben.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Martiny-Glotz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Rose, zunächst möchte ich Sie darauf hinweisen, daß Seite 62 genau vier Zeilen hat. In zweien wird das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland noch einmal angesprochen, und dann bedankt sich Herr Strauß für die Einladung.Womit wir es tatsächlich zu tun haben, das ist wieder einmal ein Störfall im Kraftwerk Strauß, wieder einmal das beachtliche Potential an spaltbarem Material, eingesetzt, um Keile zu treiben. Wieder einmal sind alle Sicherungen durchgebrannt. Was bleibt, ist die anhaltende Verseuchung des kulturellen Klimas, die uns die geistig-moralische Wende mal so richtig spüren läßt. Fragt sich nur, um ein bißchen zynisch zu werden, ob wir es bei der Halbwertzeit mehr mit Jod-131 oder mit Cäsium zu tun haben.
Der Mann, der die auswärtige Kulturpolitik „dringend in die Hände einer wirklichen politischen Führungskraft" gelegt wissen möchte, bekam an jenem Tag des Jahres 1984, als hier im Deutschen Bundestag die erste deutsche Kulturdebatte überhaupt stattfand, den höchsten Orden der Republik Südafrika verliehen. Der Mann, der den Goethe-Instituten vorwirft, sie seien ein Tummelfeld der Kultur- und Literaturschickeria, wurde von all meinen Gesprächspartnern, die ich 1979 auf der einzigen Reise, die ich für das Goethe-Institut nach Australien machen konnte
— ich sprach über Frauenpolitik —, als große Gefahr für die Demokratie in Deutschland empfunden. Er kandidierte nämlich als Bundeskanzler. Die Bürgerinnen und Bürger bei uns hielten aber nichts von der wirklichen politischen Führungskraft eines Franz Josef Strauß und wählten Helmut Schmidt. Die Australier konnten beruhigt sein.Meine Damen und Herren, gestern ist ein Brief veröffentlicht worden, in dem sich über 100 Künstler, von Axel von Ambesser bis Sonja Ziemann, bei der CSU und bei Franz Josef Strauß für die Leistungen im Freistaat Bayern für Kunst und Kultur bedanken. Ob sie nicht zur Kulturschickeria gehören: Alice und Ellen Kessler, René Kollo, Siegfried Lowitz, Hermann Prey, Ralph Siegel, Walter Sedlmayr, Elke Sommer und die anderen, die da unterschrieben haben? Jeder macht einmal eine Dummheit; aber haben sich die Herrschaften wirklich überlegt, ob sie sich mit ihrer Unterschrift nicht in die falsche Gesellschaft begeben,
nämlich in die der Münchner Kulturschickeria in der schönsten aller Medienwelten? Diese Münchner Kulturschickeria hat vor der letzten bayerischen Kommunalwahl so wunderbar kabarettistisch eins aufs Dach gekriegt, in den Kammerspielen immer ein volles Haus gehabt und schließlich Herrn Kiesl den Kopf gekostet. Die 100 bedanken sich für ein — ich zitiere — „Klima, in dem sich Kreativität frei entfalten könne". Ich will niemanden beleidigen, aber die Frage nach der Kreativität bei den Kessler-Zwillingen, Ralph Siegel und Sonja Ziemann
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986 17271
Frau Dr. Martiny-Glotzmuß erlaubt sein. Soll das unser Kulturangebot für die Selbstdarstellung im Ausland sein? Herr von Bismarck war schlecht beraten, das bramarbasierende Extemporiergenie aus der Staatskanzlei zum Gastredner zu machen. Er hätte wissen müssen: Das kann nur schiefgehen.Wir Sozialdemokraten stehen zur Arbeit der Goethe-Institute im Ausland; sie sind mit das Beste, was wir Deutschen zu verkaufen haben.
Wir Sozialdemokraten ertragen es auch, daß das Goethe-Institut Leute ins Ausland entsendet, die unsere Überzeugungen nicht teilen. Wieso tut sich eigentlich der Vorsitzende einer 60 %-Partei so schwer mit der Liberalitas Bavariae? Den Störfall Strauß bitte abschalten!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Daweke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte gern die Diskussion der letzten Stunde zusammenfassen. Die erste Frage, die sich wirklich stellt, hat Kollege Stercken soeben schon ausgesprochen. Wenn das Goethe-Institut ein Haus ist, in dem Spruch und Widerspruch und damit auch Kritik zur Tagesordnung gehören, weshalb soll dann das Goethe-Institut selbst sozusagen im kritikfreien Bereich existieren? Muß sich dieses Haus, in dem sehr viel emanzipatorische Pädagogik zu Hause ist, nicht selbst fragen lassen, ob es sich nicht auch selbst immer wieder neu zur Diskussion stellen muß?
Weiter möchte ich etwas zu dem Gejammer sagen, das exemplarisch vor allem durch Herrn Duve hier vorgetragen worden ist und das man gelegentlich jetzt auch in den Zeitungen lesen kann. Kann es nicht sein, daß Herr Strauß mit seiner Kritik auf Leute gestoßen ist, die — vielleicht in einer anderen Sprache, zugegeben — im Goethe-Institut selber existieren und die ein Stück seiner Kritik gelegentlich auch intern vortragen? Fühlen sich hier nicht Leute ertappt?
Das zweite ist: Haben wir hier nicht das GoetheInstitut sozusagen in seiner Introvertiertheit und in einem Stück seiner Selbstgefälligkeit ertappt, die besonders durch Herrn Harnischfeger jetzt wieder dokumentiert worden ist, der sagt: Das interessiert uns alles nicht, was hier an Kritik kommt, daraus werden wir überhaupt keine Konsequenzen ziehen, wir befassen uns damit nicht?
Ist hier nicht eine verfestigte Institution ertappt worden, wie sie sich selbstgefällig immer selbst beklatscht, und resultiert nicht auch daraus ein großes Stück von diesem Gejammere heute morgen?Der dritte Punkt, den ich erwähnen will, wurde durch Rolf Michaelis initiiert, der gestern in der „Zeit" sagte, die auswärtige Kulturpolitik sei eine der schönsten und zartesten Blüten unserer Kultur. Ich will dem nicht widersprechen. Ich will nur sagen: Wird hier nicht sozusagen auch mit diesem Bild ein Widerspruch deutlich, wenn man weiß, daß das Goethe-Institut nicht nur eine zarte Blüte, sondern daß es auch ein sehr robustes Haus mit B-Stellen, BAT-Stellen und Kündigungsschutz ist?
— Natürlich wollen sie die alle haben. Nur scheint es mir das Problem zu sein, daß eine solche Institution auch immer mit sich selbst kämpfen muß, nämlich mit der Trägheit, die ein solcher Apparat, wenn er sehr groß ist, auch mit sich bringt.Die Frage muß doch z. B. sein -- sie hat Herr Strauß nicht gestellt, aber ich will sie, vielleicht in seinem Sinne, hier nachtragen —, ob es denn dem Goethe-Institut nicht selbst zu denken gibt, daß es ihm nicht gelingt, Künstler, Schriftsteller, nicht als freischaffende, die durch die Welt reisen, sondern für die Tätigkeit im Goethe-Institut selbst zu gewinnen, was in anderen Ländern eine Tradition hat.
Es gibt auch Länder, die die Tradition haben, daß Schriftsteller Kultusminister werden. Aber wieso gelingt es nicht, solche Menschen zu gewinnen, die als deutsche Schriftsteller und Künstler für uns in die Welt hinausgehen, und zwar irgendwo auf Dauer fünf, sechs Jahre arbeiten und dann wieder in ihren eigentlichen Beruf, zu ihrer künstlerischen Tätigkeit, zurückkehren?
Noch eine letzte Bemerkung zum Deutschlandbild, das hier gelegentlich beklagt worden ist — auch Herr Genscher hat das getan —: Ich habe die Bemerkungen aus München so verstanden: Wenn die DDR Goethe, Schiller, die alten Ufa-Filme für sich reklamiert, sei zu fragen: Kommen wir nicht auf Dauer mit einer solchen aggressiven Kulturpolitik der DDR ins Hintertreffen, wenn wir uns auf Tagespolitik beziehen?
- Ich meine das so, daß die DDR diese Art von deutscher Kulturgeschichte für sich reklamiert. Wie Sie wissen, Herr Vogel — aber Sie wissen es vielleicht doch nicht —, reklamiert sie sogar Bismarck inzwischen für sich.
Und sie transportiert das auf eine Art und Weise, um die eigene Wirklichkeit heute zu übertünchen.
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17272 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
DawekeWenn es in diesem Sinne vielleicht Übereinstimmung zwischen uns geben könnte, sollten wir uns überlegen, ob nicht auch hier Konsequenzen für die Kulturpolitik der Bundesrepublik zu ziehen sind.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Satz kommt nicht mehr, Herr Ehmke, sondern ein anderer, weil ich glaube, daß es sehr wichtig ist, daß wir am Schluß einer sehr verkürzten und auch nicht vertiefenden Debatte uns doch noch einmal klarwerden, daß bei uns der Umgang zwischen politischer Macht und unseren geistigen Vertretern im In- und Ausland immer noch ein Problem ist.
Es ist seit Heinrich Heine, noch weiter zurück: seit Friedrich Schiller bis hin zu Heinrich Böll immer wieder dieselbe Dramaturgie: Der Umgang miteinander ist sehr schwierig, und wir finden keinen Weg, daß jeder die jeweils anderen Aufgaben und Einstellungen respektiert.
Ich habe mich nur gemeldet, weil ich mich an die Zeit der wilden innenpolitischen Auseinandersetzungen in Frankreich während des Algerien-Krieges erinnert habe, als die Intellektuellen in Frankreich sehr engagiert und mit ungeheurem Einsatz diesem schrecklichen Krieg ein Ende setzen wollten, man Charles de Gaulle aufforderte, endlich gegen Paul Sartre gerichtlich vorzugehen — es ist ein Parallelfall — und de Gaulle dann sagte: „Sartre c'est la France aussi." Ich glaube, diese Einstellung zu intellektuellen, kritischen Linken, gelegentlich am Rande des demokratischen Spektrums, zu respektablen Intellektuellen, sollte auch in Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Leitlinie unserer auswärtigen Kulturpolitik sein.
Das gehört auch zu dem Einsatz für die Bandbreite, von der Herr Genscher gesprochen hat.
Wenn Sie es nicht über sich bringen, nur weil Sie den einen oder anderen Schriftsteller nicht mögen, anzuerkennen, daß diese im Ausland unser kulturelles Ansehen geprägt haben, dann wäre das sehr bedauerlich; denn dann würden wir nach dieser Stunde wirklich einen Konsens zerstört haben, der lange Zeit tragfähig und auch fruchtbar war.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.Wir fahren in der Tagesordnung fort. Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Schwerbehindertengesetzes und des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Schwerbehindertengesetzes — Drucksachen 10/1731, 10/3138, 10/5673, 10/5678 — zu erweitern. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich rufe dann die soeben aufgesetzten Zusatztagesordnungspunkte 7 und 8 auf:7. Zweite und dritte Beratung des von der Frak-' tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Schwerbehindertengesetzes
— Drucksache 10/1731 —a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksachen 10/5673, 10/5701 —Berichterstatter:Abgeordnete Lohmann KirschnerFrau Dr. Adam-SchwaetzerBuebb) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 10/5678 —Berichterstatter:Abgeordnete Sieler StrubeDr. Weng
Dr. Müller
8. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Schwerbehindertengesetzes
— Drucksache 10/3138 —a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksachen 10/5673, 10/5701 —Berichterstatter:Abgeordnete Lohmann KirschnerFrau Dr. Adam-SchwaetzerBueb
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986 17273
Präsident Dr. Jenningerb) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 10/5678 —Berichterstatter:Abgeordnete Sieler StrubeDr. Weng
Dr. Müller
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen auf den Drucksachen 10/5680 bis 10/5687 und 10/5689 bis 10/5691 Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor.Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung dieser Zusatztagesordnungspunkte 60 Minuten vorgesehen. — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache.Das Wort hat der Abgeordnete Lohmann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft, kurz Schwerbehindertengesetz genannt, hat sich in seiner Grundkonzeption bewährt. Das sagen alle, das sagt auch der Gesetzentwurf der SPD. Mehr als eine Million haben Arbeit; 120 000 suchen noch einen Arbeitsplatz.Nun ist aber das Schwerbehindertengesetz ein wenig in die Jahre gekommen. Wir haben erheblich veränderte Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben andere wirtschaftliche Rahmenbedingungen als seinerzeit bei dem Inkrafttreten. Eine Anpassung ist erforderlich, um die Wirksamkeit des Instrumentariums zu erhalten und zu verbessern.Im Vordergrund der Bemühungen stand damals und steht heute, die Einstellungs- und Beschäftigungschancen der Schwerbehinderten auf dem Arbeits- und Ausbildungsstellenmarkt zu erhöhen. Wir können zwar mit Freude feststellen, daß auch jetzt schon Erfolge auf diesem Sektor nicht zu übersehen sind. Im Mai dieses Jahres hat die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten noch einmal deutlich abgenommen. Es sind jetzt nur noch rund 120 000, die einen Arbeitsplatz suchen.Um diese Menschen geht es in ganz besonderem Maße, meine Damen und Herren. Die CDU/CSU-Fraktion ist der festen Überzeugung: Durch die Novellierung des Schwerbehindertengesetzes wird eine wesentliche weitere Voraussetzung für die dringend notwendige Verringerung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter geschaffen.Ich sage es noch einmal: Ziel ist, die Einstellungs- und Beschäftigungschancen der Schwerbehinderten zu verbessern. Nach unserer Auffassung kommt man diesem Ziel näher, wenn man sich erstens um die Beseitigung beschäftigungs- und ausbildungshemmender Vorschriften bemüht, zweitens die Einstellung und Beschäftigung Schwerbehinderter verstärkt fördert und drittens auch die Rechtsstellung des Vertrauensmannes und seines Stellvertreters verstärkt.Meine Damen und Herren, der Begriff „Minderung der Erwerbsfähigkeit" war mißverständlich und einstellungshemmend. Er suggerierte dem Arbeitgeber einen Menschen, dessen Erwerbsfähigkeit in Zweifel steht, obwohl einem großen Teil der Schwerbehinderten damit Unrecht getan wurde. Hier ist es von großer — auch psychologischer — Bedeutung, daß wir nunmehr vom „Grad der Behinderung" sprechen. Es war ausbildungshemmend, daß die Ausbildungsverhältnisse bei der Berechnung der Mindestzahl von 16 Beschäftigten und der Zahl der zu beschäftigenden Schwerbehinderten mitzählten. Wir haben dieses Hemmnis beseitigt, allerdings zugleich auch eine zeitliche Befristung eingeführt, weil wir der Meinung sind, daß dieses Problem bis 1989 nicht mehr von so großer Bedeutung sein wird.Meine Damen und Herren, wir sind der Auffassung, daß der Abbau der beschäftigungshemmenden Vorschriften zusammen mit der Erhöhung der Ausgleichsabgabe die Arbeitgeber dazu veranlassen wird, mehr Schwerbehinderte einzustellen.
Es werden, ohne die sozialen Schutzrechte der Schwerbehinderten in ihrem Kern anzutasten, Zugangsbarrieren gesenkt, die manchen Arbeitgeber bisher davon abgehalten haben, Schwerbehinderte einzustellen.Nun wird die Opposition gleich wieder behaupten, wir hätten Rentnern, Kriegsopfern, Kranken, Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und Schwerbehinderten Daueropfer auferlegt
und fügten mit einem solchen Gesetz nun einen weiteren Mosaikstein in diese Entwicklung.Es mußten von allen Opfern gebracht werden. Das ist wahr.
Aber während Helmut Schmidt, Herr Glombig, vor der Wahl z. B. von „Problemchen" bei der Rente gesprochen hat und hinterher die Renten gekürzt hat,
hat die Bundesregierung unter Helmut Kohl vorder Wahl gesagt, daß auf alle Opfer zukommen, um
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17274 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
Lohmann
den Scherbenhaufen zu beseitigen, den Sie hinterlassen hatten.
Wenn das, was zu anderen Zeiten als Schutzrecht angesehen und geplant war, sich inzwischen als Schutzzaun gegen diejenigen herausstellt, die draußen stehen,
dann muß darüber nachgedacht werden, wie man denen helfen kann, die draußen stehen.
Frau Fuchs, ich meine, das Schwerbehindertenthema eignet sich nun wirklich nicht dazu,
parteipolitische billige Polemik in den Raum zu bringen.
Dazu sollten uns die Schwerbehinderten wirklich zu schade sein.Meine Damen und Herren, die Nichtberücksichtigung von Ausbildungsplätzen bei der Berechnung der Mindestzahl von 16 Arbeitsplätzen und der Zahl der zu beschäftigenden Schwerbehinderten wird befristet. Das ist eine Änderung, die in den Ausschußberatungen verabredet und beschlossen worden ist. Der zur Zeit am Arbeitsmarkt herrschende Engpaß macht es zwar erforderlich, die von Arbeitgebern für die Einstellung von Lehrlingen als hemmend empfundene Berücksichtigung von Ausbildungsplätzen auszusetzen, aber ich sagte eben, wir gehen davon aus, daß sich die Lage in relativ kurzer Zeit deutlich entspannen wird, so daß eine Dauerregelung nach unserer Auffassung nicht erforderlich war.Zur Frage des Kündigungsschutzes hat es zwischen den Koalitionsfraktionen und der Opposition lange und kontroverse Auseinandersetzungen gegeben. Es sind sogar Ausdrücke wie „heuern und feuern" gefallen.
In der Sache hat diese Kritik keine Substanz! Mancher Arbeitgeber hat nun einmal von der Einstellung Schwerbehinderter Abstand genommen, da tariflich eine kurze Probezeit vorgesehen ist und gleich im Anschluß daran der besondere Kündigungsschutz nach geltendem Recht beginnt. Die Chance, daß ein Arbeitsverhältnis auch langfristig Bestand hat, ist in den Fällen wesentlich größer, in denen ein Arbeitgeber über längere Zeit hinweg schwerbehinderte Arbeitnehmer für eine bestimmte Aufgabe erproben kann. Auch befristete Arbeitsverhältnisse wirken in die gleiche Richtung. Sie bieten nämlich häufig die Chance auf eine Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis.Selbst ein befristetes Arbeitsverhältnis ist allemal besser, als unbefristet arbeitslos zu sein.
Meine Damen und Herren, auch die Höhe der Anhebung der Ausgleichsabgabe war ein Streitpunkt. Nach Auffassung der Opposition reicht die Erhöhung bei weitem nicht aus. Das kann nun wirklich nicht aufrechterhalten werden. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Erhöhung von 50 % ist angemessen und lehnt sich an die Entwicklung der Bruttoeinkommen an. Schließlich darf die Erhöhung nicht zu einer Strafsteuer werden. Keiner darf das wollen. Wir wollen vielmehr für die Einstellung von Schwerbehinderten etwas tun.Alles in allem ist diese Novelle eine wirkliche Verbesserung des Schwerbehindertengesetzes.
Sie wird dazu beitragen, weiter Vorurteile abzubauen, die tatsächliche Leistungsfähigkeit und Motivation Schwerbehinderter besser zur Geltung zu bringen und einen weiteren Beitrag dazu zu leisten, daß immer mehr Arbeitgeber, die beschäftigungspflichtig sind, diese Pflicht auch voll erfüllen. Dies richtet sich gegen niemanden, nimmt niemandem irgendwelche Rechte, sondern es dient allein den Schwerbehinderten, für die dieses Gesetz gemacht wird.Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung.
Das Wort hat der Abgeordnete Glombig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von den wenigen Reden, Herr Kollege Lohmann, die ich von Ihnen im Plenum gehört habe, war dies ganz bestimmt die schlechteste.
Dies sage ich nicht deswegen, weil ich mich der gleichen zynischen Mittel bedienen möchte, deren sich Herr Kollege Lohmann bedient hat, der ja ganz schlicht von einem Schutzzaun für Schwerbehinderte gesprochen hat. Hoffentlich ist ihm klar, was dies als Aussage eines Vertreters der CDU/CSU-Bundestagsfraktion bedeutet. Es ist auf jeden Fall auch die politische Aussage eines Arbeitgebervertreters, Herr Lohmann.
Dies muß man nun einmal mit aller Deutlichkeit sagen. Die CDU/CSU, die j a für sich — vor allem durch Herrn Bundesarbeitsminister Blüm — in Anspruch nimmt, besonders sozial zu sein, entlarvt sich ja immer wieder mit solchen Feststellungen. Wir sollten keine Gelegenheit vorbeigehen lassen, dies dann auch entsprechend anzuprangern.Im übrigen, Herr Lohmann, will ich Sie auch gar nicht enttäuschen, weil ich glaube, daß immer wiederholt werden muß — ich wiederhole es auch heute —, daß nämlich diese Bundesregierung in
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986 17275
Glombignun bald vier Jahren den Sozialabbau flächendekkend betrieben hat.
Ich wiederhole weiter, und zwar ganz präzise — das ist nicht falsch; ich beweise es Ihnen gleich —: Arbeitnehmern, Arbeitslosen, BAföG-Empfängern, Behinderten — über sie reden wir heute —, Kranken und Kriegsopfern — auch über sie reden wir heute —, Mietern, Rentnern, Sozialhilfeempfängern und Wohngeldbeziehern wurden und werden — das ist doch nicht, auch nicht von Ihnen, zu bestreiten — massive Daueropfer
— das ist auch kein Stuß, ganz abgesehen davon, daß das nach meinen Begriffen vielleicht auch unparlamentarisch sein könnte — abverlangt, ob es Ihnen gefällt, Herr Jagoda, oder nicht.
— Nein, ich trage es nicht falsch vor. Wir haben es oft genug bewiesen, und ich werde es auch heute wieder beweisen. Wir beweisen gleichzeitig, daß den Starken in dieser Gesellschaft — ob es Ihnen gefällt oder nicht — dagegen Vorteile verschafft worden sind, und zwar ganz massive Vorteile.Ich behaupte immer wieder: Das war und das ist Umverteilung von unten nach oben.
— Ich finde, darüber darf man nicht lachen; darüber könnte man weinen.
Der Abbau der Arbeitnehmerrechte war der Wende zweiter Teil. Der notwendige Gesundheits- und Gefahrenschutz Jugendlicher im Jugendarbeitsschutzgesetz wurde abgebaut,
der Kündigungsschutz infolge der beinahe schrankenlosen Zulassung befristeter Arbeitsverträge durch das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz eingeschränkt. Auch dies ist nachweisbar. Sie freuen sich auch darüber, nicht? Übrigens, wenn ich Sie sehe, freue ich mich auch besonders.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Pöppl?
Ich möchte bald zum Ende kommen, Herr Pöppl.
Sie werden hoffentlich noch Gelegenheit haben, Ihre Rede abzusondern.Damit ist der besondere Kündigungsschutz der Behinderten, der Schwangeren und der Wehrdienstleistenden unterlaufen worden. Auch das ist zu beweisen. Der Anschlag auf die Streikfähigkeit der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften, nämlich die Änderung des § 116 Arbeitsförderungsgesetz — —
— Übrigens: Bei Ihnen ist alles, was eine Verschlechterung ist, eine Verbesserung. Das ist das Interessante.
Das heißt, Sie und Ihr Minister machen aus jedem Exkrement sozialpolitischer Art Gold.
Ich wollte sagen, daß der Anschlag auf die Streikfähigkeit der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften — auch das wiederhole ich immer wieder —, also die Änderung des § 116 Arbeitsförderungsgesetz, der bisherige Höhepunkt der Wendepolitik war.
— Ich spreche zu dem Thema, um das es heute geht: Abbau von Arbeitnehmerrechten und dabei Abbau auch der Arbeitnehmerrechte von Schwerbehinderten,
denn Sie haben doch auch darüber gesprochen. Damit ist aber noch lange kein Schlußpunkt erreicht, denn die Konservativen, nämlich Sie, und die Wirtschaftsliberalen wollen immer mehr sozialen Abbau, koste es die Arbeitnehmer, was es wolle.
— Sie glauben doch wohl selbst nicht an Ihre Märchen, was!
— Was hat denn die Neue Heimat mit den Schwerbehinderten zu tun?Die Arbeitgeber wie Sie, Herr Lohmann, machen dazu in vielen Fällen die Vorschläge. Erst jüngst haben der Zentralverband des Deutschen Handwerks und der Bundesverband der Deutschen Industrie weitere Schritte der Wende angemahnt. Man kann davon ausgehen, daß diese Bundesregierung, vor allem Bundesarbeitsminister Blüm, die Forderungen der Arbeitgeber weiter erfüllen wird; so wie sie es bisher schon Schritt für Schritt und Punkt für Punkt getan hat.Das schließt nicht aus, daß kurzzeitig taktische Varianten geboten werden. Es ist doch kein Zufall, meine Damen und Herren, daß über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verschlechterung des Schwerbehindertengesetzes — hier möchte ich die Geschäftsführung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, besonders Herrn Seiters, der mich hier immer als Bremser oder Blockierer bezeichnet, bitten zuzuhören —
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17276 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
Glombignicht vor, sondern unmittelbar nach der Niedersachsenwahl im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung abgestimmt wurde.
Das liegt ja nun nicht an der Opposition; dies liegt daran, daß sich die Koalition jahrelang nicht einigen konnte und erst in letzter Minute immer wieder eine große Zahl von Änderungsanträgen nachgeschoben hat. Das ist die Tatsache.
Das ist Verschleierung der Wendepolitik vor Wahlterminen,- weiter nichts. Diese Methode wird fortgesetzt werden bis zur Wahl zum 11. Deutschen Bundestag.Klar ist: Die konservativ-rechtsliberale Koalition wird ihre Politik gegen die Arbeitnehmer fortsetzen.
— Das ist natürlich sehr schade. Aber ich muß schon sagen: Er wird uns beweisen, daß die Thesen, die ich eben aufgestellt habe, stimmen; denn gerade er ist der Garant für diese Entwicklung.
Jetzt wird lediglich das Tempo variiert, und einiges wird für einige Monate zurückgestellt. Beispielsweise der schändliche Gesetzentwurf zur Spaltung der betrieblichen Interessenvertretung der Arbeitnehmer und das sogenannte Arbeitszeitgesetz, aber auch die Bestimmungen über Einführung von Karenztagen bei der Lohnfortzahlung
werden die Wendestrategen bis zur Bundestagswahl unter der Decke halten. Davon bin ich überzeugt. Aber sollten Sie wieder ans Ruder kommen, dann werden wir mit diesen „wunderbaren" Gesetzesvorlagen zum Nachteil der Arbeitnehmer rechnen müssen.
Wir haben der unsozialen Wendepolitik dieser Bundesregierung konkrete positive Alternativen entgegengesetzt. Wir haben bereits vor zwei Jahren einen Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Schwerbehindertenrechts im Deutschen Bundestag eingebracht. Wir sind mit den Schwerbehinderten, mit den Verbänden der Behinderten und den Gewerkschaften der Meinung, daß das Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft von 1974 sich grundsätzlich bewährt hat. Da will ich Ihnen nicht widersprechen, Herr Lohmann.
— Einer der ganz wenigen Fälle, das ist wahr.Aber, meine Damen und Herren, dieses Gesetz muß fortentwickelt und nicht rückentwickelt werden, wie Sie es jetzt hier versuchen,
um insbesondere die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter wirksam zu bekämpfen; denn mit Ihrer Vorlage können Sie die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter nicht bekämpfen.
Ende 1974 waren 15 000 arbeitslose Schwerbehinderte bei den Arbeitsämtern gemeldet. Heute sind es nahezu 124 000.
— 1982 waren es nicht unwesentlich mehr als heute.
— Ich sage: nicht unwesentlich mehr.
— Damals waren die wirtschaftlichen Verhältnisse vielleicht noch etwas anders als heute.
— Sie rühmen sich doch, meine Damen und Herren, daß Sie den Wirtschaftsaufschwung betrieben haben. Nun will ich Ihnen einmal sagen, wie wenig die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter abgenommen hat. Sie hat seit 1982 nur um ca. 10 000 bis 15 000 abgenommen.
Schwerbehinderte sind überdurchschnittlich lang arbeitslos, und zwar heute mehr als im Jahre 1982. Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter ist allein von 1984 auf 1985 von 17,9 auf 20,2 Monate gestiegen. Für alle anderen Arbeitslosen ist sie von 10,5 auf 11,6 Monate gestiegen. Ich glaube, auch dies ist ein besonderes Indiz für die schwierige Lage der arbeitslosen Schwerbehinderten.Der Gesetzgeber muß aus der Entwicklung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter endlich Konsequenzen ziehen, und die werden mit Ihrem Gesetzentwurf nicht gezogen. Deshalb fordern wir mit unserem Gesetzentwurf:Erstens. Die Ausgleichsabgabe muß, solange es bei der steuerlichen Absetzbarkeit der Ausgleichsabgabe als Betriebsausgabe bleibt, für jeden nicht besetzten Pflichtplatz auf 400 DM im Monat erhöht werden, um ihre Antriebs- und Ausgleichsfunktion sicherzustellen. Tatsache ist doch, daß Arbeitgeber, die Schwerbehinderte nicht beschäftigen, ungerechtfertigte Vorteile haben, die beseitigt werden müssen. Um die Antriebs- und Ausgleichsfunktion auf Dauer sicherzustellen, muß die Ausgleichsabgabe ferner alle drei Jahre an die wirtschaftliche Entwicklung angepaßt werden.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986 17277
GlombigZweitens. Statt Sonderprogramme des Bundes und der Länder zur verstärkten Bereitstellung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen für Schwerbehinderte muß eine Dauerlösung im Gesetz selbst erfolgen. Wenn über die Pflichtquote hinaus Schwerbehinderte beschäftigt werden, sollten nach unserer Auffassung befristete Eingliederungshilfen geleistet werden. Zur Eingliederung Schwerstbehinderter und älterer Schwerbehinderter müssen weitere Hilfen geleistet werden.Über die Beschäftigung Schwerbehinderter im Bundesdienst wird nach einem Beschluß des Deutschen Bundestages seit mehr als 30 Jahren öffentlich Rechenschaft abgelegt. Keiner kann bestreiten, meine Damen und Herren, daß sich dieses Verfahren bewährt hat. Deshalb muß die Berichtspflicht für den gesamten öffentlichen Dienst nach unserer Auffassung im Gesetz verankert werden, damit vor allem die Parlamente in den Ländern, Kreisen und Kommunen ebenfalls ständig über die Beschäftigung Schwerbehinderter in ihren Verwaltungen unterrichtet sind. Das ist die Voraussetzung für eine wirksame Kontrolle. In die Berichtspflicht der Bundesanstalt für Arbeit sollen nach unserer Auffassung auch die privaten Arbeitgeber einbezogen werden, um die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften besser kontrollieren zu können.Drittens. Die Förderung schwerbehinderter Auszubildender muß verbessert werden. Auch das ist ein Beitrag, um der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter entgegenzuwirken. Wir haben entsprechende Vorschläge erarbeitet. Die Leistungsfähigkeit der Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke ist nach unserer Auffassung zufriedenstellend. Erhebliche Defizite gibt es aber bei der beruflichen Bildung in den Betrieben. Der öffentliche Dienst und die Unternehmen nehmen diese Pflicht nicht ausreichend wahr, meine Damen und Herren, nicht nur hinsichtlich der Erstausbildung, sondern auch in den Bereichen Fortbildung und Umschulung. Die berufliche Bildung Schwerbehinderter in den Betrieben ist aber wichtig für den Übergang vom Ausbildungs- in das Beschäftigungssystem.Viertens. Die Arbeit der Vertrauensmänner und Vertrauensfrauen der Schwerbehinderten und ihrer Stellvertreter muß erleichtert werden. Wenn mindestens 200 Schwerbehinderte zu betreuen sind, müssen der Vertrauensmann und die Vertrauensfrau auf ihren Antrag hin ohne Minderung des Arbeitsentgelts oder der Dienstbezüge von der beruflichen Tätigkeit freigestellt werden können. Auch den Stellvertretern muß das Recht eingeräumt werden, an Schulungsveranstaltungen teilnehmen zu können. Die Rechtsstellung des Stellvertreters muß grundsätzlich verbessert werden; denn die bisherige Regelung hat sich in der Praxis als nicht ausreichend erwiesen.Fünftens. Das Recht der unentgeldlichen Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr muß weitestgehend wieder auf den Rechtszustand vor dem 1. Januar 1984 gebracht werden. Die mit dem Gesetz vom 22. Dezember 1983 vorgenommenen Einschränkungen — Einschränkungen, die Sie bestreiten — haben, auch wennman die zwischenzeitlich unter dem Druck der Landtagswahlen des Jahres 1985 vorgenommenen Reparaturen berücksichtigt,
den ursprünglichen Zweck des Gesetzes, nämlich die unentgeltliche Beförderung, in einer für die Mehrzahl der Betroffenen unzumutbaren Weise ausgehöhlt. Sie widersprechen heute dem 1979 von allen Fraktionen erklärten Ziel einer Weiterentwicklung der Freifahrtregelung für Schwerbehinderte im Sinne des Finalitätsprinzips; die Verschlechterungen müssen rückgängig gemacht werden.
