Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, am 3. Oktober 1985 hat der Abgeordnete Horacek auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein Nachfolger hat am 4. Oktober 1985 Herr Abgeordneter Herbert Rusche die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen und wünsche gute Zusammenarbeit.
Ich rufe den Tagesordnungszusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde
Lage auf dem Ausbildungsstellenmarkt
Die Fraktion der SPD hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem genannten Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Kuhlwein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat gestern die Ausbildungsplatzbilanz für den Bewerberjahrgang 1985 vorgelegt. Und diese Bilanz ist erschreckend. 59 738 Bewerber konnten nicht vermittelt werden. Sie stehen ohne Ausbildungsplatz auf der Straße. Dazu kommen weitere 30 000 bis 40 000 Jugendliche in Ersatzmaßnahmen. Das sind Jugendliche, die eigentlich lieber eine Lehrstelle gehabt hätten.Das heißt: Im dritten Jahr des von der Bundesregierung propagierten wirtschaftlichen Aufschwungs muß sie erneut einen Negativrekord melden.
Seit Bestehen einer geregelten Berufsbildungsstatistik hat es noch nie so viele unvermittelte Jugendliche gegeben wie in diesem Jahr. Sogar die schlechte Bilanz von 1984 ist noch einmal übertroffen worden.
Aber die Bundesregierung läßt sich durch das Schicksal der betroffenen Jugendlichen nicht beeindrucken. Der Bundeskanzler, der noch im Wahlkampf 1983 verkündet hatte: „Für jeden ist eine Lehrstelle da!", schweigt.
Und die Bundesbildungsministerin versucht, die eindeutigen Zahlen zu vernebeln. Aber Frau Wilms, wir werden Sie damit nicht ausbüxen lassen.Bei allen Bemühungen der ausbildenden Wirtschaft und der Bundesländer: Es hilft den Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz wenig, wenn Sie beim Angebot Rekordzahlen melden, aber die Jugendlichen nichts davon merken.
Der Versuch der Bundesregierung gestern und vorgestern in der Öffentlichkeit, den Stichtag der Ausbildungsplatzbilanz, den 30. September, zu einer beliebigen statistischen Zwischenstation umzudeuten, ist eine bewußte Verfälschung der wirklichen Lage und eine gewollte Irreführung der Öffentlichkeit.
Dieser Stichtag ist mit gutem Grund gesetzlich vorgeschrieben, weil vier bis acht Wochen nach Beginn des Ausbildungsjahres zuverlässig gesagt werden kann, wer eine Lehrstelle gefunden hat und wer nicht.Und wenn Sie mit den Nachvermittlungen kommen, müssen Sie sich entgegenhalten lassen, daß schon in den ersten drei Monaten wieder über 20 000 Ausbildungsverhältnisse aufgekündigt werden.
60 000 stehen heute auf der Straße. Selbst wenn Sie viele davon irgendwann nachvermitteln werden, haben die meisten ein Jahr verloren, mit allen seelischen und sozialen Folgen, die solche Warterei mit sich bringt.Viele davon werden diesem Staat und dieser Gesellschaft, die ihnen den Einstieg verwehren, den
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KuhlweinRücken zukehren. Sie und wir alle haben dann die Konsequenzen zu tragen.Wir verlangen von der Bundesregierung eine realistische Statistik nach dem Gesetz. Wir verlangen eine Statistik, die die Größe des Problems deutlich macht. Und wir verlangen daran anschließend politisches Handeln.
An rechtzeitigen Warnungen von SPD und Gewerkschaften hat es nicht gefehlt. Sie haben alle unsere Vorschläge aus ideologischen Gründen abgelehnt.Wir fordern heute erneut ein Sofortprogramm des Bundes zur Erhöhung des Ausbildungsplatzangebots. Wir fordern erneut eine erhebliche Aufstokkung des Benachteiligtenprogramms, eine Ausschöpfung aller Ausbildungsreserven des Bundes und seiner Unternehmen,
ein Sonderprogramm für Mädchen in Zukunftsberufen, eine Unterstützung der Länder beim Ausbau der Vollzeitausbildung in den Berufsschulen, und wir fordern endlich ein Gesetz über eine Ausbildungsplatzumlage,
damit die Trittbrettfahrer unter den Betrieben — das sind die Betriebe, die sich um ihre Ausbildungsverpflichtung drücken — endlich an den Kosten der Berufsausbildung beteiligt werden.
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten werden dem Deutschen Bundestag dazu einen Gesetzentwurf vorlegen, der die finanziellen Lasten der Berufsausbildung gerechter verteilt und allen Jugendlichen eine Chance für eine ordentliche Ausbildung bietet.Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Daweke.
Meine Damen und Herren, was wir heute morgen zu früher Stunde erleben, ist die Wiederholung eines Horrorfilms, den die SPD in zwei Kopien vorrätig hat. Es gibt eine Frühjahrskopie dieses Films. Da spielen 150 000 bis 250 000 junge Leute eine Rolle, die auf dem Lehrstellenmarkt unversorgt sind, und es gibt eine Herbstkopie dieses Filmes, die heute wieder aufgeführt wird, mit 50 000 bis 60 000 unversorgten jungen Leuten. Und wie man es dann immer braucht, dreht man es. In der Frühjahrsversion dieses Films spielt übrigens eine Dame vom DGB immer noch eine kleine Hilfsrolle, Katastrophen-Ilse genannt, Ilse Brusis
— kennen Sie die? —, die immer voll mit in ein Geschrei einsteigt, das überhaupt niemandem nützt, das insbesondere den jungen Leuten nichts nützt. Ich finde, Sie müßten sich, Herr Kuhlwein, doch mal fragen lassen, wenn Sie sich jedes Jahr mit dem gleichen Gezänke hier hinstellen: Was tun denn Sie eigentlich mit den Ihnen befreundeten Unternehmen des DGB, um die endlich mal aufzufordern, ihre Ausbildungsleistung so zu steigern, wie das die Wirtschaft tut?
Übrigens, wenn Sie die Umlage fordern, müssen Sie damit rechnen, daß die DGB-Kasse bald leer ist; die müßten nämlich so viel Umlage zahlen, daß sie noch größere Schwierigkeiten mit den Finanzen hätten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns jetzt erst einmal die Zahlen ansehen, wie sie wirklich sind. Wir hatten ein Gesamtangebot zum 1. 10. von 730 000 Plätzen. Wir hatten eine Gesamtnachfrage, die dieses Angebot übersteigt, von 770 000 Plätzen. Festzustellen ist: zum 1. 10. waren über 92 % versorgt. Wer über diese Situation redet, ohne den Handwerkern und den Leuten im Handel und der Industrie erst einmal dafür zu danken, daß sie diese unglaubliche Leistung im dritten Jahr noch einmal erbracht haben,
der redet an der Wirklichkeit vorbei.
Das ist eine Bilanz, die ohne Zwang erzielt worden ist. Ich finde, man muß doch auch einmal feststellen, daß das eine freiwillige Leistung der ausbildenden Wirtschaft ist.
Sie verlieren in Ihren Statements ja kein Wort darüber, daß das für die Betriebe oft bedeutet, bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit in diesem Bereich gehen zu müssen.
Wir sind der Auffassung, daß wir den Stichtag nicht überbewerten dürfen, weil es eine Zwischenbilanz ist. Die Vermittlungsbemühungen der Wirtschaft und alle unsere Bemühungen gehen noch weiterJetzt möchte ich Ihnen in dieser Gesamtbilanz auch mal noch ein paar Zahlen nennen, die man auch sehen muß. Wir hatten zum 1. 10. noch 22 000 unbesetzte Plätze. Was müssen wir tun? Wir müssen dafür werben, daß diese Plätze besetzt werden. Das sind weitgehend Plätze im gewerblich-technischen Bereich. Wir hatten zum 1. 10. festzustellen, daß wir 25 000 Plätze hatten, die überhaupt nicht angetreten worden sind. Das sind Leute, die Doppelbewerbungen gemacht haben und die dann auf den Platz gehen, der ihnen am liebsten ist. Das ist ja ihr gutes Recht. Es sind 25 000 Doppelbewerber, die
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Dawekesich einfach nicht gemeldet haben. Diese Plätze müssen auch nachbesetzt werden.
Wir haben schließlich 25 000 Plätze, die jetzt in diesen Wochen wieder frei werden. Da handelt es sich um Leute, die während der Probezeit feststellen, daß sie für diesen Beruf nicht geeignet sind. Auch diese Plätze müssen besetzt werden.Alle diese Maßnahmen haben im letzten Jahr dazu geführt, daß am Ende des Jahres zusätzlich noch 20 000 bis 25 000 Leute untergekommen sind. Das würde die Bilanz ganz erheblich verändern. Das, was wir tun können, werden wir tun.
Wir werden von unserer Fraktion aus das Benachteiligtenprogramm wesentlich — —
— Also erst mal haben wir in der CDU/CSU-Fraktion Auszubildende eingestellt. Tun Sie das doch auch mal bitte!
— Wenn Sie so fragen, dann kann ich Ihnen auch noch sagen, wir haben auch in der CDU-Geschäftsstelle Auszubildende; die haben Sie doch auch nicht.
— Sie haben überhaupt keine, Herr Schierholz, Sie haben überhaupt keine; Sie beuten die Leute doch aus, daß weiß doch jeder.Wir haben darüber hinaus vor, das Benachteiligtenprogramm aufzustocken. Wir wollen die Vollzeitmaßnahmen der Länder weiterführen, und wir wollen darüber hinaus dafür sorgen, daß die Wirtschaft ihre Bemühungen bis zum Ende des Jahres nicht aufgibt, und dann werden Sie mit der Wiederholung Ihres uralten Films ganz alt aussehen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Zeitler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ganz gut, daß wir heute noch einmal über die Ausbildungsstellensituation sprechen können, obwohl das Thema natürlich alles andere als aktuell ist; denn seit einigen Jahren stehen wir vor der Situation, jedes Jahr wieder, im Sommer wie im Winter, daß die Auszubildenden nicht genügend Lehrstellen finden, und seit mehreren Jahren ist die Situation auch insofern die gleiche, als der CDU und der Regierung nichts besseres eingefallen ist, als immer nur zu appellieren, daß die Unternehmer doch mehr Ausbildungsstellen zur Verfügung stellen sollen.
Die Zahlen zeigen, daß die Appelle nicht reichen.
Die SPD fordert auch dieses Jahr wieder eine Erhöhung des Benachteiligtenprogramms, und ich glaube, auch da müssen wir mal genauer hingukken. Was bedeutet das eigentlich? Gibt es in unserem Land immer mehr Benachteiligte? Wobei sind die Jugendlichen denn überhaupt benachteiligt? Sie sind es doch wohl dabei, den Start ins Berufsleben zu finden, und weniger hinsichtlich ihrer eigenen Fähigkeiten und Qualifikationen.
Ich denke, daß Sie sich mal fragen sollten, was es heißt, immer wieder eine Erhöhung des Benachteiligtenprogramms zu fordern. Ich denke nämlich, was Sie hier machen, ist eine öffentliche Finanzierung von beruflicher Bildung, und diese öffentliche Finanzierung von beruflicher Bildung lehnen wir ab. Wir wollen nicht die Aufgaben der Unternehmer übernehmen.
Was wir fordern — zumindest verbal werden Sie mir da zustimmen — ist eine Umlagefinanzierung, und das fordern Sie hier auch, meine Damen und Herren von der SPD. Aber warum machen Sie das eigentlich nicht in den Ländern, wo Sie die Macht haben, an der Regierung sind und das auch durchsetzen könnten? Das sollten Sie mir mal beantworten.
Ich sage das auch deshalb, weil im Grunde genommen schon mehr als die Hälfte der Kosten für die berufliche Bildung von der öffentlichen Hand getragen werden. Nur ein paar Zahlen, die aus dem Berufsbildungsbericht stammen: Die betriebliche Berufsausbildung, die von Unternehmen bezahlt wird, beläuft sich auf ca. 15 Milliarden DM. Die öffentliche Hand steuert für Teilzeitberufsschulen, für andere Maßnahmen, inklusive der Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit, bereits fast 10 Milliarden DM zu. Da möchte ich mal wissen, wie man hier immer von der Ausbildungsleistung der Unternehmer herumtönen kann. Die öffentliche Hand ist schon in erheblichem Maße an dieser Ausbildungsleistung beteiligt.
Aber ähnlich wie mit der Umlagefinanzierung geht die SPD leider auch mit einem anderen Problem, nämlich mit der Quotierung von Ausbildungsstellen für Mädchen, um; denn Jahr für Jahr sprechen wir davon, daß zwei Drittel der Mädchen keine Ausbildungsstelle finden, und der einzige konkrete Schritt, den Sie in den Ländern, in denen Sie an der Regierung sind, machen könnten, wäre es, die Ausbildungsstellen zu quotieren. Das ist
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Frau Zeitlerein leichter Schritt, denn hier können Qualifizierungsdefizite von Mädchen wahrlich nicht ins Feld geführt werden.
Gerade bei den Mädchen kann man noch das andere Problem sehr deutlich machen, was „vermittelte Bewerber" bedeuten. Vermittelte Bewerber sind nämlich auch jene, die in irgendwelchen Maßnahmen untergebracht werden. Das sind auch jene, die aus irgendwelchen Maßnahmen entlassen werden und deshalb nicht mehr als Erstbewerber zählen.
Und das sind solche — das gilt vor allen Dingen für Mädchen —, die in irgendwelchen Ausbeuterstellen untergekommen sind.
— Da kann ich Ihnen eine ganze Menge nennen. Das sind solche Lehrstellen, wo im Grunde genommen die Unternehmer billige Hilfskräfte einstellen.
Dazu zähle ich z. B. Artzhelferinnen, Verkäuferinnen zum größten Teil, alle, die derartige Hilfsdienste erbringen, wo sie keinerlei Chancen auf Aufstieg, auf Qualifikation oder auf einigermaßen angemessene Bezahlung erhalten und wo die Arbeitszeiten unheimlich schlecht sind.
Unsere Vorschläge bestehen in der Forderung nach selbstbestimmter Arbeit, nach sinnvoller Arbeit und nach Arbeit, die Aussicht auf einen Arbeitsplatz bietet. Die Jugendlichen wollen eine Lehrstelle, sie wollen eine Ausbildung, sie wollen aber kein Benachteiligtenprogramm. Bei der Diskussion des Berufsbildungsberichts in 14 Tagen haben wir hoffentlich etwas ausgiebiger Zeit, über unsere Vorstellungen zu sprechen, die wir zu diesem Thema entwickelt haben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Reden am heutigen Morgen scheinen mir Bestandteil des Leitfadens „Wie schrecke ich mögliche ,Ausbildungsstellen-Zurverfügungsteller` ab" zu sein.
Entschuldigen Sie, daß ich mich jetzt bei der Betonung dieses Wortes verfranst habe. Das ist wirklich wahr, wenn man hier dauernd davon spricht, wie wenig eigentlich erreicht worden sei. Ich habe gerade wirklich mit Schrecken gehört, was Frau Zeitler gesagt hat. Wenn man sich aber die konkreten Zahlen ansieht, dann kann man nur sagen, daß ein solcher Beitrag die Situation nicht verbessert, sondern verschlechtert.
Fände diese Debatte morgen statt — ich stimme mit Herrn Daweke überein, daß es da eine ganz genaue Regelmäßigkeit gibt —, dann wäre auf den Tag genau ein Jahr seit der letzten Aktuellen Stunde zu diesem Thema vergangen. Wir hören heute im Grunde die gleichen Argumente wie damals.
Im Grunde hören wir auch die gleiche Kritik an außerordentlich wichtigen Maßnahmen, wie z. B. an der Nachvermittlung. Im vorigen Jahr — das sieht man, wenn man sich noch einmal die Reden durchliest — wurde heftigst bestritten, und zwar vor allen Dingen auch vom Kollegen der GRÜNEN, dem Herrn Jannsen, daß es überhaupt Nachvermittlungen geben könnte. Haben aber nun Nachvermittlungen stattgefunden, dann heißt es, das reiche natürlich nicht aus, und wenn man auf diese Nachvermittlungen hinweist, heißt es, die Bilanz solle verschönt werden usw. Ich finde, das ist nicht die seriöse Art, in der man mit diesem Thema umgehen muß.
Ich sage hier in allem Ernst: Über den Jahreswechsel hinaus hat es eine derart erfolgreiche Mobilisierungskampagne gegeben, daß man sich — das sage ich in aller Offenheit — sehr darüber freuen muß. Wer sich darüber nicht freut, der kann auch nicht dankbar dafür sein, daß den jungen Menschen diese Chancen gegeben wurden.
Ein Satz muß immer wieder hervorgehoben werden: Die Politik der Stärkung des freiwilligen Engagements hat sich bewährt.
Wenn ich das sage, dann bedeutet das natürlich nicht, daß mir die Zahl der 60 000 unversorgten Bewerber unbekannt wäre.
— Ach, Herr Kuhlwein. Ich habe mir wirklich die Mühe gemacht, noch einmal durchzulesen, was Sie immer sagen. Es ist wirklich dasselbe. Ich finde das sehr traurig.
— Sie waren gar nicht dabei, Herr Schierholz, das können Sie gar nicht beurteilen.
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Neuhausen60 000 Bewerber bleiben ein Problem, dem wir uns alle zu stellen haben. Auch wenn wiederum Nachvermittlungen stattfinden werden, können wir auf Grund der sehr komplizierten Zusammenhänge, der regionalen Zusammenhänge, der geschlechtsspezifischen Zusammenhänge, der branchenspezifischen Zusammenhänge, aber auch der Zusammenhänge, die mit der Person der jungen Menschen zu tun haben, auf besondere und auf staatliche Hilfen nicht verzichten.
Deshalb unterstütze ich auch an dieser Stelle die Bitte des Bildungsausschusses an den Haushaltsausschuß, dazu beizutragen, daß soviel Mittel zur Verfügung gestellt werden,
daß in diesem Jahr mindestens die gleich hohe Zahl von Neuaufnahmen in das Programm des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft für die Förderung der Berufsausbildung von benachteiligten Jugendlichen aufgenommen werden kann.Meine Damen und Herren, der Ausbildungsstellenmarkt bleibt trotz aller Erfolge problematisch; das sagen alle seriösen Prognosen. Deswegen müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, um den jungen Menschen in diesem Jahr und in den kommenden Jahren zu helfen. Dazu gehört natürlich vor allen Dingen auch das Offenhalten aller Bildungswege. Ich glaube, es ist sehr wichtig, bei der Analyse zu unterscheiden, wo es Abdrängungseffekte geben kann und wo es sich um vernünftige neue Berufsorientierungen der jungen Leute handelt.Fünf Minuten sind eine kurze Zeit. Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Steinhauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Es ist schon paradox: Da wird auf der einen Seite gesagt, daß angeblich Fachkräfte fehlen,
und auf der anderen Seite erhalten Jugendliche keinen Ausbildungsplatz. Es wird gesagt, das duale System habe sich bewährt, aber wenn nicht alle Jugendlichen einen Ausbildungsplatz erhalten, nützt dieses ständige Bekenntnis dem einzelnen Jugendlichen überhaupt nichts.
Tatsache ist: Die Wirtschaft bietet nicht allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz an. Da nützt es auch nichts, daß man versucht, die Länder gegeneinander auszuspielen. Was das Engagement einzelner Länder angeht, so hat die Bundesregierung noch Nachholbedarf.
60 000 unvermittelte Jugendliche erwarten Taten der Bundesregierung.
Das Jonglieren mit der Feststellung, 92 % aller Jugendlichen hätten einen Ausbildungsplatz, nützt nichts. Auf das Einzelschicksal kommt es an!
Lassen Sie mich das einmal an einigen Beispielen aus dem Arbeitsamt Siegen verdeutlichen. In den Kreisen Siegen—Wittgenstein und Olpe suchen jährlich etwa 6 000 Jugendliche eine Ausbildungsstelle. Bis zum 30. September dieses Jahres waren 1 143 Jugendliche noch nicht vermittelt.
Davon waren 823 Mädchen und 320 Jungen.
442 Jugendliche haben, ohne den Wunsch auf Erhalt eines Ausbildungsplatzes aufzugeben, zunächst einmal eine schulische Ausbildung angetreten, suchen aber noch ständig weiter.
Die restlichen 701 jungen Menschen liegen überhaupt auf der Straße, 204 Jungen und 497 Mädchen, 150 Mädchen mehr als im letzten Jahr. Und da wollen Sie hier von einer Verbesserung reden!
Wir brauchen uns nicht darüber zu wundern, daß die Jugendlichen mutlos werden. Jeder Jugendliche muß aber eine Chance haben, und dafür ist der Bund verantwortlich, niemand anders!
Hinzu kommt, daß dem Arbeitsamt Siegen zur Zeit nur 43 offene Ausbildungsstellen gemeldet sind. Da nützt kein Appell an die Jugendlichen, mehr Flexibilität zu zeigen.
Dabei muß man dankbar anerkennen, daß sich das Arbeitsamt darum bemüht hat, die Zahl der gemeldeten Stellen enorm zu erhöhen und daß 80 % der Jugendlichen die Hilfe des Arbeitsamtes in Anspruch nehmen.Verstärkt wird die Ausbildungsproblematik noch dadurch, daß sich viele Jugendliche vor einigen Jahren in Warteschleifen abdrängen lassen mußten und jetzt auf den Ausbildungsstellenmarkt zurückdrängen. Da wird auf der einen Seite der 19jährige mit 20jähriger Berufserfahrung gesucht;
andererseits wurde und wird zuwenig ausgebildet.
Der überbetriebliche Finanzausgleich schließlich ist aus ideologischen Gründen tabu.
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Frau SteinhauerWenn ich eben sagte, daß ganz besonders Mädchen noch einen Ausbildungsplatz suchen, so ist das schon sehr makaber, da wir feststellen können, daß Mädchen und Jungen eine vergleichbare Schulausbildung haben.
Aber die Mädchen bekommen keinen Ausbildungsplatz!
Die Entwicklung war auf diesem Gebiet einmal positiv, aber jetzt gibt es schwere Rückschläge.
Beim Einstieg in das Berufsleben wird somit die Lebensperspektive junger Frauen eingeengt, und die angebliche spätere Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird von vornherein ausgeschlossen.
Schließlich erhalten Mädchen oftmals eine Ausbildung, die keine Chance zur Verwertung bietet; sie werden weiter in eine Sackgasse getrieben. Meine Fraktion hat schon seit drei Jahren
besondere Programme für Mädchen gefordert, damit deren Berufsmöglichkeiten verbessert werden. Hier war die Bundesregierung tatenlos; jetzt allerdings scheint sich ja etwas positiv abzuzeichnen.Man muß aber untersuchen: Was wird denn angeboten? Da bieten Sie eine Schulung in Datenverarbeitung an, eine Miniqualifizierung ohne Abschluß in einem Schnellkurs, also keine Alternative.
Wenn Sie, Frau Bildungsminister, Verlautbarungen mit dem Titel „Ausbildung ist Zukunft" herausgeben, kann ich hier nur sagen: Handeln Sie danach! Jeder Junge und jedes Mädchen muß nicht nur in Worten, sondern auch tatsächlich einen Platz zum Lernen haben, damit die Jugendlichen und auch unser Land eine Zukunftshoffnung haben.
Das Wort hat Frau Professor Männle.
Da freut man sich, wenn man gleich erwartet wird. Das ist positiv!Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Steinhauer hat gerade die Situation der Mädchen angesprochen. Nach den Daten der aktuellen Berufsberatungsstatistik vom 30. September 1985 waren ca. 57 % der bei den Arbeitsämtern gemeldeten Ausbildungsplatzbewerber Mädchen und junge Frauen. Bei den noch nicht vermittelten Bewerbernsind zirka 66 % weiblichen Geschlechts. Dies ist meines Erachtens keine positive Zahl.
Ich möchte extra ausdrücken: Mädchen sind keineswegs so minderqualifiziert, daß sie nicht vermittelt werden können.
Die Zahlen zeigen es ganz deutlich: Der Anteil der Mädchen mit mittleren Bildungsabschlüssen beträgt 56,7%; demgegenüber beträgt der Anteil der männlichen Ausbildungsplatzsuchenden 43,3 %. Das zeigt, daß unsere Mädchen qualifiziert sind.
Hinter diesen Zahlen steckt ein strukturelles Problem. Schauen wir uns doch einmal die Berufswünsche der Mädchen an. Sie konzentrieren sich hauptsächlich auf Büro- und Verwaltungsberufe sowie auf Dienstleistungsberufe. Ich finde diese Konzentration nicht gut.Frau Zeitler, Sie haben vorhin gesagt, diejenigen, die in diesen Berufen ausgebildet werden, würden ausgebeutet;
diejenigen, die solche Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen, seien potentielle Ausbeuter. Ich möchte dies ganz deutlich zurückweisen.
Hier wird eine qualifizierte Ausbildung vermittelt. Diese Ausbildung muß noch angereichert werden, und zwar heute in bezug auf neue Techniken, auf neue Technologien. Dies muß entsprechend aufgenommen werden, damit die Vermittlungschancen nach der Ausbildung auf Grund einer höheren Qualifikation steigen.
— Frau Steinhauer, die Technikfeindlichkeit, die Sie soeben angedeutet haben, ist sicherlich negativ.
Wir haben über 350 Ausbildungsberufe. Die Mädchen konzentrieren sich auf einen ganz, ganz engen Bereich. Sie sind kaum bereit, über den traditionellen Bereich hinauszugehen. Das Modellprogramm der Bundesregierung zur gewerblich-technischen Ausbildung hat gezeigt, daß die Ausbildung von Mädchen keine besonderen Schwierigkeiten macht. Das bedeutet: Mädchen interessieren sich dafür. Es muß aber noch verbreitert werden.
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Frau MännleDazu möchte ich alle Eltern aufrufen: Eltern, unterstützt eure Töchter! Ratet ihnen zu, in diese neuen Berufe zu gehen.
Ich möchte die Berufsberater und Berufsberaterinnen unten an der Basis aufrufen: Machen sie Mädchen ausreichend auf die zahlreichen Möglichkeiten aufmerksam, die bestehen! Motiviert sie, dorthin zu gehen!
— Die Stellen sind doch da. Wir haben es doch vorhin gehört. Gerade im gewerblich-technischen Bereich gibt es noch offene Stellen.
Natürlich möchte ich auch die Betriebe aufrufen: Machen Sie mehr Angebote! Machen Sie konkrete Ausbildungsangebote! Machen Sie konkrete Beschäftigungsangebote für gewerblich-technische Berufe! Beschäftigen Sie die Mädchen nach der Ausbildung weiter! Die vielen Hemmnisse, die gerade hier bestanden — denken Sie an die getrennten Waschräume und all diese Dinge —, sind inzwischen überwunden.
Ich habe aber den Eindruck, daß manche dies noch nicht wissen.Wir müssen sehr viel Aufklärungsarbeit leisten, noch mehr als bisher, um die hier bestehende ablehnende Haltung abzubauen. Diese Ablehnung — ich versuche, das deutlich zu machen — ist keineswegs gerechtfertigt.Aber neben Aufklärungsarbeit sind natürlich auch gezielte Maßnahmen von Bund und Ländern erforderlich. Die Koalitionsfraktionen haben im Rahmen der Haushaltsberatungen im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft gefordert, das Benachteiligtenprogramm so zu gestalten, daß die gleich hohe Anzahl von Neuaufnahmen möglich ist. Ich bitte alle diejenigen, die dieses Programm, das mit mehr Mitteln ausgestattet worden ist, umsetzen, die Mädchen bevorzugt zu berücksichtigen.
Das Wort hat Frau SeilerAlbring.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den „Stuttgarter Nachrichten" war kürzlich zu entnehmen, daß anläßlich einer Lehrstellenbörse 1 000 Lehrverträge angeboten worden sind. Aber nur einer ist abgeschlossen worden. Was zeigt uns dies? Einmal natürlich, daß ich in einer wirtschaftlich sehr gesunden Region wohne. Zum anderen zeigt es uns aber, daß wir hier nach Bundesländern und Regionen sehr differenzieren müssen. Meine Damen und Herren, Berufsbildungsabgaben und Umlagefinanzierungen sindkeine Instrumente, die eine genügende Differenzierung ermöglichen.
Lassen Sie mich bitte ganz kurz auf zwei Aspekte eingehen. In der letzten Woche wurde die Hochschulrahmengesetznovelle diskutiert, und es wurde sehr viel zur Gleichberechtigung und Chancengleichheit gesagt. Ich hoffe sehr, daß sich alle an ihre Reden erinnern, wenn es nicht um Programmatik geht, sondern konkret darum: Was kann man für die jungen Menschen, die heute noch nicht vermittelt sind — vor allen Dingen die Mädchen, die zwei Drittel der nichtvermittelten Lehrstellenbewerber ausmachen —, tun?Die FDP hat sowohl im vergangenen Jahr als auch in diesem Jahr sehr frühzeitig den Anstoß für eine Aufstockung des Benachteiligtenprogramms gegeben. Ich hoffe daher sehr, daß es uns im Haushaltsausschuß gemeinsam gelingen wird, wenigstens 4- bis 5 000 zusätzliche Neuaufnahmen, also insgesamt 9 000, in das Benachteiligtenprogramm für das nächste Jahr aufzunehmen.Wenn diese FDP-Initiativen schon im Vorfeld vom Deutschen Gewerkschaftsbund und von der SPD als Tropfen auf den heißen Stein abqualifiziert wurden, kann ich nur sagen: Uns wären viele Tröpfchen dieser Art sehr recht, wenn das für benachteiligte Jugendliche — auch für Mädchen in schwierigen Ausbildungsregionen — zusätzliche Hilfe schaffen würde.
Das Benachteiligtenprogramm mit den zusätzlichen besonderen Hilfen für Mädchen in schwierigen Ausbildungsregionen ist aber nur ein Punkt, wo es konkret darum geht, Chancengleichheit für alle jungen Menschen und Gleichberechtigung für die Frauen zu realisiern. Die Mädchen stellen, wie ich eben sagte, mit zwei Dritteln heute den größten Teil der unversorgten Lehrstellenbewerber. Regional gibt es sicherlich noch sehr viel größere Probleme. Hier muß man sagen, daß es noch sehr an der Aufklärung über die Chancen fehlt, wie man heute Mädchen auch in neuen Berufsfeldern unterbringen kann. Einen hohen Aufklärungsbedarf gibt es sowohl bei den Ausbildern als auch bei den Vermittlern. Wir müssen die jungen Mädchen immer mehr und immer wieder dazu auffordern, nicht nur sektoral, sondern auch — wenn es auch unbequem ist — regional mobil zu sein.Ein zweiter Aspekt, der sehr wesentlich ist. Der Rückgang der Studienanfängerzahl im Wintersemester 1984/85 um rund 5% und der weitere Rückgang der Studienneigung in diesem Jahr wurde vor kurzem in einer Pressemitteilung des BMBW als zunehmender Realismus der Abiturienten gelobt. Ich möchte das zuständige Ministerium aber sehr höflich bitten, Frau Minister, die Zusammenhänge zwischen Studienneigung und Ausbildungsstellensituation differenziert zu betrachten. Richtig ist, daß Abiturienten im dualen System der beruflichen Bildung gute Chancen haben und haben sollen. Richtig ist aber auch, daß der sprunghafte Anstieg der Abiturientenzahlen im dualen System die Chan-
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12190 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985
Frau Seiler-Albringcen der Realschul- und Hauptschulabsolventen beeinträchtigt. Richtig ist auch, daß die Abiturienten vornehmlich, etwa in den Büroberufen — Bank, Versicherung etc. —, dorthin drängen, wo weibliche Realschulabsolventen bisher große Chancen hatten. Die Bildungspolitik darf einen derartigen Verdrängungswettbewerb nicht verschärfen. Es darf auch keinen Rückfall in eine geschlechts- und schichtenspezifische Verteilung der Bildungschancen geben.Abschließend ein Wort zur SPD. Der Kollege Kastning und andere haben der FDP vorgeworfen, wir wollten die Ausbildungsplatzsituation gesundreden.
Ich weise diesen Vorwurf entschieden zurück und füge an, daß die FDP in Sachen Benachteiligungsprogramm viel eher aufgewacht ist als die dafür eigentlich prädestinierte Opposition.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Frau Dr. Wilms, Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf zunächst noch einmal zu den Fakten zurückkehren: Von 777 000 Bewerbern in diesem Ausbildungsjahr sind bis jetzt 92 % vermittelt. Es bleibt weiter festzustellen, daß wir einen dritten Lehrstellenrekord haben: Die Wirtschaft hat etwa 730 000 Angebote bereitgestellt. Ich danke den ausbildenden Betrieben, den Ausbildern, den Meistern, den Unternehmern, den Betriebs- und Personalräten von dieser Stelle für ihre große Leistung.
Diese Entwicklung zeigt, daß die Wirtschaft, und zwar Arbeitgeber und offensichtlich auch die Arbeitnehmer — ich sage das mit Dankbarkeit —, das Konzept, die Strategie der Ausbildung über Bedarf, mittragen.
Ich glaube, daß es zu dieser Strategie keinerlei Alternative gibt. Allerdings — es gibt überhaupt keinen Grund, dies zu verniedlichen —: Wir haben noch 8% Bewerber, die nicht vermittelt sind, das sind 59 700 junge Menschen. Die große Aufgabe, die jetzt allseits vor uns steht — ich denke, niemand entzieht sich dieser Aufgabe —,
ist, diesen jungen Menschen, die jetzt noch keine Ausbildungschance haben, eine solche Chance zu bieten.
Ich glaube, daß wir die Dinge auch in diesem Jahr mit gutem Mut angehen können. Denn es hat sich ja gezeigt — die Kollegen haben das hier deutlichgemacht —, daß es uns auch im Vorjahr gelungen ist, mehr dieser jungen Menschen sukzessive, Monat für Monat eine Bildungschance, eine Ausbildungschance zu geben. Sie kennen die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit. Ich möchte nur noch einmal darauf verweisen, daß etwa schon bis zum Dezember vergangenen Jahres weitere 22 000 Jugendliche vermittelt worden sind.
— Diese Ausgeschiedenen werden immer wieder neu aufgenommen; das wissen Sie, Herr Kollege Kuhlwein.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal feststellen — dies ist eine Aussage, die ich auch gegenüber den Medien mache
— Herr Kollege Lutz, ich habe den Eindruck, Sie wollen gar nicht, daß junge Menschen jetzt noch vermittelt werden —,
daß es jetzt darauf ankommt, den Jugendlichen, die heute noch nicht vermittelt sind, zu helfen.
Was ist zu tun? Zunächst: Die Bundesregierung hat das Benachteiligtenprogramm im Haushaltsentwurf 1986 auf 275 Millionen DM aufgestockt. Erlauben Sie mir, auch einmal darauf hinzuweisen, daß das Benachteiligtenprogramm einschließlich des Sonderprogramms 1983 in meiner Amtszeit insgesamt ein Volumen von 747 Millionen DM umfaßt.
Ich denke, dies ist ein großer Beitrag zu einer sehr gezielten und sozialen Bildungspolitik. Im übrigen haben wir für überbetriebliche Ausbildungsmaßnahmen und -stätten 205 Millionen DM in den Haushalt eingestellt. Insgesamt wurden in den vergangenen Jahren 805 Millionen DM für überbetriebliche Bildungsstätten zur Verfügung gestellt. Auch dies ist eine Leistung des Bundes für die Ausbildung junger Menschen.Lassen Sie mich weiter erwähnen, daß die Bundesregierung — im Gegensatz zu manchen anderen Bereichen —
ihr Ausbildungsplatzangebot weiter gesteigert hat, nämlich um 4,5%,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985 12191
Bundesminister Frau Dr. Wilmsso daß wir in diesem Jahr mit 31 500 Ausbildungsplätzen aufwarten können. Ich wünschte mir, daß alle Wirtschaftsbereiche und auch alle gemeinwirtschaftlich organisierten Bereiche
Jahr für Jahr eine solche Steigerung ihrer Ausbildungsleistungen vorweisen könnten. Ich darf ergänzend darauf verweisen, daß auch das Bildungshilfenprogramm des Bundesarbeitsministers verbessert und verlängert wird.Frau Kollegin Steinhauer, Sie haben völlig zu Recht auf die regionalen Unterschiede hingewiesen. Ich bedauere sehr, daß die Situation ausgerechnet in unserem gemeinsamen Heimatland NordrheinWestfalen so miserabel ist. Von den zehn schlechtesten Arbeitsamtsbezirken hinsichtlich der Ausbildungssituation liegen leider fünf Bezirke in Nordrhein-Westfalen.
Die Bundesregierung ist bereit — ich habe die Zahlen vorgetragen —, auch regionale Hilfen zur Verfügung zu stellen. Allerdings weise ich darauf hin, daß die Bundesregierung nicht in der Lage ist, alle regionalen Schwächen auszubügeln. Denn diese regionalen Schwächen — ihre Ursachen reichen zum Teil weit in die Vergangenheit zurück — liegen auch in falscher und mangelnder Wirtschaftsstrukturpolitik.
Das Thema Mädchen ist hier hinlänglich behandelt worden.
Ich unterstreiche sehr — Sie kennen meine Bemühungen —, daß wir die Angebote für Mädchen strukturell verbessern wollen, verbessern werden; wir sind hier ein Stück vorangekommen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend sagen, daß wir — es wird Sie nicht verwundern — den Vorschlägen des Kollegen Kuhlwein, eine Umlagefinanzierung vorzusehen bzw. eine entsprechende Abgabe zu erheben, selbstverständlich nicht folgen können.
Ich halte es nicht für gut, die Wirtschaft Jahr für Jahr mit solchen Forderungen zu verunsichern. Die Wirtschaft darf davon ausgehen, daß von dieser Bundesregierung — ich nehme an: von dieser Koalition — solche gesetzlichen Maßnahmen nicht auf den Weg gebracht werden.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogelsang.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Minister Wilms, bevor ich zur Sache komme, muß ich einen Vorwurf, den Sie gegen uns erhoben haben, mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Ich denke, es ist der Sache nicht angemessen, einem Teil dieses Hauses zu unterstellen, er wolle nicht, daß alle Jungen und Mädchen einen Ausbildungsplatz bekommen.
