Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, die Fraktion DIE GRÜNEN hat fristgerecht eine Änderung der heutigen Tagesordnung beantragt. Diesen Antrag werden wir im Anschluß an die Behandlung des Zusatztagesordnungspunktes 8 behandeln.
Ich rufe Zusatzpunkt 6 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Gesundheitliche und ökonomische Folgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl für die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland
Die Fraktion der SPD hat gemäß Nr. lc der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung diese Aktuelle Stunde verlangt. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Hauff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Tschernobyl hat die Menschen und die Politik erschüttert. Ich möchte gerne beginnen, indem ich von mir rede und die Frage stelle, was dieser Vorgang bei mir bewirkt hat.Für mich hatte die Katastrophe von Tschernobyl die unmittelbare Auswirkung, daß mein Sohn schulfrei bekam, weil auf dem Schulhof seiner Schule eine Radioaktivität gemessen wurde, die als gesundheitsgefährlich angesehen wurde. Der 2 000 km entfernte Reaktorunfall hatte also die Auswirkungen, daß meine Kinder nicht mehr zur Schule gingen. Nach dem Unfall habe ich das Gras in meinem Garten selbst gemäht und meinen Kindern gesagt: Laßt das bitte. Ich habe es nicht auf den Kompost getan wie normalerweise, sondern in den Müll — mit einem schlechten Gewissen; denn ich habe mir die Frage gestellt: Wo wird das jetzt landen?Der Unfall hat auch dazu geführt, daß ich über das Thema Restrisiko und die Frage der Abschätzung, was eigentlich Reaktorsicherheit bedeutet, nicht mehr so reden kann wie vor Tschernobyl. Ich bin nicht mehr Beobachter und Betrachter, der Zahlen zur Kenntnis nimmt, sondern ich bin unmittelbar Betroffener. Deswegen glaube ich, daß die Frage, die aufgeworfen ist, nicht die nach der Wahrscheinlichkeit eines solchen Unfalls ist, sondern die nach der Qualität des Risikos.Es hat keinen Sinn, bei dieser Frage in Technologiechauvinismus zu machen. Jedes technische System hat sein Risiko. Auch bei uns ist das Restrisiko von Null unterschiedlich. Das wirft die Frage nach der Qualität dieses Risikos auf; denn das, was als unwahrscheinlich galt, von dem auch ich hoffte, daß es niemals eintreten würde, ist für viele Menschen in der Ukraine zur tödlichen Wirklichkeit geworden. Es ist zur Wirklichkeit geworden, die die kommende Generation in erheblichem Umfang belastet.Die Bundesregierung reagiert auf diese Herausforderung nach dem Motto: „Weiter wie bisher." In keinem einzigen politisch entscheidenden Punkt — weder bei Kalkar noch bei Wackersdorf, noch in der Frage, was man eigentlich tun kann, um jedenfalls mittelfristig eine Perspektive für ein sicheres Energiesystem ohne Atomkraft zu eröffnen — ist die Bundesregierung bereit, Konsequenzen zu ziehen. Wir hören schöne Worte, aber es folgen keine Taten.Nachdem sich diese Regierung für die moralischen Fragen als taub erwiesen hat, wollen wir heute wenigstens wissen, ob sie einen Überblick über die gesundheitlichen und die ökologischen Folgen hat.Welche Auswirkungen haben eigentlich die „niedrigen" Strahlenwerte? Welche Bedeutung haben die langlebigen Nukleide in der Nahrungskette? Welche Folgen hat das für die Landwirtschaft? Warum hat die Strahlenschutzkommission bei ihren Grenzwerten das zugrunde gelegt, was EG-weit gilt, nämlich 500 Millirem Ganzkörperbelastung pro Jahr und nicht die 30 Millirem, die in der Bundesrepublik gelten? Warum sagt die Bundesregierung hierzu kein einziges Wort? Da muß Klarheit her. Entweder gelten die 30 Millirem oder die 500 Millirem bei uns.Wir wollen auch Auskunft darüber, was es bedeutet, daß das Gemüse untergepflügt werden soll. Was passiert mit dem radioaktiven Heu? Wie steht es um die vorhandenen langlebigen Nukleide? Es reicht doch nicht, nur zu behaupten, es gebe keine akute Gefahr. Was passiert in den anderen Bereichen unserer Wirtschaft? Sie wissen doch wie ich,
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17022 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
Dr. Hauffwie es um die Touristik steht. Da gibt es große Probleme. Das gilt für den Luftverkehr, aber auch für das Hotelwesen und den Fremdenverkehr.Wir erwarten von Ihnen, daß Sie nicht nur Horrorzahlen in Umlauf bringen über die Fragen, was passieren würde, wenn man ernsthaft versuchte, ohne Kernkraft zu leben — Sie setzen Billionenzahlen von Kosten in die Welt —, sondern wir erwarten von dieser Bundesregierung auch, daß sie mit der gleichen Ernsthaftigkeit endlich Daten und Fakten über die gesundheitlichen und ökonomischen Folgen von Tschernobyl auf den Tisch legt.
Was hat uns dieser Unfall gekostet? Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil wir es nicht durchgehen lassen werden, wenn Sie versuchen, die Situation mit dem Horrorgemälde der Massenverelendung beim Verzicht auf die Kernkraft zu bestreiten, sondern wir erwarten von Ihnen, daß Sie zu diesen Problemen, die die Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande beschäftigen, endlich klar und deutlich Stellung nehmen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Dregger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Tschernobyl war eine Katastrophe, die uns alle betrifft. Wer die grün-rote Kritik der letzten Wochen gehört hat, mußte allerdings den Eindruck gewinnen, Tschernobyl liege nicht in der Ukraine, sondern in Niedersachsen.
Die GRÜNEN haben auf ihrem Bundesparteitag beschlossen: Alle deutschen Kernkraftwerke sind sofort stillzulegen.
Das sind die teuersten und sichersten der Welt! Sie haben es abgelehnt, eine entsprechende Forderung an die Sowjetunion zu richten, die doch den Kernkraftwerkunfall ausgelöst hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Dregger, ich darf einen Moment unterbrechen. — Ich dulde diese permanenten Zwischenrufe nicht mehr. Ich bitte, § 38 unserer Geschäftsordnung zu lesen.
Meine Damen und Herren, was sind Sie eigentlich für eine Gesellschaft? Sie haben sich mit diesen Beschlüssen verhalten wie Agenten der Sowjetunion.
Offenbar haben Sie nur einen Gegner: das eigene Land und den Westen. Selbst Moskau nehmen Sie von der Kritik aus.
Meine Damen und Herren, was ist zu tun, nachdem die miserablen Sicherheitsvorkehrungen der Sowjetunion dieses Unglück ausgelöst haben?
Wir können auch national die Hände nicht in den Schoß legen. Wir müssen erstens unsere Sicherheitsstandards weiter verbessern. Wir müssen zweitens unser Energiesparprogramm, das bereits erhebliche Erfolge hatte, fortführen. Drittens müssen wir nach attraktiven Alternativen zur Kernenergie suchen. Wir sind keine Kernkraftfetischisten.
Deshalb haben wir nach der Regierungsübernahme die Forschungsprogramme für die Solarenergie und andere Energiearten verstärkt.
Schließlich müssen wir eine bessere Vorsorge für einen Unglücksfall treffen, der uns j a auch von außen berühren kann.Durch die Zusammenfassung der Kompetenzen des Bundes in einem Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und durch die Berufung eines hervorragenden Politikers, des bisherigen Frankfurter Oberbürgermeisters, in dieses Amt, hat der Bundeskanzler dafür die Voraussetzungen geschaffen.
Wichtiger noch ist bei unserer geographischen Lage der internationale Ansatz. Die Sowjetunion unterhält 60 Kernkraftwerke. In unmittelbarer Nähe von uns, in der DDR und in der Tschechoslowakei, gibt es 10 Kernkraftwerke. 12 Kernkraftwerke sind in der DDR und in der Tschechoslowakei im Bau. Die Sowjetunion hat erklärt, daß sie weitere Kernkraftwerke bauen werde. Das ist auch die Haltung unserer westlichen Nachbarn, insbesondere der Franzosen, die bereits 60 % ihres Stroms aus Kernenergie erzeugen.
Meine Damen und Herren, was soll bei diesem Tatbestand die Krähwinkelei eines nationalen Ausstiegs aus der Kernenergie? Was würde denn das bewirken?
Die Gefährdung, die uns vor allem von außen droht, würde nicht beseitigt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17023
Dr. DreggerDas einzige, was wir erreichen würden, wäre, daß wir sichere und wertvolle Arbeitsplätze zerstören. Wir würden unsere Erfolge im Kampf gegen das Waldsterben zunichte machen.
Wir würden jeden Einfluß auf die weitere Entwicklung verlieren.
Meine Damen und Herren, unsere Aufgabe kann nicht die des Aussteigers sein; diese liegt Ihnen natürlich besonders nahe. Unsere Aufgabe muß die des Vorreiters sein, des Vorreiters zu mehr Sicherheit bei uns und den anderen.
Der Bundeskanzler hat schon von Tokio aus zu einer Sicherheitskonferenz eingeladen, zu der wir alle Staaten bitten, in denen Kernenergie erzeugt wird. Das Echo auf diesen Vorschlag ist außerordentlich positiv. Wir rechnen damit und hoffen darauf, daß in Kürze diese Sicherheitskonferenz stattfindet. Ihre Aufgaben sind es, erstens Sicherheitsstandards verbindlich festzulegen und fortzuentwickeln, zweitens diese Standards international zu kontrollieren,
drittens ein Frühwarnsystem zu schaffen, an dem alle Kernkraftwerke angeschlossen sind,
viertens Schadensregelungen zu treffen für den Fall, daß Nachbarn verletzt werden.Meine Damen und Herren, Angst ist menschlich, aber Angst und Panik sind schlechte Ratgeber, wenn es zu handeln gilt.
Wir brauchen Besonnenheit, Klugheit und Redlichkeit. Das ist unsere Energiepolitik zu der es keine vernünftige Alternative gibt.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hönes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was lernen wir aus Tschernobyl, und welche Konsequenzen sind zu ziehen? Die heute millionenfach erhobene und goldrichtige Forderung lautet: Raus aus der Atomenergie, und zwar so schnell wie möglich!
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Wer heute wie die Regierungsparteien und die SPD den ernsthaften Konflikt mit der Atomindustrie und den Stromkonzernen scheut und die atomare Energieversorgung bis in das nächste Jahrtausend verlängern will, hat Schwierigkeiten, wenn er dies mit Vorzügen der Atomenergie begründen will.
Heute hält sich die Atomgemeinde über Wasser, indem sie die Nachteile, die der rasche Ausstieg aus der Atomenergie angeblich zur Folge hätte, auflistet und beschwört.
Vor zehn Jahren hieß es, ohne ein Atomkraftwerk in Wyhl gehen die Lichter aus. Heute sagen Sie, ein Verzicht auf Kernenergie würde jeden von uns schwer belasten.
Die größten Verharmloser der Atomenergie sind gleichzeitig die größten Panikmacher, Herr Dregger, wenn es um den Ausstieg geht.
Die Paniklüge von den Nachteilen des Ausstiegs für jeden einzelnen ist etwa so glaubwürdig wie die Beteuerung, ein Super-GAU sei unmöglich.
Denn, meine Damen und Herren, der kurzfristige Ausstieg aus der Atomenergie ist machbar und vorteilhaft für die große Mehrheit der Bevölkerung. Die Horrorszenarien und Abschreckungsvisionen von Bundesregierung und Atomindustrie sind haltlos. Das Scheinargument Nummer eins behauptet, Atomenergieverzicht bedeute automatisch erhöhten Schwefeldioxid- und Stickoxidausstoß aus Kohlekraftwerken. Hierzu eine grundsätzliche Bemerkung: Wer heute der Bevölkerung die Alternative Pseudokrupp oder Strahlenkrebs auftischt und das eine gegen das andere auszuspielen sucht, stellt der Energiepolitik dieser und vergangener Regierungen ein Zeugnis aus, wie es vernichtender nicht ausfallen kann.
Verantwortlich für dieses ökologische Dilemma sind alleine die Energiemonopole und die staatstragenden Parteien, die dem RWE und anderen Umweltverschmutzern jahrelang als Taschenträger zur Seite standen.
Spätestens seit Tschernobyl wissen wir zwar alle, daß die radioaktiven Emissionen die schlimmsten Emissionen sind; dennoch, wir wollen weder radioaktive Strahlenschleudern noch fossile Dreckschleudern.
Unser Ausstiegskonzept, das wir Ihnen bereits vor zwei Jahren im Zusammenhang mit dem Atomsperrgesetz vorgelegt haben, sieht deshalb vor: erstens Soforteinstieg in die Politik einer radikalen ökologischen Optimierung des fossilen Kraftwerksparks,
um zweitens zu erreichen, daß beim Abschalten der Atomkraftwerke innerhalb von zirka sechs Monaten
eine Erhöhung der fossilen Emissionen unterbleibt.
Dies ist unsere Antwort auf eine Politik, die weder
Frau Hönes
den Dreckschleudern noch der Atommüllproduktion ernsthaft Einhalt gebieten will.
Die Zeit drängt; je höher der Atomstromanteil, desto schwieriger der Ausstieg, je länger die Atomenergienutzung, um so wahrscheinlicher ein SuperGAU bei uns, der alles zunichte macht.
Das zweite Scheinargument gegen den kurzfristigen Ausstieg aus der Atomenergie lautet, dies sei ökonomisch nicht zu verkraften. Diesen Unsinn behaupten ausgerechnet diejenigen, die in der Vergangenheit über 25 Milliarden DM Steuergelder in die Atomenergie gepumpt haben. Das behaupten diejenigen, die auch heute noch jährlich über eine Milliarde D-Mark aus dem Forschungsetat in Milliardengräber wie Kalkar und Hamm versenken.
Meine Damen und Herren, die Katastrophe von Tschernobyl gibt uns eine Ahnung von den wahren ökologischen, aber auch ökonomischen Kosten der Atomenergie. Würden die volkswirtschaftlichen Verluste infolge des Super-Gaus eines einzigen AKW in der Bundesrepublik der Atomenergie angerechnet, wäre diese Art der Energiegewinnung tot.
Würden die nur annähernd bestimmbaren volkswirtschaftlichen Verluste auf Grund langfristiger Atommüllprobleme in die Atomenergiebilanz aufgenommen, wäre sie unbezahlbar. Nicht der AKW-Ausstieg ist ökonomisch nicht zu verkraften, sondern das Festhalten an der Atomenergie bedeutet eine volkswirtschaftliche Katastrophe. Der Nichtausstieg, meine Damen und Herren, verhindert die dringende Umstrukturierung zugunsten der rationellen Energieversorgung.
Wie Sie aus den Zeitungen wissen, hat sogar der Chef der Preußen-Elektra, Herr Krämer, die ökonomischen Berechnungen in dem in Hessen vorgelegten Ausstiegsszenario als korrekt bestätigt. Allein die Errichtung der WAA in Wackersdorf kommt den Haushalten demnach teurer zu stehen als der kurzfristige Ausstieg aus der Atomenergie.
Meine Damen und Herren, daraus folgt nur eines. Die richtige Konsequenz aus Tschernobyl schafft am meisten Sicherheit: kurzfristige Abschaltung aller Atomkraftwerke.
Und solange dies nicht passiert:
Teilnahme an den bevorstehenden Demonstrationen
in Brokdorf — —
Frau Abgeordnete Hönes, ich habe gestern hier aus gegebenem Anlaß mitgeteilt, daß es ein Mißbrauch unserer Geschäftsordnung ist, wenn hier Aufrufe zu Demonstrationen ausgesprochen werden.
Ich werde dementsprechend handeln.
Darf ich Sie bitten, das — —
Herr Präsident, es ist ein Mißbrauch des Parlaments, wenn — —
Frau Abgeordnete, wir haben hier keine Diskussion. Wollen Sie sich des Ausschlusses — —
Frau Abgeordnete Hönes, begeben Sie sich bitte auf Ihren Platz.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eimer. — Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, daß trotz aller uns sehr stark berührender Thematik doch die Ordnung aufrechterhalten werden muß, damit es möglich ist, in diesem Parlament frei zu sprechen und die Meinung zu sagen.
Ich rufe Sie zur Ordnung, wenn Sie die Geschäftsordnung mißbrauchen. Darum geht es, um nichts anderes.
Herr Abgeordneter Eimer, bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben ein Thema auf der Tagesordnung, an das sich aber kaum jemand hält.Meine Damen und Herren, das Unglück von Tschernobyl zeigt uns, daß unsere Sicherheit vor Kernkraftunfällen nicht allein von der Sicherheit unserer Kernkraftwerke, sondern in gleicher Weise von der unserer Nachbarn abhängt. Wenn wir feststellen können, daß wir noch einmal davongekommen sind, was gesundheitliche Schäden betrifft, dann deswegen, weil Tschernobyl über 1000 Kilometer von uns entfernt ist. Wer einigermaßen seriös argumentiert, muß zugeben, daß bei uns gesundheitliche Schäden nicht entstanden sind
und rechnerisch mögliche Langzeitschäden nachdem heutigen Wissensstand unterhalb der Nach-
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Eimer
weisgrenzen liegen. Hier sind aber noch langfristige Untersuchungen notwendig, die auch bereits begonnen worden sind.Nicht davongekommen sind wir, was nötiges Handeln, nötige Konsequenzen betrifft, um unsere Bevölkerung langfristig zu schützen. So muß auf mehreren Ebenen Handeln folgen. Wir müssen Konsequenzen z. B. in der Innenpolitik ziehen. Es nützt nichts, wenn wir Katastrophenschutzpläne für unsere Kraftwerke haben, aber unkoordiniert handeln, wenn uns Unfälle von außen tangieren. Nur ein klares und entschiedenes Handeln schafft Sicherheit und Vertrauen.Festzuhalten ist, daß die unterschiedlichen Aussagen verschiedener Landesministerien zu verschiedenen Zeiten in nahezu allen Bereichen zu erheblicher Verunsicherung der Bevölkerung beigetragen haben. Dies ist zumindest ein administrativer Fehler, den sich sowohl die Bundesregierung als auch die Länderregierungen zurechnen lassen müssen. Das Vertrauen in die politische Administration hat zweifellos gelitten.Die Einrichtung eines neuen Umweltministeriums ist ein konsequenter Schritt, nicht nur wegen der Erfahrung von Tschernobyl, sondern auch wegen anderer Umweltbelastungen. Diesem Ministerium ist jeder Erfolg zu wünschen. Es wird für die Zukunft innenpolitisch eines der bedeutendsten Ressorts sein, und es wird im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen wie kaum ein zweites Haus. Dieses Ministerium und seine Führungsspitze brauchen daher unsere Unterstützung
und entsprechende Kompetenzen.
Besonders problematisch ist, daß aus Tschernobyl parteipolitisch Kapital geschlagen wird. Dies trägt wiederum nicht zur sachlichen Diskussion der Folgen des Reaktorunglücks für die Bundesrepublik bei. Im Gegenteil, es führt zu einem zweiten Schub an Vertrauensverlust. Um so mehr begrüßen wir die Bemühungen von Frau Minister Süssmuth, zu einer einheitlichen Sprachregelung zwischen den Ländern und zwischen Bund und Ländern zu kommen, soweit es den Gesundheitsschutz betrifft.Wenn wir unsere Bevölkerung vor Schaden schützen wollen, so müssen wir zum anderen aber auch außenpolitisch aktiv werden. Auch dies ist bereits durch den Kanzler und den Außenminister geschehen. Wir unterstützen deswegen, so wie Herr Dregger gesagt hat, alle Maßnahmen, die zu koordiniertem Handeln der Staaten, zu einheitlichen Sicherheitsstandards und allem, was dazugehört, führen; Sie haben dazu sehr ausführlich Stellung genommen. Wir unterstützen deshalb auch die vorgesehene Konferenz, zu der der Bundeskanzler eingeladen hat. Dies wird unsere Sicherheit im Bereich der Gesundheit maßgeblich fördern.Schließlich gibt es — damit will ich auf die Rede von Frau Hönes kommen — eine dritte Forderung, die Forderung nach dem sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie.
Dies würde allerdings bedeuten, daß wir mehr Strom aus dem Ausland, vor allem aus Frankreich, beziehen müßten. Das würde bedeuten, daß die Franzosen mehr Kernkraftwerke bauen müßten; unsere Sicherheit würde gefährdet.
Es gibt auch die Möglichkeit, mehr Kohlekraftwerke zu bauen. Das bedeutet mehr CO2, mehr NOI, mehr S02; das bedeutet mehr Waldsterben, mehr Gefährdung für uns.
Meine Damen und Herren, was mich in diesem Zusammenhang am meisten wundert, ist, daß die Gefahr des CO2-Anstiegs, die Gefahr der Klimaveränderung, die Gefahr des Abschmelzens des Poleises, die Gefahr, daß bei uns die Küstenlinien nicht mehr zu halten sind — Wissenschaftler sagen voraus, daß unsere Küstenlinien in diesem Jahrhundert nicht mehr zu halten sind —, überhaupt nicht gesehen werden.
Davon sind bei uns in der Bundesrepublik zwei Millionen Menschen betroffen. Ich verstehe daher diese Haltung nicht. Wer die Bevölkerung vor Gefahren schützen will, kann nicht eine gefährliche Energie durch eine noch gefährlichere Energie ersetzen.
Wer besonnen handeln will, darf nicht in Panik geraten.Vielen Dank.
Ich erteile der Frau Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir fragen uns nach Tschernobyl, was wir gelernt haben.
Ich hoffe, daß alle gelernt haben; ich nehme das jedenfalls für mich in Anspruch.
— Ich frage mich, ob das der Fall ist.Ich gehe davon aus, daß die Erfahrung mit Tschernobyl uns alle geprägt hat. Ich habe mir in diesen Tagen immer wieder die Frage gestellt, was ich selbst als Mutter einer Tochter vom Gesundheitsministerium an Informationen erwartet hätte.
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17026 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 8. Juni 1986
Bundesminister Frau Dr. SüssmuthDeshalb war mir jederzeit folgendes wichtig: Was immer ich von dem Strahlenunfall gewußt habe, was ich über Dosierungen erfahren habe, was ich an wissenschaftlichen Einschätzungen durch die maßgeblichen Fachleute zur Kenntnis genommen und an Empfehlungen in der Frage, welche Konsequenzen zu ziehen waren, erhalten habe, ich habe alles unverzüglich und ungeschönt an die Öffentlichkeit weitergegeben.
Es ist leicht, zu tönen und der Regierung vorzuwerfen, sie sei moralisch taub. Wir haben keine Zeit gehabt, zu tönen, sondern es war verantwortlich zu handeln, und das ist geschehen.
Nach allen Informationen, die ich an die Öffentlichkeit gegeben habe, haben wir in dieser Woche einen weiteren Baustein ergänzend hinzugefügt, nämlich das gerade fertiggestellte Faltblatt „Nach Tschernobyl", das auf 21 immer wieder gestellte Fragen Antworten gibt.
Mit ihm wollen wir in kompakter, auch für Laien verständlicher Form der Bevölkerung jene Fragen beantworten, die auch nach dem Abklingen der akuten Gefühle der Bedrohung offengeblieben sind.
Ich glaube nicht, daß es der richtige Weg war, auf Angst noch mit Panikmache zu reagieren; vielmehr wäre es wichtig gewesen, sich in Ruhe mit dem, was wir wissen, vernünftig auseinanderzusetzen und dies der Bevölkerung mitzuteilen.
Wenn ich unsere heutige Debatte höre, sehe ich, daß bei uns selbst nach wie vor Sprachverwirrung herrscht, wenn wir auf unterschiedliche Weise von Ganzkörperbelastung und Schilddrüsenbelastung ausgehen und vertuschen, daß in der Bundesrepublik von Werten ausgegangen wird, die um das Fünffache unter den EG-Werten liegen.
— Das ist nicht falsch! Sie gehen von der Verordnung der Strahlenschutzkommission mit Werten am Kernkraftwerk aus, während in allen anderen EG-Staaten die Störfallverordnungen zugrunde gelegt worden sind. Bei uns ist ein fünffach niedrigerer Wert angenommen worden.
— Sie hatten j a eben Gelegenheit, dies klarzustellen.
Dazu sage ich noch einmal: Es hat besondere Mühe gekostet, in dem Faltblatt der Bevölkerungschwierige Sachverhalte verständlich darzustellen, Grenzwerte zu erklären und Aussagen über die Folgen in der Nahrungskette und über die Langzeitfolgen zu machen, über all das, was an Fragen von der Bevölkerung gestellt wurde.
Wir haben unmittelbar am 1. Mai die erforderlichen Maßnahmen getroffen, um die Einfuhr von belasteten Lebensmitteln aus solchen Ländern zu verhindern, in denen eine hohe radioaktive Kontamination der Umwelt zu erwarten war. Ich lege besonderen Wert auf die Feststellung, daß wir das erste Land in der EG waren, das Maßnahmen in dieser Richtung ergriffen hat. Wir haben schnell, gezielt und unter Zugrundelegung strengster Maßstäbe gehandelt.
— Entschuldigen Sie, die ersten Werte sind in Schweden und in Finnland gemessen worden, nicht bei uns.
Das, was Sie sagen, stimmt einfach nicht.
Insofern ist alles geschehen, was an Vorsorgemaßnahmen zum Schutz des Verbrauchers vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu erfolgen hatte, und es ist aus unserer Sicht unmittelbar geschehen. Wir haben uns dabei auf die Strahlenschutzkommission gestützt, und das hat sich bewährt; das zeigt die Situation, die wir gegenwärtig in der Bundesrepublik haben.Der Rat der EG hat schließlich am 12. Mai eine Verordnung erlassen, die regelt, daß die Einfuhr von bestimmten Agrarerzeugnissen aus Ländern, die in einem Umkreis von 1 000 km um den Unfallort liegen, bis zum 31. Mai ausgesetzt wurde und wie jetzt mit ihnen zu verfahren ist. Als Anschlußmaßnahme hat die EG eine Regelung getroffen, mit der die Grenzwerte für Cäsium 134 und 137 festgelegt wurden. Um einen einheitlichen Vollzug dieser Verordnung sicherzustellen, sind die Länder über ihren Inhalt frühzeitig — noch vor ihrem Erlaß — unterrichtet worden; die zu treffenden Maßnahmen sind mit ihnen abgestimmt worden.Wenn Sie fragen, was wir gelernt haben, dann muß ich sagen: Nach dem ersten Durcheinander in den Ländern hat gerade -- —
— Der Grund für dieses Durcheinander lag nicht bei uns, sondern in der politischen Profilierungssucht einzelner Länder.
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Bundesminister Frau Dr. SüssmuthIm übrigen: Als ich die Bundesländer in dieser Woche zur Festlegung des Grenzwertes für Cäsium eingeladen habe, drohte dasselbe Auseinandergehen. Ich bin sehr froh, daß es uns am Dienstagnachmittag dieser Woche gelungen ist, ein solches Auseinandergehen zu verhindern. Offenbar ist es auch bei unterschiedlichen politischen Regierungen in unserem Lande möglich, daß wir einige Wochen nach dem Unfall vernünftiger reagieren, uns zu einheitlichen Werten in allen Ländern bekennen
und damit für die Bevölkerung verantwortlich handeln. Dies ist in dieser Woche geschehen.
Inzwischen wird mehr und mehr Menschen in unserem Lande deutlich, was von seiten der Wissenschaftler schon sehr kurz nach dem Kernkraftunfall gesagt worden ist, daß bei uns — anders als in Tschernobyl — keine gesundheitliche Gefährdung gegeben war. Mütter brauchen nicht zu befürchten, daß sie auf Grund der Strahlenbelastung in der gegebenen Größenordnung geschädigte Kinder zur Welt bringen oder daß ihre Kleinst- und Kleinkinder geschädigt aufwachsen.
Ich weiß, daß gerade diese Fragen zahlreiche Frauen, Mütter und Väter mit Sorgen erfüllen. Deshalb habe ich mit aller mir zur Verfügung stehenden Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit den Rat führender Mediziner und Strahlenschutzexperten zu diesem Thema eingeholt. Müttern, die ihre Kinder gestillt haben oder noch stillen, sei noch einmal gesagt, daß höchstens 10 % des von ihnen aufgenommenen radioaktiven Jod 131 in ihre Milch übergehen können. Das haben nuklearmedizinische Untersuchungen ergeben. Es bleibt aber für viele Bürger die Frage, ob wir mit Spätfolgen rechnen müssen.Zu all diesen Fragen ist in der Information an den Bürger Stellung genommen worden. Zusammen mit dem Bundesgesundheitsamt und der Weltgesundheitsorganisation in Kopenhagen und Genf haben wir medizinische Untersuchungen nicht nur im eigenen Land, sondern auch in den Nachbarländern, gerade auch in den besonders betroffenen Ländern angeregt.Ein entscheidender Punkt — lassen Sie mich das hier noch einmal sagen — bei all dem ist, daß wir in den ersten Tagen keine Informationen hatten, die uns ein Handeln noch am selben Tag ermöglicht hätten.
Es geht hier völlig unter, daß die Informationspflicht nicht eingehalten wurde und daß wir auf derBasis dieser geringen Information im besten Sinnedas Notwendige getan haben. Sonst wäre vielleicht anderes vorgefallen.
Ich möchte die Bevölkerung hier dringend davor warnen, Horrorzahlen ernst zu nehmen, die von Wissenschaftlern in die Welt gesetzt werden, ohne daß diese Zahlen wissenschaftlich je bewiesen worden wären. Dies ist nicht verantwortbar. Auch die Wissenschaft hat eine Verantwortung vor der Öffentlichkeit, vor dem Menschen.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben wir alle Untersuchungen in Auftrag gegeben, die zu planen sind. Wir werden die Bevölkerung weiter laufend darüber unterrichten, was an Werten vorliegt und wo kurz- oder mittelfristig Folgen zu beachten sind.Danke schön.
Ich erteile das Wort dem Minister für Umwelt des Saarlandes.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätte erwartet, daß hier der Bundesinnenminister Zimmermann Rede und Antwort steht,
weil dieser Bundesminister in den kritischen Tagen um den 1. Mai keinerlei Antworten auf die vielen besorgten Fragen aus der Bevölkerung gegeben hat
Die radioaktiven Wolken aus Tschernobyl haben die vielen Schwachstellen aufgedeckt, die es in der Bundesrepublik bei der Bekämpfung der Gefahren durch radioaktive Strahlen gibt. Das Krisenmanagement dieser Bundesregierung war miserabel.
Die Bundesregierung hat auf diese Reaktorkatastrophe zu spät, zu schwach und zu unkoordiniert reagiert.
Es war doch wohl ein Armutszeugnis, daß der Bundesinnenminister noch am 30. April im Fern-
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Minister Leinen
sehen verkündete, eine radioaktive Gefahr für die Bundesrepublik sei ausgeschlossen,
zu einem Zeitpunkt, als in Berlin und in Bayern Radioaktivitätsmessungen die ersten höheren Werte erbrachten.
Dieses Verhalten verwundert mich nicht. Wer die Probleme und die Risikopotentiale der Atomenergie nicht wahrnehmen will, der ist natürlich auch nicht in der Lage, rechtzeitig vor den Gefahren zu warnen.
Die Länder wurden von der Bundesregierung allein gelassen.
Es gab keine rechtzeitige Information, es gab keine ausreichende Koordination, und, Frau Bundesministerin, es gab auch keine angemessenen Warnungen, die den Gefährdungen entsprochen hätten. Die Verunsicherung der Bevölkerung ging nicht von den Ländern aus. Diese Verunsicherung der Bevölkerung ging von der unfähigen und unehrlichen Handhabung der Reaktorkatastrophe durch die Bundesregierung aus.
Es ist ein Verlust an Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Politik entstanden, die wir mit Mark und Pfennig nicht entschädigen können. Die einzige Entschädigung, die wir der Bevölkerung für die Angst und die Unsicherheit vor der Strahlengefahr geben können, ist das ehrliche Bemühen aller Politiker, daß wir so schnell wie möglich aus der Atomenergie aussteigen.
Meine Damen und Herren, die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl hat nicht nur Kerne gespalten. Die Reaktorkatastrophe hat auch unsere Gesellschaft geteilt: in solche, die fähig sind, zu lernen und umzudenken, und solche, die nie lernen wollen und in ihrem Denken erstarrt sind. Ich bin froh, daß es Menschen gibt, die sich öffentlich zu ihrer Angst bekennen und an Demonstrationen teilnehmen.
Für sie wäre es gut, wenn Sie auch einmal an solchen Demonstrationen teilnähmen.Ich habe den Eindruck, meine Damen und Herren, daß die Halbwertszeit der Erkenntnisse bei der Bundesregierung langsamer und geringer ist alsdie Halbwertszeit der radioaktiven Isotope. Das ist schlimm genug.
Wer jetzt immer noch den Ausbau der Atomenergie fordert, der gehört nicht in die Regierungsverantwortung,
der soll sich in der Opposition Zeit nehmen, über die wichtigen Fragen unseres Überlebens nachzudenken.
Meine Damen und Herren, radioaktive Strahlen gibt es nicht nur aus dem Osten. Radioaktive Strahlen gibt es auch aus dem Westen.
Tschernobyl ist 1500 Kilometer von der Bundesrepublik entfernt. An der saarländisch-lothringischen Grenze entsteht die größte Nuklearzentrale der Welt. Sie ist nur 15 Kilometer von unserer Grenze entfernt.
Auch die Reaktorsicherheitsphilosophie und die Informationspolitik in Frankreich geben zu ernsthaften Besorgnissen Anlaß. Noch am 9. Mai verbreitete die französische Botschaft in Bonn einen Text mit dem Wortlaut:Auf Grund der weiten Entfernung von Tschernobyl ist französisches Staatsterritorium nicht von den radioaktiven Strahlen betroffen worden.Dies geschah anderthalb Wochen, nachdem wir im Saarland und in Rheinland-Pfalz den zweitausendfachen Wert von normal gemessen haben. Während wir gewarnt haben, Frischmilch und Frischgemüse nicht zu essen,
herrschte in Frankreich eisiges Schweigen, Stillschweigen, und die Bevölkerung wurde über nichts aufgeklärt. Dieser Nullpegel der Informationspolitik in Frankreich ist genauso menschenfeindlich wie die Informationsblockade in der Sowjetunion.
Wir wissen, daß in den französischen Atomkraftwerken ein komplettes Sicherheitssystem fehlt. Wir wissen, daß die Beton- und Stahlqualitäten in französischen Atomkraftwerken zu wünschen übriglassen. Wir wissen, daß Frankreich die Bevölkerung über Atomunfälle im unklaren läßt. Meine Damen und Herren, diese größte Atomzentrale ist für dasDeutscher Bundestag 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17029Minister Leinen
Dreiländereck in Luxemburg, in Rheinland-Pfalz und im Saarland ein unzumutbares Risiko.
Es kann nicht hingenommen werden, daß in französischen Atomkraftwerken fünfmal höhere radioaktive Emissionen zugelassen werden, als es dem Stand der Technik entspricht und als wir es in der Bundesrepublik erlauben.
Die Menschen in unserer Grenzregion haben denselben Anspruch auf Strahlenschutz wie Menschen in anderen Gebieten.
Die saarländische Landesregierung hat alles versucht, um Cattenom doch noch zu verhindern. Wir haben im Genehmigungsverfahren Einspruch eingelegt. Wir haben vor dem Verwaltungsgericht Straßburg Klage gegen den Genehmigungsbescheid erhoben. Wir haben uns mehrmals mit Bitten um Unterstützung an die Bundesregierung gewandt. Diese Bundesregierung hat bisher nichts getan, um uns im Saarland, um den Menschen in RheinlandPfalz und in Luxemburg vor dieser größten Atomzentrale zu helfen.
Was noch schlimmer ist: Diese Bundesregierung ist der saarländischen Landesregierung in den Rükken gefallen. Es ist ein Skandal, daß die Bundesregierung am 27. März dieses Jahres in der MoselKommission den Bau und den Betrieb der Atomkraftwerke in Cattenom akzeptiert hat,
obwohl wir eindringlich vor einer solchen Abmachung und einer staatlichen Sanktionierung französischer Fehlplanungen gewarnt haben.