— Sie nennen das Geldverplemperung. Das ist typisch für Sie. Das deckt sich mit der Aussage des Herrn Lohmann hinsichtlich des Schutzzaunes für die Schwerbehinderten.
Sechstens. Ein besonders mieses Beispiel der Wendepolitik, Herr Jagoda, nämlich die Kürzung der Rentenansprüche von Behinderten in Werkstätten, muß rückgängig gemacht werden.
Sonst sind die Betroffenen nicht mehr in der Lage, sich einen ausreichenden eigenen Rentenanspruch aufzubauen, und werden damit samt ihren Familien in die Abhängigkeit von den Sozialhilfeträgern zurückgestoßen.Deshalb sagen wir: Die Bemessungsgrundlage für die Rentenversicherungsbeiträge der nach dem Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter in geschützten Einrichtungen versicherten Behinderten muß sofort wieder auf die frühere Höhe von 90 v. H. des durchschnittlichen Arbeitsentgelts aller Versicherten der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten angehoben werden, um das andernfalls zu erwartende Absinken der späteren Rentenansprüche dieser Behinderten unter das Sozialhilfeniveau zu verhindern und langfristig vermeidbare Belastungen von Sozialhilfeträgern und der zum Unterhalt der Behinderten verpflichteten Familien abzuwenden.Die Bundesregierung verfolgt mit ihrem Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Schwerbehindertengesetzes — die Numerierung läßt darauf schließen, daß weitere Verschlechterungen des Schwerbehindertenrechts geplant sind — eine völlig andere Konzeption, Herr Lohmann.
Die Saat der realitätsfremden Polemik ist bei Ihnen aufgegangen. Der Bundesarbeitsminister hat das Gerede über das sogenannte Behindertenunwesen ernstgenommen und spricht selber davon, daß man sich um die wirklich Behinderten kümmern müsse. Das heißt doch im Klartext nicht mehr und nicht
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Glombigweniger, als daß er einem großen Teil der Behinderten die Rechte beschneiden will, und zwar über das hinaus, was er den Behinderten in den letzten Jahren schon zugemutet und angetan hat.
Die Bundesregierung will einfach nicht zur Kenntnis nehmen, daß mehr als drei Viertel aller Arbeitgeber die Pflicht zur Beschäftigung Schwerbehinderter nicht oder nicht voll erfüllt.
Sie will nicht zur Kenntnis nehmen, Herr Jagoda, daß die Arbeitslosenquote Schwerbehinderter überdurchschnittlich hoch ist — das ist j a nach wie vor der Fall - und daß die Dauer der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter überdurchschnittlich lang ist; auch das ist wohl nicht zu bestreiten.Die Bundesregierung schwadroniert über angebliche Erfolge in der Beschäftigungspolitik. Sie hantiert laufend mit Zahlen, die falsch sind. Nach vier Jahren konjunktureller Erholung ist die Zahl der Beschäftigten heute nur unwesentlich höher als 1982. Und die Bundesregierung verschweigt, daß die Beschäftigung Schwerbehinderter in den letzten Jahren laufend zurückgegangen ist: von 921 000 im Oktober 1982 auf 824 000 im Oktober 1984. Neuere Zahlen liegen nicht vor. Ich kann mich nur auf diese Zahlen stützen. Aber ich glaube, die sprechen Bände. Die Bundesregierung will die Wahrheit nicht eingestehen. Deshalb entbehrt es auch nicht einer gewissen Logik, daß sich die Bundesregierung weigert, die richtigen Konsequenzen zu ziehen.Der Bundesarbeitsminister nimmt an den Anhörungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung generell nicht teil. Er könnte es, wenn er wollte.
Vielleicht ist das eine Erklärung für seinen zunehmenden Realitätsverlust.
Hätte der Bundesarbeitsminister an der Anhörung des Ausschusses zu dem Gesetzentwurf Weiterentwicklung des Schwerbehindertengesetzes der SPD-Fraktion teilgenommen, so hätte er feststellen können und müssen, daß alle Sachverständigen mit Ausnahme der Arbeitgeber, Herr Lohmann, für unseren Gesetzentwurf und nicht für den der Bundesregierung eintraten und den Regierungsentwurf klipp und klar ablehnten.Die Arbeitgeber wollen sich von Pflichten, die selbstverständlich sein sollten, entlasten. Der Bundesarbeitsminister ist dafür, meine ich, der willfährige Erfüllungsgehilfe. Das haben wir in den letzten vier Jahren immer wieder auch bei anderer Gelegenheit erlebt.
Die Bundesregierung will die Ausgleichsabgabe auf jeden nicht besetzten SchwerbehindertenPflichtplatz um nur 50 auf 150 monatlich erhöhen,
obwohl eine Verdoppelung lediglich der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten zwölf Jahre Rechnung trüge.
— Herr Lohmann, hören Sie mal zu,
damit Sie auch für die kommende Gesetzgebung im Rest der Legislaturperiode lernen, wie die Betroffenen selber und diejenigen, die den Betroffenen näher stehen als Sie, über diesen Vorgang denken.
Eine Verdoppelung auf 200 DM Ausgleichsabgabe wäre das Minimum, um die Antriebs- und Ausgleichsfunktion der Ausgleichsabgabe zu sichern und den faktischen Zustand von 1974 wieder herzustellen. Wenn es allerdings aus steuersystematischen Gründen nicht möglich ist, die steuerliche Absetzbarkeit der Ausgleichsabgabe als Betriebsausgabe zu beseitigen — das wäre notwendig, um alle Arbeitgeber, auch diejenigen, die Schwerbehinderte trotz der Beschäftigungspflicht nicht beschäftigen, gleichmäßig in die Pflicht zu nehmen —, muß die Ausgleichsabgabe wesentlich stärker als auf 150 oder 200 DM erhöht werden. Deshalb haben wir in unserem Gesetzentwurf einen Betrag von 400 DM vorgesehen.Während der Beratung ist auch klargeworden, daß eine Dynamisierung der Ausgleichsabgabe erforderlich ist, um eine Entwertung schon in naher Zukunft auszuschließen.Die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP zeigten sich allerdings in beiden Punkten, die ich hier eben behandelt habe, völlig uneinsichtig und haben unsere Vorschläge und unsere konkreten Anträge rigoros niedergestimmt.Die SPD lehnt die Nichtberücksichtigung von Ausbildungsplätzen bei der Berechnung der Pflichtquote entschieden ab, weil damit rund gerechnet 70 000 beschützte Plätze verlorengehen — Ihre Rechenkunststücke werden daran nichts ändern —, die Arbeitgeber sich entsprechend entlasten und eine Zunahme der Ausbildungsplätze für Schwerbehinderte gleichzeitig verhindert wird. Die Befristung dieser Vorschrift löst das Problem der Arbeitslosigkeit Behinderter von heute und von morgen nicht.Man hätte es abmildern können, wenn man die Nichtanrechnung von Ausbildungsplätzen auf kleine und mittlere Betriebe beschränkt hätte, so
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Glombigwie es der Bildungsausschuß dankenswerterweise einvernehmlich vorgeschlagen hat. Dieser Kompromiß ist von den Koalitionsfraktionen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung abgelehnt worden.
Herr Abgeordneter, darf ich Sie daran erinnern, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich komme dann zum Schluß. Ich will aber vorher noch sagen, daß der Abbau des Kündigungsschutzes für Schwerbehinderte in den ersten sechs Monaten von uns ebenfalls abgelehnt wird und auch weiterhin der Ablehnung durch uns verfällt, weil dies ein Rückschritt, ein Abbau des Schwerbehindertenschutzes ist.
Ich möchte zum Schluß sagen, daß es bei den Beratungen im Ausschuß in der Sache — das ist nicht zu bestreiten — auch Übereinstimmung gegeben hat,
aber mehr noch eine Vielzahl von fundamentalen Kontroversen.
Insgesamt können wir dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht zustimmen, es sei denn, unsere Änderungsanträge werden vom Plenum angenommen. Das von den Koalitionsfraktionen präsentierte „Friedensangebot", nämlich die Streichung zweier schlimmer Punkte des Gesetzentwurfes der Bundesregierung — —
Herr Abgeordneter, kommen Sie bitte zum Schluß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
— — die zeitliche Anrechnung der Maßnahmen zur Rehabiliation auf den Zusatzurlaub und zur Überprüfung aller alten Anerkennungsbescheide, reicht nicht aus. Wir werden deshalb den Gesetzentwurf, weil er vor allem Verschlechterungen bringt, ablehnen.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege Glombig, sind Ihnen jetzt schon die Argumente aus der Realität ausgegangen, daß Sie zu Phantomargumenten Zuflucht nehmen müssen, zu Karenztagen, die wir planen? Ist es schon so weit, daß Zahlen nicht mehr zählen?
Wir hatten 1982 ein Sozialbudget von 525 Milliarden DM. Im letzten Jahr betrug es 575 Milliarden DM. Meiner Rechnung nach sind das 50 Milliarden DM mehr. Pro Kopf der Bevölkerung waren es 1982 8 520 DM Sozialleistungen, jetzt 9 316 DM.
Ich denke, wir brauchen keine Ideologie. Sparen Sie sich viele Worte, sparen Sie sich die gebetsmühlenhaften demagogisch vorgetragenen Vorwürfe, wir würden den Sozialstaat ruinieren. In Wirklichkeit sieht es so aus: wir tun mehr für die Bedürftigen als unsere Vorgänger-Regierung:
Wir geben z. B. für aktive Arbeitsmarktpolitik 11,4 Milliarden DM aus. 1982 waren es 6,9 Milliarden DM. Und was Ihr Beitrag zum Streikrecht angeht: Wissen Sie, da warte ich geduldig auf den nächsten Streik der IG Metall. Er ist ja bereits angedroht. Da werden wir sehen, daß die IG Metall selbst ihre ganzen Papiere, Flugblätter dementiert. Sie kann sie alle wegwerfen, weil sich zeigen wird, daß die Streikfähigkeit ungebrochen ist.
Nun zu den Schwerbehinderten; das ist unser heutiges Thema. Herr Glombig, auch hier zu Zahlen: 920 000 Schwerbehinderte stehen im Erwerbsleben, 123 709 suchen Arbeit. Diese 123 000 sind 123 000 Arbeitslose zuviel. Um jeden einzelnen dieser Arbeitslosen müssen wir uns kümmern. Denen dient unser Gesetz. Das hat der Kollege Lohmann gemeint. Wir haben zunächst die im Blick, die draußen stehen und nach Arbeit suchen. Das sind diejenigen, die unserer Hilfe bedürfen.
Keine noch so hohe Unterstützung macht das Recht auf Arbeit vergessen. Ich wünsche mir nicht eine Erwerbsgesellschaft, in der nur die Jungen und Gesunden Arbeit haben, während die Älteren und Behinderten mit Unterstützung — und wäre sie noch so hoch — abgefunden werden.Im übrigen lassen Sie mich zum Leistungswillen folgendes sagen: Noch nicht einmal die Leistungsfähigkeit hängt vom Grad der Behinderung ab, erst recht nicht der Leistungswille. Ich kenne viele behinderte Mitbürger, die mit ganzer Kraft mitwirken, mit einem Leistungswillen, der häufig den Leistungswillen eines unbehinderten Nachbarn übertrifft.Im übrigen: Leistung ist nicht der einzige Maßstab des Lebens.
— Nein. In der Tat gehört neben der Leistung auch die Befriedigung durch Arbeit zur Menschenwürde. In der Tat, auch das ist mein Verständnis von Menschenwürde.
Wir haben auch Erfolge. Herr Glombig, vielleicht ist Ihnen das entgangen. 11 500 weniger arbeitslose Schwerbehinderte als im Vergleichsmonat des Vorjahres. Das ist kein Erfolg, der uns zufrieden macht. Aber das ist doch ein Ergebnis, das zeigt, daß wir mit unserer Politik vorwärtskommen: Schritt für
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17280 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
Bundesminister Dr. BlümSchritt, mehr als mit großen Worten, durch konkrete Politik.Es geht darum, Einstellungsbrücken zu bauen, Beschäftigungshemmnisse abzubauen. Ich gebe zu, das wird nicht alles mit Paragraphen zu meistern sein. Hier müssen die Unternehmer, die Betriebsräte mitwirken. Wir sind nicht so paragraphen- und behördengläubig, daß wir glauben, nur der Gesetzgeber könnte das Problem lösen. Aber auch der Gesetzgeber steht in der Pflicht. Deshalb will ich in einer Kurzfassung zusammenfassen, was wir mit der Novellierung des Schwerbehindertengesetzes beabsichtigen.Mit dieser Novelle werden wir den Begriff „Minderung der Erwerbsfähigkeit" durch „Grad der Behinderung" austauschen; denn Minderung der Erwerbsfähigkeit weist in eine falsche Richtung. Das ist bereits im Begriff eine Benachteiligung der Behinderten.Wir werden die Ausgleichsabgabe von 100 auf 150 DM erhöhen; also pro Arbeitsplatz, der nicht besetzt ist, 150 DM statt 100 DM.
Herr Glombig, die Tatsache, daß Sie dieses Thema anschneiden, zeigt doch: Sie setzen offenbar auf Vergeßlichkeit. Diese 100 DM Ausgleichsabgabe gibt es seit 1974. Jetzt rechnen Sie einmal nach. Von 1974 bis heute sind es zwölf Jahre. Acht Jahre davon hätten Sie Zeit gehabt, diese Ausgleichsabgabe zu erhöhen. Nach vier Jahren erhöhen wir sie.
Jetzt stellen Sie sich hin und künden große Programme an. Acht Jahre lang hätten Sie Zeit gehabt, die Ausgleichsabgabe z. B. auf 200 DM zu erhöhen. Und jetzt werfen Sie uns vor, daß 150 DM zu wenig seien.Im übrigen bleibe ich auch dabei: Ausgleichsabgabe ist nicht so gut wie Beschäftigung.
Niemand soll sich von der Beschäftigung freikaufen.Zweitens -- auch ganz konkret —: In der Tat, wir zählen bei der Ermittlung der Pflichtplätze die Lehrlinge nicht mehr mit. Ich frage mich: Ist das nicht auch sozial im recht verstandenen Sinne? Könnte es nicht sein, spricht nicht der gesunde Menschenverstand dafür, daß die Versuchung groß ist, daß dann, wenn ein Lehrling mehr ausgebildet wird und deshalb auch ein Schwerbehinderter mehr beschäftigt werden muß, weder der Lehrling ausgebildet noch der Schwerbehinderte beschäftigt werden? Ist es nicht sehr viel pragmatischer, jetzt nicht die eine Gruppe gegen die andere auszuspielen,
sondern in schweren Zeiten zunächst für Ausbildung zu sorgen, und zwar auch — das haben Sienicht vorgetragen — für die Ausbildung derSchwerbehinderten? Deshalb: Einen Schwerbehinderten auszubilden, einen schwerbehinderten Lehrling einzustellen, das wird doppelt auf die Zahl der Pflichtplätze angerechnet. Das gehört auch zur Wirklichkeit dieser Novelle.Hier will ich auch den Unternehmern und den Betriebsräten zurufen: Wenn es darum geht, Lehrstellen zu schaffen, kümmert euch auch um das schwerbehinderte Mädchen, um den schwerbehinderten Jungen; denn auch er hat ein Anrecht darauf, einen Beruf zu lernen, sich mit seiner Hände Arbeit, mit seines Kopfes Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen.Wir wollen auch die Hilfen konzentrieren — das ist richtig — auf die besonders betroffenen Schwerbehinderten. Jedem soll geholfen werden. Aber es müßte auch unser Interesse sein, daß der Schwerbehindertenbegriff nicht immer weiter ausufert; denn sonst bekommen die Behinderten immer mehr Konkurrenten für die behindertengerechten Arbeitsplätze. Der Rollstuhlfahrer bleibt auf der Strecke, wenn schließlich alle behindert sind.Wir konzentrieren deshalb unsere Hilfen, auch die materiellen Hilfen, auf die Einstellung gerade der besonders schwer Betroffenen. Das, was bisher mit Hilfe von Sonderprogrammen geleistet worden ist, kommt jetzt als berechenbare Dauerregelung ins Gesetz. Es geht um Anreize auch materieller Art für den Unternehmer, solche Behinderten einzustellen und behindertengerechte Arbeitsplätze zu schaffen. Denn, meine Damen und Herren, wenn ein behinderter Arbeitnehmer und ein Arbeitsplatz nicht zusammenpassen, muß das nicht immer an dem Behinderten liegen; es kann auch am Arbeitsplatz liegen. Da erwarten wir mehr Phantasie, auch von den Betrieben, auch von den Unternehmen, die Phantasie, die notwendig ist, um Arbeitsplätze nach den Bedürfnissen der behinderten Arbeitnehmer einzurichten.
Wir stellen dafür auch Geld zur Verfügung, und zwar in einem Dauerprogramm; nicht in Sonderprogrammen.Nun auch noch ein Wort zu dem, was zum Kündigungsschutz gesagt wurde. Der besondere Kündigungsschutz für Schwerbehinderte bleibt ganz unverändert erhalten. Allerdings setzt er wie der allgemeine Kündigungsschutz erst nach sechs Monaten ein, und ich denke, das könnte sogar Einstellungshemmnisse abbauen.
Wenn sofort oder bald nach einer Einstellung ein verstärkter Kündigungsschutz beginnt, hat mancher Unternehmer Hemmungen, einen Behinderten einzustellen, weil er nicht weiß, ob der behinderte Mitbürger der Dauerbelastung gewachsen ist; vielleicht weiß es der behinderte Mitbürger selbst auch nicht. Insofern könnte hierdurch manche Schwelle, die der Einstellung im Wege steht, abgebaut werden. Der Kündigungsschutz für den, der im Betrieb ist, wird also wie der allgemeine Kündigungsschutz
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Bundesminister Dr. Blümnach sechs Monaten einsetzen, und er ist für behinderte Mitbürger stärker.Die Rechtsstellung des Vertrauensmannes wird verstärkt. Das gilt auch für seine Mitwirkungsrechte und für seine Aufgabe, behindertengerechte Arbeitsplätze aufzuspüren. Die Vertrauensleute sollten ja so etwas wie Detektive für die Behinderten sein, auch bei der Einstellung. Seine Rechtsstellung wird verbessert, und zwar durch das Recht des Vertrauensmannes auf Teilnahme an den Verhandlungen des Betriebsrates mit dem Arbeitgeber.Ich möchte diese zweite und dritte Lesung des Gesetzes dazu nutzen, den Vertrauensmännern und Vertrauensfrauen unseren Dank zu sagen. Von ihrem Engagement, von ihrem Einsatz, von ihrem Einfallsreichtum hängt das Wohl der behinderten Mitbürger mehr ab als von vielen großspurigen Reden und Programmen. Deshalb gebührt ihnen unser Dank.Die Arbeitgeber, die ihre Pflichten nicht erfüllen, zeigen, so denke ich, damit ein Stück Rücksichtslosigkeit auch gegenüber sozialstaatlichen Verpflichtungen. Wenn wir von diesem Pult aus sprechen, gilt unser Appell auch und in erster Linie den öffentlichen Arbeitgebern. Wir können den Unternehmern keine Ratschläge geben, wenn die öffentlichen Arbeitgeber selber ihre Pflichten nicht erfüllen.
Ich meine damit auch die Gemeinden.
Meine Damen und Herren, Sie können ganz beruhigt sein: Der Bund erfüllt seine Pflichtquote. Das Land Nordrhein-Westfalen erfüllt sie im übrigen nicht.
Reden ist schön, Wirken ist besser. Deshalb sind wir für das Wirken, für konkrete Hilfen für unsere behinderten Mitbürger.
Das Wort hat der Abgeordnete Bueb.
Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute über eine Novellierung zur Verschlechterung des Schwerbehindertengesetzes; denn dieser Entwurf hat eines zum Ziel: Sozialabbau bei 4,6 Millionen anerkannten Schwerbehinderten.Die Rückschritte sind: Statt daß ein wirksamer Kündigungsschutz ausgebaut würde, wird er durchlöchert. Er soll zukünftig erst nach sechs Monaten beginnen. Hier wird die zynische Praxis des Heuerns und Feuerns fortgesetzt, die durch die befristeten Arbeitsverträge bei den anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schon an der Tagesordnung ist.
Statt daß die Quotierung heraufgesetzt würde, wird die Zahl der Pflichtarbeitsplätze durch ein windiges Berechnungsverfahren gesenkt. Ausbildungsplätze werden künftig bei der Berechnung der Pflichtplätze nicht mehr herangezogen. Dadurch fallen nahezu 70 000 Pflichtarbeitsplätze weg.Statt daß bei den Unternehmen die Beschäftigungspflicht durchgesetzt würde, wird das lächerliche Kopfgeld der Ausgleichsabgabe von 100 auf 150 DM erhöht, eine Abgabe, die dann auch noch als Betriebsausgabe von den Steuern abgesetzt werden kann.
Statt daß Rechte von Behinderten in Werkstätten gesichert würden, wird ihre Aussonderung aus dem Arbeitsleben betrieben. Arbeitgeber können sich teilweise durch Vergabe von Aufträgen an die Werkstätten von den Pflichtplätzen für Schwerbehinderte befreien.
Statt daß der Zusatzurlaub ausgedehnt würde, wird er verkürzt.Dies alles wird von der Bundesregierung als Erhöhung von Einstellungs- und Beschäftigungschancen für Schwerbehinderte auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt gepriesen. Der Verdrehung der Politikersprache wird offensichtlich keine Grenze gesetzt.
Ich sage: Was hier betrieben werden soll, ist Abbau von Arbeitsschutzrechten und rüder Sozialabbau gerade bei einer Gruppe von Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die auf Grund ihrer Situation unser besonderes Engagement verdient hätten.
Ihre Situation ist deprimierend genug. 130 000 Schwerbehinderte sind arbeitslos gemeldet. Hinzu kommt noch einmal die gleiche Zahl von Schwerbehinderten, die schon resigniert haben. Bei den Langzeitarbeitslosen ist die Prozentzahl doppelt so hoch wie bei den anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. In Betrieben und Behörden sinken die Beschäftigungsquoten laufend. Der öffentliche Dienst verstärkt den Ausschluß durch Einstellungsstopp. Rund 30 % der Arbeitgeber gelingt es, ihren Betrieb über die skandalöse Ausgleichsabgabe sogenannt behindertenfrei zu halten. Absolventen von Berufsbildungs- und Berufsförderungswerken bleiben zunehmend chancenlos. Die Eingliederung in Beruf, Arbeit und Gesellschaft gelingt nicht einmal jedem zweiten Behinderten. Nur jede fünfte oder sechste schwerbehinderte Frau findet mit Glück einen Arbeitsplatz. Statt dessen werden Behinderte mehr und mehr abgeschoben. Viele landen in den Werkstätten für Behinderte und arbeiten dort ohne Tariflohn und Mitbestimmungsrechte.Bei der Beurteilung des Gesetzentwurfes muß unbedingt erwähnt werden, daß ein ganz wichtiges
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17282 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
BuebKapitel unbeachtet bleibt, nämlich die Situation der in den Behindertenwerkstätten Beschäftigten. Sie fallen nicht unter die Schutzbedingungen des Schwerbehindertenrechts. Für diese Behinderten gibt es weder Mitbestimmungsrechte noch angemessene oder tarifgerechte Entlohnung und sozialgerechte Absicherung. Hier sind neue Bestimmungen dringend erforderlich, um die Rechte der Behinderten an die normaler Arbeitnehmer anzugleichen.Das Schwerbehindertengesetz hat seinen Anspruch, Behinderte einzugliedern, seit es besteht, nicht erreicht.
Notwendig ist folglich eine Novellierungsdiskussion, die gründlich klärt, wie die Instrumente des Gesetzes geschärft werden können, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Die Vorstellungen der GRÜNEN
darf ich kurz ansprechen. -- Das ist doch nicht wahr, Herr Lohmann, das wissen Sie genau.Die Ausgleichsabgabe muß so erhöht werden, daß ein wirksamer Beschäftigungsdruck auf die Arbeitgeber ausgeübt wird. Das ist der Fall, wenn die Abgabe dem durchschnittlichen Arbeitsentgelt eines Arbeitnehmers im jeweiligen Betrieb entspricht. Die Beschäftigungspflichtquote für Behinderte muß von 6 auf 10% erhöht werden. Die Beschäftigungspflicht muß die Belange besonders benachteiligter Schwerbehinderter, etwa derjenigen, die das 50. Lebensjahr erreicht haben, die länger als ein Jahr arbeitslos sind usw., berücksichtigen. Außerdem müssen die Pflichtarbeitsplätze zur Hälfte mit behinderten Frauen besetzt werden. Eine Änderung der Rechtsstellung der behinderten Mitarbeiter in den Werkstätten für Behinderte ist nicht mehr länger unter den Tisch zu kehren. Auf Mitbestimmungsrechte und tarifliche Absicherung hat jeder Arbeitnehmer Anspruch, auch die Behinderten in dén Werkstätten. Die Position der Vertrauensleute der Schwerbehinderten ist zu stärken, - etwa dergestalt, daß sie ein Vetorecht bekommen. Der Schwerbehindertenbegriff muß den gesellschaftlichen Aspekt von Behinderung in den Vordergrund holen.
Durch die gesetzten Normen und die gegebenen sozialen Rahmenbedingungen der Gesellschaft wird der Behinderte erst zum Behinderten. Der behinderte Mensch darf nicht länger mit dem Stempel des persönlichen Defekts belastet werden.
In diesem Sinne werden wir in dieser Legislaturperiode noch einen Gesetzentwurf vorlegen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Weil hier etwas anderes behauptet worden ist, möchte ich erst mal klarmachen, daß die Zahl der gemeldeten arbeitslosen Schwerbehinderten im Mai 1986 um 8,5 % niedriger lag als im Mai 1985. Das heißt, all das, was Sie hier behauptet haben und auch an Hand von zusammengesuchten Zahlen zu belegen versuchen, trifft nicht zu. Ich meine, es würde der Auseinandersetzung im Bundestag sehr nützen, wenn man nicht immer nur auf die alten Argumente eingehen würde, die einem nun selber gerade in den Kram passen, sondern tatsächlich die Realität zur Kenntnis nehmen würde.
Insgesamt zeigt das nur, daß den Sozialdemokraten und den GRÜNEN offensichtlich die Argumente ausgehen.
Die SPD treibt dabei ein ganz besonders schlimmes Spiel. Ich möchte mal aus dem „ParlamentarischPolitischen Pressedienst" zitieren — das ist ein SPD-Pressedienst, und ich finde, es ist ein erschrekkendes Beispiel von mangelndem politischem Stil —:In ihrem gnadenlosen Haß gegen alle Bevölkerungsgruppen, in denen sie keine Mehrheit von CDU-Anhängern vermuten, schrecken sie nicht einmal davor zurück, die schwächsten und hilfsbedürftigsten Mitbürger um ihre bescheidenen und sozialen Schutzrechte zu bringen.
Ich finde, die Sozialdemokraten, die das geschrieben haben, sollten mal bei ihrem eigenen Kanzlerkandidaten in die Lehre gehen und von ihm erfahren, was „Versöhnen statt Spalten" tatsächlich heißen soll.
Es kommt im übrigen darauf an — das ist das erklärte Ziel der Koalitionsfraktionen —, Schwerbehinderte nicht auszugrenzen, sondern einzubeziehen. Insofern muß eben immer wieder darüber nachgedacht werden, wie die Bedingungen gestaltet werden, damit diejenigen, die heute noch draußen stehen, auch eine Chance haben, einen Arbeitsplatz zu bekommen.Meine Damen und Herren, Schutzrechte sind notwendig, aber es muß immer wieder überprüft werden, ob nicht gut gemeinte Schutzrechte letztlich das Gegenteil von dem bewirken, wozu sie gedacht waren, daß sie nämlich nicht alle insgesamt schützen,
sondern diejenigen schützen, die drin sind, aber diejenigen, die draußen stehen, noch stärker ausgrenzen und benachteiligen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986 17283
Frau Dr. Adam-SchwaetzerDas ist der Ansatzpunkt des vorliegenden Gesetzes. Wir sind davon überzeugt, daß er dazu beiträgt, die Chancen Schwerbehinderter, insbesondere arbeitsloser Schwerbehinderter,
zu verbessern.
Als Maßnahmen sind dafür vorgesehen: Finanzielle Förderung der Einstellung und Beschäftigung besonders betroffener Schwerbehinderter, Abbau von Beschäftigungsbarrieren, und hier nenne ich besonders die befristete Nichtanrechnung von Auszubildenden bei der Ermittlung der Pflichtquote, die Anrechnung eines behinderten Arbeitgebers auf einen Pflichtplatz und die zeitliche Anpassung des besonderen Kündigungsschutzes Schwerbehinderter an den allgemeinen Kündigungsschutz.Herr Kollege Glombig, ich war auch von Ihrer Rede ein bißchen enttäuscht; denn ich finde, Sie hätten vielleicht doch klarer herausstellen sollen, daß es ja in vielen Punkten Gemeinsamkeiten zwischen dem gibt,
was Sie vor zwei Jahren gefordert haben, was auch jetzt in Ihrem Gesetzentwurf steht, und dem, was die Regierung verabschiedet. Wir haben uns unter Ihrer Leitung am Mittwoch im Ausschuß sehr viel Mühe gegeben, diese gemeinsamen Punkte herauszufinden. Ich finde, Sie hätten sich den ersten Teil Ihrer Rede wirklich sparen sollen, wo nämlich üble Diffamierungen, die ganze alte Leier, wieder aufgelegt worden sind, ohne daß irgend etwas Konkretes dabei herausgekommen ist.
Sie haben gefordert: besondere Förderung schwerbehinderter Auszubildender, schwerbehinderter Teilzeitbeschäftigter, Überführung der bisherigen Sonderprogramme in dauerhafte gesetzliche Regelung, Verbesserung der Rechtsstellung des Vertrauensmannes und seines Stellvertreters. Just dies ist auch Gegenstand des Gesetzentwurfs. Ich finde, meine Damen und Herren, es hätte uns hier allen besser getan, wenn wir diese Gemeinsamkeiten stärker herausgestellt hätten; denn das hätte auch den Schwerbehinderten das Gefühl geben können, nicht nur Manövriermasse in der politischen Auseinandersetzung zu sein, es hätte deutlich gemacht, worum es uns allen geht, nämlich die Chancen der Schwerbehinderten zu verbessern.
Gelegentlich wird ja behauptet, daß das Parlament nur die Beschlüsse von Regierungen nachvollziehe. Gerade dieser Gesetzentwurf zeigt aber, daß das Parlament seine ganz eigene Handschrift angelegt hat. Die FDP-Bundestagsfraktion hat schon sehr frühzeitig deutlich gemacht, daß eine Überprüfung der Altbescheide für sie nicht in Frage kommt. Abgesehen von der mehr als fraglichen Kosten-Nutzen-Relation einer derartigen Maßnahme wäre es verfehlt, insbesondere ältere Schwerbehinderte noch einmal einem Überprüfungsverfahren zu unterziehen. Es muß Rechtssicherheit herrschen, unddie Schwerbehinderten müssen auch das Gefühl haben, daß das, was ihnen einmal zugestanden worden ist, dauerhaft ist. Das war der Grund, weshalb wir diese Anregung, diese Idee der Regierung nicht aufgegriffen haben.Zu den Einzelmaßnahmen, die im Gesetzgebungsverfahren noch in den Gesetzentwurf hineingekommen sind, ein paar Worte: Die befristete Nichtanrechnung von Auszubildenden auf die Beschäftigungspflichtquote von Schwerbehinderten ist zum Teil kritisiert worden. Sie stellt aber nach unserer Meinung einen akzeptablen Kompromiß zwischen den Interessen der Auszubildenden und den Interessen der Schwerbehinderten dar. Gerade in einer Zeit, wo die Betriebe aufgefordert sind, über ihren eigenen Bedarf auszubilden, muß es doch wichtig sein, diese Ausbildungsbereitschaft nicht dadurch einzuschränken, daß für zusätzliche Auszubildende auch die Pflichtquote der Schwerbehinderten erhöht wird.