Wenn wir zum drittenmal leider gezwungen waren, diese Aktuelle Stunde zu beantragen, dann doch nicht deshalb, um dieser Regierung etwas am Zeuge zu flicken — das besorgt sie selbst viel besser, als wir das können —,
sondern es geht vielmehr einfach darum, daß wir unser Gewissen nicht einschläfern können gegenüber 60 000 jungen Menschen, die in diesem Herbst keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, und deren Eltern.
Ich will hier nicht nur als Anwalt einer Fraktion sprechen; ich will heute morgen als Anwalt dieser Mädchen und Jungen und deren Eltern sprechen, damit wir sie nicht vergessen. Ich schließe mich dem Dank an die ausbildende Wirtschaft an. Aber es ist ungenau, Frau Dr. Wilms, wenn hier im allgemeinen von „der" Wirtschaft gesprochen wird.
Es gibt doch große Unterschiede. Wenn Sie sagen, „die" Wirtschaft trage das Konzept der Bundesregierung mit, ist das sachlich falsch, weil der größere Teil der Wirtschaft eben nicht ausbildet und damit Ihr Konzept nicht mitträgt.
Sie haben vor zwei Tagen im Kabinett beschlossen, den jungen Männern ab 1989 durch die Verlängerung der Wehrdienstzeit von 15 auf 18 Monate eine erweiterte Pflicht aufzuerlegen.
Sie sagen heute: 92 % haben einen Ausbildungsplatz bekommen. Damit wollen Sie die 8 % derjenigen, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, relativieren. Ich frage Sie: Welch ein Aufschrei der Empörung würde durch dieses Haus gehen, wenn 8 % der durch diesen Beschluß des Kabinetts betrof-
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Vogelsangfenen jungen Leute aufstünden und sich zum Totalverweigerer erklärten?
Ich sage Ihnen das nur, damit Sie in Zukunft diese Relativierung der Zahlen unterlassen.
Ich will Ihnen damit auch sagen: Sie werden sehr kritisch gegenüber jungen Leuten sein, die sich einer staatlichen Verpflichtung entziehen. Ich habe das Wort „Totalverweigerer" gebraucht.
— Das Wort kommt insoweit von Ihnen. Ich räume ein: Es ist ein böses Wort. — Wie wollen Sie all die vielen Unternehmen bezeichnen, die Ihr Kabinettskollege Blüm als „Trittbrettfahrer" tituliert und die im Grunde genommen auf diesem Feld trotz aller Appelle von allen Seiten des Hauses und von allen Institutionen weiterhin wie Totalverweigerer handeln?
Das ist doch der Punkt.
Ich räume ein: Es ist richtig, daß die Bundesregierung in ihrem Aufgabenbereich mehr Ausbildungsplätze geschaffen hat. Es ist auch richtig, daß wir fast gemeinsam eine Aufstockung des Benachteiligtenprogramms wollen.
Es ist auch richtig, daß Sie die Politik der vorangegangenen Regierung in bezug auf die überbetrieblichen Ausbildungsstellen weiterverfolgen.Nur: Die Zahlen zeigen uns, Frau Wilms, daß das — dies ist der entscheidende Punkt — alles nicht ausreichend ist. Wir möchten Sie aus der Ecke des Immer-nein-Sagens herausholen. Wir möchten, daß Sie bereit sind, mit uns gemeinsam darüber nachzudenken, was man tun kann, damit auch diese 60 000 einen Ausbildungsplatz bekommen.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr von Waldburg-Zeil.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Vogelsang, Sie haben mit Recht gesagt, es sollten uns nicht nur die tagespolitischen Fragen interessieren, sondern die Zahlen, die hier zum Ausdruck kämen, hätten einen bildungspolitischen Hintergrund. Ich würde diese bildungspolitische Entwicklung gern kurz charakterisieren. Sie hat nämlich weder mit „Wende" als Konzept noch mit „Wende" als Vorwurf etwas zu tun, sondern sie zeigt eine Abstimmung mit Kopf und Fuß durch den Bildungskunden.92 000 Ausbildungsplatzbewerber haben Fachhochschul- oder Hochschulreife; einschließlich der Studienabbrecher und der Hochschulabsolventen sind es bereits 14,3 % aller Bewerber um betriebliche Ausbildungsplätze. Da kann man sicher bedauern, es würden Bildungschancen nicht genutzt; aber ehrlicher wäre es, zuzugeben, daß es eine grundvernünftige Sache ist, sich für einen Bildungsweg zu entscheiden, der auch berufliche Aussichten eröffnet,
statt das Heer der akademischen Arbeitslosen — siehe Lehrerschwemme — sinnlos zu vergrößern.
Ceterum censo, Herr Kollege: Bildungspolitisch ergibt sich daraus die Notwendigkeit, Fort- und Weiterbildung im Baukastenprinzip für spätere Jahre anzubieten.Eine wichtige Frage ist allerdings, ob die bildungspolitische Neuorientierung — hin zur beruflichen Bildung im dualen System, weg von allzu theoretischer, weg von nur am momentanen Interesse orientierter, weg von die ganze Jugend- und junge Erwachsenenzeit verschlingender Erstausbildung — nicht zu Verdrängungswettbewerben führt. Darauf ist schon hingewiesen worden.Gerade in den traditionell von Hauptschülern besonders gefragten gewerblich-technischen Berufen aber und im Handwerk ist die Nachfrage bereits deutlich gesunken. Nein, dieser Verdrängungswettbewerb findet an sich nicht statt;
das Problem liegt — Frau Männle ging darauf schon ein — bei den Mädchen, speziell bei den Mädchen, die ihr Interesse weiter auf den kaufmännischen und den Verwaltungsbereich sowie auf den Dienstleistungsbereich konzentrieren.Ich bin vollkommen damit einverstanden, daß wir nun versuchen sollen, die anderen Berufe für die Mädchen aufzuschließen. Ich glaube aber, daß wir ein Zweites tun sollten: Wir sollten vor Ort auch die sehr unterschiedlichen Wünsche von Mädchen stärker berücksichtigen und hierauf unsere Anstrengungen konzentrieren.Ein Wort zu den Zahlenspielen! Die Vermittlung von 92 % aller Ausbildungsplatzsuchenden zum 30.9., die neuen Rekorde sowohl in angebotenen Ausbildungsplätzen als auch in abgeschlossenen Verträgen, der nahezu völlige Abbau des Vorjahresrestes und die entsprechend günstigen Aussichten für die in diesem Jahr noch Unvermittelten zwingen j a die Opposition geradezu, von den in eigenen Regierungszeiten geschaffenen statistischen Daten abzurücken und andere Berechnungen anzustellen, um das günstige Bild nachzudunkeln.Ein Versuch ist dabei allerdings unbegreiflich: Nachdem die SPD durch zwei Jahrzehnte alles Heil der Lebenschancen der Menge theoretischer Bildung zugeordnet hatte, beklagt sie nun als den Unvermittelten zuzurechnende Gruppe diejenigen jungen Menschen, die aus eigener Entscheidung — weil sie den Ausbildungsplatz, der sie interessierte, nicht erhielten — nach dem Hauptschulabschluß die mittlere Reife, nach dieser das Abitur, den Ab-
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Graf von Waldburg-ZeilSchluß einer beruflichen Vollzeitschule oder ein Studium anstreben. Die Abqualifizierung eines bildungsmarktwirtschaftlich vernünftigen Verhaltens als Warteschleife oder Benachteiligung entspringt dem alten bildungsplanwirtschaftlichen Denkmodell: Die Wahrnahme von Bildungschancen ist nur gut, wenn sie als Ausschöpfung von Begabungsreserven organisiert wird; wird sie aber von jungen Bürgern in Abwägung tatsächlicher Angebote wahrgenommen, ist es plötzlich eine bildungspolitische Katastrophe. Das verstehe, wer will!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Weisskirchen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube nicht, daß wir unserer Aufgabe gerecht würden, wenn wir diese Debatte als eine bildungspolitische Detaildiskussion verstünden. Worum geht es denn wirklich? Nicht nur wird insgesamt rund 100 000 jungen Menschen — mit allen zusammen — der direkte Einstieg in den Beruf verwehrt, es werden auch bis zu 15% der Ausgebildeten in die Arbeitslosigkeit entlassen. Eine halbe Million junger Menschen ist arbeitslos. Die Frage ist: Reicht es aus, allein auf die Kräfte des autonomen Marktes zu setzen? Reichen denn Appelle aus?
Sie hatten doch versprochen, wenn wir den Unternehmern verbesserte Rahmenbedingungen schüfen, wenn die Kosten der Produktion gesenkt würden, wenn die Gewinne verbessert würden, dann würden für nach Arbeits- und Ausbildungsplätzen Suchende neue Chancen geschaffen. Das hatten Sie versprochen, und heute stellen wir fest: Das Gegenteil ist eingetroffen.
Die Arbeitslosigkeit verfestigt sich. Wir haben nach wie vor rund 100 000 junge Menschen — mit denjenigen, die unter die berühmten schulischen Maßnahmen der Bundesanstalt fallen —, die keine Chance bekommen. Nachdem Ihr Modell nicht funktioniert, müssen wir uns jetzt Gedanken machen, welche anderen Mechanismen wir in Gang setzen müssen, damit wir das Problem lösen.
Sie haben gesagt — und ich unterstreiche das —, daß es gut ist, daß wachsende Teile des Handwerks seiner Aufgabe nachgekommen sind. Wir sagen an dieser Stelle erneut allen denjenigen Dankeschön, die dazu beigetragen haben, daß es jungen Leuten möglich gemacht wird, einen Einstieg in das Berufsleben zu bekommen.
Ich lese Ihnen aber einmal vor, was das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung geschrieben hat und was über dpa gestern gemeldet worden ist: „Die erstaunliche Erhöhung der Ausbildungsintensität im Handwerk ist nicht allein auf die Appelle von Regierungen und Verbänden zurückzuführen. Die Lehrherren stellen zunehmend Auszubildende an Stelle von Vollerwerbskräften ein." Das ist ein Problem, auf das Sie bisher noch keine Antwort gefunden haben.
Wir haben Ihnen Jahr für Jahr, drei Jahre lang hintereinander, die notwendigen Sofortmaßnahmen angeboten. Sie haben Ihre Ideologie über Ihre eigenen Pflichten gestellt. Das ist das Problem.
Jeder, der weiß, daß drei Viertel der Industrie und die Hälfte des Handwerks nicht ausbildet, und wer erkennt, Herr Dr. Blüm — da sitzt er ja schon! —, daß es Trittbrettfahrer gibt, der muß Ihnen sagen: Kommen Sie doch endlich dazu, Lösungen anzubieten, wie man den Trittbrettfahrern den Preis abverlangt, den sie bezahlen müssen. Darauf kommt es an.
Herr Dr. Blüm, manchmal kommen Sie mir vor, wie eine Szene aus dem Untergang der „Titanic": Der Leichtmatrose Norbert Blüm auf dem Ausguck sagt: „59 000 sind jetzt in den Rettungsbooten, rund 40 000 haben einen Rettungsring, sind in den schulischen Maßnahmen, aber ansonsten haben wir eine glänzende Mannschaft auf der Titanic, die beste Regierung Europas", und die Musik — das Panikorchester — spielt dazu. Das ist Ihr Beitrag zur Lösung der Probleme der Jugend.
Wir schlagen Ihnen vor, daß Sie das richtig erkannte Problem nicht durch Lostrommeln zu lösen versuchen, sondern diese Betriebe zur Lösung der finanziellen Probleme heranziehen, damit endlich allen Jugendlichen die Chance gegeben wird, die sie brauchen und unsere Gesellschaft dazu.
Das Wort hat der Abgeordnete Scharrenbroich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Parlamentsneuling habe ich immer noch die Hoffnung, daß eine Aktuelle Stunde einen Sinn hat, und sie hat einen Sinn, wenn sie den Menschen hilft.
Da habe ich allerdings den Eindruck, Herr Kollege Weisskirchen, daß Ihre Schreierei, die Sie hier veranstaltet haben, den Betroffenen absolut nicht hilft. Trotzdem danke ich der SPD, daß sie diese Aktuelle Stunde beantragt hat; denn sie gibt uns die Gelegenheit, erstens den Lehrstellenrekord, den wir mit Hilfe der Wirtschaft im dritten Jahr aufgestellt haben, darzustellen.
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ScharrenbroichZweitens hilft diese Aktuelle Stunde, den jungen Leuten zu sagen : „Ihr könnt auf diese Bundesregierung vertrauen." Die Tatsachen belegen, daß sie Vertrauen in uns haben können.Drittens. Wir können den Beteiligten im Handwerk, in den Kammern, in der Bundesanstalt für Arbeit für die Anstrengungen danken, die sie unternommen haben.Wir müssen jetzt — viertens — vor allen Dingen appellieren, daß diejenigen, die noch nicht versorgt sind, jetzt versorgt werden. Wir müssen uns alle zusammentun.Ich muß eigentlich bedauern, daß Sie, meine Damen und Herren von der SPD, hier polemisieren, wir würden 30 000 bis 40 000 Jugendliche in Ersatzmaßnahmen schicken. Ich darf diese Ihre Zahl, Herr Kollege Kuhlwein, noch einmal zitieren. Damit ist doch endlich belegt, daß diese Regierung die Vermittlung von Arbeitsplätzen für Jugendliche nicht nur der Wirtschaft, nicht nur den Kräften des Marktes überläßt, sondern daß wir unser Instrumentarium der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik einsetzen.
Lassen Sie mich einen Satz zu dem Thema Ausbildungsplatzabgabe sagen. Sie haben die nicht eingeführt, und wir werden sie nicht einführen. Aber ich appelliere an meine Freunde in den Gewerkschaften: Damit ihr endlich glaubwürdig werdet und eure Glaubwürdigkeit fördert, macht doch das, was die IG Bau Steine Erden durchgeführt hat und was die IG Chemie beantragt hat, aber sonst keine einzige Gewerkschaft beantragt hat, daß nämlich für die Branche eine Kostenumlage in Tarifverhandlungen angestrebt wird. Warum hat das denn keine einzige Gewerkschaft aufgegriffen?
Als wir von den Sozialausschüssen die IG Chemie unterstützt haben,
wurden wir von anderen DGB-Gewerkschaften beschimpft, daß wir diesen Weg vorgeschlagen haben, der pragmatisch ist.Wir haben — ich will drei wichtige Punkte nennen — die jetzige Lage erstens dadurch geschaffen, daß wir die Rahmenbedingungen verbessert haben. Wir haben nämlich die Beschäftigtenzahl steigern helfen. Das ist eine Sache, wozu Sie nicht in der Lage gewesen wären. Das ist die Grundlage für jede Lösung des Ausbildungsproblems.Zweitens haben wir die Rechtsvorschriften geändert, die der Ausbildung geschadet haben. Wir haben dafür gesorgt, daß Totschützen aufhört. Wir haben das Arbeitsstättenrecht reformiert. Wir haben die Ausbildereignungsordnung angepaßt. Wir haben die Nichtanrechnung der Auszubildenden beim Zugang von Betrieben zum Kurzarbeitergeld geändert. Wir werden im Arbeitszeitrecht die Ausbildungschancen junger Frauen verbessern.Drittens werden wir heute bereits in der ersten Lesung der Siebenten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz klarmachen, daß uns auch die zweite Schwelle wichtig ist, daß wir hier ein Instrumentarium anbieten, daß wir, wenn wir sagen, die Wirtschaft soll über Bedarf ausbilden, hinterher die Jugendlichen, die so ausgebildet worden sind, nicht allein lassen.
Ich möchte zum Schluß noch eines sagen. Es wäre gut, wenn die Opposition statt Wehklagen und Anklagen auch einmal konstruktive, realisierbare Wege und Konzepte vorlegen würde.
Meine Damen und Herren, mit Phantastereien und Ideologie ist den Arbeitnehmern noch nie geholfen worden. Glücklicherweise wissen das auch mehr Jugendliche, als der Opposition lieb ist.Danke schön.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Odendahl.
Herr Präsident! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! In der Tat war man sich hier Gott sei Dank in einem einig: daß es darum geht, die 60 000 unversorgt gebliebenen Jugendlichen in den Vordergrund zu stellen. Es sind mehr. Sie haben nämlich die 35 000 in den schulischen Maßnahmen vergessen. Wir müssen hier von 100 000 reden. Es tut mir leid und ich empfinde es als ein Trauerspiel, daß man jedes Jahr, und zwar zweimal jährlich, darangeht, sich hier in Zahlenspielen zu ergehen,
indem man jetzt von 92% Versorgten und von nur 8% Unversorgten redet. Es ist in der Tat ein Lehrstellenrekord, Frau Wilms, aber es ist auch ein Rekord an unversorgt gebliebenen Jugendlichen.
Das muß man damit auch mal zum Ausdruck bringen. Dankbar ist die SPD-Fraktion natürlich auch. Aber wir wehren uns energisch dagegen, den Dank pauschal an die Totalverweigerer, an die, die nicht ausbilden, hier abzustatten.
Solange das geschieht, machen Sie sich halt nicht daran, die in die Pflicht mit einzubeziehen.Und jetzt wollen wir mal geschwind ins Detail gehen, weil der Herr Kollege vorhin gesagt hat, wir täten gar nichts, als zweimal im Jahr diese Bundesregierung hier vorzuführen. Wir haben, weil man es in diesem Sommer absehen konnte, sehr wohl gewußt, wie es am Ende des Berufsbildungsjahres aussehen wird, und haben ein Sofortprogramm vorgelegt. Dieses liegt auf dem Tisch.
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Frau OdendahlIch übergebe es dem Herrn Kollegen nachher sehr gern. Er kann da mal nachlesen. Da stehen ganz nützliche Dinge drin.
Da stehen auch sehr nützliche Dinge für Mädchen drin. Es geht doch nicht, Frau Wilms, daß man diesen Mädchen immer wieder vorhält, es seien ja eine ganze Menge Angebote im gewerblich-technischen Bereich vorhanden. Wie sieht es denn in meiner Region Mittlerer Neckar aus? Die Frau Kollegin hat das vorhin angesprochen. Natürlich gibt es da ein größeres Angebot an Ausbildungsplätzen. Aber die Arbeitgeber stellen schon von sich aus die Bedingung: Bitte keine Mädchen im gewerblich-technischen Bereich.
Ich halte gar nichts von Lehrstellenbörsen, auf denen Mädchen dann feststellen, daß sie einen ganz geringen Kurswert haben.
Wenn Frau Wilms es ernst nimmt, daß man auch den Mädchen die neuen Technologien eröffnen muß, dann müssen dafür von der Bundesregierung Mittel bereitgestellt werden, statt zu Schnupperkursen bei der „Brigitte" aufzurufen, die ein bißchen Fingersystem auf dem Computer erklären. Wir brauchen dafür qualifizierte Ausbildungslehrgänge. Die werden in der Wirtschaft leider im Moment im Computerbereich nur von 1 600 Betrieben angeboten, während der Bedarf viel größer ist.Also noch mal unser nachdrücklicher Appell heute: Nehmen Sie dieses Sofortprogramm in die Hand. Da sind deutlich Wege aufgezeigt. Mit Nichtstun werden Sie im nächsten Jahr eine noch miesere Bilanz vorweisen müssen.
Das Wort hat der Abgeordnete Rossmanith.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einen Dank an Sie, Frau Kollegin Odendahl, daß Sie den Lehrstellenrekord, den wir dieses Jahr erzielt haben, expressis verbis vor diesem Haus für Ihre Fraktion zum Ausdruck gebracht haben.
— Ich komme auf diesen Zwischenruf gleich zu sprechen, sehr verehrte Frau Däubler-Gmelin. Denn wenn es nach Ihnen gegangen wäre — lassen Sie mich die Zahlen gleich vorweg sagen —, dann hätten wir eine noch viel, viel schlechtere Bilanz.
Ich will natürlich, Frau Odendahl, auch auf die 8 % eingehen. Wie kommen Sie denn zu der vermessenen Behauptung, wir würden uns darüber freuen, daß es 8 % sind?
Natürlich fühlen wir mit den knapp 60 000, die noch auf der Straße stehen und im Moment noch keine Lehrstelle haben, und wollen ihnen helfen und haben ihnen im vergangenen Jahr, als wir ähnliche Zahlen hatten, geholfen, so daß wir von diesen knapp 60 000 jetzt nur noch knapp 4 000 unterbringen mußten.
Nur, lassen Sie mich eines sagen: Jeder dritte unvermittelte Ausbildungsstellenbewerber kommt aus einer Region, die Sie, Frau Steinhauer, vertreten: aus Nordrhein-Westfalen.
Fragen Sie doch mal Ihren designierten Kanzlerkandidaten, Herr Vogel, was er denn dagegen zu tun gedenkt
— sehen Sie, Sie bezeichnen das als Stuß, Herr Vogel. Das spricht für Sie —,
daß in Nordrhein-Westfalen das Verhältnis zwischen Lehrstellenbewerbern und Lehrstellen 8 zu 1 ist,
während wir in Bayern ein ausgeglichenes Verhältnis haben. Wir haben sogar einen Überhang an Stellen. Sie wissen ganz genau, daß neulich eine Aktion gelaufen ist, bei der Lehrstellenbewerber von NRW nach Bayern, nach München vermittelt wurden, und zwar mit sehr großem Erfolg.
Ich frage mich, ob das nicht eine Bilanz ist, die sich sehen lassen kann: daß wir 100 000 Lehrstellen zusätzlich geschaffen haben, daß wir über 200 000 Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen haben, und das zu Beginn einer Politik, die an eine Politik anknüpfen mußte, an deren Ende — man muß schon sagen — das Desaster — gelegen hatte.
In einem, Herr Kollege Weisskirchen, muß ich Ihnen an sich zustimmen: Das mit dem Panikorchester ist schon richtig. Nur, das Panikorchester spielen Sie,
nachdem wir das Schiff gerade noch vor dem Untergang retten konnten.
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Rossmanith— Frau Däubler-Gmelin, Ihnen wird das Lachen sicher noch vergehen. Wenn Sie das — diese 60 000 — als lustig empfinden,
kann ich hier wirklich nur mit Unverständnis darauf reagieren.
Weil Sie vorhin gesagt haben, Sie haben das nicht in Zusammenarbeit mit den Kammern getan: Das darf ich für meine Region auch erwähnen, in Zusammenarbeit mit den Kammern haben wir dieses Jahr im Regierungsbezirk Schwaben 25 % zusätzliche neue Lehrverträge im Vergleich zum Jahr 1984 abschließen können. Wir haben diese Zahl erreicht. Wir sind zu den Betrieben hinausgegangen,
die noch nicht ausbilden. Nur, 80 % der Arbeitnehmer sind in diesen Betrieben beschäftigt, die heute ausbilden. Lassen Sie mich diesen Betrieben, lassen Sie mich den Ausbildern, dem Personal, den Betriebsräten, lassen Sie mich aber auch den Eltern und den Jugendlichen, die sich sehr mobil gezeigt haben, ein herzliches Wort des Dankes aussprechen.Es ist nicht so — das ist mein letzter Satz —, wie immer dargestellt wurde, daß hier nicht Lehrstellen angeboten werden. In der Freisprechungsfeier letzthin in Memmingen im Unterallgäu — in meinem Wahlkreis — sind drei Lehrlingsbeste Mädchen in gewerblich-technischen Berufen gewesen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes
— Drucksache 10/3923 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Innenausschuß, Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache.
Das. Wort hat der Herr Abgeordnete Zink.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir heute die Siebte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz einbringen, durch die jährlich rund 400 000 Arbeitslosebzw. Arbeitnehmer begünstigt werden, dann ist es, denke ich, ein Gebot der Ehrlichkeit, darauf hinzuweisen, daß niemand von uns ein Patentrezept zum raschen und vollständigen Abbau der hohen Arbeitslosigkeit hat. Aber mit dieser Gesetzesnovelle werden wir einige weitere wichtige Schritte auf dieses Ziel hin machen. Es gibt seit einigen Monaten Anzeichen für eine spürbare Besserung auf dem Arbeitsmarkt. Die Auslastung der industriellen Kapazitäten ist seit Mitte 1982 um mehr als 10 % gestiegen. Die Zahl der Kurzarbeiter ist mit 100 000, gemessen an den Kurzarbeiterzahlen des vergangenen Jahres, die bei über 1 Million gelegen haben, verschwindend gering.
Die Investitionsbereitschaft der Unternehmen steigt spürbar an. Innerhalb der privaten Inlandsnachfrage zeigen auch die Verbrauchsausgaben der privaten Haushalte erstmals seit längerer Zeit wieder spürbar nach oben.Mitte des Jahres, meine Damen und Herren, waren die Beschäftigtenzahlen bereits um 165 000 höher als vor einem Jahr. Für das nächste Jahr läßt sich ein Andauern, ja sogar eine Verstärkung dieser positiven Entwicklungen absehen, zumal wir angesichts der hohen Preisstabilität, der guten Wirtschaftslage und der Anfang 1986 in Kraft tretenden Steuererleichterungen und neuen familienpolitischen Leistungen mit deutlichen Steigerungen der verfügbaren Realeinkommen der Arbeitnehmer rechnen können.Wenn wir trotzdem die Hände nicht in den Schoß legen, sondern mit dieser Siebten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz die Ausgaben zur Qualifizierung der Arbeitslosen und Arbeitnehmer erhöhen und zweitens zur Verbesserung der finanziellen Lage von Langzeitarbeitslosen mehr als 1,3 Milliarden DM pro Jahr aufstocken, dann nicht nur deshalb, weil wir auch im kommenden Jahr wieder mit einem Zuwachs des Potentials von Erwerbslosen um mehr als 100 000 rechnen müssen, sondern vor allem auch, weil die Regierungskoalition fest entschlossen ist, alle ihr zur Verfügung stehenden seriösen und verantwortbaren Mittel einzusetzen, um auch die absoluten Arbeitslosenzahlen spürbar nach unten zu senken.
— Sehr gut.Meine Damen und Herren, wir finden uns nicht mit dieser hohen Arbeitslosigkeit ab.
Selbst günstige Perspektiven sowie auch eine seit Mai dieses Jahres deutliche Tendenz zum Sinken der saisonbereinigten Zahlen genügen uns nicht. Aber ich betone noch einmal: Wir setzen alle seriösen und verantwortbaren Mittel zum Abbau der Arbeitslosigkeit ein, und auch die Polemik der Opposition wird uns nicht davon abbringen können, die
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985 12197
ZinkFehler der SPD-geführten Bundesregierung aus den Jahren 1976 bis 1980 nicht zu wiederholen.
Schuldenfinanzierte staatliche Beschäftigungsprogramme — das hat sich in diesen Jahren eindrucksvoll erwiesen — bringen überhaupt nichts auf dem Arbeitsmarkt.
Bereits kurzfristig werden die positiven Beschäftigungswirkungen durch die negativen Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen kompensiert, durch höhere Zinsen, durch höhere Preissteigerungsraten, die zur Gefährdung zahlreicher Dauerarbeitsplätze geführt haben. Später käme, wenn wir es täten, wie gehabt, der große Katzenjammer. Wir haben ja gesehen, wie der Arbeitsmarkt in den Jahren 1981/82 fast zusammengebrochen ist, als die SPD-geführte Bundesregierung
die Programme wegen des von ihr verschuldeten erbärmlichen Zustandes der öffentlichen Kassen nicht mehr durchhalten konnte, bei allem Bemühen um rasche und wirksame Maßnahmen zum Abbau der Arbeitslosigkeit. Wir weigern uns, Politik nur für den Wahltag zu machen. Wir weigern uns, Augenwischerei statt verantwortliche Politik zu betreiben.
Meine Damen und Herren, wir können Politik nicht nur nach dem Motto machen: Nach uns die Sintflut, auch nicht, wenn es um das wichtigste innenpolitische Anliegen geht, das wir haben, um den Abbau der hohen Arbeitslosigkeit. Aber wir handeln, wann immer sich die Chancen für eine wirksame Maßnahme bieten. Als erkennbar wurde, daß sich auf Grund unserer konsequenten Sparbemühungen und der erhöhten Beschäftigungszahlen als Folge unserer erfolgreichen Wirtschaftspolitik
Spielräume zur Finanzierung von zusätzlichen Maßnahmen durch die Bundesanstalt für Arbeit eröffnen, daß sich die Überschüsse des vergangenen Jahres in diesem Jahr und in den kommenden Jahren fortsetzen werden, haben wir unverzüglich mit den Arbeiten an dieser heute eingebrachten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz begonnen.
Wir wollen dieses Bündel von Maßnahmen im Rahmen der siebenten AFG-Novelle so früh wie möglich, nämlich zum 1. Januar 1986, in Kraft setzen;
denn die Arbeitslosen und die jungen Menschen, die vor der Schwelle des Arbeitsmarktes stehen, erwarten von uns jetzt Hilfe und nicht etwa in zehn oder fünfzehn Monaten.
Diese Finanzierung des Maßnahmenpaketes, meine Damen und Herren, ist auch mittelfristig gesichert. Es hat in den vergangenen Wochen einige Verwirrung auf Grund von Meldungen gegeben, wonach sich die derzeitige Überschußsituation bei der Bundesanstalt für Arbeit im kommenden Jahr schon wieder in ein sachliches Defizit verwandeln werde. Dies ist eine typische Teilwahrheit, die, wie meistens bei Teilwahrheiten, das Verständnis der tatsächlichen Lage völlig verstellt. Die ganze Wahrheit ist nämlich, daß bei Inkrafttreten dieser Maßnahmen zum 1. Januar 1986 im kommenden Jahr ein Teil der gut 5 Milliarden DM aufgebraucht wird, die sich bis Ende dieses Jahres bei der Bundesanstalt für Arbeit als Überschüsse ansammeln werden.
Ab 1987 werden wir aber mit einer bereits beschlossenen Anhebung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge um 0,3 % und dem gleichzeitigen Sinken der Rentenversicherungsbeiträge um 0,5% die Einnahmen der Bundesanstalt für Arbeit wieder spürbar erhöhen, so daß sich die Kosten des Maßnahmenpaketes voll aus den laufenden Einnahmen finanzieren lassen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, daß es uns jetzt möglich ist, diese Leistungsausweitungen aus den Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit zu finanzieren, daß wir Ende des Jahres dort eine Rücklage von 5 Milliarden DM vorfinden, nachdem noch für den Haushalt 1983 vor dem Wirksamwerden unserer Politik nach dem Regierungswechsel ein Defizit von fast 14 Milliarden DM drohte, grenzt fast an ein Wunder.
Aber auch für dieses Wunder gibt es rationale Erklärungen.
Dieses Wunder ist möglich geworden durch die erstmals seit vielen Jahren steigenden Beschäftigungszahlen und vor allem durch die Sparopfer — dies sei gar nicht unterschlagen —, die die Arbeitslosen ohne familiäre Verpflichtungen sowie andere Leistungsempfänger bei der Bundesanstalt für Arbeit in den vergangenen Jahren erbracht haben.
Diese Sparmaßnahmen waren keine Fehler und keine überzogenen Einschnitte, die von uns in einer ersten Spareuphorie oder unter dem Druck der Erkenntnis der tatsächlichen Kassenlage
beim Bund und bei den Sozialversicherungsträgernnach dem Kassensturz 1982/83 beschlossen worden
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12198 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985
Zinksind. Wir stehen zu diesen Sparmaßnahmen, denn es gab in den Haushalten von 1983 und 1984
keine Alternative zu dieser Sparpolitik, als das Schuldengebirge im Bereich des Bundeshaushaltes und die gigantischen Strudel der Defizite bei der Arbeitslosen- und bei der Rentenversicherung die Politik nahezu handlungsunfähig machten
und die Konjunktur mit eisernen Ketten am Boden festgebunden war.
Die Arbeitslosen und die übrigen Leistungsempfänger bei der Bundesanstalt für Arbeit haben ihren Beitrag geleistet zur Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und zum Konjunkturaufschwung.
Dies ist neben den sachlichen Notwendigkeiten ein weiterer Grund, weshalb wir jetzt, nachdem sich unsere Politik auch in der Kasse der Bundesanstalt für Arbeit positiv niederschlägt, diesen Spielraum in erster Linie nutzen wollen, um die finanzielle Lage der am härtesten von der Arbeitslosigkeit betroffenen Bürger zu verbessern und die Arbeitslosigkeit mittels Qualifizierungsmaßnahmen noch wirksamer zu bekämpfen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, es sind jetzt bereits mehr als zehn Jahre vergangen, seit die Arbeitslosenzahlen die Millionengrenze überschritten haben. Seit diese Grenze bei den Arbeitslosenzahlen überschritten worden ist, gibt es eine ständig wachsende Zahl von Langzeitarbeitslosen. Das gilt vor allem für ältere Arbeitnehmer, die bei der angespannten Situation auf dem Arbeitsmarkt nur schwer wieder einen Arbeitsplatz finden können, wenn sie einmal arbeitslos geworden sind. Deshalb ist die Verlängerung der Höchstanspruchsdauer beim Arbeitslosengeld für Arbeitslose ab 45 Jahre, die dann bei älteren Arbeitnehmern ab 55 Jahre demnächst sogar 24 Monate betragen wird, ein Akt der Solidarität und eine wichtige Hilfe zur Verbesserung der Lebenssituation dieser Menschen.
Gleichzeitig wird damit die Funktionsfähigkeit der Arbeitslosenversicherung gestärkt, denn eine Versicherung, bei der ein nicht unwesentlicher Teil der Versicherten nach Eintreten des Schadensfalles irgendwann keine Versicherungsleistungen mehr erhält, müßte sich, wenn dies ein Dauerzustand würde, die Frage nach der Existenzberechtigung gefallen lassen.Auch die Verdoppelung der Ehegattenfreibeträge und der Kinderfreibeträge bei der Bedürftigkeitsprüfung in der Arbeitslosenhilfe auf demnächst 650 DM bzw. 300 DM ist ein Akt der Gerechtigkeitgegenüber verheirateten Arbeitslosen, die wirklich überfällig war, nachdem diese beiden Freibeträge von der SPD-geführten Bundesregierung während ihrer gesamten 13jährigen Regierungszeit trotz hoher Inflationsraten nicht angepaßt worden sind.
Lassen Sie mich ein paar Anmerkungen machen zu der vorgesehenen Befreiung der Arbeitslosen ab 58 Jahren von der Vorschrift, der Arbeitslosenvermittlung zur Verfügung stehen zu müssen. Ich möchte betonen, daß dies eine freiwillige Angelegenheit bleibt. Wer mit 58 Jahren als Arbeitsloser glaubt, noch eine Vermittlungschance zu haben, ist davon überhaupt nicht betroffen. Aber wir sollten doch ehrlich zueinander sein und feststellen: Die überwiegende Mehrheit der Arbeitslosen über 58 Jahre hat ja kaum eine Chance, noch einmal vermittelt zu werden. Es ist eine Lebenslüge, zu der wir sie zwingen, wenn wir den Bezug von Leistungen für sie davon abhängig machen, daß sie der Vermittlung zur Verfügung stehen.
Die von uns hier vorgesehene Maßnahme ist nach unserer Auffassung ein Gebot der Vernunft und der Humanität.
Wer glaubt, diese Maßnahme — wie dies z. B. auch die Frau Kollegin Fuchs im Vorfeld getan hat — aus parteitaktischen Gründen als Manipulation der Arbeitslosenstatistik diffamieren zu müssen, der handelt in dieser Angelegenheit — um es gelinde auszudrücken — schäbig.
Wir haben in der Vergangenheit alle Vorschläge, durch definitorische Änderungen die Zahl der registrierten Arbeitslosen künstlich zu senken, zurückgewiesen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, einer der Schwerpunkte dieser heute eingebrachten Novelle sind Maßnahmen, die weitere Erleichterungen und Anreize bei der Qualifizierung von Arbeitslosen bringen. Ich halte dies für einen ganz zentralen Punkt bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Immer dann, wenn sich — wie es in den Jahren 1982 und 1983 der Fall war — auf dem Arbeitsmarkt nichts bewegt, ist auch mit Qualifikationsmaßnahmen normalerweise nicht viel zu machen, aber diese Situation haben wir hinter uns gelassen:
Offene Stellen werden wieder besetzt, neue Arbeitsplätze wurden geschaffen, in manchen Branchen und Regionen halten die Unternehmer bereits intensiv nach Fachkräften Ausschau.
In einer solchen Situation ist Qualifizierung nicht nur ein besserer Schutz für den einzelnen gegen Arbeitslosigkeit, sondern wird auch zum entscheidenden arbeitsmarktpolitischen Instrument, um die
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985 12199
ZinkEntwicklung zu einem gespaltenen Arbeitsmarkt zu verhindern, auf dem Fachkräftemangel und hohe Arbeitslosigkeit nebeneinander existieren würden.Deshalb möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auch darauf lenken, daß wir in diesem Qualifizierungspaket vor allem Maßnahmen vorgesehen haben, die jungen Menschen dabei helfen sollen,
die Schwelle zum Arbeitsmarkt zu überspringen. Am Ende der Aktuellen Stunde hat diese Frage ja gerade eine Rolle gespielt. Diejenigen, deren Qualifikation in der Vergangenheit nicht ausgereicht hat, sollen durch unsere Maßnahmen eine passende Qualifikation und damit berufliche Chancen angeboten erhalten.Angesichts der hohen Zahlen der Geburtsjahrgänge bis 1967, die jetzt auf den Arbeitsmarkt strömen, müssen wir uns darum bemühen, die Situation zu vermeiden, die sich bei einem vollen Omnibus ergibt: Wir müssen vermeiden, daß beim Zugang zum Arbeitsmarkt immer nur so viele zusteigen können, wie vorher ausgestiegen sind, während die übrigen draußen bleiben.Herr Präsident, meine Damen und Herren, mit der siebten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz will die Koalition der Mitte einen weiteren Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Linderung ihrer Folgen leisten.