Die Bundesregierung hat nicht die Interessen Frankreichs zu vertreten, sondern die Interessen und die Sorgen der Bevölkerung im Saarland und in Rheinland-Pfalz.
Dieser Atomvertrag darf so nicht bestehenbleiben. Dieser Freibrief für die radioaktive Belastung der Grenzregion im Saarland, in Rheinland-Pfalz und in Luxemburg muß zurückgenommen werden.
Meine Damen und Herren, nach dieser Aktuellen Stunde soll der neue Bundesminister für Umwelt und — man höre! — für Reaktorsicherheit vereidigt werden. Ich fordere Herrn Wallmann eindringlichauf, als ersten Schritt diesen unverantwortlichen Atomvertrag mit Frankreich zurückzunehmen.
Wenn Herr Wallmann Strahlenschutz ernst nimmt, dann kann er nie und nimmer hinnehmen, daß an unserer Grenze zu Frankreich Atomkraftwerke in Betrieb gehen, die fünfmal höhere radioaktive Ableitungen haben, als wir sie in der Bundesrepublik unserer Bevölkerung zumuten. Cattenom ist eine Nagelprobe dafür, ob dieser Bundesminister für Reaktorsicherheit nur eine Augenwischerei für die niedersächsiche Landtagswahl ist, oder ob hier eine Änderung in Ihrer Politik eintritt.
Ich fordere den Bundesaußenminister, Herrn Genscher, auf, Cattenom nicht nur am Rande von deutsch-französischen Gesprächen zu erwähnen, sondern Cattenom zu einem zentralen und ernsthaften Tagesordnungspunkt der deutschfranzösischen Konsultationen zu machen.
Ich fordere die Bundesregierung auf, der Klage des Saarlandes beizutreten und ihrerseits vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg gegen Cattenom zu klagen, weil hier eindeutig Bestimmungen des EURATOM-Vertrages verletzt worden sind, was auch auf gerichtlichem Wege geprüft und geahndet werden muß.Meine Damen und Herren, das Thema Tschernobyl und seine Folgen zeigt eines ganz deutlich — schon Albert Schweitzer hat es gesagt —: Eine Technik, die nicht versagen darf, kann auch nicht verantwortet werden. — Der Ausstieg aus der Atomenergie ist national und international eine unabweisbare Notwendigkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dolata.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl hat zu einer verständlichen Verunsicherung unserer Bevölkerung geführt. Warum? Weil Wissenschaftler und Verwaltungen — z. B. solche wie die des Herrn Ministers für sogenannten Umweltschutz im Saarland —
unterschiedliche Analysen und Werte, Bewertungen und Beurteilungen von sich gaben und sich dann auch noch unterschiedlich und unverständlich ausdrückten,
weil die Politiker in den verschiedenen Bundesländern — wie z. B. der Herr Minister aus dem Saar-
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17030 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
Dolataland soeben noch einmal dokumentierte — unterschiedliche Grenzwerte, unterschiedliche Verlautbarungen und Verhaltensregeln herausgaben. Angstmacher hatten und haben Hochkonjunktur. Sozialdemokraten und GRÜNE, die sich daran beteiligen, mißbrauchen die Ängste unserer Bürger
für durchsichtige parteitaktische Zwecke. Was bisher an Warnungen und Grenzwerten amtlich verkündet wurde, galt allein der Vorbeugung. Jedes noch so geringe Risiko für die Bevölkerung sollte dadurch ausgeschlossen werden. Damit es keine Mißverständnisse gibt:
Für die CDU/CSU haben bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie der Schutz der Gesundheit und das Leben unserer Bürger einwandfrei Vorrang vor wirtschaftlichen Erwägungen.
Gesundheit und Sicherheit sind und bleiben oberster Maßstab für uns. Man sollte also bitte, meine Damen und Herren von der Opposition, mit den Grenzwerten und ihren Beurteilungen die Realität und Wahrheit nicht verbiegen. Hier tragen nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Politiker eine hohe Verantwortung, gerade auch Politiker in unserer Gesellschaft und Verantwortliche in Presse, Rundfunk und Fernsehen, die es leider eben auch oft genug nicht beachtet haben, sachlich und korrekt zu informieren.
Daß das auch sachlich und korrekt geht, können Sie, wenn Sie wollen — auch Sie, mein lieber Herr Kollege —, nachlesen, z. B. im Berliner „Tagesspiegel" vom 1. Juni 1986. Da kam ein Berliner Physiker strahlenverseucht aus Danzig zurück.
Herr Dr. Bertschat, Professor und Physiker am Hahn-Meitner-Institut in Berlin, schreibt im „Tagesspiegel" — hören Sie mit Ihren Horrormeldungen genau zu, was dieser Fachmann schreibt —:Meine Ganzkörperwerte am 30. April betrugen 3 000 Becquerel Jod-131 und 2 000 Becquerel Caesium-137 — das ist etwa das 10- bis 20fache der Werte, die die Bürger hier- in Berlin —aufwiesen, nachdem die radioaktiven Wolken über Berlin gezogen warenEin weiterer Vergleich: — so schreibt er weiter —3 000 Becquerel Jod-131 ist der Grenzwert der Aktivitätszufuhr für ein ganzes Jahr; 2 000 Becquerel Caesium-137 entsprechen rund einem Viertel des Jahreswertes nach der Strahlenschutzverordnung. Offenbar habe ich mir diese radioaktiven Spaltprodukte binnen zwei Tagengeholt, nämlich am 28. und 29. April ... Bis zum 21. Mai waren meine Werte auf 320 Becquerel Jod-131 und 330 Becquerel Caesium-137 gefallen.Vor diesem Teil schrieb er in demselben Artikel:Selbst die Erkenntnis, daß eine Reise für mich unversehens zu einer ungewöhnlich hohen Strahlenbelastung führte, ließ mich nicht in Sorge geraten, nachdem ich die tatsächlichen Belastungswerte erfahren hatte.Wie sieht die natürliche Strahlenbelastung bei uns in Deutschland aus? Herr Kollege Hauff, ich hoffe, Sie haben noch nie Urlaub an der Nordsee oder im Hochschwarzwald gemacht. Behauptet etwa jemand, es sei gefährlich, im Hochschwarzwald zu leben? — Dort beträgt die natürliche Radioaktivität pro Jahr 400 Millirem. Ähnliches gilt für den Strand und Sand von Sylt. Die Kernphysiker von Jülich gehen von einer Erhöhung der Jahresdosis nach Tschernobyl um 25 Millirem aus. Bitte, ein solcher Vergleich der realen Werte spricht für sich.
Wir sollten nicht streiten; wir sollten gemeinsam überlegen, um dann das zu tun, was zu tun ist. Es muß etwas geschehen, damit die Vertrauenskrise zwischen Bevölkerung, Fachleuten, Politikern und Verwaltung überwunden wird.
Fachleute und Wissenschaftler haben die Aufgabe, das Wissen um diese Dinge breiter zu streuen und allgemeinverständlicher zu machen; Politiker und Behörden haben die Aufgabe, die unübersichtliche Kompetenzverteilung auf Bundes- und Landesebene zu straffen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dann ist dort die Vorsorge für die Gesundheit unserer Bevölkerung noch sicherer.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Blunck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dregger, Sie nehmen mir die Luft zum Atmen,
wenn Sie unsere Hilflosigkeit und unsere Angst damit abtun, uns in die Ecke von Agenten der UdSSR zu stellen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17031
Frau BlunckInzwischen weiß jeder Bürger und jede Bürgerin: Gegen radioaktive Strahlung gibt es keinen Schutz.
Selbst bei noch so geringer Belastung — sei es durch Luft oder Regen, sei es bei der Aufnahme über die Nahrungskette — ist niemand in der Lage, die akuten oder Langzeitfolgen abzuschätzen. Kein sogenannter Experte, kein Strahlenschutzfachmann schließt die Zunahme von Leukämie bei Kindern, bösartige Tumore oder Schädigungen von Ungeborenen aus.
Und all dies trifft uns ja nicht in einer gesunden, intakten Natur: Nein, wir dürfen eben auch den sterbenden Wald, die ohnehin schon überlasteten Böden und das gefährdete Grundwasser nicht vergessen.
Besonders Frauen werden an all dies tagtäglich aufs neue erinnert. Sie müssen morgens entscheiden, ob sie ihre Vierjährige im Regen zum Kindergarten
oder ihren Sechsjährigen zur Schule schicken. Sie müssen einkaufen, kochen und täglich neu abwägen:
Kann ich Frischmilch verwenden; wie steht es mit dem Fleisch; welches Gemüse nehme ich?
Wie sind die Strahlenbelastungen im Verhältnis zu all den anderen ja ebenfalls noch vorhandenen Umweltbelastungen zu bewerten?
Ich frage mich: Wie ernst nehmen Sie, Frau Ministerin Süssmuth, die Ängste und Sorgen dieser Frauen und Mütter vor dem Krebs;
die Angst vor dem elendiglichen Zugrundegehen ihrer Kinder, wenn in Ihrer Broschüre „Nach Tschernobyl — Antworten auf 21 Fragen" zur Krebsverhütung u. a. frische, ballastreiche Kost und sportliche Betätigung empfohlen werden?
Sie haben sich über die Entschädigungen im Blick auf Kohl- und Salatköpfe gewichtig beraten, das Geld bereitgestellt und das Umpflügen des belasteten Blattgemüses empfohlen.
Keinen Gedanken haben Sie aber auf die Frage der Bauern nach der Gesundheit ihrer Böden für die nächste Ernte verschwendet.Sie, Herr Bundeslandwirtschaftsminister, haben empfohlen, besonders belastete Milch zu Trockenmilch zu verarbeiten. Was, Frau Ministerin Süssmuth, haben Sie dazu gesagt? Wo war Ihr Einspruch? Was sollen die Mütter ihren Säuglingen geben, wenn es — was Gott verhüten möge — zu einer weiteren Atomkatastophe oder zu einem radioaktiven Störfall größeren Ausmaßes in unserem Lande kommen sollte?
Empfehlen Sie dann den Müttern, die verseuchte Trockenmilch zu verwenden? Woher wollen Sie für die Neugeborenen, die Kranken noch unbelastete Nahrungsmittel nehmen? Oder handeln Sie ganz einfach dadurch, daß Sie die Grenzwerte heraufsetzen?
Grenzwerte — das habe ich in den letzten sechs Wochen gelernt — sind etwas Willkürliches. Sie sind Manövriermasse. Sie werden offenbar mehr nach ökonomischen denn unter gesundheitlichen Gesichtspunkten festgesetzt.
Wie sonst ist es zu erklären, daß die Grenzwerte nicht Eingang in Ihre Broschüre gefunden haben? Wie sonst ist es zu erklären, daß Messungen in Becquerel und nicht in rem stattfinden?
Wir Menschen können nur dann mit unseren berechtigten Ängsten leben, wenn wir das Gefühl haben: Uns wird die Wahrheit gesagt, nichts verharmlost, nichts verschwiegen.Deshalb fordere ich Sie, Frau Ministerin Süssmuth auf:Erstens. Legen Sie für alle Lebensmittel Grenzwerte fest. Beteiligen Sie hierbei auch kritische Fachwissenschaftler, beispielsweise die „Ante gegen Atomtod". Bei Ihrer Broschüre hat nicht ein einziger Mediziner mitgewirkt.Zweitens. Führen Sie flächendeckende Messungen durch.
Drittens. Sorgen Sie dafür, daß die Meßergebnisse regelmäßig, regional und verständlich veröffentlicht werden. Dabei müssen Sie die Meßwerte bezüglich des Gefährdungsrisikos bewerten. Daran sind ebenfalls kritische Fachwissenschaftler zu beteiligen.Wir brauchen keine Fachministerin, die sich wahltaktisch mißbrauchen läßt.
Diese Bróschüre war gestern offenbar nur in Niedersachsen erhältlich, in keinem anderen Bundesland.
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17032 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
Frau BlunckWenn das Sterben der Menschen in Tschernobyl und Umgebung überhaupt einen Sinn gehabt hat, dann doch nur den, daß wir endlich aus der Kernenergie aussteigen. Das ist beste Gesundheitsvorsorge.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Laermann.
Herr Präsident. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jonas, der Ihnen allen sicherlich bekannt ist, hat gesagt: Wir müssen unser Handeln so einstellen, daß es verträglich ist mit der Dauerhaftigkeit unseres Seins. — Ich stimme dem zu, und dies ist auch unsere Aufgabe als Politiker hier. Es ist nämlich die zentrale Frage an die Politik, welche Verantwortung wir für die Zukunft, und zwar nicht nur für morgen, sondern auch noch für über- und übermorgen, hier übernehmen. Die Frage ist allerdings, ob wir diese sehr wichtige Aufgabe ganz kurz in einer Aktuellen Stunde abhandeln können, wo es nicht einmal möglich ist, den Kern der Problematik darzustellen und darüber zu diskutieren. Ich halte dies für unseriös, um das offen zu sagen,
und ich halte es auch für unseriös — da habe ich einen gewissen Verdacht —, aus diesen Ereignissen, über die wir hier diskutieren, parteipolitisches Kapital schlagen zu wollen.
Ich möchte hier an dieser Stelle zur Vertiefung der Diskussion einmal daran erinnern, daß sich eine Enquete-Kommission sieben Jahre lang exakt mit diesen Fragen beschäftigt und intensiv gearbeitet hat. Lesen Sie das bitte alle einmal nach; dort finden Sie die Antworten auf diese Fragen, die heute gestellt werden.
Lesen Sie nach, was die Enquete-Kommission gemacht hat, und machen Sie eine Bilanz dessen, was aus diesem Bereich alles umgesetzt worden ist, auf welchem Wege wir uns befinden.Ich verstehe die Emotionalität der Diskussion und die Besorgnisse und Ängste der Menschen; sie sind mir nur allzu verständlich. Wem sind diese Ergebnisse eigentlich nicht unter die Haut gegangen?
Aber jetzt wäre es in der Hektik unverantwortlich, kurzfristig Maßnahmen durchsetzen zu wollen, deren Realisierbarkeit nicht getestet ist. Dies gilt besonders im Blick auf Folgen und Risiken auch der jetzt hier von vielen vorgeschlagenen Maßnahmen, vor allen Dingen im Blick auf langfristige Folgen und Risiken, die nicht global berücksichtigt oder nicht durchdacht worden sind. Dies halte ich allerdings für ebenso unverantwortlich.Genauso unverantwortlich ist es, Frau Kollegin Blunck, wenn Sie hier Horrorszenarien an die Wand malen.
Der Kollege Hauff hat vorhin gesagt, die Bundesregierung arbeite hier mit Horrorzahlen. Ich finde, dies ist genau der Vorwurf, den man an die SPD-Fraktion, zumindest an die Frau Kollegin Blunck zurückgeben muß. Sie hat gesagt: Jede radioaktive Belastung ist gefährlich, sei sie noch so gering. Darf ich darauf hinweisen, wie hoch eigentlich die kosmische Strahlenbelastung ist, der wir dauernd ausgesetzt sind. Darf ich darauf hinweisen, wie hoch die terrestrische Strahlung ist, der wir naturgemäß ausgesetzt sind. Sie schwankt im Bundesgebiet um den Faktor 10; sie erreicht in einigen Gebieten des Bundesgebietes bis zu 400 Millirem im Jahr. Darf ich daran erinnern, daß wir damit rechnen müssen, daß wir bei einer Stunde Flugzeit in über 10 000 Meter Höhe 12 Millirem im Durchschnitt an Strahlenbelastung mitbekommen. Darf ich daran erinnern, daß der Unterschied von Meereshöhe und 1 500 Meter Höhe ein Mehr von 50 bis 60 Millirem ausmacht. Darf ich daran erinnern, welcher Strahlenbelastung zur Zeit die deutsche Fußballnationalmannschaft in Mexiko ausgesetzt ist.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie bitten, auch darauf Rücksicht zu nehmen. Herr Leinen, denken Sie daran, daß die Belastung in Wohngebäuden in Bremen im Durchschnitt bei 8 Millirem, und im Saargebiet bei 37 Millirem liegt; sie schwankt bis zum Faktor 3, d. h. bis zu 100 Millirem. Wir wissen, daß die vielfach im Saargebiet verwendeten Schlackensteine ein hohes Maß an Radon-Ausstrahlung in die Häuser mitbringen, bis zu 100 Millirem. Oder überprüfen Sie in Ihren Wohnhäusern einmal, wie es eigentlich mit der Glasur von italienischen Fliesen ist; prüfen Sie einmal nach, wie hoch die Dauerbelastung daraus ist. Darf ich daran erinnern, wie hoch eigentlich die Strahlenbelastung in der Medizin ist. Ein einziger Radio-JodTest für die radiologische Schilddrüsendiagnose bringt das 10- bis 100fache dessen, was wir an maximalen Grenzwerten zulassen. Auch darauf möchte ich in diesem Zusammenhang einmal hinweisen. Worüber reden wir eigentlich, wenn hier so gesprochen wird, wie es die Frau Kollegin Blunck getan hat? Es hieß: Warum reden wir nicht von Rem, warum wir reden wir von Becquerel? Wir können ja von Curie reden. Dann wäre die Welt vielleicht ganz anders; denn dann hätten wir viel kleinere Werte. 1960 bis 1964 lagen wir beim radioaktiven Fallout von oberirdischen Kernwaffenversuchen bei wesentlich höheren Becquerel-Werten, wenn wir sie umrechnen, als wir sie heute nach der Wolke aus Tschernobyl registrieren.Ich verniedliche das nicht. Ich sage nicht, daß ist in Ordnung. Ich sage auch nicht, wir müssen, sollen und dürfen daraus keine Konsequenzen ziehen. Das wollen wir, das müssen wir tun.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17033
Dr.-Ing. LaermannIch betone noch einmal, da ß für uns nach wie vor — ich spreche für die FDP — die wichtigste Aufgabe darin besteht, mit dem Energiesparen fortzufahren, damit wir unseren Energiebedarf verringern. Das liegt nicht nur im nationalen, sondern insbesondere auch im internationalen Interesse. Die Industriestaaten sind den Ländern der Dritten Welt gegenüber verpflichtet, die nicht erneuerbaren Energien nicht alleine auszubeuten.
Diese Länder haben auch ' noch ihre Existenzberechtigung, sie brauchen auch Energie. Wir müssen dafür sorgen, daß auch das gewährleistet ist, .. .
Herr Abgeordneter Laermann, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
... und zwar zu günstigen Preisen.
Herr Präsident, ich komme gleich zum Schluß. Vizepräsident Stücklen: Nicht gleich, schneller.
Ich sage auch nicht, daß wir uns nicht weiter um alternative Energien und ihre Nutzung bemühen müssen. Aber das geht auch nicht von heute auf morgen. Ich bitte, mit Augenmaß an die Dinge heranzugehen.
Danke schön.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Neumeister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist letztlich kein Wunder, daß die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland nach Bekanntwerden des Reaktorunfalls in Tschernobyl in größter Sorge um ihre Gesundheit war, in besonderem Maße um die Gesundheit ihrer Kinder. Auch die möglichen Spätschäden haben so manchen beunruhigt. Aber ich meine, man kann die Beruhigung der Bevölkerung nicht dadurch herbeiführen, daß man Horrormeldungen verkündet, daß man hier auftritt, wie Frau Hönes oder Frau Blunck es getan haben. Gerade von Frauen erwartet man etwas Beruhigendes und psychologisch Einwandfreies.
Auch wilde Proteste und die Drohung, aussteigen zu wollen, bringen bestimmt keine Beruhigung. Das zu erreichen gibt es andere Möglichkeiten. Ich möchte eine Möglichkeit anführen. Das ist das, was Frau Minister Süssmuth gemacht hat, nämlich ein Faltblatt für die gesamte Bevölkerung herauszugeben, in dem wirklich all das verständlich erklärt wird, was die Bevölkerung bisher noch nicht verstanden hat.
Es ist doch nicht so, daß wir irgendwo nur so aus einem Vakuum schöpfen, so als ob noch nie irgendwelche Forschung darüber angestellt worden wäre.
Frau Abgeordnete Neumeister, entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche.
Darf ich bitten, daß auch auf der Regierungsbank Platz genommen wird? — Bitte, Frau Neumeister.
Seit Jahren haben sich bereits Strahlenschutzkommissionen vieler Länder mit dieser Frage beschäftigt. Sie sind sich einig darin, daß bei der geringen Strahlenbelastung, der wir hier ausgesetzt waren, z. B. schwangere Frauen ihr Kind ohne Angst austragen können. So ist z. B. im Jahre 1979 auch in Harrisburg keine Zunahme von Anomalien bei Neugeborenen zu verzeichnen gewesen, obwohl das fälschlicherweise immer wieder behauptet wurde.Es gibt auch noch keine gesicherten Befunde über Erbschäden bei Nachkommen bestrahlter Eltern, also bei jenen Kindern, die vor der Geburt bestrahlt werden, ja sogar wo vor der Empfängnis eine Bestrahlung der Eltern stattgefunden hat. Mit statistischer Sicherheit sind Erbschäden auf den Einfluß der Bestrahlung nicht zurückzuführen. Dieses negative Ergebnis ergeben auch die Untersuchungen der etwa 20 000 Kinder, deren Eltern bei den Atombombenexplosionen in Hiroshima und Nagasaki relativ hohen Dosen ausgesetzt waren. Damals hat es wenig Schäden jedenfalls bei den Kindern gegeben, die später geboren wurden.Ebenso ist die radioaktive Strahlung des Jod-131, das in die Muttermilch gelangen kann, so gering, daß eine Schädigung z. B. der Schilddrüse des Säuglings nicht erfolgt.Auf der Jahrestagung der deutschen Strahlenschutzärzte wurde betont, daß der Reaktorunfall für die deutsche Bevölkerung keine spontan meßbaren Folgen haben werde. Dabei konnte man sich auf genaue Berechnungen der Strahlendosen aus den 50er Jahren beziehen, als es bei den oberirdischen Kernwaffenversuchen vergleichbare Fälle gegeben hat.Außerdem reparieren unsere menschlichen Immunmechanismen durch niedrige, über längere Zeit verteilte Strahlendosen verursachte Schäden sehr gut. Gott sei Dank wird der Körper mit solchen Einwirkungen, die von außen kommen, noch fertig.Vergleichen wir doch darüber hinaus einmal die etwa 20 bis 30 Millirem Mehrbelastung durch die vom Osten gekommene Strahlenwolke mit den Strahlenbelastungen, denen wir im täglichen Leben ständig ausgesetzt sind. Es wurde eben schon von Herrn Professor Laermann ausgeführt, daß z. B. eine Thorax-Röntgenuntersuchung beim Mensch, die j a öfters durchgeführt wird, zu einer Strahlenbelastung von 50 bis 120 Millirem führt. Bei einer Mammographie sind es sogar 500 Millirem. Zehn Flugstunden — so etwas macht man leicht im Urlaub — in etwa 10 000 m Höhe bringen eine Steige-
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17034 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
Frau Dr. Neumeisterrung der Strahlenbelastung von 5 Millirem auf das ganze Jahr gerechnet. Und wenn Sie beispielsweise die Belüftung Ihrer Wohnung um 10 % verringern, weil Sie Heizkosten einsparen wollen, kommt es zu einer zusätzlichen mittleren Strahlenbelastung von 50 bis 100 Millirem pro Jahr. Das muß man sich auch einmal überlegen.Eine Restrisiko wird man allerdings niemals ausschließen können. Da die Wissenschaft heute aber noch keine wissenschaftlichen Studien über diese geringen Belastungen hat, denen wir ausgesetzt sind, muß man sich auf rechnerische Schätzungen abstützen. Schweizer Wissenschaftler haben beispielsweise bei einer zusätzlichen Belastung von 500 Millirem — also erheblich mehr als unsere 20 Millirem Zusatzbelastung — eine Zunahme der Krebsfälle in der gesamten Schweiz in den nächsten 70 Jahren um 0,025 % errechnet. Das sind etwa 300 Fälle mehr als die ohnehin zu erwartenden 1,2 Millionen Krebstoten. Sie heben darüber hinaus hervor, daß die Strahlung keine neuartigen Effekte produziert, sondern lediglich die große Zahl gesundheitlicher Risiken vergrößert.Zum Vergleich mit anderen Risiken wird von der Schweiz errechnet, daß eine einmalige Dosis von 500 Millirem bei pessimistischer Risikoschätzung eine Zunahme der Krebstodesfälle um 0,025% ergibt. Aber der Konsum von 2,5 Zigaretten pro Tag steigert das Risiko, an Lungenkrebs zu sterben, gegenüber dem Nichtraucher um 100 %.
Darüber sollten wir einmal nachdenken.
Frau Abgeordnete Neumeister, bitte kommen Sie zum Schluß.
Herr Präsident, nein, — —
Frau Abgeordnete Neumeister, ich habe das dazugerechnet. Der Bonus ist gegeben.
Dann darf ich noch einen letzten Satz sagen. Wir Politiker müssen die Herausforderung erkennen und auf dem Sektor Gesundheitsforschung einiges tun, um letztendlich zu klareren Aussagen zu kommen und präventiv wirken zu können. Vor allem aber sollten wir alle — —
Frau Neumeister, Frau Abgeordnete Neumeister, ich bitte Sie!
Nun gut!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Roth.
— Meine Damen und Herren, wir können doch
nicht drei aus der gleichen politischen Richtung
hintereinander sprechen lassen. Die Geschäftsordnung sieht bei mehreren Wortmeldungen ein Pro und Kontra vor.
Ich bitte, das zu akzeptieren.
Herr Abgeordneter Roth, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unser Vorschlag rührte daher, daß wir vermuteten, zwei Redner der CDU/CSU würden anschließend zu den wirtschaftlichen Folgen sprechen, und wir glaubten, es sei vernünftig, da ein Wechselspiel zu haben.Lassen Sie mich nun mit diesem Thema beginnen. Die SPD hat vor zwei Jahren in Essen ihre Position zu unserem heutigen Thema bestimmt, die Kernenergie sei nur für eine Übergangszeit zu verantworten.
Im Entwurf des wirtschaftspolitischen Programmes vom November 1985, haben wir ausgeführt, „daß wir eine Strategie befürworten, die auf ein Auslaufprogramm in der Kernenergienutzung abzielt." Dies war unsere Meinung vor Tschernobyl, und dies ist erst recht unsere Meinung nach Tschernobyl. Ich verstehe die Stimmen nicht, die vorschnell und übereifrig ausrechnen, daß eine Energieversorgung ohne Kernkraftwerke nicht zu finanzieren sei und sogar ins Massenelend führe. Diese Meinung ist absurd.
Im Gegenteil, die finanziellen Risiken der heutigen Technik sind viel zu groß.Meine Damen und Herren, in allen Perioden der wirtschaftlichen Entwicklung waren hochgerühmte Investitionen von gestern durch bestimmte neue Techniken später überholt. Man ist aus ihnen ausgestiegen. Das ist nichts Neues.Die zivile Nutzung der Kernenergie hat sich schon jetzt als eine derartig überholte Technik herausgestellt, weil ihre Risiken unerträglich geworden sind und vor allem auch unerträglich teuer geworden ist.Es ist unbestritten — auch international —, daß die Kerntechnik heute nicht mehr zu den volkswirtschaftlich notwendigen Schlüsseltechnologien der Zukunft gehört. Die Zukunft gehört den Energiespartechniken, umweltfreundlicher Kohlenutzung, der Erschließung der Wasserstofftechnologie in Verbindung mit der Nutzung der Solarenergie und übrigen regenerativen Energien.Die SPD weiß nun, daß diese Dinge nur nach einer gewissen Entwicklungszeit voll anwendbar sind. Wir wissen auch, daß wir erhebliche volkswirtschaftliche Kosten für mehr Sicherheit zu tragen haben. Aber wir wollen die Alternative Schritt für Schritt erreichen. Jetzt schon können wir beim Energiesparen sehr viel mehr tun und bei der Wärme-Kraft-Koppelung sehr viel mehr nutzen.Meine Damen und Herren, wie war das denn mit der Kernenergie? Es ist ja nicht so, daß sie naturwüchsig entstanden ist, sondern man hat Milliarden und aber Milliarden auch vom Staate her dafür auf-
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Deutscher Bundestag - 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17035
Rothgewandt. Ich meine, eine derartige Orientierung, ab jetzt in Alternativen, bietet uns mehr Versorgungssicherheit und mehr Sicherheit in der Gesellschaft als das Weiterfahren auf dem jetzigen Weg.
Es kann ernsthaft gar keine Frage sein, daß eine Energieversorgung ohne Kernenergie finanzierbar ist. Staatliche Anreize wie früher bei der Kernenergie und mutige und vorausschauende Investitionsentscheidungen für die neuen Techniken, vor allem die, die Energie einsparen, werden auch starke Impulse für qualitatives Wachstum und für neue Beschäftigung geben.Angesichts der Gefährdung durch Kernenergie, die jetzt deutlich geworden ist, sehe ich persönlich keine Alternative zu einer Politik der Alternative. Wir haben die technischen und wissenschaftlichen Mittel zu dieser Alternative.Meine Damen und Herren, wir sind ein reiches, wir sind ein leistungsfähiges Land. Wir können und müssen uns eine Energiezukunft ohne Massenbedrohung und unkalkulierbare Risiken leisten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Austermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns heute über die Folgen von Tschernobyl unterhalten, dann gibt es einen Indikator, an dem man die Positionen deutlich machen kann. Das ist das Kernkraftwerk Brokdorf. Es ist seit zehn Jahren in der Diskussion und steht jetzt kurz vor der Inbetriebnahme. Als Abgeordneter aus dem Wahlkreis, in dem Brokdorf liegt und in dem das Kernkraftwerk Brunsbüttel arbeitet, vertrete ich eine große Zahl von Bürgern, die in Sorge sind, zur Zeit aber weniger wegen der bevorstehenden Inbetriebnahme als vielmehr wegen der bevorstehenden Demonstration am Samstag.
Sie sind in Sorge, daß auf Einladung der gewaltwünschenden GRÜNEN und mit Wohlwollen der SPD, mit Förderung linker Redakteure im NDR als Frontberichterstatter und
mit einigen Scharlatanen im Pastorenrock und geprägt durch einige hundert Chaoten, Opfer eines Spektakels werden können, das die Unglaubwürdigkeit im Gesicht trägt.
Meine Damen und Herren, ich werde auch etwas zu einem Herrn, der hier vorher geredet hat, sagen. 1981 bei der letzten großen Brokdorf-Demonstration hat dieser Jo Leinen vor dem Fernsehen versprochen, er werde die Republik unregierbar machen.
Das versucht er jetzt vom Saarland aus.Meine Damen und Herren, Brokdorf ist nach den Kriterien des Atomgesetzes unter den höchsten Sicherheitsstandards geplant und gebaut worden. Da muß ich fragen: Gibt es für unsere Bürger, wenn Brokdorf nicht ans Netz geht, mehr Sicherheit? Man könnte es auch anders formulieren: Werden die Straßen sicherer, wenn ich mein TÜV-geprüftes Auto in der Garage lasse und mit dem Pferdewagen fahre, weil mein Nachbar einen Rennwagen ohne Bremsen fährt? Nein, ich muß die Nachbarn dazu bringen, gleiche Sicherheitsmaßstäbe anzulegen wie wir.
Deshalb begrüße ich es, daß die schleswig-holsteinische Landesregierung eine erneute Sicherheitsüberprüfung angeordnet hat, die gleichzeitig die Tschernobyl-Erfahrung auswerten soll. Dabei steht fest, Brokdorf ist nicht Tschernobyl, weil unsere Kraftwerke ein vierfaches sicheres Notkühlsystem haben, einen doppelten Sicherheitsbehälter, ein Meter Stahl und Beton an der Stelle, wo die Sowjets Dachpappe verwenden. Das gilt für alle deutschen Kraftwerke. Damit sagen wir nicht, daß es keine Störfälle bei uns geben kann; wir sagen aber, sie bleiben beherrschbar.Ich meine, daß in diesem Zusammenhang gerade auch die GRÜNEN die Toten interessieren sollten, die z. B. im Kohlebergbau allein in der Bundesrepublik nach 1945 zu verzeichnen sind — 4 935 —, oder die 2 000 Toten beim Staudammbruch eines Wasserkraftwerks in Oberitalien.Meine Damen und Herren, wir sollten sehen, wie es mit der Haltung der SPD in dieser Frage aussieht. Ich meine, daß man zu Recht sagen muß, die SPD ist die Partei der Sicherheitsversager. Sie versagt den Bürgern sichere Energieversorgung, sie versagt den Bürgern sichere Entsorgung, und sie versagt den Bürgern sichere Kraftwerke auch im Ausland. Sie versagt ihnen zusätzliche Sicherheitsanstrengungen.
Jansen und die schleswig-holsteinische SPD sind mal für, mal gegen Brokdorf. Der künftige Oppositionsführer in Niedersachsen, Herr Schröder, sagt erst Ausstieg, dann Umstieg,
und in der „TAZ" sagt er, wie zu lesen ist: Natürlich muß man Lingen und Brokdorf ans Netz gehen lassen.Meine Damen und Herren, dann kommt schließlich das ethische Argument. Ärzte sagen, sie könnten im GAU nicht helfen. Sagen Sie uns auch, daß man, um die Strahlendosis einer Schilddrüsenuntersuchung zu erreichen, rund drei Tonnen verseuchten Salates hätte essen müssen? Wir sagen, wir können den nächsten GAU in der Sowjetunion, in der DDR, in der Tschechoslowakei nur verhindern, wenn wir dort die gleiche Sicherheit erreichen wie bei uns und unsere weiter verbessern.
Und im übrigen verlasse ich mich in puncto Sicherheit mehr auf den Physiker als auf den Arzt.
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17036 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
AustermannSchließlich lasse ich mir den Blinddarm auch nicht von einem Reaktorforscher herausnehmen.Meine Damen und Herren, bemerkenswert ist auch, daß gerade viele ethische Ausgefranste, die nichts gegen die Beseitigung werdenden Lebens haben, jetzt das Thema Ethik großschreiben. Wir lassen uns in der Frage der Sicherheit der Versorgung unserer Bürger mit sicherer Energie von niemandem übertreffen und lassen nicht zu, daß andere aus wahltaktischen Gründen mit der Sicherheit Schindluder treiben.
1979 nach Harrisburg fanden in Schleswig-Holstein Wahlen statt. Die CDU hat sie gewonnen, besonders in Brokdorf und Brunsbüttel, weil dort die Bürger auf die Verantwortung der Fachleute vertraut haben, die unter ihnen wohnen und nicht unter sowjetischem Planerfüllungsdruck arbeiten mußten.
Diejenigen Bürger in Norddeutschland, die morgen mehrheitlich gutwillig demonstrieren, möchte ich bitten: Lassen Sie nicht zu, daß Ihr Demonstrationsrecht, das meines Erachtens ein falsches Ziel hat, von den GRÜNEN, von Chaoten mißbraucht wird. Gegen den Rechtsstaat gibt es kein Widerstandsrecht.
Ich frage den parlamentarischen Geschäftsführer. Wir haben eben telefoniert. Noch ein SPD-Redner kann sprechen; aber jetzt kämen zwei Redner von der CDU/CSU. Ist es in Ordnung? — Gut.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lippold.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sorge, Unruhe und Angst bewegen viele Menschen in der Bundesrepublik. Wir wollen deshalb keine Beschwichtigung und keine Bagatellisierung, aber wir müssen eins klar sagen: Tschernobyl ist eine Katastrophe; es ist, wie Professor Häfele von der Kernforschungsanlage in Jülich sagte, eine lokale Katastrophe; in der Bundesrepublik hatten wir nur Signale dieser Katastrophe, nicht mehr. Es hat hier keine akute Gefährdung gegeben. Wenn wir hier aktiv geworden sind, entschlossen aktiv geworden sind, dann war dies aus Gründen der Vorsorge, um allen möglichen und erkennbaren Risiken vorzubeugen. Es soll jetzt versucht werden, diese Vorsorge umzuformulieren und zu verkehren in Gefährdung. Das ist falsch. Was ich daran besonders bedenklich finde, ist, Herr Hauff, daß Sie wissen, daß die zusätzliche Strahlenbelastung bei einem Umzug von Bremen nach Saarbrücken größer ist als durch diese Katastrophe.