Deshalb ist in der Zeit, die jetzt noch notwendig ist, um die geburtenstarken Jahrgänge in den Arbeitsmarkt zu integrieren, diese Maßnahme aufgehoben. Und die Zahlen, mit denen die Opposition in dem Zusammenhang hier immer jongliert, auch sie sind zu relativieren.Viele junge Menschen, die ausgebildet sind, wachsen jetzt in den Arbeitsmarkt hinein. Viele Betriebe bemühen sich, sie nach ihrer Ausbildung aufzunehmen. Die Beschäftigung ist 1984 und 1985 bereits deutlich angestiegen. All das zusammen genommen bedeutet natürlich auch, daß die Zahl der Pflichtplätze für Schwerbehinderte wieder steigen wird. Also, hier ist ein akzeptabler Kompromiß zwischen widerstreitenden Interessen gefunden worden.Auch die zeitliche Anpassung des besonderen Kündigungsschutzes Schwerbehinderter ist angemessen. Hier geht es doch darum, meine Damen und Herren, daß Schwerbehinderte häufig deshalb nicht eingestellt werden, weil sich der Arbeitgeber scheut, weil er Zweifel an der Leistungsfähigkeit hat, in den meisten Fällen völlig unbegründete Zweifel. Es geht hier also nur darum, eine angemessene Zeit zu schaffen, in der sich der Schwerbehinderte selber prüfen kann, ob der Arbeitsplatz für ihn vernünftig ist, •
und auch der Betrieb prüfen kann, ob der Schwerbehinderte an dieser Stelle richtig eingesetzt ist. Darum geht es, und deshalb ist es vernünftig, diese Maßnahme zu ergreifen.
Wir finden, meine Damen und Herren, daß es nach wie vor ein besonders schlimmer Fall ist, daß viele öffentliche Arbeitgeber ihre Pflichtquote nicht erfüllen.
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17284 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
Frau Dr. Adam-SchwaetzerDas trifft ganz besonders viele Bundesländer, und man kann leider nicht sagen, daß hier CDU- oder SPD-regierte Länder generell besser wären als andere, sondern es gibt eine breite Zahl von Ländern, die ihre Pflichtquote nicht erfüllen. Ein deutlicher Appell an alle, es mit der Verantwortung gegenüber den Schwerbehinderten ernst zu nehmen, aber auch ein Dank an diejenigen Arbeitgeber, die mehr Schwerbehinderte beschäftigen, als nach der Pflichtquote vorgeschrieben wird. Auch das gibt es. Wir begrüßen es, und wir fordern alle auf, diesen Arbeitgebern nachzueifern.
Der vorliegende Gesetzentwurf stellt eine Verbesserung der Chancen Schwerbehinderter auf den Arbeitsmarkt dar.
Und deshalb wird er von uns so getragen. Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Pöppl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es müßten eigentlich alle, die hier vom Abbau von Schutzrechten geredet haben und reden, einmal die Möglichkeit haben, sozusagen in einigen Praktikasemestern die Wirklichkeit vor Ort zu erleben. Ich glaube, einige sind da schon sehr lange raus. Ich glaube, das gilt auch für den Kollegen Glombig. Dann würden Sie nämlich sehr schnell bemerken, welchen Schwachsinn Sie hier verbreitet haben.
— Das würden Sie sehr schnell bemerken. Die Leute, die draußen die Arbeit machen, wären erschüttert, wenn sie gehört hätten, was hier heute gesagt wurde.
Ich glaube, daß die Schwerbehinderten, die tagtäglich an ihrem Arbeitsplatz all ihre psychische und physische Kraft einsetzen, um im Wettbewerb mit Nichtbehinderten zu bestehen, dies nicht verdient haben.
— Ich könnte darauf etwas sagen.
Zu den GRÜNEN. Daß Sie von der Praxis nichts verstehen, mag ja noch hingehen, aber wer der Tötung ungeborener Menschen das Wort redet, wer die ersatzlose Streichung des § 218 StGB fordert, der hat vor den Bürgern das Recht verwirkt, hier anderen Vorwürfe zu machen oder Empfehlungen zu geben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit der ersten Novellierung des Gesetzes zur Sicherung und Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit und Beruf wird ein wichtiger Schritt zur flexibleren Gestaltung des Schwerbehindertenrechts und zur Verbesserung der Effizienz im Durchführungsbereich getan.
Die Einstellungs- und Beschäftigungschancen von Schwerbehinderten werden nämlich nicht durch die Verschärfung von Schutzrechten verbessert, sondern durch eine bessere Ausgestaltung der helfenden Instrumente des Gesetzes. Immer dann — ich betone das, was Kollege Lohmann hier gesagt hat; da können Sie mich ja nicht verdächtigen, daß ich hier nun für Arbeitgeber spreche, oder solche Dinge.
— Herr Glombig, es war ja sehr unseriös, was Sie hier gemacht haben —, immer dann, wenn hohe Schutzrechte eingebaut sind, schlägt ein Gesetz schnell zum Antischutzgesetz um. Nach zwölf Jahren Gesetzesanwendung können Sie mir nicht mehr verheimlichen, welche Schwierigkeiten das jetzt geltende Recht beinhaltet. Sie enttäuschen, wenn Sie hier Anträge einbringen, die genau die Punkte betreffen, die uns draußen bei der Förderung der Einstellungsbereitschaft Schwierigkeiten machen.Eines ist absolut sicher: Für Behinderte, die draußen stehen, sinkt die Einstellungsbereitschaft nahezu auf Null, wenn die Stützungsmechanismen nicht konsequent am praktischen Bedarf orientiert werden. Wer glaubt, daß er mit der überproportionalen Anhebung der Ausgleichsabgabe hier ein Steuerungsinstrument in der Hand habe, der erliegt in der Tat einem gewaltigen Irrtum. Wenn Sie hier 400 DM und mehr fordern, dann müssen Sie doch wissen, daß Sie damit nur auf Kleinbetriebe und auf handwerkliche mittelständische Bereiche einen gewissen Druck ausüben können. Gerade Kleinbetriebe haben doch erheblich größere Schwierigkeiten, schwerbehinderte Arbeitnehmer ihrem Leistungsvermögen entsprechend im Betrieb einzusetzen.
Eine Intensivierung der begleitenden Hilfen am Arbeitsplatz ist hier und heute das A und O für die Erhaltung und Sicherung der Schwerbehindertenarbeitsplätze. Wir haben deshalb zur Unterstützung der Beschäftigungsbereitschaft den Leistungskatalog im Gesetz ausgedehnt und sollten nun anschließend darangehen, die Verwendungsmöglichkeiten der Ausgleichsabgabe in der Ausgleichsabgabenverordnung so zu formulieren, daß vor Ort flexibel, schnell und ausreichend eingegriffen werden kann.Ein weiterer für die praktische Umsetzung wichtiger Punkt, der im Rehabilitationsangleichungsgesetz geregelt werden sollte, ist, daß wir noch eine eindeutige Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986 17285
PöpplRehabilitationsträgern und den Hauptfürsorgestellen herbeiführen müssen. Nur wenn die Hauptfürsorgestellen das „Feld" der begleitenden Hilfen im Arbeitsleben zur Sicherung der beruflichen Eingliederung allein und selbst bestellen und vor Ort unmittelbar über notwendige Hilfen entscheiden können, bringen sie den erwünschten Erfolg.Ein wichtiger Aspekt der Novelle des Schwerbehindertengesetzes ist die Stärkung der Rechtsstellung des Schwerbehindertenvertreters im Betrieb. Mit den Regelungen in § 11, aber insbesondere — im Fünften Abschnitt — in den §§ 21, 22 und 23 ist für die Vertrauensmänner bzw. Vertrauensfrauen der Schwerbehinderten nunmehr eine gesetzlich gut fundierte Unterlage geschaffen worden, mit der sie besser in der Lage sein werden, ihren wichtigen Aufgaben nachzukommen. Ich will mich hier namens der CDU/CSU-Fraktion dem Dank des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung anschließen, der an alle gerichtet ist, die bisher unter diesen schwierigen Verhältnissen dem Gesetz Genüge getan haben, insbesondere die Vertrauensmänner und die Vertrauensfrauen draußen in den Betrieben.Ich möchte nicht verhehlen; daß der Dank auch dem Koalitionspartner gebührt, ohne dessen guten Willen es nicht möglich gewesen wäre, das zu erreichen, was wir heute hier in diesem Gesetz beschließen werden.Selbstverständlich gab es über diese wichtigen Regelungen hinaus weitere Vorschläge, über die man zu einem späteren Zeitpunkt diskutieren sollte. Wir werden es nach dieser ersten Novelle weiterhin nötig haben, im Schwerbehindertenrecht flexibel auf die Entwicklungen des Arbeitsmarktes zu reagieren.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen nun zur Einzelberatung und Abstimmung, zunächst über den Zusatzpunkt 7 zur Tagesordnung, den Gesetzentwurf der SPD auf Drucksache 10/1731. Der Ausschuß empfiehlt, diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Ich rufe die Art. 1 bis 5, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Das Gesetz ist in der zweiten Beratung abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den Zusatzpunkt 8 zur Tagesordnung, den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 10/3138, in der Ausschußfassung. Hierzu liegen eine Reihe von Änderungsanträgen der Fraktion der SPD vor.Meine Damen und Herren, wir kommen zu Art. 1 in der Ausschußfassung. Ich rufe Nr. 1 bis 4 auf. Werstimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.Ich rufe den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 10/5680 auf; es wird beantragt, nach Nr. 4 eine Nr. 4 a einzufügen. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Ich rufe Nr. 5 und 6 auf. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Nr. 5 und 6 sind angenommen.Ich rufe die Nr. 7 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5681 ein Änderungsantrag der SPD vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Gegenprobe!— Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für die Nr. 7 in der Ausschußfassung?— Gegenprobe! — Enthaltungen? — Nr. 7 ist angenommen.Ich rufe die Nr. 8 auf. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Nr. 8 ist angenommen.Ich rufe die Nr. 9 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5682 ein Änderungsantrag der SPD vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für Nr. 9 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Nr. 9 ist angenommen.Ich rufe Nr. 10 bis 14 auf. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Nr. 10 bis 14 sind angenommen.Ich rufe die Nr. 15 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5683 ein Änderungsantrag der SPD vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für Nr. 15 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Nr. 15 ist angenommen.Ich rufe Nr. 16 bis 20 auf. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Nr. 16 bis 20 sind angenommen.Ich rufe die Nr. 21 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5684 ein Änderungsantrag der SPD vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für die Nr. 21 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Nr. 21 ist angenommen.Ich rufe die Nr. 22 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5685 ein Änderungsantrag der SPD vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für Nr. 22 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Nr. 22 ist angenommen.
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Präsident Dr. JenningerIch rufe Nr. 23 bis 28 auf. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.Ich rufe Nr. 29 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5686 ein Änderungsantrag der SPD vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für Nr. 29 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Nr. 29 ist angenommen.Ich rufe Nr. 30 bis 33 b auf. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.Ich rufe den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 10/5687 auf. Es wird beantragt, nach Nr. 33 b eine neue Nr. 33 bi einzufügen. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Ich rufe die Nr. 33c bis 34 auf. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.Art. 1 in der Ausschußfassung ist somit angenommen.Ich rufe die Art. 2 bis 2 b in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.Ich rufe Art. 2 c auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5689 ein Änderungsantrag der SPD vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für Art. 2 c in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Art. 2 c ist angenommen.Ich rufe Art. 2 d auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5690 ein Änderungsantrag der SPD vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Gegenprobe! -- Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für Art. 2 d in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! -- Enthaltungen? — Art. 2 d ist angenommen.Ich rufe den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 10/5691 auf. Es wird beantragt, nach Art. 2 d einen neuen Art. 2 e einzufügen. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Ich rufe auf die Art. 3 bis 5, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? -- Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.Meine Damen und Herren, damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung.Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist angenommen.Der Ausschuß empfiehlt weiter auf Drucksache 10/5673 unter Nr. 3 die Annahme einer Entschließung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Entschließung ist bei einigen Enthaltungen angenommen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25c auf:a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Duve, Müller , Frau Dr. Martiny-Glotz, Dr. Hauff, Frau Fuchs (Köln), Dr. Schmude, Amling, Bachmaier, Frau Blunck, Egert, Frau Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Immer (Altenkirchen), Jaunich, Jung (Düsseldorf), Kiehm, Kißlinger, Dr. Kübler, Lennartz, Müntefering, Rappe (Hildesheim), Reimann, Roth, Schäfer (Offenburg), Frau Schmidt (Nürnberg), Stahl (Kempen), Stiegler, Frau Terborg, Urbaniak, Wartenberg (Berlin), Frau Weyel, Wolfram (Recklinghausen), Frau Zutt, Meininghaus, Müller (Schweinfurt) und der Fraktion der SPDChemie im Haushalt und Innenraumbelastung— Drucksachen 10/2800, 10/4285 —b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hauff, Rappe , Duve, Müller (Düsseldorf), Roth, Bachmaier, Frau Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Heistermann, Jahn (Marburg), Jaunich, Kiehm, Dr. Klejdzinski, Dr. Kübler, Lambinus, Reimann, Reuter, Schäfer (Offenburg), Schanz, Schluckebier, Stahl (Kempen), Frau Terborg, Urbaniak, Vosen, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDKonzept für eine umwelt- und gesundheitsverträgliche Chemiepolitik— Drucksache 10/5181 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Innenausschuß
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Ausschuß für Forschung und Technologiec) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über dieAnwendung und die Auswirkungen des Chemikaliengesetzes— Drucksache 10/5007 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
InnenausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungMeine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 25a bis 25 c
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Präsident Dr. Jenningerzwei Stunden vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister Wallmann, noch 93 Tage Schonzeit. Sieben sind schon vorbei. Bei Ihrem Vorgänger ist leider sehr viel Hohnzeit dabei herausgekommen. Wir werden gemeinsam dafür sorgen, daß es für Sie eine hoffentlich angenehme, aber sehr harte Fronzeit wird.
Die Katastrophe von Tschernobyl hat Millionen Menschen schlagartig Vorgänge sehr bewußt gemacht, von denen sie früher nur sehr wenig wußten und über die auch unsere Wissenschaft nur sehr unzulänglich berichtet hat: Erstens, der dramatische, von Menschen kaum vorstellbare rasche Ferntransport von schädlichen Stoffen über riesige Entfernungen; zweitens, die Anreicherung der Schadstoffe im tierischen oder menschlichen Organismus ist etwas, was den Menschen erst jetzt sehr deutlich zu Bewußtsein gekommen ist.
Drittens. Es gibt plötzlich nach einem Unfall —
Herr Abgeordneter Duve, ich bitte, Sie kurz unterbrechen zu dürfen.
Ich bitte die Damen und Herren, die nicht an den Beratungen teilnehmen, entweder den Saal zu verlassen, oder, wenn sie teilnehmen wollen, Platz zu nehmen.
Danke schön, Herr Präsident. Drittens. Es gibt plötzlich nach einem Unfall oder kontinuierlich beim Betrieb von Anlagen die Abgabe von unsichtbaren, unriechbaren und unfühlbaren Substanzen an die Umwelt, an den tierischen und menschlichen Organismus. Für die Feststellung dieser Substanzen nutzen unsere Sinnesorgane gar nichts. Wir brauchen dafür hochtechnische Meßgeräte.Viertens. Die Diskussion über Strahlenschäden und über die verschiedenen Nuklide haben der Öffentichkeit zum erstenmal drastisch vor Augen geführt, wie wenig die Wissenschaft von dem weiß, was sie direkt oder indirekt durch die industrielle Nutzung an Gefahren produziert. Die Diskrepanz zwischen behauptetem Allwissen und häufig skandalöser Unwissenheit ist bei Tschernobyl ja schlagartig erkennbar geworden.Fünftens. Die Menschen haben die politische Ohnmacht und die Schwierigkeiten, gegen Schadstoffe nationale und internationale Rahmenbedingungen zu setzen, sehr drastisch erfahren.Meine Damen und Herren, diese fünf Erkenntnisse gelten — allerdings mit einer ganz anderen Gewichtung — auch für die Chemie. Es handelt sich dabei natürlich nicht um Strahlung, aber es handelt sich um viele von Menschen gemachte Schadstoffe, die bei falschem Umgang im menschlichen Körperals Gift wirken und die auf die Natur als Gift wirken.
Die Arbeitnehmer und die Unternehmer in der chemischen Industrie sind sich vieler dieser Gefahren bewußt gewesen und haben sehr viel geleistet, um ihnen zu begegnen.
Ein großer Industriezweig arbeitet — verglichen mit dem Gefahrenpotential — mehr oder weniger sicher. Aber die Wirkungen der meisten Stoffe auf Mensch und Natur sind auch diesen Experten häufig unbekannt.Meine Damen und Herren, die SPD-Bundestagsfraktion hat vor anderthalb Jahren begonnen, einige praktische Erkenntnisse zusammenzutragen, um aus den bisherigen Bemühungen für die chemische Produktion politische Rahmenbedingungen zu setzen. Wir legen damit heute als erste Partei dieses Bundestages ein Konzept für eine vorsorgende Chemiepolitik vor. Wir haben den Entwurf der wichtigsten Gewerkschaft, der IG Chemie, und dem Bundesverband der Chemischen Industrie sehr frühzeitig vorgelegt und sind mit unterschiedlichem Ergebnis in einen Dialog gekommen.Die Arbeitnehmer haben unser Konzept begrüßt. Sie haben auch kritische Anmerkungen gemacht. Die Arbeitgeber haben es abgelehnt.Ich muß hier allerdings anmerken, daß sich dieses Konzept nicht nur mit den im VCI zusammengeschlossenen Betrieben befaßt, sondern mit allen Vorgängen, bei denen es zu chemischen Umwandlungsprozessen kommt. Das heißt, viele Betriebe der metallverarbeitenden Industrie sind von den Rahmenbedingungen für eine versorgende Chemiepolitik ebenso betroffen wie die Chemiebetriebe im eigentlichen Sinne.Vorsorgende Chemiepolitik wird, Herr Minister Wallmann, eine der zentralen Aufgaben der Umweltpolitik im nächsten Jahr sein. Sie sind aus Frankfurt hierhergekommen, möglicherweise aus Furcht vor unserem Volker Hauff. Sie sehen ihn dort sitzen; hier ist er auch wieder.
— Natürlich habe ich geschmunzelt, er hat geschmunzelt, wir alle haben geschmunzelt. Wenn man mit einer Bemerkung die Kollegen zum Schmunzeln bringt, ist es doch in Ordnung, oder nicht?Meine Damen und Herren, die Menschen sind wach geworden. Wie sehr, merkt man an einer Untersuchung, die in der Zeitschrift „Chemie in unserer Zeit", wohl eher einer konservativen Publikation, veröffentlicht wurde. Dort drücken Kinder in Bildern aus, was sie mit dem Begriff Chemie ver-
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Duvebinden: tote Tiere, zerstörte Natur, Gefahren für das Lebendige — das sind die Schreckbilder von Kindern und Jugendlichen.
— Sagen Sie das nur weiter so. Sie meinen, daß diese Vorstellungen der Menschen nur etwas mit Aufhetzung zu tun haben? Dann hätte man von Bophal und anderem gar keine Bilder zeigen können. Ist das Ihre Vorstellung? Dann dürfte man von wirklich verendeten Fischen und umgekippten Seen keine Bilder zeigen. Sie wollen also verbieten, daß man darüber diskutiert, was faktisch passiert.
Es geht hier nicht um apokalyptische Warnungen, so wichtig Publikationen wie etwa „Der stumme Frühling" von Rachel Carson vor über 20 Jahren gewesen sind. Es geht um sehr konkrete, sehr reale Sofortschritte. Wir müssen — da sind wir alle derselben Meinung — von dem Schadstoff des Monats, von dem Aufschrei über Formaldehyd, über Dioxin oder über bromierte Kohlenwasserstoffe hin zu einer vorsorgenden Politik kommen.
Die Diskussionen über einzelne Stoffe mobilisieren die Menschen positiv, schläfern sie aber häufig nach einiger Zeit auch wieder ein. Wenn dann die Diskussion über den Stoff abgeklungen ist, glauben viele, alles sei im Lot. Statt Augenblickslösungen brauchen wir Vorsorge.Ich freue mich, daß Fachleute der Industrie, der IG Chemie und der Umweltverbände, aber auch der Behörden bereit waren, an unserem Konzept kritisch mitzuarbeiten. Wir haben zwei Fraktionsanhörungen durchgeführt. Ich möchte mich hier bei allen für die Mitarbeit noch einmal sehr herzlich bedanken.Wir fragen nach dem Nutzen, den chemische Produkte für den Menschen haben, und verlangen, daß ein Abwägungsprozeß zwischen schädlichen Nebenwirkungen und diesem Nutzen in Gang gebracht wird. Wir haben deshalb in unserem Konzept geschrieben, daß eine solche Chemiepolitik auf den sozialen und volkswirtschaftlichen Nettonutzen des Einsatzes von Chemikalien zielen muß. Wir wissen genausogut wie unsere Kritiker, daß dies weder in Heller und Pfennig ausgerechnet noch durch eine staatliche Netto-Nutzen-Behörde etwa angeordnet werden könnte. Aber es muß doch erlaubt sein, diese Frage zu stellen. Eine Industrie, die seit Jahrzehnten Stoffe produziert, bei denen sie häufig — ähnlich wie der Raucher an den Nichtraucher — kleinste Partikelchen an andere unbeteiligte und unwissende Menschen abgibt, eine Industrie also, deren Wirkung weit über ihre Herstellung, über ihre Verteilung und über den Verbrauch ihrer Produkte hinausgeht, muß sich diese Frage gefallen lassen; schon deshalb, weil diese Industrie früher jawenig verantwortungsvoll gehandelt hat, denkt man an die immensen Kosten, die die Allgemeinheit aufbringt, um mit dem Abfall und den Gefahren der Endlagerung gefährlicher Stoffe auch aus früherer Zeit fertig zu werden. Eine Industrie, deren Frühphase dadurch gekennzeichnet war, daß hochgiftige Stoffe einfach in Kuhlen gekippt worden sind — die Folgen muß die öffentliche Hand heute noch tragen —, eine solche Industrie muß selber daran interessiert sein — und sie ist selber daran interessiert —, daß dieser öffentliche Nettonutzen diskutiert wird, j a, sie tut es in ihren Werbeanzeigen in großem Ausmaß j a selber. Deshalb sollte sie uns eine solche Frage auch nicht vorwerfen.Die Diskussion kann nicht vom Staat, also von einer Bürokratie, und auch nicht von der Industrie allein geführt werden. Ansätze in diese Richtung finden wir ja bereits in der Gefahrstoffverordnung, in der gefordert wird, bei Produktionsprozessen gefährliche Stoffe durch weniger gefährliche Ersatzstoffe dann zu ersetzen, wenn sie auch wirklich vorhanden sind. Würden wir dieses Kriterium generell anwenden, so würde das z. B. bedeuten, daß ab sofort keine asbesthaltigen Autobremsbeläge mehr hergestellt werden dürften, da es asbestfreie Ersatzstoffe ja bereits gibt, wie wir aus den Lieferungen nach Schweden, wo dies vorgeschrieben ist, wissen. So, meine Damen und Herren, ist unser Begriff „sozialer und volkswirtschaftlicher Nettonutzen" zu verstehen — so und nicht anders.Die chemische Industrie hat in ihrem kritischen Papier uns gegenüber von Dirigismus gesprochen. Durch die Herstellung von sehr problematischen Stoffen und Nebenprodukten erzeugt die Industrie ja selber unfreiwillig einen Dirigismus, dem sich die Verbraucher bei Strafe von Gesundheitsschäden gar nicht entziehen können. Das heißt: Dort, wo eine Industrie selber aus naturwissenschaftlichen Gründen Rahmenbedingungen setzen muß, denen wir als Verbraucher häufig gar nicht entsprechen können, muß — umgekehrt — auch die Gesellschaft Rahmenbedingungen für das Verbreiten dieser Stoffe setzen dürfen. Es geht nicht nur um die Freiheit der Produktion gegenüber dem Staat, sondern es geht auch um die Wiederherstellung der Freiheit der Verbraucher gegenüber chemischen Stoffen, von denen sie nichts wissen.Meine Damen und Herren, für unsere Arbeit ist ein ganz zentrales Thema die Forderung nach systematischer Aufarbeitung der mehr als 90 000 sogenannten Altstoffe. Mit vielen dieser Stoffe kommen wir häufig in Berührung. Dennoch ist etwa von 95 % dieser Altstoffe so gut wie nichts über ihre Wirkung auf Mensch und Natur bekannt. Hier brauchen wir dringend eine nationale und internationale Schleppnetzfahndung nach den großen Fischen im Teich der Altchemikalien.
Fachleute gehen heute davon aus, daß sich etwa1 000 dieser Altstoffe als so gefährlich erweisen, daßsie dringend ersetzt werden müssen. Die Schwierig-
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Duvekeit besteht im Auffinden der gefährlichen Chemikalien und dann — in einem zweiten Schritt — darin, schnell Ersatzstoffe zu finden.
Erst wenn wir die gefährlichen Stoffe erkannt und ersetzt haben, wird es möglich sein, auch in der öffentlichen Diskussion vom „Schadstoff des Monats" wegzukommen.Aber wir brauchen auch ein Handlungskonzept, damit wir die als gefährlich erkannten Stoffe rasch substituieren können. Hier wird es vor allem darum gehen, daß wir in Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften, Industrie und Politik abgestufte Zeitpläne entwickeln.Die systematische Suche nach gefährlichen Altstoffen hat auch einen sehr erfreulichen Nebeneffekt, einen positiven und wichtigen Effekt. Bei der Suche nach gefährlichen Stoffen lassen sich auch die ungefährlichen oder weniger gefährlichen Altstoffe erkennen. Sie könnten Wegweiser für die Suche nach Ersatzstoffen werden.Ich muß etwas kürzen. Die Rede war ein wenig länger als meine 13 Minuten. Ich kann darum das ganze Panorama all dessen nicht ausbreiten, was wir unter vorsorgender Chemiepolitik verstehen. Ich will nur auf einen Punkt noch hinweisen und ihn hervorheben. Wir wollen ein verschuldensunabhängiges Haftungsrecht einführen. Die Reform des Haftungsrechts spielt für uns eine ganz zentrale Rolle. Wir wollen wie in Japan deshalb eine verschuldensunabhängige Haftung für Industrieprodukte, weil eben jeder, der einen neuen Stoff einführt, für die Wirkung seines Stoffs geradestehen muß.
Durch eine solche Reform des Haftungsrechts wird nach unserer Einschätzung die Suche nach umweltverträglicher Technologie dezentralisiert und damit vervielfältigt.Ich komme zum Schluß. Bei einem der bedeutendsten Industriezweige unseres Landes ist es leicht, denjenigen in die Ecke der Industriefeindlichkeit zu stellen, der Forderungen zum Schutz von Mensch und Natur und Arbeitnehmern erhebt. Uns geht es darum, daß vor allem bei der rascheren Entwicklung von umwelt- und gesundheitsfreundlichen Produkten die Bundesrepublik eine Vorreiterrolle spielt. Dies ist auch eine ökonomische, eine wirtschaftspolitische Vorsorgepolitik.Wir lassen uns auch das Argument der internationalen Konkurrenz nicht aufdrängen. Denn kaum eine Industrie ist so international organisiert wie die chemische. Man denke an die gewaltigen Investitionen, die unsere drei Chemieriesen in den letzten Jahren in Übersee getätigt haben. Die chemische Industrie ist heute international. Und wenn im Herzland dieser Industrie der Druck auf Umweltverträglichkeit und Gesundheitsschutz wächst, dann müssen wir von diesen Firmen erwarten, daßsie sich selber zum Exporteur dieses Umwelt- und Gesundheitschutzgedankens machen. Ich begrüße es ausdrücklich, daß die Gewerkschaft der chemischen Industrie sich diese Gedanken sehr weitgehend — wir haben das in der Zusammenarbeit gesehen — zu eigen gemacht hat.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Laufs.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die moderne Chemie hat unser Leben zum Guten gewandelt.
Lebenserwartung und Lebensqualität haben in den acht Jahrzehnten dieses Jahrhunderts in einer geradezu unvorstellbaren Weise zugenommen,
was wir besonders den Fortschritten der chemischen Wissenschaft und ihrer Nutzung für Medizin, Technik, Landwirtschaft und Produktion verdanken. Niemand kann den Ausstieg aus der chemischen Industrie wünschen. Auch DIE GRÜNEN sollten diesem Gedanken keinen großen Gefallen abgewinnen können, wenn sie auf ihre Jeans und Turnschuhe nicht verzichten wollen.
Eine Entchemisierung des Lebens, ein Umstieg auf sanfte Chemie, wie die süffigen Formeln aus den GRÜNEN Wolkenkuckucksheimen verheißen, also ein Zurück in die vorchemische Zeit, kann es nicht geben.Verantwortungsvolle Umweltpolitik macht es sich vielmehr zur Aufgabe, Schädigungen des Menschen, seiner Umwelt sowie der Tier- und der Pflanzenwelt durch Umwelteinwirkungen möglichst frühzeitig vorzubeugen und wirksam zu verhindern. Durch die Fortschritte und breite Anwendung der Chemie sind viele tausend neue Stoffe in die Umwelt gelangt.
Sie sollen uns nützen, nicht schaden. Umweltvorsorge ist, was den Gebrauch der produzierten chemischen Substanzen angeht, primär Gesundheitsvorsorge. Diese Vorsorge ist eine der wichtigsten staatlichen, aber auch gesamtgesellschaftlichen Aufgaben. Nur gemeinsam werden Staat, Industrie und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland und in den westlichen Industrienationen diese Aufgabe bewältigen können.Wir alle sind, ob im Berufsleben oder zu Hause, von chemischen Produkten umgeben und leben mit ihnen, angefangen bei unserer Kleidung über die Konservierungssstoffe in Nahrungsmitteln, Kunststoffe, Lacke bis hin zu den Insektensprays, die wir
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17290 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
Dr. Laufsin unseren Wohnungen benutzen, und den Spül-und Waschmitteln in der Küche
und den Kosmetika in unseren Bädern. Es wäre aber völlig falsch, aus den Produktionsmengen und der Allgegenwart chemischer Produkte ein diffuses Gefühl der Beunruhigung oder Gefährdung durch die Chemie herzuleiten. Es ist unverantwortlich, wie in letzter Zeit Angstkampagnen betrieben werden, mit denen die Öffentlichkeit desinformiert wird.
Es ist die Erfahrung der vergangenen Jahre, daß die meisten Schreckensmeldungen einer kritischen, wissenschaftlichen Nachprüfung in keiner Weise standgehalten haben.
Gewiß gibt es eine Menge gefährlicher und hochgiftiger industrieller Schadstoffe, von denen Gesundheitsgefahren ausgehen, die krebserzeugend oder erbgutverändernd sind. Gegen diese Gifte wird in dieser hochentwickelten Industriegesellschaft alles getan, um unsere Bevölkerung und Umwelt zu schützen.
Gewiß dürfen wir auch nicht übersehen, daß uns über sehr viele Stoffe keine oder nur wenige Erkenntnisse, insbesondere über ihre langfristigen ökologischen Auswirkungen auf die Umwelt vorliegen. Gerade deshalb betreiben wir Vorsorgepolitik. Es gibt grundsätzlich keinen garantiert schädlichen oder unschädlichen Stoff. Es kommt immer auf die Menge an.In unserer datengläubigen Zeit, die Meßergebnisse unbesehen als Autorität nimmt, erleben wir erhebliche Mißbräuche. Da werden der erschreckten Bevölkerung eindrucksvolle Meßergebnisse vorgeführt, daß dieser oder jener gefährliche Stoff in der Nahrung oder in Gebrauchsgegenständen nachgewiesen sei. Das Entscheidende an solchen Meldungen, in welcher Einheit diese Meßergebnisse angegeben werden, bleibt oft verborgen und meistens völlig unverständlich. Die menschliche Vorstellungskraft versagt, wenn Konzentrationen z. B. in ppm, d. h. Teilen in einer Million, oder in Picogramm, d. h. in Billionstel pro Gramm, angegeben werden. Plausible Vergleichsmöglichkeiten fehlen in der Regel.Mit den in den letzten Jahren ständig verfeinerten Analyseverfahren können wir immer neue Spuren von Substanzen in den uns umgebenden Dingen feststellen. Die Tatsache, daß wir besser messen können, bedeutet indessen keineswegs, daß unsere Umgebung nun auf einmal um ein Vielfaches gefährlicher für unsere Gesundheit geworden wäre.Des weiteren muß vor dem Teichfertigen Herstellen von Beziehungen zwischen einem Stoff und einer Schädigung gewarnt werden. Die Tatsache, daß eine bestimmte Substanz nachgewiesen wurde und daß sich ein Schaden zeigt, möge nicht zu bestreiten sein. Eine wissenschaftliche Aussage über die Ursächlichkeit des einen für das andere, ist damit noch nicht gegeben.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich Ihre Aufmerksamkeit noch auf eine neue Erkenntnis lenken, die beim Thema Chemie und Gesundheit Beachtung verdient. Die zu Anfang der achtziger Jahre herrschende Auffassung, daß bis zu 80 % aller Krebserkrankungen mit der Langzeitwirkung industrieller Chemikalien in Zusammenhang gebracht werden könnten, wird inzwischen von der internationalen Krebsforschung korrigiert.