Ich möchte aber an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweisen, daß heute auch den Unternehmen und Betrieben die große Verantwortung zukommt, diese Bemühungen zu unterstützen. Wann immer junge Menschen selbst nach Abschluß praxisnaher und moderner Ausbildungsgänge keine Arbeit finden, weil die Arbeitgeber nur Fachkräfte mit Berufserfahrung suchen, halte ich das für eine nicht gute Angelegenheit. Ich appelliere an alle Arbeitgeber, junge Fachkräfte auch ohne Berufserfahrung einzustellen und innerbetrieblich einzuarbeiten sowie entsprechend zu qualifizieren.
Meine Damen und Herren, man sollte nicht nur über einen zunehmenden Fachkräftemangel jammern. Mit politischen Maßnahmen allein ist der Arbeitslosigkeit nicht beizukommen. Ich appelliere deshalb an alle an der Wirtschaft Beteiligten, jetzt zu handeln.Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lutz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe eine unangenehme Aufgabe: Ich muß meinem verehrten Kollegen Otto Zink widersprechen. Leichter wird diese Aufgabe dadurch, daß er immer dann, wenn etwas seiner Meinung nicht entsprach, am Blatt hing; als er unsere Wirtschaftspolitik geißelte, geriet er etwas in Stottern.Heute haben wir über einen Gesetzentwurf zu beraten, der dieser Wendekoalition, der leider auch der Kollege Otto Zink angehört, alle Unehre macht. Das, was Sie, Kollege Otto Zink, soeben als Reform gepriesen haben, ist der Wechselbalg einer solchen, und so schaut er auch aus. Wir müssen wissen: Heute wird über die Verwendung von Überschüssen entschieden, die eigentlich gar nicht hätten entstehen dürfen.
Es sind Überschüsse, die durch Leistungskürzungen bei den Empfängern von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe entstanden sind.
Wir alle — Sie auch — müssen darüber nachdenken. Vernünftigerweise wäre der Überschuß, wenn er denn entstanden ist, durch eine Sparmaßnahme an die Arbeitslosen zurückzugeben.
Aber seit der Wende wird das alles wieder anders buchstabiert. Jetzt wird das Geld, das man den Arbeitslosen aus der Tasche gezogen hat, zu einer Senkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung verwendet.
Im Klartext heißt das: Diejenigen, die in Arbeit stehen, werden jetzt in den Genuß einer Beitragssenkung von durchschnittlich — ich setze die Einkommen sehr hoch an; Sie werden es gleich merken —1,68 DM im Monat kommen. 1,68 DM!
Damit ich auf Sie komme: Für die Unternehmen rechnet sich das natürlich besser, denn pro 100 Arbeitnehmer sind es 168 Mark, die nicht mehr zu bezahlen sind.
Für Siemens — ich vermisse den Kollegen George — rechnet sich das noch besser. Dort sind es 44 400 DM. Ich sage Ihnen: Sie sollten sich schämen,
daß Sie den Arbeitslosen das Geld nehmen und es dorthin weitergeben.
Um Herrn Blüm zu zitieren, der erfreulicherweise unter uns weilt: „Die Arbeitslosen dürfen jetzt den Arbeitsbesitzern und ihren Chefs ein kleines Dankopfer bringen." — Ich bin nicht sicher, daß sie dankbar sind, aber das Opfer müssen sie bringen. Das wird ihnen abverlangt.Ich meine, wir sollten uns alle gemeinsam schämen, daß so etwas überhaupt vorgeschlagen wird. Und wir sollten uns alle gemeinsam bemühen, daß in der weiteren Gesetzesberatung nicht ein solcher Irrweg eingeschlagen wird. Ich kann nur an Sie alle appellieren — es sind auch von unserer Seite im
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12200 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985
LutzAugenblick nicht sehr viele im Plenum —, dies zu einem Anliegen zu machen und zu verhindern, daß Arbeitslose die Arbeitsbesitzer, um Herrn Blüm zu zitieren, künftig finanzieren. Ich finde, das ist ein schlechter Weg.Lassen Sie mich Ihr Machwerk noch weiter durchflöhen. Der Kollege Otto Zink war da nicht so weit. Die von Ihnen vorgesehenen Rücknahmen von Leistungsverkürzungen erfolgen nur zaghaft und halbherzig. Nur gut ein Drittel des gesamten Überschusses, den Sie den Arbeitslosen genommen haben, wird an die Arbeitslosen zurückgegeben.Die Maßnahmen zur Verbesserung der beruflichen Bildung werden ausschließlich von dem Geld finanziert, das man den Arbeitslosen vorher durch Leistungskürzung weggenommen hat. Man soll das immer wissen, und ich sage es Ihnen in dieser Rede noch ein paarmal.
Gleichzeitig entlastet sich der Bund — das ist ja das Schlimme — um 549 Millionen DM, ohne dieses Geld wieder in eine vernünftige Beschäftigungspolitik — das wäre ja noch möglich — umzusetzen. Der Bund tut es nicht!
— Den Finanzminister sehe ich leider nicht auf der Regierungsbank. Er hat gute Gründe, nicht anwesend zu sein, denn er hat 549 Millionen DM eingestrichen.
— Wenn Sie die Geduld hätten, die ich mit Ihrem Kollegen Otto Zink auch hatte, dann würden Sie auch bei diesem Punkt noch zuhören. Ich bin längst bei der Sache. Wenn Sie es nicht begreifen, dann kann ich Ihnen leider auch nicht helfen.
— Soll ich es noch einmal wiederholen? — Der Finanzminister spart mit diesem Gesetzentwurf 549 Millionen DM, die er den Arbeitslosen vorher aus den Taschen gezogen hat.
Schließlich manipulieren Sie auch noch an der Arbeitslosenstatistik herum. Sie erdreisten sich auch noch, das alles in der Öffentlichkeit als Reform anzupreisen. Der Minister wird es machen. Er wird wieder sagen, es sei eine der größten Reformen, die es je gab.
Er wird es tun, aber man wird ihm nicht mehr glauben.Sie rühmen sich, daß das Unterhaltsgeld für Fortbildung und Umschulung von bisher 63 bzw. 70 % auf nunmehr 65 bzw. 75% angehoben wird. Sie verschweigen gleichzeitig, daß diese Verbesserung dieLeistungskürzungen, die Sie 1984 beschlossen haben, nicht wettmacht.
— Da habe ich von diesem Podium aus deutlich genug geredet. Ich habe keinen Nachholbedarf an Kritik.
Sie haben einen Nachholbedarf an Nachdenken. Das versuche ich heute zu erreichen.
Sie korrigieren den von Ihnen selbst beschlossenen Unsinn, die Aufstiegsfortbildung zur Ermessensleistung der Bundesanstalt für Arbeit zu machen. Gut so. Aber erwarten Sie dafür bitte kein Lob von uns! Sie benutzen die Überschüsse, die aus den Leistungskürzungen bei den Arbeitslosen entstanden sind — daran müssen wir Sie immer wieder erinnern —, um das Unterhaltsgeld für Berufsanfänger nach abgeschlossener Berufsausbildung wieder auf den Stand zu bringen,
der vor 1984 Gesetz war. Der Schritt ist richtig. Lob dafür verdienen Sie nicht.Noch weniger sind Sie dafür zu rühmen, daß Sie mit dem Geld, das Sie Arbeitslosen weggenommen haben, den Unternehmern den Abschluß befristeter Arbeitsverträge per Zuschuß erleichtern. Dafür verdienen Sie kein Lob. Sie machen die von Ihnen 1984 beschlossenen Kürzungen
— ich rede immer zum Thema; wenn Sie es noch nicht begriffen haben, schauen Sie sich das Gesetz mal an — des Übergangsgeldes für Rehabilitanten zum Teil — aber eben nur zum Teil — rückgängig. Auch dafür verdienen Sie kein Lob. Schlimm genug, daß Sie nur zu einer Teilkorrektur bereit sind.Sie wollen mit dem Geld, das Sie den Arbeitslosen weggenommen haben, die Förderung selbständiger Tätigkeit durch Arbeitslose unterstützen. Bei Siemens würden Sie keine solche Korrektur vornehmen. Die Vorstandsetage würde lachen, wenn Sie einerseits eine Subvention wegnähmen und eine andere dem Siemens-Konzern gäben. Sie müssen einmal darüber nachdenken, was Sie mit den Arbeitslosen tun.
— Nun schreien Sie doch nicht so, ich bin ja auch ganz moderat.
— Sie müssen doch nicht schreien. Wer schreit, wer brüllt, hat unrecht. Ich brülle nicht.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985 12201
LutzSie wollen die Fristen für den Bezug des Arbeitslosengeldes verlängern. Dem stimmen wir zu. Wir meinen allerdings, daß die Bezugsdauer für Arbeitslose über 55 generell auf zwei Jahre ausgedehnt werden müßte, weil mit jedem Jahr Ihrer Regierungszeit die Dauer der Arbeitslosigkeit um einen Monat steigt. Das müssen Sie wissen.
Sie korrigieren etwas Ihre vorherige Verschärfung der Sperrfristenregelung. Aber Sie machen das nur halbherzig und damit, wie uns scheint, völlig unzureichend.
— Das hätte ich jetzt nicht sagen wollen. Aber es stimmt: Ihre Politik ist herzlos. In der Rechnung, in der Summe ist sie herzlos. Aber ich wollte Sie heute nicht damit traktieren, weil das im Wissen des Volkes mittlerweile Allgemeingut ist.
— Herr Seiters, das habe ich vorhin schon gerügt. Aber die neun Sozialdemokraten wissen, daß ihnen leider eine Blockmehrheit gegenübersteht, die dieses Schandgesetz letztendlich beschließen wird.
— Das Wort „Schandgesetz", diesen Wechselbalg von Gesetz, nehme ich sofort zurück, Entschuldigung. Er hat mich provoziert, ich lasse mich leider immer provozieren.Sie verdoppeln die Freibeträge, bis zu deren Höhe das Einkommen von Ehegatten und Eltern bei einer Bedürftigkeitsprüfung in bezug auf die Arbeitslosenhilfe unberücksichtigt bleibt. Gut so, sage ich, gut so!
Aber: Wir haben es lange genug gefordert, daß das passiert.
Nicht gut ist Ihr Trick, Arbeitslose vom 58. Lebensjahr an durch eine Änderung des Arbeitslosengeldrechtes aus der Statistik herauszurechnen. Das geht nämlich so: Solche Arbeitslosen sollen auch dann Arbeitslosengeld erhalten können, wenn sie der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehen.
Wie schön, denkt der Bundesbürger, übersieht dabei aber, daß die vermeintliche Verbesserung —weil sie keine ist — lediglich dazu dient, Arbeitslose, die älter als 58 Jahre sind, aus der Statistik herauszurechnen.
Man kann es anders machen. Man kann den älteren Arbeitslosen Arbeit verschaffen; das ist ja auch deren Wunsch. Sie wollen j a nicht arbeitslos sein, sie wollen beschäftigt werden, sie wollen diese Republik weiterentwickeln. Aber Sie hindern sie aus ideologischer Verklemmung daran.
Sie haben vor, die Amtszeit des Präsidenten und des Vizepräsidenten der Bundesanstalt für Arbeit zu begrenzen. Sie soll nur acht Jahre betragen, und eine Wiederberufung soll künftig nur um weitere vier Jahre möglich sein.
Na, gut. Ich habe zwar auch etwas gegen Lebenszeit-Präsidenten, aber wenn Sie das als Disziplinierungsmittel etwa gegen die Vizepräsidentin einsetzen wollen, dann kriegen Sie Ärger mit uns, um das hier einmal ganz deutlich zu formulieren.
— Natürlich, die Dame ist charmant, sie ist klug und kenntnisreich, und wir stehen voll hinter ihren Aussagen. Auch heute war sie wieder im Rundfunk zu hören, und zwar in einer Weise, die ich eigentlich dem Präsidenten wünschen würde. Aber wenn's der Präsident nicht macht, muß es wohl die Vizepräsidentin tun.
— Natürlich; auch Sie werden gut bezahlt.Es gibt in Ihrem Gesetzentwurf Elemente, denen wir zustimmen können und zustimmen werden. Ich meine allerdings, daß man weiterdenken muß. Wir Sozialdemokraten wollen eine Verbesserung des Arbeitsförderungsgesetzes, aber eine ohne Wenn und Aber. Das den Arbeitslosen zugefügte Unrecht muß rückgängig gemacht werden.
Wenn Überschüsse entstehen, dann stehen sie nur- ich sage: nur — den Arbeitslosen zur Verfügung, niemandem sonst.
Wir wollen ein Arbeitsförderungsgesetz, das Arbeit wirklich fördert. Wir wollen ein Gesetz, das die von dieser Koalition beschlossenen Leistungskürzungen — ich sagte es schon — ohne Wenn und Aber zurücknimmt. Und wir wollen eine Politik von Ihnen — wir fordern sie von Ihnen; wir werden Sie
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12202 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985
Lutzimmer drängen, diese Politik zu betreiben —, bei der Sie Ihre ideologischen Verklemmungen ablegen
und mit der Sie bemüht sind, Arbeit, Beschäftigung zu beschaffen.
— Ich sehe, Herr Präsident, daß ich zum Schluß kommen muß. — Wir wollen eine Politik, bei der Überschüsse der Bundesanstalt für Arbeit dadurch entstehen, daß es keine Arbeitslosen mehr gibt.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Lutz, Sie haben hier eben den Kollegen George vermißt. Ich kann Ihnen sagen, wo er ist: Er diskutiert heute morgen auf einer DGB-Veranstaltung, auf der es um das Betriebsverfassungsgesetz geht.
Ich wäre heute morgen übrigens auch gern auf dieser Veranstaltung. Auch ich habe eine Einladung. Ich habe gesagt: Ich komme gern, denn ich möchte mit Ihnen über diese Frage wirklich diskutieren. Da haben sie aber gesagt: Nein, diskutieren ist nicht! Sie dürfen sich das anhören, wie wir Sie beschimpfen, aber auf dem Podium mitdiskutieren, das geht nicht.
Meine Damen und Herren, das ist eine sehr merkwürdige Auffassung von Demokratie, die hier beim DGB vorherrscht.
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes, meine Damen und Herren, ist ein wirkliches Zeichen der Politik für Menschen, die diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen betreiben. Es ist ein Paket aus drei Teilen:
Erstens werden Verbesserungen beim Arbeitslosengeldbezug für ältere Arbeitnehmer eingeführt. Dies ist eine sozialpolitische Maßnahme, die im Zeichen der hohen Arbeitslosigkeit nach wir vor erwünscht sein muß.
Es wird zweitens eine Beitragssatzsenkung beschlossen werden und damit ein Einstieg in die Senkung von Lohnnebenkosten, die auch ein Mittel zur Arbeitsmarktförderung darstellt.
Es wird drittens ein ganzes Paket von Maßnahmen vorgeschlagen, die zu einer besseren Qualifikation von arbeitslosen Menschen führen sollen. Dies ist ein Vorschlag zum Abbau von Arbeitslosigkeit, weil leider ein Großteil der Arbeitslosen — fast 50
— keine oder nur eine sehr geringe Qualifikation aufweist.
Wir haben die Überschüsse, die bei der Bundesanstalt für Arbeit angefallen sind, maßvoll für dieses Maßnahmenpaket eingesetzt. Herr Lutz — wenn Sie zuhören könnten, könnten Sie für Ihre nächsten Argumentationen etwas dazulernen —, Überschüsse können nur dadurch entstehen, daß Beitragszahler Geld zahlen. Ansonsten gibt es keine Möglichkeit, Überschüsse zu erwirtschaften.
Das ist der Grund, meine Damen und Herren, weshalb wir an der Verwendung dieser Überschüsse alle beteiligen wollen: die Arbeitslosen, die Beitragszahler, alle, die überhaupt dafür in Frage kommen.
Frau Kollegin AdamSchwaetzer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?
Ja, bitte. Vizepräsident Westphal: Herr Lutz.
Frau Abgeordnete, würden Sie zugeben, daß ich dann, wenn ich mich gerade in einem Gespräch mit einer Kollegin über Sie errege, immer noch Ihr Wort im Ohr habe?
Herr Lutz, da ich nicht in Ihrem Ohr zu Hause bin, kann ich dies natürlich nicht bestätigen.
Meine Damen und Herren, die Verlängerung des Arbeitslosengeldbezugs für ältere Arbeitnehmer ist ein Vorschlag, der vom Fraktionsvorsitzenden der Freien Demokratischen Partei in einer etwas anderen Form in früheren Zeiten immer wieder ins Gespräch gebracht worden ist. Wolfgang Mischnick hat schon lange vorgeschlagen, eine stärkere Staffelung des Arbeitslosengeldbezugs nach der Beitragsleistung vorzunehmen. Dies ist ein Zeichen von Leistungsgerechtigkeit.Die jetzt vorgelegten Vorschläge verwirklichen einen Teil dieses Konzepts, nämlich die Verlängerung des Arbeitslosengeldbezugs für ältere Arbeitnehmer, in der Erwartung, daß der zweite Teil, nämlich daß diejenigen, die in den Genuß dieses verlängerten Bezugs kommen, auch tatsächlich länger Beiträge geleistet haben, auch stimmt. Wir können das nicht mit Sicherheit sagen, aber es sprich sehr viel dafür, daß die Erwartung richtig ist.Wir können es deshalb nicht mit Sicherheit sagen, weil uns die Bundesanstalt für Arbeit keine Aussage darüber machen kann, wie sich die Dauer der Beitragsleistung beim einzelnen Arbeitslosen bemißt.Wir hoffen, daß dieser Vorschlag, den wir auch schon seit vielen Jahren ins Gespräch bringen, viel-
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Frau Dr. Adam-Schwaetzerleicht eines Tages doch noch realisiert werden kann,
damit in einer Strukturreform der Arbeitslosenversicherung dieses Prinzip, dieses Konzept umgesetzt werden kann.Ich komme zum zweiten Punkt, der Beitragssatzsenkung. Die Beitragssatzsenkung, meine Damen und Herren, trägt der Tatsache Rechnung, daß die Überschüsse der Bundesanstalt für Arbeit aus den Beitragsleistungen von Arbeitnehmern und Unternehmen entstanden sind. Es ist damit ein Einstieg in die Senkung von Lohnnebenkosten. Und alle diejenigen, die heute sagen, was denn eine Beitragssatzsenkung von 0,1 Prozentpunkten solle, die frage ich, wie groß denn das Geschrei in diesem Lande immer ist, wenn eine Beitragssatzerhöhung von 0,1 Prozentpunkten irgendwo beschlossen wird.
— Auf genau dieses Argument, Herr Lutz, wollte ich kommen. Das wird 375 Millionen DM an zusätzlichen Mitteln in die Portemonnaies der Arbeitnehmer bringen.
Da kann man sagen, für den einzelnen Arbeitnehmer bedeute das nicht sehr viel — das ist wohl richtig —; aber von Ihnen wird j a immer das Kaufkraftargument in die Debatte geworfen, und das ist doch genau der Punkt, an dem das wirklich zieht: 375 Millionen DM werden mit Sicherheit weiter in die Kaufkraft der Arbeitnehmer hineingehen und damit auch ihren Beitrag zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme leisten.
Und die 375 Millionen DM, meine Damen und Herren, die bei den Unternehmen verbleiben, bedeuten 375 Millionen DM weniger Kosten für die Betriebe und damit auch einen Beitrag zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme.
Für uns, meine Damen und Herren, ist jedes Signal in Richtung auf eine Senkung der Lohnnebenkosten wichtig. Deshalb war die Durchsetzung dieses Punktes für uns in dem Zusammenhang von großer Bedeutung.
Dritter Punkt: Qualifikation. Hier gibt es auch in der öffentlichen Diskussion eine weitgehende Obereinstimmung, daß es notwendig ist, zusätzliche Maßnahmen, zusätzliche Angebote für eine bessere Qualifikation der Arbeitslosen zu schaffen. Es gibt nämlich eine Merkwürdigkeit auf dem Arbeitsmarkt: Einerseits stellen wir eine sehr hohe Arbeitslosigkeit fest, andererseits können Stellen nicht besetzt werden, weil Arbeitslose mit der entsprechenden Qualifikation für diese Stellen nicht vermittelt werden können. Außerdem gibt es Auffälligkeiten unter den Arbeitslosen, nämlich daß erstens ca. 50% keine oder nur eine geringe Ausbildung haben, daß zweitens Frauen stärker von derArbeitslosigkeit betroffen sind und daß drittens sehr viele eine Teilzeitbeschäftigung suchen, in die sie nicht vermittelt werden können.Wir wollen, daß dieses Maßnahmenbündel, das wir vorschlagen, ein paar Kriterien erfüllt.Wir wollen die Maßnahmen möglichst nahe am oder sogar im Betrieb durchführen.Wir wollen keine zusätzlichen Dauerkapazitäten im überbetrieblichen Ausbildungsbereich schaffen.
Wir wollen die Steuerung in Berufe vermeiden, die vielleicht jetzt und kurzfristig, aber nicht dauerhaft gebraucht werden.Ich will dafür ein Beispiel nennen: Ich höre aus manchen Arbeitsamtsbezirken, daß derzeit Kanalmaurer gesucht werden, aber nicht vermittelt werden können. Wenn man einmal näher hinsieht, stellt man sehr schnell fest: Dieser Bedarf an Kanalmaurern hängt damit zusammen, daß die Gemeinden besonders hohe Umweltschutzinvestitionen, nämlich besonders hohe Investitionen in ihre Abwassersysteme, vornehmen. Dann wird ganz schnell klar: Sobald diese Maßnahmen abgeschlossen sind, ist der Bedarf an Kanalmaurern natürlich vorbei. Es wäre also nicht gerechtfertigt, eine zu hohe Anzahl von Arbeitslosen jetzt in einem solchen Beruf auszubilden; denn in einigen Jahren stünden sie wieder da und müßten von vorn anfangen.Wir wollen eine Qualifikation in Berufen suchen, die möglichst langfristig zukunftssicher sind.
— Herr Reimann, das wissen Sie genauso gut wie wir: Das sind vorwiegend Berufe, die mit der Nutzung neuer Technologien im Zusammenhang stehen, d. h. einerseits in Wirtschaftszweigen, die mit der Herstellung neuer Technologien beschäftigt sind, andererseits aber auch in Wirtschaftszweigen, die den Einsatz der Produkte neuer Technologien in ihrer Produktion besonders nutzen.
— Selbstverständlich können wir das konkretisieren. Da gibt es ganze Listen von Berufen, und ein bißchen Phantasie werden wir in dem Bereich in der nächsten Zeit ganz bestimmt brauchen.Im übrigen bedeutet das natürlich auch, daß bei der Gestaltung der Kurse, die die Bundesanstalt für Arbeit anbietet, auch bei der Ausstattung und der Qualifikation der Kursbetreuer besonderer Wert darauf zu legen ist, daß die Voraussetzungen für solche Berufe im Zusammenhang mit neuen Technologien geschaffen werden. Das bedeutet auch, daß unter Umständen die Mittel für die Ausstattung solcher Kurse umgeschichtet werden müssen. Diese Frage müssen wir im Zusammenhang mit der Diskussion des Haushalts der Bundesanstalt für Arbeit prüfen.
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12204 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985
Frau Dr. Adam-SchwaetzerWir wollen — letzter Punkt in dem Zusammenhang — Mitnahmeeffekte vermeiden.Von dem vorgelegten Maßnahmenbündel werden unter anderem Frauen, die nach der Zeit der Kindererziehung in einen Beruf zurückkehren möchten, begünstigt. Ich will dafür ein paar Beispiele nennen.Nach unseren Vorstellungen soll es möglich werden, Einarbeitungszuschüsse auch für befristete Arbeitsverhältnisse zu gewähren. Das ist ein Punkt, der besonders Frauen im Alter von 40 bis 45 Jahren zugute kommen kann. Weiterhin sollen für die Teilnahme an berufsvorbereitenden Maßnahmen die Kosten für Fahrt und Arbeitsmittel erstattet werden können. Auch das ist ein Punkt, der besonders für die Frauen, die lange Hausfrauen waren und jetzt in den Beruf zurückkehren möchten, sehr wichtig ist. Wir wollen darüber hinaus, daß ein Teil Unterhaltsgeld bei der Teilnahme an einer Teilzeitbildungsmaßnahme gewährt werden kann.Bei allen drei Maßnahmen, meine Damen und Herren, gibt es noch einen Punkt, den wir im Gesetzgebungsverfahren sehr sorgfältig prüfen müssen. Das ist die Frage der Anspruchsvoraussetzungen für diese Maßnahmen. Ich denke, daß es gerechtfertigt ist, hier weiterzugehen, als es der vorliegende Gesetzentwurf vorschlägt, damit diejenigen, von denen wir wollen, daß es ihnen zugute kommt, auch tatsächlich die Anspruchsberechtigung erhalten. Ich sehe dafür gute Chancen.
Wir meinen darüber hinaus, daß es wichtig wäre, zu prüfen, ob geeignete Vorschaltmaßnahmen vor der Aufnahme einer qualifizierten beruflichen Bildungsmaßnahme eingeführt werden können. Hier denke ich gezielt an eine Erweiterung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des § 41 des Arbeitsförderungsgesetzes. Es hat einen Modellversuch der Bundesregierung gerade im Zusammenhang mit dem Wiedereinstieg in das Berufsleben für Frauen gegeben, der gezeigt hat, daß solche Vorschaltmaßnahmen sehr wichtig sind, um Schranken, um Hemmungen für den Wiedereinstieg abzubauen. Dadurch könnte das gesamte Maßnahmenbündel noch ergänzt werden.Einen letzten für uns wichtigen Punkt möchte ich erwähnen, nämlich, daß die vorliegenden Maßnahmen eine Förderung der Selbständigkeit bringen. Zunehmend wird deutlich, daß viele, die entweder von Arbeitslosigkeit bedroht oder schon arbeitslos sind, diesen Zustand dadurch zu beenden suchen, daß sie sich selbständig machen. Wie wir alle wissen, scheitert das sehr häufig an den mangelnden finanziellen Mitteln gerade in der Zeit des Startes. Deshalb soll nach unseren Vorstellungen ein Überbrückungsgeld für drei Monate gewährt werden können, und es sollen zusätzlich eventuell Zuschüsse zur Krankenversicherung und zur Rentenversicherung geleistet werden können.Meine Damen und Herren, wir legen ein umfassendes Paket von Maßnahmen vor, die dazu beitragen können, einen Abbau der Arbeitslosigkeit zu bewirken.Herr Kollege Lutz, Sie haben angekündigt, daß Sie innerhalb der nächsten 14 Tage einen eigenen Entwurf vorlegen werden. Ich hoffe, daß wir Sie in der Debatte Ihres Entwurfes nicht der intellektuellen Unredlichkeit beschuldigen müssen, weil Sie ja unsere Maßnahmen so schlechtgemacht haben. Auf der anderen Seite kann ich mir nicht vorstellen, daß Sie sehr viel andere Dinge vorschlagen werden; denn ich weiß aus vielen Diskussionen, daß wir in der Grundauffassung gerade im Bereich der Qualifikation in vielen Punkten übereinstimmen.Ich hoffe also, meine Damen und Herren, daß wir in den Ausschußberatungen ein Paket schnüren können, das eine möglichst breite Zustimmung findet. Die Arbeitslosen, denen es zugute kommen soll, würden das begrüßen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Tischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte kurz etwas zu Ihren Ausführungen sagen, Frau Adam-Schwaetzer. Wenn Sie den Mitbürgern das Märchen aufbinden wollen, daß jemand mit einem Arbeitslosengeld von drei Monaten, das Sie im Gesetzentwurf vorsehen, eine Firma gründen und von diesem Geld auch noch in diesen drei Monaten leben soll, dann muß sich die Republik dabei totlachen.
Da kommen in der Rechnung 2 400 DM heraus. Leben Sie mal die drei Monate davon, dann haben Sie das Geld allein schon an Lebensmitteln verbraucht, und dann bleibt für die Firma nichts mehr übrig. Wenn so etwas eine Liberale herausschwätzt, dann ist das sowieso eine Sache für sich.Die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP legen dem Deutschen Bundestag heute den Entwurf eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes vor,
der einer genauen Erörterung allein schon deshalb bedarf, Herr Jagoda, weil er ein Gesetzentwurf ist, der pikant in seiner Entstehungsgeschichte und skandalös in seiner Ausgangsposition ist.
Schließlich — und dies ist der Punkt, der Aufmerksamkeit erweckt — geht es um die Verteilung von rund fünf Milliarden DM Überschüsse der Bundesanstalt für Arbeit, die nicht von heute auf morgen als Überschuß dieser Arbeitslosenversicherungsgemeinschaft vom Himmel gefallen sind. Dieser Überschuß, um dessen Verteilung sich die Koalitionsparteien nunmehr wochenlang gestritten und gefetzt haben, ist das Geld, welches Arbeitnehmer per Versicherungsbeiträge selber erwirtschaftet haben. Es ist das Geld der abhängig Beschäftigten und nicht das Geld dieser Regierungsparteien.
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TischerDer Öffentlichkeit würde diese Bundesregierung, wenn es ginge, am liebsten erklären, daß diese Milliardenüberschüsse ein Geschenk des Himmels oder gar ihrer angeblich vernünftigen Haushaltspolitik wären. Wohlwollend klopft man sich in dieser Regierung vor der Öffentlichkeit an die Brust, wie es der Kollege Blüm macht, und spielt sich als Weihnachtsmann auf, der auf einmal von dem spontanen Gedanken besessen ist, barmherziger Samariter zu sein.
An diesen Milliardenüberschüssen der Bundesanstalt für Arbeit kleben jedoch die Not und das Elend unverschuldeter Arbeitsloser, Not und Elend, welche nicht erst die jetzige Rechtskoalition eingeleitet hat, es sind die Not und das Elend, die die sozialliberale Koalition 1982 unter ihrem SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt mit der Haushaltsoperation '82 gezielt und bewußt ins Kalkül nahm, indem sie die Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit gegenüber ihren Versicherten unsozial und skandalös beschnitt.
So wurden allein durch die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung 1982 250 Millionen DM eingespart. In der sozialliberalen Koalition! 160 Millionen DM wurden den Betroffenen durch die Verlängerung der Anwartschaftszeit und 130 Millionen DM durch die Streichung der Mehrarbeitszuschläge vorenthalten. Dies nur als eines der zahlreichen Beispiele der unsozialen Politik der damaligen SPD/FDP-Regierungskoalition.Nach der Übernahme der Regierung durch die Rechtskoalition aus CDU/CSU und FDP wurde das soziale Streichungsmodell der Sozialdemokraten übernommen, jedoch erheblich verschärft.Wie seltsam die Fronten in diesem oft unglaubwürdigen Hause verlaufen können, zeigt eine Äußerung des damaligen wie heutigen CDU-Abgeordneten Haimo George, der dem damaligen SPD-Mitverantwortlichen des Sozialabbaus Egon Lutz am 20. Februar 1981 im Deutschen Bundestag vorwarf — ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten —: „Sie sind auf dem besten Wege, aus dem fortschrittlichen AFG ein Armutsförderungsgesetz zu machen." Hier können Sie es nachlesen, Herr. Kollege Lutz.Nur eineinhalb Jahre später, nämlich am 13. Juli 1983, drehte sich der Spieß herum. In der „Frankfurter Rundschau" und in anderen Zeitungen erhebt der damalige Sozialprediger George die Forderung, den Unternehmern eine Unterschreitung der Tariflöhne zu erlauben. Zwischenzeitlich wirkte George in seiner Regierungspartei aktivst an der brutalen Kürzungspolitik der Rechtskoalition mit. Allein 1984 zog man per Einsparungen im Haushaltsbegleitgesetz durch nur zehn Gesetzesänderungen im AFG den Arbeitnehmern insgesamt 1,68 Milliarden DM aus der Tasche.
Genau hier zeigt sich auf, wie scheinheilig und unglaubwürdig Politiker der CDU/CSU, FDP und SPD ihr Handeln aufbauen und die Schwächsten dieses Landes vergackeiern. Ja, sie halten die Schwächsten dieses Landes für vergeßlich oder für dumm.Diese verlogenen Praktiken müssen ein Ende finden. Der Bürger draußen vor Ort muß das wieder glauben können, was man in diesem Hause hier sagt, ohne daß er dabei verarscht oder veräppelt wird.
Also ich habe hier schon deutlich gemacht, Herr Abgeordneter — ich unterbreche Sie dabei —, daß solche Ausdrücke hier nicht hergehören.
Ich setze mich jedenfalls dafür ein, daß wir hier eine Sprache verwenden, die man auch schriftlich verwenden kann.
Manchmal kann es vielleicht gar nicht schaden, wenn man die Sprache in einer Fabrik auch mal in den Bundestag hineinträgt.
Den Arbeitslosen und den versicherten Beschäftigten draußen in den Fabriken muß auch gesagt werden, daß die Milliardenüberschüsse der Bundesanstalt für Arbeit ihnen gehören und nicht außerhalb des Versicherungssystems verhökert werden dürfen. Andere Notwendigkeiten müssen über andere Mittel, aber nicht vom Versicherungsgeld der Betroffenen abgedeckt werden.Was die Regierungsparteien nunmehr in die Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes reinpakken, spricht zum Teil Spott und Hohn. Ich möchte ein paar Beispiele nennen:Nachdem die Bundesregierung gemerkt hat, daß der gegen die 35-Stunden-Woche angesetzte Vorruhestand gegriffen hat wie ein Sommerreifen auf einer Schipiste, sprich: von nicht einmal 40 % der Betroffenen in Anspruch genommen wurde, versucht diese Bundesregierung nunmehr, ältere Langzeitarbeitslose per Arbeitslosengeld in einen — ich nenne es einmal — Vorrentenwartestand abzuschieben, in dem sie zwar Arbeitslosengeld, jedoch keinen Beruf mehr erhalten. Auf diese Weise putzt man die Arbeitslosenstatistik sauber und läßt mal flugs 100 000 Arbeitslose von der Bildfläche verschwinden.Ein anderes Beispiel zeigt die raffinierte, ja hinterhältige kosmetische Aktion, die schlicht und einfach unseriös ist: 1982 haben Sie das große Unterhaltsgeld von 80 % auf 70 bzw. 63 % gekürzt. Nun korrigieren Sie diese Kürzung wieder auf 65 bzw. 73%. Unterm Strich behalten Sie 7 bis 15 %. 1982 wurden die Rehabilitationsübergangsgelder von 100 auf 75 bzw. 65% gekürzt. Ihr Vorschlag jetzt ist eine Anhebung auf 80 bzw. 70 %. Unterm Strich behalten
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12206 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985
TischerSie wieder um 20 bis 30%. Das sind die Rechenkünste der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP.Diese Fakten belegen eindeutig: Was diese Bundesregierung betreibt, ist keine Sozialpolitik, sondern eine Schummelpolitik.Und nun kommen wir zu Ihrem Koalitionskompromiß, an dem Sie sich zwischen CDU/CSU und FDP die Zähne ausgebissen haben. Die Arbeitslosenversicherungsbeiträge werden von 4,1 auf 4,0% gekürzt. Allerdings — und das ist die Falle der unternehmerhörigen Flick- und Freidemokraten —: Sie nehmen diese Kürzung bei den Lohnnebenkosten vor. Sie schieben dieses Geld den Unternehmern und nicht den Arbeitnehmern zu. Die Folge wird sein, daß Sie einerseits das soziale Sicherungssystem strategisch aushöhlen und die Gelder in Rationalisierungs-, also Arbeitsplatzvernichtungsprozesse investieren.
Die Gesamtanalyse dieses Gesetzentwurfs ist verheerend. Sie zeigt auf, daß diese Bundesregierung den Klassenkampf von oben anmeldet, da sie Langzeitarbeitslose gewollt im Regen stehen läßt.Ich komme zum Schluß.
Die GRÜNEN verlangen eine Mindestabsicherung bei Arbeitslosen, und dies sofort, da die Probleme jetzt und nicht erst morgen brennen. Seit dem 1. Bundesarbeitslosenkongreß von 1982 in Frankfurt liegt die dort erhobene Forderung der Arbeitslosen nach 1200 DM Mindestarbeitslosengeld auf dem Tisch. Wer von dieser Bundesregierung, frage ich, und wer von Ihnen hat sich mit dieser Forderung überhaupt schon einmal auseinandergesetzt, lieber Kollege Blüm? Sie sind sich dazu zu fein, auf die betroffenen Stimmen aus dem sozialen Elend dieser Republik zu hören.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist ein Gesetz, das den Arbeitslosen hilft.
Es verbessert die Lage der Arbeitslosen und es erhöht ihre Chancen, ins Arbeitsleben zurückzukehren.Da bin ich ganz ruhig. Ich bin ganz sicher, daß diejenigen, die nicht ein Jahr, sondern zwei Jahre Arbeitslosengeld bekommen, dies als eine Verbesserung erfahren.Und wie zynisch muß man denn geworden sein, wie gefühllos muß man geworden sein, wenn man ein solches Gesetz als einen Wechselbalg bezeichnet?
Lieber Kollege Lutz, Sie sollten mal zu einem Arbeitslosen gehen, der bisher nur ein Jahr Arbeitslosengeld bekommen hat und es jetzt zwei Jahre bekommt und nicht in die Arbeitslosenhilfe kommt! Dem sollten Sie sagen, diese Verbesserung sei ein Schandgesetz. Diesen Mut sollten Sie mal haben! Da muß die Sozialdemokratische Partei schon sehr degeneriert sein, wenn sie das durchhalten will.
Die 55jährigen werden zwei Jahre Arbeitslosengeld erhalten, bevor sie Arbeitslosenhilfeanspruch haben, die 50jährigen 20 Monate, die 45jährigen 16 Monate. Dies ist auch das Ergebnis — das will ich hier bekennen — des Dialogs mit den Gewerkschaften und den Arbeitgebern. Insofern verstehe ich auch nicht, warum Sie dieses Ergebnis beschimpfen, an dem doch die Sozialpartner mitgewirkt haben.Ich habe gestern gehört, kein Millimeter habe sich bewegt. Diese Verlängerung kostet über 1 Milliarde DM. Das ist kein Millimeter, das sind Kilometer Verbesserung.