Aber obgleich Sie es wissen, Herr Hauff, betreiben Sie hier Angst, betreiben Sie hier Panikmache, spielen Sie mit den Ängsten der Menschen. Das ist das, war wir verurteilen.
Ich darf auch ein Wort zu Herrn Leinen sagen. Herr Leinen, Sie sprechen hier über die Gefährdung durch die französischen Kraftwerke und fordern die Abschaltung der deutschen, die sicherer sind. Wo bleibt denn da die Logik, Herr Leinen?
Sie sagen, daß diese Bundesregierung intervenieren solle. Seinerzeit, 1976, hätte Bundeskanzler Schmidt die Möglichkeit gehabt, hier entschieden und entschlossen vorzugehen.
Herr Röder hat ihn damals aufgefordert, zu intervenieren. Dann dürfen Sie also jetzt nicht nur von dieser Regierung reden, sondern dann müssen Sie auch daran denken, wer zum entscheidenden Zeitpunkt die Verantwortung getragen hat.
Einige weitere Anmerkungen zur Diskussion! Frau Blunck hat mit einem Halbsatz abgetan, daß diese Bundesregierung sofort gezielt, schnell und unbürokratisch Hilfen für die wirtschaftlich Betroffenen für Bauern, für Einzelhändler und andere, hat. Ich bin der Meinung, daß man nicht wie Frau Blunck mit einem Nebensatz darüber hinweggehen kann. Auch die Schäden, die sicherlich nur wirtschaftliche sind, sollten hier sofort und konkret angegangen werden. Wir dürfen auch das nicht bagatellisieren; auch das ist notwendig.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt kein Land, das nach der Katastrophe von Tschernobyl so schnell wie die Bundesrepublik Deutschland reagiert hat. Das sollten wir hier anerkennend sehen.
GRÜNE wie SPD fordern den Ausstieg aus der Kernenergie.
Was bedeutet denn der sofortige Ausstieg aus der Kernenergie? Herr Roth, da müssen Ihre wirtschaftlichen Aussagen einmal kurz auf den Prüfstand gestellt werden. Wir können nicht bagatellisieren, daß das Strompreisniveau um 20 bis 25% stiege, daß wir ungeheure Entschädigungsleistungen an die Betreiber von laufenden Anlagen zu tragen hätten, daß wir zusätzliche laufende Kosten beim Rohstoffeinsatz hätten. Das alles beeinträchtigte die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Ich will gesundheitliche Gefahren weiß Gott nicht geringschätzen; aber wir können den direkten Verlust von 150 000 Arbeitsplätzen
und den indirekten Verlust von weiteren 150 000 Arbeitsplätzen nicht einfach akzeptieren — wir nicht!
Dr. Lippold
Ich weiß, daß das Ihrem möglichen Bündnispartner, den GRÜNEN, mißfällt, denn sie haben schon den Ausstieg aus der Braunkohle gefordert, weil die Schadstoffe, die bei der Verbrennung anfallen, unsere Wälder sterben lassen. Damals hieß es plakativ: „Nach den Wäldern stirbt der Mensch".
Hier haben die GRÜNEN gesagt, wer Kohle oder Öl verfeuere, sorge dafür, daß Kinder an PseudoKrupp stürben. Heute aber besteht ihre alternative Problemlösung darin, 1,4 Millionen Tonnen Schadstoffe an die Luft zu geben. Diese Stoffe töten die Wälder. Stirbt dann auch der Mensch, muß man fragen.
Wer damals gesagt hat, die Kinder würden an Pseudo-Krupp sterben, und heute das Rezept hat, an Stelle der Kernenergie mehr Schadstoffe an die Luft abzugeben, muß sich fragen lassen: Schämen Sie sich denn nicht einer solchen kalten, zynischen und herzlosen Argumentation?
Wir können einen solchen Schritt nicht mitmachen. Ich sage Ihnen: Wir werden dafür sorgen, daß Kernenergie bei uns sicherer ist, daß die internationalen Standards verbessert werden. Das ist der richtige Weg, den diese Regierung eingeschlagen hat.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schäfer .
— Meine Damen und Herren, ich bitte darum, daß in den letzten fünf Minuten der Aktuellen Stunde noch große Disziplin gewahrt wird.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die einzige politische Konsequenz, die nicht bloß formaler Natur ist, die der Bundeskanzler aus dem Unfall in Tschernobyl gezogen hat, ist, einen neuen Umweltminister zu berufen. Ohne Tschernobyl hätte es das Umweltministerium und den Umweltminister Wallmann nicht gegeben. Herr Wallmann hat sich bislang zu umweltpolitischen Fragen nicht geäußert. Er hat in vielen Interviews darauf hingewiesen, daß er um Verständnis dafür bittet, daß er sich nicht zu Themen äußern möchte, in die er sich noch nicht eingearbeitet hat. Wir haben Verständnis dafür, Herr Wallmann.Eines fällt freilich auf, meine Damen und Herren. Auf eine Frage weiß Herr Wallmann eine sofortige und präzise Antwort; dazu brauchte er keine Einarbeitungszeit. Für ihn ist nämlich der Ausstieg aus der Kernenergie undenkbar und unverantwortlich zugleich. Angeblich, Herr Bundeskanzler, soll doch Herr Wallmann als Umweltminister berufen werden, um eine andere Politik zu machen. Für die Kernenergie scheint dies jedoch nicht zuzutreffen.Auch Herr Wallmann befürwortet sie wie sein Vorgänger Zimmermann ohne Wenn und Aber.
Meine Damen und Herren, worin liegt dann der Unterschied? Vielleicht nur darin, daß Herr Wallmann dem Produkt Kernenergie, weil es unattraktiv ist und sich nicht mehr verkaufen läßt, aus markt- und wahlstrategischen Überlegungen ein neues Image verpassen soll.
Nach den jüngsten Äußerungen von Ihnen, Herr Wallmann, sind jedenfalls die Zweifel berechtigt, ob Sie der richtige Mann sind,
um die Ängste und Nöte der Bürger aufzugreifen.
Wir erleben hier heute morgen eine Debatte, die vor allem von seiten der CDU/CSU jenen Hauch von Nachdenklichkeit vermissen läßt, der einigen von Ihnen nach Tschernobyl durchaus zu eigen ist Man muß Sie — auch Sie, Herr Bundeskanzler — fragen: Warum greifen Sie die nachdenklichen und kritischen Stimmen in Ihrer Partei nicht auf? Als Beispiele will ich Herrn Biedenkopf, Herrn Teufel und Herrn Kies, nennen. Warum stellen nicht auch Sie von der CDU/CSU sich nach der Katastrophe von Tschernobyl die Frage, ob wir nicht anders leben können als bislang, ob wir wirklich alles brauchen, was wir verbrauchen, ob wir unsere Lebensbedürfnisse wirklich nicht anders organisieren können?Sie werfen der SPD in diesem Zusammenhang Panikmache vor, weil sie die Ängste in der Bevölkerung aufgreift. Sie zeichnen aber zugleich ein Bild von Massenarbeitslosigkeit und von Verelendung für den Fall, daß wir die Kernenergie nicht weiter nutzen. Ist das wirklich verantwortungsbewußt? Wir wären ja bereit, mit Ihnen darüber zu streiten, wie und wie schnell man am besten aus der Kernenergie aussteigen kann. Wir wären bereit, mit Ihnen konkrete Maßnahmen für eine Übergangszeit zu besprechen. Wir wären bereit, wir sind bereit, Sie auch dabei zu unterstützen, sich auf internationaler Ebene dafür einzusetzen, daß auch dort langfristig der Verzicht auf Kernenergie organisiert wird. Aber dazu ist Nachdenken erforderlich, und genau dieses Nachdenken, diese Nachdenklichkeit verweigern Sie.
Ihr Parteifreund Kurt Biedenkopf hat — damit komme ich zum Schluß — am Mittwoch dieser Woche im nordrhein-westfälischen Landtag davon gesprochen, daß, Herr Bundeskanzler, das „theoretische Restrisiko zur tödlichen Realität" geworden ist und daß dies -- so Biedenkopf — einen „Schock der neuen Wirlichkeit" bedeutet habe. Ich hätte mir von Ihnen, Herr Bundeskanzler, und von Ihnen von der CDU/CSU auch nur einen Hauch der Nachdenklichkeit des Herrn Biedenkopf gewünscht. Bei Ihrer
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Schäfer
Art, Herr Bundeskanzler, diesen Schock zu bewältigen, muß man nun leider befürchten, daß aus dem neugeschaffenen Umweltministerium unter Leitung des Herrn Wallmann nur eine amtliche Propagandastelle zur Pflege und Förderung der Kernenergie wird.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die aus der Ihnen vorliegenden Liste ersichtlichen Zusatzpunkte 8 bis 10 zu erweitern:
8. Eidesleistung des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
9. a) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Einrichtung eines Ausschusses für Umweltvorsorge und Raumordnung im Deutschen Bundestag
— Drucksache 10/5595 —
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Einsetzung eines Umweltausschusses — Drucksache 10/5598 —
c) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Einsetzung eines Umweltausschusses — Drucksache 10/5611 —10. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung landwirtschaftlicher Unternehmer von Beiträgen zur landwirtschaftlichen Sozialversicherung
— Drucksache 10/5463 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksachen 10/5594, 10/5605 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Wimmer
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 10/5616 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Zutt, Suhr, Schmitz
Sind Sie mit der Erweiterung der Tagesordnung einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 8 der Tagesordnung auf:
Eidesleistung des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ich wiederhole: Der Herr Bundespräsident hat mit Schreiben vom 6. Juni 1986 mitgeteilt, daß er auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers Herrn Dr. Walter Wallmann zum Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ernannt hat.
Nach Art. 64 des Grundgesetzes leisten die Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56 des Grundgesetzes vorgeschriebenen Eid.
Ich bitte Herrn Bundesminister Dr. Wallmann, zur Eidesleistung zu mir zu kommen.
Herr Bundesminister Dr. Wallmann, ich bitte Sie, die Eidesleistung gemäß dem Grundgesetz vorzunehmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Ich danke Ihnen, Herr Bundesminister. Sie haben gemäß dem Grundgesetz die Eidesleistung vollzogen. Ich beglückwünsche Sie im Namen des Hauses und wünsche Ihnen viel Erfolg und alles Gute. Gottes Segen auf Ihrem Weg!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank, Herr Präsident.
Meine Damen und Herren, der heute morgen angekündigte Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5618 wurde inzwischen zurückgezogen; er hat sich damit erledigt.Ich rufe den Zusatzpunkt 9 der Tagesordnung auf:a) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNENEinrichtung eines Ausschusses für Umweltvorsorge und Raumordnung im Deutschen Bundestag— Drucksache 10/5595 —b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDEinsetzung eines Umweltausschusses — Drucksache 10/5598 —c) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPEinsetzung eines Umweltausschusses — Drucksache 10/5611 —
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Vizepräsident StücklenMeine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist also so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Wer wünscht das Wort? — Herr Abgeordneter Schäfer .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten haben mit unserem Antrag heute einmal mehr eine alte parlamentarische Forderung von uns in den Deutschen Bundestag eingebracht. Wir sind froh, meine Damen und Herren, daß auch die CDU/CSU-Fraktion einen entsprechenden Antrag vorlegt. Es entspricht einer guten Tradition in diesem Hause, daß sich auf Seiten des Parlaments entsprechend den Ressorts gleichsam spiegelgleich entsprechende Ausschüsse bilden.
Vor einem freilich, meine Damen und Herren, will ich jetzt schon warnen: Wenn dieser Ausschuß seiner Verantwortung für die Umwelt, seiner Vorsorge und Verantwortung für die nach uns folgenden Generationen gerecht werden soll, dann darf dies kein bloßer Alibi-Ausschuß sein, dann muß dieser Ausschuß Kompetenzen haben, die deutlich machen, daß das Parlament diesen Ausschuß als einen der wichtigsten Ausschüsse unter seinen parlamentarischen Gremien betrachtet.
Deswegen, meine Damen und Herren, schlagen wir vor, daß dieser Ausschuß die Kompetenz erhalten muß, zu allen Gesetzesvorhaben, die umweltpolitische Bedeutung und Auswirkungen haben, eine Verträglichkeitsprüfung vorzunehmen. So wie der Haushaltsausschuß die Verträglichkeit von Gesetzesvorhaben mit dem Bundeshaushalt bescheinigen muß, so muß der künftige und neue Umweltausschuß die Verträglichkeit der Gesetzesvorhaben mit dem Naturhaushalt bescheinigen. Erhält er diese Kompetenz nicht, meine Damen und Herren, läuft dieser Ausschuß Gefahr, eine reine Alibieinrichtung zu werden.
Unter diesem Aspekt, meine Damen und Herren, sind wir mehr als verwundert, wenn wir in der Begründung des Antrags der CDU/CSU lesen:
Ob und inwieweit der neue Ausschuß noch an laufenden Gesetzesvorhaben zu beteiligen ist, wird durch besonderen Bundestagsbeschluß festzulegen sein.
Wir Sozialdemokraten jedenfalls werden darauf drängen und darauf achten, daß, wenn wir heute die Einsetzung dieses Ausschusses beschließen, er die Zuständigkeiten bekommt, die er der Bedeutung der Umwelt wegen erhalten muß. Er muß mehr werden als eine bloße Alibieinrichtung zur Beruhigung besorgter Bürger.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Entscheidung des Bundeskanzlers, Herrn Dr. Wallmann zum Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu berufen, ist eine wichtige und weitreichende Entscheidung. Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sind Bereiche, die für unser Volk von großer, existentieller Bedeutung sind und daher eine Bündelung der Kompetenzen auf nationaler Ebene erforderlich machen.
Mit Dr. Wallmann übernimmt ein angesehener, erfolgreicher und erfahrener Politiker die Leitung dieses wichtigen Ministeriums. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt dies ausdrücklich und freut sich sehr über die breite Zustimmung, die diese Entscheidung des Bundeskanzlers in der Öffentlichkeit gefunden hat.
Mit dem Dank an Bundesinnenminister Dr. Zimmermann verbinden wir die Versicherung an den neuen Bundesumweltminister, ihm hilfreich zur Seite zu stehen. Wir wünschen ihm für seine sicher nicht ganz leichte Aufgabe alles Gute, viel Erfolg und eine glückliche Hand.
Nach der Bestellung eines Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit bedarf es nun der Einsetzung eines entsprechenden Bundestagsausschusses. Damit wird der parlamentarischen Praxis des Deutschen Bundestages gefolgt, nach der jedem Bundesministerium auf Regierungsebene ein entsprechender Bundestagsausschuß auf Parlamentsebene gegenübersteht. Dies hat sich im Parlamentsalltag aus einer Vielzahl von Gründen als sinnvoll dargestellt, so daß wir auch im vorliegenden Fall an dieser Übung festhalten wollen.
Die Einsetzung des neuen Ausschusses ist aber nicht nur aus diesem formalen Grund gerechtfertigt. Ziel der künftigen Ausschußarbeit muß es nämlich sein, die Umweltpolitik weiter zu verstärken. Die Aufgabe dieses Ausschusses wird es daher sein, gesetzgeberische Maßnahmen und Vorkehrungen zu treffen, die den großen Herausforderungen der Umweltschutzproblematik gerecht werden. Umweltschutz war für die Koalition der Mitte vom ersten Tag der Regierungsübernahme an ein zentrales Thema der Innen- und auch Außenpolitik. Nach der Sicherung des Friedens ist die Umweltschutzpolitik eine der wichtigsten, nur gemeinsam mit Wirtschaftsentwicklung und Arbeitsplatzsicherung zu bewältigenden politischen Aufgaben.
Unsere Verantwortung für die Umwelt hat zu unserer Entschließung vom 9. Februar 1984 geführt. Mit ihr wurden Grundsätze, Ziele und Schwerpunkte für die Umweltschutzpolitik der nächsten Jahre sowie konkrete Maßnahmen für Einzelbereiche festgelegt. Wir wollen diese verstärken und auch weiter verbessern. Hierfür ist die Einsetzung des Umweltausschusses der richtige Weg. Mit diesem parlamentarischen Instrument können auch die berechtigten Ängste und Sorgen unserer Bürger wirkungsvoll in der parlamentarischen Gesetzgebung berücksichtigt werden. Dabei wird es auch
Bohl
eine sehr wichtige Aufgabe dieses Ausschusses sein, das Vertrauen der Bürger in die Fähigkeit der Politik zu festigen und den Herausforderungen der modernen Technik sachgerecht zu begegnen.
Lassen Sie mich auf ein parlamentsinternes, also mehr geschäftsmäßiges, aber dennoch politisches Einzelproblem hinweisen. Naturgemäß befinden sich eine Reihe von laufenden Gesetzesvorhaben in den Ausschußberatungen. Diese sollen - zumindest wenn der Beratungsstand fortgeschritten ist — in dem entsprechenden Ausschuß zu Ende beraten werden. Wir werden daher in der nächsten Sitzungswoche in einem besonderen Bundestagsbeschluß festzulegen haben, ob und inwieweit der neue Ausschuß noch an laufenden Gesetzesvorhaben zu beteiligen ist. Danach wird auch die Konstituierung des Ausschusses erst möglich sein. Die Fachausschüsse selbst sollten ihre entsprechenden Beratungen daher unabhängig vom heutigen Einsetzungsbeschluß zügig fortsetzen.
Namens der CDU/CSU-Fraktion bitte ich Sie um Zustimmung zu unserem Einsetzungsantrag.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schulte .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der wahre Grund für die heutige Debatte über die Schaffung eines Umweltausschusses liegt in Niedersachsen.
Selten zuvor waren CDU und FDP vor einer so wichtigen Schlüsselwahl in einer derart desolaten Verfassung. Eine kläglich gescheiterte Agrarpolitik, Arbeitslosenheere und Einschnitte in das soziale Netz, fortschreitende Natur- und Umweltzerstörung und nicht zuletzt eine starrsinnige Atompolitik des Ministerpräsidenten Albrecht treiben die Wähler scharenweise weg von den Regierungsparteien.Wenn in dieser Situation kurz vor der Niedersachsen-Wahl die Parteistrategen der Union einen neuen Umweltminister aus dem Hut zaubern und nun ein Umweltausschuß eingerichtet wird, so muß uns allen klar sein: Dies hat überhaupt nichts mit einer Änderung der miserablen Umweltpolitik dieser Regierung zu tun, sondern dies ist einzig und allein ein billiges Wahlkampfmanöver aus reinem Machterhaltungstrieb.
Immerhin hat die Bundesregierung mit ihren wahltaktischen Veränderungen in dieser Woche zur Erfüllung grüner Forderungen beigetragen:Erstens. Die mehrmaligen Rücktrittsforderungen der GRÜNEN an den Umweltminister werden eingelöst.Zweitens. Das von uns zu Beginn der Legislaturperiode geforderte Umweltministerium wird endlich geschaffen.Drittens. Unser Antrag zur Einrichtung eines Umweltausschusses wird umgesetzt.Dies ist ein dreifacher Erfolg der GRÜNEN im Bundestag.
— Ja, es kommt darauf an, was für ein Umweltminister hier erscheint. Mit der Ablösung des umweltpolitischen Dauerversagers Herrn Zimmermann gesteht die Regierung gleichzeitig das absolute Scheitern ihrer Umweltschutzpolitik ein.
Es waren ja nicht nur die schwerwiegenden Versäumnisse nach der Katastrophe von Tschernobyl, nein, alle Umweltbeschlüsse des Ministers Zimmermann waren in der Regel Entscheidungen zugunsten der Industrie und zu Lasten unserer Natur.
Meine Damen und Herren, ob die miserable Großfeuerungsanlagen-Verordnung, die Buschhaus und Ibbenbüren erst möglich machte, ob die Pleite beim Katalysator oder beim Tempolimit, die den Niedergang der Wälder besiegeln, ob Rhein-Main-DonauKanal, Straßenbau, Kalkar oder Wackersdorf: Die Liste der Negativbilanz ist lang, und überall steht der Name Zimmermann als Synonym für eine lebensbedrohende, umweltfeindliche Politik.
Man braucht kein Prophet zu sein, um vorherzusehen, daß sich durch den neuen Umweltminister Wallmann nichts ändern wird.
Ein Minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, der sich sofort als strammer Befürworter der Atomenergie vorstellt, beweist seine Unfähigkeit und Willenlosigkeit, eine Kurskorrektur in der Umwelt- und Energiepolitik durchzusetzen. Überhaupt kommen einem starke Zweifel an der Kompetenz des Herrn Wallmann für dieses Amt, wenn man sich allein die umweltfeindliche Betonwüste in Frankfurt anschaut, für die er als Oberbürgermeister verantwortlich zeichnet.
Bleibt die Frage, ob wenigstens der zu schaffende Umweltausschuß zukünftig das Schlimmste vermeiden hilft. Bei der jetzigen, einzig auf die Regierung zentrierten Entscheidungsstruktur wohl kaum.
Um dies zu ändern, schlagen die GRÜNEN in ihrem Antrag „Einrichtung eines Ausschusses für Umweltvorsorge im Deutschen Bundestag" eine Änderung der Geschäftsordnung vor. Der Umweltausschuß soll mit besonderen Kompetenzen — ähnlich
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Schulte
wie der Haushaltsausschuß — ausgestattet werden.In einem zusätzlichen Paragraphen der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages soll der Begriff Umweltvorlage definiert und sollen die zusätzlichen Kompetenzen des neuen Ausschusses für solche Umweltvorlagen geregelt werden.Es dürfte an und für sich eine Selbstverständlichkeit sein, daß die Partei, die die meisten Umweltanträge eingebracht hat, die Partei, die von den Bürgern für die kompetenteste auf dem Umweltsektor gehalten wird,
den Ausschußvorsitz für diesen Umweltausschuß bekommt.
Doch all diese Änderungen werden überhaupt nichts nutzen, solange die Politik von Männern betrieben wird,
denen das persönliche Streben nach Geld und Macht mehr bedeutet als der Schutz unserer Umwelt und der Sicherung der Lebensgrundlage unserer Kinder.
Ich hoffe, daß immer mehr Bürgerinnen und Bürger dies erkennen, das wahltaktische Manöver der Regierung durchschauen und den Umweltzerstörungsparteien bei der Niedersachsenwahl eine klare Abfuhr erteilen.
Herr Präsident, ich bitte auch zu würdigen, daß ich diesmal nicht zur Demonstration in Brokdorf aufgerufen habe.
Das möchte ich Ihnen auch geraten haben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie sind j a die selbsternannten Gralshüter des Umweltschutzes, nicht wahr?
Aber wissen Sie, wir haben Umweltschutz schon betrieben, da haben Sie noch gar nicht daran gedacht.
Wir haben so viel Selbstbewußtsein, daß wir das feststellen.
Da können Sie unten schreien, soviel Sie wollen.
Wir wünschen dem neuen Umweltminister einen guten Erfolg. Wir werden ihn tatkräftig unterstützen. Ich wundere mich sehr, daß Sie jetzt eine Einrichtung, nämlich die Einrichtung dieses Ausschusses, bekämpfen,
obwohl Sie ihn immer gefordert haben. Sie müßten ihn eigentlich jetzt begrüßen. Für den Vorsitz gibt es überhaupt keine Anspruchsgrundlage, überhaupt keine.
Ich wundere mich sehr, daß der Kollege Schäfer nicht die Fairneß besitzt, dem neuen Minister wenigstens eine gewisse Chance zu geben, seine Vorstellungen zu entwickeln.
Sie haben ihm nicht einmal 100 Tage, geschweige denn 14 Tage Zeit gelassen, sondern Sie haben ihm vor der Ernennung bereits die Kompetenz abgesprochen.
Das ist kein fairer Stil, Herr Schäfer, Sie sollten warten, und ich bin sicher, daß der neue Minister seine Vorstellungen entwickeln wird, und die werden überzeugend sein.
Der neue Ausschuß kommt in eine schwierige Lage. Wir haben eine Reihe von Gesetzen im Innenausschuß in der Beratung: Abfallgesetz, Wasserhaushaltsgesetz, Waschmittelgesetz. Insbesondere die wichtige Materie des Abwasserabgabengesetzes ist sehr schwierig und sehr kompliziert. Ich möchte für die Koalition — jedenfalls für meine Partei — sagen: Ausschuß ja; er soll überall mitberaten. Aber wir müssen zwischen diesen beiden Ausschüssen, dem Innenausschuß und dem Umweltausschuß, einen Modus für diese Legislaturperiode finden, der die Gesetzesberatung dieser wichtigen Gesetze nicht verzögert. Das ist eine Kondition, eine Bitte, die wir äußern.
Für meine Partei ist Umweltschutz immer ein wichtiges Feld gewesen. Wir haben ihn maßgeblich mit aufgebaut. Wir schämen uns unserer Leistung nicht. Wir werden unsere Vorstellungen nachdrücklich weitervertreten: Staatszielbestimmung gehört ins Grundgesetz, die Wassergesetze müssen verbessert werden,
Naturschutz, Abfallrecht, Bodenschutz. Die Aufarbeitung der Tschernobyl-Folgen wird eine der wichtigsten Aufgaben des neuen Ministers sein, ebenso wie eine Verbesserung der Zusammenarbeit im Strahlenschutz und Katastrophenschutz in der Bundesrepublik zwischen Bund und Ländern und
Baum
international so schnell wie möglich herbeizuführen.
Die Koalititon hat in den letzten dreieinhalb Jahren auf dem Gebiet des Umweltschutzes, insbesondere im Parlament, erfolgreich zusammengearbeitet. Wir sind sicher, daß sich diese Zusammenarbeit mit dem neuen Minister erfolgreich gestaltet.
Man kann darüber streiten, ob man den Umweltschutz in einem großen, starken, klassischen Ministerium ansiedelt. Das war die Entscheidung bis jetzt. Es gab ein Manko, das ich auch als Innenminister immer bedauert habe: daß die Kompetenzen verstreut waren. Das Positive an der jetzigen Entscheidung ist die Zusammenfassung der Kompetenzen. Ich hätte mir gewünscht, daß auch die Raumordnung dort noch hineinkommt, denn sie hat einen sehr engen Bezug zum Umweltschutz. Das kann ja eines Tages noch geschehen.
Herr Abgeordneter Baum, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Penner?
Bitte.
Bitte sehr.
Herr Kollege Baum, Sie waren so freundlich, unseren gemeinsamen Kollegen Herrn Schäfer zu kritisieren. Ich frage Sie: Wie bewerten Sie die Tatsache, daß der gerade vereidigte neue Minister bei dieser Debatte nicht im Saal ist?
Es wäre mir natürlich lieber, wenn er da wäre; auch mir, der ich jetzt gerade rede, sage ich ganz egoistisch. Aber er wird Gründe haben. Wir sollten ihm die Chance geben, auch diese Gründe zu nennen.
Also ich würde den neuen Minister jetzt nicht an diesem Faktum messen, daß er im Moment nicht im Saal ist.
Wir erwarten uns zusätzliche Impulse von diesem neuen Ministerium. Wir sagen gute Zusammenarbeit zu. Und wir erwarten — daß ist ganz wichtig -, daß die anderen Ministerien, die ja organisatorisch fest eingerichtet sind, dem neuen Ministerium Hilfestellung leisten und die Arbeit nicht erschweren.
Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung.Der Antrag der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der FDP deckt sich in jeder Hinsicht mit dem Antrag der Fraktion der SPD. Ich gehe davonaus, daß wir deshalb über diese beiden Anträge gemeinsam abstimmen können.Wer den Anträgen auf Drucksache 10/5598 und Drucksache 10/5611 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Eine Gegenstimme. — Enthaltungen? — Also, Herr Abgeordneter Schulte , zwei Stimmen haben Sie in diesem Hause nicht. Sie können entweder dagegen stimmen oder dafür stimmen oder sich enthalten. Aber da müssen Sie eine Auswahl treffen.
Entweder — oder. Man muß sich entscheiden. Das ist manchmal außerordentlich schwierig. Aber das verlangt die Geschäftsordnung.Die beiden Anträge sind mit großer Mehrheit angenommen.
Der Antrag der Fraktion die GRÜNEN auf Drucksache 10/5595 sieht einen teilweise anderen Aufgabenzuschnitt für einen Umweltausschuß vor. Deshalb stelle ich ihn zur Abstimmung.Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung mit großer Mehrheit abgelehnt.
— Herr Abgeordneter Ströbele, ich rufe Sie zur Ordnung. Ich mache darauf aufmerksam, daß Sie nicht Abgeordnete dieses Hauses in cumulo als Chaoten bezeichnen können.
— Herr Abgeordneter Ströbele, ich diskutiere nicht mit Ihnen. Aber ich sage Ihnen noch mal: Lesen Sie den § 38 der Geschäftsordnung noch mal gründlich nach! Ich für meinen Teil werde im Präsidium für die Ordnung sorgen, die in dieseln Hause notwendig ist, daß nicht chaotische Zustände eintreten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungGutachten des Sozialbeirats über eine Strukturreform zur längerfristigen finanziellen Konsolidierung und systematischen Fortentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung im Rahmen der gesamten Alterssicherung— Drucksache 10/5332 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung FinanzausschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Haushaltsausschuß
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Vizepräsident StücklenGleichzeitig rufe ich den Tagesordnungszusatzpunkt 7 auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten Frau Fuchs , Frau Dr. Däubler-Gmelin, Bachmaier, Frau Blunck, Buschfort, Catenhusen, Delorme, Dr. Diederich (Berlin), Dreßler, Egert, Fiebig, Frau Fuchs (Verl), Glombig, Gilges, Frau Dr. Hartenstein, Hauck, Heyenn, Frau Huber, Immer (Altenkirchen), Jaunich, Kirschner, Dr. Kübler, Kuhlwein, Frau Dr. Lepsius, Frau Luuk, Lutz, Frau Dr. Martiny-Glotz, Frau Matthäus-Maier, Müller (Düsseldorf), Frau Odendahl, Peter (Kassel), Reimann, Frau Renger, Frau Schmedt (Lengerich), Frau Schmidt (Nürnberg), Schreiner, Sielaff, Frau Dr. Skarpelis-Sperk, Dr. Soell, Frau Steinhauer, Stiegler, Frau Terborg, Frau Dr. Timm, Frau Traupe, Urbaniak, Weinhofer, von der Wiesche, Witek, Wolfram (Recklinghausen), Frau Zutt, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anerkennung eines Kindererziehungsjahres in der gesetzlichen Rentenversicherung für ältere Frauen (Trümmerfrauen- Babyjahrgesetz)— Drucksache 10/5571 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit HaushaltsausschußNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte von zwei Stunden vorgesehen. Ich frage das Haus, ob es damit einverstanden ist. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seehofer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Sozialbeirat hat im März dieses Jahres ein Gutachten zur längerfristigen Sicherung und Fortentwicklung der Rentenversicherung vorgelegt. Die wichtigste Aussage dieses Gutachtens ist: Niemand in der Bundesrepublik Deutschland muß Angst um seine Rente haben.
Auch wenn man den vorsichtigen Annahmen bezüglich der künftigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung folgt, steht fest, daß die Rentenfinanzierung gesichert ist und auch gesichert bleibt. Zum erstenmal seit vielen Jahren hat die Rentenversicherung wieder Überschüsse, und auch die Rücklagen steigen wieder. Nicht nur auf die Sicherheit der Renten ist Verlaß; die Rentner nehmen auch am wirtschaftlichen Wachstum teil. Jahr für Jahr werden die Renten entsprechend der Lohnentwicklung angepaßt, und dazu kommt, daß die äußerst niedrige Preissteigerungsrate die Kaufkraft der Renten sichert.
Hier wird ein wesentlicher Unterschied zwischen der Politik der SPD-geführten Bundesregierungen
und der dieser Koalition deutlich: Anfang der 80er Jahre stiegen die Renten um 4 %, die Inflationsrate lag bei 5 und 6 %, heute steigen die Renten um 3 %, und die Inflationsrate liegt unter 1 %.
Hier wird die solide Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung deutlich, die sich für die Bürger in Heller und Pfennig auszahlt, und dies ist die beste Sozialpolitik, meine Damen und Herren.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, Herr Präsident!
Wir waren in diesen ersten Jahren damit beschäftigt, die Rentenfinanzen wieder in Ordnung zu bringen, aber damit sind noch nicht alle Aufgaben erledigt. Es stellt sich nun vor allem die Frage: Wie lösen wir das Problem, daß künftig immer weniger Beitragszahler auf immer mehr Rentner stoßen? Das volle Ausmaß dieser Problematik wird erst nach dieser Jahrtausendwende zunehmend sichtbar. Bei der Strukturreform der Rentenversicherung, die wir heute diskutieren, geht es also nicht um die Sicherheit der Renten heute, sondern um die Sicherheit der Rentenzukunft, vor allem nach der Jahrhundertwende.Der Sozialbeirat hat in seinem Gutachten zur längerfristigen Fortentwicklung der Rentenversicherung, wie ich meine, dem Gesetzgeber eine fundierte Beratungsgrundlage für eine Strukturreform der Rentenversicherung gegeben. Wenn wir nun auch die kommende Zeit nutzen müssen, um die einzelnen Aspekte dieses Gutachtens sorgfältig zu prüfen, so kann man doch bereits heute einige Schlußfolgerungen aus diesem Gutachten ziehen, und das möchte ich für die CDU/CSU-Fraktion tun.Erstens. Auf der einen Seite entstehen die eigentlichen Probleme in der Rentenversicherung in voller Schärfe erst im nächsten Jahrhundert, aber das darf nicht dazu führen, daß wir auch die Rentenreform auf die lange Bank schieben. Noch in diesem Jahrzehnt müssen nach unserer Auffassung die wichtigsten Schritte zur Rentenreform getan werden.
Dies folgt aus einem ganz einfachen Grunde: Diejenigen, die heute Rentenversicherungsbeiträge zahlen, müssen sich darauf verlassen können, daß sie später ihre Rente bekommen.
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17044 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
SeehoferDieses Vertrauen dürfen wir nicht zerstören; denn das Vertrauen ist das wichtigste Kapital unserer gesetzlichen Rentenversicherung.
Wir brauchen also die Reform in diesem Jahrzehnt.Zweitens. Der Sozialbeirat betont ausdrücklich — dieser Meinung schließen wir uns uneingeschränkt an —, daß die langfristigen Probleme des bestehenden Rentensystems bewältigt werden können innerhalb der bestehenden Systematik und ohne daß man den Beitragszahlern, den Rentnern oder den Steuerzahlern unvertretbare Belastungen auferlegen müßte.Meine Damen und Herren, unsere Rentenversicherung hat sich bewährt; man kann mit Fug und Recht sagen: Sie ist beispielhaft auf der ganzen Welt. Deshalb treten wir dafür ein, daß auch bei einer Rentenreform nicht an den tragenden Prinzipien unseres Rentenversicherungssystems gerüttelt wird.
Diese Rentenversicherung lebt von dem Gedanken der Solidarität. Nach dem Generationenvertrag sorgt die erwerbstätige Generation für die Renten der Alten. Sie sorgt nicht nur für die Renten der Alten durch ihre Beiträge, gleichzeitig erwirbt sie sich selbst den Anspruch, im Alter versorgt zu sein. Wenn sich nun das Zahlenverhältnis zwischen jung und alt in der Weise verschiebt, daß immer weniger Beitragszahler für immer mehr Rentner sorgen müssen, brauchen wir einen neuen Ausgleich zwischen den Generationen. Die Solidarität verlangt, daß dieser Ausgleich nicht einseitig zu Lasten der Beitragszahler, aber auch nicht einseitig zu Lasten der Rentner erfolgt. Vor allem darf sich auch der Bund — und damit der Steuerzahler — nicht aus seiner Verantwortung stehlen.
Bekanntlich betrug der Anteil des Bundeszuschusses an der Deckung der Rentenausgaben im Jahre 1957 noch 31,8 %. Mittlerweile, 1985, ist er auf 17,8 % gesunken. Wir brauchen — das ist ein sehr wichtiges Moment dieser Reform — eine Neuorientierung des Bundeszuschusses zur Rentenversicherung.