— Passen Sie auf, Herr Kollege Duve. In der wissenschaftlichen Fachwelt besteht wachsendes Einvernehmen darüber, daß die wichtigsten Krebsursachen eng mit der Lebensweise zusammenhängen, d. h. mit unseren Ernährungsgewohnheiten, übermäßigen Sonnenbädern und anderen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Duve?
Ja, selbstverständlich gerne.
Herr Kollege Laufs, sind Sie bereit, mir zuzustimmen, daß auch die Lebensweise der Menschen mehr und mehr von der Nutzung chemischer Produkte bestimmt wird, Kosmetika usw., und daß da ein sehr starker innerer Zusammenhang besteht?
Ich werde darauf jetzt im einzelnen eingehen. Ich bitte Sie, mir zu folgen. Herr Kollege Duve, es ist einfach ein Irrtum, daß krebserzeugende Substanzen selten seien und meist aus industrieller Produktion stammten. Wie Professor Ames von der Universität von Kalifornien, einer der bedeutendsten Krebsforscher in den USA, erst vor kurzem in einem Brief an einen Senator, der auf diesem Gebiet arbeitet, geäußert hat, haben über 99 % aller krebserzeugenden Stoffe, die der Mensch aufnimmt, einen natürlichen Ursprung.
Das heißt, es handelt sich um giftige Pflanzenbestandteile, wie Krebserreger aus Schimmelpilzen, oder sie kommen aus Genußmitteln, wie Zigaretten und Alkohol, oder aus bestimmten Zubereitungsformen unserer Nahrung, wie Grillen und Braten. In den Pflanzen sind von Natur aus giftige Abwehrstoffe enthalten, mit denen sich die Pflanzen vor Pilzen, Insekten oder Pflanzenfressern schützen. Für die giftigen oder krebserzeugenden Eigenschaf-
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Dr. Laufsten dieser sogenannten natürlichen Pestizide hat sich bis vor kurzem noch niemand interessiert.
Es steht aber fest — so Professor Ames —, daß wir tagtäglich mit unserer Nahrung mindestens zehntausendmal mehr natürliche giftige Chemikalien aufnehmen als industriell erzeugte. Die daraus erwachsende natürliche Krebsgefährdung stellt die Chemikalienspuren industrieller Herkunft in unserer Nahrung total in den Schatten.
Das ist einfach ein Faktum.
Aber auch für die Gifte der Natur gilt der Grundsatz: Auf die Dosis kommt es an. Mit den normalen Mengen wird der menschliche Körper spielend fertig.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schulte?
Bitte schön.
Herr Laufs, wie können Sie dann erklären, daß die Krebsrate in den letzten Jahren permanent ansteigt und auch die Zahl der sogenannten Umweltkrankheiten wie Allergien zunimmt? In dieser Zeit haben sich ja die natürlichen Gifte nicht vermehrt.
Herr Kollege Schulte und Herr Kollege Hauff, Sie sollten sich wirklich einmal sachkundig machen über die Zunahme etwa der Hautkrebse und die Folgen, die eintreten, wenn die menschliche Haut dem Sonnenlicht und den ultravioletten Strahlen ausgesetzt wird. Das ist ein Faktum. Sie können die Augen davor nicht verschließen.
Sie kommen aus Ihren ideologisch vorgeprägten Bahnen nicht heraus. Meine Damen und Herren von der Opposition; Sie müssen einfach die Realitäten zur Kenntnis nehmen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hauff?
Bitte schön.
Herr Kollege Laufs, hätten Sie die Freundlichkeit, die deutsche Öffentlichkeit darüber aufzuklären, ob der gleiche Ursachenkomplex
auch als Erklärung für die Tatsache herangezogen werden kann, daß wir ein steiles Ansteigen der Krebserkrankungen bei Neugeborenen haben?
Herr Kollege Hauff, ob das mit industriellen Schadstoffen zusammenhängt, ob das überhaupt so ist, wie Sie es behaupten, muß im einzelnen untersucht werden. Ich sage ganz offen: Hier bin ich nicht sachkundig. Daß es einen Zusammenhang gibt zwischen Krebserkrankungen und dem Lebensalter, bestreitet z. B. überhaupt niemand. Das ist die Frage von Herrn Schulte gewesen. Daß sie nun bei Kleinkindern ebenso häufig vorkommen sollen, ist mir neu.
Das habe ich im einzelnen noch nicht untersucht. Da muß man fragen, was mit den Statistiken der vergangenen Jahre war.
Die Tatsache, daß es eine große Zahl von krebserregenden giftigen Stoffen gibt, die ganz natürlich auf uns einwirken, daß auf Grund unserer Lebensweise, die sich geändert hat — insbesondere durch die Genußmittel, die wir zu uns nehmen —, große Gefährdungen bestehen, bestreitet ja wohl niemand hier. Auch darüber, daß wir die industriellen Schadstoffe zurückdrängen, ihre Gefahren verringern wollen, gibt es keinen Dissens zwischen uns. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß man die Dinge mit Augenmaß, abwägend zu betrachten hat
und daß überhaupt keine Veranlassung besteht, eine Angstkampagne nach der anderen vom Zaune zu brechen.
Chemiepolitik ist eine umfassende Aufgabe. Es handelt sich um eine Querschnittsmaterie, die von Fragen der Gesundheits-, Arbeits- und Umweltpolitik bis hin zu Problemen der Verbraucher- und Industriepolitik reicht. Deshalb wäre Eingleisigkeit fehl am Platz.Für die Unions-Parteien kann ich feststellen, daß wir mit unserer Chemiepolitik mit Nachdruck auf allen diesen Feldern weitere Fortschritte erzielen wollen.
Das Chemikaliengesetz bezweckt den Schutz von Mensch und Umwelt. Alle neuen Stoffe werden einer Gefährlichkeitsprüfung unterzogen und müssen bestimmte, gesetzlich definierte Mindeststandards erfüllen. Die Herstellung oder Verwendung
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Dr. Laufseinzelner Stoffe wurde eingestellt bzw. erheblich eingeschränkt. Mit der in Kürze zu erwartenden Gefahrstoffverordnung setzen wir neue Maßstäbe für das Inverkehrbringen gefährlicher Stoffe, deren Zubereitung und den Umgang mit ihnen. Diese Vorordnung wird u. a. Grenzwerte für Dioxine enthalten.Wir stellen darüber hinaus fest, daß die Bundesregierung das überaus weite Feld der sogenannten alten Stoffe zielstrebig angeht und eine systematische Überprüfung in Zusammenarbeit mit der chemischen Industrie und in internationaler Arbeitsteilung beginnt. Die Unionsparteien werden sich dafür einsetzen, daß wir möglichst schnell zu einer Bewertung der potentiellen Gefährlichkeit aller in Verkehr befindlichen Stoffe gelangen. Ohne eine Kooperation mit der chemischen Industrie wird das nicht gehen.Meine Damen und Herren, die Wirkungsmechanismen der bereits angesprochenen natürlichen Giftstoffe und die Schutzreaktionen des menschlichen Körpers sind bislang nur zum Teil aufgeklärt. Die Ursache-Wirkung-Ketten beim Zusammenwirken verschiedener natürlicher und industrieller Stoffe bei der Auslösung oder Verstärkung von Krankheiten sind noch weitgehend unerforscht. Hier sind verstärkte Forschungsanstrengungen notwendig.Wir leben in einer Zeit der sich wandelnden Problemsicht. Standen am Anfang dieses Jahrhunderts die Segnungen der chemischen Forschung für unser Leben, etwa bei der Krankheitsbekämpfung, im Vordergrund, so machen wir gegenwärtig eine Phase des Unbehagens gegenüber der Chemie und der Furcht vor möglichen Risiken neu geschaffener Stoffe durch.
Die Gegenbewegung zur Abwehr der Gesundheits- und Umweltgefahren ist eingeleitet.Unsere vorrangigen Ziele und Forderungen auf diesem Gebiet sind: erstens die schnelle Lösung der Altstoffproblematik, zweitens die Weiterentwicklung des Vorsorgeprinzips im Chemikaliengesetz und drittens verstärkte Anstrengungen von Forschung und Wissenschaft zur Aufdeckung der Wirkungsmechanismen von Chemikalien. Dabei ist wissenschaftliche Nüchternheit gefragt, nicht Emotionen; denn der Gegensatz zwischen der Natur und dem künstlich Geschaffenen ist keineswegs gleichbedeutend mit dem Unterschied von Gut und Böse.
Unsere Zivilisation braucht am Ende des 20. Jahrhunderts und an der Schwelle zum dritten Jahrtausend sowohl die Natur als auch die Erzeugnisse unserer Forschung und Technik.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hönes.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Während das wahre Ausmaß der Katastrophe von Tschernobyl noch kaum jemandem wirklich bewußt ist, auch gar nicht bewußt sein kann, weil die Zusammenhänge so vielschichtig und komplex sind, müssen wir uns in der aktuellen Tagespolitik schon wieder mit einem zusätzlichen Gefährdungspotential befassen, mit den aber tausend lebensfeindlichen Stoffen aus den Retorten der chemischen Industrie.Tschernobyl hat die Menschen in dieser Republik — aber nicht nur hier — erneut in zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite mobilisieren die geschickten Zerstörer, die zynischen Abwiegler, Herr Laufs, und die dreisten Lügner zum Endsieg über Mensch und Natur. Sie sagen: Keine Gefahr; das kann bei uns nicht passieren.
Sie scheinen immun zu sein.'Den Menschen auf der anderen Seite — dazu zähle ich nicht nur die Mitglieder der grünen Partei in diesem Land — ist die sowjetische Atomkatastrophe tief in die Seele gefahren. Wir sind nicht nur nachdenklich; wir sind auch entschlossener geworden. So wie bisher kann es seit Tschernobyl jetzt nicht mehr weitergehen.Zur chemischen Industrie gibt es nicht nur eine altbekannte Parallele. Die Großchemie muß heute als ebenso risikoreich angesehen werden wie die Atomenergie.
Durch eine Reihe von umfassenden akribischen Störfallanalysen ist der Beweis dafür ebenso erbracht worden wie durch die allseits bekannten Chemiekatastrophen. Die schwarzen Wegmarken heißen Seveso, Contergan und Bhopal.
Als vor beinahe zehn Jahren, am 10. Juli 1976, ein Ventil auf dem Dach der Chemiefabrik Icmesa, einer Tochter des Pharmamultis Hoffmann-La Roche, brach, weil sich im Trichlorphenol-Reaktor ein Überdruck aufgebaut hatte, wurde das Bild von der heilen Chemiewelt erstmalig nachhaltig zerstört. Im Umkreis von mehreren Kilometern rieselte das Ultragift über Menschen, Bäume und Felder herab und verseuchte einen ganzen Landstrich. Kaum jemand hätte damals gedacht, daß ein Wort wie „Dioxin" die Menschen noch Jahre danach in Angst und Schrecken versetzen würde.Die Angst ist berechtigt; denn heute wissen wir, daß selbst kaum meßbare Spuren des Ultragiftes schwere gesundheitliche Schäden bis hin zu Mißbildungen und Krebs hervorrufen können.Die Spur des Dioxins beginnt umweltpolitisch im italienischen Seveso. Sie führt von dort nach überall und irgendwo. Irgendwo, das ist ebenso wie in der Flugasche jeder Müllverbrennung, Herr Laufs,
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Frau Hönesauf Giftkippen wie in Georgswerder oder Schönberg oder in den Pentachlorphenol-Anlagen der Firma Dynamit Nobel im badischen Rheinfelden. Dort, wo Chloraromate und Pestizide produziert werden — so bei Bayer, Hoechst und BASF —, muß mit Dioxin genauso gerechnet werden, wie bei der Verkohlung von PVC im Müllkrematorium oder, wie durch eine Reihe von Untersuchungen bestätigt, in der Muttermilch.
Die Hitliste der Europäischen Gemeinschaft nennt die wahnwitzige Zahl von 90 000 Chemikalien in den Produkten des täglichen Bedarfs. Viele davon können zu Krebs, Erbschäden und Mißbildungen führen. Für die Industrie und die Behörden gelten diese Altstoffe noch immer als harmlos. Sie dürfen in beliebiger Menge produziert und vermarktet werden. Der Machtfaktor chemische Industrie hat bis heute erfolgreich verhindert, daß eine wirksame Entgiftungsstrategie entwickelt, geschweige denn, daß mit der Entgiftung begonnen wurde.Dies hat nicht zuletzt auch historische Gründe. Wir würden einen großen Fehler machen, folgten wir der weit verbreiteten Auffassung, daß unsere heutigen Schadstoffprobleme nichts mit der Tradition der IG Farben zu tun haben, aus der bekanntlich die drei großen deutschen Chemiekonzerne hervorgegangen sind. Für mich ist es die gleiche vermeintlich unpolitische Überheblichkeit des Naturwissenschaftlers, des Chemikers, für dessen Selbstverständnis es unerheblich ist, ob er Ammoniak produziert oder Zyklon B, jene Chemikalie, mit der in den Konzentrationslagern Tausende von unschuldigen Menschen ermordet wurden.
— Ich sage nicht, Herr Kollege, daß es sich um die gleichen Menschen wie damals handelt. Ich frage nach dem Selbstverständnis des modernen Industriechemikers in leitender Position. Ist es nicht die gleiche Grundhaltung, mit der heute die Schadstoffdiskussion von den Lobbyisten der chemischen Industrie geführt wird, Herr Laufs? Der Produzent einer giftigen Chemikalie — so ist unser Rechtssystem beschaffen — haftet für deren Verwendung nicht, heute wie damals.
Nach dem letzten Krieg hat die chemische Industrie ihre Ergebnisse aus Forschungen nach Chemikalien zum Töten von Menschen oder zum Vernichten von Nahrungsmitteln kurzerhand umgewidmet, um den wachsenden Agrarmarkt mit Giften zu versorgen. Dabei ist es bis heute geblieben.
Heinrich von Lersner, der Präsident des Bundesumweltamtes, bringt es auf den Punkt — ihm werden Sie wohl nicht widersprechen wollen —, wenn er sagt:Pestizide sind per definitionem ökotoxisch, oder sie taugen nichts.
Ich sprach vom Machtfaktor chemische Industrie. Diese Branche gehört zu den bedeutendsten Steuerzahlern in der Bundesrepublik, wie ihre Repräsentanten gerne großspurig öffentlich hervorheben. Sie ist die einzige Großindustrie, die heute ohne staatliche Subventionen überleben kann und darüber hinaus satte Gewinne erwirtschaftet. Kein Kunststück, wie ich meine; denn welche Branche versteht es besser, die Folgekosten, aus der eigenen Tätigkeit abwälzend, zu sozialisieren, ob es nun alte, ausblutende Chemiemülldeponien oder kranke Menschen sind? Was bisher an gesicherten Erkenntnissen über das Schadstoffpotential einer Vielzahl von Umweltchemikalien bekannt ist, macht eine konsequente Entgiftungspolitik dringend erforderlich.Das vorliegende Konzept für eine umwelt- und gesundheitsverträgliche Chemiepolitik der SPD ist nach unserer Auffassung ein erster, wenn auch etwas zögernder Schritt in die richtige Richtung. Das Konzept deckt gewisse Mängel im Chemikaliengesetz und in der Gefahrenstoffverordnung auf, es will den längst überfälligen Schutz vor sogenannten Wohngiften in Innenräumen verbessern, fordert eine Verschärfung der Höchstmengenverordnung für Lebensmittel und eine verstärkte Beteiligung zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben.Ich glaube, unsere Gegnerschaft gegen die chemische Produktion beruht nicht nur auf der unendlichen Gefahr, die diese Industrie mittlerweile für das globale Ökosystem und die ganze Menschheit darstellt,
wir warnen auch vor einer Grundhaltung, sehr verehrter Herr Kollege, die streng nach naturwissenschaftlicher Logik das Machbare aus der Materie herauszupressen versucht, ohne politische, humanitäre, soziale und ökologische Kriterien gelten zu lassen.
Daher muß nach unserer Auffassung tiefer geschürft werden. Es geht uns nicht um einen Ausstieg aus der chemischen Produktion als Ganzes.
Stoffumwandlungen sind auch künftig unverzichtbar. Sie dürfen aber keine Schäden an Mensch und Natur hervorrufen; das ist der Unterschied.Grüne Chemiepolitik wird geleitet von den Zielen des Umbaus der bestehenden chemischen Produktion in Richtung auf Natur und Gesundheitsverträglichkeit, des Verzichts auf überflüssige und sinnlose chemische Produkte, des Abbaus vor allem der gesamten Chlorchemie und aller dioxinrelevanten Produktionsbereiche sowie des Verzichts auf giftige
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Frau HönesSchwermetalle und ihre Verbindungen und von dem Ziel des Aufbaus, d. h. der Forschung und Entwicklung einer sanften Chemie.Sanfte Chemie verarbeitet solche natürlichen Stoffgemische und nachwachsenden Rohstoffe, bei deren Gewinnung, Verarbeitung, Anwendung und Entsorgung schädliche Auswirkungen auf Mensch und Natur weitgehend vermieden werden können.
Sanfte Chemie steht dabei in deutlichem Widerspruch zur Gentechnologie und zur harten Biotechnologie. Glücklicherweise, meine Damen und Herren, konnten sie vor allem in den Bereichen des engen Kontaktes der Menschen mit den Stoffen, also im Nahrungsmittelbereich, bei Kosmetika, bei Hautpflegemitteln und Medikamenten, im Kleidungsbereich und in der unmittelbaren Wohnumwelt nie völlig von der harten Chemie verdrängt werden.
Heute gewinnt sie in diesen Bereichen sowie im Bereich der Wasch-, Pflege- und Reinigungsmittel wieder an Boden, dies auch wegen ihrer spürbaren positiven Wirkungen auf das körperliche Wohlbefinden der Menschen. Daß Sie davon nichts verstehen, kann ich nachvollziehen;
sonst würden Sie nicht so lachen.Grüne Entgiftungspolitik muß auch helfen, den Mythos von den sauberen Technologien zu brechen. Computerindustrie und die Perspektive einer Informationsgesellschaft werden nicht zu einer Überwindung der Vergiftung von Mensch und Umwelt führen.
Die Chipsindustrie gehört zu den umweltchemisch bedrohlichsten Industrien überhaupt, wie die Erfahrungen von Silicon-Valley zeigen.Zur Durchsetzung einer menschenfreundlichen Chemiepolitik brauchen wir gegen die Macht der Chemiekonzerne eine starke gesellschaftliche Opposition, die weit über die grüne Partei hinausgeht.
Wir müssen dabei helfen, die Durchsetzungskraft von Bürgerinitiativen, Umwelt- und Verbraucherverbänden, Gewerkschaften und der einzelnen Menschen zu stärken. Nur auf der Basis des gesellschaftlichen Drucks wird es gelingen, die gewollten Veränderungen durchzusetzen.Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Hönes, Sie enttäuschen einen selten. Man weiß: Wenn Sie
zur Tribüne schreiten, haben Sie eine neue Katastrophe entdeckt. Sie berauben sich der politischen Wirkung Ihrer Bemerkungen einfach dadurch, daß Sie Ihre gesamte Umwelt als einen ständigen Herd von Katastrophen, Gefahren und Risiken deuten; und man möchte am liebsten nach Hause gehen, sich einschließen und nicht mehr atmen,
weil man sich dann, wie wir aus den Berichten wissen, den Belastungen von Radon oder den Ausdünstungen von Holzimprägnierungsmitteln nicht mehr aussetzt. Damit lösen Sie die Probleme nicht. Es ist wirklich nichts Neues zutage gefördert worden, auch nicht über den Umfang der Anwendung von Chemie, die Segen und Nachteile haben kann. All das wissen wir seit vielen Jahren, geradezu seit Jahrhunderten.
Sie müssen den Menschen nun auch sagen, was sie selber tun sollen. Wenn man aus Angst vor Katastrophen dauernd die Hände vor den Augen oder über dem Kopf zusammenschlägt, kann man nichts mehr lenken; das ist eine alte Erfahrungstatsache.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich habe eigentlich noch nichts weiter gesagt, aber wenn das nicht angerechnet wird, gestatte ich das.
Frau Hönes, Sie haben jetzt das Wort zu einer Zwischenfrage.
Danke, Herr Präsident.
Herr Kollege Hirsch, es ist richtig: Sie haben wirklich noch nicht allzuviel Inhaltliches gesagt.
Aber ich möchte Sie doch fragen, ob Sie meiner Rede so wenig folgen konnten, daß Sie nicht bemerkt haben, daß ich ausdrücklich davon gesprochen habe, daß die GRÜNEN nicht den Ausstieg aus der chemischen Industrie wollten — sie wissen genau, daß das nicht möglich ist —, sondern den Umbau der chemischen Industrie wollen. Und dazu habe ich sehr konkrete Schritte erläutert.
Ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört und festgestellt, daß Sie Ihre Umwelt immer und auch in diesem Fall als eine Katastrophe deuten und daß Sie bei der Darstellung dessen, was Sie tun wollen, erstens vage bleiben und zweitens fast ausschließlich zu staatlichen Dirigismen Zuflucht nehmen. Das ist ein Weg, den wir für irreal und unrealistisch halten.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986 17295
Dr. HirschHerr Duve, Sie sind ein literarisch begabter Mensch.
Auch bei Ihnen muß ich sagen: Das Wort „Schleppnetzfahndung" positiv von Ihnen in den Mund genommen, ist natürlich schon eine beachtliche Leistung.
Sie haben ungefähr so formuliert: Altstoffe, die besonders gefährlich sind, aus dem großen Teich herauszufischen. — Wenn Sie sich das Vergnügen gemacht und den Bericht gelesen hätten, über den wir hier reden sollen — alle Passagen aus den Textziffern 3.5 ff., im Anschluß an § 4 des Chemikaliengesetzes —, hätten Sie gesehen, daß genau das gemacht wird und das eine der Folgerungen ist, die die Bundesregierung aus § 4 des Chemikaliengesetzes zieht — ich komme im einzelnen noch darauf —, nämlich durch ein Raster, eine Grobvorsortierung, eine Gefährlichkeitsabwägung auf die Altstoffe zu kommen, die ein besonderes Gefährdungspotential haben.
Also genau das, was Sie hier sehr schön formuliert haben, geschieht j a.Aber die Tatsache — und da hat Herr Kollege Laufs völlig recht —, daß nicht ein Stoff allein gefährlich ist, sondern daß es die Dosierung macht, ist eine jahrhundertealte Erkenntnis,
die wir einem Mann verdanken, der als Theophrastus Bombastus von Hohenheim, Paracelsus genannt, gesagt hat:Es ist nicht das Ding an sich, es ist die Menge, die es macht, ob ein Ding Gift ist oder nicht.Das genau ist der Punkt.
Ich stimme Ihnen völlig zu, wenn Sie sagen, daß wir uns durch die Darstellung abstrakter Gefährdungspotentiale um so mehr in Ängste hineintreiben lassen, als durch eine immer verfeinerte, moderne Diagnostik- und Analysemöglichkeit das Vorhandensein solcher Stoffe immer deutlicher wird, daß sie überall da sind, daß sie überall da waren und daß es entscheidend ist, in welcher Menge sie da sind oder wir sie auch neu schaffen.
Das ist im Grunde genommen ein Mechanismus, dessen man sich klar werden muß.Der Kollege Baum hat bei der Einbringung des Chemikaliengesetzes über das Gefährdungspotential etwas gesagt, was heute völlig unverändert gilt. Das war 1979. Damals hat Herr Baum ausgeführt:Auf keinem anderen Felde des Umweltschutzes werden Umsetzung und Durchsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse so gebraucht wie auf dem Gebiet der Wirkung von Chemikalien. Nirgends ist die Zahl der Stoffe und Gefährdungen so groß, Beispiele für lebensbedrohende Langzeitwirkungen so zahlreich wie hier. In viel stärkerem Maße als bisher muß daher bei der Fortentwicklung des Schutzes vor Umweltchemikalien auf intensive Zusammenarbeit auf allen Ebenen des Gesetzesvollzuges mit der Wissenschaft gesucht werden.Das ist in der Tat der entscheidende Punkt. Es kommt nämlich nicht auf das Vertrauen darauf an, daß der Staat es schon richten werde oder könne oder der Staat mit dirigistischen Lenkungsmethoden zu einem Allheilmittel werde. Vielmehr sind zwei Dinge Voraussetzung: einmal ein wachsendes Umweltbewußtsein des einzelnen in seiner Verhaltensweise und zum anderen natürlich die Zusammenarbeit mit Industrie und Wissenschaft, statt gegen sie zu sein.Ich möchte zunächst ein paar Worte zu dem Bericht der Bundesregierung über Chemie in Haushalt und Innenraumbelastung sagen. Ich muß sagen: Ich habe diesen Bericht mit großem Vergnügen gelesen. Er ist einer der ja nicht zu zahlreichen Berichte, die man auch der Sprache nach tatsächlich verstehen kann. Ich will das ausdrücklich sagen. Ich Würde es für günstig halten, wenn dieser Bericht möglichst große Verbreitung fände.Darin wird sehr deutlich dargestellt, daß — das wird im einzelnen ausgeführt — der Einsatz von Chemikalien in den Haushalten, z. B. im Hygienebereich, viele gesundheitliche Gefahren verringert, daß natürlich gleichzeitig aber auch andere auftreten mögen und daß man dieses Problem nur mit der zunehmenden Wachsamkeit des einzelnen, mit der zunehmenden Verantwortungsbereitschaft im Hinblick auf die Folgewirkungen und durch Vorsorgemaßnahmen lösen kann. Ich habe aus dem Bericht übrigens gelernt — das war mir völlig neu —, daß das berühmte Umweltzeichen nur einen relativen Wert darstellt — eine Relation zu anderen — und keineswegs ein Beleg dafür ist, daß ein Erzeugnis wirklich umweltfreundlich ist. Es wäre sicherlich zu überlegen, ob man hier nicht etwas anderes machen sollte.Nun zu dem Bericht über das Chemikaliengesetz. Wir haben damals — Herr Duve, das sollten wir niemals unter den Tisch fallen lassen —, gesetzgeberisches Neuland betreten. Ich glaube, daß dieses Gesetz angesichts der enormen Schwierigkeiten, angesichts der Kompliziertheit der Materie, aber auch angesichts der unglaublichen Vielzahl von Chemikalien oder chemischen Stoffen ein vernünftiger Anfang war. Es kann kein Endstadium sein. Dar. über gibt es zwischen den Fraktionen hier überhaupt keinen Zweifel. Es muß und kann und sollte weiterentwickelt werden. Das zeigt auch der Bericht.Wenn man 100 000 Chemikalien, in Verkehr gebrachte Stoffe und über 1 Million Zubereitungen unterschiedlicher Zusammensetzungen hat, dann
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17296 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
Dr. Hirschdarf man aber auch nicht den Eindruck erwecken, als ob ein solches Problem nach der Analyse der Gefährlichkeit der vorhandenen Stoffe in wenigen Jahren gelöst werden könnte. Man sollte vor allen Dingen auch nicht den Eindruck erwecken, als könnte es ohne die enge Zusammenarbeit von Wissenschaft, Verwaltung und Wirtschaft gelöst werden.Zu der Schleppnetzgeschichte — ich habe das schon gesagt —: Es ist ja in einem Beratergremium für umweltrelevante Altstoffe eine Liste von 4 500 Substanzen in eine Prioritätsstufe gebracht worden, um dem Problem der Altstoffe, der Altbelastungen möglichst schnell beizukommen. Ein Gesichtspunkt bei der Novellierung ist in der Tat die Frage, ob das schnell genug geht, ob man sich weiter allein oder im wesentlichen auf freiwillige Vereinbarungen verlassen kann ober ob nicht doch der Gedanke einer gesetzlichen Regelung zur Beschleunigung ernsthaft erwogen werden muß.Ein zweiter Gesichtspunkt, über den man nachdenken muß, ist § 17, der ja eine sehr hohe Eingriffsschwelle enthält. In ihm ist bestimmt, daß der Verbraucher zunächst durch Verpackung, durch Hinweise auf — auch gefährliche — Eigenschaften informiert werden soll. Das muß sicherlich sein. Aber dann ist der Punkt erreicht, an dem man sich im Interesse der Vorsorge gegen Schäden fragen muß, ob hier nicht gesetzliche Regelungen notwendig sind, die die Eingriffsschwelle etwas absenken.Der dritte Bereich, über den man nachdenken muß, hat die Frage der Anmeldepflichten zum Gegenstand. Es ist in der Tat ein Problem, ob man die ausschließlich für den Export vorgesehenen Stoffe von den Anmeldepflichten ausnehmen kann; denn die Produktion dieser Stoffe gefährdet natürlich unverändert auch die Arbeitnehmer, ob diese Stoffe nun hinterher exportiert werden oder nicht. Ich glaube, daß wir die Frage dieser Anmeldungen ernsthaft prüfen müssen.Ich will noch etwas zu dem Konzept der SPD sagen, das eine Vielzahl von Punkten enthält, Herr Duve, über die man durchaus sprechen kann, denen man zustimmen muß, z. B. der Harmonisierung von Altstoffüberprüfungen in der Europäischen Gemeinschaft.Wir stehen dem Gedanken einer Schadstoffabgabe ablehnend gegenüber. Ich glaube, daß man einer solchen zusätzlichen Abgabe, die ja auf vielen Gebieten gefordert wird, nicht zustimmen kann. — Nächste Woche werden wir uns über eine Chlorsteuer unterhalten; ich dachte erst, ich hätte falsch gehört. — Das ist ein Weg, von dem wir glauben, er wird mit großen Belastungen, Schwierigkeiten und Durchsetzungsproblemen verbunden sein. Ich glaube nicht, daß wir da wesentlich weiterkommen.Ihre Darstellungen zu den Eckwerten zur Gefahrstoffverordnung haben mich etwas überrascht. 'Die Gefahrstoffverordnung ist in den letzten Wochen im Bundesrat in epischer Breite behandelt worden. Der Bundesrat hat die Öffentlichkeit mit einem Papier von immerhin 413 DIN-A4-Seiten beglückt. Ich nehme an, daß das, was Sie hier in Ihrem Antrag fordern, im Bundesrat in die Beratungen eingebracht worden ist. Ich weiß nicht, was es für einen Sinn haben soll, dasselbe hier noch einmal zu behandeln oder zu fordern.Ich denke, daß man in der Tat ernsthaft an einer Novellierung des Chemikaliengesetzes arbeiten muß. Ich bin der Überzeugung, daß der Umweltminister die vielen Ängste, die hier in der Debatte zum Ausdruck gekommen sind, nicht als Belastung, sondern als Ermutigung empfindet, in diesem Bereich in besonderer Weise tätig zu werden.Die vier Komplexe, um die es geht, sind leicht zu kennzeichnen. Es ist die Behandlung der Altstoffe, es ist die Kennzeichnungspflicht, es sind die Mitteilungspflichten, und es sind die Eingriffsvoraussetzungen, die Voraussetzungen, unter denen der Staat von seinen Möglichkeiten notfalls Gebrauch machen muß, wenn das Modell der Kooperation in der Wirklichkeit nicht funktionieren sollte. Die Bundesregierung nennt in ihrem Bericht selber diese vier wesentlichen Positionen. Wir stimmen der Bundesregierung darin zu.Ich hoffe, daß wir noch in dieser Legislaturperiode jedenfalls die ersten Gespräche führen können, um zu Beginn der nächsten möglichst schnell zu einer Novellierung zu kommen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Beratung des dem Parlament bereits seit einigen Monaten vorliegenden Berichts zum Chemikaliengesetz gibt auch mir Gelegenheit, einige Bemerkungen zur Fortentwicklung der Chemiepolitik hier vorzutragen.
Die Bundesregierung geht in diesem Grenzbereich von Gesundheits-, Arbeits- und Umweltschutzpolitik, von Verbraucher- und Industriepolitik von folgenden Prämissen aus.Erstens. Die Bundesregierung nimmt natürlich die Befürchtungen und Sorgen, die es in der Bevölkerung gibt — das bestreiten wir überhaupt nicht —, vor einer zunehmenden Chemisierung der Umwelt, der Arbeitsplätze und der Haushalte ernst. Ich füge hinzu: Ängste und Sorgen haben natürlich, sozusagen per Definition, damit zu tun, daß sie in einem großen Teil der Fälle rational gar nicht erklärbar sind. Aber sie sind eine Wirklichkeit. Wenn man der Auffassung ist, auf Grund wissenschaftli-
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Bundesminister Dr. Wallmanncher Einsicht und Kenntnisse seien diese Sorgen nicht begründet — da sind wir sicherlich einer Meinung, Herr Abgeordneter Duve —, darf das nicht dazu führen, einfach darüber hinwegzugehen. Nein, wir haben uns durchaus damit auseinanderzusetzen.Aber — und das möchte ich ganz im Sinne dessen sagen, was Herr Abgeordneter Dr. Laufs hier ausgeführt hat — wir müssen auch vor der Tendenz warnen, Wissenslücken bei vielen Menschen auszunutzen, um Unsicherheit zu erzeugen. Ich denke, auch das ist unsere Aufgabe.