Wir antworten auf unterschiedliche Lagen mit unterschiedlichen Maßnahmen. Wir sind gegen eine Sozialpolitik mit der Gießkanne. Es stellt sich eben heraus, daß die älteren Arbeitslosen in der Regel länger arbeitslos sind. Deshalb muß eine Sozialpolitik, die nicht von Modellen, Theorien, abstrakten Vorstellungen lebt, sondern den Menschen hilft, eine differenzierte Sozialpolitik sein. Wer 30 Jahre Beitrag bezahlt hat, hat nach meinem Gerechtigkeitsverständnis einen längeren Anspruch auf Arbeitslosengeld als einer, der nur drei Jahre gezahlt hat; so einfach ist das.
Ich weise auch darauf hin, daß diese Verlängerung auch den Kommunen hilft, und zwar gerade den Kommunen, die durch Arbeitslosigkeit in hohe Bedrängnis geraten sind; das wird sie von Sozialhilfe entlasten. Nicht nur den Arbeitslosen helfen wir, wir schaffen auch Entlastung für die Kommunen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, wir schaffen ihnen wieder Investitionsspielräume.
Ich will ja nur ein paar Details vorstellen. Sie müssen immer als Begleitmusik im Hinterkopf haben, daß die Opposition sagt: Schandgesetz, Wechselbalg. Bei allem, was ich jetzt sage, müssen Sie immer den Test machen, ob es das rechtfertigt.Wollen Sie dem 58jährigen, dessen Vermittlungschancen leider Gottes fast null sind, zumuten, alle Vierteljahre zu einem ausführlichen Vermittlungsgespräch zu kommen? Welche Rechthaberei, welche Gefühllosigkeit! Wenn der will, soll er auf Vermittlung verzichten können und in Ruhe und Frieden mit 60 in die Rente gehen.
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Bundesminister Dr. BlümAlso, wie dogmatisch muß man denn sein? Nur um die liebgewordene schöne schlechte Statistik zu haben, dürfen wir nichts Gutes tun. Jetzt dürfen wir schon nichts Gutes tun, damit die SPD in ihre Statistik verliebt bleiben kann.
Statistik ist ein Stück Papier. Wir machen nicht Politik für Papier — darin sind Sie Weltmeister —, wir machen Politik für die Menschen.
Im übrigen, bevor Sie da mit großen Kanonen und starken Worten herumballern und von „Wegputzen" sprechen — es ist die freie Entscheidung des einzelnen, ob er auf Vermittlung verzichtet. Im Unterschied zu Ihnen lassen wir nämlich den Menschen die Entscheidung. Das können Sie sich anscheinend gar nicht vorstellen, daß ein Gesetz sagt: Entscheidet selbst, ob ihr in der Vermittlung bleibt oder nicht in der Vermittlung bleibt. Von ,,Wegputzen" kann überhaupt keine Rede sein.
Freie Entscheidung! Wir sind nicht der Vormund der älteren Arbeitslosen, wir sind überhaupt niemandes Vormund.
— Deshalb machen wir ja nicht nur Hilfe für die Arbeitslosen, indem ihre Lage verbessert wird, sondern wir machen auch Qualifizierung; ich komme gleich darauf zurück.
— Ach, rot! Rot kann ich gar nicht werden. Rot sind Sie doch schon, auch wenn Sie grün getarnt sind.Bleiben wir bei der Sache: Erhöhung des Ehegattenfreibetrags, und zwar zunächst um 50% und dann um 100 %. Dieser Ehegattenfreibetrag, der für die Anrechnung ganz wichtig ist, ist seit 1969 unverändert. Die SPD hat diese Verdoppelung als eine Selbstverständlichkeit ausgegeben. Seit 1969 unverändert! Darf ich mal die Frage stellen, wer zwischen 1969 und 1982 diese „Selbstverständlichkeit" nicht vorgenommen hat? Wenn es selbstverständlich ist, warum haben Sie es nicht schon längst gemacht? Sie hatten doch 13 Jahre Zeit.
Herr Kollege Lutz: „Schandgesetz", ,,Wechselbalg"! Wenn wir den Freibetrag erhöhen, wird Arbeitslosen weniger angerechnet, und zwar in Mark und Pfennig. Mit großen Worten werden Sie die Arbeitslosen nicht über ihre Lage hinwegtrösten können, sondern mit Taten. Wir lassen die anderen demonstrieren und protestieren, wir handeln. Das ist wichtig.
Das nächste: Qualifizierung. Es zeigt sich, daß viele Arbeitslose nicht vermittelt werden, weil ihnen Qualifikation fehlt. Fast die Hälfte sind Ungelernte. Es nutzt nichts, zu sagen: Die Jüngeren sollen halt mehr lernen. Nein, auch die Älteren haben einen Anspruch darauf, sich weiterzubilden, fortzubilden. Lernen darf nicht nur der sogenannten höheren Bildung als lebenslanges Ereignis zur Verfügung stehen, sondern lebenslanges Lernen muß auch für die berufliche Weiterbildung gelten.
Deshalb eine große Qualifizierungsoffensive.
Wenn wir von Modernisierung sprechen, meinen wir nicht nur die Erneuerung der Maschinen — denkt doch nicht immer nur in Kapital und Investitionen! —, dann meinen wir nicht nur Erneuerung der Maschinen, sondern auch Qualifizierung der Menschen. Das ist unsere Politik.
Ich schließe mich dem Aufruf an, daß wir das nicht der Bundesanstalt allein überlassen können, sondern daß die Betriebe mitwirken wollen, mitwirken müssen; denn betriebliche Weiterbildung steht nicht so sehr in Gefahr, im Wolkenkuckucksheim zu landen. Ich glaube auch, daß mancher ältere Arbeitnehmer Hemmungen abbaut, wenn er sich im Betrieb, an seinem Schraubstock, an seinem Schreibtisch weiterbilden kann und nicht erst wieder in große Institutionen eingepackt wird. Auch das ist praxis- und lebensnah. Deshalb unser Appell an die Betriebe, eine große Qualifizierungsoffensive zu unternehmen. Ein Blick nach Japan, in die Vereinigten Staaten zeigt, daß betriebliche Trainingsprogramme dort zur Alltagswirklichkeit gehören. Gut ausgebildete Arbeitnehmer sind die Voraussetzung für hochwertige Produkte, und hochwertige Produkte sind auch eine Voraussetzung, unsere Aufgabe in der Weltwirtschaft zu erfüllen.Wir gehen neue, unkonventionelle Wege, beispielsweise daß man Teilzeit mit Bildung kombinieren kann. Auch diesen Vorschlag haben wir nicht in irgendwelchen Universitätsseminaren, sondern in der Wirklichkeit gefunden. Wenn nicht alle Ausgebildeten übernommen werden können, weil in manchen Betrieben über Bedarf ausgebildet wurde, dann übernehmen Sie sie doch wenigstens mit halben Arbeitsplätzen und die andere Hälfte mit Bildung! Halbe-halbe ist immer noch besser, als ganz arbeitslos zu sein.
Einarbeitzungszuschüsse: Laßt uns die Chance nutzen, daß Einarbeitung mit Qualifizierung verbunden wird, um auch die Chance der — ich nenne sie mal so — schwächeren Arbeitnehmer zu erhöhen, auszuprobieren, ihnen zu helfen, ob sie den Anforderungen des Arbeitsplatzes gewachsen sind, und zwar durch Qualifizierung zu helfen. So erhält der befristete Arbeitsvertrag seine eigentliche Funktion, nämlich die Brücke in den unbefristeten zu sein. Ich habe befristete Arbeitsverträge nie als das Normalverhältnis betrachtet. In ungewöhnlichen Zeiten muß man ungewöhnliche Schritte unternehmen. Befristete Arbeit ist immer noch besser, als unbefristet arbeitslos zu sein.
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12208 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985
Bundesminister Dr. BlümWir erhöhen das Unterhaltsgeld, weil wir glauben, daß derjenige, der sich anstrengt, der etwas für seine Weiterbildung unternimmt, mehr Geld erhalten soll als der, der zu Hause sitzen bleibt.Meine Damen und Herren, da über Kürzungen in der Vergangenheit gesprochen wurde: Wir haben doch nicht aus Jux und Dollerei gekürzt, sondern wir haben gekürzt, weil im Haus der Bundesanstalt 14 Milliarden DM Defizit anstanden. Wie kann sich jemand, der uns 14 Milliarden DM Defizit hinterlassen hat, heute über Überschüsse beklagen?Herr Tischer, Sie haben gesagt, das sei nicht das Geld der Regierung, sondern das Geld der Beitragszahler. Da muß ich Sie überraschen: Es gibt überhaupt kein Geld der Regierung, es ist immer das Geld der Steuerzahler oder der Beitragszahler.
Sie haben eine etwas autoritäre Vorstellung von Regierung. Wir haben überhaupt kein Geld; wir verwalten das Geld der Steuerzahler und der Beitragszahler.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Tischer?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Blüm, Sie haben mich sicherlich richtig verstanden, daß ich vorher gesagt habe, daß dieses Geld innerhalb der Versicherungsgemeinschaft bleiben sollte und nicht außerhalb verwendet werden sollte. Um dieses Problem ist es mir gegangen und nicht um die Frage, von wem das Geld gegeben wird.
Deshalb ist es richtig: Wir haben das Geld nicht verwandt, um es zum Bundeshaushalt zurückzuholen,
sondern wir haben es innerhalb der Versicherungsgemeinschaft gelassen, nämlich erstens an die Arbeitslosen gegeben, die innerhalb der Versicherungsgemeinschaft sind, zweitens an die Beitragszahler, die innerhalb der Versicherungsgemeinschaft sind. Das ist alles so geblieben, wie Sie gewünscht haben.
Man muß Gesetze lesen, bevor man sie kritisiert.
Das ist eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Kritik.
Wir stehen vor wichtigen Wochen, in denen der DGB die Politik dieser Koalition öffentlich darstellen will. Ich will diese Gelegenheit nutzen und fordere meine Kolleginnen und Kollegen im DGB auf, dieses Gesetz, so wie es ist, auf den Kundgebungen ungeschminkt und unverändert darzustellen. Ich fordere den DGB auf, auf seinen Protestkundgebungen den Protestierenden und den Arbeitnehmern mitzuteilen, daß wir die Zahlung des Arbeitslosengeldes verlängern, daß wir die 58jährigen aus Vermittlungszwängen entlassen, daß wir den Ehegattenfreibetrag verdoppeln und daß wir für die Qualifizierung 750 Millionen DM bereitstellen. Dies muß auf den Kundgebungen dargestellt werden.
Die Arbeitnehmer sind volljährig, sie sind erwachsen. Die Wahrheit muß den Arbeitnehmern gesagt werden, dann fürchte ich diese Kundgebungen nicht.
Ich will auch die Gelegenheit nutzen, um einen Appell an die Unternehmer zu richten. Dies ist die Stunde, in der eingestellt werden muß, dies ist die Stunde, in der die Gewinne für das genutzt werden müssen, wofür sie da sind. Gewinne sind nämlich kein Selbstzweck, sie sind auch nicht dafür da, auf die Sparkasse oder unters Kopfkissen gelegt zu werden, sondern sie sind dafür da, um zu investieren, um Arbeitsplätze zu schaffen.
Ich bin ganz sicher, je mehr vor diesen Karren gespannt werden, je mehr mitmachen — Arbeitnehmer, Gewerkschaften, Arbeitgeber und Regierung —, um so leichter und schneller werden wir die Arbeitslosigkeit überwinden und wieder Beschäftigung für Jung und Alt, für alle haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Kirschner.
Herr Bundestagspräsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesarbeitsminister Dr. Blüm, wenn Sie das Wort von der Gefühllosigkeit in den Mund nehmen,
dann haben Sie sich doch wohl etwas vergriffen. Sie sind es doch — da können Sie sich auch nicht herausreden —, der die politische Verantwortung dafür trägt, daß heute bei der Bundesanstalt für Arbeit Überschüsse vorhanden sind, die durch Leistungskürzungen bei den Arbeitslosen, bei den Umschülern, bei den Rehabilitanden und nicht zuletzt durch die Kürzung der Rentenversicherungsbeiträge an
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985 12209
Kirschnerdie Rentenversicherung durch die Bundesanstalt für Arbeit zustande gekommen sind.
Ich sage Ihnen, Herr Bundesarbeitsminister, noch etwas. Sie sagen, bei den DGB-Kundgebungen müßten Ihre angeblichen Leistungen hervorgehoben werden. Wir sind dafür, diese angeblichen Leistungen, also den Sozialabbau der Jahre 1983 und 1984, deutlich zu machen und die finanziellen Kürzungen und die Verschlechterungen der Arbeitnehmerrechte aufzuzeigen.
Geben Sie denn die Garantie, daß während der Ausschußberatungen — Sie sind j a gar nicht mehr Herr des Verfahrens — beispielsweise der § 116 des AFG nicht durch einen Antrag der Koalitionsfraktionen auf den Tisch kommt? Hierzu wollen wir von Ihnen die Garantie, daß auf den DGB-Kundgebungen eindeutig gesagt werden kann, daß es hier keine Änderungen geben wird.
Ich sage Ihnen auch noch etwas mit aller Deutlichkeit, was den Sozialabbau angeht, Herr Bundesarbeitsminister: 1976 erklärten Sie: Wenn die ,Grenzen des Sozialstaates' zurückverlegt werden, sind es die Armen, die als erste ins Niemandsland geraten. Rentenniveausenkung, Selbstbeteiligung und ähnlich akademisch unschuldige Vorschläge verbreiten das Elend. Die Armen sind die letzten, die von den Segnungen des Sozialstaates,
und die ersten, die von seinem Abbau erreicht werden. Rufen Sie sich das ruhig noch einmal ins Gedächtnis zurück!
Dem muß man das gegenüberstellen, was Sie 1984 als Bundesarbeitsminister sagten. Da behaupteten Sie: Wir haben einen Sozialstaat aufgebaut, der verhindert, daß in unserem Staat Massenelend entsteht; stellen Sie die Landschaft nicht so dar, als seien die Arbeitslosen in einem Massenelend! — Da reden Sie von Gefühl und Gefühllosigkeit! Ich meine, Sie sollten sich diesen Spiegel selbst noch einmal vorhalten.
Nun möchte ich noch etwas zu den Ausführungen des Kollegen Otto Zink sagen, den wir ja als sehr besonnenen Kollegen schätzen. Herr Kollege Zink, ich möchte Ihnen einmal etwas zu dieser immer wieder betonten „Erblast" und zur Verschuldung sagen.
Sie vergessen — und wollen es vergessen —, daßSie als Oppositionsfraktion in den Jahren 1976 bis1981 hier im Deutschen Bundestag ausgabenwirksame Anträge in einer Größenordnung von 147 Milliarden DM gestellt haben und die CDU/CSU—regierten Bundesländer im gleichen Zeitraum in Höhe von 201 Milliarden DM.Was die Neuverschuldung angeht, so lebt ja der Herr Bundesfinanzminister von dem Image, Schuldenabbau zu betreiben. Rechnen wir die Bundesbankgewinne heraus; nur dann ergibt sich ja ein vergleichbares Ergebnis. Die Bundesbankgewinne wurden durch die Devisen- und Goldreserven angehäuft.
— Entschuldigen Sie bitte, wir rechnen dies gegeneinander auf, nämlich die letzten vier Jahre der sozialliberalen Koalition und die ersten vier Jahre der christliberalen Koalition. Sie werden feststellen, daß in unseren letzten vier Jahren bei Herausrechnung der Bundesbankgewinne eine Neuverschuldung von 140 Milliarden zustande kam, daß aber bei Ihnen eine solche von 158 Milliarden zustande kommt, also 18 Milliarden DM mehr.
Noch etwas will ich Ihnen sagen, und das müssen Sie sich anhören, ob es Ihnen gefällt oder nicht.
— Herr Kollege Jagoda, falls Sie im Kopfrechnen schwach sind, bin ich gerne bereit, Ihnen einen Taschenrechner zu kaufen; vielleicht hilft er Ihnen.
Ich möchte noch etwas zu den vielgescholtenen Beschäftigungsprogrammen sagen. Im übrigen hat j a alles, was Sie an Investitionen im Bundeshaushalt einstellen, Beschäftigungswirkung, ob Sie das nun so nennen oder nicht. Die Frage ist, wie groß diese Wirkung ist. Aber lassen Sie mich einmal aus den Pressenachrichten des Bundeswirtschaftsministeriums vom 4. Februar 1983 zitieren; ich hoffe, daß die FDP wenigstens noch zu dem steht, was sie damals mitgetragen hat. Da heißt es:Im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftstruktur" wurden von 1974 bis 1982 insgesamt rund 600 000 Arbeitsplätze geschaffen und rund 887 000 bestehende Arbeitsplätze gesichert. Durch das ERP-Regionalprogramm wurden im gleichen Zeitraum 176 000 neue Arbeitsplätze geschaffen und rund 1,18 Millionen bestehende Arbeitsplätze gesichert.Wenn Sie sich die Zahlen des Statistischen Bundesamtes anschauen, werden Sie feststellen, daß nicht zuletzt durch die Beschäftigungsprogramme die Zahl der Erwerbstätigen von 25,75 Millionen im Jahre 1976 auf rund 26,95 Millionen, d. h. um mehr als 1,2 Millionen, gestiegen ist. Das ist das Ergebnis, und das können Sie nicht unterschlagen. Wenn Sie
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Kirschnerhier etwas anderes in den Raum stellen, müssen Sie das erst einmal beweisen.
Lassen Sie mich nun noch auf Sie, Frau Kollegin Adam-Schwaetzer, zu sprechen kommen. Die Art und Weise, wie Sie die Überschüsse kommentieren, ist nun wirklich an Zynismus nicht mehr zu überbieten. Es gibt die Armut der Arbeitslosen; das können Sie nicht bestreiten. Hervorgerufen wird diese Armut nicht zuletzt durch Ihre Wirtschaftspolitik. Diese Armut, die immer mehr um sich greift, ist für Sie — das wissen wir — ein Fremdwort. Letzten Endes geht es in Ihrer ideologisch verklemmten Sicht wohl um nichts als um ein Verschulden der Betroffenen selbst.
Frau Adam-Schwaetzer, wir haben auch sehr genau gehört, wie Sie hier die Frauen umworben haben. Nur waren Sie es doch, die die Frauen — und dies werden wir den Frauen auch sagen —, beispielsweise durch die Kürzung des Mutterschaftsurlaubsgeldes um ein Drittel,
durch die Kürzungen beim Arbeitslosengeld
und nicht zuletzt durch die Kürzungen bei den Renten und die Erschwerungen der Zugangsvoraussetzungen bei den EU/BU-Renten besonders getroffen haben.
Auch dies werden wir natürlich nicht verschweigen; darauf können Sie sich verlassen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Gesetzentwurf kommen. Mit dieser siebten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz wird wieder einmal der Versuch gemacht, eine Großtat anzupreisen, die wahrlich keine ist. Seit mehr als einem Jahr wird das Phänomen der sogenannten Überschüsse bei der Bundesanstalt für Arbeit diskutiert. Ich darf hier einmal daran erinnern, daß wir Sozialdemokraten fast auf den Tag genau vor einem Jahr im Deutschen Bundestag einen Antrag auf Förderung der Beschäftigung eingebracht haben. Darin heißt es u. a.:Um die Beschäftigung zu fördern, muß das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium offensiv eingesetzt werden. Doch davon kann zur Zeit keine Rede sein. Die Bundesanstalt für Arbeit „erwirtschaftet" Überschüsse in Milliardenhöhe. Der Überschuß der Bundesanstalt ist aber weder ein arbeitsmarktpolitischer Erfolg der Bundesregierung noch das Ergebnis wirtschaftlichen Aufschwungs, sondern ausschließlich Ausdruck nachhaltiger Demontage der Arbeitslosenversicherung.Dieser Satz gilt heute noch genauso wie vor einem Jahr.
Lassen Sie mich auch folgendes deutlich machen: Die Bundesanstalt für Arbeit ist keine Sparkasse der Bundesregierung. Es ist Pflicht auch dieser Bundesregierung, die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Deshalb müssen die verfügbaren Mittel der Bundesanstalt für Arbeit sinnvoll eigesetzt werden, und zwar sofort. Dies haben wir bereits vor einem Jahr gefordert.Meine Damen und Herren, fast 900 000 bei den Arbeitsämtern gemeldete Arbeitslose erhalten überhaupt keine Arbeitslosenunterstützung.
— Ja, das wollen Sie nicht hören; ich weiß das.
Aber wir halten Ihnen den Spiegel vor, ob es Ihnen gefällt oder nicht.
900 000 der registrierten Arbeitslosen erhalten weder Arbeitslosengeld noch Arbeitslosenhilfe. Nur etwas mehr als ein Drittel erhält überhaupt Arbeitslosengeld. Die Zahl der Empfänger von Arbeitslosenhilfe ist heute doppelt so hoch wie vor drei Jahren. Neue Armut ist in diesem Land bittere Realität.
— Sie können lachen. Wir wissen, daß das für Sie ein Fremdwort ist. — Die finanziellen und sozialen Folgen der Massenarbeitslosigkeit sind in unverantwortlicher Weise auf die Arbeitslosen, ihre Familien und auch auf die Sozialhilfeträger abgewälzt worden.
Ich will hier auch einmal daran erinnern, daß nicht zuletzt durch die Kürzungen beim Arbeitslosengeld und bei der Arbeitslosenhilfe das durchschnittlich ausgezahlte Arbeitslosengeld innerhalb von drei Jahren von 975,13 DM im Jahre 1982 auf 946,07 DM im August dieses Jahres zurückgegangen ist. Das bedeutet eine Kürzung um 3 % im Schnitt. Rechnen Sie da beispielsweise die rund 8 % bis 9 % Preissteigerungen gegen, dann wird deutlich, daß zusätzlich ein realer Einkommensverlust— abgesehen davon, daß das Arbeitslosengeld weit unter zwei Dritteln des letzten Nettoentgeltes liegt— um rund 11 % bei den Arbeitslosen noch einmal hinzugekommen ist.Mit Ihrem Gesetzentwurf ändern Sie an diesen Problemen herzlich wenig, wie sollten Sie auch? Ihnen — allen voran Bundeskanzler Kohl — fehlt die Einsicht in die Realitäten. Ich darf aus der „Zeit" vom 1. März 1985 zitieren: „Kohl ist zufrieden mit dem Erfolg seiner Regierung. Er kann auch nicht erkennen, daß die Armut zunimmt." — Diese Probleme werden total verdrängt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985 12211
KirschnerWarum nehmen Sie nicht zur Kenntnis, daß das Deutsche Rote Kreuz darauf aufmerksam gemacht hat, daß die Kleiderkammern wieder gefragt sind? Warum fangen Sie statt dessen die infame Drückebergerdiskussion an? Warum lassen Sie publizieren, sage und schreibe ein Drittel aller gemeldeten Arbeitslosen sei eigentlich nicht an einer Arbeitsaufnahme interessiert? Warum nehmen Sie nicht zur Kenntnis, daß die Struktur der Massenarbeitslosigkeit immer schlechter wird? Vor einem Jahr gab es mehr als 700 000 Arbeitnehmer, die länger als ein Jahr arbeitslos gemeldet waren. Ich fürchte — der Kollege Otto Zink hat j a darauf hingewiesen —, daß diese Zahl in diesem Jahr noch um 100 000 zunehmen wird. 1981 waren es dagegen rund 200 000. Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosenzeit lag schon Ende September 1984 bei 11,6 Monaten. Inzwischen dürfte die Jahresgrenze überschritten sein.Sie wissen selber, geben es aber nicht zu, daß das tatsächliche Arbeitslosengeld weit mehr als ein Drittel unter dem Vergleichslohn liegt. Das Arbeitslosengeld für Berufsanfänger haben Sie um mehr als ein Drittel zurückgestutzt. Dabei wissen Sie selber, daß Sie damit immer mehr junge Arbeitnehmer bestrafen. Schon letztes Jahr sind 14 % der Ausgebildeten nach der Ausbildung nicht übernommen worden. In diesem Jahr werden es wahrscheinlich noch mehr sein. Diese Entwicklung ist zwangsläufig, wenn man die Ausbildungsstellenproblematik nur als Quantität, nicht aber als qualitatives Problem begreift. Jugendliche, die in Berufen ohne Zukunft ausgebildet werden, landen danach auf der Straße. Durch den Abbau des Jugendarbeitsschutzes haben Sie dafür gesorgt, daß Auszubildende im Bäckerhandwerk rentabler wurden. Die Massenarbeitslosigkeit liegt auf Rekordniveau. Monat für Monat — auch erst gestern wieder — wurden von der Bundesanstalt für Arbeit neue Horrorzahlen gemeldet.
Aber ich sage noch einmal: Es sind nicht nur die Gesamtzahlen, die jedenfalls nach unserer Auffassung Schreckensmeldungen sind — —
— Schauen Sie sich doch einmal die Zahlen an.
Es gab doch seit 1949 noch keinen Monat, wo wir so viele Arbeitslose hatten wie im Jahre 1985.
Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis, Herr Kollege Hornung. Alles andere ist doch falsch, was Sie erzählen.
— Hören Sie einmal: Sie manipulieren doch hier mit einer Statistik. Schauen Sie sich doch einmal die amtlichen Zahlen des Statistischen Bundesamtes an. Dann werden Sie doch feststellen, daß die Zahlen, die Sie verbreiten, nicht stimmen.
Lassen Sie mich feststellen, daß es uns darum geht, daß in erster Linie die Kürzungen, die Sie in den Haushaltsbegleitgesetzen 1983 und 1984 vorgenommen haben, wieder zurückgenommen werden.
Dies ist der entscheidende Punkt für uns. Wir sind mit Ihnen einer Meinung, daß wir über die Bezugsdauer zu reden haben
und daß die Bezugsdauer bei Arbeitslosen verlängert wird.Aber lassen Sie mich eines mit aller Deutlichkeit sagen: Wenn es der Versuch einer Statistikmanipulation ist — wir haben allen Anlaß, Ihnen eine Menge zuzutrauen — —
— Das mag Ihnen gefallen oder nicht; das ist mir egal. Denn Arbeitslosengeld als Lohnersatz heißt zwingend, für die Arbeitsvermittlung zur Verfügung zu stehen. Wenn Sie Arbeitslose, die älter als 58 Jahre sind, davon ausnehmen, sind das plötzlich keine Arbeitslosen mehr. Sie erscheinen nicht mehr in der Statistik.
Wenn sie nicht mehr arbeitslos sind, kann man ihnen auch kein Arbeitslosengeld geben. Deshalb scheint mir das, was Sie da machen, eine spezielle Vorruhestandsregelung zu sein,
denn Ihr eigenes Gesetz, Herr Bundesarbeitsminister, ist, wie Sie in der Zwischenzeit j a wohl wissen— die Zahlen beweisen es Ihnen doch —, ein ausgemachter Flop. Gegen eine vernünftige Vorruhestandsregelung kann man nichts haben. Aber einen Vorruhestand aus den Leistungskürzungen der Arbeitslosen zu finanzieren, ist eine Frechheit. Sie hätten schon, Herr Bundesarbeitsminister, ein besseres Vorruhestandsgesetz zustande bringen müssen. Wir haben Ihnen ja dazu die Vorlage unseres Gesetzentwurfes geliefert. Dann bräuchten Sie jetzt auch nicht auf diesen billigen Manipulationstrick zu verfallen.
Wenn die notwendigen Reparaturen am von Ihnen ramponierten Arbeitsförderungsgesetz vorgenommen werden, ist der sogenannte Überschuß weg. Eine Beitragssatzsenkung ist dann auch nicht mehr drin. Qualifizierungsmaßnahmen kann man dann auch nicht einschieben. Aber dies auf Kosten der Armut Arbeitsloser zu finanzieren, wie Sie es
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12212 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985
Kirschnerfaktisch tun, ist der falsche Weg. Das duale System der Berufsausbildung funktioniert offenbar nicht so, wie es in Sonntagsreden dargestellt wird. Deshalb werden wir — dies kündige ich an — diesen Gesetzentwurf sehr genau prüfen. Wir werden prüfen, ob wir einen eigenen Gesetzentwurf einbringen. Dann werden Sie auch die Unterschiede deutlich sehen, die wir Ihnen gegenüber darzustellen haben.Herzlichen Dank.
Das Wort' hat der Abgeordnete Cronenberg .
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit einem gewissen Erstaunen — man nehme mir das nicht übel —, teilweise auch mit einem gewissen Schmunzeln habe ich heute morgen verfolgt, wie man sich gegenseitig Zitate aus der Vergangenheit um die Ohren schlägt. Ich kann nicht bestreiten, daß, wenn gelegentlich von dieser Seite des Hauses auf Zitate von dort verwiesen wird, das richtig ist. Es ist auch nicht zu bestreiten, daß es umgekehrt so ist. Es gibt halt eben eine gewisse Kontinuität in der Opposition, die — wie gesagt — mich mehr zum Schmunzeln denn zum Protest veranlaßt.
Ich möchte aber mit aller Deutlichkeit sagen, daß ich mich nachweislich — niemand, der das aufmerksam verfolgt hat, kann das bestreiten — in der Kontinuität der Argumentation von Schmidt bis Adam-Schwaetzer nach Cronenberg befinde und daß es mir viel Freude macht, dies heute in aller Ruhe so feststellen zu dürfen.
Verehrte Kollegen, ob es Ihnen paßt oder nicht: Mir ist es lieber, wir streiten uns über zwei, drei Milliarden DM Überschüsse bei der Bundesanstalt für Arbeit als über 14 Milliarden DM Defizite.
Die Instrumente, mit denen diese Überschüsse erzeugt worden sind
— ich lasse die Zwischenfragen gleich zu, verehrte Kollegen, aber dies möchte ich eben im Zusammenhang vortragen —, die Instrumente, die zu diesen Überschüssen geführt haben, die natürlich auch Einschnitte bedeutet haben, die wir ja schon gemeinsam — auch kontrovers — diskutiert haben, sind Instrumente, die insgesamt erfolgreich waren. Ist es denn unsozial, wenn wir auf Grund einer vernünftigen Gesamtpolitik inzwischen 150 000, 200 000 Menschen mehr beschäftigen als vor einem Jahr?
Ist es denn unsozial, wenn wir die niedrigste Inflationsrate seit der Währungsreform haben?
Ist es denn unsozial, wenn der Bezugszeitraum von
Arbeitslosengeld verlängert wird? Ist es denn unsozial, wenn wir die Chancen für Ausbildung verbessern? Ist es denn ein Mißerfolg, wenn wir nach relativ kurzer Zeit Exportüberschüsse in beachtlicher Höhe haben? Ist es denn eine unsoziale Politik, wenn wir die strukturellen Defizite im Haushalt abbauen?
Ich meine, nein.
Wir zusammen, verehrte Kollegen von der Sozialdemokratischen Partei, haben vieles gemeinsam gemacht. Ich stehe nicht an, zu sagen: Das war nicht alles Mist, da gab es viel Gescheites. Aber ich weiß auch, warum Sie heute morgen so fürchterlich verärgert reagieren. Die ganze Ursache für Ihren Arger ist relativ einfach auszumachen, es ist nämlich der Ärger darüber, daß wir den Laden in so relativ kurzer Zeit mit so relativ einfachen Instrumenten in Ordnung gekriegt haben; das ist der ganze Kummer.
Das ist natürlich um so unangenehmer, als wir Ihnen all die Instrumente, die wir eingesetzt haben, mehrmals vorgeschlagen haben. Das heißt: Sie haben diesen ganzen Kummer auch noch selbst verschuldet, und das ist Ursache für das hektische Reagieren von Egon Lutz und anderen.
Nun, Herr Präsident, möchte ich selbstverständlich zulassen, von den beiden Kollegen — in welcher Reihenfolge auch immer — befragt zu werden.
Also, die Reihenfolge habe ich vorhin festgestellt. Es ist zuerst der Abgeordnete Lutz mit einer Zwischenfrage dran.
Herr Cronenberg, können Sie angesichts Ihrer letzten Redepassage meine Heiterkeit begreifen — wer hat's Ihnen aufgeschrieben? —,
wollen Sie das später als Zitat um die Ohren gehauen bekommen oder nicht — das ist der erste Teil meiner Frage —, der zweite Teil ist: Haben Sie begriffen, daß wir nicht über die Verwendung von Überschüssen, sondern darüber streiten, daß man Geld, das man den Arbeitslosen genommen hat, diesen zurückzugeben hat?
Der Herr Kollege möchte zunächst auch noch die Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig hören und dann beide Fragen zusammen beantworten.
Herr Kollege Cronenberg, könnten Sie meinen Eindruck bestätigen, daß Ihre Beständigkeit, im Wechseln der Koalitionspartner grö-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985 12213
Glombigßer ist als Ihre Beständigkeit, was die Argumente hinsichtlich der von Ihnen zu vertretenden sozialpolitischen Maßnahmen angeht?
Ich will dann gerne auf beide Fragen eingehen: Zunächst einmal ist es mir immer eine Lust und ein Vergnügen, bei dem Abgeordneten Lutz Lust, Freude und Spaß zu erzeugen.
Wenn mir das heute morgen besonders gelungen ist, dann freut mich das.
Darüber hinaus gehe ich davon aus, daß der Kollege Egon Lutz — wie in der Vergangenheit — mir nichts um die Ohren schlägt, sondern sich, wenn es ihm auch sehr schwer fällt, bemüht, in Ruhe zu argumentieren. Das gelingt ihm nicht immer, wir verzeihen ihm dies, er ist nun einmal so. Er bringt etwas Neues, und das Neue ist dann nicht ganz richtig. Aber alles in allem ist eine Auseinandersetzung möglich.
Lieber Eugen Glombig, ich kann das so nicht bestätigen.
— Nein, um Gottes willen. — Die Situation ist wie folgt: Die Wahl unserer Koalitionspartner richtet sich ausschließlich nach einem: danach nämlich, in welchem Umfang es möglich ist, mit diesem jeweiligen Koalitionspartner vernünftige liberale Vorstellungen durchzusetzen. Der Partner ist mir weniger wichtig als der Inhalt der Politik.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 10/3923 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Innenausschuß, den Rechtsausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft sowie zur Mitberatung und zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 19 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes
— Drucksache 10/3678 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß
Rechtsausschuß
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Olderog.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der NS-Zeit haben viele Tausende von Deutschen als politische Flüchtlinge in anderen Ländern Asyl gefunden. Wir bekennen uns daher mit großem Nachdruck zu unserer nicht nur rechtlichen, sondern auch moralischen Verpflichtung, heute und in Zukunft politisch verfolgten Menschen aus anderen Staaten Zuflucht und Schutz in Deutschland zu bieten. Die Bundesrepublik hat in zehn Jahren — von 1975 bis 1984 — mehr als die Hälfte der über 700 000 Ausländer aufgenommen, die in Westeuropa Asyl beantragt haben, nämlich insgesamt 370 000.Verschiedene Organisationen haben in der Öffentlichkeit die Bundesregierung kritisiert und ihr irreführende und überhöhte Zahlen vorgeworfen. Doch die Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars, auf die man sich stützt, der nur von 115 000 Flüchtlingen spricht, sind unzutreffend. Tatsächlich leben im Bundesgebiet gegenwärtig rund 600 000 Flüchtlinge, darunter 180 000 Asylberechtigte mit ihren Familienangehörigen, 130 000 Asylbewerber im laufenden Verfahren und rund 220 000 De-factoFlüchtlinge, deren Antrag auf Asyl abgelehnt wurde oder die keinen derartigen Antrag gestellt haben, die aber von unseren Behörden gleichwohl aus humanitären oder politischen Gründen nicht abgeschoben werden. Hinzu kommen Kontingentflüchtlinge und heimatlose Ausländer. Diese soeben genannten Zahlen beruhen auf den Angaben der Bundesländer, und sie halten jeder Nachprüfung stand.Meine Damen und Herren, dieser Flüchtlingsstrom wirft aber, je mehr er sich wieder verstärkt, zunehmend große Probleme auf. Schon in den ersten acht Monaten dieses Jahres kamen über 45 000 Asylbewerber — annähernd 30 % mehr als im vergangenen Jahr — zu uns. Schon heute nimmt die Bundesrepublik im Vergleich zu ihren westlichen Nachbarstaaten weitaus die meisten Asylbewerber auf. Wir wenden 2 Milliarden DM dafür auf. Aber das Geld ist nicht das Hauptproblem. Vor allem Städte und Gemeinden fühlen sich schlechterdings angesichts dieses endlosen Zustroms weiterer Flüchtlinge einfach überfordert. Das ist in meinem Wahlkreis und in vielen anderen Wahlkreisen so; die Kollegen können ein Lied davon singen:Es fehlt nicht nur an Unterbringungsmöglichkeiten. Immer häufiger kommt es zu Spannungen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen. Immer häufiger sprechen Zeitungsberichte von Schlägereien, Auseinandersetzungen, Messerstechereien, Prostitution und Ladendiebstählen im Zusammenhang mit diesem Problem. Das alles nährt leider eine ausländerfeindliche Stimmung.
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Dr. OlderogDänemark befindet sich teilweise in einer ähnlichen Situation. In diesem so friedfertigen Land kam es jetzt wiederholt zu tätlichen Ausschreitungen der einheimischen Bevölkerung gegen Flüchtlinge. Sie haben das in den Tageszeitungen gelesen.Es ist leider überhaupt nicht abzusehen, daß dieser Zustrom enden wird. Die Bundesrepublik ist für Flüchtlinge das attraktivste Land auf der ganzen Welt.