Kernstück unseres Rentensystems ist die lohn- und leistungsbezogene Rente. Die Versichertenrente ist kein Almosen. Sie ist Lohnersatz im Alter. Sie ist auch kein Zuschuß zum Lebensunterhalt. Sie ist Ersatz oder Lohn für die Lebensarbeitsleistung. Daher muß bei einer Reform auch darauf geachtet werden, daß ein Zusammenhang zwischen Beitragsleistung und späterer Rentenzahlung bestehenbleibt. Wer diesen Zusammenhang auflöst, legt dieAxt an die Wurzeln unseres Rentenversicherungssystems.
Wir lehnen deshalb alle Grundrentenmodelle — ganz gleich, in welcher Art: ob von den GRÜNEN, ob bedarfsorientiert oder auch so, wie von der FDP, von Herrn Bangemann genannt — kategorisch ab;
denn Solidarität und Grundrente schließen sich gegenseitig aus.Warum soll denn eigentlich einer zeitlebens Beiträge einbezahlen, wenn derjenige, der keine Beiträge einbezahlt, die gleiche Grundrente erhält? Der Generationenvertrag kann nur funktionieren, wenn niemand um seinen gerechten Lebenslohn, um seinen Arbeitslohn betrogen wird.Im Hinblick auf die Lohnbezogenheit der Rente wird es vorrangiges Ziel dieser Reform sein, dafür zu sorgen, daß sich die Renten und die verfügbaren Arbeitseinkommen gleichgewichtig entwickeln. Das ist durch eine Neuformulierung der Rentenformel sicherzustellen. Wir haben seit 1957 die Entwicklung, daß die Renten um das Sechsfache gestiegen sind, die Löhne hingegen nur um das Fünffache. Das war in der Vergangenheit vielleicht berechtigt, weil wir noch ein sehr niedriges Rentenniveau hatten. Aber heute haben wir ein Spitzenrentenniveau. Deshalb müssen wir im Zuge der Reform dafür sorgen, daß sich die beiden Momente Rente und Löhne nicht auseinanderentwickeln.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bueb?
Nein, ich habe nur eine kurze Redezeit.
Gilt das generell für Ihre Ausführungen?
Ja.Ein dritter Punkt der Rentenreform. Wir dürfen die Reform der gesetzlichen Rentenversicherung nicht auf dieses System beschränken, sondern müssen diese Reform mit allen Politikbereichen abstimmen. Dazu zählt auch die Harmonisierung der Rentenversicherungssysteme. Nur darf diese Harmonisierung nicht als Vorwand für eine Einheitsversicherung benutzt werden.
Wir wollen durch diese Harmonisierung nur sicherstellen, daß eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung von der Solidargemeinschaft Rentenversicherung finanziert wird, während die Risiken aus dem demographischen Aufbau der Bevölkerung in den anderen Alterssicherungssystemen durch den Steuerzahler bezahlt werden. Das ist der Sinn.
Ein vierter Eckpunkt: Wir müssen diese Reform auch dazu nutzen, das Rentenrecht einfacher und übersichtlicher zu gestalten. Seit 1957, seit der Ren-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17045
Seehofertenreform gab es 75 Novellierungen. Die Kompliziertheit des Rentenrechts hat auch dazu geführt, daß die Bürger diesem Rentenrecht zunehmend mit Mißtrauen, mit Unbehagen begegnen. Deshalb müssen wir die Chance nutzen und die Reform so gestalten, daß wir die vielen Rentenversicherungsgesetze in einem Sozialgesetzbuch zusammenfassen und übersichtlicher gestalten. Dies wird auch das Vertrauen in die Rentensystematik stärken.Meine Damen und Herren, neben diesen renteninternen Eckpunkten kommt es entscheidend auch auf die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen an. Wachstum und Beschäftigung sind die Quellen für unser Sozialversicherungssystem. Wenn diese Quellen sprudeln, macht sich dies auch in den Rentenkassen bemerkbar. Wir sind hier auf dem richtigen Weg. 1985/86 können wir mit rund einer halben Million zusätzlicher Arbeitsplätze rechnen. Dieser erfolgreiche Weg muß weitergegangen werden,
weil nur ein gesunder Staat auch für die Altersversorgung seiner Bürger geradestehen kann.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Die vor uns stehende Rentenreform ist die vielleicht wichtigste Aufgabe der Sozialpolitik in den kommenden Jahren. Die langfristigen Probleme sind zu bewältigen. Es besteht überhaupt kein Grund zur Hektik oder zur Panikmache.
Wir können in aller Ruhe die restlichen Jahre dieses Jahrzehnts nutzen, um das Reformwerk auf den Weg zu bringen und zu verabschieden.
Wir wollen keine revolutionäre Umgestaltung unseres Rentenversicherungssystems, sondern wir wollen eine Reform, die nur das verspricht, was auf Dauer auch gehalten werden kann,
die nicht Ansprüche manipuliert, die in jahrzehntelanger Arbeit erworben wurden, und die vor allem das Vertrauen der jetzigen und der künftigen Rentnergeneration in unser Alterssicherungssystem stärkt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Glombig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hätte uns alle sehr interessiert, ein paar Auszüge aus dem angekündigten Reformwerk zur Kenntnis zu bekommen.
Aber Sie haben nur Qualm abgelassen.
In der heutigen Debatte geht es, wie Herr Kollege Seehofer deutlich gezeigt hat, um den Versuch, die Reklameaktion der Bundesregierung über die angebliche Sicherheit der Renten
mit parlamentarischen Mitteln fortzusetzen. Weiter ist dies nichts. Sie soll die Rentner und Beitragszahler mit beruhigenden Sprüchen eindecken. Tatsache ist jedoch: Die Renten sind nicht sicher, und die Regierung weiß auch nicht, wie sie die Renten sichern soll.
Das sind die Tatsachen. In den amtlichen Drucksachen der Bundesregierung kann man nachlesen, daß die Renten nicht sicher sind.
Der Sozialbeirat spricht in Ziffer 33 seines Gutachtens davon, daß die Renten je nach wirtschaftlicher Entwicklung nur bis 1989 bzw. 1993 ohne Unterschreitung der vorgeschriebenen Mindestrücklage finanzierbar seien. Wir sind der Meinung: das ist keine ausreichende Sicherheit für einen Generationenvertrag, wenn das Geld nur einige Jahre reicht und der Gesetzgeber keine Klarheit schafft, was weiter geschehen soll. Wir haben von dieser Klarheit hier nichts gemerkt.Nehmen Sie den Rentenanpassungsbericht der Bundesregierung. Unter den 15 verschiedenen Varianten, denen teilweise außerordentlich optimistische Annahmen zugrunde liegen, gibt es keine einzige, bei der die Rentenversicherung nicht im Laufe der 90er Jahre in ein immer größer werdendes Defizit gerät. Je nach Variante werden für den 15-Jahres-Zeitraum bis zu 200 Milliarden DM ausgewiesen. Das schreibt die Bundesregierung in ihrem Rentenanpassungsbericht, und sie hat trotzdem die Stirn, wie wir alle lesen können, zu einer Propagandakampagne mit dem Titel: „Denn eins ist sicher: die Rente".
Nun ist gerade das eben nicht sicher. Wir Sozialdemokraten halten diese Kampagne für einen schamlosen Mißbrauch von Steuergeldern.
Wir bestreiten Arbeitsminister Blüm das Recht, sich als erfolgreicher Sanierer der Rentenfinanzen aufzuspielen.
Das haben Sie mit einem Vorwurf an die Sozialdemokraten, sie seien Rentenbetrüger, in den 70er Jahren gemacht.
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17046 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
GlombigWir reden jetzt über Fakten, und ich will die Fakten nennen.Erstens sind die Finanzierungslöcher nur vorübergehend gestoppt. Langfristig sind die Renten völlig ungesichert.
— Ja, so ist es. Lesen Sie doch endlich einmal den Rentenanpassungsbericht! Den haben Sie offensichtlich nicht gelesen.Zweitens hat die Bundesregierung die Finanzierungsprobleme, die gelöst zu haben sie sich rühmt, selbst verschuldet, weil sie Geld aus den Rentenkassen weggenommen und im Bundeshaushalt für Steuergeschenke an Wohlhabende verbraten hat.
Drittens ist es unvergessen, meine Damen und Herren, daß die Zahlungsfähigkeit der Rentenversicherung erst nach drei vergeblichen Anläufen mittels viermaliger Beitragserhöhung
und durch Absenkung des Rentenniveaus um rund 9 % gegenüber dem früheren Recht — dies ist gar nicht zu belachen, dies ist eine Tatsache — erreicht wurde.
Meine Damen und Herren, wir bestreiten unabhängig von der Kontroverse in der Sache Arbeitsminister Blüm auch das Recht, in seiner auf Kosten der Steuerzahler gedruckten Broschüre CDU-Parteipositionen zu vertreten.Schließlich ist es eine Unverschämtheit
— ja, ich sage ganz bewußt: eine Unverschämtheit, auch die Unwahrheit — gelinde gesagt — vom „Stabilitätsgewinn" der Rentner in Informationsbroschüren der Bundesregierung zu verbreiten. Es ist schon schlimm genug, daß der Arbeitsminister diese Unwahrheit hier im Parlament verbreitet. Ich möchte wetten, daß dieser Unsinn auch heute wieder in seinem Redemanuskript steht.
— Das habe ich mir gedacht.
Deswegen möchte ich mich heute in diesem Punkt vor allem mit Ihnen auseinandersetzen.Der Arbeitsminister behauptet, die Bundesregierung habe mit ihrer Politik der Inflationsbekämpfung den Bundesbürgern, insbesondere aber den Rentnern, einen ungeheuren Realeinkommenszuwachs verschafft.
Blüm spricht von 8 bis 10 Milliarden DM und meintgar, die Rentner hätten im Ergebnis drei Monatsmieten von der Bundesregierung gratis oder zusätzlich bekommen.
— Ja, dies ist eine Unverschämtheit. Wissen Sie, wenn man als Rentner nicht durch seinen eigenen Kakao gezogen werden soll, dann — so finde ich — ist es endlich einmal Zeit, dies mit aller Schärfe zurückzuweisen.
Aber vielleicht kann Herr Blüm den Rentnern endlich einmal erklären, bei welcher amtlichen Stelle sie sich dieses Geld abholen können, das er ihnen versprochen hat.
Der Trick, mit dem der Arbeitsminister arbeitet, ist verblüffend, aber er ist simpel. Er lobt die Preisstabilität, aber die außerordentlich unbefriedigende und teilweise rückläufige Entwicklung der Nominaleinkommen vieler Bundesbürger, gerade der einkommensschwächeren Schichten, läßt er einfach unter den Tisch fallen.Es ist zwar richtig, daß viele Güter und Dienstleistungen heute nicht viel teurer sind als vor ein oder zwei Jahren. Das nutzt aber dem nichts, der heute, nicht zuletzt auch wegen der Kürzungs- und Beitragserhöhungspolitik der Bundesregierung, weniger im Geldbeutel hat als früher.
Das Volkseinkommen je Erwerbstätigen ist von 1982 bis 1985 nominell um 16,4 % gestiegen. Nach Abzug der Preissteigerungen waren es 8,4 %. Ich frage nun: Ist dieser Zuwachs unter der Regie der Wenderegierung den Bürgern zugute gekommen? Dazu einige wenige Zahlen: Die durchschnittlichen monatlichen Nettolöhne sind von 1 897 DM in 1982 auf 2 004 DM in 1985 gestiegen. Das war ein nominaler Zuwachs von 5,6 %, aber ein Realeinkommensverlust von 2,1 %.
Die jahresdurchschnittliche Rente eines Durchschnittsverdieners mit 40 Versicherungsjahren ist von 1 025 DM in 1982 auf 1 286 DM in 1985 gestiegen. Der nominelle Zuwachs betrug 6,7 %, der Kaufkraftverlust 1,2 %.
Das durchschnittlich gezahlte Arbeitslosengeld — und das ist nun die Spitze — betrug 1985 rund 943 DM im Monat. 1982 betrug es rund 975 DM im Monat.
Das Arbeitslosengeld ist zwar nominell um 3,3 % gestiegen, aber real liegt es 1985 um mehr als 10 % niedriger als 1982,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17047
Glombignicht nur wegen der Preissteigerungen, sondern vor allem wegen der Leistungskürzungen.In der gleichen Zeit — von 1982 bis 1985 — sind die Nettoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um nicht weniger als 36,7 % gestiegen. Kein Wunder, meine Damen und Herren, daß die Arbeitnehmer, Rentner und Arbeitslosen von der wundersamen Einkommensvermehrung des Herrn Blüm nichts merken konnten, am wenigsten natürlich von den drei Gratismonatsmieten, über die er heute noch reden will.
Der Sozialbeirat hat mit seinem Gutachten einen dankenswerten Beitrag zur Versachlichung der Rentenpolitik geleistet. Er stellt klar, daß die Probleme der langfristigen Rentenfinanzierung durch vernünftige Reformen lösbar sind. Es gibt keinen Grund, das Alterssicherungssystem von Grund auf umzukrempeln. Konservative und wirtschaftsliberale Roßkuren, wie sie z. B. von Biedenkopf und Bangemann angestrebt werden, sind weder notwendig noch sozialpolitisch vertretbar.
Einige Forderungen des Sozialbeirates verdienen besonders hervorgehoben zu werden, so z. B. die Harmonisierung der Alterssicherungssysteme,
die Beteiligung des Bundeshaushalts am demographischen Risiko der Rentenversicherung
und die Wiederherstellung voller Rentenversicherungsbeiträge der Bundesanstalt für Arbeit. Die SPD-Bundestagsfraktion sieht sich dadurch in ihren Positionen bestätigt und stimmt dem Sozialbeirat ausdrücklich zu. — Wenn wir in all diesen Punkten einer Meinung sind
oder immer gewesen sind, dann hätten wir doch bereits vor der Wahl 1987 auch gemeinsam eine solche Reform durchführen können.
Ich höre bisher immer nur Reden von Ihnen. Wir haben bereits im Jahre 1984 einen Gesetzentwurf vorgelegt, worin zu diesen Punkten die entsprechenden Lösungsvorschläge mit der finanziellen Abdeckung stehen. Sie haben das unter den Tisch fallen lassen, Sie haben es abgelehnt; das ist die Tatsache.
Enttäuschend ist allerdings, daß der Sozialbeirat in seinem Gutachten im wesentlichen über die Auflistung schon längst bekannter Reformvorschläge nicht hinausgegangen ist und sich fast in keinem Punkt zu eindeutigen und präzisen Empfehlungen an den Gesetzgeber durchringen konnte. Für die SPD-Bundestagsfraktion ist aber die allgemeine Diskussion letztlich unergiebig; denn die Zeit, in der die verschiedenartigsten Lösungsmodelle aufgelistet und das Für und Wider abgewogen wurde, ist ja schon lange genug gewesen. Was fehlt, sind die politischen Entscheidungen, um die Sie sich herumdrücken wollen. Dabei müssen wir bei der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen leider Unschlüssigkeit, Unvermögen, Orientierungslosigkeit und Zerstrittenheit feststellen.
Die SPD als Oppositionsfraktion hat für die Bundesregierung die versäumten Schularbeiten — ich habe bereits darauf hingewiesen — gemacht und als bisher einzige politische Kraft ein Konzept für eine langfristige Rentenstabilisierung entwickelt und in Gestalt eines fertigen, ausformulierten Gesetzentwurfs im Deutschen Bundestag eingebracht. Wir haben vorgeschlagen, im Sinne sozialer Ausgewogenheit die künftigen Belastungen gleichmäßig auf Rentner, Beitragszahler und Staat zu verteilen.
— Ja gut; das nützt ja nichts, wenn Sie da nichts tun. Was nützt der sogenannte Konsens, der vom Arbeitsminister immer beschworen wird? Nachher heißt der Konsens im Sinne des Arbeitsministers, nur das zu tun, was er will, statt einen vernünftigen Kompromiß herbeizuführen. Das kann doch gar nicht in Frage kommen.Darüber hinaus haben wir die Wiederherstellung voller Rentenversicherungsbeiträge der Bundesanstalt für Arbeit vorgeschlagen, um die Hauptursache für die aktuellen Finanzierungsprobleme zu beseitigen und die Rentenversicherung besser gegen Konjunkturschwankungen abzusichern, sowie einen automatischen Regelmechanismus, der für die Zukunft auch bei Änderung der ökonomischen Rahmenbedingungen ständige Eingriffe des Gesetzgebers überflüssig macht.Das Konzept der SPD ist geeignet, die langfristigen Strukturprobleme der Alterssicherung zu überwinden und Verläßlichkeit wiederherzustellen. Experten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte haben unlängst unsere diesbezüglichen Rechnungen bestätigt, daß allein unsere neue Rentenformel bis zum Jahre 2030 die erforderliche Beitragssatzerhöhung um drei bis vier Prozentpunkte abmildern könnte.Meine Damen und Herren, für die SPD ist ganz besonders wichtig, daß eine stärkere soziale Ausrichtung der Alterssicherungssysteme eine unbedingt notwendige Komponente der Strukturreform ist. Damit meine ich einerseits die Harmonisierung der Systeme, andererseits eine gezielte Politik zur Bekämpfung der Altersarmut.Die langfristige Sicherung der Altersversorgung bei einem vertretbaren Leistungs- und Beitragsniveau ist ohne Harmonisierung der verschiedenen Systeme weder finanziell möglich noch in ihren Konsequenzen gesellschaftspolitisch akzeptabel. Das ergibt sich schon aus der Tatsache, daß die ungünstiger werdende Altersstruktur keineswegs allein die Rentenversicherung der Arbeiter und An-
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17048 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
Glombiggestellten betrifft, sondern ebenso die Beamtenversorgung
und die betriebliche Altersversorgung, die Altershilfe der Landwirte, die knappschaftliche Rentenversicherung und die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes. Wenn wegen der wirtschaftlichen Probleme und der zunehmend ungünstiger werdenden Bevölkerungsstruktur in der Alterssicherung der Arbeitnehmer das Verhältnis von Rentenleistung zu Beitragsbelastung immer ungünstiger wird, dann kann es nicht angehen, meine Damen und Herren, daß in den wesentlich üppiger ausgestalteten Sonder- und Zusatzversorgungssystemen die zusätzlichen Belastungen der Haushalte der in Frage kommenden Gebietskörperschaften sang- und klaglos vom Steuerzahler übernommen werden und im übrigen alles beim alten bleibt; denn auf diese Weise würde eine Klassengesellschaft in der Alterssicherung entstehen.Zur Harmonisierung der Alterssicherungssysteme gehört insbesondere, daß die Beamten zur Finanzierung ihrer Altersversorgung und damit insgesamt zur finanziellen Stabilisierung der öffentlich-rechtlichen Alterssicherungssysteme beitragen. Für den einfachen und mittleren Dienst muß man dabei eine soziale Flankierung durch einen Bruttoausgleich vorsehen.
— Ja, davon verstehen Sie nichts; das habe ich ja vorhin gemerkt. Es ist doch völlig klar: Wenn wir eine soziale Ausrichtung unseres Systems der sozialen Sicherheit haben wollen, dann können natürlich diejenigen, die geringere Einkommen beziehen, nicht so belastet werden wie diejenigen, die höhere Einkommen beziehen. So ist das nun einmal — im Gegensatz zur Landwirtschaft; da werden alle gleichmäßig belastet: die mit geringem Einkommen ebenso wie die mit hohem Einkommen.Ebenso wichtig ist auch — das habe ich damit schon angedeutet --, in der Altershilfe der Landwirte die Beiträge mehr als bisher sozial zu staffeln, um Landwirte mit kleinen und mittleren Einkommen finanziell zu entlasten, das Prinzip der innerlandwirtschaftlichen Solidarität stärker zur Geltung zu bringen, den einkommensstärkeren Teil der Landwirtschaft in größerem Umfang an der Finanzierung der agrarsozialen Sicherung zu beteiligen und dadurch den Bedarf der landwirtschaftlichen Altershilfe an staatlichen Zuschüssen zu verringern. Auf lange Sicht muß angestrebt werden, durch eine grundsätzlich reformierte EG-Agrarpolitik der Landwirtschaft eine dauerhafte und sichere Existenzgrundlage zu garantieren, die es erlaubt, die heutigen verdeckten Agrarsubventionen abzubauen, soweit sie in Gestalt überproportionaler Bundeszuschüsse zur Agrarsozialversicherung geleistet werden.Zur Strukturreform der Alterssicherung gehört auch die gezielte Hilfe gegen Altersarmut. Über den Ausbau der Rente nach Mindesteinkommen hinaus fordert die SPD die Einführung einer sozialenGrundsicherung im Alter und bei Invalidität. Damit wollen wir die lohnbezogene Rente nicht antasten. In den Fällen, in denen die durch Beiträge erworbenen Renten nicht ausreichen, sollen sie unter Berücksichtigung sonstigen Einkommens und Vermögens so weit aufgestockt werden, daß der Gang zum Sozialamt überflüssig wird.
Die Kosten dafür soll der Bund den Rentenversicherungsträgern erstatten. Deshalb müssen allein schon aus verfassungsrechtlichen, aber auch aus sozialpolitischen Gründen auch diejenigen Anspruch auf soziale Grundsicherung im Alter und bei Invalidität haben, die keine Beiträge zur Rentenversicherung zahlen konnten.
Herr Abgeordneter Glombig, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bueb?
Es ist mir ein großes Vergnügen.
Herr Kollege Glombig, Sie haben gerade gesagt, daß die Renten aufgestockt werden sollen, wo die Beiträge nicht ausreichen, damit der Gang zum Sozialamt überflüssig wird. Können Sie angeben, um welchen Betrag Sie diese Renten aufstocken wollen? Soll dieser Betrag gerade die Sozialhilfesätze ausmachen, oder soll er darüber liegen? Ich habe noch nie von Ihnen selbst eine Zahl gehört oder in Ihren Papieren irgendwo eine Zahl gesehen.
Ich könnte jetzt natürlich leichtsinnigerweise sagen: Wir stocken sie auf 1 200 DM auf, damit der Betrag Ihrer ominösen Grundrente entspricht; aber so verantwortungslos sind wir nicht,
daß wir uns in diesem Augenblick auf einen Betrag festlegen, von dem wir nicht wissen, ob er finanzierbar ist.
— Natürlich, dies können wir nicht machen, und wir werden es auch nicht so machen, daß wir in den Wahlkampf gehen und den Wählern sagen „Ihr kriegt das und das",
und nachher müssen diese Wähler feststellen, daß diese Versprechungen aus finanzpolitischen Gründen nicht gehalten werden können.
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GlombigAuf jeden Fall wird diese Grundsicherung mindestens den Regelsatz der Sozialhilfe einschließlich der Kosten für die Miete enthalten.
— Ja, wir sind überhaupt toller als Sie. Haben Sie das noch nicht gemerkt?Übrigens sind wir in dieser Beziehung genauso toll wie die Freien Demokraten, die sich jetzt so ein bißchen wegducken. Und Sie haben da einen Senator in Berlin, der natürlich auch ganz toll ist. Da gibt es also doch sehr übereinstimmende Meinungen. Nun setzen Sie sich erst einmal mit Ihren eigenen Parteifreunden und mit Ihrem Koalitionspartner auseinander, bevor Sie hier gegen so vernünftige Vorschläge polemisieren! Dies tut ja auch der Arbeitsminister immer aus dem hohlen Bauch heraus; so schön, wie er ist, kann er sich das auch erlauben.
— Ich bin doch auch schön, nicht wahr?Der Arbeitsminister polemisiert dagegen und behauptet, wir wollten das Versicherungsprinzip aushebeln. Das sagt er hier, ohne überhaupt begriffen zu haben, um was es dabei geht.
Uns geht es nur darum, bei geringem oder fehlendem Einkommen eine Grundsicherung zu Lasten des Bundeshaushalts zu gewährleisten — das ist es schlicht und einfach —, um Armut im Alter zu verhindern und die Armen nicht auszugrenzen. Das ist doch ganz einfach!
Weshalb das ein Eingriff in das Versicherungsprinzip sein soll, ist Blüms Geheimnis, vielleicht auch noch Herrn Quartiers Geheimnis; unser Geheimnis ist es nicht.Das Versicherungsprinzip ist ein lobenswertes Prinzip — auch für uns —, wenn es besagt, daß ein durch Beiträge erworbener Anspruch nicht weggenommen werden darf. Gegen dieses Prinzip verstößt nicht die SPD, sondern der Arbeitsminister hat dagegen eklatant verstoßen. Ich erinnere nur an die Einführung der Einkommensanrechnung bei den auch durch Beiträge erworbenen Witwenrenten und an die Streichung von Ansprüchen auf Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente, die vor allem auf Kosten der Frauen vorgenommen worden ist.
Mit dem Versicherungsprinzip wird Schindluder getrieben, wenn man aus ihm die Weigerung ableitet, diejenigen, die keine ausreichenden Versicherungsansprüche erwerben konnten, besser als bisher zu behandeln. Wer so argumentiert, schürt Sozialneid von oben und Aggressionen gegen Minderheiten.
Nachdem der Sozialbeirat sein Gutachten vorgelegt hat, ist es nun allerhöchste Zeit, daß die Bundesregierung Farbe bekennt. Das muß präzise geschehen, nicht in allgemeinen Formeln, damit die Rentner und die Beitragszahler wissen, woran sie sind. Versprochen worden ist es uns von Herrn Bundesarbeitsminister Blüm schon lange. Das muß aber auch für die Bundesregierung insgesamt geschehen — nicht nur durch den Arbeitsminister oder gar seine Beamten in Fachzeitschriften — damit die Bürger wissen, ob auch der Finanzminister, der Wirtschaftsminister, die CDU/CSU in ihrer Gesamtheit und die FDP hinter dem Konzept stehen oder aber der Arbeitsminister wieder einmal — wie so gerne — nur mit Seifenblasen gespielt hat.
Das muß vor allem vor der nächsten Bundestagswahl geschehen, damit die Wählerinnen und Wähler rechtzeitig wissen, wem sie bei der nächsten Wahl ihre Stimme zur Lösung der sozialpolitischen Probleme in unserem Lande geben sollen.
Schönen Dank.
Das Wort hat Frau AdamSchwaetzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Glombig hat hier vorhin einen Gegensatz aufzubauen versucht, der gar nicht existiert. Er hat nämlich versucht, uns weiszumachen, die Aussage „Die Renten sind sicher" würde einen Widerspruch zu dem darstellen, was wir heute diskutieren, nämlich eine langfristig wirkende Strukturreform der Rentenversicherung.
Meine Damen und Herren, dies ist kein Widerspruch. Der Sozialbeirat bestätigt es übrigens ausdrücklich, auch in seinem Gutachten, über das wir hier heute morgen debattieren. Die Renten sind sicher, und wir müssen dafür sorgen, daß diese Aussage auch langfristig genau so gilt, wie sie heute gilt.
Politik ist j a kein statisches Geschäft, sondern Politik muß sich auf die Veränderungen einstellen, die neue Entscheidungen erzwingen. Und da, meine Damen und Herren, wissen wir alle — das hat sich in der Bundesrepublik inzwischen wirklich herumgesprochen —, daß 1995 und im nächsten Jahrhundert Veränderungen eintreten werden, die es notwendig machen, heute schon Entscheidungen zu treffen, damit die Rentner, die dann ihre Rente beziehen, auch ein ausreichendes Alterseinkommen haben werden. Deshalb werden wir uns jetzt darum kümmern, was langfristig notwendig ist.
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17050 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
Frau Dr. Adam-SchwaetzerDer Sozialbeirat hat der Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen für die jetzt laufende Legislaturperiode gute Noten gegeben. Wir haben eine finanzielle Stabilisierung und Konsolidierung der Rentenversicherung erreicht, und wir haben den Einstieg in die Bewältigung der mittel- und langfristigen Probleme geschafft, z. B. durch eine Aktualisierung der Anpassung.Ich möchte an dieser Stelle auch einmal deutlich unterstreichen, daß ich es sehr erfreulich finde, Herr Kollege Glombig, daß wir uns in den Parteien CDU/CSU, SPD und FDP in einem Punkt absolut einig sind, nämlich daß die Reform der Rentenversicherung im Rahmen des bestehenden Systems erfolgen soll. Das bestehende Rentenversicherungssystem ist reformfähig, und es ist reformwürdig.
Deshalb, so meine ich, sollten wir uns hier nicht um das Erstgeburtsrecht bezüglich des einen oder anderen Vorschlags streiten, so wie das in dem Entschließungsantrag der SPD zum Ausdruck kommt, sondern wir sollten versuchen, jetzt an einem Gesamtkonzept zu arbeiten. Ich halte auch nichts davon, Einzelmaßnahmen vorzuziehen, Herr Kollege Glombig, wie Sie das gerade noch einmal angesprochen haben. Wir wollen vielmehr ein Gesamtkonzept, und das braucht etwas Zeit zur Realisierung, zur Umsetzung in einen konkreten Gesetzentwurf. Deshalb wird diese Realisierung in der nächsten Legislaturperiode stattfinden.Liberale, meine Damen und Herren, setzen in der Alterssicherungspolitik auf die Verantwortungsbereitschaft der Bürger. Wir wollen soziale Sicherheit durch solidarische Absicherung stärken. Wir müssen dabei Raum für freiwillige und individuelle Vorsorge freihalten, um dem einzelnen möglichst viel Entscheidungsspielraum zu überlassen. Und wir müssen dafür sorgen, daß materielle Not im Alter verhindert wird.Die Vorschläge, die auch der Sozialbeirat in seinem Gutachten macht, entsprechen in weiten Teilen dem, was auch die FDP in ihrem Rentenprogramm für vernünftig und richtig hält. Wir stimmen dem Sozialbeirat in seiner Analyse in weiten Teilen zu. Langfristig liegt die Aufgabe in der Lösung der großen Probleme die die strukturelle Arbeitslosigkeit aufwirft. Deshalb ist hier eine bessere Konjunkturunabhängigkeit der Alterssicherungssysteme anzustreben.Wir stimmen auch zu, daß das Auseinanderlaufen der Einkommensentwicklung zwischen Aktiven und Rentnern eine gravierende Rolle gespielt hat. Deshalb war die FDP seit langem für die Aktualisierung der Rentenanpassung, die ja nun verwirklicht ist.Wir wissen auch, daß wir eine ungünstige Entwicklung hinsichtlich des Verhältnisses von Rentenlaufzeit zu Beitragszeit zu verzeichnen haben, weil die Menschen immer früher in Rente gehen, die durchschnittliche Lebenserwartung aber immer größer wird. Deshalb die FDP-Forderung, unter Berücksichtigung der Arbeitsmarktsituation frühestens ab Mitte der 90er Jahre eine Verlängerung der Beitragszeit anzustreben.Meine Damen und Herren, sozialer Ausgleich gehört auch zu den Aufgaben der Rentenversicherung, wie wir das bei der Gestaltung der Hinterbliebenenversorgung sehen. Leistungen aber wie die Anrechnung von Kindererziehungszeiten sind kein sozialer Ausgleich im Rahmen der Rentenversicherung, sondern da handelt es sich um allgemeingesellschaftliche Aufgaben, die aus Steuermitteln, d. h. aus dem Bundeshaushalt, zu finanzieren sind.
Wir haben dem mit der Einführung der Kindererziehungszeiten im Kindererziehungszeitengesetz, das wir im letzten Jahr verabschiedet haben, Rechnung getragen. Die Finanzierung aus Bundesmitteln ist sichergestellt.Aber, die Diskussion in der Öffentlichkeit in der Folgezeit hat uns auch gezeigt, daß es ein Fehler war eine Stichtagsregelung mit dem Jahrgang 1921 einzuführen.
Deshalb haben wir von unserem Bundesparteitag in Hannover in der letzten Woche einen ganz klaren Auftrag mitbekommen, nämlich dafür zu sorgen, daß diese Ungerechtigkeit möglichst schnell aufgehoben wird. Darum begrüßen wir es, daß nun innerhalb der Koalition an einer Lösung dieser Frage gearbeitet wird, die wir auf jeden Fall noch in diesem Jahr in einem Gesetzeswerk umsetzen wollen.
Wir haben dabei zwischen unterschiedlichen Zielvorstellungen sehr sorgfältig abzuwägen. Natürlich müssen wir dafür sorgen, daß mit der Umsetzung dieses Zieles, mit der Finanzierung aus Bundesmitteln die erreichte Konsolidierung des Bundeshaushalts nicht gefährdet wird. Deshalb befürworten wir Freien Demokraten eine Einbeziehung der älteren Jahrgänge
nach dem Alter, und zwar nach und nach in den nächsten Jahren entsprechend den Finanzierungsmöglichkeiten.
Das, meine Damen und Herren, ist für uns ein ganzwichtiger Schritt, der nun verwirklicht werden soll.Ich möchte aber noch darauf hinweisen, daß es für uns ganz wichtig ist, auch sonst den einmal vollzogenen Schritt der Anerkennung von Kindererziehungszeiten im Rentenrecht konsequent auszubauen. Das erscheint uns notwendig, auch damit die jungen Frauen in der Zukunft dazu beitragen, daß der Generationenvertrag aufrechterhalten wird. Die Situation, vor der sich viele junge Frauen heute befinden, lautet doch: Entweder sie kümmern sich
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17051
Frau Dr. Adam-Schwaetzernur um ihre Familien und die Kindererziehung und haben im Alter nur eine sehr kleine Rente, oder sie entscheiden sich für die volle Berufstätigkeit und sind im Alter sehr gut versorgt. Dies ist eine Entscheidungsalternative, die falsch ist. Wir dürfen die Familien nicht vor dieser Alternative stehen lassen. Deshalb ist es notwendig, die Anrechnung von Kindererziehungszeiten konsequent auszubauen.Zur langfristigen Sicherung der Renten müssen alle beitragen. Das wird immer wieder hervorgehoben. Das ist auch richtig. „Alle", das bedeutet: die Beitragszahler, die Steuerzahler über den Bundeszuschuß und die Rentner. Wenn wir sagen, alle müßten dazu beitragen, dann möchte ich gleichzeitig darauf hinweisen, daß es sich sehr wohl als eine Illusion herausstellen könnte, wenn heute schon Bestandsgarantien dafür abgegeben werden, daß das Rentenniveau auf der jetzigen Höhe stabilisiert wird. Sicherlich ist es vernünftig, in der Rentenformel zu verankern, daß es einen gleichgewichtigen Anstieg zwischen dem aktiven Einkommen der Arbeitnehmer und dem Einkommen der Rentner gibt. Es hat lange gedauert, bis die Volksparteien diese Forderungen, die die FDP 1977 aufgestellt hat, nachvollzogen haben.
— Das können Sie nachlesen; dann brauchen Sie sich nicht totzulachen.Deshalb scheint es uns auch vernünftig zu sein, ganz ruhig, aber auch sehr mutig darüber zu sprechen, wie die langfristige Entwicklung aussieht und ob es tatsächlich möglich sein wird, das jetzige Rentenniveau zu halten.
— Frau Fuchs, dann müssen Sie auch sagen, wie Sie das finanzieren wollen.
In diesen Punkten stehen nämlich Ihre Finanzierungsvorschläge auf durchaus tönernen Füßen.
Wenn es denn richtig sein sollte, daß es auf die Dauer Korrekturen am Rentenniveau geben muß, dann wird allerdings auch die Diskussion darüber unvermeidlich, wie und ob es eine Mindestsicherung geben sollte. Hier hat der Sozialbeirat ein paar nachdenkenswerte Anregungen gegeben: ob es eine beitragsbezogene Mindestrente geben könnte oder aber eine bessere Verzahnung von Rente und Sozialhilfe oder aber auch die Fortführung der Regelung der Rente nach Mindesteinkommen. Der Sozialbeirat warnt allerdings vor dem von der SPD favorisierten Modell, weil es das nach seiner Meinung am wenigsten beitragsbezogene ist. Die Überlegungen sind auch deshalb so wichtig, weil hier —insbesondere bei Frauen — die Angst vor dem Alter abzubauen ist.Begrüßenswert scheint uns auch der Vorschlag und die Anregung des Sozialbeirats, einmal darüber nachzudenken, ob die Personen, die Pflegebedürftige betreuen, hinsichtlich künftiger Alterssicherungen nicht besser abgesichert werden können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, keine Zwischenfragen. In der gesamten Diskussion wird die Frage der Gestaltung des Bundeszuschusses eine wichtige Rolle spielen. Der Sozialbeirat schlägt vor, daß er erheblich erhöht werden sollte.