— Ich weiß nicht, warum Sie mich so anreden. Ich hab Ihnen doch gar nichts 'getan. Oder habe ich Sie in irgendeiner Weise herabgesetzt? Ich kann mich nicht erinnern.
— Nein, ich glaube nicht, daß ich etwas Unwahres gesagt habe. Ich meinerseits bemühe mich nicht nur um Korrektheit, sondern auch darum, den anderen in seiner anderen Meinung zu respektieren.
Zweitens. Das Chemikaliengesetz und die anderen Stoffgesetze wie das kürzlich novellierte Pflanzenschutzgesetz, das Arzneimittelgesetz oder das Lebensmittelgesetz und das Bedarfsgegenständegesetz sind in ihrer Grundstruktur bereits die Antwort auf die von unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern empfundenen Probleme. Ich füge hinzu: Es bedarf keiner neuen Gesetze, sondern weiterer konsequenter Anwendung der bestehenden Gesetze.
Drittens. Das Chemikaliengesetz ist ein neues Gesetz, das gerade erst zu greifen begonnen hat. Dieses Gesetz — das füge ich ausdrücklich hinzu; ich denke: in Übereinstimmung mit allem, was gesagt worden ist — kann und muß in einigen wichtigen Details noch verbessert werden. Es geht dabei darum, dem in § i umschriebenen Zweck eines umfassenden und wirksamen Gesundheits- und Umweltschutzes noch besser zu dienen. In den Schlußbemerkungen des Berichts sind die Hauptfelder für die Novellierungsdiskussion bereits genannt worden.Viertens. Im Bereich der Durchführung des Chemikaliengesetzes hat die jetzige Bundesregierung von ihrer Vorgängerin eine Zersplitterung der Zuständigkeiten übernommen. Mit der Bildung des Umweltministeriums durch den Herrn Bundeskanzler ist ein wichtiger Schritt zu einer Zusammenführung der Kompetenzen gemacht worden.
Diese Entscheidung des Bundeskanzlers betrachte ich als Auftrag, die natürlich noch erforderlichen Maßnahmen zum Gesundheits- und Umweltschutz nach einer allgemeinen Bestandsaufnahme zielstrebig anzupacken.Ich will bei dieser Gelegenheit noch etwas sagen, daß nämlich heute — um die hundert Jahre nach Entstehen der großtechnischen Chemieindustrie — die Aufmerksamkeit für Problemchemikalien sprunghaft gestiegen ist. Meine Vorgängerin in diesem Bereich, Frau Professor Süssmuth, mußte aus aktuellem Anlaß ihre erste Rede vor diesem Hause über den Stoff Formaldehyd halten.
In den vergangenen Jahren wurden Stoffbezeichnungen zum allgemeinen Sprachgut. Selbst gut informierte Bürger — sagen wir das ganz ehrlich — haben vorher nichts davon gewußt. — Ja, es wird Formaldehyd ausgesprochen, Herr Kollege.Ich bekenne ganz offen, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß ich Begriffe wie Becquerel und rem bis zu der schlimmen Katastrophe von Tschernobyl nicht gekannt habe.
— Ja, ich habe mich damit nicht auseinanderzusetzen gehabt. Wenn Sie aber sagen: „Das ist schlimm", dann will ich Ihnen sagen: Ich habe immer ein gewisses Unbehagen vor allen, die den Eindruck zu erwecken versuchen, sie wüßten alles.
— Herr Abgeordneter Duve, darf ich einmal folgendes sagen: Wir sollten unseren Mitbürgerinnen. und Mitbürgern auch sagen, daß wir uns häufig über Materien unterhalten, die hochspezialisiertes Fachwissen erfordern, und daß wir — jedenfalls in der Regel — nichts anderes als bemühte Dilettanten sind. Ich habe eine der Reden mit großem Interesse zur Kenntnis genommen. Es war mir alles zu sehr Entweder-Oder, zu sehr Schwarz-Weiß. Ich glaube, die Wahrheit ist anders. Uns alle — ich gucke nicht einzelne an — möchte ich daran erinnern, daß wir Deutschen häufig einem sehr diffusen Gemeinschaftsideal angehangen haben und daß wir nicht schlecht beraten sind, uns bewußt zu sein, daß wir nur durch Rationalität imstande sind, die komplexen Zusammenhänge unserer Welt zu begreifen, daß mit einfachen Antworten überhaupt nicht geholfen ist
und daß aus diesen einfachen Antworten auch häufig Ängste erwachsen. Ich unterstelle das gar keinem. Ich sage: Es ist nach meinem Eindruck häufig einfach die Konsequenz.
Sie gestatten eine Zwischenfrage, Herr Minister?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Natürlich.
Bitte schön, Herr Duve.
Herr Minister Wallmann, Sie haben eben erwähnt, daß auch wir Politiker so sehr abhän-
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17298 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
Duvegig seien von den Kenntnissen hochqualifizierter Wissenschaftler. Dem stimme ich zu. Ich möchte Sie jetzt fragen: Möchten Sie zur Kenntnis nehmen, daß wir Politiker gerade in diesem Bereich der Naturwissenschaften und des Umweltschutzes eben immer wieder mit zwei Meinungen sehr hochqualifizierter Wissenschaftler konfrontiert werden und daß unser eigentliches Problem nicht in der dargestellten absoluten Wahrheit, sondern in den unterschiedlichen Meinungen dieser hochqualifizierten Wissenschaftler liegt und daß wir dann zur Kenntnis nehmen, wie viele von ihnen — z. B. im Bereich der chemischen Industrie -- unmittelbar im Interesse der Produktion tätig sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann Ihnen ohne weiteres zustimmen, daß wir manchmal solche Sachverhalte antreffen. Ich selber bin Jurist, wie Sie vielleicht wissen. Von Juristen sagt man: Wenn zwei zusammenkommen, gibt es drei Meinungen. Was ich damit zum Ausdruck bringen will, ist, glaube ich, eindeutig. Ich erkenne durchaus eine gewisse Gefahr, die entstehen kann, nämlich sich sozusagen den Hausexperten zu halten. Es kann sehr, sehr schwierig sein, darauf eine Antwort zu finden.
Verzeihen Sie, gnädige Frau, ich sage ganz ehrlich: ich war betroffen, als Sie in dieser Weise über die Chemiker gesprochen haben, wie Sie das hier getan haben.
Das kann ich, verzeihen Sie, nicht nachvollziehen. Ich glaube, es ist auch den Betroffenen gegenüber nicht verantwortbar.
Herr Minister, wollen Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schäfer zulassen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte.
Bitte schön.
Nach dem, was Sie eben ausgeführt haben, nämlich daß es zu schwierigen wissenschaftlichen Problemen unterschiedliche wissenschaftliche Antworten geben kann und dies ein Dilemma für die politische Entscheidungsfindung darstellt — da stimme ich Ihnen zu —, will ich Sie fragen: Sind Sie bereit, bei der personellen Besetzung und Zusammensetzung der Sie beratenden Kommissionen, beispielsweise der Reaktorsicherheitskommission, der Strahlenschutzkommission, deren Empfehlungen Ihr Vorgänger unbesehen übernommen hatte, auch dafür Sorge zu tragen, daß durch die personelle Zusammensetzung die Vielfalt unterschiedlicher wissenschaftlicher Auffassungen im Gremium selbst zum Tragen kommt und in diesen Beratungsgremien nicht nur Wissenschaftler
vertreten sind, die gleichsam mit einer einzigen wissenschaftlichen Zunge sprechen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich darf zunächst einmal darauf hinweisen, Herr Abgeordneter: Die derzeitigen Mitglieder der Reaktorsicherheitskommission sind nicht von dieser Bundesregierung berufen worden.
Das zweite ist: Die Gespräche, die ich bis jetzt führen konnte -- Sie wissen, ich bin noch nicht lange in meinem Amt —, haben mir ein ganz besonderes Verantwortungsbewußtsein dieser Mitglieder gezeigt. Ich glaube, wir sollten sie nicht in Zweifel ziehen, auch nicht, indem wir einfach nur Fragen stellen. Die Mitglieder der Kommission machen sich ihre Entscheidungen ganz gewiß nicht leicht, und sie sind völlig unabhängig.
Es gibt für mich keinen Anlaß, an Sachverstand, Verantwortungsbewußtsein und völliger Unabhängigkeit in irgendeiner Weise zu zweifeln.
Herr Minister, der Abgeordnete Schäfer hat um eine weitere Zwischenfrage gebeten. Sind Sie einverstanden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich würde gern fortfahren, Herr Präsident, da meine Redezeit abläuft.
— Es wird mir nicht peinlich.
— Bitte, dann fragen Sie noch einmal.
Ich wollte nur wissen, ob Sie, wenn die Neubesetzung der Reaktorsicherheitskommission ansteht, diesen Kriterien auch bei der personellen Ernennung Rechnung tragen werden, nämlich daß Wissenschaftler, die wissenschaftlich ausgewiesen sind, aber unterschiedliche Auffassungen beispielsweise zur Kernenergie haben, in diesem Gremium mit vertreten sein sollen. Wollen Sie sich dafür einsetzen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich werde, Herr Abgeordneter, immer darum bemüht sein, so hohen und so viel Sachverstand zu gewinnen, wie nur möglich ist. Daß ich ein Mann bin, der nicht nur nach einer Seite schaut, wissen Sie vielleicht auf Grund der Tatsache, daß z. B. Parteifreunde von Ihnen in meinem vorherigen Amt in ihren Dezernaten bestätigt worden sind, obwohl meine politischen
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986 17299
Bundesminister Dr. WallmannFreunde dreimal die absolute Mehrheit gewonnen hatten.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist manchmal wohl doch unser Eindruck, als werde den Bürgern erst jetzt klar, daß nahezu alle Annehmlichkeiten des modernen alltäglichen Lebens — davon haben Herr Dr. Laufs wie Herr Dr. Hirsch gesprochen — neben großen, großen Vorteilen auch gewisse Risiken gebracht haben. Viele Bürger haben es schwer, das Ausmaß dieser Risiken realistisch einzuschätzen.Die daraus entstehende Unsicherheit verführt dazu, das sogenannte Null-Risiko zu fordern oder den Eindruck zu erwecken, es könnte diese Situation geben. Ich sage es ganz offen: Für mich ist das eine fundamentalistische Forderung, die vielleicht griffig ist, die aber nicht erfüllbar ist. Ich leugne nicht, daß sich manche Risikoabschätzung in der Geschichte der Chemieindustrie und der Chemikalienverwendung als fehlerhaft, zumindest als korrekturbedürftig erwiesen hat. Ich erwähne selbst als Beispiele den tragischen Unfall von Seveso oder die heute nahezu überwundene Fehlleistung, die gefährlichen Asbestfasern wo nur möglich zu verwenden.Aus diesen Erfahrungen aber hat unsere Gesellschaft — manchmal wohl schmerzlich — gelernt, nämlich daß manche der Risikoabwägungen der Vergangenheit auf einem unzureichenden Wissensstand basierten. Es ist deshalb erforderlich, unser Wissen in vielen Bereichen — ich würde sagen: in allen nur denkbaren Bereichen — zu erweitern, um jeden Fortschritt des Wissens auch für eine Überprüfung der Risikoabwägungen zu nutzen.Ich habe vorhin gesagt, daß das Chemikaliengesetz bereits den Lösungsansatz für die geschilderten Probleme darstellt. Hinsichtlich dieser Einschätzung der Bundesregierung kann ich, denke ich, Herr Abgeordneter Duve, Einvernehmen mit der SPD-Fraktion dieses Hohen Hauses feststellen.
Ihr Antrag, ein Konzept einer umwelt- und gesundheitsverträglichen Chemiepolitik, fordert ja nicht die Aufhebung oder die Generalrevision des Chemikaliengesetzes. Vielmehr wird lediglich eine Reihe von Detailkorrekturen vorgeschlagen.
Der Antrag der SPD-Fraktion enthält außerdem Forderungen zur Gefahrstoffverordnung. Einigen davon wurde schon mit der Verabschiedung dieser Verordnung durch den Bundesrat am 16. Mai entsprochen. Andere Forderungen schießen nach unserer Auffassung über das gemeinsame Ziel eines möglichst wirksamen Gesundheits- und Arbeitsschutzes hinaus.Ich möchte zu dieser wichtigsten Verordnung auf der Basis des Chemikaliengesetzes noch wenige Bemerkungen anschließen: Die Gefahrstoffverordnung, die das Bundeskabinett voraussichtlich in seiner Sitzung am 25. Juni endgültig beschließen wird, ist eine wichtige Leistung der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode. In dieser Verordnung werden erstmals das frühere Arbeitsstoffrecht und das alte Länder-Giftrecht und damit der Arbeitsschutz und der allgemeine Gesundheitsschutz zusammengeführt und vereinheitlicht. Seit 1966 ist die Ablösung des Länder-Giftrechts von den verschiedenen Bundesregierungen als wichtige politische Aufgabe angesehen worden. Erst jetzt, nach 20 Jahren, ist es gelungen, diesen Schritt zu vollziehen. Gleichzeitig damit wurde eine breite Rechtsmaterie neu geordnet. So wurden 13 Richtlinien der EG umgesetzt und insgesamt 36 Gesetze und Verordnungen außer Kraft gesetzt.Mit der Gefahrstoffverordnung wird der Schutz vor krebserzeugenden Stoffen verbessert. Diese Verordnung enthält außerdem z. B. eine Schutz- und Überwachungsregelung zu Dioxinen und Furanen, die weltweit ohne Beispiel ist. Ich denke, das sind wirkliche Leistungen, die herausgestellt werden können. Ich kann es tun, weil ich daran j a gar keinen Anteil gehabt habe und deswegen damit auch nicht in falschen Verdacht geraten kann.
In der Verordnung ist eine intensive Beteiligung der Arbeitnehmervertreter in Betrieben und Verwaltungen vorgesehen. Sie alle wissen, worum es sich dabei handelt.Zusammenfassend kann ich feststellen, daß die Gefahrstoffverordnung enorme Verbesserungen zum Schutz der Bevölkerung und insbesondere zum Schutz der Arbeitnehmer bringt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich gestatte mir, einen Rest, den ich noch ausführen wollte, zu Protokoll zu geben; denn die Zeit ist fortgeschritten. Ich muß also in Zukunft beim Zulassen von Zwischenfragen vorsichtig sein. Denn sonst stelle ich nachher fest, daß ich manches von dem, was ich eigentlich sagen wollte, nicht habe vortragen können. Ich bitte also um Verständnis, daß ich im Hinblick auf die Zeit an dieser Stelle abbreche *).Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn feststellen, daß es bei allen Fraktionen — jedenfalls habe ich keine unterschiedlichen Töne gehört — unbestritten ist, daß die chemische Industrie wesentliche Vorteile für die Lebensentwicklung der Menschen gebracht hat und daß sie auch ein Träger*) Fortsetzung der Ausführungen siehe Anlage 2
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Müller
des Wohlstands der letzten Jahrzehnte ist Aber ebenso unbestritten muß es sein, daß die Gefahren und Risiken der chemischen Industrie insbesondere in den letzten 10, 15, 20 Jahren überproportional angestiegen sind.
— Es wäre vielleicht gut, wenn Sie erst einmal abwarten und — genauso wie Sie es für sich verlangt haben — zuhören würden.
— Ich werde dazu gleich kommen.Aus dieser Einsicht brauchen wir Kurskorrekturen, und zwar vor allem im Grundverständnis unserer Umweltpolitik. Denn unsere Umweltpolitik war und ist im Prinzip heute noch eine Umweltpolitik, die den qualitativ veränderten Gefährdungen nicht gerecht wird bzw. erst am Ende der Produktionsprozesse und bei der Nutzung ansetzt. Wir müssen meines Erachtens feststellen, daß wir besonders durch die Zunahme der Chemisierung von qualitativ veränderten Gefährdungen für Mensch und Natur ausgehen müssen
und daß deshalb in den 80er und 90er Jahren im Mittelpunkt der Umweltpolitik die stoffliche Neubewertung nach dem Vorsorgeprinzip stehen muß.
Es gibt qualitative Veränderung für die Umweltpolitik.Dieses bedeutet nicht, daß wir alle bisherigen Prinzipien aufgeben müssen, wohl aber, daß wir die bisherige Ausrichtung auf Verhinderungspolitik am Ende von Herstellung und Nutzung durch eine Politik erweitern müssen, die von vornherein in die Entwicklung von Produktionsprozessen eingreift.
Das ist der entscheidende Unterschied
und auch der entscheidende Streitpunkt.
Wir wollen mit einem reparierenden, nachträglichen Umweltschutz aufhören und hin zu einer gestaltenden, gesellschaftspolitisch ausgerichteten Chemie- und Umweltpolitik kommen.
Das ist der Streit, um den es geht. Es gibt verschiedene Aspekte, wodurch die chemischen Gefahren nicht mit den traditionellen Umweltgefahren gleichgesetzt werden können.Die Gründe sind: Erstens: Die chemischen Gefahren bringen enorme Langzeitprobleme mit sich, diewir in einer kurzfristigen Betrachtungs- und Reparaturstrategie nicht beseitigen können.Zweitens: Gerade die chemischen Stoffe haben enorme Kumulationseffekte. Das bedeutet, daß hier eine den Einzelfall betrachtende Politik nicht weiterhilft, sondern daß wir im Zusammenhang verschiedener Schadstoffe denken und kumulative Wirkungen beachten müssen.Drittens: Besonders bei den chemischen Stoffen helfen nach menschlichem Ermessen die klassischen Methoden der Selbstreinigungskräfte und der eigentlich nur auf bestimmte Teilbereiche der Umweltpoltik reduzierten Politikansätze nicht weiter, sondern hier müssen wir weiterhin von vernetzten Systemen und von unwiderruflichen Schadensentwicklungen ausgehen.Das sind qualitativ andere Problemstellungen als in vielen traditionellen Bereichen der Umweltpolitik, und das macht daher eine andere Politik notwendig.Wir leugen nicht, daß auch die chemische Industrie in Teilbereichen zur Verbesserung der Umweltsituation beigetragen hat. Das ist überhaupt keine Frage. Dennoch ist das Mißtrauen der Bürger gegenüber den Gefahren der chemischen Entwicklung zu Recht gewachsen. Dieses Mißtrauen wird meines Erachtens nicht zuletzt auch durch sehr fragwürdige Werbekampagnen der chemischen Industrie erzeugt.Ich nenne ein paar Beispiele. Natürlich ist unbestritten, Herr Dr. Laufs: Wir haben keine Unterschiede, wenn Sie sagen, daß natürlich auch die Lebensweisen mitverantwortlich für Krebsentstehung sind. Aber umgekehrt kann man doch bestimmte andere Fakten nicht einfach vom Tisch bügeln, beispielsweise, daß die Zahl der anerkannten krebserzeugenden Stoffe sich seit 1960 verzwanzigfacht hat,
beispielsweise, daß wir von der Arbeitswissenschaft wissen, daß durch gefährliche Arbeitsstoffe der Anteil von Krebserkrankungen inzwischen auf 20 % und mehr erhöht wird.
Ich verweise auf Untrsuchungen von Peto und anderen aus Amerika, und ich weiß, welche langfristigen Gesundheitsgefährdungen bestimmte Alltagschemikalien, also Massenchemikalien mit sich bringen; Formaldehyd wurde vorhin genannt, man kann Para-Dichlorbenzol und andere Stoffe hinzufügen. Noch gefährlicher scheint mir etwas zu sein, worauf uns Immungenetiker bzw. Allergie-Fachleute, hinweisen. — Ich finde es traurig, daß bei immer mehr Menschen im Zusammenhang mit der Zunahme von Allergien Chromosomenbrüche festgestellt werden und daß deshalb dauerhafte gesundheitliche Schädigungen der Menschen zunehmen. Forschungsstellen wie die in Essen, Darmstadt und
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Müller
Gießen sagen, daß dies in einem klaren Zusammenhang mit der Chemisierung des Alltags steht.
Genau das ist der Unterschied. Das ist der Punkt, den auch Herr Schäfer angesprochen hat. Sie sagen: Das wissen wir nicht genau, deshalb handeln wir nicht. Im Verständnis von politischer Verantwortung unterscheiden wir uns darin,
daß wir in dem Augenblick, wo wir begründete Verdachtsmomente haben, die Auffassung vertreten, daß dann die Politik vorsorgend handeln muß.
Das ist der Unterschied zu Ihnen.
Sie verfolgen da eine Strategie des Abwartens und der Verharmlosung.
Das wird auch beispielsweise in der Beantwortung der Großen Anfrage zu „Chemie im Haushalt" deutlich, wo Sie immer wieder schreiben: Es gibt gesundheitliche Gefahren, aber sie müssen erst weiter erforscht werden. — Dies ist kein Prinzip einer verantwortlichen Gesundheits- und Umweltpolitik. Da unterscheiden wir uns grundsätzlich.
Wir können weitere Punkte nennen: Beispielsweise die Zunahme von Rückständen und Anreicherungen in den Lebensmitteln. Seveso und Bhopal wurden schon genannt. Aber entscheidend ist eigentlich der Punkt, daß wir im Grunde genommen — und da sind wir dann von der Grundposition her auf einer Linie — über die chemische Entwicklung zuwenig wissen. Der Tatbestand ist, daß wir eigentlich sagen müssen, daß wir wenig wissen und daß wir das auch gleichzeitig wieder verdrängen.Wir haben in der Bundesrepublik rund 9 Millionen Einzelstoffe literaturmäßig erfaßt. Wir haben unzählbare Formulierungen ebenfalls erfaßt. Wir haben eigentlich nur bei wenigen Stoffen tatsächlich ein Wissen über ihren Wirkungszusammenhang, über ihre Synergismen, über ihre Antogonismen, über die Wirkungsweise, auf Metaboliten und vieles andere mehr.
Dieses ist wissenschaftlich eigentlich unumstritten.
Was wir nicht wissen, ist beispielsweise, welche umwelttoxikologischen Wirkungen bei vielen Stoffen, und nicht nur bei bekannten Stoffen, sondern auch bei Abfallprodukten, bei Nebenprodukten entstehen. Wir wissen nicht, welche Anreicherungsgefahren beispielsweise für Biosphäre und Boden entstehen. Wir wissen wenig über die Remobilisierbarkeit von Schadstoffen. Wir wissen auch wenig von ihren Kombinationswirkungen, im übrigen nicht nur mit chemischen Stoffen, sondern auch mit traditionellen Stoffen, beispielsweise der Luftverunreinigung, auch der Radioaktivität. Wir wissen im Grunde genommen sehr wenig, aber wir tun so, als ob wir alles wissen.
Ein Beispiel sind die polychlorierten Dioxine oder Diphenyle. Sie haben ein Wirkungspotential von 109. Da kann kein Wissenschaftler behaupten und keiner, der hier zu den allwissenden Politikern gehört, daß er weiß, welche Wirkungsweisen diese Stoffe haben, Da gibt es nur das Prinzip politischer Verantwortung, und das heißt in diesem Fall: die politische Orientierung an der Umweltvorsorge.
Aus unserem Ansatz werden folgende Schlußfolgerungen deutlich.Erstens. Wir brauchen eine systematische Bewertung der stofflichen Gefahren mit klaren Verbots-, Einschränkungs- und Umbauregelungen, vor allem natürlich bei der Aufarbeitung der Altstoffliste.Zweitens. Wir brauchen angesichts der Langfristwirkung vieler chemischer Stoffe und der objektiven Begrenztheit menschlicher und wissenschaftlicher Kenntnisse eine konsequente Weiterentwicklung der Umweltpolitik hin zu einer konsequenten Vorsorgepolitik.Vorsorge heißt, daß wir auf dem Hintergrund der begrenzten Erkenntnisfähigkeit handeln müssen. Das heißt, wir müssen handeln bei begründeten Verdachtsmomenten; das heißt, wir müssen die Beweislast umkehren im methodischen wie auch im rechtlichen Sinne; das heißt, wir brauchen eine Abkehr vom Verdünnungsprinzip; und das heißt, wir müssen uns am technisch höchstmöglichen Stand orientieren; das heißt nicht zuletzt, daß wir Abkehr nehmen müssen von der Illusion, daß wir alle Probleme auf einer immer höheren technischen Ebene lösen können.
Auch das gehört dazu.
Zur Vorsorgepolitik gehört, bewußt auf bestimmte technische Entwicklungen zu verzichten, im Interesse der Umwelt und der Menschen nicht auf ein Vabanquespiel in der Hoffnung auf zukünftige technische Entwicklungen einzugehen.
Drittens. Wir brauchen einen Ausbau der stoffbezogenen Bewertung in Ergänzung und in Verbindung zu der bisher weitgehend medien- bzw. isoliert anwendungsbezogenen Betrachtungsweise. Wir haben in der Bundesrepublik drei Ansätze, die in diese Richtung gehen, wenn auch sehr zaghaft: Das ist das Arzneimittelgesetz, das ist das Lebensmittelgesetz, und das ist das Chemikaliengesetz. Alle drei17302 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bohn, Freitag, den 20. Juni 1986Müller
sind noch zu schwach. Aber es sind die notwendigen, weiter auszubauenden Ansätze.Viertens. Wir müssen Produktion, Ge- und Verbrauch sowie Entsorgung als Einheit begreifen. Auch dürfen wir zukünftig die Umweltprobleme nicht mehr getrennt in bezug auf den Produktionsbereich, den Verbraucherbereich und den Entsorgungsbereich sehen,
sondern wir müssen das als Einheit begreifen; wo immer es geht, Stoffkreisläufe schließen und dann natürlich vor allem am Entstehungsort, wo immer es geht, mit der Vermeidung von Schadstoffen ansetzen.Fünfter und letzter Punkt. Chemiepolitik ist für uns in erster Linie eine Verpflichtung zu staatlichem Handeln. Da unterscheiden wir uns, insbesondere auch von Herrn Hirsch. Wir sind der Auffassung, die der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Hans Dichgans, bezogen auf ein anderes Feld, geäußert hat: „Das Fixieren der Steuersätze in der Vermögensteuer kann nicht den Millionären überlassen werden." Das muß auch für die Umweltpolitik gelten.
Das geht gar nicht anders. Das ist kein Teilbereich der Industrie oder nur der dort Beteiligten, sondern ein zentraler gesellschaftlicher Bereich. Da hat die Gesellschaft die Verpflichtung zur Setzung der Rahmenbedingungen bzw. zum staatlichen Handeln und zur gesamtgesellschaftlichen Verantwortung.Lassen Sie mich zum Schluß noch einen Satz von Hans Jonas zitieren. Hans Jonas hat — zu. Recht — gesagt, daß wir heute an der Schwelle einer technologischen Entwicklung stehen, die beispiellos kausale Reichweiten, unerhörte Fernwirkungen und Unumkehrbarkeiten beinhaltet. Ich finde, da ist richtig zum Ausdruck gebracht, worum es heute geht.Das heißt daß sich daraus ein verändertes „Prinzip der Verantwortung" für politisches Handeln ergibt. Ich kann nicht sagen, ich nehme die Sorgen der Bevölkerung ernst, und anschließend kommt nichts mehr. Vielmehr bedeutet das konkretes Handeln, auch Handeln in Richtungen, die sich später vielleicht als unbegründet herausstellten. Aber im Sinne der Vorsorge ist dies notwendig.
Das Wort hat der Abgeordnete Boroffka.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir heute über Chemie sprechen würden, müßten wir zunächst über die Fülle der Natur sprechen; denn jedes Lebewesen ist ein unerhört komplexes chemisches System. Sehr verehrte Frau Kollegin Hönes, was Sie im Moment an Formaldehyd als Metabolit in IhremKörper haben, übersteigt den ppm-Bereich. Nur, damit zu Formaldehyd etwas gesagt wird.
Ich will eine zweite Vorbemerkung zum Thema Angst machen. Angst ist ein Gefühl, eine Verhaltensweise aller höheren Lebewesen als Schutzfunktion vor real bedrohenden Gefahren.
Es gibt auch die Angst vor einer irrealen,
nicht vorhandenen Gefahr. Worum es hier geht, ist, glaube ich — das sollte bei allen Fraktionen einheitliche Auffassung sein —, daß wir unsere Bevölkerung vor den realen Gefahren schützen und irreale Gefahren nicht verstärken, schon gar nicht bewußt.
— Wissen Sie, ich habe nie den Eindruck erweckt, als wüßte ich alles. Aber ich möchte doch eines feststellen dürfen: daß es manche Kollegen gibt, die in anderen Bereichen mehr wissen, aber im chemischen Bereich weniger als ich.
Wir sprechen heute über die Industriechemie. Lassen Sie mich mit einer der ersten Erfindungen beginnen, die in Deutschland noch zu einem Zeitpunkt gemacht wurde, als die Chemie noch Alchimie war. Das war die Wiederentdeckung des Porzellans.
— Ich sagte: die Wiederentdeckung des Porzellans.
Die Meißner und die Berliner Porzellane zeigen als europäische Kunstwerke, daß Chemie mehr ist als nur Lebenserleichterung. Sie bringt vielmehr Erweiterung der menschlichen Möglichkeiten bis in den kulturellen Bereich hinein.
— Sehr verehrte Frau Kollegin Hönes, Tennis und Fußball wären ohne Kunststoff und Gummichemie schlechterdings nicht möglich; und die moderne Musik mit ihrer Wiedergabemöglichkeit ohne Platte und Tonband nicht.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986 17303
BoroffkaUnd moderne Kunst ohne Kunststoffe — stellen Sie sich die doch bitte einmal vor: Beuys ohne Kunststoff!
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Brück?
Nein, das tue ich nicht. Meine Redezeit ist sehr begrenzt.
Das mit Recht so beliebte Fahrrad ist im wesentlichen ein Produkt der Metallurgie. Aluminium macht das Strampeln leichter. Und daß Mode heute nicht nur für die Reichen da ist, sondern für alle Teile der Bevölkerung, verdanken wir der Textil- und Farbenchemie. Nur damit das einmal klar ist: Sämtliche Bereiche unseres Lebens sind von der Chemie mit geformt. Dies macht dann auch die entsprechende wirtschaftliche Bedeutung klar, auf die mein Kollege Lippold noch eingehen wird: über 550 000 Beschäftigte, 30 Milliarden DM Nettoexportüberschuß.
Richtig ist — und niemand leugnet das —, daß Chemie wie Technik zwei Seiten hat, aber ich warne davor — und ich finde es unkorrekt, nicht wahrheitsgemäß —, hier nur die eine Seite zu nennen.
Dies ist nicht der Wahrheit entsprechend.
Richtig ist, daß wir beispielsweise beim Einsatz von DDT
die Umwelt schwer geschädigt haben, aber richtig ist doch auch, Herr Dr. Hauff, daß Millionen von Menschen vor dem Malariatod gerettet wurden.
Deshalb kann der Weg doch nicht sein, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen,
sondern wir müssen mit den Augen der Vernunft die richtige Tür finden.
— Als ob das Haftungsrecht den Malariatod beseitigen könnte, verehrter Herr Kollege Dr. Hauff! Das ist doch so nicht richtig, das ist schwach, um mich höflich auszudrücken.
Der richtige Weg ist doch,. an Stelle des DDT, das wir verbieten müssen, neue chemische Stoffe zu finden, die nicht die Umweltschäden des DDT nach sich ziehen und gleichzeitig Malaria verhindern. Auch bei Contergan konnte die Konsequenz doch nicht sein, die Pharmazie zu verbieten, die dazu
geführt hat, daß unsere Lebenserwartung innerhalb von 100 Jahren fast verdoppelt worden ist; der richtige Weg ist auch hier, bessere Pharmazeutika zu finden.
Wenn ich es richtig sehe — ich habe die zweite und dritte Beratung im Protokoll noch einmal nachgelesen —, waren sich damals eigentlich auch alle Fraktionen dieses Hauses darüber einig, daß das Chemikaliengesetz genau in diese Richtung zielen sollte: Vorsorge, Regelung mit Verbotsmöglichkeit bei Gefahr, Rahmensetzung.
Ich bitte doch, den Redner ausreden zu lassen!
Herr Kollege Duve, über das Niveau mancher Ihrer Zwischenrufe lassen Sie besser Ihre eigene Fraktion urteilen!
Im übrigen setzte dieses Gesetz auf eine Form der Demokratie, die wir auch alle bejahen sollten, nämlich auf die freiwillige Vereinbarung.
Ich stimme der auch in dem Bericht enthaltenen Aussage zu, daß es notwendig ist, dies weiterzuentwickeln. Ich stimme auch ausdrücklich dem zu, was der Kollege Dr. Hirsch über die Qualität dieses Berichts gesagt hat: klar, saubere Sprache, Schwachpunkte nicht ausgespart. Ich bin auch dafür dankbar, daß die Gefahrstoffverordnung durch den Bundesrat gegangen ist und noch in diesem Jahr in Kraft tritt.Das heißt, daß wir auf der Basis der damaligen Übereinkunft auf dem richtigen Wege sind und die richtige Tür geöffnet haben. Was Sie, Kollege Duve, mit Ihrem Antrag wollen, ist demgegenüber das Öffnen einer falschen Tür. Der Kollege Müller hat es dankenswerterweise deutlich gemacht: Sie wollen in den Staatsdirigismus hinein.