Politische Verfolgung, Bürgerkrieg sowie Not und Elend wachsen leider in vielen Teilen der Welt. Alles spricht dafür, daß sich verstärkt Flüchtlinge nach Europa wenden. Nach UN-Angaben gibt es zwischen 17 und 20 Millionen Flüchtlinge, von denen viele gerade angesichts der immer großzügiger werdenden Rechtsprechung als Asylbewerber für uns in Betracht kommen: Tamilen aus Sri Lanka, Sikhs aus Indien, Schwarze aus Südafrika, Palästinenser und Libanesen aus dem Nahen Osten, mehrere Millionen Iraner, dazu Äthiopier, Afghanen; Flüchtlingslager in Pakistan mit Millionen von Flüchtlingen, Flüchtlingslager im Sudan mit einer halben Million äthiopischer Flüchtlinge und in Thailand rund 350 000 vietnamesische Flüchtlinge — meist am Rande des Existenzminimums. Und unsere Verwaltungsgerichte sprechen vielen von ihnen ein Asylrecht zu.Meine Damen und Herren, ich will nur soviel sagen: Wenn wir den Dingen freien Lauf ließen, müßten wir eines Tages mit einer dramatischen Zuspitzung rechnen. Sie alle beantragen bei uns ja politisches Asyl; in Wahrheit aber kommen selbst nach den großzügigen — viel zu großzügigen — Maßstäben unserer Rechtsprechung zwei Drittel aus rein wirtschaftlichen Gründen zu uns. Das Asylrecht steht ihnen nicht zu; sie mißbrauchen es. Gerade wenn wir den wirklich politisch Verfolgten helfen wollen, müssen wir uns vor Wirtschaftsflüchtlingen entschieden schützen. Wir können einfach nicht allen hunger- und notleidenden Menschen aus Asien und Afrika unsere Grenzen weit öffnen.
Das ist unsere wichtigste Aufgabe: daß wir die politischen Flüchtlinge von den Wirtschaftsflüchtlingen trennen, letztere unverzüglich in ihre Heimat zurückleiten und ihnen von vornherein jedes Motiv nehmen, zu uns zu kommen.Schäfer [Offenburg] [SPD]: „Jedes Motivnehmen"!)Das zur Zeit geltende Asylverfahrensrecht reicht offensichtlich leider nicht aus. Deshalb begrüßen wir den Entwurf des Bundesrates. Er bringt diskutable Vorschläge, zwar mit mancherlei Problemen, aber wir sollten uns damit eingehend beschäftigen. Beispielsweise ist die vom Bundesrat vorgeschlagene Klarstellung wichtig, wann ein Asylbewerber bereits in einem Drittland Schutz vor Verfolgunggefunden hat und sich damit hier bei uns nicht mehr auf Art. 16 GG berufen kann.
Zur Zeit beobachten wir einen Asyltourismus, Herr Ströbele, indem Ausländer von einem europäischen Staat zum anderen reisen und sich dort als politisch Verfolgte melden, wo die Lebensumstände am günstigsten erscheinen.Ich bin sicher, daß die Vorschläge des Bundesrates einiges verbessern können. Ich weiß aber auch sehr wohl, daß auf Grund des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG die Möglichkeiten nahezu ausgeschöpft sind. Wir müssen das Flüchtlingsproblem vor allem an der Wurzel lösen.
Die westlichen Industrieländer und die Vereinten Nationen sollten gemeinsam intensiver als bisher auf die Staaten und deren Regierungen einwirken, in denen Menschen verfolgt und diskriminiert werden. Überall in der Welt muß den Menschenrechten Geltung verschafft werden.
Warum zum Beispiel leisten wir Entwicklungshilfe an Sri Lanka, wenn dort ein Bevölkerungsteil, nämlich die Tamilen, Herr Ströbele, so brutal verfolgt werden?Die reichen Länder der Welt müssen ihre Entwicklungs - und Katastrophenhilfe intensivieren.
Den Hungernden muß vor Ort geholfen werden. Mit dem Aufwand, mit dem wir hier einen Flüchtling materiell betreuen können, können wir vor Ort zwanzig Menschen versorgen und betreuen.Meine Damen und Herren, neben den internationalen Bemühungen werden wir letztlich um eine Diskussion über Art. 16 Abs. 2 GG nicht herumkommen. Wenn der Flüchtlingsstrom in die Bundesrepublik ständig weiter anschwillt, werden wir ohne eine Änderung des Art. 16 hilflos überrollt werden.
Ich fordere hier und heute keine Änderung des Grundgesetzes; aber wir sollten uns in Wahrnehmung unserer Verantwortung auf eine sich unter Umständen dramatisch zuspitzende Situation vorbereiten. Ich verweise auf namhafte Wissenschaftler, die zu einer Reform des Grundgesetzes aufgerufen haben. Ich nenne den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Professor Zeidler, in seinem Vortrag vom 30. Mai 1980 sowie auch die Professoren Kanein, Hailbronner und Quaritsch.Ich fordere Parlament und Bundesregierung auf, eine Kommission namhafter und anerkannter Experten zu berufen, die vorurteilsfrei zu dem Problem ein Memorandum erstellen. Wir brauchen eine offene und ehrliche Diskussion ohne Tabus und ohne Diffamierung Andersdenkender. Es geht darum, daß wir bei einer Verschärfung der Situa-
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Dr. Olderogtion selbst bestimmen können, wem wir in unserem Land Asyl gewähren. Es geht ausdrücklich nicht darum, daß wir uns unserer moralischen Verpflichtung entziehen. Zu dieser bekenne ich mich mit allem Nachdruck. Aber wir müssen Herr der Situation bleiben und dürfen uns nicht von den internationalen Flüchtlingsströmen unserer Zeit, von denen die Väter des Grundgesetzes noch nichts ahnen konnten, hilflos überrollen lassen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wartenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ihre Rede, Herr Olderog, war eine der typischen Reden, in deren Anfang eine salvatorische Klausel ist, indem gesagt wird: „Wir bekennen uns dazu, daß verfolgte Bürger bei uns Schutz finden können", und dann gab es im nachfolgenden Teil eigentlich nur noch Hinweise dafür, daß Ihnen das Asylrecht total lästig ist.
Die Art und Weise, wie Sie hier diskutiert haben, hat wieder sehr deutlich gemacht, daß überspitzt, ja geradezu mit Hysterie gearbeitet wird: „Wir werden überschwemmt", „Es kommen dramatische Entwicklungen auf uns zu". Da frage ich Sie, wo lesen Sie das eigentlich heraus? Ich will Ihnen an einem Beispiel konkret das Gegenteil beweisen.Das Land Pakistan hat, seitdem die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert ist, drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen.
In dieser Zeit sind in die Bundesrepublik Deutschland 8 000 Afghanen gekommen. Gewiß ein Problem für die Bundesrepublik Deutschland, aber es ist nicht so, daß diese drei Millionen Flüchtlinge in Massen hierher strömen, sondern in neun Jahren sind 8 000 hierher gekommen. Wenn Sie sehen, was Entwicklungsländer, die Krisengebieten benachbart sind, heute zu leisten haben — ob das Somalia ist, ob das der Sudan ist oder zum Beispiel auch Nachbarländer des Irans —, dann sind die Leistungen, die die Bundesrepublik Deutschland zu bringen hat, nach wie vor ausgesprochen niedrig. Natürlich, in diesem Jahr ist der Flüchtlingsstrom wieder gestiegen.
Aber wir hatten Jahre, in denen der Zustrom viel, viel höher war; beispielsweise 1980.
Wir haben große Schwankungen innerhalb der einzelnen Jahre, und in dem Augenblick, in dem die Flüchtlingsströme wieder anschwellen, gleich in Hysterie zu machen, verdeutlicht bei Ihnen die Tendenz, am liebsten das ganze Asylrecht kaputtzumachen. Herr Lummer macht es für Sie ja viel ehrlicher. Der ist offen und brutal und sagt: „Schmeißt doch den ganzen Kram weg", wie er es gestern wieder in seinen Äußerungen zu Art. 16 des Grundgesetzes gesagt hat. Sie haben das vornehm verbrämt hier dargestellt.Deswegen ist das entscheidende im Augenblick an der Auseinandersetzung das Klima, in dem diese Diskussion stattfindet. Ich finde es unerträglich, daß gerade die CDU/CSU an Punkten, wo eh Vorurteile in jeder Bevölkerung bestehen — gegen Minderheiten und gegen Ausländer besteht immer ein hohes Maß an Vorurteilen —, mit diesen Vorurteilen herumspielt und sie hochtreibt.
Verantwortliche Politik in der Demokratie heißt auch unbequem sein und Vorurteile reduzieren, und die Leute zu der Verantwortung aufzurufen, zu der auch ein reicher demokratischer Staat stehen muß. Das ist das Postulat, das Sie gröblich verletzen.Nun will ich etwas zu diesem Gesetzentwurf sagen. Dieser Gesetzentwurf — und da gebe ich in vielem dem Kollegen Hirsch recht, der dazu auch schon Stellung genommen hat — ist sowohl von Ihrer Seite als auch von unserer Position aus total untauglich. Er bringt überhaupt nichts, in keiner Weise, sondern es ist nur eine Stimmungsmache.
Wenn man sich die Begründung der Bundesregierung zu dem Bundesratsentwurf anguckt, dann wird das auch deutlich. Die Bundesregierung selber sagt in vielen Punkten: Die Passagen sind ziemlich unnötig, sie bringen zusätzliche Bürokratie, lösen aber kein einziges Problem. Wenn Herr Späth in der letzten Woche mit riesiger Drohgebärde gesagt hat, er würde den Zuteilungsvertrag kündigen, wenn die Bundesregierung nicht endlich etwas unternähme, dann ist das eine Kritik, die er an sich selbst richtet; denn die Vorschläge, die er macht, sind völlig untauglich und lösen das Problem überhaupt nicht.Ich will das an zwei Punkten klarstellen. Über den Gesetzentwurf werden wir in den Ausschüssen noch weiter beraten. Die zweijährige Überprüfung der anerkannten Asylbewerber ist doch wohl der dümmste Witz, den man sich überhaupt vorstellen kann. Unser Problem sind doch nicht die 52 000 anerkannten Asylbewerber. Unser Problem ist die relativ große Zahl derjenigen, die Asyl begehren und deren Verfahren sehr lange dauert. Was soll ich die 52 000 überprüfen, die anerkannt sind?Ich will auch gleich etwas zu den Zahlen sagen. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland, seit 1949 sind insgesamt nur 73 000 Leute als Asylbewerber anerkannt. Davon leben heute 52 000 in der Bundesrepublik. Das heißt, das Asylrecht ist überhaupt nicht unser Problem. Unser Problem ist die lange Dauer des Verfahrens bei Leuten, die Asyl begehren bzw. die Verkürzung der Verfahrensdauer.
Das sagen übrigens auch alle humanitären Organisationen. An dieser Stelle möchte ich insbesondere
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Wartenberg
den Kirchen und Wohlfahrtsorganisationen danken,
die hier wirklich in einer ganz hervorragenden Weise den Vorstellungen der CDU/CSU pari geboten haben. Sie sagen: Wenn wir etwas lösen wollen, dann müssen wir möglichst die Verfahren auf sechs Monate begrenzen. Wenn wir sie auf sechs Monate begrenzen, dann werden auch alle flankierenden harten Maßnahmen überflüssig, gegen die wir sowieso sind: die Frage des Arbeitsaufnahmeverbots, Beschränkung des Aufenthalts, die Art von Sammellagern, wie wir sie heute haben. Wenn man die Verkürzung der Verfahren schafft — und dies kann man schaffen, ohne das rechtsstaatliche Prinzip zu verletzen —, dann ist man der Lösung der Probleme näher. Aber dieses unsinnige Gesetz, das hier vorgeschlagen worden ist, bringt überhaupt nichts.Noch ein weiterer Punkt aus diesem Bereich. Wer drei Monate in einem Drittland gewesen ist — also ein Mensch aus Afghanistan, der drei Monate in Pakistan war —, soll nach diesem Gesetz schon Schutz in Pakistan gefunden haben und kein Recht mehr haben, hierherzukommen. Nun denken Sie mal an das Beispiel aus dem Dritten Reich. Da muß jemand emigrieren, hat eine Einreise in die USA und mußte vielleicht vier Monate in Brüssel bleiben, bis er in die USA weiterkonnte. Meistens mußten die Betreffenden länger dort bleiben. Ein solcher Mann hätte nach diesem Gesetzentwurf sein Asylrecht in den USA verwirkt. Stellen Sie sich doch einmal vor, was das tatsächlich bedeutet. Im übrigen widerspricht dieser Passus der Genfer Menschenrechtskonvention. Das ist keine Lösung, das ist wirklich dummes Zeug.
Wir müssen, glaube ich, wenn wir die Diskussion über die Asylbewerber in der Bundesrepublik Deutschland auf eine vernünftige sachliche Ebene führen wollen, darüber sprechen, inwieweit die Verfahren in einer vernünftigen Art und Weise abgekürzt werden können, wie eine schnelle Entscheidung, ob jemand asylberechtigt ist oder ob er nicht asylberechtigt ist, getroffen werden kann. Dann ist ein großer Teil der Probleme weg.Der einzige Punkt, den wir begrüßen, ist der, daß die Bundesregierung jetzt, nachdem im letzten Jahr das Bundesamt zehn Stellen verloren hat, die Stellen aufstocken will. Aber da bitte ich auch Sie, Herr Innenminister, einmal darauf zu gucken, wie dieses Amt organisiert ist. Das ist nicht nur eine Frage von wenigen Stellen, sondern dort herrscht, das hört man auch von Mitarbeitern, schlichtweg das Chaos. Wenn heute erst Bescheide vom Mai von der Geschäftsstelle herausgeschickt werden können, d. h. nach vier Monaten, obwohl die Bearbeiter die Bescheide schon längst gemacht haben, dann weiß man, woher Verzögerungen kommen.Der nächste Punkt. Gerade Bayern und BadenWürttemberg machen besonders viel Trara, was das Asylgesetz angeht. Aber wieso dauern gerade in Bayern und Baden-Württemberg die Verfahren 24bis 36 Monate, während sie in den norddeutschen Ländern zum Teil nur sieben Monate dauern? Das heißt, gerade die Länder, die so tun, als gehe die Welt unter, sind nicht in der Lage, in ihrer eigenen Organisationsverantwortung vernünftige Verfahren durchzuziehen. Das zeigt doch, daß dieses Geschrei, das dort angefangen wird, zum Teil um Ablenkung ist. Unter diesen Aspekten nehme ich Herrn Späth überhaupt nicht ab, wenn er hier herumtöst. Das geschieht nur, um Stimmung in der Bevölkerung zu machen.
Vizepräident Westphal: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Olderog?
Ich möchte Sie etwas fragen. Können Sie bestätigen, daß wir zur Zeit in der Bundesrepublik über 600 000 Flüchtlinge haben, neben den 4,5 Millionen Gastarbeitern, die ohnehin schon bei uns sind? Und können Sie weiter bestätigen, daß diese Zahl der Flüchtlinge von Jahr zu Jahr ständig steigt?
Herr Olderog, natürlich haben wir Flüchtlinge, die nicht unter die 52 000 anerkannten Asylbewerber fallen. Nur wird die Zahl von 600 000 von dem hohen Flüchtlingskommissar und allen anderen Organisationen als falsch angesehen. Einigen wir uns darauf, daß die, die wir hier haben, zusammen mit den Asylbewerbern insgesamt etwa 300 000 sind. Ich will mich auf die Zahlen gar nicht festlegen. Nur, das ist ja gar kein Problem des Asylgesetzes. Wenn der Zustand eingetreten ist, das fast 70 % derjenigen, deren Asylbegehren abgelehnt worden ist, gleichzeitig aus politischhumanitären Gründen nicht abgeschoben werden, dann hat es doch gar keinen Sinn, am Asylrecht herumzudoktern.
Es wird doch bei uns anerkannt, daß diese Leute nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können. Denken Sie an die Iraner, denken Sie an die Tamilen, denken Sie an die Afghanen oder auch beispielsweise an die Polen. Die Asylanträge werden z. T. abgelehnt. Trotzdem entscheiden die politischen Stellen oder auch die Verwaltungsgerichte, daß sie nicht in ihre Länder abgeschoben werden dürfen. Das heißt doch: Auf der einen Seite anerkennt die Bundesrepublik Deutschland ganz deutlich, daß in diesen Ländern politische Verfolgung und Unruhe stattfinden und die Menschen deswegen hier Schutz haben müssen. Auf der anderen Seite wird von Ihrer Seite gesagt: Das ist aber ein Mißbrauch. Wie paßt das denn zusammen?Übrigens ist das auch bei den Tamilen sehr deutlich. Man mag über die Gerichtsurteile streiten. Nur, die Tamilen sind zu 90 % anerkannt worden. Wenn man dann sagt, daß sei alles Mißbrauch, muß ich fragen: Ja bitte schön, was machen denn unsere Gerichte? Machen die pausenlos mißbräuchliche Entscheidungen? Also das stimmt doch in Ihrer ge-
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Wartenberg
samten Argumentationskette vorn und hinten nicht.
Ich frage Sie: Nützt eine Änderung des Asylrechts in der Form, wie es der Bundesrat vorgeschlagen hat, in irgendeiner Weise etwas? Da kann man festhalten: Nein; das verschärft die innenpolitische Auseinandersetzung, aber das Problem wird in Ihrer Richtung, nämlich einer verstärkten Eingrenzung des Problems, nicht gelöst, und schon gar nicht in unserer Richtung, die wir sagen: Wir wollen das unter humanitären und liberalen Gesichtspunkten lösen, ohne daß wir die Probleme, die die Gemeinden haben, verniedlichen.Wir Sozialdemokraten werden diesen Gesetzentwurf ablehnen. Wir halten ihn für absolut unnötig und meinen, daß eher über die flankierenden Maßnahmen und die Verkürzung der Verfahren diskutiert werden muß. Darüber können wir miteinander reden. Dieser Gesetzentwurf ist völlig untauglich.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, daß über das Asylrecht mit Emotionen und auch Emotionen-Schüren seit Jahren diskutiert wird. Das beginnt mit der Sprache. Wir reden von „Asylanten". Das sind nach unserem Sprachgefühl eine Art Obdachlose. Wie meinen in Wirklichkeit nach unserer Verfassung
politisch Verfolgte, politische Flüchtlinge, Menschen, die wegen ihrer Anschauungen, ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Herkunft von ihrem Staat verfolgt werden und bei uns Zuflucht suchen.
Wir reden von einer „Flut von Asylbewerbern". Herr Kollege Olderog, die Zahlen sind genannt worden: nach dem Asylrecht 53 000 anerkannte politische Flüchtlinge.
Alles andere sind Schätzzahlen, sind Leute, deren Asylantrag rechtskräftig abgelehnt worden ist, sind Kontingentflüchtlinge, sind hochgerechnete Familienangehörige; nach der Definition des Flüchtlingskommissars vielleicht 120 000; das sind, bezogen auf unsere Bevölkerung, weniger, als unsere Nachbarn aufgenommen haben.
Es wird von dem „massenhaften Mißbrauch des Asylrechts" gesprochen, als ob das lauter Nassauer wären. Wir wissen aber, daß in Wirklichkeit der Verfolgungsdruck in vielen Ländern und damit die
Anerkennungsquote erheblich gestiegen sind. Es wird der Eindruck erweckt: Die Leute, die in den Sammelunterkünften leben, sind alle Faulenzer. Wir sagen den Leuten nicht, daß wir Ihnen jahrelang verbieten zu arbeiten.
Es wird gesagt, die FDP wolle alle Asylanten hereinholen, obwohl wir in Wirklichkeit alles getan haben, um zu einer schnellen Trennung der politischen Flüchtlinge von denen zu kommen, die kein Asylrecht in Anspruch nehmen können.
Wir haben den Visumzwang gegen viele Widerstände eingeführt. Wir haben die möglichen Rechtsmittel bis an die Grenze des Vertretbaren gekürzt.
Herr Späth droht — das ist schon gesagt worden — dramatisch mit der Kündigung der Ländervereinbarung hinsichtlich der Aufnahmequote, ohne gleichzeitig zu sagen, daß damit die Quote BadenWürttembergs lediglich von 15,2 auf 15,1 % sinken würde.
Wir nehmen auch mit Befremden die Bemühungen der Verwaltungen zur Kenntnis, entgegen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Sozialhilfe pauschal um 20 % zu kürzen, ebenso die vielfältigen Versuche, durch abschreckende Maßnahmen das Grundrecht in der Wirklichkeit zu verkürzen. Das führt in der Tat, wie sich auch aus dem Gesetzentwurf ergibt, zu dem kuriosen Ergebnis, daß ein Ausländer, der als politischer Flüchtling aufgenommen werden will, inzwischen schlechter dasteht als ein Ausländer, der es vorzieht, hier nur als geduldeter Ausländer zu leben.
Es ist heute in dieser knappen Zeit nicht möglich, den Gesetzentwurf zu analysieren. Wir werden ihn sorgfältig prüfen. Einzelne Vorschläge sind akzeptabel, etwa die Bestätigung der ständigen Rechtsprechung zu einzelnen Fragen oder geringfügige Änderungen des Straftatbestandes meinetwegen der Verleitung zur mißbräuchlichen Antragstellung. Nicht akzeptabel ist die Regelüberprüfung aller politischen Flüchtlinge alle zwei oder drei Jahre oder die Ausdehnung des Arbeitsverbotes auf die gesamte Dauer des Asylverfahrens, was übrigens die Schwarzarbeit dramatisch vergrößern würde.
Sie haben ja in Bayern mit dem Bau der CSU-Zentrale in der Nymphenburger Straße Ihre Erfahrungen gemacht, die von ausländischen Schwarzarbeitern errichtet worden ist.
Herr Abgeordneter Hirsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mann?
Ja, bitte.
Herr Dr. Hirsch, Sie haben auf die knappe Zeit verwiesen. Mich interessiert jetzt für die weitere Beratung folgendes. Die Bundesre-
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Manngierung weist in ihrer Stellungnahme darauf hin — der Bundesinnenminister läßt ja leider meine Zwischenfragen nie zu —,
daß eine Kommission eingesetzt ist, die ihre Arbeiten im Herbst abschließen wird. Was ist Ihnen zur Zeit über diese Kommission bekannt? Und zum zweiten: Was halten Sie von dem Vorschlag des Kollegen Dr. Olderog, eine weitere Kommission von der Regierung berufen zu lassen? Meinen Sie nicht, daß die Rechte dieses Parlaments auf eine angemessene Beratung am besten durch eine Sachverständigenanhörung im Innenausschuß gewahrt würden?
Herr Kollege, ich werde niemanden daran hindern, nachzudenken; aber zu den einzelnen Thesen — auch zu dieser Kommission — werde ich gleich noch im Zusammenhang kommen; ich komme darauf zurück.Ich will nur sagen, es ist nicht richtig, den Eindruck zu erwecken, daß der Bundesgesetzgeber nichts getan habe. Wir haben in Wirklichkeit, Herr Kollege Olderog, den Rechtsweg so dramatisch verkürzt wie auf keinem anderen Rechtsgebiet, und wir haben uns selbst dazu verstanden, die Abschiebung vor der rechtskräftigen Entscheidung über das Asylverfahren zu ermöglichen.Wir werden daher vorschlagen, daß der Gesetzentwurf des Bundesrates einer sorgfältigen Anhörung unterzogen wird, in der die Gemeinden, die Wissenschaftler, die Kirchen, die karitativen Organisationen, Vertreter der Gerichtsbarkeit, die Anwaltschaft, der Flüchtlingskommissar Gelegenheit bekommen sollen, zu den einzelnen Vorschlägen Stellung zu nehmen, weil die Verfasser dieses Gesetzentwurfes selber wissen und im Gespräch auch selber einräumen, daß er zum Kern des Problems überhaupt nicht vorstößt. Das hat Herr Wartenberg in der Tat im einzelnen ausgeführt.Lassen Sie mich unsere Thesen zusammenfassen.Erstens. Die Bundesrepublik muß für politische Flüchtlinge offen bleiben. Wir werden einer Änderung unserer Verfassung in dieser Frage nicht zustimmen.
Wir fordern diejenigen, die eine Änderung des Grundgesetzes wollen, auf, einmal klipp und klar zu sagen, welche Regelung sie denn in Wirklichkeit anstreben, nachdem sie die Verfassung geändert haben.
Ich möchte wissen, ob sie die Humanität, die Aufnahme von Flüchtlingen dann nach den Grundsätzen der politischen Opportunität beschließen wollen, wie wir das schon einmal erlebt haben.
Zweitens. Wir halten eine Gesetzesänderung nicht für angebracht, wenn der Vollzug des bereits geltenden Bundesrechts nicht gesichert ist. Es ist in der Tat auffällig, daß die Gerichtsverfahren in geradezu drastischer Weise in der Länge voneinander abweichen, und Länder mit relativ kleinen Quoten wie Bayern und Baden-Württemberg oder Niedersachsen haben außerordentlich viel längere Verfahrensdauer als Länder mit großen Quoten wie z. B. Nordrhein-Westfalen, und die anhängigen Verfahren sind drastisch zurückgegangen.
— Ja, und in Bayern sind alle Verfahren bei einem einzigen Gericht konzentriert; das ist natürlich eine Regelung, die nicht funktionieren kann. Wenn wir hören, daß über 60 % der Anerkennungsbewerber nicht abgeschoben werden, auch wenn der Asylantrag rechtskräftig abgelehnt worden ist, dann frage ich mich, welchen Sinn es haben soll, das Gesetz zu ändern, wenn ohnehin unabhängig von der jeweiligen gesetzlichen Regelung zwei Drittel der Asylbewerber in der Bundesrepublik bleiben.Drittens. Die Länder müssen die Gemeinden von den Aufnahme- und Sozialhilfekosten mehr entlasten als bisher. Auch der Bund muß sich mehr beteiligen.Viertens. Wir streben eine europäische Harmonisierung des Visumzwanges und, soweit möglich, des Flüchtlingsrechtes an.Fünftens. Wir verlangen eine faire Behandlung der Flüchtlinge und wollen sie vor bürokratischen Schikanen schützen, denen sie zur Zeit in der Tat ausgeliefert sind.Sechstens. Wir wollen eine Harmonisierung des Asylrechtes mit dem Auslieferungsrecht.Siebtens. Wir danken den Kirchen und allen Organisationen und Menschen, die denen helfen, die bei uns Hilfe und Zuflucht suchen; denn das Asylrecht ist bei uns eine Folge der geschichtlichen Erfahrungen, die wir gemacht haben.
Wir sollen uns einmal daran erinnern, daß wir es, Herr Kollege Olderog, nicht nur unter dem Gesichtspunkt der finanziellen Belastung betrachten dürfen.
Humanität kostet etwas. So wie die Amerikaner auf die Freiheitsstatue in ihrem Hafen stolz sind, sollten wir einmal sagen, daß der Art. 16 eine Freiheitsstatue im sicheren Hafen unserer Verfassung ist.
Ich glaube, Herr Kollege Olderog, daß die Menschen, die bereit sind, für Humanität etwas zu opfern, etwas aufzubringen, nicht nur Belastungen auf sich nehmen, sondern daß sie unserem Staat eine große politische Kraft geben, daß sie das Ansehen dieses Landes in der Welt mehren. Ich sage Ihnen: Wer uns vor 40 Jahren erklärt hätte, daß Menschen
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Dr. Hirschaus aller Herren Länder, ob nun berechtigt oder nicht, in der Überzeugung zu uns kommen, daß sie bei uns fair behandelt werden, daß sie bei uns vernünftig leben können, dem hätten wir beide wohl nicht geglaubt. Lassen Sie uns auch etwas stolz dar auf sein, daß wir die Kraft haben, politisch Verfolgte in unserem Land aufzunehmen und ihnen zu helfen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Olderog?
Ja, das ist fast schon eine Schlußfrage.
Herr Kollege Hirsch, Sie haben sich für eine europäische Harmonisierung des Asylverfahrensrechts ausgesprochen. Können Sie mir bestätigen, daß eine solche Harmonisierung nur möglich ist, wenn wir unser Grundgesetz ändern?
Ich bin nicht der Überzeugung, Herr Kollege. Wir sollten einmal die Frage der Visumsregelung harmonisieren, und im übrigen tun Sie wirklich gut daran, sich einmal anzusehen, wie die Flüchtlingsrechte in Frankreich, in Holland, in Belgien sind, und Sie werden feststellen, daß diese Länder einem weit größeren Anteil der politischen Flüchtlinge ein Niederlassungsrecht geben, als wir das zur Zeit tun. Ich bin gern bereit, darüber im Laufe der Beratungen im einzelnen mit Ihnen zu sprechen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Hirsch, des Abgeordneten Boroffka?
Ich bin gar nicht in der Lage, es Ihnen abzuschlagen, Herr Kollege.
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Hirsch. Sie haben soeben die Freiheitsstatue als Symbol für die Freiheit der Vereinigten Staaten erwähnt. Würden Sie mir zustimmen, daß die Freiheitsglocke in Berlin ein ähnliches Symbol ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Natürlich. Gerade deswegen bedauern wir, daß der gegenwärtige Innensenator in Berlin eine so harte Linie verfolgt und damit den Ruf Berlins als einer Insel der Freiheit gefährdet.
Ich weiß mit Ihnen, daß wir aus welchen Gründen auch immer nicht alle aufnehmen können. Ich weiß mit Ihnen, daß über Ost-Berlin Mißbrauch betrieben wird.
Ich weiß, daß Berlin in dieser Frage in einer besonders schwierigen Situation ist, und das ist einer der Gründe dafür, warum sich die Länder dankenswerterweise immer wieder bereit erklärt haben, in einem besonders beschleunigten Verfahren Flüchtlinge gerade aus Berlin in die anderen, leistungskräftigeren Bundesländer zu übernehmen. Ich bin ganz sicher, daß die Länder das im Interesse Berlins fortführen werden. Herr Kollege, wir brauchen die Zusammenarbeit mit den Ländern; das ist ganz notwendig.
Wir werden diesen Gesetzentwurf wirklich ernsthaft prüfen und schnell durcharbeiten, weil wir mit Ihnen wollen, daß das Flüchtlingsrecht nicht mißbraucht wird, daß es nicht von denen in Anspruch genommen wird, die eigentlich aus wirtschaftlichen Gründen kommen oder — ich sage das eher — die nicht der Wirtschaft ihrer Länder, sondern der Armut ihrer Länder entfliehen wollen. Wir können nicht Politik im Stil der Bergpredigt treiben. Das wissen wir auch.
Wir brauchen die Zusammenarbeit mit den Ländern. Aber es muß dabei bleiben, daß wir Menschen, die in ihren Ländern politisch verfolgt sind, nicht zurückstoßen, wenn sie zu uns kommen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ströbele.
Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Ich bin dem Kollegen Hirsch für das, was er über den Zusammenhang des Art. 16 des Grundgesetzes, der das Asylrecht betrifft, und unserer Vergangenheit gesagt hat, sehr dankbar. Ich kann das nur unterstützen und nur hoffen, daß der Kollege Hirsch bei dieser Meinung, die er hier offen im Deutschen Bundestag gesagt hat, bleibt. Vor allen Dingen kann ich nur hoffen, daß er und seine Fraktion auch danach handeln werden.
Bundeskanzler Helmut Kohl hat anläßlich der „Woche des ausländischen Mitbürgers", die wir jetzt hatten, erklärt: „Die Bundesrepublik ist ein gastfreundliches Land."
Versuchen Sie das einmal bei den Emigranten und Flüchtlingen nachzuvollziehen, wenn man sieht, was täglich in den Zeitungen steht. So lautet heute die Überschrift in der „taz": „Verheerende Zustände im Asyllager — Gegen Überbelegung, Alkoholhandel und Prostitution". Im Lager in Karlsruhe sind über 100 der dort Untergebrachten im Hungerstreik.Wenn Sie wissen, daß in Hamburg Familien aus den Kirchen geholt und abgeschoben werden, wenn Sie wissen, daß in Berlin zivile Greiftrupps der Poli-
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Ströbelezei in der U-Bahn unterwegs sind, um Flüchtlinge aufzugreifen und abzuschieben, und wenn Sie wissen, daß in Berlin auch schwangere Frauen entgegen allen Beteuerungen aufgegriffen, festgehalten und abgeschoben werden, dann kann man das, was der Herr Bundeskanzler anläßlich so feierlicher Wochen wie der „Woche des ausländischen Mitbürgers" sagt, nicht mehr glauben.Die Gerichte müssen auch nicht in Richtung auf weniger Liberalität korrigiert werden. Herr Kollege Hirsch, ich hatte erwartet, von Ihnen eine Bemerkung dazu zu hören, daß das Verwaltungsgericht in Aachen kürzlich die weitverbreitete Praxis legitimiert hat, daß Asylbewerbern die Sozialhilfe um mindestens 20 % gekürzt werden kann, weil sie zu Hause in ihren Herkunftsländern schließlich auch weniger zu essen hätten als bei uns.Man muß auch die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in Lüneburg zur Kenntnis nehmen, wonach Folterungen nicht als politischer Grund für die Anerkennung als Asylant in der Bundesrepublik gerwertet werden können, weil Folterungen in der Türkei — so wörtlich das Oberverwaltungsgericht — teilweise durch traditionsbedingte Einstellung der Türkei zur Gewalt erklärt werden müssen und zum Teil auf das Selbstverständnis der Sicherheitskräfte in der Türkei zurückzuführen sind. Solche Worte hätte ich nicht deutschen Emigranten 1938 in Paris oder in anderen Städten gewünscht, wo sie Zuflucht gesucht haben.Die CDU erfindet — wir haben dafür heute wieder ein Beispiel erlebt — wie weiland der letzte deutsche Kaiser die gelbe Gefahr; sie sieht ein Millionenheer von Einwanderungswilligen, die zähnefletschend und verhungert an unseren Grenzen nur darauf warten, uns zu überschwemmen, uns zu überrennen, uns alles wegzufressen, von unserer Sozialhilfe zu schmarotzen und uns Gefährliches anzutun. So sieht das Horrorgemälde aus.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hirsch?
Wenn das nicht angerechnet wird, j a.
Herr Kollege, würden Sie dankenswerterweise im Interesse der Richter gleichzeitig sagen, daß nach der Rechtslage diejenigen Ausländer, denen Folter droht, nach § 14 Ausländergesetz nicht in das Fluchtland abgeschoben werden können und daß wir deswegen die Abschaffung des § 14, die ja in diesem Gesetzentwurf vorgeschlagen wird, mit besonderer Sorgfalt prüfen müssen?
Da kann ich Ihnen recht geben.Wie sehen die Fakten wirklich aus? — Es ist hier auf mehrere Zahlen hingewiesen worden, die ich bestätigen kann. Die Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik — das wird ja immer wieder unterschlagen — hat sich in den letzten Jahren um mehr als 300 000 vermindert. Die Zahl der anerkannten Asylbewerber liegt bei 70 000, von denen weniger als 50 000 noch in der Bundesrepublik sind. Wenn man demgegenüber weiß, daß in der Zeit des Nationalsozialismus über 600 000 Menschen aus Deutschland emigriert sind und in anderen Ländern Asyl gefunden haben, muß man sich schämen, wenn man heute bei 50 000 anerkannten Asylberechtigten in der Bundesrepublik die Grenzen zumachen will.
Wir sollten stolz darauf sein, daß so viele politisch Verfolgte in die Bundesrepublik kommen, um hier Unterschlupf zu suchen, um sich hier vor der Verfolgung in ihren Ländern zu schützen.Eine Überschwemmung mit Ausländern findet nicht statt. Die Bundesrepublik liegt in Westeuropa an letzter Stelle der Statistik der anerkannten Asylberechtigten. Wo ist da der Handlungsbedarf?Alle konkreten Vorschläge des Bundesrates sind politisch-ideologische Haßtiraden.
Hier geht es darum, ein Klima dafür zu schaffen, Verfolgte von Asylgesuchen in der Bundesrepublik abzuhalten. Hier soll ein Menschenrecht auf Zeit deklariert werden. Hier sollen die, die als politisch Verfolgte, als politische Flüchtlinge bereits anerkannt sind, immer in der Unsicherheit gelassen werden, ob sie nicht in zwei Jahren auf Grund anderer Gerichtsentscheidungen, auf Grund anderer Verwaltungsentscheidungen doch wieder gehen müssen. Hier sollen die Asylbewerber von Arbeit abgehalten werden, sie sollen der Sozialhilfe zur Last fallen, oder sie sollen den Sklavenhändlern zugetrieben werden, die sie illegal beschäftigen und sie in unverschämter Weise ausbeuten.
Die Kollegen Miltner und Laufs in der Öffentlichkeit und heute hier im Bundestag ja auch wieder der Kollege Dr. Olderog wollen an Art. 16 des Grundgesetzes heran, sie wollen diese Vorschrift verändern. Dieser Artikel ist ihnen unerträglich, weil er sie zwingt — der Kollege Hirsch hat darauf hingewiesen —,
sich bei jedem Asylantrag an unsere Verantwortung auf Grund der Geschichte des faschistischen Deutschland zu erinnern. Die politische Verantwortung für unsere Vergangenheit ist ihnen und dem Kanzler Kohl und dem Herrn Zimmermann und dem Herrn Lummer und dem Herrn Späth — und wie sie alle heißen — lästig; sie möchten sie begraben, einmauern und abschließen.
Uns ist diese Vergangenheit Verpflichtung. Wir meinen, wenn die anderen Länder in der Zeit des
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StröbeleNationalsozialismus 600 000 Deutsche bei sich aufgenommen haben, sie beherbergt und ihnen ein Auskommen gegeben haben, dann ist das für uns eine Verpflichtung, heute alles zu tun, um uns den Menschen in der Welt gegenüber zu revanchieren.
Wir lehnen deshalb die Vorschläge des Bundesrates ab. Wir sind uns in dieser Frage einig mit amnesty international, mit den Kirchen, mit vielen Gewerkschaften, mit vielen sozialen Einrichtungen und offenbar auch mit der FDP und der SPD. Mit ihnen gemeinsam werden wir uns für die Minderheiten und für politisch Verfolgte in aller Welt einsetzen.Für die GRÜNEN ist der Schutz der Minderheiten und der politisch Verfolgten ein Essential ihres politischen Handelns, und das wird es auch bleiben. Aus diesem Grunde müssen Sie bei allen Initiativen zur Verschärfung des Asylrechts und übrigens auch des Ausländerrechts mit unserem härtesten Widerstand rechnen. Wir finden es unerträglich, daß es schon wieder so weit sein soll, daß in der Bundesrepublik politisch Verfolgte, auch wenn sie aus anderen Ländern kommen, vor den Behörden versteckt werden müssen.Danke sehr.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister des Innern das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine ganze Reihe von wichtigen Argumenten und Zahlen sind genannt worden. Die Länder stellen diesen Antrag, weil viele bemerkenswerte Argumente vor dem verblassen, was in der Wirklichkeit vor Ort — im Dorf, in der Gemeinde, in der kleinen und mittleren Stadt — geschieht. Im übrigen: Daß das Asylrecht geändert und wieder angepaßt wird, ist keine singuläre Sache der Bundesrepublik Deutschland. Die Schweiz hat ihr Asylverfahrensrecht zuletzt am 1. Juni des letzten Jahres modifiziert. Auch dort berät das Parlament angesichts der gestiegenen Zahl von Asylbewerbern schon wieder über eine weitere Revision.