— Das sage ich gleich, Herr Glombig. — Dazu muß man sich einmal vor Augen halten, daß der Bundeszuschuß seit 1957 relativ konstant geblieben ist, nämlich um 10 % des Bundeshaushalts herum. Eine allmähliche Erhöhung auf 20 °A) würde uns schon vor erhebliche Probleme stellen, denn das würde bedeuten, ihn nach dem derzeitigen Stand auf etwa 44 Milliarden DM im Jahr zu erhöhen. Eine weitere Erhöhung auf 30 % sieht der Sozialbeirat selber als problematisch an. Sollte der Bundeszuschuß auf diese Höhe —20 % oder vielleicht sogar 30 % — steigen, dann, denke ich, wird die Diskussion einer Frage unausweichlich sein. Sie lautet: Wie wird er eigentlich auf die einzelnen Beitragszahler verteilt? Das ist der Anknüpfungspunkt für die wirklich sehr langfristigen Überlegungen, die Wolfgang Mischnik im Alleingang — ich betone hier: im Alleingang — angestellt hat.Die Neuordnung der Anrechnung und der Bewertung beitragsloser Zeiten ist geboten. Es wird bei der Bewältigung der langfristigen finanziellen Probleme möglich sein, hier einigen Finanzspielraum zu gewinnen. Der Ansatz des Sozialbeirats, möglichst viele Ausfallzeiten zu Beitragszeiten zu machen, ist sicherlich richtig, allerdings stellt sich die Frage, wer das bezahlen soll. Wir glauben deshalb, daß es möglich sein sollte, eine gestaffelte Berücksichtigung von Ausfallzeiten auf Grund einer Ausbildung einmal zu prüfen. Hier wäre dann auch die Frage der Gleichbehandlung mit Kindererziehungszeiten zu prüfen und die Regelung eventuell so zu gestalten.Wichtig erscheint uns in dem Zusammenhang, daß die Notwendigkeit der Halbbelegung auf jeden Fall abgeschafft wird, denn das Prinzip des Alles oder Nichts entspricht sicherlich nicht unsere Forderung nach beitragsbezogener Gestaltung der Rente.Modellberechnungen zeigen im übrigen, daß eine Kombination verschiedener Maßnahmen der angeführten Art erst im Jahre 2001 zu einer Erhöhung des Beitragssatzes von 18,5 % auf dann 19,6 % führen würde.Der Sozialbeirat hat ebenfalls weitergehende Überlegungen angestellt, in denen er darauf hinweist, daß möglicherweise in der zweiten Hälfte der 90er Jahre eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit
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17052 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
Frau Dr. Adam-Schwaetzerin Frage kommt. Wir begrüßen diese längerfristigen Überlegungen, denn sie decken sich auch mit den unseren.Meine Damen und Herren, insgesamt müssen wir sagen: Für die jetzt beginnende Diskussion darf es kein Tabu geben. Es darf kein Tabu geben: Das bezieht sich auf alles, auf den Beitragssatz, die Rentenanpassung, das Rentenniveau, das Rentenzugangsalter. Überall muß es möglich sein, Lösungsvorschläge vorurteilsfrei abzuwägen, um dann zu entscheiden, welche Lösungen alle gleichmäßig belasten. Dazu gehört Mut, denn es wird nicht abgehen, ohne daß das eine oder andere an Besitzständen verändert wird.
Wir wissen j a alle: Die Besitzstandsdiskussion ist sehr, sehr schwierig. Aber diesen Mut müssen wir zeigen, und dazu fordere ich auf. Ich bin überzeugt, daß es dann möglich sein wird, Lösungen zu erarbeiten, die wenigstens in dem einen oder anderen Punkt zur Übereinstimmung führen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bueb.
Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gutachten bauen die Ideologen der herrschenden Rentenpolitik weiter am Popanz der demographischen Entwicklung. Der bisherige Vorsitzende, Professor Helmut Meinhold, wurde in den letzten Jahren nicht müde, das Gespenst der drohenden sogenannten Alterslast an die Wand zu malen.Welches Menschenbild steht eigentlich hinter dem Wort Alterslast? Allein dieser Begriff macht uns mißtrauisch. Dem technokratischen Planer mögen alte Menschen tatsächlich nur als ein ökonomischer Belastungsfaktor erscheinen. Das beunruhigende an den jüngsten Meldungen über die nationalsozialistische Vergangenheit von Professor Meinhold ist für uns nicht unbedingt die Tatsache, daß ein Dreißigjähriger im Dienst der Nazis gestanden hat. Beängstigend erscheint uns die Kontinuität des Denkens, die sich in Begriffen wie „Altenlast" widerspiegelt. Menschen, die in diesem Produktionsprozeß nicht mehr verwertbar erscheinen, gelten als Last. Diesem ökonomisch verkürzten technokratischen und produktivistischen Menschenbild entwachsen schließlich inhumane Konzepte: Anstatt Armut durch Solidarität und Umverteilung zu bekämpfen, werden die Armen — oder hier die Alten — an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Im Faschismus wurden die Unproduktiven schließlich ermordet.Es bleibt an dieser Stelle zu fragen, ob ein Mann wie Professor Meinhold, der mit seinen höchst zweifelhaften Ansichten die Rentenpolitik seit Bestehender Bundesrepublik maßgeblich mitbestimmt hat, dem Sozialbeirat noch angehören sollte.
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Da die Empfehlungen des Sozialbeirates ihre Legitimation im wesentlichen aus der angeblichen bedrohlichen demographischen Entwicklung beziehen, müssen wir die These von der „Demographie als Schicksal" hinterfragen. Scheinbar im Interesse der Alten wird mit dieser Diskussion das Feld bereitet, um langfristig massive Einschnitte in der sozialstaatlichen Absicherung der Menschen möglich zu machen.Ein sich erhöhender Anteil von alten Menschen in der Gesellschaft ist selbstverständlich eine soziale Herausforderung. Auf der anderen Seite wird sich hoffentlich das sozio-kulturelle Verständnis dessen, was eigentlich Alter ist, in der Zukunft verändern. So meinen wir, daß die Grenze zwischen Alter und Erwerbsleben wieder erheblich durchlässiger werden müßte. Wir halten aber die zwangsweise Anhebung des Rentenzugangsalters auf 70 Jahre, sowie es in dem Sozialbeiratsgutachten angesprochen wird — im übrigen wird in diese Richtung von zahlreichen Regierungspolitikern auch laut gedacht —,
für einen falschen Weg. Vor kurzem haben noch einige von Ihnen für die Herabsetzung des Rentenalters plädiert.An diesem Beispiel wird deutlich, welchen Wert alte Menschen für Sie eigentlich haben: Sie stellen für Sie, je nach ökonomischer und arbeitsmarktpolitischer Marktlage, eine Manövriermasse dar. Dagegen sollte die Wahlfreiheit zwischen Erwerbsleben und Nicht-mehr-Erwerbstätigkeit für jeden alten Menschen gegeben sein.Aus diesem Grunde plädieren wir für einen universellen Grundrentenanspruch ab dem 60. Lebensjahr. Wir plädieren für die Möglichkeit eines Teilrentenbezuges, wie er sich in Schweden seit vielen Jahren bewährt hat, so daß eine Erwerbstätigkeit ohne Zwang bis ins hohe Alter möglich sein könnte.
Dieses Gutachten wird bereits in seinen grundsätzlichen Annahmen, den sozio-kulturellen und bevölkerungstheoretischen Annahmen, den wirklichen Herausforderungen nicht gerecht. Dies trifft für einen anderen zentralen Aspekt noch in viel stärkerem Maße zu: Mit keinem Wort beschäftigt sich dieses Gutachten mit dem gewaltigen Problem der ökologischen und sozialen Folgekosten des jetzigen zerstörerischen Industriesystems. Diese Kosten haben eine Verteuerung der Lebenshaltung zur Folge, die die ärmeren Bevölkerungsschichten am härtesten trifft, weil nämlich dort die wenigsten Reserven sind. Dies bedeutet im Klartext: Steigende Krankenversicherungs- und Rentenversicherungsbeiträge, steigende Lohnsteuer und Konsumsteuer, steigende Zuschüsse des staatlichen Haus-
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Buebhalts zur Renten- und Krankenversicherung. Diese Folgekosten machen nach Meinung vieler Wissenschaftler bereits ein Drittel unseres Bruttosozialprodukts aus.Hier müßte neben der Generalaufgabe, diese Folgeschäden endlich einmal durch eine andere Wirtschaftspolitik zu reduzieren, bei der Verteilung dieser Schäden des Industriesystems klar Partei für die sozial Schwächsten bezogen werden. Aber das Gegenteil ist in unserer Gesellschaft der Fall. Aus Untersuchungen der letzten 20 Jahre über die Verteilungskämpfe wissen wir, daß immer diejenigen, die von staatlichen Sozialleistungen abhängig sind, verteilungspolitisch auf der Strecke blieben. Dies ist angesichts der Geisteshaltung von staatlichen Gremien bei uns wie dem Sozialbeirat natürlich kein Wunder.Im Gutachten argumentiert der Sozialbeirat ganz schlicht: Mehr Alte heißt höhere Beiträge oder niedrigere Renten. Zu den höheren Beiträgen scheint wie dem Herrn Seehofer auch dem Sozialbeirat noch nicht zu Ohren gekommen zu sein, daß der Anteil menschlicher Arbeitskraft an der betrieblichen Wertschöpfung immer geringer wird. Deshalb fordern wir eine Umstellung auf eine vom einzelnen Arbeitsplatz unabhängige Bemessungsgrundlage, z. B. eine Wertschöpfungssteuer.Hinzu kommt, daß die Arbeitsplätze, die heute zur Rentenfinanzierung herhalten, zu mehr als zwei Dritteln von Männern gehalten werden. Solange die Erwerbsquote von Frauen in der Bundesrepublik Deutschland immer noch auf dem Niveau von Spanien und Süditalien liegt, solange also Frauen systematisch vom Zugang zum Arbeitsmarkt abgehalten werden, ist natürlich jede Veränderung der Relation Alte/Junge auch ein finanz- und sozialpolitisches Problem. Wären Frauen gleichermaßen wie Männer erwerbstätig — was eben nicht nur heißt, abhängig beschäftigt zu sein, sondern auch selbständig oder im Rahmen eines gemeinschaftlichen Betriebs — dann hätte auch das Finanzierungsproblem der Alterssicherung ein erheblich geringeres Ausmaß.Kommen wir nun zu den konkreten rentenpolitischen Vorschlägen des Sozialbeirats. Der Sozialbeirat wehrt sich mit aller argumentativen Macht gegen den Vorschlag der Einführung einer Grundrente, wie er in Form eines durchdachten Modells allein von den GRÜNEN im Bundestag vorgelegt worden ist. Eine Umstellung sei nicht „tragbar", heißt es beim Sozialbeirat. Die Einführung einer Grundrente als langfristige Rentenreform ginge nur bei einem „völligen Neuaufbau", ja, ein Grundrentensystem sei weder mit dem Grundgedanken des deutschen Rentensystems, der lohnbezogenen Rentenformel, noch mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn es die Beamten einbezöge.Wir bestreiten diese Position. Sie hat mit Wissenschaftlichkeit überhaupt nichts zu tun. Die im Gutachten des Sozialbeirats ausführlich begründete Ablehnung einer Grundrentenreform ist in unseren Augen nichts anderes als die wissenschaftlich verbrämte Verteidigung eines herrschenden konservativen Politikmodells. Leider schließen sich dem auch die Sozialdemokraten an.
Die GRÜNEN im Bundestag haben mit dem 1985 vorgelegten Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung nachgewiesen, daß die Einführung eines Systems aus steuerfinanzierter Grundrente und beitragsfinanzierter Zusatzrente mit Ehegattensplitting und damit einer eigenständigen Alterssicherung für Frauen — das ist das Entscheidende; dazu möchte ich auch einmal die Sozialdemokraten hören — bis auf einen Fehlbetrag von 16 Milliarden DM finanzierungsneutral wäre.
Würden Selbständige und Freiberufler gleichermaßen in das Beitrags- und Steuersystem für eine Grundrente einbezogen, so wäre eine solche Rentenreform nahezu finanzierungsneutral.
— Diesen Zahlen sollten Sie sich endlich einmal stellen, statt dauernd zu behaupten, das wäre nicht zu finanzieren. Das gilt auch für Sie, Herr Blüm. Wenn wir im Fernsehen eine Diskussion haben und Sie sagen, das sei nicht zu finanzieren, dann zeigen Sie mir einmal, wo das nicht zu finanzieren wäre.
Natürlich machen die Übergänge wie bei jeder Rentenreform gewisse Probleme. Doch sind sie lösbar. Wir haben vorgeschlagen, sukzessive oben einzufrieren und unten aufzustocken. Wir haben vorgeschlagen, uns eben nicht, wie der Sozialbeirat dies tut, auf eine Ministrukturreform zu beschränken, sondern eine Reform an Haupt und Gliedern in allen Alterssicherungssystemen anzugehen.Es ist ja kein Zufall, daß in diesem Gutachten die Frage der Harmonisierung der Alterssicherungssysteme nicht einmal angesprochen wird. Durch eine wirkliche Harmonisierung, die die Abschaffung der feudalen Strukturen
zwischen den Alterssicherungssystemen zum Inhalt hätte, könnten Milliardenbeträge umgeschichtet werden, die denen zugute kommen könnten, die es nötig haben, nämlich den unteren Einkommen.Wie uns von vielen Seiten und gerade aus der Bevölkerung bestätigt wird, ist das Rentenmodell der GRÜNEN in hohem Maße vernünftig und durchsichtig.
Das Modell aus Grundrente und beitragsbezogener finanzierter Zusatzrente verknüpft im übrigen beide Ansätze, die auch im Rahmen des Gutachtens des Sozialbeirats angesprochen werden. Das Modell der GRÜNEN erfüllt auf der einen Seite die zentrale Aufgabe der gesetzlichen Rentenversicherung, die nur durch die Solidarität aller erreicht werden
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17054 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
Buebkann, nämlich die Verhinderung von Altersarmut. Dies lösen wir mit der Einführung einer Grundrente. Dem Anspruch auf eine Lebensstandardisierung im Alter werden wir mit einer beitragsbezogenen Zusatzrente gerecht.Wir haben wiederholt und auch in jüngster Zeit Sofortmaßnahmen vorgeschlagen, die dieses Problem der Altersarmut jetzt und sofort angehen sollen. So fordern wir eine umgehende Aufstockung der kleinen Renten auf mindestens 1 200 DM pro Person und Monat. Herr Glombig soll mir nachweisen, wo die von uns vorgelegten Finanzierungsvorschläge nicht seriös sind. Ich möchte das endlich mal hören. Es sollte hier nicht andauernd nur gesagt werden: Das geht nicht. Ich möchte, daß Sie sich einmal zu unseren Finanzierungsvorschlägen äußern. Das würde mich mal interessieren, Herr Globig.
Wir fordern die Anerkennung der Kindererziehungszeiten, vor allem rückwirkend - da sind wir uns mit den Sozialdemokraten einig — für die Trümmerfrauen, die noch weniger Alternativen als heute zur Erwerbsarbeit hatten. Wir fordern das Beitragssplitting zwischen Eheleuten, um eine eigenständige Alterssicherung für Frauen aufzubauen. Ich möchte sagen, daß wir Ihren Gesetzentwurf hier ausdrücklich unterstützen, der heute hier noch diskutiert wird. Ich hoffe aber, daß wir ihn in den Beratungen des Ausschusses noch verbessern können. Aber zunächst einmal bin ich und ist die Fraktion der GRÜNEN grundsätzlich damit einverstanden.
— Bitte, bitte.Auch im Hinblick auf die Besteuerung der Renten erscheint uns die Diskussion des Sozialbeirats in höchstem Maße einseitig und auf die Sicherung von heute herrschenden Privilegien fixiert. Es ist in höchstem Maße vernünftig und angemessen, wenn Renten genauso wie andere Einkommen auch besteuert werden. Wir plädieren deshalb für eine externe Rentenbesteuerungslösung, bei der allerdings — das ist für uns entscheidend - der Betrag der Grundrente gleichzeitig Steuerfreibetrag ist. Alles andere darüber hinaus ist zu besteuern und eben nicht nur der Ertragsanteil, wie es vorgeschlagen wird, da die eigenen Beiträge zur Rentenversicherung bei der Abführung nicht zu versteuern waren. Natürlich ergeben sich aus einer solchen Veränderung gleichzeitig eine Reihe von Veränderungen im Steuerrecht selbst.
— Wenn Sie was zu sagen haben, Frau Fuchs, dann melden Sei sich doch!
Ich beantworte Ihre Frage dann.
Im Unterschied zur Auffassung des Sozialbeirates erscheinen uns solche Veränderungen im Steuerrecht erwünscht und plausibel. So ist es beispielsweise für uns überhaupt nicht einzusehen, warum die Leistungen einer Lebensversicherung steuerfrei ausbezahlt werden soll.Ein weiterer zentraler Punkt ist die Frage des Bundeszuschusses. Hier freuen wir uns ausnahmsweise mal mit dem Sozialbeirat, daß auch er die Notwendigkeit einer deutlichen Anhebung des Bundeszuschusses sieht. Die Kopplung des Bundeszuschußniveaus an die Ausgaben und die Beitragsentwicklung der Rentenversicherung ist zweifellos notwendig und richtig. Dies haben wir bereits mit einem Antrag 1983 im Bundestag vertreten, den Sie aber alle abgelehnt haben.Ein derartig erhöhter Bundeszuschuß ist für uns vor allem als sozialpolitische Intervention gegen Ungerechtigkeiten zu verwenden. In erster Linie könnte damit das Problem der Anerkennung von Erziehungszeiten der heutigen alten Frauen gelöst werden. Wir fordern nicht nur 25 DM im Höchstfall, sondern wir fordern in unserem Grundrentenmodell drei Erziehungszeitenjahre. Damit und mit einer sofortigen Aufstockung der heutigen Kleinstrenteneinkommen könnten das Problem der Altersarmut und damit die Ungerechtigkeiten während des Erwerbslebens zumindest ein Stück weit ausgeglichen werden.Begreift man den Bundeszuschuß als Solidarmoment der gesetzlichen Altersversicherung, dann erscheint es uns jedenfalls nur konsequent, längerfristig eine Rentenreform mit dem Ziel einer steuerfinanzierten Grundrente durchzusetzen. Dem Wirrwarr der verschiedenen Alterssicherungssysteme, der das — —
— Mach mal!
Herr Abgeordneter, erstens erteilt der Präsident das Wort, zum anderen weist er darauf hin, daß der Redner noch 13 Sekunden zum Sprechen hat. Ich möchte das nicht verlängern.
— Wenn es in der Zeit abzuwickeln ist, ja.
Herr Kollege Bueb, halten Sie es für richtig, daß eine Rente versteuert wird, obwohl ich schon während meines gesamten Arbeitslebens mein Bruttoeinkommen versteuert habe, d. h. daß ich nach dem Arbeitsleben für dieses Geld erneut Steuern zahlen soll?
Dafür habe ich einen Steuerfreibetrag. Das wissen Sie genauso wie ich. Sie können das dann wieder absetzen.Dem Wirrwarr der verschiedenen Alterssicherungssysteme, der das Vernebelungsspiel der angeblichen Rentenwissenschaftler erst ermöglicht hat, ist das notwendige Ende zu bereiten. Das ist durch ein klares, überschaubares Alterssicherungsmodell erreichbar. Wir jedenfalls sehen in dem Modell einer steuerfinanzierten Grundrente, auf der
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Buebeine beitragsfinanzierte Zusatzrente aufbaut, die geeignete Lösung.
Ich erteile das Wort dem Herrn . Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte eine Vorbemerkung zu dem machen, was Herr Bueb bezüglich der Nazi-Vergleiche und gar des Verdachts einer Kontinuität vorgetragen hat.
Ich empfehle uns allen — nicht nur Ihnen —, NaziVergleiche nicht als Waffe gegen politische Gegner zu benutzen. Wer das macht, beleidigt nicht den Gegner, sondern schändet das Andenken der Opfer des Nazi-Regimes. Der verharmlost die Nazis. Die Nazis waren keine sozialpolitische Variante, sie waren ein System der Unmenschlichkeit.
Lassen Sie es in der Ungeheuerlichkeit, in der Einmaligkeit, und benutzen Sie nicht die Keule des Nazi-Vergleichs in der sozialpolitischen Debatte.
— Ich sage auch etwas zu Herrn Meinhold. Wer die Würde des Menschen nicht nur als Programmsatz achtet, urteilt nicht vorschnell, sondern untersucht Vorwürfe.
Das werden wir tun. Aber wir werden uns Ihrer vorschnellen Beschuldigung entziehen. Wir werden vielmehr sorgfältig die Texte, die es über den Betroffenen gibt, untersuchen.
— Diejenigen, die von Datenschutz reden und immer die Gefahr des Obrigkeitsstaats an die Wand malen, sind im Produzieren von Vorwürfen gegen Mitbürger, die ihnen nicht ins Konzept passen, relativ schnell, muß ich sagen.
Nun zur Sache selbst. Heute vor zwei Wochen hat unsere Rentenversicherung ein kaum beachtetes und doch bemerkenswertes Jubiläum gefeiert. Am 23. Mai jährte sich zum 30. Mal der Tag, an dem das Bundeskabinett unter Konrad Adenauer den Gesetzentwurf zur großen Rentenreform verabschiedet hatte, der dann 1957 in Kraft getreten ist. Mit dieser Rentenreform wurde ein neues Kapitel der Sozialpolitik aufgeschlagen, ja, man kann es die kopernikanische Wende der Rentenpolitik nennen.
Die Rentner sind nicht mehr Objekt staatlicher Fürsorge, sondern Subjekt einer solidarischen Selbsthilfe. Rente ist nicht staatliche Zuteilung, sondern selbst erarbeiteter Anspruch. Adenauer holte die Rentner aus der Nähe der Fürsorgeempfänger und brachte sie in die Nachbarschaft der Lohnempfänger. An diesem Umzug vom Fürsorgeempfänger zum Alterslohnempfänger hält diese Regierung fest.
Das muß gar keinen Unterschied in Mark und Pfennig ausmachen, obwohl es auch einen Unterschied in Mark und Pfennig ausmacht. Aber es macht einen gewaltigen Unterschied aus, ob ich eine soziale Leistung als Zuteilung oder in dem Bewußtsein erfahre, daß ich sie selber verdient habe. Ich bleibe dabei: Kein Rentner, ob er hier sitzt oder draußen zuhört, muß für seine Rente danke schön sagen. Die hat er sich selber sauer verdient, und in diesem Bewußtsein lassen wir ihn.
Zum hundertsten Mal und, wenn es sein muß, noch hundertmal wiederhole ich: Rente ist nichts anderes als Alterslohn für Lebensleistung. Wer viel Beitrag und lange Jahre Beitrag gezahlt hat, muß mehr und höhere Rente erhalten als derjenige, der wenige Jahre und einen geringeren Beitrag gezahlt hat.
Herr Bueb, ich möchte das System gern im Zusammenhang darstellen; vielleicht beantwortet das ja auch Ihre Frage. Aber wenn Sie unbedingt wollen, bitte sehr.
Sie gestatten also die Zwischenfrage?
Ja.
Herr Minister, Sie haben eben gesagt, Rente ist Leistung für Erwerbsarbeit. Halten Sie es für richtig, daß Frauen, die zwar ihr ganzes Leben lang gearbeitet, aber keinen Lohn bezogen haben, weil sie vielleicht Verwandte gepflegt oder dem Mann das Essen gekocht haben — diese Personengruppen machen einen großen Teil unserer Gesellschaft aus —, keine eigenständige Rente erhalten, sondern immer nur von der Rente ihres Mannes abhängig bleiben sollen? Halten Sie das für gerecht?
Herr Bueb, zunächst möchte ich folgendes festhalten, damit es keine Verwechslung gibt. Unser Sozialstaat hat ein sehr hohes Niveau. Wir sind immer noch ein wohlhabendes Land und werden es auch bleiben. Es wäre schlimm, wenn in diesem Lande einer ins Elend gestoßen würde. Wir brauchen einen Sozialstaat, der uns davor bewahrt, daß Menschen Hunger leiden. Aber ich bleibe auch dabei, daß die Rentenversicherung die Aufgabe hat, das Lebenseinkommen ins Alter fortzusetzen. An-
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Bundesminister Dr. Blümdere Probleme dagegen müssen wir mit anderen Instrumenten lösen.
Wir sind ja dabei — vielleicht ist das Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, Herr Bueb —, zum erstenmal Pflege anzuerkennen. Gerade das, was Sie fordern, tun wir jetzt. Wir sind dabei, die Kindererziehung endlich in der Rentenversicherung anzuerkennen.Ich bleibe dabei: Zur Bekämpfung der Armut und zur Bewahrung vor Not hat der Sozialstaat andere Instrumente als die Rentenversicherung. Wer alles mit allem vermischt, stellt das große Kuddelmuddel her, und in diesem großen Kuddelmuddel weiß niemand mehr, wer wessen Hand in wessen Tasche hat. Es weiß dann so gut wie niemand mehr, ob er selbst einen Anspruch erworben hat oder ob ihm etwas zugeteilt wird. Möglicherweise kommen Bürger in Bittstellerposition, wenn sie nur das erhalten, was sie selber finanziert haben.Ihre Ideen kommen mit manchmal so vor, als schickte ich mir selbst eine Postüberweisung und bedankte mich beim Briefträger, daß er mir das Geld zurückbringt.
Das ist Ihr Umverteilungsstaat: von den rechten in die linken Hosentaschen. Wir bleiben bei unserem System, das übersichtlich ist.Ich bleibe auch dabei, Herr Bueb, daß Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zwei ganz wichtige Sozialprinzipien sind. Schlimm wäre eine unbarmherzige Gesellschaft. Dennoch bin ich dafür: Ersetzt die Gerechtigkeit nicht vorschnell durch Barmherzigkeit! Wir nehmen sonst den Bürgern den Anspruch, für Leistung auch Gegenleistung zu erhalten. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit prägen unser Rentensystem.
— Ich muß Sie daran erinnern, Ihre Fraktion hat beschlossen, bei meinen Debattenbeiträgen keine Zwischenrufe zu machen, weil Sie den Bumerangeffekt fürchten.
Nicht daß ich Sie jetzt rügen würde, aber Frau Fuchs hat gerade „pst!" gerufen. Das sage ich fürs Protokoll.
Ich sage das noch einmal: Frau Fuchs hat gerade „pst!" gerufen, damit niemand dazwischenruft, weil die SPD seit geraumer Zeit den Bumerangeffekt bei Zwischenrufen in der Rede Blüm fürchtet. Das wollte ich nur fürs Protokoll festhalten.
-- Sie machen schon wieder einen Fehler; Sie sollen nicht dazwischenrufen.Übersetzt heißt dies, das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit in die Generationensolidarität zu bringen. Jeder Rentner erhält relativ so viel, wie er als Erwerbstätiger zur Finanzierung der damaligenRente gezahlt hat. Jeder Junge erhält also im Alter von seinem späteren Nachfolger so viel, wie er für die Vorgänger übrighatte. Das ist die große Idee der Adenauerschen Rentenreform. Darin sind wir konservativ: Diese Rentenreform, diese Uridee verteidigen wir, wenn es sein muß, mit Zähnen und Klauen gegen alle Versuchungen.
Ich stelle dies bewußt an den Beginn meiner Rede, weil ich glaube, daß die Rentner nicht von den Rastellis leben, die jeden Tag neue Ideen haben und jeden Tag einen neuen Ball in die Arena werfen. Rentenpolitik braucht Zuverlässigkeit, Kontinuität und Beständigkeit.
Die Rentner müssen wissen, wie es weitergeht. Das Schlimmste, was der Rentenpolitik passieren kann, ist dieses ständige Rentenhickhack. Wir sind gegenüber der älteren Generation verpflichtet, eine rentenpolitische Einigung zu suchen. Es gibt keinen CDU-Rentner und noch nicht einmal einen grünen Rentner. Es gibt nur Rentner ohne jede Farbe.Deshalb appelliere ich, den Versuch zu unternehmen, zu einer großen rentenpolitischen Einigung zu kommen. Für Streit haben wir noch genug Platz. Laßt uns in der Rentenpolitik eine große rentenpolitische Einigung versuchen. Je mehr Einigung, um so besser für die Rentner. Ich glaube nicht, daß irgend jemand davon profitieren wird. Das wird keine Partei, die auf Kosten von Rentnerangst Stimmungen macht. Ich glaube, das wird sich — Gott sei Dank — bitter rächen.Der Sozialbeirat legt jedenfalls ein Gutachten gegen die Panikmacher vor. Dafür danke ich ihm, daß er vor Panikmache gewarnt hat, daß er den Rentnern mit der Autorität eines unabhängigen Gremiums zugerufen hat,
in dem die Sozialpartner, Gewerkschafter, Arbeitgeber und die Wissenschaft sitzt: Es besteht kein Grund zur Befürchtung. Diese Rentenversicherung ist solide finanziert.Wir haben die Rentenversicherung aus dem Dreck gezogen. Aber da kommt Herr Glombig her und sagt, die Rentenvorräte reichten nicht lange genug. Ja, mein Gott, Herr Glombig, haben Sie vergessen, daß die Rentenkasse, wenn Sie in der Regierung geblieben wären, im Sommer 1983 zahlungsunfähig gewesen wäre?
Sie kommen daher, fahren den Karren gegen den Baum, steigen aus und sagen, Sie seien der beste Fahrlehrer. So machen Sie doch Politik. Meine Damen und Herren, Sie setzen doch offenbar auf Gedächtnisschwund bei den Bürgern.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17057
Bundesminister Dr. BlümWir haben die Rentenversicherung vor der Einsturzgefahr bewahrt. Das ist, wie ich meine, die beste Nachricht, daß wir jetzt in Ruhe und Besonnenheit eine Reformdiskussion führen können. Wir können das Haus umbauen, ohne daß uns die Brokken um die Ohren fliegen. Wir können, ohne Einsturzgefahr befürchten zu müssen, renovieren. Ich meine, dies ist das größte Verdienst in dieser Legislaturperiode. Es ist wieder Geld in der Rentenkasse, und es kommt wieder mehr Geld in die Rentenkasse, nachdem die Rentenversicherung 13 Jahre lang nur eine Bewegung kannte, nämlich abwärts mit den Finanzen. Das ist die Wende in der Rentenpolitik. Es geht wieder aufwärts.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reimann?
Herr Minister, Sie haben jetzt mehrfach in diesem Hause behauptet, daß es 13 Jahre abwärts gegangen sei. Der Herr Kollege Ehrenberg hat in seiner letzten Rede schon versucht, Ihnen aus Ihren eigenen Zahlen nachzuweisen, daß es 1980 und 1981 einmal mit zwei und einmal mit drei Milliarden DM aufwärts ging. Würden Sie das denn jetzt wenigstens bestätigen?Bundesminister Dr. Blüm: Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Frage, weil ich dann wiederholen kann, daß die sozialliberale Regierung die Rentenkasse mit einer Monatsrücklage von neun Monatsausgaben übernommen hatte, aber uns mit zwei Monatsrücklagen übergeben hat. Jetzt frage ich Sie: Geht es nach dem kleinen Einmaleins von neun auf zwei abwärts oder aufwärts? Nach meiner Grundrechnungsart ist das abwärts. Sie sind abwärtsgefahren.
Es kommt nicht auf den absoluten Zahlbetrag an.
Es kommt darauf an, welche Rücklagen es für die Monatsausgaben gibt, woraus sich die Rente finanzieren kann.
— Herr Kollege, lassen Sie mich bitte meinen Text im Zusammenhang vortragen. Da gibt es auch nichts nachzufragen; neun ist mehr als zwei.
— Nein, ich bleibe nicht bei der Unwahrheit, sondern bei der Mathematik.An der Rettung der Rentenversicherung haben alle mitgewirkt: die Arbeitnehmer, die Rentner und der Staat. Das ist eine Gemeinschaftsleistung. Es ist unsere Politik, die demographischen Veränderungen auf alle Schultern zu verteilen, auf die der Arbeitnehmer durch Erhöhung der Beiträge — das ist uns auch nicht leichtgefallen —, auf die der Rentner, indem der Rentenanstieg nicht so war, wie er gewesen wäre, wenn wir nicht hätten sparen müssen, und auf die des Staates.Meine Damen und Herren, wir sind die erste Bundesregierung, die den Bundeszuschuß erhöht hat. Das steht in diametralem Gegensatz zu Ihrer Gewohnheit. Sie von der SPD haben die Rentenversicherung während Ihrer Regierung benutzt, wie andere Pfandhäuser benutzen. Sie haben den Rentenzuschuß gekürzt und gestundet. Ich habe als Erbschaft eine Kürzung von 3,5 Milliarden DM von Ihnen übernommen. Das haben Sie mir hinterlassen.
Sie haben die Rentenkasse so benutzt wie die Raubritter die Schatzkammern einer verlassenen Burg. Uns haben Sie Ruinen hinterlassen.
Meine Damen und Herren, wenn wir sparen mußten — denn das macht niemand gern —, dann nicht deshalb, weil es uns Spaß gemacht hätte, sondern weil wir die Renten retten wollten. Wir sind die Rettungssanitäter der Rentenversicherung.
Wer sich über die Schmerzen beklagen will, dem sage ich die Adresse: SPD-Parteivorstand, 5300 Bonn, Ollenhauerhaus; dahin müßt ihr eure Klagen richten.
Das Geheimrezept der SPD lautet — ich nenne es noch einmal —: Weniger sparen, mehr ausgeben. Denn das ist doch Ihr Vorwurf, wir hätten zuviel gespart und hätten zuwenig Geld. Also, wenn wir weniger gespart hätten, hätten wir nach der Philosophie der SPD mehr Geld haben müssen. Das ist allerdings das Hexeneinmaleins der sozialdemokratischen Opposition.Auch der wirtschaftliche Aufschwung hat dazu beigetragen, daß wieder mehr Geld in der Kasse ist. Mehr Beitragszahler heißt auch mehr Einnahmen. Deshalb ist Politik für die Beschäftigung und gegen die Arbeitslosigkeit auch eine Politik für die Rentner.
200 000 mehr Beschäftigte im letzten Jahr, 300 000 mehr in diesem Jahr, das heißt mehr Einnahmen, mehr Sicherheit in der Rentenpolitik.Die zweite gute Nachricht: Wir werden dennoch, wie vorgesehen, den Rentenbeitrag am 1. Januar nächsten Jahres um 0,5 % senken können. Auch das ist eine Entlastung für die Arbeitnehmer, auch ein Beitrag zur Beschäftigung; denn Beitragsanstieg, der Arbeitsplätze gefährdet, wäre sozusagen der Versuch, eine Kuh zu schlachten, von der man anschließend Milch haben will. Wenn es keine Arbeitsplätze gibt, wenn Beiträge in die Höhe steigenBundesminister Dr. Blümund Arbeitsplätze vernichten, vernichten wir die Einnahmequelle der Rentenversicherung.
— Nein, der Sozialbeirat bestätigt uns, daß diese. Maßnahmen uns Luft geschaffen haben, daß die Rentenreform solide und besonnen durchgeführt werden kann. Diese Stabilisierung, meine Damen und Herren, ist uns gelungen, ohne das Niveau der Renten zu drücken. Im vergangenen Jahr betrug das Nettorentenniveau nach 45 Versicherungsjahren 73,2 %. Es liegt damit 0,5 % höher als beim Regierungswechsel, 2,1 % höher als 1980 und 9,3 % höher als 1970.Ich nenne das Jahr 1980 mit besonderem Genuß und Nachdruck; denn dieses Rentenniveau 1980 —2,3 % niedriger als heute — ist in der Regierungserklärung von Helmut Schmidt als Rekordniveau gefeiert worden, und Sie haben vor Begeisterung geklatscht. Wer damals — verehrte Frau Fuchs, Sie haben dazugehört — bei 2 % weniger geklatscht und dies als ein Rekordniveau bezeichnet hat, der kann heute nicht Pfui rufen. Wer damals Bravo gerufen hat, muß auch heute noch zustimmen, heute bei einem um 2 % höheren Rentenniveau.