— Der Kollege Müller hat das ausdrücklich gesagt! Das heißt, wenn Sie dann auch noch die Beweislast umkehren wollen, daß der Staat vorher festsetzt, ob ein Stoff zulässig ist oder nicht, ob man ihn brauchen kann oder nicht.
Dies kann doch gar nicht der richtige Weg sein.
— Nein, das versucht das Chemikaliengesetz nicht, sondern es greift bei akuter Gefahr ein. Wir können uns darüber unterhalten, ob nach § 17 schon bei Verdacht eingegriffen werden muß, aber ansonsten
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17304 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
Boroffkaregelt .dieses Gesetz die Neuzulassung, und zwar zunächst mit einer Prüfung, ob Gefahr besteht oder nicht.Ein letztes Wort zur Altstoffproblematik, wo die Aussagen ja nicht so sehr weit auseinanderliegen: Sie fordern in Ihrem Antrag, Kollege Duve, sechs Jahre, der Bericht spricht von einer tatsächlichen Zeit, in der es zu erreichen ist, von zehn Jahren.
— Lieber Herr Kollege Dr. Hauff, ich habe von Ihnen schon intelligentere Zwischenrufe gehört. Ich wäre dankbar, wenn Sie zu Ihrem sonstigen Niveau zurückkehrten.Es kann sein, daß die zehn Jahre im Interesse der Bevölkerung verkürzt werden sollten.
Ich weise nur darauf hin, Herr Kollege Duve, daß dieses natürlich sehr stark in der EG abgestimmt werden muß. Sie wissen doch, daß das Chemierecht, daß das Chemikalienrecht einer der Rechtsbereiche ist, wo wir national fast überhaupt keine eigenen Regelungen mehr treffen können. Das wissen Sie doch.
— Das mußte jetzt dazwischenkommen. Dort ist etwas erreicht worden — nicht genug, wir wollten mehr, das ist richtig, aber Sie kritisieren, daß dort etwas erreicht worden ist.Ich meine, wir sind auf dem richtigen Weg. Wir müssen hinsichtlich der Altstoffe noch einmal nachdenken, auch hinsichtlich einiger anderer Regelungen, wir werden aber ihrem Weg in den Staatsdirigismus nicht folgen.
Das Wort hat der Abgeordnete Reimann.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! „Die chemische Industrie lehnt das von der SPD-Bundestagsfraktion vorgelegte Konzept für eine Chemiepolitik ab." So steht es in der Stellungnahme des Verbandes der Chemischen Industrie vom Juni 1986. Dabei scheint die größte Sorge des VCI zu sein, daß durch bürokratische und dirigistische Maßnahmen die Sicherheit und die Umwelt nicht zu verbessern seien.
Daher wird auf eine hundertjährige Praxis verwiesen, auf eine sichere chemische Industrie mit niedrigen Unfallzahlen und entsprechenden Leistungen im Umweltschutz. So steht es in dem Papier, und deshalb wird in diesem Papier sehr viel auf Freiwilligkeit von Vereinbarungen und Übereinstimmungen gesetzt. Wenn wir einmal die schlimmen und großen Unglücke mit Hunderten von Toten in derchemischen Industrie weglassen, so scheint sich dieses Papier — —
— Aber ich bitte Sie, schauen Sie einmal nach, was in der BASF traurigerweise in den 20er Jahren und Ende der 40er Jahre passiert ist!
Herr Boroffka, jetzt machen Sie sich erst einmal sachkundig!Das heißt also, daß man sich in diesem Papier auf scheinbar gut funktionierende Unternehmen bezieht und daß in der Tat in den letzten Jahren mehr oder weniger freiwillig und vorausschauend Erhebliches für Arbeitsschutz — und ich lege Wert auf den Begriff Arbeitsschutz — und Umweltschutz geleistet wurde. Es ist sicher unbestritten, daß die chemische Industrie auf einen hohen Sicherheitsstandard ihrer Produktionsanlagen verweisen kann. Auch das ist unbestritten. Aber reicht dieser Sicherheitsstandard aus? Was können wir für seine Weiterentwicklung tun? Wie ist es mit jenen Unternehmen, die nur ein Minimum dessen oder gerade das Notwendigste tun für eine umweltverträgliche Technik und Umweltverträglichkeit der Produkte, nur ein Minimum tun für Verbesserungen im Arbeitsschutz, ein Minimum tun für Gesundheitsschutzmaßnahmen, für die Produktsicherheit, für das Rohstoff- und Energiesparen? Es gibt und wird immer Branchen und Unternehmen geben, die eben nicht problemorientiert vorausschauend und freiwillig im Sinne des Umwelt- und Arbeitsschutzes handeln,
sondern die erst Maßnahmen ergreifen, wenn Auflagen, Verordnungen, Gebote und Verbote sie dazu zwingen. Die chemische Industrie hat zuviel schwarze Schafe.
Hinzu kommt, daß die freiwilligen Regelungen nur begrenzte Wirkungen haben. Insbesondere gelten sie nicht für Importe. Weder der VCI noch ein anderer Verband der chemischen Industrie verfügt über die Durchsetzungskraft, um auf Verhandlung beruhrende freiwillige Regelungen für seine Verbandsmitglieder verbindlich zu machen.
Welchen Regelungen unterliegen eigentlich Firmen, die nicht dem Verband angehören?
Herr Minister Wallmann, ich meine, daß nur der Gesetzgeber, dem die alleinige Kompetenz zusteht, berechtigt und verpflichtet ist, Gesetze und Verordnungen zu erlassen, die solche Fragen regeln.Sie haben hier von der Wissenschaft gesprochen. Wissenschaftler mögen Risiken abschätzen können.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986 17305
ReimannWieviel den Menschen zugemutet werden kann, muß im politischen Raum entschieden werden.
Selbstverständlich müssen, um politische Entscheidungen vorzubereiten,
wissenschaftlich-technische Einrichtungen existieren, die den Politikern den notwendigen Sachverstand liefern.
— Sehr richtig. Aber dann sage ich, Herr Minister Wallmann — Sie haben davon gesprochen —, auch, daß diese Stellen und diese Wissenschaft interessenneutral sein müssen. Es ist die entscheidende Frage, Wissenschaft im Sinne unserer Meinungen nutzbar zu machen.
An dieser Stelle sage ich auch gern ein Wort über die Eigenüberwachung der chemischen Industrie, die von den Betroffenen — ich weiß das aus eigenem Erleben — mit viel Gewissenhaftigkeit und großer Verantwortung durchgeführt wird.
— Eben, ein großes Lob. Von wem denn sonst können ständige Überwachungen der Anlagen sichergestellt werden, wenn nicht vom Unternehmen selbst? Eine Gewerbeaufsicht in Neustadt oder Mainz mit wenigen Beamten ist doch wohl hoffnungslos mit dieser Aufgabe überfordert, den Sicherheitsstandard für 50 000 Beschäftigte in der BASF oder gar für die chemischen Unternehmen in der ganzen Region zu überwachen. In den letzten Wochen hat sich das Bewußtsein in der Öffentlichkeit dafür geschärft, daß die Gefahren durch eine von Menschenhand veränderte Umwelt viel größer sind, als wir es bisher vermuteten. Das gilt auch und insbesondere für die chemische Industrie, denn auch hier hat sich ein Bewußtseinswandel in Fragen der Anwendung chemischer Technologie und chemischer Produkte vollzogen.Der Präsident des Umweltbundesamtes, Herr von Lersner, meinte dazu in einer Umweltdiskussion unserer Bundestagsfraktion — ich zitiere —:Insbesondere bei der Wirkung chemischer Stoffe auf Mensch und Tier ist der Bereich unseres Nichtwissens unendlich viel größer als der unseres Wissens.
Den Staub in der Luft einer Großstadt kann kein Chemiker analysieren, geschweige denn im Labor reproduzieren. Heinrich Sontheimer, der führende deutsche Wasseranalytiker, kennt nach eigenem Bekunden keine 10 Prozent der organischen Stoffe im Wasser des Rheins.Er kann nichts dafür, es ist so. Das heißt also, was wir brauchen, ist mehr denn je die Durchsetzung des Vorsorgeprinzips im Umweltschutz.
Das gilt vor allem auch für die Vorsorge am Arbeitsplatz, den Arbeitsschutz. Über das gesamte Ausmaß an gesundheitlichen Schädigungen am Arbeitsplatz gibt es bisher keine exakten Aussagen — ich bitte Sie, das aufmerksam zu verfolgen —, sondern nur Schätzungen. Hierzulande gibt es kein System zur Erfassung arbeitsbedingter Erkrankungen,
das einen gesicherten Überlick geben könnte. Die registrierten Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten umfassen nur einen kleinen Teil des wirklichen Geschehens. Am schlimmsten sieht es bei den krebsbedingten Berufskrankheiten aus.
Während die Krebskrankheit mit an die Spitze der Todesursachen der Menschen in der Bundesrepublik gerückt ist, gibt es immer noch kein bundesweites Krebskataster oder Krebsregister, geschweige denn verläßliches Material über die Anzahl der durch Arbeitseinflüsse verursachten Krebskrankheiten. Nach vorsichtigen Schätzungen gibt es in der Bundesrepublik jährlich 6 000 Berufskrebstote.
Von den Berufsgenossenschaften werden allerdings nur maximal zwischen 100 und 200 dieser Fälle als berufsbedingte Erkrankungen anerkannt.
Die Beweislast liegt bei den betroffenen Arbeitnehmern.
Es ist eines der zentralen Probleme, ob man hier eine Beweislast zugunsten des sozial Starken umkehren kann, um den sozial Schwachen in Schutz zu nehmen.
Wenn es zu Beginn der 80er Jahre auch stärkere Bemühungen um Arbeitssicherheit, Gesundheitsschutz gegeben hat
— gehen Sie einmal hin, vielleicht bin ich da sachkundiger als Sie; ich will an dieser Stelle nicht verhehlen, daß die neue Gefahrstoffverordnung, die voraussichtlich im Herbst dieses Jahres in Kraft tritt, ein weiterer richtiger Schritt in die richtige Richtung ist —, so reichen diese betrieblichen Bemühungen alleine doch nicht aus, um die Probleme in den Griff zu bekommen.
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17306 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
ReimannJetzt sage ich etwas, was Sie wieder reizen wird: Wir meinen, daß Betriebsräte, Vertrauensleute, Unfallvertrauensleute, daß die Belegschaften mehr Rechte erhalten und mehr an diesen für sie lebensnotwendigen Fragen beteiligt werden sollen.
Da geht es nicht nur um die Mitbestimmung der Betriebsräte, da geht es auch um die Verbesserung betriebsverfassungsrechtlicher Normen, um mehr Qualifizierungsmaßnahmen für die Arbeitnehmer in Branchen,
in denen mit den gefährlichen Stoffen der chemischen Industrie umgegangen wird, um die Regelung betreffend Unterrichtungspflichten des Arbeitgebers über mögliche Gesundheitsgefährdungen, die auch nicht sehr ernst genommen werden. Es geht um Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften zur Berücksichtigung chemischer Gefahren für Mensch und Umwelt. Die Sicherheitsdatenblätter müssen aussagekräftiger und verbindlicher werden; ihre Zulänglichkeit für Arbeitnehmer, Vertreiber und Kunden muß verbessert werden. Es geht um regelmäßige Information der Beschäftigten, die mit Chemikalien umgehen, über Wirkungsweisen und Gefahren der Stoffe sowie um eine generelle Informationspflicht darüber, ob ein Betrieb unter die Störfallverordnung fällt und welche Schutzmaßnahmen dort notwendig sind.Meine Damen, meine Herren, eine weitere Notwendigkeit wird es sein, die bestehenden Möglichkeiten effektiver zu nutzen, geltendes Recht auch zu vollziehen und umzusetzen.So arbeitet beispielsweise die sogenannte MAK-Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft für mich viel zu schwerfällig. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie lange es dauert, bis ein Arbeitsstoff unter Umständen als krebserzeugend anerkannt wird. Ich denke hier an Methylvinylketon. Wir haben uns jahrelang herumgeplagt, daß dieser Stoff als krebserzeugend eingestuft wird. Was geschieht denn mit den Menschen, die in diesen Jahren des wissenschaftlichen Streites mit diesem Produkt arbeiten?
Aber gefährliche Stoffe dürfen — das hat schon mein Kollege Müller gesagt — nicht erst aus dem Verkehr gezogen werden, wenn ihre Gefährlichkeit wissenschaftlich eindeutig nachgewiesen ist.
Ein begründeter Verdacht müßte ausreichen, (Dr. Göhner [CDU/CSU]: Reicht doch aus!)
bis zur endgültigen Klarstellung den Arbeitnehmer zu schützen. Er reicht nicht aus.
Deshalb darf nach meiner Meinung der Arbeitsschutz nicht zuungunsten des allgemeinen Umweltschutzes vernachlässigt werden; er muß vielmehr an Bedeutung gewinnen.Nach dem Chemikaliengesetz ist die dem Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit unterstellte Anmeldestelle der Bundesanstalt für Arbeitsschutz in Dortmund für die Registrierung aller neuen Arbeitsstoffe zuständig. Das muß auch weiterhin so bleiben. Dem Verdacht, daß der Arbeitsschutz dem Umweltbundesamt in Berlin und letztlich dem neuen Umweltministerium unterstellt werden soll, sollten wir keine Nahrung geben. Die bewährte Struktur — einerseits die Bundesanstalt für Arbeitsschutz als Anmeldestelle und Bewertungsstelle für Arbeitsschutz in Dortmund, andererseits die Bewertungsstelle für Verbraucherschutz in Berlin und für die allgemeinen Umweltschutzfragen das Umweltbundesamt in Berlin — sollte nach unserer Meinung nicht aufgegeben werden. Behördlich integriert in ein allgemeines Schutzziel Umwelt würde der Arbeitsschutz vielleicht zu kurz kommen. Vielleicht würden wir hier an Wirksamkeit verlieren.Ob sich der neue Umweltminister, Herr Wallmann, jetzt als besonderer Kämpfer für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Menschen hervortun wird, bleibt abzuwarten. Er wird das zu beweisen haben. Ich habe da gewisse Zweifel; denn viele Arbeitnehmerrechte werden heute von dieser konservativen Regierung mit dem Argument aufgegeben, beschäftigungshemmende Vorschriften abzubauen. Hoffentlich werden nicht auch die Arbeitsschutzverordnungen irgendwann einmal dieser falschen Vorstellung geopfert.
— Man muß das ja einmal sagen dürfen.Zum Abschluß will ich versuchen, vielleicht gemeinsame Ziele anzusteuern. Ein gemeinsames Ziel sollte sein, dafür zu sorgen, daß ein Konsens zwischen Herstellern, Arbeitnehmern, Verbrauchern und der Politik hergestellt wird. Dieser Konsens ist Voraussetzung, daß die Betroffenen miteinander reden, um gemeinsam Regelungen, Verordnungen, Gesetze, Verbindlichkeiten zu schaffen. Kompetenzen müssen klar geregelt werden, damit der Schutz von Verbrauchern und Beschäftigten gesichert ist. Der Schwerpunkt meiner Rede lag auf dem Arbeitsschutz für die Beschäftigten.Wir als Sozialdemokratische Partei gehen davon aus, daß es in unserer Gesellschaft möglich sein muß, einen Konsens herzustellen, daß Chemietechnik und Chemieprodukte nützlich und notwendig sind, daß Chemietechnik und Chemieprodukte wettbewerbsfähig bleiben müssen, daß Chemieprodukte und Chemietechnik sicher sein können, daß Chemietechnik und Chemieprodukte gesundheitsförderlich und umweltverträglich sein können und müssen.
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ReimannWas wir als Politiker dazu beitragen können, sollten wir tun; denn es dient dem Menschen in dieser Gesellschaft.Ich bedanke mich. Die Zeit war zu knapp.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Lippold.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die Union sieht als ihre vordringliche Aufgabe den Gesundheitsschutz der Bevölkerung an. Gesundheitsschutz, das heißt Vorsorge, das heißt Umweltschutz, der vom Vorsorgeaspekt geleitet wird, das heißt frühzeitig vordenken, frühzeitig entscheiden, notwendige Entwicklungen nicht verpassen. Ich sage eines darüber hinaus: Wir verbinden Umweltschutz und Gesundheitsschutz mit der Sicherstellung wirtschaftlicher Zielsetzungen, mit der Sicherung und dem Ausbau von Beschäftigung, mit der Humanisierung, Herr Reimann, der Arbeit, mit Arbeitsschutz. Ich sage Ihnen gleich: Es ist doch eine sehr billige Methode — ich kann es nicht anders werten —, wenn Sie sich hier hinstellen und so tun, als wolle die Union den Arbeitsschutz, den sie verbessert hat, abbauen. Was sollen denn diese Verdächtigungen, für die Sie keine Anhaltspunkte haben und mit denen Sie lediglich Stimmung machen wollen? Ich bedaure diese Form der Unterstellung. Herr Kollege Reimann, es ist doch unter unserem Niveau, so miteinander umzugehen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch etwas zur Vorsorge sagen, denn der Kollege Müller hat hier vorhin so getan, als habe Herr Laufs den Vorsorgeaspekt nicht in den Vordergrund gestellt. Wir haben das Chemikaliengesetz. Wir wenden es an. Wir entwickeln es weiter. Wir haben die Gefahrstoffverordnung jetzt fertig. Wir sind dabei, die Altstoffe aufzuarbeiten, und wir beschleunigen diese Prozesse. Und jetzt stellen Sie sich hin, springen auf einen bereits in voller Fahrt befindlichen Zug bzw. versuchen dies und tun so, als beginne mit Ihrem Antrag alles erst heute. Meine Damen und Herren, das ist falsch.
Unsere Verantwortung beinhaltet, daß wir dies frühzeitig angepackt haben, daß wir dies weiter verbessern. Wir warten ja eigentlich auf Anregungen, auf Initiativen von Ihnen.
Sie sind doch die kraftloseste Opposition in diesem
Hause. Wir würden gern mehr von Ihnen aufnehmen und umsetzen, weil wir ehrlich zugeben, daß
wir auch von anderen lernen können. Wir haben die Weisheit nicht allein gepachtet.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.Lassen Sie mich noch einige weitere Bemerkungen gerade zum Bereich der chemischen Industrie machen. Das ist ein Bereich, in dem fast 600 000 Menschen Arbeit finden und in dem 35 000 Ausbildungsplätze bereitgestellt werden.
Sie kennen die Bedeutung dieser Fragestellung offensichtlich gar nicht. Wer — wie ich — aus dem Gebiet des Untermains kommt, wo sich eines der Zentren der Chemie befindet, der weiß, was das für die dort Ansässigen, für die Bevölkerung bedeutet.
— Und dann verlieren Sie, Herr Duve, nur einen positiven Satz über die Chemie, und danach werden gleich all die apokalyptischen Bilder gemalt, die Sie auch draußen im Lande malen. Dann kommt die Assoziation: Chemie und tote Fische.
Dann kommen die großen Katastrophen. Herr Duve, dabei können Sie in diesem Land doch immer nur mit den Katastrophen, die draußen stattfinden, argumentieren. Sie argumentieren mit Bhopal, Sie argumentieren mit Union Carbide, aber Sie argumentieren hier nicht mit aktuellen Fällen aus der Bundesrepublik Deutschland. Herr Reimann — darauf angesprochen — muß bis in die 20er Jahre und bis zum Anfang der 40er Jahre zurückgehen. In welchen Zeithorizonten denken Sie denn?
— Herr Hauff, Sie wissen doch selbst, daß es hier anders ist. Ich nenne Ihnen jetzt einmal Zahlen. Noch 1960 hatten wir in der Chemie
ca. 110 Arbeitsunfälle auf 1 000 vollbeschäftigte Arbeitnehmer im Jahr. Heute sind es noch 37.
Das heißt: Die Sicherstellung der Arbeitsplätze — —
— Herr Hauff, wenn Ihnen nicht mehr als derartig billige Zwischenrufe einfallen,
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Dr. Lippolddann — das muß ich ganz ehrlich sagen — zweifle ich daran, wie Sie hier in Zukunft qualifizierte Beiträge zur Argumentation in diesem Hause leisten wollen. Ich weiß nicht, woher Sie die Orientierungspunkte nehmen wollen.
— Herr Hauff, das ist doch völlig unter Niveau. Sie wissen doch übrigens selbst, daß Ihre hessischen Freunde sämtliche Vorwürfe haben fallenlassen. Nur, das nehmen Sie gezielt nicht zur Kenntnis. Ich frage mich, was Sie — wenn überhaupt — lesen.
Herr Müller hat gesagt, Chemiepolitik sei im wesentlichen Verpflichtung zum staatlichen Handeln und zum staatlichen Eingriff. Wir sehen dies anders. Wir setzen auf Kooperation. Wir setzen darauf, daß sich Bewußtseinsprozesse auch im Bereich der chemischen Wirtschaft vollziehen.
— Nein, es hat in der Vergangenheit eine gute Kooperation gegeben, zum Wohle aller Beteiligten und der Bevölkerung in diesem Land. Wir werden weiter an diesem Prinzip arbeiten.Sehen Sie sich einmal an, wie der Umdenkungsprozeß heute aussieht. Wir haben Gespräche geführt. In der Chemie wird heute davon gesprochen, daß die chemische Industrie für ihre Produkte in eigener Verantwortung erforderliche Maßnahmen treffen wird. Es wird von Beratung, Verbraucheraufklärung, von der Entwicklung besserer Produkte, von der Mitwirkung bei der Entwicklung von Entsorgungskonzepten gesprochen; selbst die Chemie spricht bereits davon, sie werde, wenn die Vorsorge für Gesundheit und Umwelt es erfordere, ungeachtet der wirtschaftlichen Interessen auch die Vermarktung von Produkten einschränken oder die Produktion einstellen. Dies gilt auch für die sogenannten Altstoffe. Meine Damen und Herren, das sind Prozesse, die wir mit initiieren, damit alle, die es angeht, eigenständig Umweltschutz, Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz betreiben.
Jetzt will ich Ihnen noch eines sagen. Wir haben allerdings auch deutlich gemacht — darüber lassen wir überhaupt keinen Zweifel aufkommen —, daß, wenn Kooperation, wenn freiwillige Vereinbarungen nicht greifen, wir ganz entschlossen handeln und durchgreifen.
Das haben wir in der Vergangenheit bewiesen.
Das tun wir auch jetzt.
Wir haben bewiesen, daß wir zum Handeln im Umweltschutz bereit und willig sind. Die Großfeuerungsanlagen-Verordnung ist bei Ihnen liegengeblieben, ebenso Bundes-Immissionsschutzgesetz, Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft. Wir haben Entscheidendes verändert,
und zwar unter dem Aspekt: erst vermeiden, Gefahren erst gar nicht entstehen lassen; erst wenn nicht vermieden werden kann, Risiken so einschränken, daß sie keine mehr sind, oder dann wenn es absolut nicht anders geht, auch zum Verbot greifen.
Davor haben wir uns nicht gescheut. Wir haben bei entsprechenden Stoffen auch die entsprechenden Maßnahmen ergriffen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hauff?
Ja.
Herr Kollege, gehört zu der Entschlossenheit zum Handeln auch, daß Sie bereit sind, die verschuldensunabhängige Haftung und die Umkehr der Beweislast in unserem Land einzuführen?
Herr Kollege Hauff, Sie wissen genau, daß die verschuldensunabhängige Haftung ein unheimlich komplexer Bereich ist,
den Sie nicht einfach mit einem Halbsatz hier abhandeln und so tun können, als wäre damit das Problem gelöst. Außerdem erreichen Sie mit der verschuldensunabhängigen Haftung keinen konkreten Fortschritt für die Betroffenen.
Wir setzen dort an, wo es um konkrete Fortschritte für die Betroffenen geht: bei der Vermeidung von Schadstoffen, bei der Vermeidung von Gefahren, bei der Einführung des Konzepts des integrierten Umweltschutzes. Wir tun dabei all dies, Herr Hauff, was Sie in Ihrer Tätigkeit als Minister nicht getan haben,
etwa beim Katalysatorauto. Dort haben Sie die Probleme überhaupt nicht gesehen. Wir hätten schon viel mehr arbeiten können, Herr Kollege Hauff, wenn Sie in den vergangenen Jahren nicht so hemmungslos geschlafen
und die Probleme nicht gesehen hätten. Jetzt, wo wir Sie wach gemacht haben, kommen Sie mit der Zweitklässlerstrategie. Ich will Ihnen auch sagen, was eine Zweitklässlerstrategie ist. Unsere kleinen Buben und Mädchen können nämlich in der zwei-
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Dr. Lippoldten Schulklasse bereits entscheiden, ob eine Zahl größer als die andere oder kleiner als die andere ist. Damit operieren Sie. Legen wir einen Positivwert vor, verdoppeln Sie ihn; denn Sie wissen ja, was größer ist. Legen wir einen Negativwert vor, halbieren Sie ihn, ohne die Konsequenzen zu belegen.
Herr Hauff, wenn ich den Zweitkläßlervergleich gewählt habe, spricht das natürlich nicht gegen unsere Buben und Mädchen — damit wir uns hier völlig richtig verstehen.
Gestatten Sie dem Zweitkläßler eine weitere Zwischenfrage oder nicht?
Eine letzte.
Herr Kollege, nachdem Sie eben eine Würdigung der Arbeit Ihres jetzigen Koalitionspartners Gerhart Baum vorgenommen haben, möchte ich Sie gern fragen, ob Ihnen eigentlich bekannt ist, daß die verschuldensunabhängige Haftung und die Umkehr der Beweislast in Japan zu einer Vermeidung von umweltgefährdenden Chemikalien geführt haben?
Sie wissen doch, Herr Hauff, daß wir völlig unabhängig davon im Umweltschutz mittlerweile weiter sind als die Japaner. Das gilt für nahezu sämtliche Bereiche. Wenn Sie sich vor Ort informieren, wissen Sie das. Sie müssen das aber tun. Ein Weiteres darf ich Ihnen auch sagen, Herr Hauff, wenn Sie schon den Herrn Kollegen Baum ansprechen. Der Herr Kollege Baum hat deutlich zum Ausdruck gebracht, daß er in dieser Koalition und mit diesem Kanzler die Umweltschutzpolitik durchsetzen konnte, die er mit Ihnen nicht durchsetzen konnte.
Das ist Originalton Baum.
Das müssen Sie ganz einfach zur Kenntnis nehmen, Herr Hauff. Das setzt natürlich voraus, daß man sich fachkundig macht und daß man nicht nur mit neuen Wortschöpfungen — sprich: sozialer Nettonutzen — arbeitet. Wie wollen Sie dieses quantifizieren? Wie wollen Sie dieses verifizieren? Wir haben die Diskussion in der deutschen Wissenschaft gehabt. Wir haben die Diskussion im internationalen Bereich — im Rahmen der OECD — gehabt. Es hat sich gezeigt, daß dies kein praktikables Instrument ist. Herr Hauff, im Erfinden von schönen
Schlagworten sind Sie manchmal — das konzediere ich Ihnen — ausgesprochen gut.
In der praktischen Politik allerdings fehlen Ihnen die vernünftigen Ansatzpunkte.
Wir sagen: Wir werden. die Chemiepolitik weiterbetreiben wie bisher, und zwar mit Augenmaß. Wir werden Verbesserungen schaffen. Wir werden nach dem Vorsorgeprinzip arbeiten,
und wir werden dafür sorgen, daß die Menschen in diesem Land ohne Angst leben können, weil wir Gesundheitsschutz als Aufgabe sehr, sehr ernst nehmen.
Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Ich schließe die Aussprache. Gemäß einer Vereinbarung im Ältestenrat wird vorgeschlagen, die Vorlagen zu den Tagesordnungspunkten 25b und 25 c auf den Drucksachen 10/5181 und 10/5007 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr auf:
Fragestunde
— Drucksache 10/5655 —
Ich brauche den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr nicht aufzurufen, weil die Fragen 38 und 39 des Abgeordneten Löffler und 40 des Abgeordneten Dr. Schwenk von den Fragestellern zurückgezogen worden sind.
Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Hennig zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 2 des Abgeordneten Schreiner auf:
Trifft die Auffassung des CDU-Fraktionsvorsitzenden im Stadtrat von Saarlouis zu, wonach der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen und der Kanzleramtsminister die Partnerschaftsvereinbarung zwischen Saarlouis und Eisenhüttenstadt in offiziellen Stellungnahmen begrüßt haben ?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Schreiner, es ist nicht richtig, daß der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen und der Chef des Bundeskanzleramtes die Vereinbarung zwischen Saarlouis und Eisenhüttenstadt mit offiziellen Stellungnahmen begrüßt haben.
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Parl. Staatssekretär Dr. HennigRichtig ist vielmehr: Ich habe für die Bundesregierung das Zustandekommen eine partnerschaftlichen Verbindung zwischen Saarlouis und Eisenhüttenstadt begrüßt und dabei allerdings auch deutlich gemacht, daß der bürgerschaftliche Austausch der Kerngedanke einer kommunalen Partnerschaft sein muß.Zu Form und Inhalt der konkreten Vereinbarung zwischen Saarlouis und Eisenhüttenstadt habe ich mich hingegen nicht geäußert. Zu der Vereinbarung zwischen Saarlouis und Eisenhüttenstadt vertritt die Bundesregierung folgende Auffassung: Die Vereinbarung zwischen Saarlouis und Eisenhüttenstadt über die Begründung einer Städtepartnerschaft vom April dieses Jahres enthält einzelne Formulierungen, die als nicht glücklich angesehen werden müssen. Das gilt insbesondere für bestimmte politische Aussagen, die mit dem Ziel einer Städtepartnerschaft nicht unmittelbar im Zusammenhang stehen.Andererseits enthält die Vereinbarung wertvolle Ansätze für bürgerschaftliche Aktivitäten und gegenseitige Begegnungen, die Voraussetzungen eines funktionierenden Partnerschaftsverhältnisses sind. Es bleibt abzuwarten, wie diese Möglichkeiten in der Zukunft genutzt werden können.Der in Ihrer Frage zitierte Artikel der „Saarbrükker Zeitung" vom 31. Mai 1986 bezieht sich dagegen auf einen Schriftsatz, der offensichtlich nur in Auszügen wiedergegeben worden ist und der die Position der Bundesregierung nicht authentisch wiedergibt.
Eine Zusatzfrage, Herr Schreiner.
Da Sie sagen, nach Auffassung der Bundesregierung seien in der Vereinbarung einzelne Formulierungen zu finden, die die Bundesregierung für „nicht glücklich" hält: Sind Sie denn in der Lage zu präzisieren, um welche Formulierungen es sich handelt, und wäre es zutreffend, zu vermuten, daß der Text in der Vereinbarung, in dem die beiden Städte erklären, daß sie das Streben der Völker nach Frieden, Abrüstung und Verständigung unterstützen wollen, die Formulierung enthält, die die Bundesregierung für unglücklich hält, und wenn ja, mit welcher Begründung?
Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schreiner, ich will vorweg sagen, daß die Bundesregierung generell Partnerschaften zwischen Städten in Deutschland außerordentlich begrüßt und dies immer wieder über Jahre hinweg sehr deutlich als ihre Politik kenntlich gemacht hat.
Ich will aber genauso deutlich hinzufügen, daß diese erste Vereinbarung einzelne Formulierungen enthält, bei denen wir uns z. B. fragen, ob es nun unbedingt im Mittelpunkt kommunaler Kompetenzen steht, z. B. zu Fragen des Wettrüstens Stellung zu nehmen. Ebenso muß man natürlich fragen, ob die Sachkunde in einer Kommune so groß ist, um z. B. den Grundlagenvertrag im einzelnen zu interpretieren, einzelne Bestandteile nach vorne zu ziehen, indem sie erwähnt werden, und andere, in unseren Augen ebenfalls wichtige Bestandteile aus dem Grundlagenvertrag im Zusammenhang wegzulassen. Ich komme schließlich zu der Wertung: Es ist ein Schritt nach vorn. Aber diese erste Vereinbarung enthält auch problematische Elemente, die wir bei den künftigen Vereinbarungen, die hoffentlich folgen werden, vermeiden sollten.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Schreiner.
Herr Staatssekretär, wäre die Bundesregierung denn in der Lage, zur Kenntnis zu nehmen, daß in der Vereinbarung die Frage des Wettrüstens weder im Mittelpunkt steht noch ausdrücklich erwähnt worden ist, sondern daß dort eine allgemeine Absichtserklärung zu finden ist, daß sich die Räte beider Städte an den Bemühungen um Abrüstung beteiligen wollen?