Das Asylrecht wird immer noch in beträchtlichem Umfang von Ausländern in Anspruch genommen, die die Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigter nicht erfüllen, sondern ein Asylverfahren nur betreiben, um sich zumindest vorübergehend in der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten. Auch das ist eine ganz unbestreitbare Tatsache. Allein mit Personalmaßnahmen läßt sich das natürlich nicht lösen. Trotzdem sind auch sie wichtig. Im Haushaltsentwurf 1986 sind Mittel für insgesamt 126 neue Mitarbeiter des Bundesamtesin Zirndorf vorgesehen. Im Hinblick auf die angespannte Arbeitssituation werden im Vorgriff darauf bereits 90 neue Mitarbeiter eingestellt.Wir müssen aber auch folgendes erkennen: Ein immer weiter ansteigender Zugang von Asylanträgen — das findet in diesem Jahr wieder statt — übersteigt die Verfahrens- und Entscheidungskapazitäten von Exekutive und Judikative. Wir stoßen hier an die Grenzen. Hinzu kommt, daß die Struktur der Behörden und Gerichte durch massenhaft gestellte Asylanträge in einer Weise verändert werden kann, die einer effektiven Grundrechtsgewährleistung nicht dienlich sein kann.Herr Kollege Wernitz, der Vorsitzende des Innenausschusses, hat 1982 auf einer Arbeitstagung in Köln wörtlich ausgeführt:Mein Eindruck ist, daß wir bei dem Asylrecht, wenn man auf der Grundlage des vorgegebenen verfassungsrechtlichen Rahmens bleibt, die Möglichkeiten der Gesetzgebung weitgehend ausgeschöpft haben.
Wer immer noch den Eindruck erweckt, daß hier große Änderungsmöglichkeiten bestehen, der macht sich oder anderen etwas vor.Dieses Zitat sollten die Kollegen von der SPD vielleicht noch einmal lesen, wenn sie diesen Antrag des Bundesrates im Innenausschuß beraten.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist — Bürgermeister Lummer hat das im Bundesrat deutlich gemacht —
der Versuch, das auszuschöpfen, was noch möglich ist. Wer die Verhältnisse in Berlin auf diesem Sektor kennt, der weiß, daß der Berliner Senat, das Berliner Abgeordnetenhaus und die Berliner Bevölkerung hier sehr wohl ein Problem sehen, das ihnen auf den Nägeln brennt. Das sollte man nicht so abtun mit Zurufen wie: „Der hat es nötig!".Meine Damen und Herren, Die Bundesregierung hat sich in einer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf geäußert. Ich möchte nur auf einen Bereich eingehen, auf den Bereich des § 2 — Schutz vor Verfolgung —.Zwei kurze Zitate aus Urteilen der Verwaltungsgerichte:Ebenfalls steht dem Asyl nicht entgegen, daß sich der Kläger vom 2. Juli 1975 bis 1. Januar 1976 mit Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in Schweden aufgehalten hat ... Gegenüber den schwedischen Behörden, die ihn ausdrücklich auf die Möglichkeit der Asylantragstellung hingewiesen hatten, hat er erklärt, er bleibe nicht in Schweden, sondern er wolle zwecks Asylgewährung in die Bundesrepublik Deutschland weiterreisen.
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Bundesminister Dr. ZimmermannDamit hat er klar zu erkennen gegeben, daß er Schweden nur als Durchreiseland betrachtet und endgültigen Schutz vor Verfolgung nur in der Bundesrepublik Deutschland suchen wollte.Zweites Zitat:Daher kann aus der Tatsache, daß die Klägerin sich eine verhältnismäßig lange Zeit — etwa 11/2 Jahre — in Israel aufgehalten hat, ebensowenig auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Asylverfahrensgesetz geschlossen werden wie aus dem ihr gewährten Abschiebungsschutz und den Mitteln zur Existenzsicherung, die ihr der Staat Israel ... zur Verfügung gestellt hat. ... Denn für diese Annahme fehlt es an der weiteren Voraussetzung, nämlich daß die Klägerin diesen Schutz in Israel tatsächlich auch gesucht hat.In beiden Fällen ist klar: In Schweden und in Israel wäre anerkannt worden, aber man wollte wegen der besseren Lebensbedingungen in die Bundesrepublik Deutschland.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hirsch auf der einen Seite und des Herrn Abgeordneten Ströbele auf der anderen Seite?
Nein, ich möchte ein paar ganz kurze Erklärungen zu diesem Entwurf des Bundesrates abgeben. Ich möchte in der ersten Lesung nicht etwa in eine vertiefende Diskussion eintreten.
Es liegt im Ermessen eines jeden Redners, ob er Zwischenrufe beantwortet oder nicht.
— Herr Kollege Mann, Sie gehören zu denen, denen ich mangels Kompetenz überhaupt keine Zwischenfrage beantworte.
Herr Abgeordneter Mann, Sie haben sich für eine Zwischenfrage zu Wort gemeldet.
— Herr Ströbele. — Die Zwischenfrage ist abgelehnt worden. Das ist das Recht des Redners.
Dann haben Sie dies auch nicht hinterher zu kritisieren, Herr Mann.
— Sie haben das nicht zu kritisieren, Herr Mann; nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. Das ist eine Ermessensfrage, und der Minister hat davon Gebrauch gemacht.
Herr Bundesminister, fahren Sie fort.
— Sie haben sich da vielleicht noch einiges zu merken.
Sie sollten das Recht, Zwischenrufe in Anspruch zu nehmen, nicht ständig so mißbrauchen, wie Sie das tun, Herr Abgeordneter Ströbele.
Ich komme darauf zurück: In zwei demokratischen Ländern war Schutz vor Verfolgung angeboten worden. Die Betreffenden haben weder Schweden noch Israel wählen wollen, sondern die Bundesrepublik Deutschland wegen der besseren Lebensbedingungen. Das ist doch ein Tatbestand. Den kann man kritisieren oder nicht, aber es ist so. Aus diesem Grunde muß man fragen, ob Art. 16 Abs. 2 GG eine so weite Auslegung des Asylrechts, wie sie hier von den Verwaltungsgerichten vorgenommen worden ist, wirklich gebietet oder ob der Gesetzgeber nicht Grund zu einer Prüfung hat.Das Bundesverfassungsgericht hat einmal darauf hingewiesen, daß Art. 16 Abs. 2 eine gegenwärtige Verfolgungsbetroffenheit voraussetzt. Ob in den Fällen, die ich gerade zitiert habe, von einer gegenwärtigen Verfolgungsbetroffenheit gesprochen werden kann, möchte ich bezweifeln.In den seinerzeitigen parlamentarischen Beratungen des Asylverfahrensgesetzes hat der Rechtsausschuß des Bundestages die Auffassung vertreten, Ausländer, die durch Verlassen eines Drittstaates den dort gefundenen Schutz vor Verfolgung freiwillig aufgeben, sollten das Grundrecht auf Asyl nicht geltend machen können. Aus dem geltenden Wortlaut des § 2 Asylverfahrensgesetz wird von einigen Gerichten indessen herausgelesen — ich würde hier besser sagen: hereingelesen —, daß auch in diesen Fällen gleichwohl noch ein Anspruch auf Asylgewährung bestehe.Der vorliegende Gesetzentwurf bietet die Möglichkeit, vertieft zu prüfen, welche Handlungsmöglichkeiten dem Gesetzgeber noch verbleiben. Wir
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Bundesminister Dr. Zimmermannmüssen uns aber darüber im klaren sein — hier möchte ich für die Bundesregierung keine Zweifel lassen —, daß weder durch Personalverstärkungsmaßnahmen noch durch andere Maßnahmen nach dem nationalen Verfahrensrecht eine befriedigende Lösung gefunden werden kann. Wir müssen weiter unter Berücksichtigung der internationalen Verhältnisse nach Lösungen suchen, wie unsere humanitären und rechtlichen Verpflichtungen in Einklang mit unseren tatsächlichen Möglichkeiten und den Lebensinteressen der Bevölkerung gebracht werden können.Die von der Bundesregierung eingesetzte interministerielle Kommission „Asyl" befaßt sich mit diesen grundlegenden Fragen. Ich gehe davon aus, daß der Kommissionsbericht bis Ende dieses Jahres vorliegen wird.Danke schön.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 10/3678 zur federführenden Beratung an den Innenausschuß, zur Mitberatung an den Rechtsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Ist das Haus damit einverstanden'? — Es ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Waltenmathe, Müntefering, Dr. Apel, Conradi, Lohmann , Meininghaus, Menzel, Polkehn, Reschke, Schmitt (Wiesbaden), Dr. Sperling, Frau Weyel, Frau Blunck, Ranker, Kuhlwein, Büchler (Hof), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeskleingartengesetzes
— Drucksache 10/3401 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat hat eine Aussprache von jeweils fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Büchler . Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion hat ein Ziel: die Gefährdung von Kleingärten abzuwenden. Wir wollen im Bundeskleingartengesetz von 1983,das sich im großen und ganzen bewährt hat — das kann man heute sagen —, die Frist zur Kündigung von Pachtverträgen um drei Jahre verlängern. Das Problem ist bekannt. Ich glaube, ich brauche es hier nicht näher zu erläutern. Alle diejenigen, die Gartenland benützen, das nicht der Gemeinde gehört, sind terminlich praktisch gefährdet. Das sind alle Privaten, Kirchen, Stiftungen usw.Wir Sozialdemokraten haben die Sorge, daß die Frist bis zum 31. März 1987 zu kurz bemessen ist, um möglichst alle Gärten zu erhalten. Es ist in der Tat so, daß viele Gärten in den Städten gefährdet sind. Wie wichtig aber die Gärten in den Ballungsräumen und Städten geworden sind, hat sich in den letzten Jahren überdeutlich gezeigt. Die Sünden der Vergangenheit, als es nur darum ging, in der Ebene zu betonieren und mit Hochhäusern Rekorde aufzustellen, haben wir auch heute noch schmerzlich zu spüren.Der vorliegende Gesetzentwurf soll deshalb wesentlich mithelfen, daß unsere städtischen Grünflächen — und die Kleingärten sind ein großer Teil davon — eben nicht dezimiert werden, daß sie erhalten bleiben und aus dem innerstädtischen Bereich nicht weiter herausgedrängt werden.
Es ist ja — Gott sei Dank, möchte ich sagen — fast Allgemeingut geworden: Stadtgestaltung heißt heute „Mehr Grün in die Städte!". Dabei stellt dieser Gesetzentwurf nicht einmal auf das Mehr ab. Er will ja nur verhindern, daß Grünflächen weiter zurückgedrängt werden. Darum geht es uns bei diesem Entwurf. Das ist aber auch notwendig. Denn unsere Kleingärten tragen zur stadtnahen Erholung bei und entlasten unsere ökologisch wertvollen Landschaftsgebiete.Kleingärten — das wissen wir — haben überwiegend Freizeitwert und werden zur Freizeitgestaltung genützt. Sie haben daher eine übergeordnete gesellschaftliche Funktion. Wenn man sich die Gartenbewirtschaftung in der Republik anschaut, dann stellt man fest, daß viele Deutsche in den Gärten arbeiten und dort ihre Freizeit verbringen. 25 % aller Deutschen besitzen einen Garten und arbeiten in ihm. Die Gärten stellen also einen wichtigen Faktor bei der Freizeitgestaltung dar. Die Deutschen lieben ihre Gärten; das wissen wir. Sie haben sich mit ihren Gärten, so meine ich, eine Oase geschaffen,
in die sie sich zurückziehen können. Sie haben sich eine Nische gegen den Streß geschaffen. Hinzu kommt noch: Wenn die Kleingärten naturgemäß bewirtschaftet werden, verbessern sie auch die Umweltbedingungen in den Städten wesentlich.Die Gemeinden bemühen sich, Bebauungspläne aufzustellen, die es ermöglichen, Kleingärten in Dauerkleingärten umzuwandeln. Aber die Frist dafür scheint uns zu kurz zu sein. Natürlich wäre es gut — das möchte ich hier auch sagen —, wenn dies alles in der Frist geschehen könnte. Nur, wenn es innerhalb der bisher vorgesehenen Frist nicht ge-
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Büchler
schehen kann, dann brauchen wir die Fristverlängerung; darüber gibt's gar keinen Zweifel.Die Kommunalpolitiker müssen wissen, daß sie in Zukunft mehr danach beurteilt werden, wieviel Grün sie in die Städte zurückbringen, nicht aber danach, wieviel sie zubetonieren.
Das muß man den Kommunalpolitikern einmal sagen.Im Rahmen der Ausschußarbeit besteht, glaube ich, Gelegenheit, das ganze Thema in einer Art Anhörung noch einmal genau zu erurieren und zu überlegen, was wir tun sollen. Diese Sicherheit sollten wir, auch wenn es vielleicht überflüssig ist, schon einbauen. Wir sollten dafür Sorge tragen, daß auf jeden Fall klar ist: Wir wollen die Gärten in den Städten erhalten, wir wollen sie mehren. Wir wissen, daß immer mehr junge Ehepaare, Ehepaare mit Kindern das Verlangen haben, ein Stück Land zu besitzen, einen Kleingarten zu bearbeiten oder sonst gärtnerisch tätig zu sein. Wir von der Politik sollten eine solche Bewegung unterstützen. Das führt den Menschen zur Natur zurück. Das macht deutlich, daß der Mensch und die Natur eine Einheit darstellen. Ich glaube, das ist für eine harmonische Gesellschaft auch wichtig. Deshalb zielt unser Antrag darauf, daß wirklich kein Kleingartenland vernichtet, sondern auf jeden Fall erhalten wird.Ich bitte das Hohe Haus, dem Überweisungsvorschlag des Ältestenrates zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Magin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Verabschiedung des Bundeskleingartengesetzes am 9. November 1982 habe ich für unsere Fraktion die Meinung über die sozialpolitischen und städtebaulichen Bedeutungen und Wirkungen des Kleingartenwesens deutlich gemacht. Wir stimmen weitgehend mit dem überein, was Sie, Herr Büchler, heute gesagt haben. Unsere Meinung ist unverändert.Ich erinnere daran, meine Damen und Herren, daß die Neufassung des Bundeskleingartengesetzes auf einen Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juni 1979 zurückgeht. Das trifft natürlich die Problematik, die heute in Ihrem Antrag angesprochen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat damals festgestellt, daß die geltenden rechtlichen Regelungen über das Kleingartenwesen nicht mehr mit Art. 14 des Grundgesetzes zu vereinbaren sind. Entsprechend der Definition in diesem Beschluß, nämlich daß die Bereitstellung von Grundstücken für Kleingärtner eine öffentliche Aufgabe der Gemeinden ist, sieht das Gesetz eine Übergangsfrist von vier Jahren vor, innerhalb deren die Gemeinden Dauerkleingärten durch den Erlaß von Bebauungsplänen absichern können.Ihr Änderungsantrag, meine Kollegen von der SPD, will nun mit der Begründung, diese Frist reiche nicht aus, wie Sie, Herr Büchler, gesagt haben, um alle privaten Kleingartengrundstücke in Bebauungsplänen als Dauerkleingärten festzusetzen, diese Frist über den 31. März 1987 bis zum 31. März 1990 ausdehnen.In ersten Stellungnahmen haben die kommunalen Spitzenverbände diese Fristverlängerung für nicht nötig erklärt. Sie sehen keinen Handlungsbedarf, ja sie raten ab. Der noch zur Verfügung stehende Zeitraum wird für ausreichend gehalten.Nun hat — dem können wir uns bei einer solchen Diskussion nicht verschließen — am 24. Mai 1985 der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs beschlossen, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzuholen, ob die in § 16 des Kleingartengesetzes geregelte Übergangsfrist von vier Jahren mit Art. 14 des Grundgesetzes zu vereinbaren ist. Der V. Senat hält die Übergangsfrist von vier Jahren für verfassungswidrig. In dem Beschluß heißt es u. a., die Aufrechterhaltung von Pachtverträgen, die nach ihrem Vertragsinhalt vor dem 1. April 1983 beendet gewesen wären, über mehr als eine kurz bemessene Zeit nach dem Inkrafttreten der Neuregelung hinaus, in der sich die Beteiligten auf die neue Rechtslage hätten einrichten können, sei nach Ansicht des Senats mit Art. 14 des Grundgesetzes nicht vereinbar. Man hätte allenfalls einer Verlängerung bis zum Ende der Vegetationsperiode, d. h. bis zum 30. November 1984, zustimmen können.Wir teilen die Auffassung des V. Senats, was die vierjährige Übergangsfrist angeht, nicht.
Ich wiederhole, was ich vorhin bereits ausgeführt habe, nämlich daß nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts es als eine öffentliche Aufgabe der Gemeinde definiert wurde, Kleingartenland unter Berücksichtigung der städtebaulichen Ordnung und Entwicklung zur Verfügung zu stellen. Zur städtebaulichen Überprüfung der Standorte von Kleingartenanlagen, ob diese Anlagen bauplanerisch abgesichert werden sollen, muß der Gemeinde eine angemessene Frist eingeräumt werden, die es ihr ermöglicht, ohne unverhältnismäßigen Zeitdruck die städtebaulich relevanten Standortfragen zu klären und die notwendigen Entscheidungen im Hinblick auf die Beibehaltung oder Aufgabe der Kleingartenanlage zu treffen.
Dasselbe gilt auch für die Bereitstellung von Ersatzland. Jeder Praktiker erkennt, daß man das nicht von heute auf morgen tun kann. Insofern sind die vier Jahre durchaus in Ordnung. Wir halten diese Frist für sachgerecht und angemessen.Die Frage, ob es nötig und auch rechtlich möglich ist — wir können uns der Rechtsprechung nicht verschließen —, die Übergangsfrist bis zum Jahre 1990 auszudehnen, wollen wir sorgfältig prüfen. Deshalb halten wir eine baldige Behandlung im Ausschuß für angezeigt.Wir halten es für wichtig, dazu die mit diesen Fragen befaßten Verbände — das sind die Kleingärtnerverbände und die kommunalen Spitzenverbände
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Magin— anzuhören, um ihren sachkundigen Rat in diesen Fragen einzuholen.Meine Fraktion stimmt der Ausschußüberweisung zu.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Werner .
Herr Präsident! Meine Herren! Wir GRÜNEN werden von anderer Seite gern als „grüne Gartenzwerge" dargestellt.
Wir fühlen uns zwar durch dieses Image nicht verpflichtet, aber Sie werden von einem GRÜNEN in dieser Debatte heute selbstverständlich nichts anderes erwarten dürfen als ein Bekenntnis zum Kleingarten.
Für viele Kleingartenbesitzer ist ihr Garten geradezu eine Lebensform. Angesichts eines Wertewandels — nicht im Sinne der Rolle rückwärts, wie wir Ihre „geistig-moralische Wende" bewerten, sondern im Sinne eines steigenden ökologischen Bewußtseins — hat der Garten, insbesondere auch die Kleingartenkolonie als einzige Möglichkeit für viele Städter, eine ständig zunehmende Bedeutung für das, was man Lebensqualität nennt.
— Kommt noch!
Ein paar Zahlen sollen die Situation verdeutlichen: Die bebauten und versiegelten Flächen in dieser Republik nehmen insgesamt etwa die doppelte Fläche des Bundeslandes Schleswig-Holstein ein. Allein innerhalb der letzten zehn Jahre wurde fast die vierfache Fläche des Landes Hamburg bebaut. Die Siedlungsflächen sind dreizehnmal so groß wie die Naturschutzflächen, die Verkehrsflächen fünfmal so groß. Wäre der Adler an der Wand hinter mir lebendig, bräuchte er etwa 20 Quadratkilometer Fläche, in denen absolute Ruhe herrscht — und darum gibt es diesen Wappenvogel in diesem unserem Lande praktisch nicht mehr. Ich will jetzt nicht behaupten, daß mit der Erhaltung aller vorhandenen Kleingärten dem Adler wieder Lebensraum verschafft werden könnte; aber eine solche Erhaltung wäre in jedem Fall eine Mindestforderung, um noch ein wenig annähernd naturnahe Flächen zu retten.
Nach mir vorliegenden Zahlen verfügen etwa die Hälfte der bundesdeutschen Haushalte über Gartenland in dieser oder jener Form. Ich lasse mich gern berichtigen, wenn diese Zahl etwas zu hoch gegriffen sein sollte. Nach einer Schätzung wird etwa ein Drittel der inländischen Gemüseproduktion von Kleingärtnern geerntet.
Zwar haben sich diese Kleingärtner in der Vergangenheit vielfach durch Werbung dazu verführen lassen, in ihren Gärten eine unökologische Anbauweise unter Verwendung von giftigen Präparaten — teils in sehr hoher Dosierung — zu pflegen; aber diese Tendenzen sind doch sehr stark rückläufig; ein neues Bewußtsein breitet sich auch hier aus.
Unter all diesen Umständen muß jeder rettende Strohhalm ergriffen werden, um weiteren Abbau von naturnahen Flächen auf jeden Fall zu verhindern. Im Rahmen der Gewaltenteilung haben wir als Gesetzgeber klare Zeichen zu setzen, und wir dürfen uns nicht durch angeblich vorhandene verfassungsrechtliche Zweifel davon abhalten lassen, hier klar Stellung zu beziehen. Denjenigen, die meinen, verfassungsrechtlich sei die heutige Vorlage bedenklich, möchte ich vor Augen halten, daß auch die Bewertung verfassungsrechtlicher Normen einem gewissen Wandel unterworfen sein kann.
Angesichts der zunehmenden Tendenz, den Schutz der Umwelt z. B. in Länderverfassungen als Staatsschutzziel einzufügen, wird man heute den hier behandelten Sachverhalt sicher anders bewerten müssen als vor etwa zehn Jahren.
Nach vorsichtigen Schätzungen sind von der Rechtsunsicherheit, die mit dieser Vorlage beseitigt werden soll, etwa 20 % der Kleingärten betroffen. Aber allein zu dem Zweck, hier einmal genauere Zahlen — z. B. durch Anhörungen — zu bekommen, ist es in jedem Fall sinnvoll, daß diese Vorlage in den Ausschüssen behandelt wird.
Die Behauptung der Bundesregierung und der Spitzenverbände, die uns jetzt durch manche Vorlagen bekanntgeworden ist, daß ein Regelungsbedarf nicht bestehe, klingt zunächst ganz schön und gut; aber im Zweifelsfalle lasse ich mir die Situation lieber von den Betroffenen selbst erklären als von den Vertretern einer Wende, die hier gar zu gern die Rechte von Eigentümern höher stellen möchten als die Sozialpflichtigkeit des Eigentums und das neuerwachte Umweltbewußtsein.
Vielen Dank!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Mit dem Kleingartengesetz von 1982 haben wir festgelegt, daß bestehende Pachtverträge mit privaten Verpächtern über Kleingärten, die nicht im Bebauungsplan ausgewiesen sind, mit Ablauf des 31. März 1987 enden, wenn die vereinbarte Pachtzeit vor diesem Zeitpunkt ausgelaufen ist. Mit dieser Regelung haben wir den schutzwürdigen Belangen der Verpächter und der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Eigentums Rechnung tragen wollen. Durch die
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Beckmannvierjährige Übergangsfrist sollte den Gemeinden auch genügend Zeit gegeben werden, um einen Bebauungsplan aufzustellen und die Kleingartenanlage als Fläche für Dauerkleingärten auszuweisen mit der Folge, daß das Pachtverhältnis auf unbestimmte Zeit als verlängert gilt, oder aber um Ersatzland zur Verfügung zu stellen.Der Besitz eines Kleingartens ist heute zumeist für die Kleingärtner von beachtlichem Wert und zugleich von besonderer Bedeutung für die Bürger in unseren Städten. Wir bedauern sehr, daß die Ausweisung von Dauerkleingärten über Bebaungspläne in den Städten nicht schnell genug vorangeht. Eigentlich müßte der vorgegebene Zeitraum im bestehenden Gesetz ausreichen, zumal wir wissen, daß es auch hier erhebliche rechtliche Probleme zu geben scheint.Die FDP-Fraktion ist bereit, den vorliegenden Gesetzesantrag im Ausschuß eingehend zu prüfen und zu beraten. Wir wissen um die große Bedeutung der Kleingartenidee. Lassen Sie mich deshalb mit einem Wort von Lichtenberg schließen, der gesagt hat: „Die Neigung der Menschen, kleine Dinge für wichtig zu halten, hat oft viel Großes hervorgebracht."
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Jahn.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Büchler hat sicherlich heute seine Funktion als Präsident des Kleingärtnerverbandes im Hinterkopf, wenn er für die SPD-Fraktion diesen Antrag begründet. Herr Kollege Büchler, die Bundesregierung ist — das wissen Sie genau — stets für die Belange der Kleingärtner eingetreten. Sie tut das auch heute, und sie appelliert von dieser Stelle aus erneut an die Städte und Gemeinden, den Kleingärtnern auch zu einem Kleingarten zu verhelfen, soweit das im Rahmen der städtebaulichen Planung möglich ist. Wir haben die Gelegenheit genutzt, an die kommunalen Spitzenverbände heranzutreten, um diese Aufgabe noch einmal in ihrer Bedeutung zu unterstreichen.
Der Kollege Magin hat in dankenswerter Klarheit auf das Problem hingewiesen, daß der Bundesgerichtshof die Übergangsfrist von vier Jahren als verfassungswidrig ansieht und deshalb einen Vorlagebeschluß an das Bundesverfassungsgericht gemacht hat. Die Problematik besteht darin, daß Sie diese Frist, die der Bundesgerichtshof für rechtswidrig hält, noch einmal um drei Jahre ausdehnen wollen. Herr Kollege Büchler, ich darf in Ihre Erinnerung rufen, daß der federführende Bundestagsausschuß damals einmütig eine Verlängerung der Übergangsfrist über vier Jahre hinaus abgelehnt hat. Im schriftlichen Bericht des Ausschusses,
der einstimmig votiert hat, heißt es hierzu — ich zitiere —:
Einigkeit bestand im Ausschuß darüber, daß befristete Verträge mit privaten Eigentümern grundsätzlich nach einer Übergangszeit von vier Jahren enden sollen, wenn die vereinbarte Pachtdauer bis zum 31. März 1987 abgelaufen ist. Eine Verlängerung um weitere vier Jahre, die von Kleingärtnerverbänden gewünscht wird, wäre im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie bedenklich.
Sie haben damals dem Gesetz zugestimmt, wie wir alle, und die Frage, die sich nun auftut, ist: Was hat es in der Zwischenzeit an konkreten Fakten gegeben, die es rechtfertigen, diesen Gesetzentwurf einzubringen'?
Herr Kollege Büchler, ich habe deshalb die kommunalen Spitzenverbände in einem Schreiben aufgefordert, zu dieser Problematik Stellung zu nehmen. Die kommunalen Spitzenverbände haben übereinstimmend mitgeteilt, daß ein Handlungsbedarf für eine gesetzgeberische Maßnahme nicht bestehe. Die planungsrechtliche Absicherung von Kleingärten, die vom Auslaufen der Pachtverträge betroffen seien, erfordere keine Verlängerung der vierjährigen Übergangsfrist. Es liegen danach — so die kommunalen Spitzenverbände — weder städtebauliche noch kleingärtenrechtliche Gründe vor, die eine Verlängerung der Übergangsfrist angebracht erscheinen lassen.
Sie sehen, die Bundesregierung hat, auch auf Grund von Fragen, die Sie in der Fragestunde gestellt haben, Ihr Anliegen zum Anlaß genommen, diejenigen, die es angeht, nämlich die kommunalen Spitzenverbände, zu befragen. Das hindert uns nicht daran, wenn dieser Gesetzesantrag überwiesen wird, die Gesamtproblematik noch einmal zu durchleuchten. Es wäre ja vielleicht auch gut, wenn das Bundesverfassungsgericht uns seine Entscheidung noch im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zugänglich machte, damit wir wissen, auf welchem Boden wir uns befinden.
Alles in allem findet hier heute ein Wettbewerb um die Kleingärtner statt. Herr Kollege Büchler, das war schon immer so. Wir kennen auch die Relevanz, die dahintersteckt. Sie haben gesagt: Zurück zur Natur. Ich persönlich möchte sagen: jawohl, aber natürlich im Rahmen der Verfassung und des gesetzlich Möglichen. Dem stellen wir uns wahrscheinlich alle in den Ausschußberatungen. Ich lade Sie ein, mit in den Wettbewerb einzutreten, wer sich denn für die Kleingärtner am meisten verpflichtet weiß. Die Bundesregierung wird nicht hintanstehen.
Meine Damen und meine Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor Überweisung an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städte-
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Vizepräsident Stücklen
bau — federführend —, an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Mitberatung. Ist das Haus damit einverstanden? — Dann ist so beschlossen.
Bis zur Fragestunde hätten wir noch vier Minuten Zeit. Da ich aber sehe, daß der Vertreter der Bundesregierung bereits da ist und auch die Fragesteller anwesend sind, bitte ich, damit einverstanden zu sein, daI3 wir sofort weiterfahren.
Ich rufe auf:
Fragestunde
— Drucksache 10/3918 —
Wir fahren fort mit den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Schulte zur Verfügung. Ich rufe die Frage 47 des Herrn Abgeordneten Ströbele auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß es in dem von der Düsseldorfer Regionalstelle für Flugsicherung kontrollierten Luftraum im Zeitraum Mitte Juni/Mitte Juli 1985 zu mindestens 101 Vorkommnissen gekommen ist, Vorkommnissen, die von der militärischen und zivilen Seite gemeldet wurden und unstreitig auf das „Sobernheimer Konzept" zurückzuführen sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Ströbele, durch die Beaufsichtigung und Begleitung des Feldversuchs durch eine Steuerungsgruppe, in welcher die beiden beteiligten Ressorts, Bundesministerium für Verkehr und Bundesministerium für Verteidigung, maßgeblich vertreten sind, besteht laufende Unterrichtung über alle besonderen Vorkommnisse im Zusammenhang mit diesem Projekt. Bei den in Ihrer Frage genannten Vorkommnissen handelt es sich um Situationen, die von der Steuerungsgruppe im Sinne ihrer Aufgabenstellung behandelt werden sollten und ihr zu diesem Zweck vorzutragen waren. Bei der praktischen Erprobung einer neuen Konzeption sind derartige Berichte normal und unverzichtbar, wenn die Erprobung als Test zu Änderungen und Verbesserungen genutzt werden soll. Wie bei der Antwort von gestern ausgeführt, sind auf Grund derartiger Vorträge Neuregelungen getroffen worden. Im übrigen handelt es sich bei diesen Vorkommnissen nicht um sogenannte gefährliche Begegnungen zwischen Luftfahrzeugen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, welche Ursachen liegen nach Auffassung der Bundesregierung dafür vor, daß es am 12.6. von 9.40 Uhr bis 12 Uhr und am 27.6. von 8.30 Uhr bis 10.30 Uhr in der Düsseldorfer Flugsicherungsregionalstelle zum Teamsplit zwischen Radar und Koordinationslotsen und damit zu nicht mehr durchführbarer Arbeit sowie zu höchsten Sicherheitsrisiken gekommen ist?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ein Mitarbeiter des Verkehrsministeriums sagt gerade, daß dies auf ein unerwartetes hohes Verkehrsaufkommen zurückzuführen ist. Ich würde trotzdem vorschlagen, daß Sie, wenn Sie ein Datum mit Tageszeit erwähnen, das doch vorher vielleicht in der Frage übermitteln, damit man sich entsprechend vorbereiten kann.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie die Vorkommnisse, die Sie ja dem Grunde nach, wenn ich das als Jurist sagen darf, bestätigen, von denen Sie nur eine andere Qualifikation annehmen, daß sie etwas anderes gewesen sind, näher bezeichnen und sagen, um was für Vorkommnisse es sich bei den 101 Vorkommnissen, auf die sich die Frage bezieht, gehandelt hat?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Ströbele, diese Vorkommnisse waren keine gefährlichen Begegnungen, wie Sie es in Ihrer Frage und in Ihrer Zusatzfrage andeuten, sondern dies waren exakt Abstimmungsfälle und Abstimmungsfragen, die in dem Feldversuch geprobt werden sollten.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mann.
Herr Staatssekretär, wie ist zu erklären, daß es am 9. Juli zu erheblichen technischen Störungen kam, und wie ist ferner zu erklären, daß bei Durchführung von Notstaffelungen zwei Systeme im gleichen Luftraum arbeiten? Ich möchte bemerken: Immerhin ist in der Frage 47 nach 101 Vorkommnissen in dem Zeitraum von Mitte Juni bis Mitte Juli 1985 gefragt. Ich meine, es ist die Pflicht der Bundesregierung, sich für diese Fragestunde über die gesamten Vorkommnisse in diesem Zeitraum sachkundig zu machen.
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich habe vorhin ausgeführt, daß die „Vorkommnisse" — ich sage dies mit Anführungszeichen — nicht gefährliche Begegnungen gewesen sind, die die Sicherheit im Luftverkehr tangiert hätten. Ich mache Ihnen den Vorschlag, daß Sie mir alle Ihre Daten übermitteln, ob Sie den 30. August oder den 17. Juni nehmen. Ich bin gern bereit, all diesen Fragen nachzugehen. Wir müssen allerdings dafür die Auskünfte erst noch bei der BITS einholen.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Würtz.
Herr Staatssekretär, ist es auf Grund dieser Vorkommnisse in der Düsseldorfer Regionalstelle zu irgendwelchen Untersuchungen oder Disziplinarmaßnahmen gekommen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, dies war nicht erforderlich. Meine Antwort ist also: Nein.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schulte .
Herr Staatssekretär, wie ist es dann zu erklären, daß der zuständige Personalrat beantragte, den Feldversuch zum Schutz
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12228 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985
Schulte
des Personals und der Sicherheit der Luftfahrt umgehend einzustellen?Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Es war von Anfang an für alle deutlich, daß verschiedene Vertreter des Personals diesen Versuch nicht wollten. Ich muß allerdings — und das ist für die Öffentlichkeit wichtig — darauf hinweisen, daß es jederzeit die Möglichkeit gibt, den Feldversuch abzubrechen. Der Leiter hat die Möglichkeit, sowohl von der zivilen wie von der militärischen Seite, von jetzt auf nachher zu sagen: „Es ist Schluß mit diesem Feldversuch", wenn die Sicherheit im Luftverkehr beeinträchtigt ist.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Senfft.
Herr Staatssekretär, Sie sagten, die 101 Vorkommnisse seien keine gefährliche Situation gewesen. Gab es denn unter diesen 101 Vorkommnissen auch gefährliche Situationen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Nein.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lange.
Herr Staatssekretär, wie ist zu erklären, daß das Verkehrsministerium auf keine Remonstration der Bediensteten geantwortet hat, die wegen der zunehmenden Unsicherheit — —
— Ja.
Bitte sprechen Sie nur ins Mikrophon.
Wie ist es nach Ihrer Auffassung zu erklären, daß das Verkehrsministerium auf keine Remonstration der Bediensteten geantwortet hat, die wegen der zunehmenden Unsicherheit und Verfassungswidrigkeit geschrieben wurden, und wann gedenkt der Verkehrsminister, diese Remonstrationen zu beantworten?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Es gab keine Verfassungswidrigkeit und es gab keine Unsicherheit. Deswegen entbehrt Ihre Frage jeglicher Grundlage.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Vogel .
Herr Staatssekretär, Sie haben gestern und auch heute gesagt, daß der Abbruch des Feldversuchs durch die Leitung jederzeit möglich sei. Ich möchte gern wissen, an welcher Stelle die Abbruchmöglichkeit im Sobernheimer Konzept oder der Arbeitsgrundlage für den Feldversuch beschrieben ist und welche Verfahrensweisen hierfür vorgesehen sind.
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Es gibt eine Absprache zwischen dem Bundesministerium der Verteidigung und dem Bundesministerium für Verkehr. Hier ist dies im einzelnen geregelt.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Tillmann. Das ist die letzte Zusatzfrage. Bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß auf sogenannte Remonstrationen von Bediensteten der Bundesanstalt für Flugsicherung auch in einem Hearing des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestages bereits ausführlich geantwortet worden ist?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich kann dies bestätigen. Nur habe ich den Eindruck, daß es bei dem Motiv der Fragesteller möglicherweise um etwas anderes geht als um die Sicherheit in unserem Luftraum.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 48 des Herrn Abgeordneten Werner auf:
Welchen Sinn sieht die Bundesregierung in dem „Sobernheimer Konzept", wenn die beiden Grundforderungen — Sicherheit und Wirtschaftlichkeit — damit nicht erfüllt werden können?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Zu dem Schluß, daß mit dem neuen zivil-militärischen Flugsicherungsbetriebskonzept die Wirtschaftlichkeit der Flüge nicht erhöht und die Sicherheit im Luftraum nicht auf dem derzeitigen hohen Niveau gehalten und eventuell auch noch verbessert werden kann, besteht kein Anlaß. Die unter militärischer Kontrolle stehenden Lufträume sind für den zivilen Luftverkehr durchlässiger geworden, und die Sicherheit des Luftverkehrs — ich habe das bereits mehrfach gesagt — ist gewährleistet.