Ich bleibe auch dabei: Ob die Rentner gewinnen oder verlieren, hat nicht nur mit Rentenanpassung, sondern auch etwas damit zu tun, was man mit dem Geld machen kann. Mein Großvater war Millionär; der hat nämlich in der Inflation seinen Lohn im Leiterwagen nach Hause gefahren. Trotzdem war er bettelarm. Es hat sich gezeigt: Geld allein sagt noch nichts über Wohlstand.
Inflationsbekämpfung ist der beste Beitrag dazu, auch soziale Sicherheit zu schaffen.
Das weiß ja eine Generation, die von der Inflation betrogen wurde. Das weiß eine Generation, die die Mark dreimal umdrehen mußte, bevor sie sie einmal ausgab.
Was man sich damit kaufen kann, ist wichtig. Deshalb sage ich, es gibt eine ganz einfache Faustregel: Wenn die Preissteigerung höher ist als die Rentenerhöhung, verlieren die Rentner, und wenn die Rentenerhöhung höher ist als die Preissteigerung, gewinnen die Rentner. Bei uns gewinnen die Rentner wieder.
— Ach Herr Lutz, da können Sie rechnen, solange Sie wollen. Um 4 % war die Rente 1981 gestiegen. Sie schreien Hurra, vergessen nur, daß die Preissteigerungsrate 6 % war. Diesmal beträgt die Rentensteigerung zwar nur 2,15 %, dafür liegt aber die Preissteigerungsrate zur Zeit bei – 0,3 %. Deshalb haben die Rentner im übrigen wie die Arbeitnehmer zum erstenmal wieder realen Einkommensgewinn.Ich bleibe auch dabei — das haben Sie zu Recht vorausgesagt, daß ich noch einmal die peinliche Zahl nenne; Sie haben mich geradezu provoziert —: Dies ist ein Kaufkraftgewinn von 10 Milliarden Mark.
— Wenn Sie die Wahrheit provozieren wollen, Sie können sie nicht oft genug hören:
Wir haben dafür gesorgt, daß die Kaufkraft eines durchschnittlichen Rentnerhaushalts in einem Jahr um 1 300 Mark erhöht wird.
)
Das ist so viel wie drei Monatsmieten. Das ist fast so viel wie die Eckrente. Das ist die 13. Rente per Kaufkraft. Sie haben die 13. Rente immer als Plan angekündigt. Erinnern Sie sich an das Weihnachtsgeld für Rentner? Arendt hatte das immer angekündigt. Aber je näher der Heilige Abend kam, desto kleiner wurde das Christkind. Am Heiligen Abend war es verschwunden.
Wir haben de facto durch Kaufkraftgewinn eine 13. Rente geschaffen. Das ist eine Politik des Leistungsfortschritts. Die Verteilungspolitiker machen immer Wirbel, aber die Bevölkerung gewinnt dabei nichts.
Meine Damen und Herren, wir haben Reformen durchgeführt. Wir haben die Rentenanpassung aktualisiert und sie auf ihre eigentlichen Aufgaben konzentriert. Wir haben die Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente neu geordnet, ohne den Besitzstand der Arbeitnehmer anzugreifen, und den Krankenversicherungsbeitrag eingeführt, den auch Sie vorgeschlagen haben; ich verstecke mich gar nicht hinter Ihnen. Das ist der Solidaritätsbeitrag der Älteren für die Jüngeren; denn auch Großvater und Großmutter müssen besorgt sein, daß ihre Kinder und Enkelkinder nicht Beiträge zahlen müssen, unter denen sie zusammenbrechen. Auch das ist Solidarität, die nicht als Einbahnstraße verstanden werden darf.Wir haben die Hinterbliebenenreform durchgesetzt, Frau Fuchs, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, über die Sie sieben Jahre lang geredet haben.
— Ja, das kenne ich doch. Auf Ihrem Bahnhof hängen immer Fahrpläne; es fährt nur nie ein Zug. Sieben Jahre lang haben Sie Fahrpläne studiert; wir haben die Hinterbliebenenreform durchgeführt. Sieben Jahre lang haben Sie dafür gebraucht, Pläne zu schmieden; aber keinen Paragraphen haben Sie hier durch den Bundestag gebracht.
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Bundesminister Dr. BlümWir haben eine Hinterbliebenenreform durchgesetzt, die sozial rücksichtsvoll ist und die kleinen Rentner schont, die systemgerecht ist und die eigene Rente nicht antastet, die frauenfreundlich ist, viel frauenfreundlicher als Ihr Modell, was auch der Grund dafür ist, daß unserem Modell die Frauenverbände zugestimmt haben. Auch wenn es auf dem DGB-Kongreß zum Betriebsgeheimnis erklärt wurde, der DGB hat unserem Hinterbliebenenmodell und nicht Ihrem Modell zugestimmt. Ihnen hat der Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände zugestimmt. Das ist auch nichts Unehrenhaftes. Nur lassen Sie mich diese Traumkonstellation noch einmal nennen: CDU/CSU, FDP mit DGB, DAG und Reichsbund und Sie mit den Arbeitgebern, die ja auch sehr angesehen sind.
-- Ja, ich weiß, das paßt nicht in Ihr Weltbild. Das ist aber so.Meine Damen und Herren, wir haben die Wartezeit, um in die Altersrente zu kommen, für die Frauen gesenkt. Wir haben sie für alle gesenkt; aber es werden davon die Frauen profitieren. Nicht mehr 15 Jahre, sondern nur noch fünf Jahre muß man Beiträge eingezahlt haben.
— Das ist nicht unter Niveau, sondern das ist konkret. Ihre ideologischen Seifenblasenbedürfnisse kann ich nicht befriedigen. Herr Lutz kommt mir immer wie jemand vor, der in der Schmiede steht und ständig auf den Amboß klopft, aber gar kein Eisen dazwischen hat. Das ist die HeißluftSchmiede à la Lutz!
Wir haben es gemacht,
wir haben das Eisen geschmiedet, nämlich die Mindestbeitragszeiten gesenkt. Wissen Sie schon, was das bedeutet? Das hat im ersten Jahr dazu geführt, daß 45 000 ältere Menschen erstmals überhaupt eine Altersrente erhalten haben.
Wissen Sie auch, wieviel sie erhalten haben? 225 DM! Das ist wenig; ich gebe es zu. Es sind aber genau 225 DM mehr, als sie bei Ihnen erhalten haben; denn da haben sie null erhalten.
Außerdem haben wir für 100 000 Menschen mit Hilfe dieser Maßnahme die Rente um durchschnittlich 80 DM pro Monat erhöhen können. 90 % der so Begünstigten waren Frauen.Meine Damen und Herren, nun bitte ich auch noch zum Thema Kindererziehungszeiten um Ihre Aufmerksamkeit. 100 Jahre ist die Rentenversicherung alt, und 100 Jahre lang spielten Kinder im Rentenrecht keine Rolle. 13 von den 100 Jahren waren die Freunde des Herrn Glombig an der Regierung. 100 Jahre Rentenversicherung ohne Kindererziehungszeiten! Ich glaube, daß es nicht ein Werk der Barmherzigkeit, sondern ein Akt der Gerechtigkeit ist, daß Kinder endlich in der Rentenversicherung anerkannt werden; denn die Kinder von heute sind die Beitragszahler von morgen.
Deshalb muß derjenige, der Kinder erzieht, das auch bei seiner Rente spüren; denn er sorgt überhaupt für das Überleben, d. h. auch dafür, daß derjenige, der keine Kinder hat, auch übermorgen noch Renten erhalten wird.
Wir haben ein hundertjähriges Unrecht beendet. Wir haben Kindererziehungszeiten ins Rentenrecht eingeführt.
— Meine Damen und Herren, regen Sie sich nicht auf! Ich will gar nicht verheimlichen, daß unsere Regelung auf Anhieb keine befriedigende Lösung geschaffen hat; denn die Einführung dieser sozialpolitischen Neuigkeit haben wir an den Zugang zur Rente geknüpft. Das entspricht im übrigen einer alten sozialpolitischen Handwerksregel: Veränderungen betreffen in der Regel die Zukunft. Das gilt für Verbesserungen wie für Verschlechterungen. Das Sicherheitsprinzip „Besitzstand" hat schlechte und gute Seiten. Die Hinterbliebenenrente der zukünftigen Witwe wurde neu geregelt, und neu eingeführt für zukünftige Renten wurde auch die Kindererziehungszeit.Viele ältere Frauen haben dies als Unrecht empfunden.
Meine Damen und Herren, gerecht im umfassenden Sinne ist unser erster Schritt nicht.
Aber gerechter als bisher ist er bestimmt; denn die größte Ungerechtigkeit war, daß alle Mütter nichts erhalten. Das war die größte Ungerechtigkeit!
Wir haben einen ersten Schritt getan und endlich den Fuß in die Tür gestellt.
Ich kündige Ihnen hiermit an: Die Tür wird ganz aufgehen.
So sind solide Sozialpolitiker immer: Sie fangen mit dem ersten Schritt an; sie kündigen nicht den zweiten Schritt an, ohne den ersten gemacht zu haben. Wir haben den ersten Schritt getan,
und jetzt folgt der weitere Schritt. Wir beraten über die Finanzierung dieses weiteren Schrittes.
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17060 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
Bundesminister Dr. BlümWir sind auf gutem Wege, aber solide, wie wir sind, kümmern wir uns erst um eine dauerhafte Finanzierung, bevor wir die Entscheidung vorlegen.
Wir machen die sozialdemokratischen Bocksprünge nicht mit: vor der Wahl hoch und nach der Wahl wieder herunter. Wir kümmern uns um eine dauerhafte, solide Finanzierung der Kindererziehungszeiten für alle Mütter. Dazu zählt doch auch meine Mutter; die hat mich doch in schlimmen Zeiten des Bombenhagels, in schlimmen Zeiten von Hunger und Not erzogen. Ich weiß, was wir dieser Generation schuldig sind. Aber hätten wir die Kindererziehungszeiten nicht in einem ersten Schritt eingeführt, könnten wir heute gar nicht über eine Ausweitung diskutieren. Wir haben die Kindererziehungszeiten eingeführt!
Die Nichtstuer werfen uns jetzt vor, wir hätten zuwenig gemacht. Sie haben nichts gemacht, und uns werfen Sie vor, wir hätten zuwenig gemacht. Das ist so ähnlich, wie wenn ein Faulenzer zu einem Arbeiter sagt, er solle mehr schaffen.
Lassen Sie es mich noch einmal sagen: Ich habe den Protest dieser Generation immer verstanden,
und deshalb werden wir auch für diese Generation, die schon in Rente ist, Kindererziehungszeiten einführen. Ihren Protest habe ich verstanden. Einen Protest aber habe ich nie verstanden: den Protest der Sozialdemokratischen Partei.
Hätten Sie 1969 nur das gemacht, was wir 1986 gemacht haben, dann hätten schon 17 Jahrgänge Kindererziehungszeiten,
dann hätten schon drei Viertel derjenigen, deren Protest Sie heute verstärken, Kindererziehungszeiten!
Warum haben Sie nicht angefangen, als die Kasse noch voll war?
Hätten wir nicht die Schulden übernommen, die Sie uns hinterlassen haben, hätten wir nicht ein Kindererziehungsjahr, sondern fünf Kindererziehungsjahre einführen können.
Allein von den Zinsen für die Schulden hätten wir fünf Kindererziehungsjahre finanzieren können!
Wie kommen diejenigen, die nichts gemacht haben, die uns den Vorrat für eine Ausweitung genommen haben, dazu, hier heute als Ankläger aufzutreten?
Sie haben im Sommer das Holz verheizt und beschweren sich darüber, daß es im Winter kalt ist. So ähnlich ist doch Ihre Politik gewesen!
Meine Damen und Herren, man muß die SPD aber in Schutz nehmen. Pläne hat sie, Pläne hat sie genug. Das ist Ihr großer Vorteil gewesen: Sie haben so oft über Pläne geredet, daß manche Leute gemeint haben, Sie hätten schon etwas gemacht! Nichts haben Sie gemacht! Sie haben zehn Jahre über Pläne für ein Babyjahr gesprochen. Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, was in dem Plan stand — in dem Plan! Erstens: Das Babyjahr war auch nur für die Zukunft vorgesehen, Frau Fuchs. Zweitens: Das Babyjahr war nur für die berufstätigen Frauen vorgesehen.
Drittens: Das Babyj ahr sollte von der Rentenversicherung finanziert werden. Das hätte die Rentenversicherung bis zum heutigen Tag 18 Milliarden DM gekostet. Wir hätten die Renten kürzen müssen.
Viertens — und das ist eigentlich der Höhepunkt —: Es war als Ausfallzeit konstruiert, also von der Rentenhöhe abhängig. Kleine Rente — kleines Baby, große Rente — großes Baby.
Das waren die Pläne der SPD!
— Doch. — Und heute kommt die SPD her und will mir Vorschriften machen. Zwischen 2,50 DM und 50 DM hat Ihr Betrag für das Baby variiert.
Ich sage: Kind ist Kind. Jede Mutter bekommt, ob sie nun eine kleine Rente oder eine große Rente hat, 25 DM. Das ist unsere Einstellung zu dieser Frage.
— Ja, ja.Meine Damen und Herren, ich bleibe dabei: Wir haben entsprechend einer alten sozialpolitischen Erfahrung den ersten Schritt getan. Weitere Schritte werden wir tun. Ich lade zur Strukturreform, zur Einigung über den Weg der Rentenversicherung auf der Basis der Tatsachen ein.Wegweiser Nummer eins: Die Rente muß lohn- und beitragsbezogen bleiben. Wegweiser Nummer zwei: Die Renten können nicht den Löhnen davoneilen, die Löhne nicht den Renten. Deshalb können
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17061
Bundesminister Dr. Blümdie Renten nur wie die verfügbaren Einkommen steigen. Dritter Punkt: Wir stimmen überein: Der Bundeszuschuß muß neu geregelt werden. Vierter Punkt: Belastungen in der Rentenversicherung auf Grund von Bevölkerungsverschiebungen müssen auf allen Schultern verteilt werden. Und langfristig streben wir eine größere Freiheit bei der Bestimmung des Rentenalters an, also bei der Entscheidung, wann man in die Rente eintritt: Wer länger arbeiten will, soll länger arbeiten, wer kürzer arbeiten will, soll kürzer arbeiten. Wir brauchen — im Unterschied zu den GRÜNEN — keine Gesellschaft der Vormundschaft. Wir lassen das den einzelnen entscheiden.
Meine Damen und Herren, ich plädiere für eine Rentenpolitik mit Herz und Augenmaß. Das sind wir der älteren Generation schuldig. Eine Rentenpolitik ohne Panik, aber auch eine Rentenpolitik ohne Illusion, eine solide Rentenpolitik — das ist es, wofür diese Bundesregierung steht.
Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, muß ich folgendes sagen: Herr Kollege Glombig, ich trete zwar nicht in die inhaltliche Bewertung Ihres Zurufs ein, aber der Begriff „Lügner" ist einer, der hier zum Ordnungsruf Veranlassung gibt.
Ich habe außerdem noch eine Mitteilung zu machen, die den gestrigen Abend betrifft. In der Debatte, in der der Herr Abgeordnete Kleinert gesprochen hat, sind diesem in der Schlußphase von dem Abgeordneten Senfft zwei Zurufe gemacht worden, die ich hier rügen muß. Er muß das im Protokoll selbst finden, weil er nicht anwesend ist. Aber es geht aus dem Protokoll eindeutig hervor, daß dies zu rügen ist.
Der nächste Redner ist der Abgeordnete Heyenn. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war unverfroren und unseriös, was uns hier dargestellt worden ist.
Unverfroren war es deshalb, weil sich hier auf der einen Seite ein Arbeitsminister hinstellt und nach den großen rentenpolitischen Gemeinsamkeiten ruft und auf der anderen Seite eine Unwahrheit, eine Halbwahrheit nach der anderen absondert
und nicht einmal bereit ist, auf seine Vorredner einzugehen. Ich habe manchmal den Eindruck, Sozialabbau macht Ihnen Freude, Herr Minister. Sie versuchen hier, die Rentner für dumm zu verkaufen, wenn Sie ihnen sagen, die Preisstabilität mache einen Gewinn von 10 Milliarden DM aus. Wenn Sie, Herr Minister, seriös diskutieren würden,
dann gingen Sie z. B. auf die Zahlen ein, die der Kollege Glombig Ihnen vorgelegt hat. Er hat hier nämlich ausgeführt, daß der Kaufkraftverlust der Rentner von 1982 bis 1985 1,2 % betragen hat. Wo also ist dem Rentner zugute gekommen, was Sie hier hinsichtlich der niedrigen Preissteigerungsrate zu Recht anführen?
Herr Kollege Blüm, wenn Sie den Rentnern dies sagen, ihnen in dieser Form Sand in die Augen streuen, dann ist doch auch die Frage zu stellen, ob wir die Rentner in der Bundesrepublik nicht von diesem Pult aus auffordern müssen, Ihnen eine Postkarte mit der simplen Frage zu schreiben, wo sie sich denn bitte schön die drei Monatsmieten abholen können.
Ist es nicht der Gipfel an Unverfrorenheit, wenn hier für fünf bis sechs Millionen Bürger —, überwiegend Frauen, durch Ihre Politik die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Renten wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit wesentlich verschlechtert werden, wenn Sie es Millionen von Frauen, die krank sind und früher gearbeitet haben, heute unmöglich machen, diese Rente zum Zeitpunkt der Erkrankung zu erhalten, sondern sie aufs 65. Lebensjahr verweisen,
wenn Sie dann sagen, es sei ein großer sozialpolitischer Erfolg, daß diese Rentner, denen Sie möglicherweise zehn Jahre Rentenanspruch vorenthalten, mit 65 dann nur noch fünf Versicherungsjahre brauchen?
Dies ist Verdummung des Bürgers, Herr Arbeitsminister.
Dann reden Sie davon — ich weiß gar nicht, wie man so etwas verantworten kann; ich will Ihnen das sehr deutlich sagen —,
Geld allein mache nicht glücklich. Das sagen Sie vor dem Hintergrund, daß wir heute 300 000 Rentner haben — mit stetig steigender Tendenz —, die auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen sind, vor dem Hintergrund der Tatsache, daß es noch 300 000 gibt, die solche Ansprüche hätten, die aber aus Unkenntnis oder aus Scham diese Ansprüche nicht realisieren.
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17062 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
HeyennDann sprechen Sie vom Nettorentenniveau, Herr Bundesarbeitsminister, und übersehen dabei, daß das langsam, aber stetig durch die Politik dieser Regierung zurückgefahren wird.
Was soll denn das Gespiele mit Zahlen, Herr Bundesarbeitsminister? Mit Statistik kann sich jeder ein Bild zurechtzimmern, von dem die Leute sagen: Das könnte ja stimmen. — Aber Tatsache ist doch, daß es mit dem Nettorentenniveau abwärtsgeht.
Was sollen denn die Aufrufe zu einer gemeinsamen Rentenpolitik, wenn Sie hier lediglich Schaumschlägerei betreiben?
Darauf muß einmal etwas gesagt werden.
Welcher Rentner soll denn, wenn er die Tatsachen, seinen Einkommensverlust, sieht und diesen Arbeitsminister hört, ihm noch Glaubwürdigkeit zusprechen?Herr Kollege Blüm, Sie haben vom Handwerk gesprochen. Ich wiederhole mich hier: Es ist kein Handwerk, was Sie als Sozialpolitik betreiben; das ist lediglich Mundwerk.
Ich möchte noch einen Gedanken einbringen, der sich an das anschließt, was ich eben gesagt habe. Sie haben gesagt, Adenauers großes Verdienst sei es gewesen, mit der Rentenreform von 1957 die Rentner in die Nähe der Lohnempfänger gebracht zu haben. Hier muß ich Ihnen sagen: Durch die jetzt eingetretene und sich weiter fortsetzende Senkung des Nettorentenniveaus geraten Sie in die Gefahr, der Bundesarbeitsminister zu werden, der die Rentner in die Nähe der Sozialhilfe bringt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Blüm?
Herr Abgeordneter, können Sie widerlegen, daß unser heutiges Rentenniveau 2,3 % über jenem Niveau liegt, das Ihr Bundeskanzler 1980 als Rekordniveau bezeichnet hat? Können Sie dem widersprechen?
Herr Bundesarbeitsminister, Sie setzen das Spielchen mit frei herausgesuchten Zahlen fort. Ich will mit einer Gegenfrage antworten: Können Sie der Aussage widersprechen, daß das Nettorentenniveau im Jahre 1987 mehr als 2% unter dem Höchststand liegen wird, den wir in der sozialliberalen Koalition hatten?
Können Sie mir widersprechen, wenn ich Ihnensage, daß die Gefahr besteht, daß eine Strukturreform in der Rentenversicherung auf einem Nettorentenniveau basieren wird, das sehr viel niedriger als zu den Zeiten der sozialliberalen Koalition ist?
— Vielen Dank. Ich will dies aber gern noch ein wenig fortsetzen. Sie können doch der Tatsache nicht widersprechen, Herr Bundesarbeitsminister, daß ohne die Sparmaßnahmen der jetzigen Koalition
die Renten heute um 9 % höher liegen würden, als sie es tatsächlich sind.
Herr Bundesarbeitsminister, es ist doch unseriös, davon zu reden, wir hätten 1972 neun Monatsrücklagen gehabt und 1982 nur noch zwei. Das ist aus zwei Gründen unseriös: Wer hat denn seinerzeit mit einer Stimme Mehrheit dafür gesorgt, daß es in einem Jahr sogar zwei Rentenanpassungen gab?
Wer hat denn dafür gesorgt, daß die Selbständigen einbezogen wurden, daß Milliardenbeträge aus den Beiträgen der Arbeitnehmer zum Ausgleich dieser so erworbenen Ansprüche der Selbständigen beigetragen haben?
Herr Bundesarbeitsminister, wir haben von Ihnen wenig zum Gutachten gehört. Das einzige, was Ihnen einfiel, war die Aussage, dies sei ein Gutachten gegen Panikmache. Ich muß in der Tat sagen: Sie haben ein Gutachten gegen Panikmache bitter nötig. Wer sich hier hinstellt und davon redet, bei Sozialdemokraten seien die Renten nicht mehr finanzierbar gewesen, der muß sich doch an die Tatsache erinnern: zwei Monatsrücklagen 1982. Und wie war es im Jahre 1984? Es ist bitter: Sie mußten die Renten auf Pump zahlen, wenn auch nur vorübergehend.
Herr Bundesarbeitsminister, ich sage: Wenn Sie Gemeinsamkeit in der Rentenversicherung fordern, dann gehört hier zunächst einmal ein Bundesarbeitsminister hin, der mit der deutschen Bevölkerung glaubwürdig und auf dem Boden von Tatsachen redet.
Was ist denn mit dem Babyjahr, Herr Bundesarbeitsminister? Über die Ausgestaltung unseres Vorschlages im Jahre 1972 können wir ja reden. Wir sind seit 1972 doch auch klüger geworden.
Aber wenn Sie es damals, als wir es nur für dieZukunft einführen wollten, nicht verhindert hätten,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17063
Heyenndann hätten mehr als drei Viertel aller Frauen, die heute Rente beziehen, seit Jahren einen Zuschlag zu ihrer Rente für die Zeiten der Kindererziehung. Glaubwürdigkeit, Herr Minister, und nicht das Haschen nach billigen Augenblickseffekten nach dem Motto: Mundwerk statt Handwerk.
Herr Bundesarbeitsminister, ich teile Ihre Auffassung, daß wir die Untersuchungen über die gegen Herrn Meinhold erhobenen Vorwürfe abwarten sollten. Wir Sozialdemokraten werden uns zu gegebener Zeit hierzu äußern. Ich muß aber ein deutliches Wort zu den Dingen sagen, die auf der Pressekonferenz der GRÜNEN noch viel deutlicher als heute in der Rede des Kollegen Bueb zur Sprache kamen. Wenn der Versuch unternommen wird, von Meinholds Tätigkeit in der NS-Zeit bis zu seiner wissenschaftlichen Beratertätigkeit eine inhaltliche Kontinuität nationalsozialistischer Bevölkerungs- und Sozialpolitik herzustellen, dann ist das ein absurder und schamloser Vorgang.
Es ist auch eine Beleidigung der Arbeitnehmer, die — aus den Gewerkschaften kommend — dort mitgearbeitet haben. Es ist eine Beleidigung der Politiker -- zu denen gehöre auch ich —, die in der Vergangenheit vom Sozialbeirat Rat angenommen haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es war eine enttäuschende Bilanz, die der Bundesarbeitsminister heute morgen vorgelegt hat.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Frau Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von enttäuschenden Bilanzen wird immer dann gesprochen, wenn die Bilanzen zu gut sind. Das scheint hier wohl der Fall gewesen zu sein.
Ich möchte im Rahmen dieser Debatte zu dem Sonderproblem Stellung nehmen: Wie lösen wir in Zukunft gerade die Probleme derjenigen, die außerhalb der Erwerbsarbeit oftmals lebenslang Arbeit tun, ohne bisher im sozialen Sicherungssystem hinreichend berücksichtigt zu sein? Hier spielt nicht die Frage der Barmherzigkeit, sondern der Gerechtigkeit eine Rolle. Um diese Frage der Gerechtigkeit haben wir uns bemüht und einen großen Schritt nach vorn getan.
Es sind nicht nur die anderen, die sich um die Situation der älteren Frauen kümmern, sondern
wir kümmern uns darum in gleicher Weise. Es gilt anzuerkennen, daß sie Entscheidendes unter großen Entbehrungen und Belastungen geleistet haben. Ich hoffe, daß es in diesem Hause niemanden gibt, der ihnen diese Anerkennung verweigert.
— Warten Sie es ab!
Ich sage dies gerade auch an die Adresse derjenigen, die sich heute als große Vorkämpfer für Gerechtigkeit aufspielen, sich aber fragen lassen müssen, was sie denn für die älteren Frauen getan haben.
Wir brauchen keine Belehrung über Trümmerfrauen, schon gar nicht von Ihnen, die Sie es in den 13 Jahren nicht fertiggebracht haben, der Kindererziehung in der Rente Rechnung zu tragen.
Die Bundesregierung hingegen hat mit der Einführung von Kindererziehungszeiten ab 1. Januar 1986 in der Tat ein 100 Jahre altes Unrecht für die Zukunft ausgeräumt, daß nämlich Mütter, die Kinder erziehen, in der eigenen Altersversorgung bisher leer ausgingen. Sie hat die erste Möglichkeit genutzt, einen Einstieg in diese zukunftsweisende familien- und frauenpolitische Maßnahme vorzunehmen und dies zu verwirklichen. Sie wird auf diesem Weg verbleiben und weitere Schritte vollziehen, denn — wie eben schon gesagt —: Hier geht es nicht nur um die Anerkennung der Erziehung, sondern auch um die der außerhalb der Erwerbsarbeit geleisteten Pflegetätigkeit.
Frau Minister, würden Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig gestatten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte
Frau Ministerin Süssmuth, können Sie sich eigentlich an die Gespräche erinnern, die Sie in Ihrer früheren Eigenschaft als Vizepräsident des Familienbundes der Deutschen Katholiken mit der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion geführt haben und in denen Sie bewegt Klage über das Verhalten dieser Bundesregierung und dieser Regierungsmehrheit über die Behandlung der älteren Frauen und die Anrechnung von Zeiten der Kindererziehung geführt haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich erinnere mich an diese Gespräche sehr gut, insbesondere an das Wort von Herrn Wehner, daß es auf überschaubare Zeit keine Anerkennung von Erziehungszeiten geben könne, weil Sie finanziell nicht in der Lage
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17064 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
Bundesminister Frau Dr. Süssmuthseien, es allen zu geben. Wehner steht hier für Moralität ein.
Ich glaube, Sie können das in der Protokollnotiz nachlesen.
Sie haben jetzt eilfertig einen Gesetzentwurf zur Anerkennung von Erziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung
— ja, das stört mich nicht — für ältere Frauen vorgelegt. Die Fraktion der SPD macht es sich zu leicht, wenn sie jetzt in ihrem Gesetzentwurf vorsieht, daß alle Mütter, die am 1. Januar bereits eine eigene Rente oder eine Witwenrente beziehen, Kindererziehungszeiten als Grundlage für den Zuschlag zu ihrer Rente erhalten sollen. Nach diesem Gesetzentwurf würde eine Frau, die selbst nie versichert war und deren Mann auch nicht versichert war, selbst dann leer ausgehen, wenn sie zehn Kinder bekommen hätte. Es sollen nämlich nur Frauen, die über eine eigene Rente oder Witwenrente verfügen,
einen Zuschlag zu ihrer Rente erhalten. So leicht will es sich die Bundesregierung nicht machen. Sie will vermeiden, daß gerade die Frauen leer ausgehen, die einer Aufbesserung ihrer Altersversorgung durch die Erziehungszeiten am dringendsten bedürfen.
Ich möchte Ihnen hier sagen: Wir haben den großen entscheidenden Schritt getan. Wir werden auch den nächsten Schritt vollziehen. Wir tun dies im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten. Wir stehen kurz vor der Lösung des Problems, eines Problems, das es sozial ausgewogen und vertretbar für alle Frauen der Jahrgänge vor 1921 zu regeln gilt, und zwar so, daß es solide finanziert werden kann.Wir können heute den älteren Jahrgängen sagen, daß sie auf diese Regierung rechnen können. Sie entspricht der Erwartung der Gerechtigkeit.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Terborg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als erstes möchte ich Sie, Frau Ministerin Süssmuth, darauf hinweisen, daß die SPD bereits 1984 die Einführung des Babyjahrs gefordert hat.
— Ich komme auf 1972 zu sprechen. Vielleicht lassen Sie mich erst einmal anfangen.Wir begrüßen es sehr, daß wir heute nicht nur über die zukünftige Entwicklung der Rentenfinanzen und über die strukturellen Probleme, die noch zu lösen sind, sprechen, sondern auch darüber reden, wie eine der schlimmsten Peinlichkeiten Ihrer an Pannen und Ungerechtigkeiten nicht armen Rentenpolitik beseitigt werden kann.
Wieder steht die Frage an, daß die Anerkennung der Kindererziehungszeiten bei der Berechnung der Rentenhöhe endlich jener Generation zugestanden wird, die am nötigsten darauf angewiesen ist. Sie haben die Frauen vom Babyjahr ausgegrenzt, die 1921 oder früher geboren worden sind. Über dieses Unrecht müssen wir reden. Wir werden solange von unseren Müttern und Großmüttern reden, bis auch ihnen Gerechtigkeit widerfährt.Sie haben die Lasten von Krieg und Vertreibung getragen. Sie haben die Bombennächte und Hungertage überstanden. Sie haben unser Überleben garantiert.
Sie haben jetzt Anspruch darauf, daß 'sich der Deutsche Bundestag insgesamt ihnen gegenüber anständig benimmt.
Wir wollen das Babyjahr auch für sie. Wir wollen es jetzt. Wir wollen es, solange unsere Mütter und Großmütter noch leben.
Wir Sozialdemokraten legen Ihnen einen Gesetzentwurf vor, der eine Lösung ohne Haken und Ösen bedeutet, der dem Gesetzgeber keine Hintertür offenläßt und der natürlich Geld kostet,
3,8 Milliarden im ersten Jahr, mit den Jahren immer weniger werdend, der aber den Kriegsmüttern noch zu Lebzeiten Gerechtigkeit widerfahren läßt.
Wir wollen die rentensteigernden Kindererziehungszeiten für die über 65jährigen mit einem eigenen Rentenanspruch, und wir wollen sie für die Bezieherinnen von Witwenrenten.Wir wollen sie für die Frau, die ein Kind großgezogen hat, und wir wollen sie für die Mütter, die fünf und mehr Kinder über die schlimmen Jahre brachten.Wir verfahren nicht nach dem Prinzip, 1986 etwas zu versprechen und vielleicht erst in zwei oder mehr Jahren zahlen zu wollen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17065
Frau TerborgDie Hoffnungen dieser Generation dürfen nicht durch schäbige Tricks und vollmundige Wechsel auf die Zukunft ein weiteres Mal enttäuscht werden.
Nein, wir müssen jetzt Ernst machen mit der Generationensolidarität.
Für eine solche Politik, für ein solches Handeln beanspruchen wir nicht den Weihrauch der Medien. Wir halten das für eine selbstverständliche Pflicht. Es ist uns sehr bewußt, daß wir hier nicht Wohltaten unter die Rentnerinnen streuen, sondern daß wir mit dem Geld aller Steuerzahler eine Schuld unserer Generation einlösen.
Wir stehen nicht unter der Angstpeitsche, die nächste Wahl möglicherweise zu verlieren.
Es treibt uns auch nicht das schlechte Gewissen rentenpolitischer Übeltäter. Nein, wir tun das, was notwendig, was überfällig ist. Wir werden Sie dazu zwingen, es uns gleichzutun. Wenn Sie sich jetzt verweigern, wird im nächsten Jahr unter veränderten Vorzeichen gehandelt werden,
und Sie werden mit den enttäuschten Hoffnungen Ihrer Politik zu leben haben. In Niedersachsen werden Sie am 15. Juni Ihre Antwort darauf kriegen.
Kommen Sie mir bitte nicht mit dem Argument, wir hätten das Babyjahr zu unseren Regierungszeiten längst einführen können. Wir haben das heute wieder oft gehört, und Sie schreien ja besonders laut. Muß denn zum tausendsten Mal wiederholt werden, daß die große Chance 1972 durch die Politik der damaligen Opposition vertan wurde,
daß die Frauen, über die wir heute reden, sonst heute schon das Geld hätten?
Es war doch wohl die CDU, die das verhinderte. Muß denn immer wieder hergebetet werden, an welchen Widerständen die gute Absicht damals scheiterte?
Geben Sie es doch zu, man hätte für die ältesten Jahrgänge das Babyjahr zuerst verwirklichen müssen,
wenn schon angeblich das Geld für alle nicht reichte. Aber nein, Ihr herzloses Kalkül setzte auf die Dankbarkeit der jüngeren Frauen
und grenzte die älteren aus. Sie erwarteten dafür Lob und ernteten mit Recht Zorn und Bitterkeit und müssen jetzt schon Ihre Position verändern.
Ich frage mich: Hat Sie diese Kritik eigentlich betroffen gemacht, hat sie an Ihr Herz gerührt? Nein, leider nicht; das beweisen mir auch Ihre Zwischenrufe.
Einzig allein die Wählerflucht zwingt Sie zu Teilzugeständnissen, und das macht eigentlich die Sache so peinlich und die Operation, die Sie jetzt vorhaben, so fragwürdig.
Kommen Sie mir bitte auch nicht mit dem Argument, erst jetzt oder im nächsten, im übernächsten oder im überübernächsten Jahr das Geld zur Verfügung zu haben, das Sie zur Finanzierung des Babyjahrs für alle benötigen.
Hat es Ihnen an Geld gefehlt, als Sie die Milliarde für die Frühpensionierung der Bundeswehroffiziere lockermachten?
Hat es Ihnen an Geld gefehlt, als Sie den Gutbetuchten in unserer Republik Milliarden in Form von Steuergeschenken gaben?
Es fehlte Ihnen nicht an Geld, und es fehlte Ihnen nicht die Begründung für Ihr Tun.
Einen Augenblick, Frau Kollegin, ich möchte Sie unterbrechen. Die Menge der Zwischenrufe zeugt nicht von der Qualität. Ich muß Sie herzlich darum bitten, gerade bei weiblichen Rednern ein bißchen auch daran zu denken, daß neben der Gleichberechtigung Höflichkeit stehen könnte.
Bitte, fahren Sie fort.
Danke schön, Herr Präsident.
Frau Terborg
Ja Sie merken nicht einmal, meine Herren, die hier immer so laut rufen, wie hohl Ihre Worte klingen und wie bitter Ihr Handeln von den Benachteiligten aufgenommen wurde.