Wäre die Bundesregierung bereit, ebenfalls zur Kenntnis zu nehmen, daß die in der „Saarbrücker Zeitung" vom 12. Juni dieses Jahres zitierte Äußerung von Bundesminister Windelen — ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten: „Bundesminister Windelen riet dazu, möglichst viele bürgerschaftliche Partnerschaftsvorhaben konkret zu vereinbaren, und zwar in verbindlichen Arbeitsprogrammen anstatt, wie im Falle von Saarlouis und Eisenhüttenstadt, in unverbindlichen Empfehlungen" — insoweit völlig falsch ist, als in den Vereinbarungen ein eindeutig fixiertes Jahresarbeitsprogramm enthalten ist und darüber hinaus in Form von denkbaren Möglichkeiten der nächsten Jahre auch Empfehlungen enthalten sind, über die noch zu beraten ist?
Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schreiner, zunächst einmal empfehle ich, was das Wettrüsten betrifft, die Vereinbarung noch einmal nachzulesen. Sie sagten, es sei nicht ausdrücklich erwähnt. Ich zitiere wörtlich:
Sie
— die Abkommenspartner —
treten dafür ein, daß das Wettrüsten in allen
Bereichen beendet bzw. verhindert wird.
Es ist also zunächst einmal nicht richtig, daß es dort nicht erwähnt worden sei; es ist ausdrücklich angesprochen worden.
Was die Äußerung von Herrn Minister Windelen betrifft: Er hat in der Tat immer wieder darauf hingewiesen, daß wir solche Partnerschaften brauchen, daß sie einen konkreten Inhalt haben müssen.
Er hat das in seinem Treffen mit den kommunalen Spitzenverbänden in der vergangenen Woche dann sehr spezifiziert auf die Punkte gebracht, die wir für die- wesentlichen halten. So weit, so gut. Er gehörte zu dem Zeitpunkt, als er dort zitiert wurde, nicht zu denen, auf die man sich berufen konnte.
Ich rufe die Frage 3 des Herrn Abgeordneten Schreiner auf:Welche konkreten Weisungen durch die Bundesregierung hatte ein Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin vor und während der
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Vizepräsident WestphalVerhandlungen über die Städtepartnerschaft zwischen Saarlouis und Eisenhüttenstadt zu erfüllen, und war ihm die im nachhinein erhobene Kritik der Bundesregierung von ihrer inhaltlichen Seite zum Zeitpunkt der Vertragsverhandlungen bekannt?Bitte schön, Herr Staatssekretär.Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schreiner, in meiner schriftlichen Antwort auf Ihre Anfrage vom 3. Juni habe ich Ihnen mitgeteilt, daß ein Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR nach Abstimmung mit dem Oberbürgermeister von Saarlouis im Rahmen der üblichen Aufgaben der Ständigen Vertretung als Begleiter und Beobachter an dem Besuch der Delegation aus Saarlouis in Eisenhüttenstadt vom 22. bis 24. April teilgenommen hat. Der im Anschluß an die vorgenannten Verhandlungen paraphierte Vertrag wurde der Bundesregierung erst nach den Verhandlungen in Eisenhüttenstadt bekannt. Während der Verhandlungen konnte der Mitarbeiter der Ständigen Vertretung die Bewertung des Entwurfs durch die Bundesregierung noch nicht kennen.
Eine Zusatzfrage, Herr Schreiner.
Herr Staatssekretär, ich darf noch eine Anschlußfrage insoweit formulieren, als ich eben in meiner Frage auszudrücken versucht habe, daß die Auffassung der Bundesregierung, die Stellungnahme der Städte zum Wettrüsten stünde im Mittelpunkt der Vereinbarung, so nicht zutrifft.
Nein, Herr Kollege Schreiner, das müssen Sie nachher mündlich miteinander ausmachen. Jetzt müssen Sie eine Zusatzfrage stellen.
Dann stelle ich die Zusatzfrage: Hat der Beamte der Ständigen Vertretung, der anläßlich der Verhandlungen anwesend war, die Verhandlungsführer der Stadt Saarlouis darauf hingewiesen, daß eine Äußerung der Stadt Saarlouis, wonach man sich dafür ausspreche, das Wettrüsten zu beenden bzw. zu verhindern, nicht im Interesse der Bundesregierung ist? Wenn nein, warum nicht?
Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schreiner, wir haben heute vormittag noch einmal mit dem zuständigen Mitarbeiter gesprochen, der — ich muß jetzt in Richtung auf den Kollegen Lorenz schauen — dem Bundeskanzleramt und nicht unserem Hause untersteht. Insofern ist es nicht das übliche Verfahren. Aber ich habe mich selbst noch einmal sachkundig machen wollen.
Da er bei den Verhandlungen als Beobachter anwesend gewesen sei, habe er das Entstehen des Textes der Vereinbarung verfolgen können. Beim Abschluß der Vereinbarung ist er allerdings gar nicht mehr dabeigewesen.
Zum Inhalt hat er sich — ich glaube, damit hat er sich durchaus korrekt verhalten — weder positiv noch negativ geäußert. Er habe lediglich die gute Verhandlungsatmosphäre gewürdigt und grundsätzlich das Zustandekommen einer ersten Städtepartnerschaft und den Weg dahin hervorgehoben.
Ich glaube also, daß man auf der Stellungnahme dieses Mitarbeiters nicht weiter herumreiten sollte. Er hat eine solche Stellungnahme nicht abgegeben.
Eine letzte Zusatzfrage, Herr Schreiner.
Das war auch gar nicht meine Frage, Herr Staatssekretär. Sie haben sich erfolgreich darum bemüht, die Frage nicht zu beantworten. Deshalb möchte ich sie insoweit wiederholen, als ich nochmals frage: Ist die Stadt Saarlouis von seiten der Bundesregierung über die Ständige Vertretung darauf hingewiesen worden, daß es nicht im Interesse der Bundesregierung läge, wenn man sich im Rahmen einer Städtevereinbarung für die Verhinderung des Wettrüstens ausspräche? Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß diese ständige Kritikasterei — mal ja, mal nein; niemand weiß eigentlich so recht, was denn nun die Haltung der Bundesregierung ist — für das Bemühen von 300 weiteren bundesdeutschen Städten um Partnerschaften mit Städten aus der DDR förderlich ist?
Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Also, den letzten Teil Ihrer Frage möchte ich Ihnen mit einem klaren Ja beantworten. Ich glaube in der Tat, daß unsere Aufgabe darin liegt, die vielen weiteren Städte und Kommunen in den Stand zu versetzen, in dem wir sie beraten — sie schließen das j a in eigener Zuständigkeit ab —, die Dinge in den Mittelpunkt zu stellen, die wir bei einer solchen Partnerschaft für die wesentlichen halten, und das sind nun einmal nicht kommunale Stellungnahmen zum Wettrüsten und andere Dinge mehr, die in bundespolitischer Kompetenz zu sehen sind.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich bedanke mich beim Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Bundesminister Dr. Wallmann zur Verfügung.
Die Frage 41 des Abgeordneten Würtz soll auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 42 des Abgeordneten Dr. Schroeder auf:
Entsprechen nach Kenntnis der Bundesregierung die Sicherheitsstandards des französischen Kernkraftwerks Fessenheim am Oberrhein den deutschen Sicherheitsstandards für Kernkraftwerke, oder gibt es hinsichtlich der Konstruktion, des Betriebs und der Überwachung Unterschiede?
Bitte schön, Herr Minister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Danke sehr. — Herr Abgeordneter, ich beantworte die Frage wie folgt: Für die Sicherheit von Kernkraftwerken gibt es international anerkannte Rahmenempfehlungen, insbesondere im Nuclear Safety Standards Program
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Bundesminister Dr. Wallmannder Internationalen Atomenergie-Agentur. Diese Mindestanforderungen sind Grundlage der nationalen Sicherheitsanforderungen, die ihrerseits auch die spezifischen Aspekte für den jeweiligen Staat berücksichtigen. Demzufolge bestehen Unterschiede in der technischen Auslegung und bei den Genehmigungs- und Aufsichtsverfahren.Um die Sicherheit grenznaher ausländischer Kraftwerke und deren mögliche grenzüberschreitenden Auswirkungen beurteilen zu können, hat die Bundesregierung jeweils auf bilateraler Ebene einen frühzeitigen und umfassenden Informationsaustausch sichergestellt, in den auch die Behörden und Sachverständigen der betroffenen Bundesländer einbezogen werden.Seit 1972 bestehen enge Kontakte der zuständigen deutschen und französischen Behörden, die 1976 durch ein Verwaltungsabkommen formal geregelt wurden. Dies hat zur Einrichtung der Deutschfranzösischen Kommission für Fragen der Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen geführt. Im Rahmen der Arbeit dieser Kommission wurde u. a. ein sicherheitstechnischer Vergleich der Kernkraftwerke Fessenheim und Neckarwestheim erarbeitet, den der Bundesminister des Innern im August 1977 veröffentlicht hat.In der zusammenfassenden Bewertung des Berichts heißt es u. a. — und mit diesem Zitat, das etwas umfänglicher ist, will ich die Frage abschließend beantworten —:Die Arbeiten dieser Gruppen haben gezeigt, daß es schwierig ist, auf allen Gebieten einen detaillierten sicherheitstechnischen Vergleich durchzuführen, wenn die Systeme selbst bzw. ihre Auslegungsgrundlagen unterschiedlich sind. Das gewählte Vorgehen hat jedoch die Möglichkeit gegeben, die relevanten Punkte einem sicherheitstechnischen Vergleich zu unterziehen .. .Man kann zusammenfassend sagen, daß die an beide Anlagen gestellten sicherheitstechnischen Anforderungen vergleichbar sind, die zur Lösung der Probleme gewählten Methoden jedoch teilweise unterschiedlich .. .Hinsichtlich der betrachteten Störfälle konnte festgestellt werden, daß bei beiden Anlagen der Schutz der Bevölkerung vor Gefahren gewährleistet ist: einerseits durch vorbeugende Schutzmaßnahmen , die das Auftreten solcher Störfälle unwahrscheinlich machen, andererseits durch redundante und zuverlässige Schutz- und Sicherheitssysteme.
Zusatzfrage, Dr. Schroeder.
Herr Bundesminister, nach Presseberichten soll um den Reaktor Fessenheim nur ein Stahlmantel von sechs Millimeter und kein Berstschutz bestehen: Wie beurteilen Sie diese Pressemitteilungen, und wie beurteilen Sie die Gefahr bei einem Flugzeugabsturz
auf das Kernkraftwerk Fessenheim bei der gegebenen, vorgetragenen Sachlage?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich kann diese Frage im Moment nicht beantworten. Ich beantworte sie gern schriftlich.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage. Bitte schön, Herr Dr. Schroeder.
Ich habe eine weitere Zusatzfrage. Wie beurteilen Sie die Forderungen der SPD Baden-Württemberg nach einem sofortigen Abschalten des Strombezugs vom Kernkraftwerk Fessenheim, also nach einer Kündigung der Stromlieferungsverträge mit der Électricité de France, hinsichtlich der Stromversorgung in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere im badischen Landesteil von Baden-Württemberg?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Herr Abgeordneter, mir sind diese Forderungen der SPD Baden-Württemberg nicht bekannt. Im übrigen darf ich aber darauf hinweisen, daß der Bericht, aus dem ich zitiert habe, 1977 erstellt worden ist, also unter der Verantwortung der SPD, des damaligen Bundeskanzlers Schmidt verfaßt worden ist. Ich weiß nicht, ob es hier eine totale Veränderung in der Haltung der SPD konkret zu diesen beiden Kernkraftwerken gegeben hat.
Zusatzfrage des Abgeordneten Stahl.
Herr Bundesminister, nun hat der Herr Bundeskanzler bei seinem letzten Gespräch in Paris mit dem Herrn Präsidenten Mitterrand — so war es jedenfalls in der deutschen Presse angekündigt — das Thema der Sicherheit der Kernkraftwerke mit dem Ziel angesprochen — wenn ich das in der Zeitung richtig gelesen habe, das war auch Verlautbarung von seiten der Mitglieder der Bundesregierung —, die Sicherheit der Kernkraftwerke insgesamt zu erhöhen. Dies würde sich natürlich auch auf die vom Kollegen Dr. Schroeder angesprochenen Kernkraftwerke beziehen. Können Sie schon etwas darüber sagen, wie diese Gespräche verlaufen sind?Dr. Wallmann, Bundesminister: Wir befinden uns, Herr Abgeordneter, j a noch in Vorverhandlungen. Ich entnehme Ihrer Frage, daß Sie mit mir der Auffassung sind, daß die Initiative des Herrn Bundeskanzlers, zu dieser internationalen Konferenz einzuladen, von Ihnen ausdrücklich akzeptiert und gutgeheißen wird.Unser Ziel ist natürlich, weltweit die Sicherheitsstandards zu erreichen, die wir in der Bundesrepublik Deutschland bereits erreicht haben. Wieviel Erfolg wir damit haben werden, vermag ich, Herr Abgeordneter, im Augenblick nicht abzuschätzen.Ich sage in aller Ehrlichkeit: Ich möchte hier nicht eine falsche Erwartungshaltung wecken. Denn an dem, was wir heute sagen, werden wir drei Tage später alle miteinander gemessen werden. Es wer-
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Bundesminister Dr. Wallmannden sehr, sehr schwierige Verhandlungen werden. Darüber bin ich mir im klaren. Ich mache mir die Dinge auch nicht einfach, indem ich sage: Wir werden die größten Schwierigkeiten mit den Ländern des Ostblocks haben. Wir werden auch innerhalb der EG schwierige Verhandlungen durchzustehen haben. Am Mittwoch voriger Woche bin ich in Luxemburg bei der Konferenz des Ministerrats gewesen, die sich mit anderen Themen beschäftigte. Ich habe einen Vorgeschmack bekommen, wie schwierig die Verhandlungen sind, weil hier häufig andere Prioritäten gesetzt werden. Wir haben uns über Chemikalien unterhalten. Da wird eben z. B. die Produktionssituation häufig als wichtiger denn die Umweltsituation angesehen. Schon deswegen, aber auch aus anderen Gründen, sind die Verhandlungen häufig schwierig. Aber ich habe — das will ich hinzufügen — die Hoffnung, daß diese bemerkenswerte und wichtige Initiative des Herrn Bundeskanzlers uns zumindest in Teilbereichen Erfolge bringen wird.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kübler.
Herr Minister, ich darf auf die Antwort zurückkommen, die Sie dem Herrn Kollegen Schroeder gegeben haben. Sie war sehr ausführlich. Das mache ich Ihnen nicht zum Vorwurf. Nur habe wenigstens ich persönlich eine klare Aussage nicht mitbekommen können. Ich darf Sie deshalb noch mal fragen: Ist nun das Kernkraftwerk Fessenheim gleich sicher, oder ist es unsicherer, oder ist es sogar sicherer als deutsche Kernkraftwerke? Sonst wird von der Bundesregierung ja immer sehr generell behauptet, die deutschen Kernkraftwerke seien in jedem Fall sicherer. Diese Aussage muß j a auf Unterlagen und Informationen beruhen.
Dr. Wallmann, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich habe meinen Mitarbeitern Weisung gegeben, mich so umfassend wie möglich zu präparieren, weil ich der Auffassung bin, daß Sie einen Anspruch darauf haben, sorgfältige und wirklich sachgerechte Informationen zu erhalten.
Ich trage noch einmal vor, was als Zusammenfassung jenes Berichts festgehalten worden ist:
daß die an bei den Anlagen gestellten sicherheitstechnischen Anforderungen vergleichbar sind, die zur Lösung der Probleme gewählten Methoden jedoch teilweise unterschiedlich. Hinsichtlich der betrachteten Störfälle konnte festgestellt werden, daß bei beiden Anlagen der Schutz der Bevölkerung vor Gefahren gewährleistet ist: einerseits durch vorbeugende Schutzmaßnahmen ... , die das Auftreten solcher Störfälle unwahrscheinlich machen, andererseits durch redundante und zuverlässige Schutz- und Sicherheitssysteme.
Das sind eindeutige Aussagen. Die Vergleichbarkeit, was die Sicherheit für die Menschen angeht, liegt nach diesem eingehenden Bericht' vor.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Mann.
Sie hat sich erledigt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Tatge.
Herr Minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, glauben Sie, es ist in Anbetracht auch des aktuellen Unfalls, der in der Sowjetunion gewesen war, verantwortlich, hier zu sagen, daß es umfassende und durchgreifende Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung bei Störfällen gibt, wenn man sehen muß, daß bei einem Unfall, einem GAU im Atomkraftwerk Fessenheim große Teile von Baden, von der Pfalz, vom Elsaß und von Lothringen verseucht wären und eine Entvölkerung, d. h. eine Evakuierung der Bevölkerung, die einzige Maßnahme wäre, um vielleicht noch etwas zu retten?Dr. Wallmann, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich habe mich zu dieser Frage mehr als einmal zu äußern gehabt, wenn auch noch nicht vor diesem Hohen Hause. Ich habe mehr als einmal zum Ausdruck gebracht, daß nach meiner Überzeugung gegenwärtig ein Ausstieg aus der Kernenergie aus einer ganzen Reihe von Gründen nicht zu verantworten ist. Ich habe darauf hingewiesen, daß in diesem Fall z. B. Kohlekraftwerke in Betrieb genommen werden müßten, die nicht über die entsprechenden Einrichtungen, Wirbelschichttechniken, Rauchgasentschwefelung und dergleichen, verfügen, daß wir also erhebliche Umweltbelastungen hätten, Belastungen, die z. B. zu einer ernsten Gefahr für Menschen werden können.Wir haben vorhin über Chemikalien gesprochen. Wir haben zu Recht in der ganzen Bundesrepublik unter dem Thema Waldsterben lange darüber diskutiert, was hier geboten ist. Aus diesen Gründen, aber auch im Hinblick auf die sozialen Konsequenzen stehe ich auf dem Standpunkt,- daß ein sofortiger Ausstieg nicht verantwortet werden kann. Ich bin dieser Auffassung nicht nur mit der Bundesregierung und nicht nur mit den verantwortlichen Sprechern der Koalitionsfraktionen, sondern auch einer Meinung beispielsweise mit Herrn Rau, dem Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, oder dem Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der wörtlich vor den Jungsozialisten erklärt hat, „daß jetzt ein sofortiger Ausstieg nicht möglich ist. Ich hoffe, daß es nicht zu viele Jahre dauert, bis der Umstieg stattfinden kann". So hat er formuliert. Das heißt mit anderen Worten: Es gibt hier in diesem Punkt eine große Übereinstimmung. Und übrigens hat sich auch Herr Mayr, der Vorsitzende der IG Metall, in dieser Weise geäußert. Ich halte es für ganz wichtig, daß wir in dieser zentralen Frage nicht jene Ideologisierung und nicht jene parteipolitische Polarisierung erfahren, die letzten Endes die Menschen dann nur noch mehr verunsichern kann. Ich bin also dankbar, hier Übereinstimmung feststellen zu können.
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17314 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schulte.
Herr Minister, was unternimmt die Bundesregierung, daß endlich auch sowohl bei dem Kernkraftwerk Fessenheim wie auch bei den bundesdeutschen Kernkraftwerken der höchste Sicherheitsstandard, wie er bisher vom Atomkraftwerk Zwentendorf erreicht wird, angestrebt wird?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Zwentendorf liegt doch nicht in der Bundesrepublik Deutschland. Was soll ich dazu sagen können? Zwentendorf ist — das brauche ich Ihnen im einzelnen doch nicht zu sagen — Gegenstand großer Auseinandersetzungen gewesen. Ob dabei richtig oder nicht richtig entschieden worden ist, das habe ich nicht zu beantworten.
Wir in der Bundesrepublik Deutschland haben den höchsten Sicherheitsstandard. Ich glaube, wir haben Anlaß, bei dieser Gelegenheit all denjenigen, die hier ihre Aufgabe zu erfüllen haben — und hier denke ich ganz besonders an die vielen Techniker und Sachverständigen —, herzlich zu danken, daß dieses geleistet werden konnte.
Darf ich mir bitte einen Hinweis erlauben. Ich habe das bewußt laufenlassen im Sinne langer Fragen und langer Antworten. Aber dies geht in der Fragestunde nicht auf die Dauer. Es ist keine Kritik, sondern es ist die Bemühung, auch alle anderen zu Wort kommen zu lassen. Ich wäre dankbar, wenn wir das auf Gegenseitigkeit in Zukunft beachten.
Ich rufe die Frage 43 des Herrn Abgeordneten Dr. Schroeder auf:
Sind der Bundesregierung in den zurückliegenden Jahren Störfälle beim Betrieb des französischen Kernkraftwerks Fessenheim bekanntgeworden, und welche Vorsorgemaßnahmen sind bei Störfällen im Kernkraftwerk Fessenheim zum Schutz der Bürger auf der deutschen Rheinseite vorgesehen?
Dr. Wallmann, Bundesminister: In den vergangenen Jahren hat es auch im Kernkraftwerk Fessenheim Betriebsstörungen gegeben. Hierüber ist die Bundesregierung wie auch die Landesregierung Baden-Württemberg informiert worden. Im Rahmen der deutsch-französischen Kommission wird regelmäßig auch über den Betrieb des Kernkraftwerks Fessenheim berichtet. In der Arbeitsgruppe „Besondere Vorkommnisse" werden Betriebsunregelmäßigkeiten eingehend diskutiert. Daneben besteht auf EG-Ebene eine Meldeverpflichtung. Bedeutsame Vorkommnisse werden Incident Reporting System bei der OECD-NEA erfaßt. Dort sind bisher fünf besondere Vorkommnisse des Kernkraftwerks Fessenheim registriert, von denen eines möglicherweise als Störfall nach deutscher Klassifizierung eingestuft werden könnte.
Am 18. Januar 1981 wurde eine deutsch-französische Regierungsvereinbarung über den Informationsaustausch bei Vorkommnissen oder Unfällen getroffen, die radiologische Auswirkungen haben können. Die vereinbarte sofortige Meldeverpflichtung umfaßt auch solche Ereignisse, die, obwohl gar keine radiologischen Auswirkungen vorliegen, bei der im Grenzgebiet wohnenden Bevölkerung Besorgnis erregen könnten.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, daß bereits seit 1977 zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland ein allgemeines Hilfeleistungsabkommen bei Katastrophen und schweren Unglücksfällen besteht, zu dem die zuständigen Ministerien beider Länder administrative und organisatorische Einzelheiten festgelegt haben.
Eine Zusatzfrage, Herr Dr. Schroeder.
Herr Bundesminister, unterstützt die Bundesregierung angesichts der bekanntgewordenen Störfälle die Forderungen — die insbesondere in Südbaden erhoben werden —, daß ein deutscher Vertreter in die französische Reaktorkommission beim Kernkraftwerk Fessenheim entsandt wird?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Damit überfordern Sie mich im Augenblick, Herr Abgeordneter. Ich möchte Ihnen die Antwort gerne schriftlich erteilen.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Schroeder.
Eine kurze; um das aufzugreifen, was Sie sagen, Herr Präsident.
Wird das Kernkraftwerk Fessenheim auch in die Bemühungen der Bundesregierung um grenzüberschreitende Informationen und Katastrophenschutzmaßnahmen einbezogen?
Dr. Wallmarin, Bundesminister: Selbstverständlich. Das ist schon der Fall.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Mann.
Herr Minister, sind Sie in der Lage, den Kollegen Dr. Schroeder und auch mich über die heute verständlicherweise nicht zu beantwortenden sehr konkreten Fragen nachträglich zu informieren, und in welcher Weise ist eigentlich eine Information der betroffenen Bevölkerung im Bereich Fessenheim, also insbesondere im Freiburger Raum, außer über die Presse gewährleistet?Dr. Wallmann, Bundesminister: Ich denke, auf üblichem Wege: indem wir uns äußern, indem wir die Sachzusammenhänge gründlich darstellen, indem wir über alle möglichen Medien an die Menschen herantreten. Ich glaube, derjenige, der gerade über
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986 17315
Bundesminister Dr. Wallmanndiesen Komplex informiert sein will, der daran ein Interesse hat, kann eigentlich fast täglich in den Medien alle möglichen Positionen erfahren; nicht nur die der Bundesregierung. Aber ich sichere Ihnen zu: Sie werden die Informationen, die ich im Augenblick nicht geben konnte, natürlich erhalten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Tatge.
Herr Minister für Reaktorsicherheit, ich frage Sie noch einmal: Können Sie trotz des Vorhandenseins des Atomkraftwerkes auf der französischen Seite Ihre Behauptung aufrechterhalten, daß durchgreifende Schutzmaßnahmen bei einem Störfall möglich sind, oder sehen Sie nicht vielmehr die Gefahr — wie wir das auch in der Sowjetunion erlebt haben —, daß bei einem GAU eben nur eine Evakuierung der Bevölkerung bleibt und große Teile Badens, der Pfalz und des Elsaß verseucht sind?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich unterstreiche noch einmal das, was ich in meiner ersten Antwort ausgeführt habe.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Penner.
Herr Minister, ich komme noch einmal auf die Frage von Herrn Schroeder zurück. Ich habe da etwas nicht verstanden, und deshalb
stelle ich jetzt noch einmal die Frage in der Hoffnung, daß Sie sie vielleicht beantworten können. Was ist denn Ihre Position zu der Forderung von Herrn Schroeder, einen Deutschen in die französische Kernkraftbehörde zu schicken? Wie sehen Sie das?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Ich habe das verstanden, aber ich habe gesagt: Ich beantworte die Frage in diesem Augenblick nicht. Ich tue das ganz bewußt nicht; denn das, was ich in diesem Augenblick sagen würde, würde ja über diesen Augenblick hinaus wirken. Ich muß das untersuchen und prüfen. Eine verantwortliche Antwort kann ich erst nach einer Prüfung geben. Ich werde die Angelegenheit prüfen, und dann wird Herr Schroeder die Antwort bekommen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Stahl.
Herr Bundesminister, nun hat j a der Bundeskanzler wohl eine ganze Palette von Problemen angesprochen, worunter, wenn ich es richtig gelesen habe, auch das Problem war, auf das Sie eben eingegangen sind.
Herr Abgeordneter, fragen müssen Sie!
Ich frage also den Herrn Bundesminister: Sind Sie denn nicht darüber informiert, daß wohl auch diese Thematik, die hier eben
von den Kollegen angesprochen wurde, Gegenstand eines derartigen Gesprächs auf höchster Ebene gewesen sein soll?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Ich bin doch gefragt worden, welche Haltung ich als zuständiger Minister dazu einnehme, und ich habe Ihnen gesagt: Dies werde ich prüfen; und erst nach der Prüfung werde ich eine Antwort geben. Dabei bleibe ich, weil ich nur dies für verantwortlich halte.
Ich rufe die Frage 44 des Abgeordneten Schartz auf:
Entsprechen Pressemeldungen der Wahrheit, nach denen die Bundesregierung ihre Zustimmung dazu gegeben hat, daß die Abgabe an radioaktiven Stoffen aus dem französischen Kernkraftwerk Cattenom 15 Curie je Block betragen darf, und daß bei dem deutschen Kernkraftwerk Biblis die Abgabe an radioaktiven Stoffen auf 1,5 Curie festgelegt ist?
Bitte schön, Herr Minister.
Dr. Wallmann, Bundesminister: Herr Präsident, die Fragen 44 und 45 gehören zueinander. Darf ich sie zusammen beantworten?
Herr Abgeordneter Schartz, sind Sie damit einverstanden? — Dann rufe ich zusätzlich Ihre Frage 45 auf:Entsprechen Pressemeldungen den Tatsachen, daß diese Zustimmung der Bundesregierung ohne die Konsultationen der Landesregierung von Rheinland-Pfalz und des Saarlandes gegeben wurde und daß darüber hinaus die kommunalen Körperschaften in dem Einflußbereich von Cattenom nicht informiert wurden?Bitte.Dr. Wallmann, Bundesminister: Herr Abgeordneter, Ihre beiden Fragen beantworte ich wie folgt: Pressemeldungen, in denen behauptet wird, die , Bundesregierung habe zugestimmt, daß die Abgabe von Spalt- und Aktivierungsprodukten mit dem Abwasser in die Mosel durch das französische Kernkraftwerk Cattenom 60 Curie, d. h. 15 Curie je Block, pro Jahr betragen darf, sind nicht zutreffend.Alle Fragen hinsichtlich der radioaktiven Belastung der Mosel durch das Kernkraftwerk Cattenom wurden ausführlich in der deutschfranzösischen Kommission für Fragen der Sicherheit kerntechnischer Anlagen und in der Moselschutzkommission unter Beteiligung von Vertretern der Länder Rheinland-Pfalz und Saarland behandelt. Die Moselkommission hat in ihrem Beschluß vom 27. März 1986 als Bedingung für Bau und Betrieb des Kernkraftwerks Cattenom festgelegt, das die in der Empfehlung der Moselschutzkommission enthaltenen Festlegungen einschließlich der Werte für die Begrenzung der flüssigen radioaktiven Ableitungen auf 4 mal 3 Curie pro Jahr, also 12 Curie p.a., eingehalten werden müssen.Durch die Zustimmung zu diesem Beschluß hat sich Frankreich gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg nicht nur politisch, sondern auch völkerrechtlich gebunden, die Einhaltung dieser deutlich niedrigeren Werte sicherzustellen.
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17316 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
Bundesminister Dr. WallmannÜber dieses Ergebnis sind die Landesregierungen von Rheinland-Pfalz und des Saarlandes unterrichtet worden. Die Unterrichtung kommunaler Körperschaften fällt in den Zuständigkeitsbereich der jeweiligen Landesregierung. Soweit sich kommunale Stellen unmittelbar an die Bundesregierung gewandt haben, wurden sie über den aktuellen Sachstand von hier aus informiert.Der für die jährliche Emission radioaktiver Stoffe mit dem Abwasser für das Kernkraftwerk Biblis genehmigte Grenzwert beträgt 3 Curie pro Block, also bei zwei Blöcken insgesamt 6 Curie.
Eine Zusatzfrage, Herr Schartz.
Herr Bundesminister, der Kollege Schroeder hat eben angeregt, einen deutschen Vertreter in diese französische Kommission zu entsenden. Darf ich Sie darum bitten, daß Sie die Antwort darauf auch mir zustellen, und darf ich an Sie die Frage richten: Hält die Bundesregierung es für möglich, daß in dem französischen Kernkraftwerk Cattenom eine gemeinsame betreiberunabhängige Kontrollstation, bestehend aus deutschen, französischen und luxemburgischen Beamten, eingerichtet wird?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Ich höre von meinen Mitarbeitern gerade, daß darauf schon einige Male geantwortet worden ist; nur. bin ich nicht hier gewesen. Ich bitte um Entschuldigung, Herr Abgeordneter, aber ich kann darauf im Moment nicht antworten.
Der Präsident hat dafür Verständnis. Das ist eine so spezielle fachliche Frage, daß ein neu ins Amt gekommener Minister sie nicht schon am nächsten Tag beantworten kann.
Herr Präsident, ich wäre sehr dankbar, wenn der Herr Minister mir die Antwort schriftlich geben würde. Damit wäre ich sehr einverstanden.
Dr. Wallmann, Bundesminister: Vielen Dank, Herr Abgeordneter.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Tatge.
Herr Minister, können Sie mir konkrete Angaben über die vorliegenden Katastrophenschutzpläne für die Gebiete von Rheinland-Pfalz, dem Saarland, Lothringen und Luxemburg machen, die ja von einem GAU im Atomkraftwerk Cattenom betroffen wären?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter, selbst wenn ich dazu imstande wäre, hielte ich es für unmöglich, diese Frage im Rahmen einer Fragestunde zu beantworten. Herr
Präsident, ich bitte Sie deswegen, damit einverstanden zu sein, daß ich darauf keine Antwort gebe.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Mann.
Herr Minister, nur noch einmal zur Kontrolle: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, treffen die Pressemeldungen, die der Kollege Schartz in seiner Frage 44 genannt hat, nicht zu.
Wie ist sichergestellt, daß in der Öffentlichkeit die von Ihnen hier heute angegebenen richtigen Werte — wie ich hoffe, richtigen Werte, auch wenn sie längst nicht befriedigend sind — der Bevölkerung zur Kenntnis gelangen?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Herr Abgeordneter, vielleicht sollte ich darauf hinweisen, daß in dem Genehmigungsbescheid ursprünglich tatsächlich 60 Curie vorgesehen waren. Daraus erklärt sich — weil das dort drüben natürlich mitgeteilt worden ist, daß dies hier in der Bundesrepublik aufgenommen worden ist. Hier ist aber offenbar nicht bekannt gewesen, daß es jene Vereinbarungen gibt, von denen ich gesprochen habe. In diesen Vereinbarungen ist dieser Wert heruntergedrückt worden, und zwar auf 12 Curie, also eine wesentliche Verbesserung.
Meine Mitarbeiter haben mir gesagt, daß es so intensive Kontakte gibt, daß sichergestellt wird, daß wir tatsächlich die Kenntnis haben, in welchem Umfang dort eingeleitet wird, wie die Werte sind, und daß wir völlig unbesorgt sein können, daß etwa ein höherer Wert erreicht wird und wir davon nicht informiert werden.