Der Sinn des am 28. September 1983 zwischen Bundesminister Dr. Dollinger und Bundesminister Dr. Wörner im Grundsatz vereinbarten neuen Konzepts liegt darin, die zivil-militärische Zusammenarbeit überall dort, wo in unserem Luftraum bereits eine militärische Beteiligung in der überörtlichen Flugsicherung gegeben ist, in der Weise zu verbessern, daß den gestiegenen Anforderungen des Luftverkehrs in stärkerem Maße als vorher entsprochen wird.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung der Auffassung, daß ein wirtschaftlicher Flugverkehr noch stattfindet,
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Werner
wenn, wie u. a. am 8. August dieses Jahres geschehen, nur alle zehn Minuten ein Einflug und alle fünf Minuten ein Abflug aus dem Kontrollbereich der Düsseldorfer Flugsicherungsregionalstelle möglich waren, weil diese relativ großen Zeitabstände durch Verkehrsflußmaßnahmen nötig wurden, nämlich Schließung der Sektoren Bottrop, Dortmund und Köln? Dies geschah von 9.15 Uhr bis 11.10 Uhr Ortszeit.Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich schreibe Ihnen einen Brief über das, was am 8. August passiert ist.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage — —
— Dann müssen Sie sich bitte früher melden.
Sie haben vorhin behauptet — oder Ihr Platzvorgänger — Sie bräuchten keine Belehrung über die Rechte und Pflichten der Abgeordneten. Anscheinend da und dort doch ein bißchen Nachhilfe, freundlicherweise. Also, bitte schön, stellen Sie Ihre Frage.
Herr Staatssekretär, Sie haben das Hearing im Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages angesprochen. Hat die Bundesregierung oder sonst jemand den Verkehrsausschuß über die Veränderung des Konzepts, das jetzt in Düsseldorf praktiziert wird, im Sommer dieses Jahres unterrichtet?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ja.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 49 des Herrn Abgeordneten Werner auf:
Für welchen Zeitraum hat die Bundesregierung den Feldversuch in Düsseldorf zum „Sobernheimer Konzept" angesetzt?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Die praktische Erprobung des neuen Konzeptes beschränkt sich derzeit auf eine Feldversuchsphase 1 in der Flugsicherungsregionalstelle Düsseldorf. Diese Phase 1 wird durch eine Phase 2 abgelöst werden, in welcher alle drei im Konzeptentwurf enthaltenen Elemente in der betrieblichen Praxis erprobt werden sollen. Für das dritte Element, die sogenannten „Kategorie III"-Lufträume —, ist eine Vorbereitung der praktischen Erprobung durch eine Rechnersimulation erforderlich. Diese soll im zweiten Durchgang Anfang 1986 am Eurocontrol-Simulator in Brétigny/Paris erfolgen. Für die Auswertung der Simulationsergebnisse und Erörterung mit der Personalvertretung ist mit weiterem Zeitbedarf bis in das Jahr 1987 hinein zu rechnen. Die Feldversuchsphase 2 könnte danach gegebenenfalls im Frühjahr 1987 beginnen, so daß der Feldversuch Düsseldorf Ende 1987/Anfang 1988 abgeschlossen werden könnte.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wie erklärt sich die Bundesregierung die Aussage des Referatsleiters Flugsicherung im Bundesministerium der Verteidigung, Herrn Eckert, am 18. November 1983 vor der Personalversammlung in Düsseldorf, daß der Feldversuch insgesamt ein Jahr laufen werde?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Es haben sich Änderungen ergeben, die sicherlich auch Grundlage für Ihre Fragen waren.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Vogel .
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin gesagt, daß der Feldversuch jederzeit abgebrochen werden könne, und haben dann darauf hingewiesen, daß dafür auch Vereinbarungen vorlägen. Könnten Sie mir diese Vereinbarungen schriftlich zukommen lassen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich muß noch einmal prüfen, ob dies zulässig ist. Wenn es zulässig ist, werde ich das gern tun.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Senfft.
Herr Staatssekretär, für welche konkreten Maßnahmen sind im Entwurf des Haushalts 1986 finanzielle Mittel für das Sobernheimer Konzept bzw. die zivil-militärische Flugsicherung überhaupt enthalten, und — falls es Ihnen nicht möglich ist, es jetzt zu beantworten — würden Sie uns das schriftlich mitteilen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ja.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ströbele.
Herr Staatssekretär, was berechtigt Sie, möglicherweise daran zu zweifeln, daß die Abgeordneten des Deutschen Bundestages über die Änderungen des Konzeptes, das in Düsseldorf praktiziert wird und das so, wie es zunächst praktiziert wurde, dem Verkehrsausschuß vorgestellt worden ist, unterrichtet werden, und ihnen die dazu notwendigen Unterlagen zukommen zu lassen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Das Konzept ist im Grundsatz nicht verändert worden. Es läuft ein Versuch, und weil dies ein Versuch ist, bemüht man sich während des Versuchs, Besserungen zu statuieren und zu realisieren. Im übrigen ist die Bundesregierung jederzeit bereit, dem Verkehrsausschuß oder auch dem Hohen Hause, dem Plenum, zu berichten, was abläuft, was möglich ist und was nicht möglich ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Tillmann.
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Herr Staatssekretär, wäre die Bundesregierung bereit, dann, wenn im Verkehrsausschuß die Auswertung des schon erwähnten Hearings vorliegt, auch über eventuelle Änderungen in Düsseldorf zu berichten?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ja.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 50 des Herrn Abgeordneten Lange auf:
Wie grenzt die Bundesregierung organisatorisch die Sicherheitsbedürfnisse der zivilen und militärischen Teilnehmer an der Luftfahrt gegeneinander ab, und wie gedenkt sie weiter zu verfahren, wenn das „Sobernheimer Konzept" gescheitert ist?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung sieht keinen Unterschied zwischen den Sicherheitsbedürfnissen des zivilen und des militärischen Luftverkehrs. Der gemeinsam zu nutzende enge Luftraum über der Bundesrepublik Deutschland muß für jeden Flug in gleichem Maße sicher sein. Sollte sich das in Teilerprobung befindliche neue zivil-militärische Flugsicherungsbetriebskonzept nach Abschluß der Erprobungen wider Erwarten nicht bewährt haben, müßte ein neuer Ansatz für eine wirksamere Zusammenarbeit zwischen ziviler und militärischer Flugsicherung entwickelt werden. Dann werden der Bundesminister für Verkehr und der Bundesminister der Verteidigung die erforderlichen Arbeiten aufnehmen.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, gibt es im Falle des Scheiterns des Sobernheimer Konzeptes, das Sie wider aller Erwartung dennoch ins Auge fassen, Pläne in Ihrem Kompetenzbereich, in diesem Falle wieder eine interessenneutrale Flugsicherung auf der Grundlage bestehender Gesetze zu installieren?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Es geht darum, daß jetzt die Möglichkeit genutzt wird, nach jahrzehntelangen Diskussionen endlich eine zivil-militärische Zusammenarbeit herbeizuführen. Dies würde auch dann gelten, wenn das jetzige Konzept wider Erwarten scheitern würde.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung grundsätzlich in der Lage zu erklären, warum ein bereits bestehendes hohes Flugsicherheitsniveau durch eigennützige Forderungen des militärischen Bereiches aufgegeben wurde?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Wir haben ein hohes Niveau in der Flugsicherheit. Wir wollen dieses Niveau auch halten. Aber es geht darum, daß die Bundeswehr ihrem Auftrag nachkommen kann, und deswegen versucht man seit vielen, vielen Jahren, eine Zusammenarbeit zwischen militärischer und ziviler Flugsicherung in die Praxis umzusetzen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Würtz.
Herr Staatssekretär, denkt die Bundesregierung daran, diesen Feldversuch, den sie in Düsseldorf durchgeführt hat und der bisher jedenfalls nicht gerade sehr erfolgversprechend gewesen ist, auf einem anderen Platz oder in einer anderen Gegend der Bundesrepublik Deutschland durchzuführen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Wir haben ganz bewußt in Düsseldorf angefangen. Sie wissen wahrscheinlich, daß daran gedacht ist, daß man diesen Versuch auf Bremen überträgt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ströbele.
Herr Staatssekretär, läßt sich die Bundesregierung bei der Verlängerung dieses Versuchs von der Vorstellung leiten, der militärischen Flugsicherung müsse unbedingt der Vorrang gegeben werden, und hat die Bundesregierung damit das in Friedenszeiten bestehende Primat der zivilen Luftfahrt aufgegeben?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Es geht nicht um den Vorrang der Militärs, sondern es geht um eine sinnvolle Zusammenarbeit zwischen der zivilen und der militärischen Seite.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Senfft.
Herr Staatssekretär, welche konkreten militärischen Aufgaben konnten denn vor Einführung des Sobernheimer Konzepts nicht erfüllt werden?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Es ging darum, daß die militärische Flugsicherung nicht in ausreichendem Maße erprobt werden konnte, wie dies der Auftrag der Bundeswehr ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Tillmann.
Herr Staatssekretär, können Sie mir bestätigen, daß sich für denjenigen, der Friedenssicherung durch Verteidigungsfähigkeit in Frage stellt bzw. für überflüssig hält, natürlich die Frage einer Zusammenarbeit zwischen ziviler und militärischer Flugsicherung erst gar nicht stellt?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, dies ist wahrscheinlich die Quintessenz aus der Fragestunde in diesem Bereich.
Eine weitere Zusatzfrage? — Bitte, Herr Abgeordneter Schulte .
Herr Staatssekretär, Sie sagten vorhin, daß dieser Versuch auf Bremen
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Schulte
ausgedehnt werden soll. Können Sie uns den Zeitpunkt des Beginns des Versuchs in Bremen und in München sagen?Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich habe vorhin einen Zeitplan vorgetragen. Dieser Zeitplan gilt für den Fall, daß nichts Unerwartetes in diese Versuche hineinspielt. Ich kann darüber nicht hinausgehen.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 51 des Herrn Abgeordneten Senfft auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, daß der Vizepräsident des Bundesamtes für Flugsicherung aus Sicherheitsgründen die Dienststellenleitung in Düsseldorf per Telex angewiesen hat, entgegen der Arbeitsgrundlage des Feldversuchs zur sektorbezogenen Koordination zurückzugehen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Die vom Vizepräsidenten der Bundesanstalt für Flugsicherung veranlaßte Änderung der Verfahren für die Koordination militärischer Einsatzflüge durch zivilkontrollierte Lufträume bzw. umgekehrt für die Koordination von Flügen des allgemeinen Luftverkehrs durch militärisch kontrollierte Sektoren war auf Grund der im Juni/Juli dieses Jahres unerwartet aufgetretenen Koordinationsprobleme geboten. Die Einleitung dieser Maßnahme durch ihn entsprach seiner dienstlichen Funktion als ständiger Vertreter des Präsidenten der Bundesanstalt für Flugsicherung. Die daraufhin mit den militärischen Partnern gemeinsam ausgearbeiteten und vereinbarten neuen Koordinationsregeln sind seit dem 27. August dieses Jahres in Kraft. Sie stellen eine Variation im Rahmen des neuen Konzeptes dar, verlassen den Rahmen also nicht.
Bitte schön.
Herr Staatssekretär, teilt die Bundesregierung die Auffassung der GRÜNEN, daß durch dieses Telex der Vizepräsident der Bundesanstalt für Flugsicherung das Sobernheimer Konzept quasi für gestorben erklärt hat?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Nein.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, bezweifelt insofern der Bundesminister für Verkehr, daß der Vizepräsident der Bundesanstalt für Flugsicherung die fachliche Kompetenz besitzt, eine solche Entscheidung zu treffen, u. a. durch ein solches Telex?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Der Vizepräsident der Bundesanstalt für Flugsicherung ist der
Vertreter des Präsidenten, wie der Name schon sagt,
und es liegt im Rahmen seiner dienstlichen Aufgaben, dafür zu sorgen, daß die Flugsicherung gewährleistet ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ströbele.
Herr Staatssekretär, wollen Sie angesichts der Tatsache, daß sich sowohl die zivilen als auch die militärischen Stellen mit der Flugsicherung im Bereich München — auch im Hearing — immer wieder voll einverstanden erklärt haben, wirklich weiterhin behaupten, daß der Feldversuch auf die Flugleitzentrale München ausgedehnt werden soll?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Der Feldversuch soll auf München nicht ausgedehnt werden. Das wissen Sie so gut wie ich.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe Frage 52 des Herrn Abgeordneten Senfft auf:
Hat die Bundesregierung organisatorische Vorkehrungen getroffen, um die durch den Feldversuch auf die Fluglotsen hinzugekommenen hohen Belastungen im Interesse der Flugsicherheit in Düsseldorf zu vermeiden?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Die für die Feldversuchsphase 1 geltenden Betriebsregelungen erlauben es sowohl den Aufsichtführenden als auch den Fluglotsen, vor Ort die Verkehrsbelastungen in den einzelnen Kontrollsektoren derart zu beeinflussen, daß Sicherheitsrisiken durch Überlastungen verhindert werden.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wie erklärt die Bundesregierung, daß 1984 das militärische Verkehrsaufkommen, das von ziviler Seite bearbeitet wurde, um ca. 45% angestiegen ist?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Dieser Frage müßte ich extra nachgehen.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß die militärische Flugsicherung in Düsseldorf nicht nach deutschem Luftrecht arbeitet, und wenn ja, wie erklärt die Bundesregierung das?
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12232 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das, was Sie in Ihrer Frage zum Ausdruck bringen, trifft juristisch nicht zu.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Werner.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, den Zusammenstoß zweier Luftfahrzeuge als kalkuliertes Risiko in diesen Feldversuch mit einzubeziehen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Nein.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe Frage 53 des Abgeordneten Schulte auf:
Sind der Bundesregierung Untersuchungen von Meteorologen bekannt, die eine nennenswerte Erhöhung des Bewölkungsgrades über Teilen Europas durch den Luftverkehr festgestellt haben, und welche nachteiligen klimatischen Folgen ergeben sich daraus?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Die Antwort lautet: Nein.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Inwieweit ist der Bundesregierung bekannt, daß das BMI am 18. Dezember 1975 die Sternwarte Bochum mit entsprechenden Forschungen beauftragte und daß diese Forschungen entsprechende Ergebnisse erbrachten?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich bitte sehr um Nachsicht, wenn ich jetzt nicht sagen kann, was vor zehn Jahren das Bundesministerium des Innern an die Sternwarte Bochum geschrieben hat.
Da dieses Gutachten der Sternwarte Bochum zu dem Ergebnis kommt, daß die Bewölkung in der Bundesrepublik um 3 % und in den Benelux-Ländern sogar um 8 % zunimmt, frage ich Sie: Wie schätzen Sie die Vermehrung der Bewölkung in bezug auf eine Temperaturänderung, die dadurch zu erwarten ist, ein?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich bin gern bereit, innerhalb der Bundesregierung nach demjenigen zu suchen, der diese Frage beantworten kann. Meine Unterlagen weisen allerdings aus, daß die Prozentsätze, die offensichtlich zu Ihren Befürchtungen geführt haben, nicht stimmen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mann.
Herr Staatssekretär, sind Sie denn bereit, Ihrerseits — vielleicht zusammen mit dem Herrn Bundesinnenminister — Untersuchungen zu initiieren, zumal ich vor wenigen Tagen darüber informiert worden bin, daß Fachleute davon
ausgehen, daß auch das Waldsterben in den Alpen in einem Zusammenhang mit diesen klimatischen Veränderungen auf Grund des starken Luftverkehrs stehen könnte?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Bis jetzt gibt es für die Bundesregierung keinen Anlaß, Untersuchungen auf Grund der Befürchtungen, die Sie zum Ausdruck bringen, so voranzutreiben, daß wir z. B. haushaltsmäßig etwas festlegen oder einen Versuch starten müßten.
Wenn Sie von Fachleuten sprechen, mache ich allerdings einen ganz einfachen Vorschlag: Diese Fachleute können ja der Bundesregierung vielleicht einmal ihr Material schicken.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ströbele.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, Ihre vorhin auf die Frage des Kollegen gegebene ganz einfache Antwort „Nein" zu revidieren, wenn Sie hören, daß es eine Untersuchung der Sternwarte in Bochum gibt, die sehr wohl ganz andere Erkenntnisse — die Ihrem Haus bekannt sein müßten und auch bekannt sind — gezeitigt hat?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich gehe dieser Frage gerne nach.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Tillmann.
Herr Staatssekretär, vermutet die Bundesregierung, daß das schlechte Wetter dieses Sommers auf die Zunahme des Luftverkehrs zurückzuführen sein könnte?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung sieht sich nicht in der Lage, so zu antworten, wie Sie gefragt haben. Ich habe allerdings in meiner ersten kurzen Antwort mit dem schlichten Nein bereits zum Ausdruck gebracht, daß wir der Ansicht sind, daß die von den GRÜNEN gesehenen Gefahren nicht bestehen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Werner.
Herr Staatssekretär, entsteht nach Auffassung der Bundesregierung durch die Luftbelastung auch eine Belastung der Pflanzen und Tiere und auch des Menschen in bezug auf Gesundheit und Wachstum?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich habe vorhin zum Ausdruck gebracht, daß wir davon ausgehen, daß die von Ihnen genannten Gefahren nicht bestehen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985 12233
Vizepräsident StücklenIch rufe Frage 54 des Herrn Abgeordneten Schulte auf:Ist die Bundesregierung bereit, daraus praktische Folgerungen für die Durchführung des Luftverkehrs zu ziehen und die negativen Folgen intensiver als bisher zu untersuchen?Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Die Antwort lautet: Nein.
Zusatzfrage, bitte.
Das hatte ich schon befürchtet. — Unterstellt, Sie kramen das soeben erwähnte Gutachten im BMI heraus und stellen fest, daß die von uns geschilderten Auswirkungen Tatsache sind: Könnten Sie sich dann vorstellen, daß die Flughöhen in Zukunft in Anlehnung an die Höhe der Tropopause festgelegt werden, denn das hätte den Zweck, daß die Kondensstreifen — —
Herr Abgeordneter, die Frage genügt.
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich weiß nicht, ob eine Beförderung zum Staatsminister nach dem Gesetz über die Rechtsstellung der Parlamentarischen Staatssekretäre tatsächlich etwas Wesentliches darstellt.
.
Ich gehe zunächst davon aus, daß kein Anlaß für Ihre Befürchtungen besteht. Ich habe dies bereits mehrfach in meinen Antworten gesagt. Wenn Ihre Befürchtungen zutreffen würden, was ich nicht glaube, dann müßte man immerhin sehen, daß Ihre Folgerungen zu Sperrungen großer Teile unseres Luftraumes führen würden. Und wir haben einen Luftraum, der so dicht beflogen wird, daß wir hier in sehr große Abwägungsschwierigkeiten kämen.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Ströbele.
Herr Staatssekretär, warum hält die Bundesregierung so an dem Feldversuch in Düsseldorf und dem Sobernheimer Konzept fest? Ist das darauf zurückzuführen, daß ihr NATO-Interessen und NATO-Wünsche im Nacken sitzen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir waren gerade bei den Wolken, die DIE GRÜNEN in die Fragestunde eingebracht haben.
Sie haben noch eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ohne daß ich Sie jetzt degradieren möchte — das
war ein Lapsus —: Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, ob die Emissionen hoch fliegender Flugzeuge Auswirkungen auf den Ozongürtel in der hohen Stratosphäre haben?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Es gibt ganz gewiß Auswirkungen. Jeder von uns kann sie j a sehen. Die Bundesregierung ist allerdings nicht der Ansicht, die gleichen Folgerungen wie Sie ziehen zu müssen.
Meine Herren Fragesteller, wir können uns in der ganzen Fragestunde nicht nur bei einem Fragenkomplex aufhalten. Auch die anderen Abgeordneten haben einen Anspruch darauf, zum Zuge zu kommen.
Herr Abgeordneter Mann, Sie haben eine Zusatzfrage.
Vielen Dank. — Stimmen Sie mir in der Bewertung zu, daß die Schwierigkeiten — die Sie im Rahmen der Frage 54 angesprochen haben — in der Abwägung, die Sie erwähnten, auch damit zusammenhängen, daß wir eine verfehlte Verkehrspolitik betrieben haben, die zu diesem „Gedränge" in der Luft, um es volkstümlich auszudrücken, geführt hat?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung unter der Führung von Helmut Kohl ist gerade drei Jahre im Amt. Ich bin dennoch bereit, auch über die Verkehrspolitik früherer Jahre zu sprechen. Ich bin der Ansicht, daß diese Verkehrspolitik im Grundsatz richtig war. Es gibt neuere Entwicklungen, die zu Korrekturen führen müssen. Sie werden dies z. B. in unserem Bundesverkehrswegeplan feststellen.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Senfft.
Herr Staatssekretär, ist denn die Bundesregierung bereit, hinsichtlich der Auswirkung auch auf eine europaweite Untersuchung hinzuwirken?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich müßte erst noch einmal klären, ob dies überhaupt ein lohnendes Projekt wäre. Meine bisherigen Unterlagen lassen dies als unwahrscheinlich erscheinen.
Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Rönsch.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß man nach der eben geäußerten Angst der GRÜNEN vor dem Fliegen jetzt davon ausgehen darf, daß sie die Fluglinien nicht mehr so intensiv benutzen wie bisher?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Auf diese Konsequenz warten noch mehrere, wahrscheinlich auch die Fahrbereitschaft des Deutschen Bundestages.
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12234 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985
Keine weiteren Zusatzfragen.
Die Frage 55 der Frau Abgeordneten Lepsius wird auf Wunsch der Fragestellerin schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 56 des Herrn Abgeordneten Zeitler auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Deutsche Bundesbahn auf Gleisanlagen, besonders bei Dammlage, Herbizide zur Unkrautbekämpfung einsetzt und daß dies zu Baumsterben bzw. zu Beeinträchtigungen der Pflanzen und Sträucher in angrenzenden Privatgärten führt?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das Freihalten der Gleisanlagen der Deutschen Bundesbahn von Aufwuchs ist Voraussetzung für den sicheren Fahrbetrieb. Dabei kann auf die Aufwuchsbekämpfung mit Herbiziden, eng begrenzt auf den eigentlichen Gleisbereich, aus technischen und wirtschaftlichen Gründen nicht verzichtet werden. Von der Deutschen Bundesbahn werden nur solche Herbizide eingesetzt, die von der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft geprüft und nach Maßgabe des Zulassungsbescheids zur Anwendung freigegeben worden sind.
Das von der Deutschen Bundesbahn entwickelte Anwendungsverfahren stellt eine exakte Dosierung mit randscharfer Ausbringung der Herbizide sicher. Somit ist gewährleistet, daß die Vegetation der Bahndamm- und Einschnittsflächen als natürliche Grünfläche und Biotop erhalten bleibt und auch angrenzende Pflanzen und Sträucher nicht beeinträchtigt werden.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, es ist Ihnen sicherlich bekannt, daß moderne Gleiskörperbahndämme so gebaut werden, daß das Oberflächenwasser weitgehend an den Böschungen abläuft und nicht versickern kann und dadurch eben — das ist in Ballungsgebieten häufiger — in angrenzende Gärten von Menschen, die beispielsweise direkt an neugebauten S-Bahnen wohnen, eindringt und Schäden anrichtet. Das müßte Ihnen im Zuge Ihrer Nachforschungen auf diese Frage eigentlich bekanntgeworden sein.
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, dies ist mir nicht bekannt. Ich bin aber gerne bereit, der Frage weiter nachzugehen, und möchte Sie bitten, daß Sie mir den konkreten Anlaß dafür mitteilen.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, ich will Ihnen das Stichwort geben: Dortmund-Kley. Es beschäftigt die Öffentlichkeit seit langer Zeit, und es ist in den Zeitungen behandelt worden. Es ist auch mit der dortigen zuständigen Bundesbahndirektion besprochen worden. Ich würde Sie bitten, nachzufassen und sich auch davon überzeugen zu lassen, daß beispielsweise Erosionsrinnen ausweisen, daß an den Bahndämmen dieses Giftzeug abläuft und in
angrenzenden Nutzgärten schweren Schaden anrichtet.
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich werde diesem konkreten Fall nachgehen — ich muß sogar sagen: noch einmal nachgehen — und Ihnen eine saubere schriftliche Antwort zukommen lassen.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Immer.
Herr Staatssekretär, ich hatte Sie vor einem oder zwei Jahren wegen desselben Vorfalls angeschrieben, daß an der Rheinschiene und im Raum Montabaur auf der Nebenstrecke ebenfalls Herbizide gespritzt worden sind. Ich frage Sie, ob Sie Ihre Meinung, die Sie gerade geäußert haben, noch aufrechterhalten, daß keine Schäden in den Gärten an den Bahndämmen erfolgt sind? Und wie stellen Sie sich eine Entschädigung für solche Vorfälle vor?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Immer, die Deutsche Bundesbahn hat uns mitgeteilt, daß das ganze Verfahren der Aufwuchsbekämpfung verfeinert und verbessert wurde. Deswegen auch meine vorherige Antwort an den Kollegen Zeitler.
Sollte sich die Frage der Entschädigung stellen, ist dies ein ganz konkretes Problem, das man vortragen und wo man sagen muß, wieviel Geld die Unkrautbekämpfung seitens der Bundesbahn gekostet hat.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Werner.
Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung ein Zurückfahren oder eine Minimierung des Herbizideinsatzes auch bei der Bundesbahn für sinnvoll, und sind bei der Bundesbahn Überlegungen vorhanden, wie man den Herbizideinsatz beschränken und durch andere Mittel ersetzen könnte?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß die Deutsche Bundesbahn nur das tut, was hinsichtlich der Sicherheit des Verkehrs unbedingt notwendig ist. Die Deutsche Bundesbahn hat, wie ich vorhin bereits zum Ausdruck gebracht habe, ihre Verfahren wesentlich verfeinert. Im übrigen werden nur Herbizide zugelassen, die von der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft geprüft und nach Maßgabe des Zulassungsbescheids zur Anwendung freigegeben worden sind.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schulte .
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985 12235
Herr Staatssekretär, wir feiern in diesem Jahr das 150jährige Bestehen der Deutschen Bundesbahn.
Ich gehe davon aus, daß Herbizide nicht während dieses ganzen Zeitraums eingesetzt worden sind, sondern daß dies erst seit einiger Zeit geschieht. Nun haben Sie soeben gesagt, daß nicht nur wirtschaftliche Gründe — —
Herr Abgeordneter, bitte, stellen Sie eine Frage. Sie können hier keine Erläuterungen bringen.
Ich möchte Sie ganz konkret fragen: Welche technischen Gründe sprechen dafür, daß Herbizide eingesetzt werden müssen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich werde Ihnen dies gern im einzelnen erläutern. Mir ist klar, daß man jede Brennessel auch per Hand ausrupfen könnte.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Senfft.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß der Einsatz der Spritzmittelzüge auf den Gleisen der Deutschen Bundesbahn nicht etwa von der Deutschen Bundesbahn, sondern direkt von einer namhaften deutschen Chemie-Firma durchgeführt wird?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Also, Herr Kollege, wenn es um die Sicherheit des Verkehrs geht, gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder man macht es selber, oder man beauftragt jemand anderen damit. Im Grunde genommen ändert das für die Brennesseln nichts.
Keine weiteren Zusatzfragen.
— Herr Abgeordneter Werner, wir müssen auch die anderen noch drankommen lassen. Ist es eine ganz wichtige Frage?
— Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, können Sie die Berechtigung unserer Befürchtung bestätigen oder widerlegen, daß im Rahmen der durchgängigen Gleisbespritzungen auch in solchen Gebieten gespritzt wird, die in Planungsverfahren als Wasserschutzgebiete ausgewiesen sind?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich muß diesem Problem extra nachgehen. Ich weiß nicht, ob die Biologische Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft auf dieses Problem eingegangen ist. Gehen Sie aber bitte davon aus, daß wir das Problem, das der Kollege Zeitler in die Fragestunde eingebracht hat, sehr ernst nehmen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 57 des Herrn Abgeordneten Zeitler auf:
Ist die Bundesregierung bereit, die Deutsche Bundesbahn zu veranlassen, auf den Einsatz von Herbiziden, wie z. B. Anox-M, ganz zu verzichten?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Zeitler, auf einen begrenzten Einsatz von Herbiziden kann im Bereich der Deutschen Bundesbahn, wie vorhin schon dargelegt, nicht verzichtet werden. Dies gilt auch für das Herbizid Anox-M, das nach dem Pflanzenschutzmittelverzeichnis 1985 der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft zur Anwendung auf Gleisanlagen zugelassen ist.
Zusatzfrage? — Bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben hier soeben die Biologische Bundesanstalt in Braunschweig angesprochen: Ist Ihnen bekanntgeworden, daß dieselbe Bundesanstalt für die Anwendung des Totalherbizids Anox-M die Empfehlung gibt, es sollte nicht auf Flächen mit stärkerer Neigung und nur auf Nichtkulturland eingesetzt werden? Da der Einsatz von Herbiziden, wie Sie vorhin gesagt haben, an stark abschüssigen Böschungen nicht randscharf abgegrenzt werden kann, Böschungen nach meiner Meinung aber Kulturland sind und in dem Fall, den ich meine, unmittelbar an die von mir angesprochenen Gärten heranreichen, müßte die Empfehlung doch auch hier gelten.
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Die Deutsche Bundesbahn, Herr Kollege, teilt uns mit, daß solche Gefahren nicht bestehen. Ich nehme diese Fragestunde aber zum Anlaß, dem Problem noch einmal nachzugehen.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Darf ich Sie dann bitten, sich auch noch einmal bei der Biologischen Bundesanstalt in Braunschweig zu vergewissern, daß die Empfehlung, die ich soeben zitiert habe, tatsächlich existiert, und werden Sie dann, wenn Sie . sich das so bestätigen lassen, bereit sein, darauf hinzuwirken, daß Anox-M zumindest in solchen Bereichen nicht mehr eingesetzt wird?
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Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich werde der Angelegenheit nachgehen — sowohl bei der Deutschen Bundesbahn als auch bei der Biologischen Bundesanstalt — und Ihnen dann einen Brief schreiben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mann.
Herr Staatssekretär, steht dem Verzicht auf Giftstoffe vielleicht doch die Beauftragung der Firma Schering — Sie haben vorhin die entsprechende Frage meines Kollegen Senfft nicht beantwortet — entgegen?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich sehe diese Zusammenhänge nicht. Wir sollten auch nicht solche finsteren Vermutungen aussprechen.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schulte .
Herr Staatssekretär, inwieweit ist Ihnen bekannt, daß in Anox-M das in vielen europäischen Ländern verbotene Gift 2,4,5-T enthalten ist?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, seit meinem Abitur habe ich sehr wenig mit Chemie zu tun gehabt. Ich bitte, diese Frage schriftlich beantworten zu dürfen.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Senfft.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung angesichts der heute hier gehörten Tatsache, daß sich die Beschwerden häufen und ja auch nicht neu sind, bereit, in einem Forschungsauftrag klären zu lassen, ob ganz ohne oder mit weniger Chemieeinsatz oder mit weniger schädlichen Mitteln die Gleisanlagen der Bundesbahn auf dem Sicherheitsstandard gehalten werden können?
Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär: Wir werden dieser Frage ganz seriös und mit Nachdruck nachgehen. Sollte sich Handlungsbedarf in Richtung eines Forschungsauftrags ergeben, werden wir sicherlich zu einem solchen Schluß kommen.
Ich sehe diese Notwendigkeit aber deswegen noch nicht, weil die Bundesbahn in den letzten Jahren ihre Verfahren ganz wesentlich verfeinert — sprich: verbessert — hat.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Frau Parlamentarischer Staatssekretär Karwatzki zur Verfügung.
Die Fragen 40 und 41 des Herrn Abgeordneten Schartz werden auf Wunsch des Fragestellers
schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 42 des Herrn Abgeordneten Reimann auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um den Kommunen angesichts extrem steigender Kosten für pflegebedürftige Menschen zu helfen, und wie erklärt sie den Anstieg von ca. 7,4 Millionen DM auf rund 16 Millionen DM im Falle der Stadt Ludwigshafen?
Bitte sehr.
Herr Kollege Reimann, der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse darüber vor, worauf der überdurchschnittliche Anstieg der Kosten für pflegebedürftige Menschen in der Stadt Ludwigshafen in den Jahren 1980 bis 1984 zurückzuführen ist.
Die Bundesstatistik der Sozialhilfe weist für diesen Fünfjahreszeitraum einen Anstieg der Bruttoausgaben für die Hilfe zur Pflege um insgesamt 32,6% aus, wobei darauf hinzuweisen ist, daß die jährlichen Steigerungsraten seit dem Jahre 1981 von 11,6 v. H. auf zuletzt 3,9 v. H. ständig zurückgegangen sind.
Wegen der Gesamtproblematik weist die Bundesregierung auf ihren Bericht zu Fragen der Pflegebedürftigkeit in der Drucksache 10/1943 hin.
Zusatzfrage, bitte.
Frau Staatssekretärin, ist die Bundesregierung denn bereit, sich an den steigenden Ausgaben der Kommunen für pflegebedürftige Menschen — ob innerhalb oder außerhalb von Heimen zu beteiligen? Die Kommunen können j a die finanziellen Mittel nicht mehr aufbringen.
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege. Es ist geregelt, daß diese Kosten von den Kommunen aufzubringen sind.
Eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, sieht denn die Bundesregierung einen Zusammenhang zwischen ihrer familienpolitischen bzw. gesellschaftspolitischen Verantwortung und dem Problem der Pflegebedürftigkeit von Menschen? Ich nenne das Beispiel, daß sie über Nacht, wenn sie wegen Pflegebedürftigkeit in Heime eingewiesen werden, Sozialhilfeempfänger werden. Ich erwähne in diesem Zusammenhang auch den ehrenamtlichen Hilfsdienst und dergleichen.Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie sind sicherlich mit mir der Meinung, daß infolge der großartigen Ergebnisse auf dem Gesundheitssektor der Mensch länger leben kann. Es ist heute eine Tatsache, daß ein alter Mensch durchschnittlich erst mit 82 Jahren ins Altersheim kommt.Von daher ergibt sich zwangsläufig die Frage der Kosten. Daß wir — Sie und die Bundesregierung — gemeinsam darüber nachdenken müssen, wie hier
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Parl. Staatssekretär Frau Karwatzkilangfristig eine Hilfe geleistet werden kann, ist selbstverständlich.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Urbaniak.
Frau Staatssekretär, wird die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode den Entwurf für eine Pflegeversicherung vorlegen, so daß möglicherweise eine gesetzliche Regelung zustande kommt?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege, wir werden keinen vorlegen.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Steinhauer, bitte sehr.
Frau Staatssekretärin, da Sie soeben erklärte haben, daß Ihnen in diesem speziellen Fall keine Erkenntnisse vorliegen, frage ich: hat sich die Bundesregierung denn einmal generell mit dem j a auch von Ihnen nicht abgestrittenen Problem der höheren Kosten der Pflege und der Auswirkungen auf die Sozialhilfe und auf die Finanzkraft der Gemeinden beschäftigt?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Steinhauer, ich habe die Frage eben bereits gegenüber dem Kollegen Reimann beantwortet.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 43 des Herrn Abgeordneten Reimann auf:
Welchen Anteil haben die Ausgaben der Arbeitslosigkeit auf die Sozialhilfeausgaben der Kommunen, und wie steht die Bundesregierung dazu?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: In meiner Antwort auf eine entsprechende Frage des Kollegen Kirschner in der Fragestunde vom 11. September 1985 habe ich bereits Angaben zur Zunahme der Zahl der Haushalte gemacht, die als Folge von Arbeitslosigkeit auf laufende Sozialhilfeleistungen zum Lebensunterhalt angewiesen sind.
Die Höhe dieser Leistungen, auf die Ihre Frage zielt, ist der Bundesstatistik der Sozialhilfe jedoch nicht zu entnehmen. Die von der Bundesregierung beabsichtigten Verbesserungen bei Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz, insbesondere beim Arbeitslosengeld, werden neben der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zu einer Minderung der Sozialhilfeausgaben für Arbeitslose beitragen.
Zusatzfrage, bitte.
Frau Staatssekretärin, wie erklärt sich die Bundesregierung denn den steigenden Anteil der Sozialhilfeausgaben bei den Kommunen? Ist das die Folge der anhaltenden, ständig steigenden Arbeitslosigkeit?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe zu Ihrer vorhergehenden Frage bereits eine Antwort darauf gegeben.
— Ja, doch!
Meine Damen und Herren! Die Frau Staatssekretärin hat eine Antwort gegeben; ob sie für Sie befriedigend ist, ist etwas anderes. Es hat immer schon die Schwierigkeiten gegeben, daß die Abgeordneten der Meinung waren, die Antworten seien nicht befriedigend. Aber es steht der Bundesregierung zu, die Antwort so zu gestalten, wie sie das für richtig hält.
Sie haben aber noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Reimann.
Frau Staatssekretärin, dann frage ich Sie: Hält es die Bundesregierung nicht für sinnvoller, etwas gegen die Arbeitslosigkeit zu tun, d. h. die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, anstatt den Kommunen ständig neue Belastungen durch die Kosten erhöhter Arbeitslosigkeit aufzubürden?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Also, Herr Kollege, in der Frage der Arbeitslosigkeit gibt sich die Bundesregierung sehr viel Mühe.
— Entschuldigung! Sie können doch nicht lachen, bevor Sie meine Antwort wissen. Das geht ja nun wirklich nicht so! — Auf dem Sektor der Arbeitslosigkeit gibt sich die Bundesregierung viel Mühe, etwas zu verändern. Ich würde Sie aber bitten, Herr Kollege Reimann, daß Sie diese Frage an meine Kollegen Blüm, Vogt oder andere richten, die j a heute morgen hier auch sehr deutlich Stellung dazu bezogen haben.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Urbaniak.
Frau Staatssekretärin, können Sie mir sagen, wie hoch die Sozialhilfeausgaben durch die enorme Dauerarbeitslosigkeit gestiegen sind, die ständig zunimmt und sich sehr kostenintensiv insbesondere in den Sozialetats der Kommunen niederschlägt?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, ich hatte soeben ausgeführt, daß das aus der Bundesstatistik der Sozialhilfe nicht zu entnehmen ist.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Mann.