Wie ist es denn jetzt? Wie wollen Sie das Babyjahr, oder, besser gesagt, das Rumpfbabyjahr finanzieren? Sie wollen es durch die Überschüsse finanzieren, die bei der Bundesanstalt für Arbeit aufgelaufen sind.
Das Geld, das Sie den Arbeitslosen durch drastische Leistungskürzungen weggenommen haben,
präsentieren Sie jetzt einem Teil der Mütter als Geschenk. Merken Sie eigentlich gar nicht, wie empörend das alles ist, und dämmert Ihnen nicht, daß Sie eine Untat mit der anderen wiedergutmachen wollen? Oder wird der Bundesarbeitsminister wieder, wie ich das schon ein paarmal von ihm — auch heute wieder — gehört habe, seine eigene Mutter
als Kronzeugin für die angebliche Richtigkeit seines Handelns mißbrauchen? Ich will Ihnen sagen: Meine Mutter würde mir die Ohren langziehen, wenn ich so handelte, und sie hätte tausendmal recht damit.
Ich würde mich allerdings auch nicht hinter angeblichen Äußerungen meiner Mutter verstecken wollen;
ich würde selbst für mein Handeln geradestehen können.
Es ist wohl die Aufgabe von Frau Süssmuth, die frohe Botschaft des erweiterten Babyjahres unter die Leute zu bringen. Es ist sozusagen das Einstandsgeschenk für die neue Frauenministerin. Ich denke, sie wird es mit Worten nutzen, die weit weniger peinlich wirken, als die permanente Selbstbeweihräuchung ihres Ministerkollegen Blüm. Nur, Frau Minister, auch Sie werden mit den aufgezeigten Ungereimtheiten der beabsichtigten Regelung konfrontiert werden, und ich bin sicher, daß sie Ihnen auch bewußt sind. Aber ich bin mir eben auch leider bewußt, daß Sie wieder einmal nicht die Kraft haben werden, eine ganze, eine runde Sache zu machen, auch wenn Sie es wollen.
Man wird Sie nicht lassen, eben weil die Reform keine Reform, sondern nur der scheinbar pfiffige Versuch sein soll, mit der Wurst einer Teilvergünstigung nach dem Schinken der Wählergunst zu angeln.
Sehr verehrte Frau Minister, wir können Ihnen nur einen guten Rat geben: Lassen Sie alle Faxen sein, und bemühen Sie sich aufrichtig und ohne Wenn und Aber um eine Lösung, die unseren Müttern und Großmüttern gerecht wird und die uns, die wir jetzt die Verantwortung zu tragen haben, kein allzu schlechtes Zeugnis ausstellt. Handeln Sie verantwortungsbewußt, aber auch mit Herz. Bedenken Sie, daß wir gemeinsam etwas Vernünftiges auf die Beine stellen sollten, daß wir menschlich denen gegenüber zu handeln haben, dank deren Menschlichkeit wir leben. Nur so können wir gemeinsam unserer älteren Generation guten Gewissens unter die Augen treten.
Das Wort hat der Abgeordnete Günther.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich will der Mahnung des Präsidenten folgen und nichts zu der Rede meiner verehrten Vorgängerin sagen; sonst müßte ich unhöflich werden.
Ich weise nur die Aussage zurück, daß die Ministerin mit Faxen Erklärungen abgegeben habe. Das weise ich ausdrücklich zurück.
Ich möchte nur kurz auf einige Dinge eingehen, die der Kollege Heyenn vorgetragen hat.
Herr Kollege Heyenn, ich weise Ihre Bemerkung zurück, daß der Minister eine Unwahrheit nach der anderen vorgetragen habe.
Ich weise das für unsere Fraktion ausdrücklich zurück.
Ein verantwortlicher Ton, Herr Kollege Heyenn, verbunden mit einer Leidensmiene, bringt auch noch keine Wahrheit auf den Tisch.Ich will Ihnen nur an einigen Zahlenbeispielen zeigen, daß der Minister recht hat. Von 1980 bis 1982 ist das Realeinkommen um 4,2 % gesunken; die Rentnereinkommen sind im gleichen Zeitraum real um 3,2 °A° gesunken. Jetzt steigen Realeinkommen und Rentnereinkommen real wieder an. Ist das wahr oder ist das unwahr? Nein, das ist die Wahrheit.
Ein zweiter Punkt: Sie sollten sich nicht über Kürzungen im Rentenbereich beschweren, die wir mit einem Aufschieben der Erhöhung der Rente um ein halbes Jahr vorgenommen haben. Sie sollten sich selbst einmal vorrechnen, was Sie gemacht ha-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17067
Güntherben. In drei Jahren haben Sie eine Rentenniveauabsenkung zwischen 11 und 16 % vorgenommen.
Der Kollege Adolf Müller, der hier vorne sitzt, hat dadurch eine Rentenkürzung von 16 % erfahren. Nun kann er das verkraften, aber nicht der sogenannte kleine Rentner, für den Sie immer meinen eintreten zu müssen. In Wahrheit haben Sie ihm das Geld gestohlen.
— Herr Ehrenberg, Sie sollten nicht so laut rufen. Sie waren daran maßgeblich beteiligt.
Ich möchte auch noch eingehen auf die Bemerkung des Kollegen Bueb, die er mit Blick auf Herrn Professor Meinhold gemacht hat.
Ich stelle für meine Fraktion schlicht und einfach fest: Herr Professor Meinhold hat sich unabhängig davon, was auch immer noch ermittelt werden wird, um die deutsche Rentenversicherung verdient gemacht.
Herr Bueb, wenn Sie schon irgendwo herumwühlen, muß ich sagen, daß Sie viel Zeit nötig hätten, um zu prüfen, was in Ihren eigenen Reihen alles in Ordnung zu bringen ist.
Der Kollege Glombig hat bemängelt, daß wir heute keine Grundsätze oder Einzelheiten eines neuen Strukturkonzepts vortragen. Nun muß ich sagen, Kollege Glombig: Wir hätten das gerne getan, aber wir haben die Zeit in der Vergangenheit dafür gebraucht, um das aufzuarbeiten, was Sie sieben Jahre lang liegengelassen haben: die Neuordnung bzw. Harmonisierung der Hinterbliebenenversorgung. Sie waren es sogar, Kollege Glombig, der sich in der Debatte am 21. Juni 1985 beschwert hat, daß das alles noch zu schnell gegangen sei. Insoweit fällt das auf Sie zurück.Am 21. Juni 1985 ist das Hinterbliebenen- und Erziehungszeitengesetz im Plenum verabschiedet worden. Dieses Gesetz bringt nach vielen Ankündigungen der früheren Regierung, die aber ohne Beschluß geblieben sind, in der Rentenversicherung endlich die Anrechnung von Kindererziehungszeiten. In der Geschichte der Sozialpolitik ist es zudem das erste Mal, daß Leistungen rückwirkend gewährt werden. Wenn wir die Kindererziehungszeiten nur für die Kinder eingeführt hätten, die nach Inkrafttreten des Gesetzes, nämlich 1. Januar 1986 geboren wurden, würde es wahrscheinlich keine Kritik geben; denn dies wäre der Normalfall.Die Vorschläge der SPD aus vergangenen Zeiten, die im Parlament nie verabschiedet wurden, sahen nur Leistungen für zukünftige Renten vor.
Ihr heute eingebrachter Gesetzentwurf hat den wesentlichen Makel, daß nur diejenigen bedacht werden sollen, die eine Rente aus Beiträgen begründet haben. Rentenbegründung mit Kindererziehungszeiten ist nach dem SPD-Modell immer noch nicht möglich. 600 000 Frauen werden nach diesem Modell von vornherein ausgegrenzt.
Nun haben wir es nach langer Diskussion über die Möglichkeit, diese Kindererziehungszeiten rückwirkend zu gewähren, geschafft, für alle Altersrentenfälle ab 1. Januar 1986 diese Leistungen schon zu gewähren, und zwar für Kinder, die mehrere Jahre zurückliegend geboren waren. Es ist also eine rückwirkende Leistung.Es ist grotesk, meine Damen und Herren,
daß wir ausgerechnet von den Sozialdemokraten, die in dieser Frage nichts, aber auch gar nichts zustande gebracht haben,
am heftigsten kritisiert werden.
Das ist eine merkwürdige Sache. Wenn wir nichts gemacht hätten, wären die Sozialdemokraten wahrscheinlich zufrieden.
Die Eifersucht und der Neid, auch hier von der CDU/CSU sozialpolitisch überholt worden zu sein, sitzt bei den Sozialdemokraten so tief, daß sich ihre eigene Polemik überschlägt.
Durch unser am 21. Juni 1985 verabschiedetes Gesetz sind die Sozialdemokraten doch erst in die Lage versetzt worden, überhaupt einen Gesetzentwurf einzubringen. Hätten Sie es in den letzten 13 Jahren Ihrer Regierungstätigkeit nicht nur bei Ankündigungen gelassen, sähe es jetzt schon viel besser aus.
Aber selbst für Zukunftsansprüche haben Sie keine müde Mark von Ihrem Kanzler Schmidt erhalten.
Die Sozialpolitiker der SPD sind permanent selbst durch ihre unzureichenden Vorstellungen abgeblitzt.
Nun haben wir bereits in der Debatte vom 21. Juni 1985 insbesondere durch meine Kollegin
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17068 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
GüntherFrau Verhülsdonk deutlich gemacht, daß wir selbstverständlich gern auch die Frauen mit einbezogen hätten, die vor 1921 geboren sind.
Wer dies ernsthaft bezweifelt, ist böswillig.
— Frau Kollegin Fuchs, darauf komme ich noch. Sie haben es immer so eilig. Forderungen aus der Opposition — das sollten Sie sich endlich merken —, sind leicht zu stellen, weil man die Sicherheit hat, sie nicht verantworten zu müssen.
Wenn wir als Regierungsfraktion Vorschläge machen, können wir nicht mit der Ausrede kommen, wir hätten keine Mehrheit, sie durchzusetzen. Deshalb haben wir uns permanent und intensiv mit der Frage beschäftigt, wie man die sogenannten Trümmerfrauen — ich mag dieses Wort eigentlich nicht, aber es hat sich inzwischen eingebürgert — einbeziehen könnte. Wir prüfen zur Zeit wo die Milliarden herkommen könnten, die sofort nach dem Inkrafttreten fällig werden.Oft wird in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, es gehe dabei nur um einen zusätzlichen Restbetrag. Nein, es ist genau umgekehrt. Die Einbeziehung der Kindererziehungsjahre ab Rentenbeginn 1. Januar 1986 kostet im ersten Jahr 150 Millionen DM und mit natürlich steigender Tendenz 400 Millionen DM und im dritten Jahr 800 Millionen DM. Die Einbeziehung der Jahrgänge vor 1921 kostet gleich im ersten Jahr 5 bis 6 Milliarden DM. Da können Sie die wirklichen Relationen erkennen.
Dennoch sind wir ernsthaft dabei zu prüfen, ob und wie wir diese Riesensumme von mehreren Milliarden aufbringen können, denn wir wollen — wie schon für die Begünstigten beschlossen — die Rentenversicherung damit nicht belasten.
Unser Wille, alle einzubeziehen, ist unverändert vorhanden, und wir werden in absehbarer Zeit eine Antwort geben, ob und in welcher Form eine Klärung erfolgen kann.Auch wollen wir uns nicht unseren eigenen Weg verbauen, die Rentenversicherung solide zurechtzuschneidern. Begonnen haben wir damit. Dies wird uns im Gutachten des Sozialbeirats bescheinigt. Es gibt keine Probleme in der Finanzierbarkeit der Renten bis in die 90er Jahre hinein. Es kommt auch nicht von ungefähr, daß der Sozialbeirat das Schwergewicht seiner Überlegungen auf die Jahre nach 1990 und die dafür zu ergreifenden Maßnahmen legt. Weil es unserer Rentenpolitik entspricht, muß auch begrüßt werden, daß der Sozialbeirat die tragenden Prinzipien der Rentenreform von 1957als Grundlage für die Weiterentwicklung bzw. die anzugehende Strukturreform sieht.Für die CDU/CSU-Fraktion erkläre ich, daß es mit uns keine Grundrente gibt. Es gibt auch keine bedarfsorientierte Mindestrente nach sozialdemokratischem Modell.
Wir werden in unserer bewährten Rentenpolitik fortfahren, gestützt auf das Gutachten des Sozialbeirates, zum Wohle der Rentner und Versicherten, die uns weiterhin ihr Vertrauen schenken können.Danke schön.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 10/5332 und 10/5571 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Zusätzlich soll der Gesetzentwurf auf Drucksache 10/5571 gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung zur Beratung an den Haushaltsausschuß überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann sind die Oberweisungen so beschlossen.Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/5583 ab. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? Dann ist dieser Entschließungsantrag mit Mehrheit bei einer Reihe von Enthaltungen abgelehnt worden.Ich rufe nun den Zusatzpunkt 10 der Tagesordnung auf.Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung landwirtschaftlicher Unternehmer von Beiträgen zur landwirtschaftlichen Sozialversicherung
— Drucksache 10/5463 —a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksachen 10/5594, 10/5605 — Berichterstatter: Abgeordneter Wimmer
b) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 10/5616 — Berichterstatter:Abgeordnete Frau Zutt SuhrSchmitz
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17069
Vizepräsident WestphalHierzu liegen ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 10/5596 und 10/5597 vor.Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 90 Minuten vorgesehen. Ich würde wegen der Zeit gern Widerspruch hören, aber es gibt offensichtlich keinen.
— Herr Dr. Bötsch, ich empfinde dies als einen angenehmen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete von Schorlemer.
Herr Präsident! Wir wollen durch Selbstbeschränkung einen Beitrag leisten, die Zeit nicht voll in Anspruch nehmen zu müssen.Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Entlastung landwirtschaftlicher Unternehmen von Beiträgen zur landwirtschaftlichen Sozialversicherung wird von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die mit ihrem Koalitionspartner FDP diesen Gesetzentwurf eingebracht hat, deutlich gemacht, daß durch eine Entlastung von sozialen Abgaben gerade den kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetrieben eine finanzielle Hilfe zuteil wird.
Damit werden rund 320 000 landwirtschaftliche Betriebe und rund 42 000 mithelfende Familienangehörige in den Genuß dieser finanziellen Vergünstigung kommen.Unser Gesetzentwurf und auch die Ausschußberatungen, die nahezu einvernehmlich verliefen, und die heutige Verabschiedung machen weiter deutlich, daß wir alle Anstrengungen unternehmen, um flankierende, die Sozialkosten entlastende Maßnahmen vorzuschlagen und mit diesem Gesetz durchsetzen. Dafür werden 450 Millionen DM eingesetzt.Der für den Monat April ausgewiesene 10-Milliarden-DM-Rekord-Außenhandelsüberschuß ist eine erfreuliche Tatsache, die als Leistungserfolg für die Bundesregierung spricht. Dabei muß man aber auch bedenken, daß 50 % unseres Exports in die EG gehen. Wenn man dabei noch beachtet, daß die Voraussetzungen für diesen europäischen Markt die gemeinsame Agrarpolitik ist, ist es immer zu vertreten, j a ein Gebot der gesamtwirtschaftlichen Solidarität, daß der deutschen Landwirtschaft, die zur Zeit Nachteile durch die EG und deren Politik hat, ein Bündel von Hilfsmaßnahmen zukommt.
— Nein, bitte nicht. Wir wollen die Zeit nutzen.Dieses Gesetz setzt bewußt Staffeln, die der Betriebsgröße und damit der Einkommenssituation gerecht werden, und er staffelt auch degressiv; in fünf Stufen von 2 000 DM über 1 500, 1 300, 1 100 bis 1 000 DM pro Jahr werden hier Entlastungsbeiträge gewährt. Hilfreich ist hierbei auch, daß diese Leistungen nicht auf die Steuerpflicht angerechnet werden.Dieses Gesetz ist nicht der Weg, um alle agrarpolitischen Schwierigkeiten, die besonders in starken Einkommensrückgängen und Substanzverlusten zu sehen sind, von heute auf morgen zu beenden. Hier wird aber ein weiterer Punkt zu einem Bündel von Hilfsmaßnahmen hinzugefügt.
So wurden 1986 die Zuschüsse für die Altershilfe angehoben, der Finanzzuschuß für die Berufsgenossenschaft sichergestellt. Die Bäuerinnen haben Anspruch auf Erziehungsgeld. Im Dritten Agrarsozialen Ergänzungsgesetz ist ebenfalls eine Entlastung durchgeführt worden.In diesem Zusammenhang nehmen wir auch erfreut zur Kenntnis, daß der EG-Ministerrat auf seiner letzten Sitzung der Ausweitung auf 2,18 Millionen Hektar als benachteiligtes Gebiet zugestimmt hat und damit 51,1 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche in den Genuß der Ausgleichszulage und verbesserter Konditionen bei der einzelbetrieblichen Förderung kommen. Das bedeutet, daß rund 260 000 statt bisher 181 000 Betriebe eine Ausgleichszahlung erhalten.Wir haben uns bei diesem Gesetz an die Systematik des Dritten Agrarsozialen Ergänzungsgesetzes gehalten, um zügig und wirkungsvoll ohne weiteren Bürokratismus hier fördernd helfen zu können. Daher wird bei Betrieben, die beim Wirtschaftswert einen Zuschlag wegen überhöhten Viehbesatzes erhalten, dieser Zuschlag nur zur Hälfte berücksichtigt.In den Beratungen haben wir in klarer Anlehnung an das Dritte ASEG die Obergrenze der Berechtigten auf das 1,2fache der Bezugsgrenze nach dem Sozialgesetzbuch beim Erwerbseinkommen festgesetzt. Das sind für 1986 41 328 DM.Lassen Sie mich zu dieser erwerbseinkommensbezogenen Obergrenze folgendes Rechenbeispiel bringen. Bei einem 35-Hektar-Vollerwerbsbetrieb müssen jährlich vom Erwerbseinkommen durchschnittlich abgezogen werden: für private Steuern 3 526 DM, für die Krankenversicherung 3 600 DM, für die Alterskasse 1 824 DM, für das Altenteil 2 565 DM und für Neuinvestitionen 10 535 DM. Das heißt, bei 301 DM pro Hektar sind es 22 050 DM. Da die bäuerliche Familie durchschnittlich aus 4,3 Personen besteht, kann jeder erkennen, wie gering das Familienerwerbseinkommen ist. Hier wird deutlich, wie notwendig die Entlastung der sozialen Belastung ist.
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17070 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
Freiherr von SchorlemerSchon bei der Einbringung dieses Gesetzes haben wir in der Begründung klar zum Ausdruck gebracht,
daß die Belastung der einkommenschwachen, vor allem aber der kleinen und mittleren bäuerlichen Familienbetriebe mit Sozialabgaben, gemessen am Gewinn aus der Land- und Forstwirtschaft, in besonderem Maße weiter zunehmen werde. Wir haben in der Gesetzesbegründung aber auch hinzugefügt, daß eine dauerhafte Lösung dieser Problematik neuer Elemente im landwirtschaftlichen Sozialversicherungssystem bedarf. Ich will hier den Überlegungen, die gleich zu Beginn der neuen Legislaturperiode einsetzen werden, nicht vorgreifen.
Für mich wäre die Einkommensermittlung, die ja bei einer Obergrenze des Kreises der Berechtigten gezogen werden muß, diejenige nach dem Bundeskindergeldgesetz.Das von den Koalitionsfraktionen eingebrachte und heute zu verabschiedende Gesetz, macht deutlich:
wir sehen die Schwierigkeiten bei den landwirtschaftlichen Betrieben und helfen, wo dies schnell und wirkungsvoll möglich ist.Herr Präsident, ich hoffe, dazu beigetragen zu haben, die Zeit entsprechend zu verkürzen.
Ich will Ihnen dies bestätigen, ja, und Sie als Vorbild benennen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wimmer .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich will mich an die Selbstbeschränkung halten und die Redezeit nicht ausnützen. -- Das Dritte Agrarsoziale Ergänzungsgesetz ist noch kein Jahr alt, und jetzt folgt bereits ein Beitragsentlastungsgesetz. Herr Minister Kiechle und meine Damen und Herren der CDU/CSU, Ihre miserable Agrarpolitik holt Sie Zug um Zug ein.
Wieder wird ein Gesetz in ganz kurzer Zeit über die Bühne gezogen. Beinahe blieb keine Zeit im Ausschuß, es ausführlich zu beraten, und es konnten nur am letzten Tag noch die Voten der mitberatenden Ausschüsse eingeholt werden, und es wurde im Eilverfahren über die Rampe geschoben.
Das Gesetz, über das wir heute in zweiter und dritter Lesung beraten, ist ein Notbehelf, den die Regierung durch ihre jahrelange falsche Politik zu verantworten hat. Sie hat es nur aus Furcht vor dem Fernbleiben der Bauern von den Wahlurnen vorgelegt.
Das entstandene Gesetz kann weder die grundsätzliche Änderung der verfehlten Agrarpolitik nachholen noch kann sie die Reformierung des Systems der agrarsozialen Sicherung ersetzen.
Beides wird durch diese Neuregelung nicht gewährleistet — im Gegenteil! Sie verteilen hier wieder Steuermittel aller Bürger als soziales Alibi, und die Gesamtreform, die Sie ankündigen, wird hinausgeschoben und verzögert. Aber diese Gesamtreform der agrarsozialen Sicherung bleibt Ihnen nicht erspart, ob nun als Regierung oder Opposition.
Meine Damen und Herren, das zentrale Element wird in Zukunft eine gänzliche agrarpolitische Neuausrichtung sein, in der eine stärker am Markt orientierte Agrarpolitik Platz greifen muß, die durch direkte Einkommensübertragungen flankiert wird. Die direkten Einkommensübertragungen müssen produktionsneutral oder produktionssenkend sein. Sie sollten Leistungen der Bauern für die Pflege der Kulturlandschaft honorieren, eine Extensivierung der Produktion dort bewirken, wo dies aus ökologischen Gründen notwendig ist, und älteren Landwirten eine Hofnachfolge ohne Aufgabe des Hofes und ohne Verlust ihres Eigentums ermöglichen.
Das hier zur Debatte stehende Gesetz kann höchstens, legt man ganz wohlwollende Maßstäbe an, als ein erster Einstieg in die Politik direkter Einkommensübertragungen bewertet werden. Wir begrüßen daran die Anwendung von Einkommensmaßstäben. Das ist übrigens eine alte sozialdemokratische Forderung, die Sie jahrelang verdammt haben.
Es war wahrscheinlich ein sehr schwieriger Weg, von den früheren Aufforstungen des Herrn Kiechle und des Herrn Heereman zu dieser neuen Beurteilung zu kommen.
Wenn Sie davon reden, wir hätten 13 Jahre regiert, so erinnere ich Sie daran, daß wir zwei Ansätze versucht haben. Einmal ist es im Bundesrat gescheitert, und zum anderen sind Sie uns auch beim Dritten Agrarsozialen Ergänzungsgesetz nicht gefolgt, in dem wir bereits damals eine wesentlich stärkere
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17071
Wimmer
Entlastung der kleinen und mittleren Landwirte wollten.
Ich stelle fest: Die Bundesmittel zur landwirtschaftlichen Sozialversicherung übersteigen im Jahr 1986 erstmals den Betrag von 4 Milliarden DM. Während früher die Zuschüsse im wesentlichen leider allen beitragspflichtigen Landwirten gleichermaßen zugute kamen, wird seit dem 1. Januar 1986 wenigsten ein Teil der Mittel in der Altershilfe für Landwirte zur gezielten Entlastung von Klein- und Mittelbetrieben eingesetzt.
Dieser erste Schritt einer differenzierten Mittelverwendung macht eine zusätzliche Funktion der Agrarsozialpolitik deutlich, nämlich die Mitwirkung bei der Existenzsicherung von einkommensschwachen landwirtschaftlichen Betrieben.Wie wirkt es sich für die Betroffenen aus? Die kleinsten landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetriebe erhalten 2 000 DM im Jahr. Das ist etwa die Hälfte ihrer Aufwendungen für die soziale Sicherung. In Anlehnung an die Staffelung des Dritten Agrarsozialen Ergänzungsgesetzes erhalten die Berechtigten der Zuschußklasse II 1 500 DM und die der Zuschußklasse I 1 100 DM. Nebenerwerbslandwirte erhalten die Hälfte dieser Zuschüsse, weil sie auch nicht in vollem Umfange in der sozialen Sicherung des Agrarbereiches sind.
Daß hier für die landwirtschaftlichen Einkommen der Ersatzmaßstab Wirtschaftswert gewählt werden muß, ist bedauerlich. Ich sage ganz offen: Uns wäre es viel lieber, wir hätten ganz genaue Einkommensunterlagen. Dann hätte man bei der Verteilung der Mittel auch wesentlich gerechter verfahren können.
Wir vermissen in diesem Gesetzentwurf einen Solidarbeitrag der besser verdienenden Landwirte. Wie schon beim Dritten Agrarsozialen Ergänzungsgesetz wird die an sich richtige Staffelung der Beitragsentlastung allein aus Bundesmitteln finanziert — eine Politik, die auf Dauer die Zustimmung der Gesamtgesellschaft unter Umständen gefährden könnte.Wir Sozialdemokraten betrachten dieses Gesetz, wie schon gesagt, als einen Notbehelf. Wir stellen daher den Antrag, das Gesetz bis zum 1. Januar 1990 zu befristen. Zur Begründung der Befristung nehme ich eine Anleihe in Ihrer Begründung des Gesetzentwurfs. Es heißt dort:Eine dauerhafte Lösung dieser Problematik bedarf neuer Elemente im landwirtschaftlichen Sozialversicherungssystem. Derartige Ansätze müssen aber eingehend geprüft werden, sie eignen sich daher nicht, um kurzfristig wirkendeHilfen bereitzustellen. In der nächsten Legislaturperiode— ich betone: in der nächsten Legislaturperiode —wird das agrarsoziale Sicherungssystem einer grundsätzlichen Reform unterzogen werden. Die Regelungen dieses Gesetzes haben daher nur Übergangscharakter.Wenn das stimmt, was Sie in Ihrer Begründung schreiben,
könnten Sie auch unserem Änderungsvorschlag mit der Befristung bis 1990 zustimmen, da ja die nächste Legislaturperiode, wenn Sie nachrechnen, 1991 zu Ende gehen wird. Sie wollen aber keine Befristung, sondern möchten nur eine ungefähre Zeitfestlegung, um dann die Regelung ins nächste Jahrhundert hineinschieben zu können.Notwendig ist — ich sagte es schon — eine grundsätzliche Reform des agrarsozialen Sicherungssystems. Ziel dieser Reform muß es sein, mittelfristig die Beiträge in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung viel stärker als bisher nach sozialen Gesichtspunkten zu staffeln und das Prinzip der innerlandwirtschaftlichen Solidarität stärker zur Geltung zu bringen. Die Landwirte mit höheren Einkommen müssen an der Finanzierung der agrarsozialen Sicherung stärker als bisher beteiligt werden, und auch die anderen Sozialsysteme müssen bei dieser Reform berücksichtigt werden, damit man hierbei nicht ganz große Abweichungen schafft.Diese Aufgabe — es wird für die nächste Legislaturperiode eine große sein — werden wir, so hoffe ich, mit vertauschten Rollen erfüllen. Wir als Sozialdemokraten werden dann sicher auch bereit sein, die konstruktiven Vorschläge der CDU/CSU-Opposition in der entsprechenden Diskussion zu berücksichtigen.Wir werden dem Gesetzentwurf heute zustimmen, und ich bitte die anwesenden Kolleginnen und Kollegen, auch unserem Entschließungsanschlag — —
— Ach, wissen Sie, wenn es um die Sozialpolitik geht und wenn da konstruktive Vorschläge gemacht werden, ist das für Sie ja immer ein Anschlag; deswegen dieser Versprecher.
Ich bitte Sie also, auch unserem Änderungsantrag zuzustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Paintner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der zügigen Behandlung in den Ausschüssen, besonders im federführenden Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten — und
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17072 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
Paintnerhier möchte ich im Gegensatz zu meinem Kollegen Wimmer gleich einen bayerischen Touch hineinbringen und möchte unserem Vorsitzenden, Herrn Schmidt, einmal ganz besonders herzlich dafür danken, daß er zügig durchgegriffen und für eine gute Behandlung gesorgt hat —,
der Behandlung in den Fraktionen sowie der guten Arbeit der Beamten ist es zu verdanken, daß dieses für die Landwirtschaft so notwendige Gesetz heute in der zweiten und dritten Lesung im Plenum des Deutschen Bundestages verabschiedet werden kann.Meiner Partei, der FDP, war es und ist es immer ein großes Anliegen, die Landwirtschaft funktionsfähig zu erhalten und gesunde Strukturen im ländlichen Raum gesichert zu wissen. Die Existenz unserer leistungsfähigen bäuerlichen Familienbetriebe muß weiterhin gewährleistet sein; die Rahmenbedingungen für die Nebenerwerbslandwirtschaft müssen erhalten und verbessert werden; die öffentlichen Mittel für die Agrarpolitik sind als gezielte Hilfen einzusetzen.Ich meine, auch und gerade dem Verbraucher in unserem Lande muß bei allen Maßnahmen, die öffentliche Mittel beanspruchen, immer wieder verdeutlicht werden, daß diese öffentlichen Mittel indirekt auch ihm zugute kommen, indem erstens für ihn ein reichhaltiges Angebot von gesunden Nahrungsmitteln in reicher Auswahl zu angemessenen Preisen zur Verfügung steht
und zweitens die Kulturlandschaft gepflegt und erhalten bleibt und die Landwirtschaft immer mehr Funktionen im Erholungsbereich für alle Bürger übernimmt. Dafür brauchen wir, so meine ich, ein klares Bekenntnis, was diese Gesellschaft für diese Lebensbedürfnisse an Geld ausgeben will. Das heißt, der Stellenwert von Ernährungssicherung, Erhaltung der Kulturlandschaft und Erholungsfunktion der ländlichen Räume für unsere Bürger ist neu festzulegen.An dieser Stelle meine ich, daß auch ein Bundesfinanzminister die moralische Unterstützung der Bürger und aller Parteien, besonders aber der Regierungsparteien, dafür braucht, daß er trotz der so wichtigen Sparpolitik das richtige Augenmaß für die Ausgaben in diesem wichtigen Bereich behält. Zum Nulltarif geht hier gar nichts mehr; denn auch unsere Bauern müssen leben.Gerade die Bundeszuschüsse zur Agrarpolitik gehören zu den wichtigen flankierenden Maßnahmen zur Markt- und Preispolitik. Vor allem handelt es sich hier um Mittel, die unseren bäuerlichen Familien direkt und in voller Höhe zugute kommen. Es liegt daher nahe, daß sich viele Betriebe in der gegenwärtigen schwierigen Einkommenslage dieses Instrumentes bedienen. Aber es ist nicht nur, wie manche Kritiker meinen, ein Mittel zum Zweck. Die im Gesetzentwurf der Koalition in diesem Bereich vorgesehene weitere Entlastung ist nicht Einkommenshilfe um ihrer selbst willen. Sie setzt vielmehr systematisch auch dort an, wo viele Probleme entstehen. Denn es kann doch nicht wegdiskutiert werden, daß die Sozialabgaben bei vielen kleinen Betrieben inzwischen die Schmerzschwelle erreicht haben.Wir haben eine Vielzahl von Vollerwerbsbetrieben, deren Gewinn im letzten Wirtschaftsjahr bei weitem unter 10 000 DM gelegen hat. Das sind beileibe keine Einzelfälle. Man kann sich gut vorstellen, daß sich der Inhaber eines Vollerwerbsbetriebs, der ein Einkommen von weniger als 10 000 DM im Jahr erzielt, Sorge macht, wovon er eigentlich 4 000 DM und mehr an Sozialabgaben bezahlen soll. Hier muß geholfen werden, und zwar durch eine fühlbare Reduzierung dieser Lasten.Das soll mit dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf geschehen. Er sieht vor, daß den Kleinbetrieben die Hälfte ihrer Beitragslast abgenommen wird. Ich meine, das ist schon ein Wort: die Hälfte. Diese Betriebe sehen, daß wir Politiker und daß auch diese Bundesregierung sie nicht im Stich lassen. Sie sollten aber auch anerkennen, daß trotz des unveränderten Zwangs, die öffentlichen Ausgaben einzudämmen, für diese Hilfe eine halbe Milliarde DM an Steuergeldern zur Verfügung gestellt worden ist. Dieser Kraftakt sollte auch einmal vom Deutschen Bauernverband zur Kenntnis genommen werden. Außerdem weise ich als FDP-Abgeordneter darauf hin, daß es in der heutigen schwierigen Zeit unser Anliegen war — neben der differenzierten Hilfe für unsere kleinen Betriebe —, mit dem 1,2fachen der Bemessungsgrundlage als Einkommensgrenze nach oben den Durchbruch zu schaffen und so auch unsere mittelbäuerlichen Betriebe mit mehr als 40 000 DM je Hektar Wirtschaftswert in diese zusätzlichen sozialen Leistungen einzubeziehen. Unser Augenmerk muß auch deshalb auf diese Betriebe gerichtet werden, weil sie zur Zeit besonders hart betroffen sind.Wir Liberalen wollen aber trotz dieses Schrittes in die richtige Richtung nicht so tun, als ob die Agrarprobleme der EG somit gelöst wären. Wir haben Verständnis für unsere Bauern, die am Markt — und es gibt sehr viele davon — z. B. mehr als 20 000 DM verlieren und auf der anderen Seite 1 000 DM bekommen können und mit Recht darauf hinweisen, daß dies nicht lange durchgehalten werden kann.
Deshalb unterstreiche ich nochmals unser FDP-Konzept zur Agrarpolitik, Flächen und Betriebe in der EG aus der Produktion zu nehmen, die Überschüsse abzubauen und die Milchquote durch Herauskauf weiter zu reduzieren.
Den Bereich der nachwachsenden Rohstoffe setze ich an die zweite Stelle, weil ich weiß, daß dies eine mittelfristige Maßnahme ist.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17073
PaintnerDies alles muß durch eine Strukturpolitik in der EG flankiert werden, die den Mut hat, die Investitionsförderung für Schweine- und Bullenställe sofort zu stoppen sowie Höchstbestandsgrenzen einzuführen.
— Das kann man gar nicht oft genug sagen. — Wenn die EG das. notwendige Geld nicht zur Verfügung hat, könnte ich mich auf jeden Fall damit einverstanden erklären, daß vorübergehend Möglichkeiten eröffnet werden, z. B. durch Aufnahme von Anleihen, die jetzige schwierige agrarpolitische Situation zu bereinigen.Wir müssen erkennen, daß der Schlüssel für eine echte Verbesserung der Situation unserer Bauern in Brüssel liegt. Wir Deutschen haben über die Europäische Akte gewollt, daß sich Europa weiterentwickeln kann. Es hat wenig Sinn, über eine Regionalisierung oder Renationalisierung der Agrarpolitik zu lamentieren, durch die wir dann unsere gemeinsame Zukunft verspielen würden. Nein, wir brauchen Europa. Aber ich sage hier an dieser Stelle: Wir brauchen auch ein Europa, in dem die deutschen Bauern leben können.
Inzwischen müßte aber auch jedem Wirtschaftspolitiker die Erleuchtung gekommen sein, daß es ohne das Fundament einer europäischen Agrarpolitik keine Fortschritte auf anderen Gebieten in Europa gibt.
Dem heutigen Gesetzentwurf stimmt die FDP-Fraktion gerne zu. Sie tut dies mit Überzeugung und sieht die Notwendigkeit dieser Hilfe. Unser Land braucht auch in Zukunft viele bäuerliche Familienbetriebe. Sie setzt aber auch die Hoffnung in unsere Landwirte — —
— Das ist ja etwas ganz anderes — und euch nicht wählen, sondern uns. — Sie setzt aber auch die Hoffnung in unsere Landwirte, daß sie erkennen mögen, daß sie von der Freien Demokratischen Partei in ihrer jetzt schwierigen Situation nicht im Stich gelassen werden.
Abschließend sei auch noch festgestellt, daß die jetzt schwierige Situation in der Landwirtschaft nicht von dieser Regierung, auch nicht von der anderen Regierung verursacht wurde,
sondern von der Forderung aller Parteien, besonders auch der Opposition,
und vieler Verbände, auch des Bauernverbandes, die Agrarpolitik müsse reformiert werden.