Wir müßten dieses vielleicht noch einmal deutlich machen. Möglicherweise gibt auch diese Fragestunde und meine Antwort Gelegenheit, das der Bevölkerung gegenüber deutlich zu machen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kübler.
Herr Minister, als Abgeordneter des Kreises, in dem Biblis liegt, und weil Sie angesprochen haben, daß die beiden Blöcke in Biblis zusammen ein Abgabelimit von 6 Curie haben, ist meine Frage — gegebenenfalls auch schriftlich zu beantworten, dies gestehe ich gern zu —: Liegt Biblis nun in der Mitte, am Ende oder an der Spitze dieser Abgabewerte?Dr. Wallmann, Bundesminister: Nein, das kann ich beantworten, wobei ich darauf hinweisen muß, daß ich im Grunde genommen noch präziser hätte antworten müssen. Es gibt nämlich diesen Grenzwert jeweils für 180 Tage. Da sind pro Block 1,5 Curie vorgesehen. Es ist also, wenn Sie so wollen, bei dieser Grenze noch eine Erschwernis eingebaut worden. Wenn Sie das aber zusammenrechnen — ich glaube, das darf man tun —, sind das vier mal 1,5 Curie als oberer Grenzwert, gleich 6 Curie p. a.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986 17317
Bundesminister Dr. WallmannIch darf noch auf folgendes hinweisen: Die Jahresgenehmigungswerte für die Abgabe mit dem Wasser — tatsächlich sind es ja niedrigere Werte, wie ich auch noch einmal sagen muß — für deutsche Kernkraftwerke betragen für die Kernkraftwerke Grafenrheinfeld, Grohnde und Philippsburg II 1,5 Curie je Jahr und für die Kernkraftwerke Obrigheim, Stade, Neckarwestheim I, Brunsbüttel, Isar I und Krümmel 5 Curie je Jahr. Der höchste Jahresgenehmigungswert von 6,7 Curie je Jahr gilt für Würgassen.Aber ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß die tatsächlichen oberen Werte der Emissionen deutscher Kernkraftwerke noch deutlich unter den Genehmigungswerten liegen.
Ich rufe die Frage 46 des Abgeordneten Mann auf:
Trifft es zu, daß die Radioaktivitätsbelastung für die Bevölkerung beim Normalbetrieb der Wackersdorfer Wiederaufarbeitungsanlage fünfzehnmal höher als bei einem „normalen" Atomreaktor sein würde, und welche Risikostudien und Störfallanalysen wurden für die Wackersdorfer WAA erstellt und/oder veröffentlicht?
Bitte schön, Herr Minister.
Dr. Wallmann, Bundesminister: Die von Ihnen erwähnte Angabe über die Radioaktivitätsbelastung durch die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf trifft nicht zu. Die umfangreichen radioökologischen Berechnungen durch amtlich zugezogene Sachverständige haben für die Anlage unter Zugrundelegung der Antragswerte für die Ableitung radioaktiver Stoffe mit der Abluft eine maximale Strahlenexposition von rund 10 Millirem jährlich ergeben. Für moderne Kernkraftwerke errechnen sich Werte in der gleichen Höhe.
Die berechnete Strahlenexposition durch Ableitungen radioaktiver Stoffe mit dem Abwasser der Wiederaufarbeitungsanlage ist im Vergleich noch günstiger.
Sämtliche Störfälle, gegen die die Anlage auszulegen ist, wurden im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren einer umfangreichen Begutachtung unterzogen. Die mögliche Strahlenexposition der Bevölkerung durch Störfälle wurde von der amtlich zugezogenen Gutachterarbeitsgemeinschaft in ihrem Gutachten über die Sicherheit der Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf untersucht und in den Antragsunterlagen ebenfalls. Eine Gesamtdarstellung der Störfallanalyse ist in dem vom Antragsteller vorgelegten Sicherheitsbericht enthalten, und dieser ist öffentlich ausgelegt worden. Jeder kann sich also darüber informieren.
Eine Zusatzfrage, Herr Mann.
Herr Minister, ich beziehe mich in meiner Frage auf einen Artikel in der Zeitschrift „Natur" vom Juni 1986 und möchte noch einmal danach fragen: Ist eine Risikostudie im klassischen Sinne erstellt und veröffentlicht worden?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Es wird mir gerade mitgeteilt: Es hat zwar eine Risikostudie gegeben, aber nicht im „klassischen" Sinne.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Mann.
Ist denn eine Risikostudie angesichts der außerordentlichen und internationalen Gefährlichkeit von Wackersdorf, auf die wir gleich noch zu sprechen kommen, zu erstellen beabsichtigt, und beabsichtigt die Bundesregierung, gegebenenfalls nach Tschernobyl, auch wenn das vielleicht bisher noch nicht geplant war, eine solche Studie erstellen zu lassen?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich antworte Ihnen freimütig, daß ich im Augenblick nicht weiß, was eine klassische und was eine nichtklassische Risikostudie ist. Deswegen bitte ich, damit einverstanden zu sein, daß ich Ihnen die Antwort schriftlich erteile.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Tatge.
Herr Minister, können Sie bestätigen, daß durch die Abluft bei der Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf eine wesentlich höhere Belastung mit Radioaktivität erzeugt wird als bei dem Normalbetrieb von Atomkraftwerken?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Nein, das ist nicht der Fall, und das ist auch von mir beantwortet worden. Die umfangreichen radioökologischen Berechnungen durch amtlich zugezogene Sachverständige haben für diese Anlage unter Zugrundelegung der Antragswerte für die Ableitung radioaktiver Stoffe mit der Abluft eine maximale Strahlenexposition von rund 10 Millirem pro Ganzkörper jährlich ergeben. Für moderne Kernkraftwerke errechnen sich Werte in der gleichen Höhe. Ich hatte die Frage beantwortet.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kübler.
Herr Minister, darf ich vielleicht doch noch einmal darauf aufmerksam machen, weil ich mir Ihre Antwort beinahe etwas auf der Zunge zergehen lassen möchte, daß keine Risikostudie für Wackersdorf in dem Sinne, wie sie für Leichtwasserreaktoren und für den Schnellen Brüter im Zusammenhang mit der Enquete-Kommission erstellt worden ist, gemacht worden ist?Dr. Wallmann, Bundesminister: Verzeihung, Herr Abgeordneter, das habe ich auch nicht gesagt. Es sind sogar sehr umfängliche Studien angefertigt und vorgelegt worden. Nur haben mir meine Mitarbeiter gesagt: nicht eine „klassische" Risikostudie. Ich habe hinzugefügt: Ich selbst bin in diesem Au-
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17318 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
Bundesminister Dr. Wallmanngenblick nicht einmal imstande zu sagen, was eine klassische und eine nichtklassische Risikostudie ist. Es ist nämlich durchaus möglich — davon gehe ich aus —, daß die jetzt gewählte nichtklassische Art höhere Anforderungen stellt, als es bei den klassischen der Fall ist — meine Mitarbeiter nicken —, aber wir werden Ihnen das gern schriftlich zukommen lassen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schulte.
Sind Ihnen Untersuchungen unabhängiger Wissenschaftler, z. B. des Professor Weiß aus München, bekannt, die zu ganz anderen radioökologischen Rechenergebnissen kommen, als Sie sie gerade mitgeteilt haben, und wenn j a, wie beurteilen Sie diese?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Nein, sind mir nicht bekannt.
Ich rufe die Frage 47 des Abgeordneten Mann auf:
Welche Änderungen von Jahresaufnahmegrenzwerten enthält der dem Länderausschuß für Atomenergie (LAA) vorliegende Referentenentwurf der Strahlenschutzverordnung für die in der Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf (WAA) gehäuft auftretenden Nuklide, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung bei einer Novellierung der Strahlenschutzverordnung aus der zusätzlichen Radioaktivitätsbelastung durch die Katastrophe von Tschernobyl?
Bitte schön, Herr Minister.
Dr. Wallmann, Bundesminister: In den Entwurf der Novellierung der Strahlenschutzverordnung wird das Konzept der effektiven Dosis nach EG-Grundnormen für den Strahlenschutz übernommen. Dieses basiert auf den Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission. Für die Strahlenschutzverordnung wird dabei an den organspezifischen Grenzwerten in der bisherigen Höhe festgehalten. Durch Änderung der Berechnungsgrundlage auf Grund neuerer dosimetrischer und metabolischer Daten wird es Änderungen der Grenzwerte der Jahresaktivitätszufuhr geben. Diese neuen Werte wurden als Ganzes von der Europäischen Gemeinschaft in die Grundnormen übernommen und sollen auch vollständig in die neue Strahlenschutzverordnung übertragen werden. Dabei bitte ich, darauf zu achten, daß die Grenzwerte der Jahresaktivitätszufuhr nur im Gesamtrahmen der Einführung der effektiven Dosis gesehen werden können. Diese wird wegen der Berücksichtigung aller Teilkörper und Organdosen den Strahlenschutz auf jeden Fall verbessern. Die Strahlenschutzverordnung dient der Vorsorge beim Umgang mit radioaktiven Stoffen.
Für die Bewältigung der Folgen des Unfalles im Kernkraftwerk Tschernobyl müssen — darauf möchte ich aufmerksam machen — ergänzende Kriterien herangezogen werden. Diese, Herr Abgeordneter, werden noch zwischen Bund und Ländern beraten. Deswegen kann ich, Herr Präsident, dazu im Augenblick noch nichts sagen.
Zusatzfrage, Herr Mann.
Herr Minister, ist es richtig, daß die ALI-Werte, die in der Frage erwähnt sind, noch oberhalb der von der ICRP — ich darf das hier ausführen: International Commission on Radiological Protection; das ist wohl die von Ihnen so genannte Internationale Strahlenschutzkommission — festgelegten Werte liegen?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Ich antworte mit Nein, wie ich von meinen Mitarbeitern höre.
Sie haben noch eine weitere Zusatzfrage, Herr Mann.
Ist es richtig, daß ausgerechnet die in einer Wiederaufarbeitungsanlage gehäuft auftretenden Nuklide, z. B. Tritium, also überschwerer Wasserstoff, radioaktiver Kohlenstoff 14, Strontium 90 und auch Plutonium 238, als um bis zu hundertmal verträglicher in dem Entwurf, der dem Länderausschuß vorliegt, eingestuft werden?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Ich möchte Sie, Herr Abgeordneter, auch in diesem Fall darum bitten, schriftlich antworten zu dürfen.
— Danke schön.
Die Fragen 48 und 49 des Herrn Abgeordneten Dr. Emmerlich sollen auf seinen Wunsch schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 50 des Herrn Abgeordneten Dr. Kübler auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, die Zuständigkeit für die Entsorgung der nuklearen Energieanlagen auf das neu errichtete Umweltministerium zu übertragen?
Bitte schön, Herr Minister.
Dr. Wallmann, Bundesminister: Durch seinen Organisationsbeschluß vom 5. Juni 1986 hat der Bundeskanzler aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern die Zuständigkeit für die Sicherheit kerntechnischer Anlagen und den Strahlenschutz auf den Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit übertragen. Diese Zuständigkeit schließt die nukleare Entsorgung der kerntechnischen Anlagen ein.
Keine Zusatzfrage.Die Frage 51 des Herrn Abgeordneten Dr. Schwenk ist vom Fragesteller zurückgezogen worden.Ich rufe die Frage 52 des Herrn Abgeordneten Dr. Penner auf:Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Bundesministers des Innern, Dr. Zimmermann, der in Österreich am 29. Mai 1986 österreichische Kritik zur Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf als unberechtigt zurückgewiesen und dabei auf für Österreich vorteilhafte Wirtschaftsverflechtungen mit der Bundesrepublik Deutschland hingewiesen hat?Bitte schön, Herr Minister.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986 17319
Dr. Wallmann, Bundesminister: Bundesinnenminister Dr. Zimmermann hat bei seinem Besuch in Wien am 29. Mai 1986 den Standpunkt der Bundesregierung dargelegt, wonach die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf ein unverzichtbarer Bestandteil des deutschen Entsorgungskonzepts ist. Er hat darauf hingewiesen, daß für die sicherheitstechnische Auslegung der geplanten Anlage die deutschen Sicherheitsstandards maßgebend sind, die weltweit als die höchsten anerkannt sind. Danach darf die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf nur errichtet und betrieben werden, wenn bei ihrem Betrieb nach menschlichem Ermessen keine Gefahren für das Personal, die Bevölkerung und die Umwelt ausgehen. Hierbei ist selbstredend die Bevölkerung Österreichs mit berücksichtigt. Sie wird durch die strengen deutschen Sicherheitsanforderungen im gleichen Maße geschützt wie die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland.Unter Bezug auf die bestehenden engen wirtschaftlichen Verflechtungen hat Bundesminister Dr. Zimmermann auf die traditionell guten Beziehungen zwischen Österreich und der Bundesrepublik Deutschland hingewiesen.Es wäre, Herr Abgeordneter, eine wirklich bedauerliche Fehlinterpretation, wollte man hierin einen unfreundlichen Akt gegenüber Österreich erblikken. Bundesinnenminister Dr. Zimmermann hat darüber hinaus eine noch engere Zusammenarbeit zwischen Österreich und der Bundesrepublik Deutschland befürwortet und den Abschluß eines Informationsvertrages, übrigens auch über Kernenergie, zwischen beiden Ländern angeregt.Vizepräsident- Westphal: Zusatzfrage, Herr Dr. Penner.
Herr Bundesminister, entspricht das Auftreten von Bundesminister Dr. Zimmermann am 29. Mai 1986 in Wien dem Stil der Bundesregierung?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Ich bin selber nicht dabei gewesen. Ich kann also nicht sagen, wie man sich die Hand gegeben, wie man miteinander gesprochen hat. Aber ich kenne Herrn Dr. Zimmermann und weiß, daß er selbstverständlich die Usancen kennt und sich auch entsprechend verhält.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Penner.
Herr Bundesminister, würden Sie Verständnis für eine Einschätzung aufbringen können, aus der sich ergibt, daß das Verhalten von Bundesminister Zimmermann am 29. Mai 1986 nicht dem wohlverstandenen deutschen Interesse entsprach?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Wir haben häufig unterschiedliche Meinungen in diesem Hohen Hause. Und deswegen muß ich Ihre Meinung selbstverständlich als Ihre Meinung respektieren. Ich habe in anderem Zusammenhang vorhin davon gesprochen, daß ich es bedaure, wenn es dort Mißverständnisse gegeben hat. Aber ich glaube, sie sind inzwischen längst ausgeräumt.
Im übrigen ist hinzuzufügen, daß Herr Bundesminister Dr. Zimmermann gerade zu Österreich und zur österreichischen Bevölkerung traditionell gute Beziehungen unterhält. Eingeschlossen ist selbstverständlich die Regierung der Republik Osterreich, gleichgültig, von welcher Partei sie gestellt wird.
Zusatzfrage des Abgeordneten Tatge.
Herr Minister, wie vereinbaren Sie Ihre Aussage über die jetzt schon mehrfach wiederholten traditionell guten Beziehungen zwischen der BRD und Österreich mit, der Zurückweisung von Tausenden von österreichischen Staatsbürgern an der bundesdeutschen Grenze? Es handelte sich um österreichische Staatsbürger — ich darf das zur Erklärung sagen —, die zu einer Demonstration nach Wackersdorf wollten.
Dr. Wallmann, Bundesminister: Ich bin in dieser Angelegenheit nicht zuständig. Abgesehen davon sage ich ganz — —
Herr Minister, ich möchte Sie unterbrechen. Nach meinem Eindruck besteht kein Zusammenhang mit der aufgeworfenen Frage. Ich möchte die Frage nicht zulassen.
— Dann kann man nächste Woche eine Frage dazu stellen.
Der Abgeordnete Mann zur nächsten Zusatzfrage. — Sie haben keine Zusatzfrage? — Dann Herr Stahl.
— Die Reihenfolge bestimmt der hier oben sitzende sitzungsführende Präsident, und der hat genau hingeguckt.
Herr Minister, sind — wenn ja, wann — Gespräche mit der österreichischen Regierung über Wackersdorf geplant? Ich erinnere mich, daß ein solcher Termin einmal anstand und daß die Gespräche wohl ziemlich fruchtlos ausgegangen sind. Sie haben von einem Abkommen gesprochen, das wohl auch geschlossen worden ist.Dr. Wallmann, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich werde eine Fülle von Gesprächen zu führen haben, selbstverständlich auch mit der österreichischen Regierung.
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17320 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
Bundesminister Dr. Wallmann— Nicht nur zu Wackersdorf, sondern zu dem gesamten Themenkomplex. Darin ist Wackersdorf natürlich eingeschlossen, das ist doch ganz klar. Wenn dort Fragen an mich gerichtet werden, beantworte ich sie.Jetzt sage ich unter Vorbehalt: Ich glaube, es ist bereits ein Termin für Anfang September ausgemacht, also etwa kurz vor oder nach Ende der Ferien. Das sage ich aber unter Vorbehalt. Es ist bereits ein Termin vorgesehen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Stahl.
Herr Bundesminister, kann ich aus den Antworten, die Sie auf die Frage und auch auf die Zusatzfrage des Kollegen Penner gegeben haben, schließen, daß sich der Bundesinnenminister auch aus Ihrer Sicht wie ein Elefant im Porzellanladen — bezogen auf seine Auffassung gegenüber Österreich — benommen hat?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Ich wundere mich über diese Interpretation. Ich schätze den Kollegen Dr. Zimmermann — ich kenne ihn seit vielen Jahren — und bedaure, daß es dort offenbar Mißverständnisse gegeben hat.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Kübler.
Herr Minister, die Bundesregierung wird in Zukunft — wie angekündigt — mit anderen Ländern eine Reihe von Besprechungen über Sicherheitsfragen führen. Würden Sie im Hinblick auf die bevorstehenden Gespräche, die sicherlich einvernehmlich geführt werden sollen, das Verhältnis zu Österreich und das Verhalten der Bundesregierung jedenfalls in der öffentlichen Bewertung nicht als eine Belastung und auch als eine Erschwerung der Aussichten für die künftigen Gespräche über die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene auf dem Gebiete der Sicherheitsfragen ansehen?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich stelle ungern Prognosen, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß es hier irgendwelche Belastungen gibt. Ich meine, die Beziehungen sind, ungeachtet parteipolitischer Bindungen, traditionell gut. Ich vertraue darauf, daß es auch in Zukunft so sein wird.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Nöbel.
Herr Minister, was hat die Bundesregierung nach dem Auftritt des Herrn Innenministers vor einem Millionenpublikum im Fernsehen und nachdem sich auch österreichische Stellen entsprechend geäußert haben, konkret unternommen, um diese -- wie Sie sagen — Mißverständnisse zu klären?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich muß Ihnen in allem Freimut sagen: Ich weiß nicht, ob es irgendwelche Kontakte gegeben
hat. Ich habe mich im Augenblick um so viele Dinge zu kümmern und habe mich so vielen Themen zuzuwenden, daß ich mich nicht mehr darum bemüht habe, zu erfahren, ob es irgendwelche Kontakte gegeben hat.
Ich rufe Frage 53 des Abgeordneten Dr. Penner auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß diese Äußerungen zu teilweise heftiger Kritik, auch durch den Bundeskanzler und den Außenminister der Republik Osterreich geführt haben, und sieht der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Anlaß zu Reaktionen?
Bitte schön, Herr Minister.
Dr. Wallmann, Bundesminister: Herr Abgeordneter Dr. Penner, die Bundesregierung bedauert es, daß durch Fehlinterpretation der Aussagen von Bundesinnenminister Dr. Zimmermann auf österreichischer Seite einige Irritationen entstanden sind. Die Bundesregierung ist der Meinung, daß sich durch eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kernenergie die guten Beziehungen zwischen Österreich und der Bundesrepublik Deutschland noch weiter vertiefen lassen und vertiefen werden.
Zusatzfrage, Herr Penner.
Hat die Bundesregierung einmal darüber nachgedacht, daß es sich bei dem angesprochenen Vorfall nicht um Fehlinterpretationen, sondern um Fehlverhalten handelt?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Ich habe zu diesem Zeitpunkt der Bundesregierung nicht angehört. Ich weiß aber, daß diese Bundesregierung immer nachdenkt und auch in Zukunft nachdenken wird. Uns liegt daran, zu allen Staaten gute und vernünftige Beziehungen zu haben. Die Beziehungen mit der Republik Österreich sind, wie ich schon mehrfach zum Ausdruck brachte, traditionell gut. Ich habe keine Besorgnisse, daß es hier irgendwelche Belastungen oder irgendwelche unguten Konsequenzen in unseren Beziehungen zur Republik Österreich in der Zukunft gibt.
Zusatzfrage, Herr Penner.
Herr Minister, können Sie mir Auskunft darüber geben, warum Sie den zweiten Teil meiner Frage nicht beantwortet haben?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Ich bitte um Entschuldigung. Darf ich nochmals nachlesen: „... und sieht der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Anlaß zu Reaktionen?"
Herr Abgeordneter, Sie sind so lange Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Sie haben selber einer Regierung angehört. Sie wissen, daß ich eine bestimmte Zuständigkeit habe, aber nicht für den Bundeskanzler zu reden habe und auch nicht der Pressesprecher der Bundesregierung bin.
Zusatzfrage des Abgeordneten Mann.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986 17321
Herr Bundesminister, teilen Sie meine Auffassung, daß für die Belastung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Österreich durch den Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf entscheidende Bedeutung auch der Haltung des Freistaats Bayern, insbesondere der Bayerischen Staatsregierung und ihres Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, zukommt, der bisher nach meinen Erkenntnissen nicht bereit ist, ernsthaft auf entsprechende Sicherheitsbedenken aus unserem Nachbarland, z. B. aus Salzburg, einzugehen?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Ich muß zunächst sagen, daß ich natürlich nicht für die Bayerische Staatsregierung sprechen kann.
Das, was zu Wackersdorf zu sagen ist, ist bei vielen Gelegenheiten durch die Bundesregierung zum Ausdruck gebracht worden. Ich stehe in der Sache voll hinter dem, was bisher dazu geäußert worden ist. Ich teile Ihre Auffassung also nicht.
Zusatzfrage des Abgeordneten Stahl.
Herr Bundesminister, kann man Sie einmal fragen, ob denn der Herr Zimmermann das, was er dort erklärt hat, nun bereut und sich darüber schämt und sich entschuldigen will? Sie haben das hier vorhin so angedeutet.
Dr. Wallmann, Bundesminister: Ich glaube, Sie sollten es unterlassen, mich jetzt ständig zu interpretieren. Ich habe klare Aussagen gemacht, Herr Abgeordneter. Dabei bleibe ich. Wenn Sie Herrn Bundesminister Dr. Zimmermann wegen seines Seelenlebens, wie auch immer es aussehen möge, befragen wollen, richten Sie die Frage bitte an ihn selbst.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Nöbel.
Herr Minister, wenn Sie nicht wissen — so interpretiere ich Ihre Antwort auf die Frage des Kollegen Penner —, ob der Bundeskanzler Anlaß zu Reaktionen genommen hat, darf ich daraus schließen, daß Sie überhaupt keine Rücksprache mit dem Regierungschef genommen haben, obwohl hier eine Anfrage eines Abgeordneten gestellt ist?
Dr. Wallmann, Bundesminister: Sie können gar nichts daraus schließen.
— Das können Sie nicht; nein. — Ich habe den Teil der Frage beantwortet, den ich zu beantworten habe. Verzeihen Sie -- ich bin nicht Mitglied des Hohen Hauses; ich habe niemanden zu kritisieren —, aber ich habe doch den Eindruck, daß die Zusatzfragen, die zu diesem Komplex gestellt worden sind, ein bißchen weit das Innenleben der Betroffenen und anderer angeht, das, was sie wohl in welcher Situation empfunden haben könnten.
Herr Minister, ich möchte dem Hohen Haus sagen, daß mein fester Eindruck ist, daß zumindest die Frage 53 falsch zugeordnet ist.
Da Herr Dr. Lorenz vom Bundeskanzleramt hier sitzt, bitte ich ihn, dies mitzunehmen. Denn es war eine Zumutung, daß Sie diese Fragen beantworten mußten. Eigentlich wäre jemand anders dafür zuständig gewesen.
Gibt es noch eine Zusatzfrage? — Dann sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich bedanke mich bei dem Herrn Minister für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Zur Beantwortung ist der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Lorenz anwesend.
Ich rufe die Frage 62 des Abgeordneten Dr. Nöbel auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß ihr Sprecher, Staatssekretär Ost, Ende Mai 1986 vor der Bundespressekonferenz gesagt hat, Bundeskanzler Kohl habe sich in einem am 29. Mai 1986 in der „International Herald Tribune" veröffentlichten Gespräch „überzeugt" geäußert, „daß Ernst Albrecht auch nach dem 15. Juni 1986 niedersächsischer Ministerpräsident bleiben wird", und ist die Bundesregierung bereit, eine Abschrift der entsprechenden Passagen des Tonbandes von dem 90minütigen Gespräch, das im Besitz des Regierungssprechers sei, zu veröffentlichen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Der Bundesregierung ist die Äußerung von Staatssekretär Ost am 30. Mai vor der Bundespressekonferenz in bezug auf den am 29. Mai 1986 in der „International Herald Tribune" veröffentlichten Artikel bekannt. Dieser Artikel basiert auf einem etwa zweistündigen Gespräch, das der Bundeskanzler am 26. Mai mit dem Redakteur Warren Gettler führte. In diesem Gespräch, das zu einem großen Teil auf einem Tonband mitgeschnitten wurde, wurden verschiedene Fragen behandelt.Zu dem Thema Niedersachsenwahl wurde Herrn Staatssekretär Ost deutlich, daß der Bundeskanzler keinen Zweifel daran hatte, daß Ernst Albrecht auch nach dem 15. Juni Ministerpräsident in Niedersachsen bleiben würde. Bei der Abstimmung der wörtlichen Zitate des Bundeskanzlers mit Herrn Warren Gettler haben die Herren Staatssekretär Ost und Ministerialdirektor Ackermann diese Aus-
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17322 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 223. Sitzung. Bonn, Freitag, den 20. Juni 1986
Parl. Staatssekretär Dr. h. c. Lorenzsage des Bundeskanzlers nochmals mehrfach unterstrichen.Es ist nicht üblich, solche Tonbandmitschnitte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, zumal bei solchen Gesprächen mit Journalisten häufig Hintergrundinformationen mitgeteilt werden, die — entsprechend journalistischem Brauch — vertraulich zu behandeln sind. Die Bundesregierung beabsichtigt daher nicht, Abschriften des Tonbandes oder entsprechender Passagen des Tonbandes zu veröffentlichen.
Zusatzfrage, Herr Dr. Nöbel.
Darf ich das so verstehen, daß die offensichtlichen Mißverständnisse zwischen dem verantwortlichen Redakteur und dem Chef des Bundespresseamtes danach bestehenbleiben werden?
Dr. h. c. Lorenz, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, nach meiner Auffassung gibt es keine Mißverständnisse zwischen dem verantwortlichen Redakteur und dem Chef des Bundespresseamtes. Wenn Sie einmal das Interview lesen, werden Sie feststellen, daß es sich bei der Passage, auf die Sie wahrscheinlich Bezug nehmen, nicht um eine wörtliche Wiedergabe einer Meinungsäußerung des Bundeskanzlers handelt, sondern um eine Formulierung des Redakteurs, der seine Eindrücke aus dem Gespräch mit eigenen Worten wiedergegeben hat.
Sie haben noch eine Zusatzfrage, Herr Dr. Nöbel.
Aber der Bundesregierung ist doch bekannt, daß der Redakteur behauptet, auf seinem Tonband sei das, was Herr Ost vorgelesen hat — er hat es vorgelesen! —, nicht drauf!
Dr. h. c. Lorenz, Parl. Staatssekretär: Diese Behauptung kann die Bundesregierung nicht teilen. Jedenfalls wissen wir natürlich nicht, ob möglicherweise das Tonband des Redakteurs noch andere Passagen enthält, da wir es nicht kennen. Wir können uns nur auf die Unterlagen beziehen, die von Herrn Staatssekretär Ost zur Kenntnis genommen worden sind.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Penner.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin gesagt, die Zurverfügungstellung des gesamten Tonbandes käme unter anderem deswegen nicht in Betracht, weil es dabei auch Hintergrundinformationen geben könne. Nun frage ich Sie: Sind Sie denn wenigstens bereit, uns die einschlägigen Passagen zugänglich zu machen?
Dr. h. c. Lorenz, Parl. Staatssekretär: Wir haben nicht die Absicht, irgend etwas von dem Tonband abzuschreiben oder zu veröffentlichen. Ich weise zum einen darauf hin, daß solche Tonbänder nie veröffentlicht werden, und zum zweiten darauf, daß Tonbandaufzeichnungen aus gesetzlichen Gründen
nur im Einvernehmen der anwesenden Personen gemacht werden können. Das Einvernehmen bezieht sich nicht auf die Veröffentlichung, sondern nur darauf, daß das Tonband als Gedankenstütze für den Artikelschreiber oder zur Überprüfung von Zitaten benutzt wird.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Hürland.
Herr Staatssekretär, ist es nicht eine ungeheure Gabe, wenn der Bundeskanzler am 29. Mai überzeugt sagt, daß Ernst Albrecht auch nach dem 15. Juni 1986 niedersächsischer Ministerpräsident bleiben wird und dies eintrifft?
Dr. h. c. Lorenz, Parl. Staatssekretär: Ja, ich teile Ihre Auffassung, Frau Kollegin.
Schade, daß der Präsident nichts sagen darf.
Ich rufe die Frage 63 des Abgeordneten Dr. Nöbel auf:
Ist die Bundesregierung für den Fall, daß die Äußerung ihres Pressesprechers weder in der bezeichneten noch in sonst geeigneter Weise glaubhaft gemacht werden kann, bereit, den Regierungssprecher als Beamten nachdrücklich dazu anzuhalten, seine Pflicht zu wahrheitsgemäßer Information der Öffentlichkeit zu erfüllen?
Dr. h. c. Lorenz, Parl. Staatssekretär: Da sich Staatssekretär Ost pflichtgemäß verhalten hat, sieht sich die Bundesregierung nicht zu irgendwelchen Schritten gegen ihn veranlaßt.
Zusatzfrage, Herr Dr. Nöbel.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß in der ZDF-Sendung „Kennzeichen D" vorgestern, nämlich am 18. Juni, der Vorgänger von Herrn Ost, Herr Boenisch, über Handhabungen im Bundespresseamt heutzutage folgendes sagte: „Wissen Sie, die ganze Sache ist doch eine Lachnummer"?
Dr. h. c. Lorenz, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, uns ist bekannt, daß in dieser Sendung Vorgänge behandelt worden sind, die hier nicht zur Debatte stehen und die mit den Anfragen überhaupt nichts zu tun haben. Ich habe auch Zweifel, ob Herrn Boenisch bei dieser Bemerkung irgendwie bewußt war, daß sie sich auf den Vorgang beziehen sollte, den Sie hier ansprechen.
Sie haben noch eine Zusatzfrage, Herr Dr. Nöbel?
Nein danke.
Herr Stahl, Sie wollen hierzu eine Zusatzfrage stellen? Bitte schön, das ist Ihr Recht.
Herr Staatssekretär, nun ist ja eine Pressekonferenz öffentlich. Diese Bänder
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Stahldürften doch normalerweise ohne Schwierigkeiten zumindest in dem Ausschnitt, den Herr Nöbel hier dargelegt hat, verfügbar sein.Ich frage Sie auf Grund der Hellsichtigkeit, die Herr Ost wohl hat: Wird die Bundesregierung Herrn Ost demnächst bei derartigen Sachen als offiziellen Hellseher in der Bundespressekonferenz verwenden, damit man das gar nicht auf Tonband aufzeichnen muß, sondern damit dies allen allgemein zugänglich ist? Dies ist doch ein interessanter Vorgang.Dr. h. c. Lorenz, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Herr Staatssekretär Ost hat hervorragende Fähigkeiten auf allen möglichen Gebieten. Jedenfalls sehen wir keine Notwendigkeit, ihm weitere und andersartige Verfahren zu empfehlen. Er hat unser volles Vertrauen.
Meine Damen und Herren, sowohl die restlichen Fragen dieses Geschäftsbereichs als auch die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen sollen
entweder schriftlich beantwortet werden, oder die Fragesteller haben die Frage zurückgezogen *). Es gibt auch Fälle, in denen nach Nr. 2 Abs. 2 unserer Richtlinien die Beantwortung schriftlich erfolgt.
Ich bedanke mich bei Herrn Staatssekretär Dr. Lorenz für die Beantwortung der Fragen und schließe die Fragestunde.
Wir sind damit auch am Ende unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für Mittwoch, den 25. Juni 1986, 13 Uhr ein.
Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.