Frau Staatssekretärin, spricht nicht gerade die finanzielle Entwicklung des Haushalts der Stadt Duisburg, aus der Sie kommen, dafür, daß der Bund seine Verantwortung für Arbeits-
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Mannlosigkeit und auch für die Auswirkungen im Bereich der Sozialhilfe stärker wahrnehmen sollte, als das in der Vergangenheit geschehen ist, um die Gemeindehaushalte zu entlasten?Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Mann, ich bedanke mich für diese Frage und möchte darauf wie folgt antworten: Wenn eine bessere Regionalpolitik im Ruhrgebiet stattfände, also eine bessere Ansiedlung kleiner und mittelständischer Unternehmungen,
und sich damit die Arbeitsplatzgarantien verwirklichen lassen könnten, dann wäre auch in den Städten wie Duisburg oder Dortmund der Sozialhilfeanteil wesentlich geringer.
— Das mögen Sie — — Entschuldigung, Herr Präsident!
Herr Abgeordneter Immer, diesen Ausdruck weise ich als unparlamentarisch zurück. Ich sage es so, daß ich es nicht wiederhole.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Steinhauer.
Frau Staatssekretärin, wenn Sie uns schon die Gründe für die Steigerung der Sozialhilfekosten nicht nennen können oder wollen, frage ich: Ist die Bundesregierung bereit, einmal nachzuforschen, wo die Gründe für diese enormen Steigerungen liegen?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Steinhauer, ich hatte eben darauf aufmerksam gemacht, daß in dem Fünfjahresrhythmus, nach dem vorhin gefragt worden ist, die Steigerungsraten von 11 v. H. im Jahre 1981 auf zuletzt 3 v. H. zurückgegangen sind.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Zeitler.
Frau Staatssekretärin, eingehend auf die Bemerkung, die Sie vorhin gemacht haben, frage ich: Glauben Sie nicht, daß wenn es einem Mitglied der Bundesregierung freigestellt ist, nach Belieben auf Fragen zu antworten, Abgeordnete auch selbst bestimmen können, wann sie lachen wollen?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Sicher, selbstverständlich! Aber ich widerspreche der Tatsache, daß der Kollege Immer sich dahin ausgedrückt hat, als hätte ich Blödsinn gesprochen. Das habe ich nicht so gern.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schemken.
Frau Staatssekretärin, sehen Sie einen Zusammenhang in der Problematik der Ruhrgebietsstädte, bei der geringen Finanzausstattung, daß das Land Nordrhein-Westfalen die Aufgabe nach dem Sozialhilfegesetz nur schwerlich wahrnehmen kann?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Ich teile Ihre Meinung.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Immer.
Frau Staatssekretärin, nachdem Sie vorhin gesagt haben, daß für die Stadt Duisburg eine andere Regionalpolitik notwendig sei, möchte ich Sie fragen: Wie wollen Sie das mit der freien und sozialen Marktwirtschaft vereinbaren, wenn der Staat Reglements aufstellen würde und Betriebe planerisch ansiedeln wollte zu einer Zeit, in der es sowieso kaum neue Niederlassungen gibt?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, man braucht nur eine vernünftige Wirtschaftspolitik in der jeweiligen Gemeinde zu machen und entsprechende Anreize zu bieten, dann gelingt dies alles.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Becker .
Frau Staatssekretärin, können Sie bestätigen, daß nach den vorliegenden Statistiken über die Förderung der Kommunen in den Bundesländern das Land Nordrhein-Westfalen mit an der Spitze liegt?
Frau Karwatzki, Parl. Staatssekretär: Das kann ich nicht so aus dem Stegreif bejahen, ich bin aber bereit, es nachzulesen, und wenn es so ist, Herr Kollege, erhalten Sie es auch schriftlich.
Keine weiteren Zusatzfragen. Damit ist der Geschäftsbereich abgeschlossen.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen auf. Zur Beantwortung der Fragen stünde uns der Herr Staatssekretär Dr. Florian zur Verfügung. Da aber sämtliche Fragesteller — das betrifft die Frage 58 des Abgeordneten Dr. Schwenck , die Fragen 59 und 60 des Abgeordneten Paterna, die Fragen 61 und 62 des Abgeordneten Sielaff und die Fragen 63 und 64 der Abgeordneten Frau Dann — um schriftliche Beantwortung gebeten haben, ist dieser Geschäftsbereich abgeschlossen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf. Hier ist es das gleiche. Alle Fragesteller —Frage 65 Abgeordneter von Schmude, Fragen 66 und 67 Abgeordneter Dr. Sperling — bitten um schriftliche Beantwortung. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
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Vizepräsident StücklenIch rufe den Geschäftsbereich für Bildung und Wissenschaft auf. Auch das gleiche! Die Frage 68 des Abgeordneten Kuhlwein, die Frage 69 der Abgeordneten Frau Odendahl, die Frage 70 des Abgeordneten Kastning und die Frage 71 der Abgeordneten Frau Dr. Segall werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.Jetzt sind wir wieder mitten in der Fragestunde: Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Waffenschmidt zur Verfügung.Ich rufe die Frage Nummer 72 des Abgeordneten Duve auf:Teilt die Bundesregierung die Ansicht des Parlamentarischen Staatssekretärs Spranger , der unter Berufung auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Volkszählung dafür eintritt, daß der Persönlichkeitsschutz für Politiker und Verwaltung gegenüber dem Recht auf Informations- und Meinungsfreiheit verstärkt wird?
Herr Kollege Duve, Ihre Frage will ich wie folgt beantworten.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Spranger hat in der von Ihnen zitierten Abhandlung einen persönlichen Denkanstoß zu einem in der Öffentlichkeit lebhaft diskutierten Thema gegeben. Die Bundesregierung hat sich mit dieser Frage noch nicht befaßt. Ich verweise in diesem Zusammenhang aber auf die 57. Tagung des Studienkreises für Presserecht und Pressefreiheit in Heilbronn am 31. Mai und 1. Juni 1985, um darzutun, daß dieser Fragenkomplex intensiv diskutiert wird, und auch auf den Beitrag „Pressefreiheit und presserechtliche Selbstkontrolle" von Professor Rupert Scholz in der Festschrift für Theodor Maunz zum 80. Geburtstag am 1. September 1981.
Eine Zusatzfrage, bitte!
Herr Staatssekretär, wie vereinbaren Sie Ihre jetzt gegebene Antwort mit der Aussage von Ihrem Kollegen Herrn Spranger in dem zitierten Artikel, daß gegebenenfalls gesetzliche Schritte unternommen werden müßten? Weist das nicht ganz eindeutig auf die Absicht der Bundesregierung beziehungsweise des Bundesinnenministers hin, hier einengend wirksam zu werden?
Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Ich darf dazu zweierlei sagen.
Erstens: Wenn man den erwähnten Artikel im Zusammenhang liest, hat der Kollege Spranger eine Reihe von Möglichkeiten dort zur Diskussion gestellt. Er hat keine konkreten Initiativen angesprochen.
Zweitens: Konkrete Initiativen der Bundesregierung sind nicht ausgearbeitet oder im Vorhaben. Ich verweise auf das, was ich zur Beantwortung Ihrer Frage gesagt habe.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, der ganze Artikel Ihres Kollegen Herrn Spranger zielt ja darauf ab, den Persönlichkeitsschutz des Politikers und der Verwaltung gegenüber der Medienfreiheit in einen besonderen Schutzraum zu stellen. Wie beurteilen Sie persönlich als Mitarbeiter des Innenministers diese Stoßrichtung?
Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Ich darf erneut darauf verweisen, daß in der aktuellen öffentlichen Rechts- und Verfassungsdiskussion dieser Fragenkomplex intensiv besprochen wird und es eine ganze Reihe von Denkanstößen gibt. Ich finde, gerade auch im Blick auf Pressefreiheit auf der einen Seite, aber auch Persönlichkeitsschutz und Datenschutz auf der anderen Seite ist es wichtig, solche Gedankengänge zu erwägen, Denkanstöße zu prüfen. Wir sind in diesem Fragenkomplex sicherlich noch am Anfang einer Diskussion. Ich möchte darauf hinweisen: Sowohl der Kollege Spranger wie auch ich denken nicht daran, an irgendeiner Stelle die Pressefreiheit oder die Möglichkeiten der Medien zu lähmen oder einzuschränken.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Mann.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir in der Auffassung zu, daß es sich zumal nach Ihren Grundsätzen, möglichst keine gesetzlichen Regelungen, die überflüssig sind, anzustreben, bei diesen Problemen, die es sicherlich gibt, weniger um Fragen handelt, die an den Gesetzgeber zu richten sind, sondern um Fragen an uns selbst und an die Presse und daß es hier um Fragen unserer politischen Kultur geht, die es in einer wirklich öffentlichen, demokratischen Diskussion zu regeln gilt und nicht durch Gesetz?
Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Ich bin der Auffassung, wenn es um Fragen der politischen Kultur in unserem Lande geht, ist jeder Verantwortliche zunächst einmal persönlich herausgefordert.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 73 des Herrn Abgeordneten Duve auf:
Handelt der Parlamentarische Staatssekretär im Einvernehmen mit der Bundesregierung, wenn er in seinem Artikel neue Gremien der freiwilligen Selbstkontrolle unter Ausschluß der Journalistenverbände und gegebenenfalls gesetzliche Initiativen zur Verstärkung des Persönlichkeitsschutzes von Politikern und Behörden fordert?
Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Ich darf, Herr Kollege Duve, Ihre Frage, die j a auf die Beschäftigung der Bundesregierung mit diesem Fragenkomplex abzielt, so beantworten, daß ich auf die Antwort zu Ihrer ersten Frage verweise. Die Bundesregierung hat sich mit diesem Fragenkomplex nicht befaßt.
Eine Zusatzfrage.
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Herr Staatssekretär, der Artikel von Herrn Spranger fordert ja direkt und ganz offen, daß es zu einer freiwilligen Selbstkontrolle der Medien dergestalt kommen soll, daß die Verbände — sprich: Journalistenverbände — an dieser freiwilligen Selbstkontrolle nicht teilhaben. Wie beurteilt die Bundesregierung in ihrer Stellung zu Mitwirkungsrechten von Personalräten diese sehr eindeutige Aussage des Parlamentarischen Staatssekretärs?
Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Duve, ich muß zunächst auf die Prämisse Ihrer Frage eingehen. Es sind hier keine aktuellen Forderungen vom Kollegen Spranger gestellt, sondern es sind in diesem Artikel Erwägungen aufgenommen worden, die andere Rechtsgelehrte — ich erwähnte einige dieser Abhandlungen — schon angestellt haben.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, könnten Sie mir sagen, aus welcher Ressortkompetenz diese auch von Ihnen als wichtig bezeichneten Überlegungen der Exekutive gegenüber den Medien durch Staatssekretär Spranger erfolgen? Denn wir haben in der Vergangenheit mehrere Vorstöße Ihres Kollegen in Richtung auf die Medienfreiheit erleben dürfen. Welche Rolle nimmt hier der Staat unter der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers gegenüber den freien Medien ein, wenn er sich dauernd zum rechtlichen und verfassungsrechtlichen Vordenker macht?
Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Der Kollege Spranger hat wie jedes Mitglied des Hauses das Recht und die Freiheit, über wichtige Fragen der politischen Kultur in unserem Lande nachzudenken und dazu Denkanstöße zu geben.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Mann.
Daran anschließend: Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht, daß der Kollege Spranger — angesichts der Belastung des Innenausschusses glaube ich das feststellen zu können — mit anderen Aufgaben ausgefüllt ist?
Herr Abgeordneter Mann, diese Frage steht nicht in unmittelbarem Zusammenhang. Sie wird nicht zugelassen.
Es liegen keine weiteren Zusatzfragen vor.
Ich rufe die Frage 74 des Abgeordneten Pauli auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß in der Kreisverwaltung Ahrweiler Portraits ehemaliger NS-Amtsträger, die zugleich auch hohe NSDAP-Funktionäre waren, aufgehängt wurden, im Hinblick auf die Versöhnung sowohl innerhalb als auch außerhalb Deutschlands, und sieht die Bundesregierung in solchen Beispielen nicht eine Brüskierung der Opfer und Verfolgten des Nazi-Regimes?
— Denken Sie weiterhin kräftig nach, Herr Duve, und kommen Sie gelegentlich auf mich zu!
Bitte sehr.
Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, Sie hatten mich aufgerufen, jetzt die Frage 74 des Kollegen Pauli zu beantworten. Ich tue das wie folgt.
Die Ausstattung von Verwaltungsgebäuden der Landkreise, Herr Kollege Pauli, mit Bildern ist eine Angelegenheit der kommunalen Selbstverwaltung. Die staatliche Aufsicht über derartige Selbstverwaltungsangelegenheiten obliegt nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes ausschließlich den Ländern. Die Bundesregierung sieht sich daher nicht in der Lage, zu dem der Frage zugrunde liegenden Sachverhalt Stellung zu nehmen.
Ich will aber mit Blick auf das, was Sie hier angeschitten haben, gern um der allgemeinen Information willen auf folgendes hinweisen. Der Kreistag des Kreises Ahrweiler hat einen Beschluß gefaßt, unter dem von Ihnen angesprochene Bild von Dr. Simmer, dem Landrat von 1934 bis 1945, folgenden Text anzubringen:
Der geschichtlichen Wahrheit wegen und zugleich als Mahnung bleiben die Zeit des Nationalsozialismus und ihre Repräsentanten nicht unerwähnt. Die Bürgerinnen und Bürger des Landkreises Ahrweiler gaben damals bei der letzten halbwegs freien Wahl am 5. März 1933 mit ca. 70 % den demokratischen Parteien ihre Stimme. Dieses überzeugende demokratische Bekenntnis bleibt eine Verpflichtung für alle.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, welche Praxis besteht denn diesbezüglich in Bundesbehörden, bzw. ist davon auszugehen, daß, dem Beispiel der Kreisverwaltung Ahrweiler folgend, Porträts von NS-Funktionären sich in Bundesbehörden, Bundesministerien oder Bundesgerichten befinden?
Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Bei der Komplexität Ihrer Frage muß ich Ihnen antworten, daß Informationen zu diesem weiten Fragenkomplex, den Sie im Hinblick auf alle Behörden des Bundes angesprochen haben, mir hier nicht vorliegen. Soweit vorhanden, kann ich Ihnen gerne dazu noch Informationen geben.
Zweite Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, ist denn die Bundesregierung der Auffassung, daß bundesdeutsche Verwaltungen grundsätzlich ihre Geschichte so dokumentieren sollten, daß der Eindruck ent-
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Paulisteht, als ob eine ungebrochene Kontinuität von Anbeginn bis in die heutige Zeit besteht?Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Pauli, ich bin der Auffassung, daß gerade im Zusammenhang mit den zahlreichen Gedenkveranstaltungen aus Anlaß des 8. Mai die Bundesregierung, insbesondere der Bundeskanzler selber, dargetan hat, wie wir als Bundesregierung zu den einzelnen Kapiteln unserer Geschichte, auch der traurigen Zeit der Hitler-Diktatur mit allen schlimmen Erfahrungen und Ergebnissen dieser Politik, stehen.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Deres.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß der Fragesteller von seinen Parteigenossen aus dem Kreis Ahrweiler falsch informiert worden ist und daß es sich nicht um Porträts, sondern um ein einziges Porträt handelt, und ist der Regierung zweitens bekannt, daß die Aufstellung der Dokumentation nach einer Abstimmung im Land Rheinland-Pfalz durchgeführt wurde, wobei festgestellt wurde, daß auch in den SPD geführten Landkreisen die nationalsozialistischen Landräte natürlich dokumentiert sind?
Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Deres, zu Ihrer ersten Frage. Daß es sich um ein einziges Porträt handelt, nämlich das Porträt jenes erwähnten Landrats, zu dem dann im Blick auf seine Amtszeit das eben Vorgetragene angebracht wurde, kann ich bestätigen. Das haben wir bei unseren Ermittlungen für die heutige Fragestunde festgestellt.
Zu den anderen Fragen, die Sie angesprochen haben, muß ich darauf verweisen, daß die Aufsicht über die Kommunalverwaltungen des Landes Rheinland-Pfalz den zuständigen Kommunalaufsichtsbehörden obliegt. Daher kann eine Information dieser Art bei uns im Hause nicht umfassend gegeben sein.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Duve.
In der Frage meines Vorfragerslag die Unterstellung, daß mein Kollege Pauli diese Information durch sogenannte — wie hier formuliert wurde — Parteifreunde bekommen hat. Herr Staatssekretär, halten Sie es nicht mit mir für problematisch, daß hier unterstellt wird, wer uns Abgeordneten Informationen gibt?
Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Duve, ich habe in der Äußerung des Kollegen Deres, daß der Kollege Pauli von seinen Parteifreunden informiert worden ist, nichts Schlimmes gefunden. Ich denke, wir werden alle bisweilen von Parteifreunden zu politisch aktuellen Tatbeständen informiert.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 75 des Herrn Abgeordneten Pauli auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die gemeinsame Tournee von Angehörigen der 6. SS-Gebirgsdivision „Nord", die im Kriegsverlauf aus ehemaligen „Totenkopfstandarten" gebildet wurde, einerseits und Veteranen der 70. US-Infantery Division Association „Trailblazer" andererseits zu Orten früherer Kampfhandlungen in der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich, wie beispielsweise am 5. Oktober 1985 in Pfaffenheck, wo als Höhepunkt zum Abschluß der Tournee eine Kranzniederlegung stattfinden soll?
Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Pauli, auf diese Frage antworte ich für die Bundesregierung wie folgt. Es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, zu diesem privaten Treffen ehemaliger Soldaten öffentlich Stellung zu nehmen und Bewertungen abzugeben.
Wir haben hier eine ganz bestimmte Ordnung bei den Fragen. Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, darf ich das so verstehen, daß die Bundesregierung in der Angelegenheit des Treffens von SS- und US-Veteranen in diesen Tagen in Pfaffenheck nicht tätig geworden ist?
Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat im Blick auf solche Treffen nicht die Kompetenz, tätig zu sein, sondern wenn hier ingend etwas Rechtswidriges geschähe, wäre es die Kompetenz des zuständigen Bundeslandes, tätig zu sein. Wir haben dies ja in diesem Hause öfters erörtert. Aber der Bundesregierung ist nichts bekannt, was darauf hindeuten könnte. Ich will im übrigen darauf verweisen, daß solche Treffen gerade auch der hier angesprochenen Einheiten auch schon in den vergangenen Jahren öfters stattgefunden haben, ohne daß dabei irgend etwas — gerade auch bei der von Ihnen erwähnten Einheit oder dem Verband — zutage getreten wäre, was unsere Rechtsordnung nach unseren Kenntnissen irgendwie aktuell verletzen würde.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sicherlich ist Ihnen bekannt, daß das Treffen mittlerweile abgesagt worden ist, nicht zuletzt auf Grund der Initiativen hier.
Aber lassen Sie mich eine Frage anschließen. Ist die Bundesregierung bereit, die Öffentlichkeit umfassend über die Vergangenheit, personelle Zusammensetzung, Einsatzorte und Einsatzbereiche der 6. SS-Brigadedivision „Nord" zu informieren und diese Informationen auch der US-Regierung zur Verfügung zu stellen, damit diese wiederum US-Veteranenverbände bei Anfragen korrekt informieren kann?
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Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Pauli, hier ist ein sehr, sehr großer Prüfungs- und Informationsbereich angesprochen worden. Ich werde auf Grund Ihrer Frage dem nachgehen, ob es der Bundesregierung möglich ist, diese Informationen zu sammeln. Sollte dies möglich sein, werde ich Sie gerne darüber verständigen, was wir an Informationen geben können.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Immer.
Im Zusammenhang mit dieser Frage möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß hohe amerikanische Offiziere gemeinsam in Treffen mit Totenkopfverbänden nachgemachte Orden, Auszeichnungen, angenommen haben, und wie würden Sie das beurteilen?
Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Mir ist dieser Tatbestand zur Stunde nicht bekannt. Deshalb kann ich dazu auch keine Beurteilungen abgeben.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Die Fragen 76 und 77 des Abgeordneten Clemens, 78 und 79 des Abgeordneten Schäfer , 80 und 81 des Abgeordneten Waltemathe und 82 und 83 der Frau Abgeordneten Matthäus-Maier sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Staatssekretär Dr. Günter Obert zur Verfügung.
Die Frage 84 des Herrn Abgeordneten von Schmude wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 85 des Herrn Abgeordneten Rapp auf. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Ich rufe die Frage 86 der Abgeordneten Frau Dr. Segall auf:
Kann die Bundesregierung Presseberichte bestätigen, nach denen das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen entgegen den Vorstellungen der Krankenversicherer die Möglichkeit der Überversicherung für den Pflegefall zugelassen hat?
Bitte sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Abgeordnete, zur Absicherung des Pflegefallrisikos hat das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen zwei Vertragstypen genehmigt, einmal den privaten Krankenversicherern eine Pflegekrankenversicherung und den Lebensversicherern eine Pflegerentenversicherung.
In den Musterbedingungen für die Pflegekrankenversicherung ist vorgesehen, daß der Neuabschluß einer weiteren oder die Erhöhung einer anderweit bestehenden Versicherung mit Anspruch auf Leistungen wegen Pflegebedürftigkeit der Einwilligung des Versicherers bedarf.
Das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen hat diese Bestimmung nicht beanstandet, soweit es sich um den Abschluß einer weiteren Pflegekrankenversicherung handelt. Es hat dagegen den Krankenversicherern untersagt, den Einwilligungsvorbehalt auch auf die Pflegerentenversicherung auszudehnen. Hierauf zielt Ihre Frage.
Ich halte die Entscheidung des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen für richtig.
Einschränkungen der Vertragsfreiheit sollten nur vorgenommen werden, wo sie geboten erscheinen.
Es geht hier um zwei verschiedene Versicherungssparten, die das Pflegefallrisiko mit unterschiedlicher Konzeption versichern: die Krankenversicherung als Kostenrisikoversicherung, die Lebensversicherung als Rentenversicherung.
Ein solches Nebeneinander von Versicherungen mit unterschiedlicher Konzeption, wenn auch mit der Möglichkeit des Eintritts der Leistung bei gleichem Sachverhalt, ist grundsätzlich nicht zu beanstanden.
Der weit gefaßte Einwilligungsvorbehalt ist zudem auch im Hinblick auf das Gesetz zur Regelung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen bedenklich. Es könnte darin eine unangemessene und überraschende Bestimmung im Sinne dieses Gesetzes gesehen werden.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Danke für die Auskunft, Herr Staatssekretär.Noch eine Zusatzfrage: Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Genehmigung einer derartigen Versicherungsgestaltung geeignet ist, die Neigung zur Inanspruchnahme von Pflegeleistungen zu erhöhen und damit die viel diskutierte Gefahr kostentreibender Auswirkungen der Pflegeversicherung zu verstärken?Dr. Obert, Staatssekretär: Frau Abgeordnete, die Sorge, die Sie ansprechen, ist sicherlich auch der Grund, warum die Krankenversicherungsträger diese Klausel möglichst weit fassen sollten. Wir haben aber bei einem viel weiter verbreiteten Versicherungsbereich der Krankenversicherung seit langem ein solches Nebeneinander: Wir haben die Krankenkostenversicherung und eine Krankentagegeldversicherung. Trotzdem halten es die Versicherer für möglich, daß beide Versicherungen nebeneinander bestehen und dadurch Mißbrauchsfälle jedenfalls in engen Grenzen gehalten werden. Mißbrauchsfälle kann man nie ganz ausschließen. Aber, auch da wird die Frage, ob man die Pflegebedürftigkeit bejaht, von anderen Umständen als der Inanspruchnahme zweier Versicherungsleistungen abhängen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985 12243
Keine weiteren Zusatzfragen.
Dann rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Sprung zur Verfügung.
Die Fragen 93 und 94 der Abgeordneten Frau Simonis, 95 und 96 des Abgeordneten Gansel, die Frage 99 des Abgeordneten Stiegler und die Fragen 100 und 101 des Abgeordneten Hinsken werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 87 des Herrn Abgeordneten Urbaniak auf:
Welche Gegenmaßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen, wenn die Vorstellungen des EG-Kommissionspräsidenten, Jacques Delors, die Subventionen in der EG-Stahlindustrie über das Ende des Jahres 1985 hinaus zu gewähren, Wirklichkeit werden, um die deutsche Stahlindustrie vor weiterem Schaden zu schützen?
Herr Kollege Urbaniak, die Bundesregierung kennt die Vorstellungen des Kommissionspräsidenten nur aus einem Zeitungsinterview. Ihr ist nicht bekannt, wie diese Vorstellungen konkret aussehen und ob sie von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften geteilt werden. Eine Genehmigung weiterer Beihilfen an die Stahlindustrie nach 1985 würde dem im Wege eines Kompromisses gefundenen Ratsbeschluß vom 26./27. März 1985 zuwiderlaufen. In diesem Ratsbeschluß steht, daß nach Ablauf des 31. Dezember 1985 keine Beihilfen — gemeint sind stahlspezifische Hilfen — mehr genehmigt werden. Die Bundesregierung hat diesen Kompromiß respektiert; sie erwartet, daß auch die EG-Kommission und die anderen Partner die Absprache und den Ratsbeschluß achten. Die Bundesregierung wird sich Vorschlägen nach einer Wiederöffnung des Beihilfefensters entschieden widersetzen.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, am 17. Oktober — so ist zu hören — werden weitere Verhandlungen über die mögliche Subventionierung ab 1986 in Brüssel geführt werden. Hat sich die Bundesregierung drauf eingestellt, ihren auch von der Opposition unterstützten Weg, daß die Subventionierung Ende 1985 aufzuhören hat, fortzusetzen, oder wird sie sich dort den Vorstellungen des EG-Präsidenten nach Ihrer Einschätzung — das hätte ich gern gewußt — beugen müssen?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Urbaniak, ich habe soeben eine deutliche Aussage gemacht: Wir werden uns einer Wiederöffnung des Beihilfefensters mit aller Entschiedenheit widersetzen. Das wird auch für den Stahlrat am 17. Oktober gelten.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, sind bereits Ratsvertreter aus Frankreich, Belgien oder beispielsweise Italien an die Bundesregierung herangetreten, um sie für Absichten zu gewinnen, auch nach 1985 Subventionen zu gewähren? Mir sind nämlich derartige Informationen bekanntgeworden.
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, das ist meines Wissens bisher nicht geschehen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Vogel .
Herr Staatssekretär, es besteht doch, soweit ich weiß, in weiten Kreisen, insbesondere im Saarland, die Befürchtung, daß durch die Einstellung der Subventionen für die Stahlindustrie die Existenz der Firma Arbed Saarstahl gefährdet ist. Wäre der Vorschlag des Präsidenten der EG-Kommission unter diesem Gesichtspunkt nicht positiv zu werten?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Wir sind anderer Meinung. Wir haben diese Meinung mehrfach begründet. Wir haben immer wieder deutlich gemacht, daß die Subventionen an die Stahlindustrie nach unserer Auffassung Ende dieses Jahres endgültig abgeschlossen sein müssen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Zeitler.
Herr Staatssekretär, eigentlich müßte die Bundesregierung, wenn sie schon Kenntnis hat von Meinungen des Kommissionspräsidenten — aus der Zeitung —, ihrer Sorgfaltspflicht wegen dem nachgehen und herausfinden, was Sache ist. Aber ich wollte Sie fragen: Sind Sie, wenn Sie denn nun nicht verhindern können, daß in den anderen EG-Ländern nach dem 31. Dezember 1985 weiterhin subventioniert wird, mit der herrschenden Meinung des Wirtschaftsausschusses vertraut, die dahin geht, daß wir dann auch hier bei uns neu überlegen müssen, und wären auch Sie bereit, das zu tun?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich darf darauf hinweisen, daß nach dem 31. Dezember 1985 auch von den anderen Mitgliedstaaten die Subventionsgewährung nicht fortgesetzt werden kann, wenn es darüber nicht einen entsprechenden Beschluß gibt. Dieser Beschluß ist einstimmig zu fassen. Ohne unsere Mitwirkung kann solch ein Beschluß nicht gefaßt werden.
Keine weitere Zusatzfrage.Ich rufe die Frage 88 des Herrn Abgeordneten Urbaniak auf:Ist die Bundesregierung in einem solchen Falle bereit, der deutschen Stahlindustrie weitere Hilfen zukommen zu lassen?Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, die Bundesregierung ist angesichts der hohen Subventionen in anderen Staaten im Prinzip bereit, zum Schutz der deutschen Stahlindustrie einer Fortsetzung der Krisenmaßnahmen mit den an-
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12244 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Oktober 1985
Parl. Staatssekretär Dr. Sprunggezeigten Anpassungen zuzustimmen. Sie beabsichtigt aber nicht — ich wiederhole es —, weiterhin Subventionen zu zahlen oder dazu ihre Zustimmung zu geben.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung, wenn es denn zu der Auseinandersetzung über die Absicht kommt, auch für 1986 und darüber hinaus zu subventionieren, bereit, im Stahlrat ihr Veto einzulegen, wie das beispielsweise im Falle der Landwirtschaft gemacht worden ist?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, es geht hier nicht um ein Veto. Das Abstimmungsverfahren ist ein anderes. Hier muß man einen einstimmigen Beschluß fassen, und die Bundesregierung ist — ich wiederhole es — der Auffassung, daß das Subventionsfenster nicht wieder geöffnet werden darf. Es ist beschlossen worden, es endgültig zu schließen. Ich habe auf den Ratsbeschluß vom März hingewiesen. Das war das Ergebnis dieser Ratssitzung.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, der Gerichtshof hat, wie wir das beurteilen, die Stahlklage gegen den zweiten Subventionskodex abgelehnt. Er verweist darauf, daß die Maßnahmen, die die EG-Kommission für die anderen Partner getroffen haben, richtig sind, d. h. höhere Beihilfen, als sie bei uns gelaufen sind. Welche Konsequenz zieht die Bundesregierung aus diesem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für die weitere Behandlung der Stahlfrage und die Sicherung der Arbeitsplätze der Stahlarbeitnehmer?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, dieses Urteil ist auf der Basis des noch geltenden Subventionskodex ergangen. Wir sind noch nicht in der Lage gewesen, das Urteil und seine Argumente im einzelnen zu prüfen.
Wir haben nach dem 31. Dezember 1985 eine andere Situation. Es gibt keinen Ratsbeschluß, der eine Fortsetzung der Subventionen nach dem 31. Dezember 1985 erlaubt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Vogel .
Herr Staatssekretär, darf ich Ihre Antworten so interpretieren, daß Sie, falls sich das neue Arbed-Saarstahl-Unternehmenskonzept als nicht tragfähig erweisen wird, nach 1985 eher den Konkurs des Unternehmens mit allen finanziellen Folgen — Unterstützung der Arbeitslosen usw. — in Kauf nehmen, als neue Subventionen zuzuschießen?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Das dürfen Sie so nicht interpretieren. Zunächst einmal ist zu prüfen, ob das Konzept, das erarbeitet worden ist oder noch erarbeitet werden wird, tragfähig ist oder nicht. Danach ist dann erneut zu überlegen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Zeitler.
Herr Staatssekretär, ich würde Sie gerne beglückwünschen, wenn es gelänge, zu erreichen, daß im EG-Ausland nach dem 31. Dezember tatsächlich keine Subventionen mehr gewährt werden. Nun erinnere ich mich aber an die erheblichen Verstöße gegen den Subventionskodex in der Vergangenheit, die j a der deutschen Stahlindustrie beträchtliche Nachteile gebracht haben. Was werden Sie jetzt unternehmen, um zu prüfen, ob die Vereinbarung eingehalten wird, und wie werden Sie sich wehren, wenn Sie feststellen, daß es Verstöße gibt?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, zunächst einmal gehen wir davon aus und müssen wir davon ausgehen, daß sich auch andere Mitgliedstaaten an die Beschlüsse der EG-Gremien halten werden. Das sollte auch für die Stahlbeihilfen bzw. für die dann nicht mehr möglichen Subventionen gelten.
Ich rufe die Frage 89 der Frau Abgeordneten Steinhauer auf:Welche Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung angesichts der jetzt bekanntgewordenen Tatsache, daß die EG-Kommission vorschlägt, Stahlbeihilfen unter bestimmten Bedingungen auch über das Jahr 1985 hinaus zuzulassen, und teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die drastischen Umstrukturierungsopfer der deutschen Stahlindustrie im Falle einer Subventionsweitergewährung umsonst gewesen wären?Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Steinhauer, zunächst darf ich Ihnen noch einmal wie schon Herrn Urbaniak antworten: Die Bundesregierung kennt die Vorstellungen des Kommissionspräsidenten nur aus einem Zeitungsinterview. Ihr ist nicht bekannt, wie diese Vorstellungen konkret aussehen und ob sie von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften geteilt werden.Eine Genehmigung weiterer Beihilfen an die Stahlindustrie nach 1985 würde dem im Wege eines Kompromisses gefundenen Ratsbeschluß vom 26./ 27. März 1985 zuwiderlaufen. Was darin steht, habe ich eben schon vorgetragen.Die Bundesregierung hat diesen Kompromiß respektiert. Sie erwartet, daß auch die EG-Kommission und die anderen Partner die Absprache und den Ratsbeschluß achten.Die Bundesregierung wird sich — auch dies wiederhole ich — Vorschlägen nach einer Wiederöffnung des Beihilfefensters entschieden widersetzen.Die Bundesregierung teilt nicht die Auffassung — das betrifft jetzt das Neue in Ihrer Frage, was über das hinausgeht, was Herr Urbaniak gefragt hatte —, daß die drastischen Umstrukturierungsopfer der deutschen Stahlindustrie im Falle einer Subventionsgewährung umsonst gewesen wären. Diese Umstrukturierungsanstrengungen haben vielmehr dazu geführt, daß die meisten deutschen Anlagen heute international wettbewerbsfähig sind. Sofern noch Schwachstellen bestehen, bemühen sich die Unternehmen gegenwärtig, auch diese zu beseitigen.
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Parl. Staatssekretär Dr. SprungDer hohe Grad der Wettbewerbsfähigkeit hat neben der sich bessernden Konjunktur wesentlichen Anteil daran, daß wohl alle deutschen Unternehmen bereits in diesem Jahr trotz der vergleichsweise viel höheren Subventionen in anderen Staaten erheblich besser abschneiden, als nach ihren Unternehmensplänen der Jahre 1982 und 1983 erwartet worden war. Einige haben bereits beachtliche Gewinne erzielt. Auch in der Zukunft wird den Unternehmen die Umstrukturierung in entscheidendem Maße zugute kommen.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wie stehen Sie denn zu der nicht nur von einzelnen, sondern von mehreren Stahlkonzernen in den letzten Tagen geäußerten Auffassung, weitere Rationalisierungsmaßnahmen seien deshalb notwendig, weil innerhalb der EG durch andauernde hohe Subventionierung seitens anderer Regierungen der Wettbewerb dauerhaft verzerrt werde?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, diese Einschätzung der Situation durch die Stahlunternehmen ist sicherlich zutreffend, aber das heißt j a nicht, daß es sich um Rationalisierungsmaßnahmen handelt, die von öffentlicher Seite weiterhin subventioniert werden müßten.
Eine weitere Zusatzfrage.
Konkret, Herr Staatssekretär: Teilen Sie nicht die Auffassung, daß die den Belegschaften vieler Werke in den letzten Tagen bekanntgemachten Personaleinschränkungen durch die EG-Subventionen und die Wettbewerbsverzerrungen verursacht worden sind?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Ich weise darauf hin, daß auch die deutsche Stahlindustrie im letzten Jahr und in diesem Jahr Subventionen in erheblichem Umfange erhalten hat, die dazu dienen, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Stahlindustrie zu steigern, und die dafür auch eingesetzt worden sind.
Ich weise darauf hin, daß noch eine Minute zur Verfügung steht.
Herr Abgeordneter Urbaniak zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Krupp/ Thyssen hat angekündigt, daß etliche tausend Arbeitnehmer — wie man heute so schön sagt — „freigesetzt" werden. Dies ist nach ihrer Beurteilung auch Folge der Wettbewerbsverzerrungen, der Aufgabe der Quotierung, der Mindestpreise. All das könnte uns 1986 in verstärktem Maße wieder erreichen. Wie gedenkt die Bundesregierung hier sicherzustellen, daß wir nun endlich gleiche Wettbewerbsvoraussetzungen bekommen, damit uns so etwas — ich meine vor allen Dingen den Verlust von Arbeitsplätzen in der . Stahlindustrie — nicht mehr passiert?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, ich habe schon in Beantwortung Ihrer zweiten Frage darauf hingewiesen, daß die Krisenmaßnahmen, die in früheren Jahren beschlossen worden sind, teilweise fortgeführt werden. Darüber wird am 17. Oktober auch gesprochen werden: nicht über eine Fortführung der Subventionierung, aber über eine Fortführung anderer Maßnahmen, die sicherlich noch erforderlich sind, um den Stahlmarkt langsam in einen normalen Wettbewerb überzuleiten. Ich erinnere an das Quotensystem, an die Warenbegleitpapiere, an die Verpflichtung des Stahlhandels, Preislisten zu eröffnen, Mindest- und Orientierungspreise, an Stahllieferabkommen mit dritten Ländern. Dies sind auch Maßnahmen, die den Wettbewerb entscheidend beeinflussen. Über deren Fortführung, in welcher Form das geschehen soll, wird am 17. Oktober ebenfalls zu sprechen sein.
Letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Immer.
Herr Staatssekretär, ich möchte eine Frage im Zusammenhang mit der regionalen Umstrukturierung stellen. Bedeutet eine endgültige Verhinderung von weiteren Subventionen nicht, daß im nationalen Bereich auch andere Maßnahmen für Ersatzarbeitsplätze in bestimmten Regionen subventioniert werden können, damit die Folgen eines bestimmten Umstrukturierungsprozesses die entsprechende Region nicht in ihrer ganzen Härte treffen?
Dr. Sprung, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Immer, ich habe darauf hingewiesen, daß sich die Bundesregierung gegen die Fortsetzung stahlspezifischer Subventionen gewandt hat. Hilfeleistungen allgemeiner Art — etwa unter Umweltschutzaspekten oder unter Forschungs- und Entwicklungsaspekten — fallen nicht unter dieses Subventionsverbot.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Fragestunde und damit auch am Ende unserer Tagesordnung angekommen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 16. Oktober 1985, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.