Wir als FDP-Politiker
werden mit dieser Bundesregierung alles tun, was in unserer Möglichkeit liegt, um diese jetzt schwierige Einkommenssituation durch kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen zu verbessern.
Herr Kollege, Sie sind jetzt schon über der Zeit.
Die Auswirkungen des heute zur Beschlußfassúng anstehenden Gesetzes werden eine große Hilfe für viele landwirtschaftliche Familienbetriebe sein. Ich meine, es ist ein Beweis, daß diese FDP nicht nur redet, sondern mit dieser Regierung handelt.
Das Wort hat der Abgeordnete Werner .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir hören heute wieder viel von dem, was die Regierung für die Bauern tut, besonders viel zufälligerweise in Niedersachsen. Es wird sich in acht Tagen zeigen, wieweit die Bauern diese Hilfe als Wahlhilfe auch honorieren werden.Wir verabschieden heute ein Gesetz zur Entlastung der Landwirte bei der Sozialversicherung. In der Begründung heißt es:Die Belastung der einkommensschwachen, vor allem der klein- und mittelbäuerlichen Familienbetriebe mit Sozialabgaben wird — gemessen am Gewinn aus der Land- und Forstwirtschaft — im besonderen Maße weiter zunehmen.Mit dieser Umschreibung, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, geben Sie zu, daß auch Sie damit rechnen, daß sich die Einkommenslage vor allem der klein- und mittelbäuerlichen Familienbetriebe weiterhin verschlechtern wird.
In Ihrer Begründung heißt es weiter:Die Regelungen dieses Gesetzes haben daher nur Übergangscharakter.Zum einen muß daraus der Landwirt schließen, daßdiese kleine Hilfe sehr bald enden wird. Zum ande-
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17074 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986
Werner
ren geht daraus hervor, daß diese Lösung keine Lösung auf diesem Gebiet ist und bald einer grundlegenden Änderung bedarf. Deshalb ist diese Maßnahme nicht geeignet, Bauern eine Zukunftsperspektive aufzuzeigen, die die Bauern heute genauso dringend brauchten wie nur finanzielle Hilfen.
Den kleinen bäuerlichen Betrieben ist es wohl auf der ganzen Welt nie besonders gut gegangen. Aber früher war immer jemand da, der das Erbe gern übernahm. Das hat sich heute geändert.Wir machen uns bei der Verabschiedung dieses Gesetzes wohl kaum Gedanken darüber, was ein Bauer denkt und wie er sich vorkommt, wenn er einen Antrag an den Staat stellt, dieser möge ihm mit 1 000 DM im Jahr bei der Zahlung von sozialen Lasten helfen.
Ich weiß noch sehr wohl, wie mir der Bleistift stockte, als ich 1959 einen Antrag auf Beihilfe wegen Dürreschäden ausfüllte. Wenn jemandem etwas zusteht, dann sollte man ihm dies auch möglichst ohne Bittanträge zukommen lassen. Minister Blüm hat ja gerade vom Problem des Bittstellers gesprochen.
Wir haben die Bundesregierung in unserem Entschließungsantrag auf Drucksache 10/5380 zum Agrarbericht aufgefordert, die Beiträge zur landwirtschaftlichen Sozialversicherung entsprechend dem tatsächlichen Einkommen der Betroffenen festzulegen. Unterhalb eines Gesamteinkommens von 1 000 DM im Monat soll der Beitrag sowohl zur landwirtschaftlichen Alterskasse als auch zur Krankenkasse 1 DM im Monat betragen. Wir meinen, wer ein geringeres Einkommen als 1 000 DM im Monat hat, dem kann — ähnlich wie Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern — kein Beitrag mehr abverlangt werden.
Die Kosten für unser Modell hätten sich in der Höhe des heute zu beschließenden Gesetzes bewegt.Eines muß allerdings zu diesem Gesetz auch noch gesagt werden: Es ist wieder eine Wende zu dem, was von Regierung und Koalition noch vor einem Jahr gesagt wurde. Wenn dieses Gesetz keine Reaktion auf die traurigen Verhandlungsergebnisse in Brüssel ist, wie von den Regierungsparteien beteuert wird, dann frage ich mich: Warum wurde diese Maßnahme nicht vor einem Jahr in das agrarsoziale Ergänzungsprogramm mit eingebaut?
Ist die Erkenntnis, daß es kleinen landwirtschaftlichen Betrieben schlecht geht, erst nach der Schleswig-Holstein-Wahl gekommen?
Ich denke, daß bei einer grundsätzlichen Neuregelung der agrarsozialen Absicherung in der nächsten Legislaturperiode der Gedanke einer Grundrente von mindestens 1 000 DM monatlich verwirklicht wird. Leider ist es nicht immer so, daß jeder alte Bauer, der seinen Hof übergibt, damit rechnen kann, daß sein Nachfolger für ihn auf dem Hof bis zu seinem Lebensende Essen und Wohnung bereitstellen kann. Durch die bauernfeindliche Agrarpolitik der EG und der Bundesregierung — Sie von der Regierungskoalition werden sicher sagen, die Bezeichnung „bauernfeindlich" passe nicht zum heutigen Entlastungsgegsetz,
aber diese Bundesregierung bleibt bauernfeindlich, solange sie es nur mit Bedauern zur Kenntnis nimmt, daß in den nächsten Jahren noch 100 000 Vollerwerbsbetriebe das Handtuch werfen müssen — muß der Altenteiler eben damit rechnen, daß er eines Tages nicht mehr vom Hof leben kann.Wir werden diesem Gesetz zustimmen, obwohl diese Maßnahme weit davon entfernt ist, wie bäuerliche Existenzen nach unseren Vorstellungen zu sichern und zu erhalten sind. Wir müssen eines Tages wieder dazu kommen, daß die Arbeit, die auf den Höfen geleistet wird, so bezahlt wird, daß daraus ein vergleichbares Einkommen hervorgeht. Diese Einkommen werden auf einem 100-ha-Betrieb und einem 10-ha-Betrieb verschieden sein, aber für beide muß bei harter Arbeit die Möglichkeit bestehen, daß die Betriebe bei korrektem Wirtschaften nicht in Schulden untergehen.Um eine solche Agrarpolitik durchsetzen zu können, brauchen wir das Verständnis der Verbraucher für die Landwirtschaft. Dieses Vertändnis für uns Bauern wird aber nur aufgebracht werden, wenn eine Wirtschaftsweise praktiziert wird, die mit der Umwelt in Einklang zu bringen ist, die dem Verbraucher unverfälschte Lebensmittel zukommen läßt und die nicht mit ungeheurem Aufwand und Kosten Dinge produziert, die keine Verwendung finden.Lassen Sie mich hier noch einen Punkt ansprechen. Es gibt viele Nebenerwerbslandwirte, die nach der letzten Erhöhung der Beiträge aus der Alterskasse austreten wollen, da sie heute zu hoch belastet sind. Diesen Betrieben geht der gesamte bisher eingezahlte Beitrag verloren. Das können bis zu 20 000 DM sein. Ich frage, ob nicht zumindest eine Übertragung der eingezahlten Beiträge möglich ist. Bei anderen Versicherungsträgern wird das so gemacht: Beamte können das, was sie in ihre Kasse eingezahlt haben, übertragen, wenn sie in eine andere Alterskasse kommen.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Niegel.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wenn man den Redner der Opposition — der SPD — hört, dann denkt man ganz anders. Aber wir müssen ja die Situation be-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. Juni 1986 17075
Niegelreinigen. Wir sind die Feuerwehr und werden beschimpft, weil die Brandstifter das verursacht haben. Man muß sich ruhig einmal die Agrarpolitik der früheren, von der SPD geführten Bundesregierung ansehen, die noch lange nachwirkt.
Auch auf dem agrarsozialen Gebiet sind die Folgen der Erblast ebenfalls deutlich zu spüren.
Betrachten wir doch einmal die seinerzeitige Agrarpolitik. Ab 1976 ging die Schere zwischen landwirtschaftlichen und gewerblichen Einkommen immer weiter auseinander.
Diese frühere Regierung hat an den Mansholtschen Thesen von immer größeren Produktionseinheiten festgehalten und ein Einzelbetriebliches Förderungsprogramm mit dem Ziel der Schaffung großer Produktionseinheiten verwirklicht.
Diese großen und spezialisierten Betriebe sollten auch Preissenkungen vertragen können. Das führt zu immer stärkerer Ausweitung der Produktion. Es mußte immer mehr produziert werden.
Herr Abgeordneter — —
Die Betriebe wurden außerdem immer stärkerem Preisdruck ausgeliefert.
Herr Abgeordneter - - Niegel : Ja bitte, Herr Präsident!
Ich machte den Versuch, Sie zu unterbrechen; da gibt es nämlich den Wunsch des Abgeordneten Paintner nach einer Zwischenfrage. Gestatten Sie das?
Ich wollte geschlossen weiterreden, um die Zeit einzuhalten.
Der Preisdruck durch die Hintertüre, nämlich der Abbau des positiven Währungsausgleichs, ging auf Kosten der notwendigen Preiserhöhung.
Das führte dazu, daß die Einkommen der deutschen Bauern an vorletzter Stelle in der EG hinter Griechenland und Italien zu finden waren. Die politisch Verantwortlichen reagierten falsch. Man wollte den Markt über Preissenkungen in den Griff bekommen.Wenn die frühere Regierung 1980 oder 1981 die schon seinerzeit diskutierte Milchmengenregulierung angepackt hätte, bräuchte heute kein Bauer nur einen Liter weniger zu produzieren. Er hätte nur eine Zeitlang die Produktion nicht ausweiten dürfen. Aber dazu hatte man keinen Mut.Dazu kam, daß durch die Verschuldungs- und Inflationspolitik der von der SPD geführten Bundesregierung die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen auch für die Landwirte und für die, die sich einen außerlandwirtschaftlichen Beruf suchten, immer schlechter wurden.
Dies hatte seine negativen Auswirkungen auf den Strukturwandel. Ich erinnere z. B. an hohe Zinsen, Arbeitslosigkeit, stagnierende Nachfrage nach hochqualifizierten Agrarprodukten. Das ist doch alles Erblast, Folgelast.
Dies war, lieber Kollege Müller, verbunden mit dem Abbau sozialer Leistungen auf dem agrarsozialen Gebiet: 1980 standen 400 Millionen DM für die landwirtschaftliche Unfallversicherung zur Verfügung. Wir wollten sogar eine Erhöhung um 5 Millionen DM, die Sie abgeschmettert haben.
Ich zeige also den Abbau der Sozialleistungen auf: 1980 400 Millionen DM, 1981 360 Millionen DM, 1982 340 Millionen DM, 1983 279 Millionen DM, 1984 in der mittelfristigen Finanzplanung 200 Millionen DM, 1985 120 Millionen DM, 1986 40 Millionen DM,
1987 null Millionen DM. Das ist das, was man Ihnen einmal sagen muß. Die Leute draußen im Lande sollen wissen, daß jetzt die falschen Propheten im Lande auf Wählerfang herumgehen und so tun, als ob sie früher das agrarsoziale Paradies geschaffen hätten.
Wir haben nach der Regierungsübernahme die Sätze sofort angehoben, und jetzt sind sie wieder auf 400 Millionen DM festgelegt.Auch bei der Alterskasse haben Sie lautstark getönt, eine soziale Staffelung der Alterskassenbeiträge schaffen zu wollen. Erreicht haben Sie es nicht. Es war, wie so oft, ein Trockenskikurs!
Wir haben den Einstieg in die Agrarsozialentlastung mit dem Dritten ASEG begonnen. Wir haben auch festgelegt, daß der Staatsanteil bei der landwirtschaftlichen Altershilfe 80,3 % beträgt. Die Wiederherstellung der Sozialunterstützung bei der Un-
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Niegelfallversicherung, die Schaffung des Dritten ASEG, die gesetzliche Festlegung von 80,3 % sind Leistungen, die von der SPD geführte Regierungen nie hätten schaffen können.
Wir haben dies geschafft, trotz der Notwendigkeit der Haushaltssanierung, trotz des von der SPD hinterlassenen Haushaltschaos und des Schuldenberges!
Das wollen Sie natürlich nicht gerne hören.Wir haben in diesem Jahr das Finanzvolumen für die Landwirte um 750 Millionen DM erweitert.Leider — da muß ich an noch eine Sünde erinnern — sind in der Agrarsozialpolitik vor allem bei der landwirtschaftlichen Krankenkasse die Beiträge erheblich gestiegen, und zwar deswegen, weil 1972 das falsche System gewählt wurde. Wir hatten 1972 eine andere Konzeption.
Es war nämlich falsch, eine eigene Krankenversicherung für einen Berufsstand mit einer geringer werdenden Anzahl von aktiven Landwirten und einer zunehmenden Zahl von Nebenerwerbslandwirten und aufgebenden Betrieben zu schaffen. Ich hatte das in meiner Rede vom 19. Januar 1972 hier dargelegt.Mit dem vorliegenden Gesetz wollen wir die landwirtschaftlichen Unternehmer von den Beiträgen zur landwirtschaftlichen Sozialversicherung entlasten. Das System der Entlastung ist sozial gestaffelt. Gerade der kleinere Betrieb hat eine relativ hohe Belastung von über 4 000 DM. Wir entlasten ihn um 2 000 DM pro Jahr. Sicher sind noch Wünsche offen — auch ich hätte noch eine Reihe vorzutragen —, für die ich großes Verständnis habe.Man kann und darf dieses Gesetz nicht negativ sehen. Vor allem für den, der von der Landwirtschaft allein leben muß und einkommennsschwach ist, wird es eine spürbare Beitragsentlastung bringen.Da wir in der nächsten Wahlperiode das agrarsoziale System im positiven Sinne überprüfen wollen, besteht dann die Möglichkeit, hier Ergänzungen vorzunehmen.Den Antrag der SPD, das Gesetz zu begrenzen, lehnen wir ab, ebenso das, was in dieser Entschließung vorgesehen ist.Ich bitte Sie, liebe Kollegen, dem Gesetz Ihre Zustimmung zu geben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kirschner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Niegel, nur eine Bemerkung. Mir ist neu, daß Sie die eigenständige Sozialversicherung für die Landwirte aufheben wollen. Ich habe den Eindruck, dafür haben Sie noch nicht einmal in Ihrer Fraktion eine Mehrheit.
Mit der abschließenden Beratung dieses uns vorliegenden Entwurfs eines Sozialversicherungs-Beitragsentlastungsgesetz für landwirtschaftliche Unternehmer wird erneut der untaugliche Versuch unternommen, die Auswirkungen einer verfehlten Agrarpolitik mit den Mitteln neuer Beitragszuschüsse im landwirtschaftlichen Sozialversicherungsbereich zu korrigieren.Damit es klar und deutlich wird — mein Kollege Hermann Wimmer hat es ja gesagt — und nicht für Falschinterpretationen mißbraucht wird: Wir Sozialdemokraten wollen den Landwirten helfen, jedoch nicht nach dem Gießkannenprinzip, wonach die Großen den warmen Regen abbekommen und für die Kleinen bestenfalls Regentropfen übrigbleiben, wie die 5 %ige Vorsteuerrückerstattung zeigt.
Die Kritik, die ich aus sozialpolitischer Sicht deutlich zu machen habe, richtet sich also nicht dagegen, daß Sie den in einer schlechten Einkommenssituation befindlichen Landwirten gezielt helfen wollen, sondern dagegen, daß Sie nicht direkte Einkommenshilfe und nicht innerhalb der landwirtschaftlichen Sozialversicherung eine systemgerechte, solidarische Umverteilung vornehmen.Ich erinnere Sie daran, daß Sie den in den Werkstätten beschäftigten Behinderten mit dem Haushaltsbegleitgesetz 1983 die späteren Rentenansprüche um 22 % gekürzt haben.
Den gut verdienenden Landwirten, die im obersten Einkommensviertel angesiedelt sind, muten Sie dagegen nicht zu, daß sie solidarisch für ihre finanziell schlechter dastehenden Berufskollegen einstehen, . um damit auch ein Solidaropfer zu erbringen, das Sie andererseits einem der schwächsten Glieder unserer Gesellschaft, wie gesagt, den Behinderten, abverlangt haben.
Sie begründen in Ihrem Gesetzenwurf die vorgesehene Beitragsentlastung damit, daß — ich zitiere — „viele der kleineren und mittleren bäuerlichen Familienbetriebe eine hohe Selbstkostenbelastung" aufweisen.Laut dem jüngsten Agrarbericht der Bundesregierung sind Betriebe mit einem Standardbetriebseinkommen bis 20 000 DM mit einem Sozialversicherungsanteil von 31,8 % belastet. Darauf beziehen Sie sich in Ihrer Begründung. Sie sollten aber dann auch darauf verweisen -- und das steht nicht in Ihrem Gesetzenwurf, allerdings ist dies im Agrarbericht nachzulesen —, daß Betriebe mit einem Standardbetriebseinkommen zwischen 30 000 und
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Kirschner50 000 DM nur mit 16,6 % belastet sind, also gerade mit der Hälfte gegenüber den Erstgenannten, oder daß Betriebe mit einem Standardbetriebseinkommen von mehr als 50 000 DM, was ihre Krankenversicherungs-, Altershilfe- oder Unfallversicherungsbeiträge angeht, dafür gerade noch 13,1 % aufzuwenden haben.
Als Argument für die überproportionalen Bundesmittel wird von Ihnen immer wieder auf die Durchschnittseinkommen in der Landwirtschaft verwiesen und als Vergleich dazu das Einkommen der Arbeitnehmer herangezogen. Statistische Durchschnittseinkommen — das wissen Sie — sagen alles oder nichts aus, je nach dem für was man sie verwendet. Es ist schlichtweg falsch, von der deutschen Landwirtschaft zu reden, sondern — das wissen Sie genau — man wird den vielfältigen Problemen nur mit einer differenzierten Betrachtungsweise gerecht.Ein Blick in den schon zitierten Agrarbericht der Bundesregierung bringt hierzu mehr Klarheit. So beträgt der ausgewiesene Gewinn für das Wirtschaftsjahr 1984/85 im obersten Viertel 69 878 DM,
im oberen Viertel 36 142 DM,
im unteren 22 784 DM und im untersten 2 899 DM.
— Hören Sie doch mal zu, was ich zu sagen habe! Vielleicht können wir uns mal einigen oder auf eine vernünftige Diskussionsbasis kommen. Ich mache die Sache ganz ruhig und versuche, diese Dinge auch hier mal darzustellen, wobei Sie mir auch zugestehen müssen, Herr Kollege Hornung, daß ich dies als Sozialdemokrat im sozialpolitischen Ausschuß vielleicht etwas anders als Sie sehe; aber wir können uns ja auch da unterhalten.Aus den genannten Zahlen wird dann ein rechnerischer Schnitt von 32 955 DM.
Es wird aber auch deutlich, zwischen dem obersten und untersten Einkommen beträgt die Disparität 25:1.
Aus den von mir aufgezeigten Daten leite ich die Begründung ab, eine am tatsächlichen finanziellen Leistungsvermögen orientierte Beitragsleistung für die landwirtschaftliche Sozialversicherung zu fordern. Das, was der Gesetzgeber an Sozialversicherungsbeiträgen von den Arbeitern und Angestellten oder den sonstigen außerlandwirtschaftlichen Selbständigen verlangt, nämlich am Einkommen orientiert, muß grundsätzlich auch für die Landwirtschaft gelten.
Andernfalls müssen Sie dem Arbeiter und dem Angestellten erklären, warum er immer höhere Beiträge zu seiner sozialen Absicherung bei gleichzeitig gekürzter Leistung zahlen soll, während das für die Landwirtschaft nicht gilt.
— Nein, Herr Kollege Eigen, hören Sie doch zuerst mal zu!Ein Facharbeiter, der beispielsweise in der Lohngruppe VIII des erst jetzt ausgehandelten Tarifs in der Metallindustrie Südwürttemberg/Hohenzollern bezahlt wird, kommt auf ca. 33 000 DM Jahresbruttoeinkommen, netto ca. 22 000 DM. Er zahlt davon ca. 5 960 DM an Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungsbeiträgen. Haben Sie eigentlich einmal darüber nachgedacht, wie ungerecht die Arbeitnehmer diese hohen Bundeszuschüsse gegenüber ihrer eigenen Situation empfinden müssen — die Bundeszuschüsse wurden mit dem Dritten Agrarsozialen Ergänzungsgesetz bei der Altershilfe auf 80,3 % zum 1. Januar 1986 weiter aufgestockt —,
ohne daß überhaupt der ernsthafte Versuch unternommen wurde, nur den Ansatz einer Harmonisierung analog der Regelung in der gesetzlichen Rentenversicherung herbeizuführen? Jetzt erhält diese einseitige Bundeslastigkeit mit weiteren 450 Millionen DM Bundesmitteln noch mehr Schlagseite. Auch der von mir genannte Facharbeiter mit einem Nettolohn unter 2 000 DM monatlich hat eine Familie, muß Miete zahlen, benötigt ein Auto und hat seine sonstigen Ausgaben zur Lebenshaltung zu tätigen.Wie günstig sich das Beitrags-Leistungs-Verhältnis in der landwirtschaftlichen Altershilfe im Vergleich zur gesetzlichen Rentenversicherung darstellt, möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen: Ein Arbeiter oder Angestellter zahlt 15 Jahre lang monatlich 1,17 DM Rentenversicherungsbeitrag, um dafür später pro Monat 1 DM an Rentenleistung zu erhalten. Der Landwirt muß dagegen nur 24 Pfennig an Beiträgen aufwenden, um dafür später 1 DM Rentenleistung monatlich zu bekommen. Oder um es mit einer anderen Zahl zu verdeutlichen: Mit dem heutigen ungekürzten einheitlichen Monatsbeitrag von 152 DM zur landwirtschaftlichen Altershilfe — die Dynamisierung nicht mitgerechnet - erhält ein Landwirt nach 15 Jahren eine Altersrente von 532,50 DM pro Monat. Ein Arbeiter oder Angestellter in der gesetzlichen Rentenversicherung bekommt für die gleiche Beitragsleistung dagegen nur ein Viertel dieser Rente, nämlich 132,20 DM. 80,3 % beträgt der Bundeszuschuß in der landwirtschaftlichen Altershilfe, in der gesetzlichen Rentenversicherung dagegen nur ein Fünftel, nämlich
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Kirschner16 %. Ich darf an dieser Stelle mal an das erinnern, was vorher im Zusammenhang mit dem Gutachten des Sozialbeirats diskutiert worden ist.
— Ich sage dies doch gar nicht, Herr Kollege Hornung. Hätten Sie genau zugehört, hätten Sie gemerkt, daß ich eine sehr differenzierte Betrachtungsweise an den Tag lege und nicht pauschaliere.Meine Damen und Herren, die mit dem Sozialversicherungs-Beitragsentlastungsgesetz vorgesehenen Entlastungen für Teile der Landwirtschaft — dies betone ich ausdrücklich — können deshalb nur ein Notbehelf sein. Sie können weder eine grundsätzliche Kurskorrektur der Agrarpolitik noch eine Reform des agrarsozialen Sicherungssystems ersetzen.Der mit diesem Gesetz eingeschlagene Weg löst nicht die Strukturprobleme der Landwirtschaft. Lassen Sie sich das ins Stammbuch schreiben! Subventionen an die Landwirtschaft, die aus gesellschaftspolitischen, regionalpolitischen, landschaftspflegerischen oder auch arbeitsmarktpolitischen Gründen weiterhin notwendig bleiben — ich betone das ausdrücklich —, sollten deshalb offen, strukturpolitisch gezielt und außerhalb des Sozialsystems gezahlt werden.Wir haben Ihnen einen Entschließungsantrag vorgelegt, in dem wir deutlich machen, daß eine Kurskorrektur dringend notwendig ist. Wir plädieren für eine Agrarpolitik, die uns endlich aus dieser Einbahnstraße milliardenschwerer Subventionen herausführt; Milliarden, von denen nur der geringste Teil bei den Bauern ankommt — gerade 20 Pfennig von jeder Mark —, Milliarden, die uns andererseits fehlen, um den Landwirten gezielt strukturell zu helfen, die wir aber auch dringend für beschäftigungspolitische und sozialpolitische Maßnahmen benötigen.Wir schlagen eine zeitliche Begrenzung dieses Gesetzes zum 1. Januar 1990 vor. Damit machen wir deutlich, daß bis dahin andere, sinnvolle Regelungen zu suchen sind. In Ihrem Gesetzentwurf schreiben Sie:Eine dauerhafte Lösung durch eine Neuausrichtung der agrarsozialen Sicherungssysteme erfordert eingehende Beratungen über einen längeren Zeitraum und kann somit kurzfristig nicht umgesetzt werden.Das heißt aber auch, daß Sie selbst mittelfristig andere Lösungen anstreben wollen. Spitzen Sie nicht nur den Mund, sondern handeln Sie danach!Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Hornung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Ausgangspunkt dieses Sozialversicherungs-Beitragsentlastungsgesetzes ist in der bedrückenden Lage zu sehen, in der die Landwirtschaft heute ist, deren Ursachen aber nicht in der Zeit zu suchen sind, in der diese Regierung die Verantwortung hat. Hinzu kommt, daß das Verhältnis Empfänger zu Beitragszahler mittlerweile bei 1:1 liegt und somit große Schwierigkeiten verursacht.Das Gesetz hilft insbesondere den Einkommensschwachen. Entgegen dem, was immer wieder gesagt wird, beschließen wir, daß der Schwächere, der die größte Belastung hat, auch am stärksten entlastet werden soll. In der Übersicht 65 des Agrarberichtes wird das deutlich herausgestellt.Bei Testbetrieben unter 20 ha — mit dem Durchschnitt von 14,8 ha — ist der Gewinn 15 500 DM. Davon gehen alleine für Sozialversicherung 4 900 DM ab. Herr Kirschner, das sind die von Ihnen genannten 31,8 %. Bedenken Sie dabei: Die durchschnittliche Betriebsgröße in der Bundesrepublik ist 16,55 ha; das liegt also knapp neben dem, was wir jetzt gehört haben.Herr Kollege Kirschner, hier haben Sie nicht recht: Sie betreiben das Spiel klein gegen groß. In der landwirtschaftlichen Krankenversicherung haben wir zehn Stufen; in Baden z. B. zwischen 96 DM und 400 DM. In der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft haben wir den Flächenwert und den Wirtschaftswert, je nach Berufsgenossenschaft. Also ganz eindeutig einkommensbezogen. Im 3. ASEG haben wir eine Abstufung der Entlastung eingebaut.Auch was die landwirtschaftliche Alterskasse angeht, haben Sie nicht recht, wenn Sie sagen, daß der Erfolg so groß sei. Ihre Einschätzung gilt nur im Hinblick auf die gesamte Familie. Wenn es sich nur um die Einzelperson in der Landwirtschaft handelt, dann ist es eben nur zwei Drittel dessen, was ausbezahlt wird.Eine Vergleichsrechnung — damit komme ich auch auf etwas, was Sie gesagt haben — im Agrarbericht untermauert noch einmal den Unterschied zwischen landwirtschaftlichen Vollerwerbs- und Arbeitnehmerhaushalt. Der landwirtschaftliche Vollerwerbsbetrieb verfügt über ein durchschnittliches Einkommen von 14 100 DM, wenn die Unkosten abgezogen sind. Damit hat er nur noch 47 % des Gewinnes zur Verfügung. Der Arbeitnehmerhaushalt hat 25 000 DM zu seiner Verfügung. Das sind 70 % des Bruttoentgeltes.Die agrarpolitischen Entscheidungen in Brüssel — das haben wir gemerkt — bringen keine kurzfristigen Verbesserungen für die deutsche Landwirtschaft. Deshalb mußte schnell gehandelt werden. Einerseits war die Hilfe notwendig, und andererseits durfte sie nicht im Widerspruch zu den Römischen Verträgen stehen. Durch dieses Gesetz kommen den einkommensschwachen Betrieben noch im Jahre 1986 450 Millionen DM wirksam zu. Das bedeutet eine erhebliche Entlastung.Ich weiß auch, daß es in der Landwirtschaft noch viele Wortführer gibt, die noch die alte Sprache sprechen: Laßt die Kleinen vollends kaputtgehen; trennt euch vom Gießkannenprinzip! Wir wollen
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Hornungeine ordentliche Agrarpolitik, und wir wollen entsprechende Einkommen haben. Die anderen wollen wir vergessen. — Die Solidarität innerhalb des Berufsstandes ist sehr stark angekratzt. Das muß man klar sehen.Die enge Verbindung zum Dritten Agrarsozialen Ergänzungsgesetz — dort wurden die Bundesmittel von 75 % auf 80,3 % erhöht — ist auch in diesem Gesetz gegeben. Allerdings haben wir hier fünf Klassen, wobei einkommensschwache Landwirte über 40 000 DM Wirtschaftswert einbezogen sind. Ebenso ist die Bezugsgröße eine wichtige Einheit, die als Abgrenzungskriterium nach dem 3. ASEG ebenso erfaßt wird, wie sie zugleich auch als Entlastungskriterium dient. Mit diesem 3. ASEG und diesem Entlastungsgesetz gemeinsam kann eine Entlastung bis zu 2 900 DM herbeigeführt werden, was gerade für die einkommensschwachen Betriebe eine große Hilfe ist. Damit werden in der Regel 50% der sozialen Lasten abgedeckt.Wer nur hierzu einen Antrag stellt, hat die Möglichkeit, dieses Geld bis 1986 voll zu erhalten.Die landwirtschaftlichen Unternehmen im Nebenerwerb, die im Krankenkassenbereich nicht so belastet sind, erhalten die Hälfte der Entlastung, während ihre mitarbeitenden Familienangehörigen, die höhere Lasten zu tragen haben, einen Drittelzuschlag bekommen.Dieses Gesetz hat sowohl in der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft als auch in der Alterskasse und bei der Krankenkasse eine 17 %ige Erhöhung der Bundesleistung zur Folge. Unser Ziel ist es, auch in schwierigen natürlichen Verhältnissen weiterzuhelfen. Mit diesen über 570 Millionen DM für benachteiligte Flächen wurde ein erster Schritt in diese Richtung getan. Dies gilt auch für das soziale Marktentlastungsprogramm im Gegensatz zum Landabgabegesetz.Ich möchte in diesem Zusammenhang besonders die soziale Sicherung der Bäuerinnen herausstellen; hier ist an das Erziehungsgeld und an die Erziehungszeiten zu erinnern. Dem gilt mein ganz besonderer Dank.Hilfen aber — das ist klar — können kein Ersatz für zukünftige agrarpolitische Maßnahmen sein. Niedersachsen zeigt, daß wir einen richtigen Weg, nämlich die Reduzierung der Mengen, anstreben.Im Ausschuß ist gesagt worden, die Landwirtschaft erhalte im Augenblick sehr viel Geld; es werde Geld hineingepumpt. Das scheint manchen schon wieder zuviel zu sein. Die Devise der SPD, aussteigen zu wollen, wird auch in dem Entschließungsantrag und dem Änderungsantrag der Fraktion der SPD deutlich. Da wird schon eine Befristung vorgesehen. Wir lehnen diesen Änderungantrag ab. Wir können nicht aussteigen wie damals bei der BG und wie man jetzt die 5% Mehrwertsteuerausgleich ablehnen will. Denn dies sind echte Hilfen.Wieweit Anspruch und Wirklichkeit bei der SPD auseinanderklaffen, zeigt sich auch bei den Bundeshaushalten der vergangenen zehn Jahre. Bei derSPD nahm der übrige Haushalt um 110 % zu, der der Landwirtschaft nur um 7 %.
In den letzten drei Jahren nahm der übrige Haushalt um 4 % zu, der Landwirtschaftshaushalt um 16%.
Wir wissen, daß in Zukunft der Anteil der Hilfen nicht nur im Agrarhaushalt verankert sein kann. Die großen Strukturänderungen, die wir heute haben, verlangen eine Neuordnung in der sozialen Sicherung — dazu stehen wir —, insbesondere wenn wir die Aufgaben für den Schutz der Umwelt und des Lebensraumes, die von der Landwirtschaft neu zu leisten sind, hinzunehmen.Meine Damen und Herren, wenn es uns, wenn es Ihnen ernst ist um die Hilfen für die Landwirtschaft, dann müssen wir diesem Gesetz zustimmen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Rahmen der nationalen Agrarpolitik haben wir in dieser Legislaturperiode eine Reihe von überaus positiven einkommensverbessernden und auch kostensenkenden Maßnahmen beschlossen,
z. B. die Aufstockung der Zuschüsse zur Unfallversicherung, z. B. die zweimalige Ausdehnung der benachteiligten Gebiete und die Anhebung der Förderhöchstbeträge, z. B. das Dritte Agrarsoziale Ergänzungsgesetz.Mit dem Sozialversicherungs-Beitragsentlastungsgesetz soll jetzt eine weitere wirksame Maßnahme hinzugefügt werden. Dieses Gesetz stärkt ebenso wie die vorher genannten agrarpolitischen Verbesserungen in besonderem Umfang die klein- und mittelbäuerlichen Betriebe und damit die Bauern, die meistens in strukturschwachen oder benachteiligten Gebieten großartige Leistungen erbringen, Leistungen, die allerdings nicht nur in Kilogramm Milch oder Doppelzentnern Getreide gemessen werden dürfen, sondern die auch besonders in der umweltschonenden Pflege unserer schönen Kulturlandschaft bestehen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben das Beitragsentlastungsgesetz in kürzester Zeit auf den Weg gebracht. Ich möchte mich deshalb sehr herzlich bedanken. Mein Dank gilt dem Parlament und dem Bundesrat. Mein Dank gilt den Ausschüssen, die unter Zeitdruck erhebliche Anstrengungen auf sich genommen haben. Mein Dank gilt dem Bundesfinanzminister, meinem Kollegen Dr. Stoltenberg, der unbeirrt von aller Kritik großes Verständnis für die schwierige Lage insbesondere
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Bundesminister Kiechleder klein- und mittelbäuerlichen Betriebe gezeigt hat.
Meine Damen und Herren, unter Verzicht auf jede politische Polemik stelle ich auch erfreut fest, daß die Opposition diesem Gesetz zustimmen will und damit das tut, was man von einer verantwortungsvollen Opposition erwartet, einer notwendigen und guten Sache über Parteigrenzen hinweg gemeinsam mit Regierung und Regierungsfraktionen zuzustimmen.Dieses Gesetz ist nach sozialen Kriterien ausgerichtet. Es sieht statt pauschaler Förderung gezielte Entlastungen vor. Es ist daher ein weiterer Meilenstein in Richtung einer differenzierten Agrarsozialpolitik. Dieses Gesetz entspringt nicht durchsichtiger Parteipolitik, sondern ist Ausdruck verantwortungsvoller Staatspolitik.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Gesetz ist auch ein Ausdruck von aktiver Solidarität mit den klein- und mittelbäuerlichen Familienbetrieben in einer agrarpolitisch schwierigen Zeit. Ich möchte Sie deshalb nach der konstruktiven Zusammenarbeit in den parlamentarischen Gremien hier um Ihre Zustimmung bitten.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung.
Ich rufe die §§ 1 bis 8 in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung sind die aufgerufenen Vorschriften angenommen.
Ich rufe § 9 in der Ausschußfassung auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5596 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei zwei Enthaltungen ist dieser Antrag mit Mehrheit abgelehnt.
Wer § 9 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe. — Enhaltungen? — Bei einer Enthaltung ist die aufgerufene Vorschrift in der Ausschußfassung angenommen.
Es bleibt noch über die Einleitung und Überschrift abzustimmen. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte iah um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enhaltungen? — Einstimmig angenommen.
Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltung? — Bei einer Stimmenthaltung ist der Gesetzentwurf angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/5597 ab. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltung? — Zwei Enthaltungen. Der Entschließungsantrag der SPD-Fraktion ist mit großer Mehrheit abgelehnt.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
Der Deutsche Bundestag tritt zum Gedenken an den 17. Juni 1953 am Dienstag, dem 17. Juni 1986, um 11 Uhr zusammen.
Die Sitzung ist geschlossen.